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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. März 2017.#Stichting Woonlinie u. a. gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Bestehende Beihilfen – Art. 108 Abs. 1 AEUV – Beihilferegelungen für soziale Wohnungsbaugesellschaften – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 17, 18 und 19 – Beurteilung der Vereinbarkeit bestehender Beihilferegelungen mit dem Binnenmarkt durch die Kommission – Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen – Von nationalen Behörden eingegangene Verpflichtungen, um dem Unionsrecht nachzukommen – Vereinbarkeitsentscheidung – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Rechtswirkungen.#Rechtssache C-414/15 P.
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62015CJ0414
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ECLI:EU:C:2017:215
| 2017-03-15T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0414
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
15. März 2017 (*1)
„Rechtsmittel — Staatliche Beihilfen — Bestehende Beihilfen — Art. 108 Abs. 1 AEUV — Beihilferegelungen für soziale Wohnungsbaugesellschaften — Verordnung (EG) Nr. 659/1999 — Art. 17, 18 und 19 — Beurteilung der Vereinbarkeit bestehender Beihilferegelungen mit dem Binnenmarkt durch die Kommission — Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen — Von nationalen Behörden eingegangene Verpflichtungen, um dem Unionsrecht nachzukommen — Vereinbarkeitsentscheidung — Umfang der gerichtlichen Kontrolle — Rechtswirkungen“
In der Rechtssache C‑414/15 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 24. Juli 2015,
Stichting Woonlinie mit Sitz in Woudrichem (Niederlande),
Woningstichting Volksbelang mit Sitz in Wijk bij Duurstede (Niederlande),
Stichting Woonstede mit Sitz in Ede (Niederlande),
Prozessbevollmächtigte: L. Hancher, E. Besselink und P. Glazener, advocaten,
Rechtsmittelführerinnen,
andere Parteien des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch S. Noë und P.‑J. Loewenthal als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
Königreich Belgien,
Vereniging van Institutionele Beleggers in Vastgoed, Nederland (IVBN) mit Sitz in Voorburg (Niederlande), Prozessbevollmächtigter: M. Meulenbelt, advocaat,
Streithelfer im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Oktober 2016
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Stichting Woonlinie, die Woningstichting Volksbelang und die Stichting Woonstede die Aufhebung des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 12. Mai 2015, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (T‑202/10 RENV, nicht veröffentlicht, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2015:287), mit dem dieses ihre Klage auf teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses C(2009) 9963 final der Kommission vom 15. Dezember 2009 in Bezug auf die staatlichen Beihilfen E 2/2005 und N 642/2009 – Niederlande – Bestehende Beihilfe und besondere Projektbeihilfe für Wohnungsbaugesellschaften (im Folgenden: streitiger Beschluss) abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EG) Nr. 659/1999
2 Art. 17 („Zusammenarbeit nach Artikel [108] Absatz 1 [AEUV]“) der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1) sieht vor:
„(1) Für die Überprüfung bestehender Beihilferegelungen in Zusammenarbeit mit dem betreffenden Mitgliedstaat holt die Kommission nach Artikel [108] Absatz 1 [AEUV] bei diesem alle erforderlichen Auskünfte ein.
(2) Gelangt die Kommission zur vorläufigen Auffassung, dass eine bestehende Beihilferegelung nicht oder nicht mehr mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, so setzt sie den betreffenden Mitgliedstaat hiervon in Kenntnis und gibt ihm Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer Frist von einem Monat. In ordnungsgemäß begründeten Fällen kann die Kommission diese Frist verlängern.“
3 Art. 18 („Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen“) dieser Verordnung bestimmt:
„Gelangt die Kommission aufgrund der von dem betreffenden Mitgliedstaat nach Artikel 17 übermittelten Auskünfte zu dem Schluss, dass die bestehende Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt nicht oder nicht mehr vereinbar ist, so schlägt sie dem betreffenden Mitgliedstaat zweckdienliche Maßnahmen vor. Der Vorschlag kann insbesondere in Folgendem bestehen:
a)
inhaltliche Änderung der Beihilferegelung oder
b)
Einführung von Verfahrensvorschriften oder
c)
Abschaffung der Beihilferegelung.“
4 Art. 19 („Rechtsfolgen eines Vorschlags zweckdienlicher Maßnahmen“) dieser Verordnung lautet:
„(1) Wenn der betreffende Mitgliedstaat den vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmt und die Kommission hiervon in Kenntnis setzt, hält die Kommission dies fest und unterrichtet den Mitgliedstaat hiervon. Der Mitgliedstaat ist aufgrund seiner Zustimmung verpflichtet, die zweckdienlichen Maßnahmen durchzuführen.
(2) Wenn der betreffende Mitgliedstaat den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht zustimmt und die Kommission trotz der von dem Mitgliedstaat vorgebrachten Argumente weiterhin die Auffassung vertritt, dass diese Maßnahmen notwendig sind, so leitet sie das Verfahren nach Artikel 4 Absatz 4 ein. Die Artikel 6, 7 und 9 gelten entsprechend.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitiger Beschluss
5 Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt, der im Wesentlichen den Rn. 1 bis 12 des angefochtenen Beschlusses zu entnehmen ist, kann wie folgt zusammengefasst werden.
6 Die Rechtsmittelführerinnen sind in den Niederlanden ansässige Wohnungsbaugesellschaften („woningcorporaties“, im Folgenden: Wocos). Es handelt sich bei den Wocos um Einrichtungen ohne Gewinnerzielungsabsicht, deren Aufgabe der Erwerb, der Bau und die Vermietung von Wohnungen ist, die hauptsächlich für benachteiligte Personen und sozial schwache Gruppen bestimmt sind. Die Wocos üben auch andere Tätigkeiten aus, wie den Bau und die Vermietung von Appartements zu höheren Mieten, den Bau zum Verkauf bestimmter Appartements sowie den Bau und die Vermietung dem Allgemeininteresse dienender Gebäude.
7 Im Jahr 2002 notifizierten die niederländischen Behörden der Kommission der Europäischen Gemeinschaften das allgemeine System staatlicher Beihilfen für die Wocos. Da die Kommission der Ansicht war, dass die Maßnahmen zur Finanzierung der Wocos als bestehende Beihilfen angesehen werden könnten, zogen die niederländischen Behörden ihre Notifizierung später zurück.
8 Am 14. Juli 2005 übermittelte die Kommission den niederländischen Behörden gemäß Art. 17 der Verordnung Nr. 659/1999 ein Schreiben, in dem sie das allgemeine System der staatlichen Beihilfen für die Wocos als bestehende Beihilfen (Beihilfe E 2/2005) einstufte und Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt äußerte (im Folgenden: Schreiben nach Art. 17). Die Kommission wies zunächst darauf hin, dass die niederländischen Behörden die den Wocos übertragene Gemeinwohlaufgabe in dem Sinne neu definieren müssten, dass Sozialwohnungen für eine klar definierte Zielgruppe benachteiligter Personen und sozial schwache Gruppen bestimmt sein müssten. Ferner seien alle kommerziellen Tätigkeiten der Wocos unter Marktbedingungen durchzuführen und dürften nicht staatlich bezuschusst werden. Schließlich müsse das Angebot an Sozialwohnungen an die Nachfrage benachteiligter Personen oder sozial schwacher Gruppen angepasst werden.
9 Nach der Übermittlung des Schreibens nach Art. 17 leiteten die Kommission und die niederländischen Behörden das Verfahren der Zusammenarbeit ein, um die Beihilferegelung in Einklang mit Art. 106 Abs. 2 AEUV zu bringen. Im Anschluss an diese Verhandlungen schlug die Kommission gemäß Art. 18 der Verordnung Nr. 659/1999 folgende zweckdienlichen Maßnahmen vor, um die Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahmen mit den Bestimmungen des Unionsrechts über staatliche Beihilfen sicherzustellen:
—
Vergabe von Sozialwohnungen nur an eine klar definierte Zielgruppe benachteiligter Personen und sozial schwache Gruppen;
—
Durchführung der kommerziellen Tätigkeiten unter Marktbedingungen, wobei die gemeinwirtschaftlichen und die kommerziellen Tätigkeiten Gegenstand getrennter Buchführung und geeigneter Kontrollen sein müssen;
—
Anpassung des Angebots an Sozialwohnungen an die Nachfrage benachteiligter Personen und sozial schwacher Gruppen.
10 Am 16. April 2007 reichte die Vereniging van Institutionele Beleggers in Vastgoed, Nederland (IVBN) (Vereinigung der institutionellen Immobilieninvestoren, Niederlande) eine die Beihilferegelung für die Wocos betreffende Beschwerde bei der Kommission ein. Im Juni 2009 schloss sich die Vesteda Groep BV dieser Beschwerde an.
11 Mit Schreiben vom 3. Dezember 2009 stimmten die niederländischen Behörden den von der Kommission vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen zu und teilten der Kommission ihre Verpflichtungszusagen für die Änderung des allgemeinen Systems der staatlichen Beihilfen für die Wocos gemäß den Vorgaben der Kommission mit.
12 Am 15. Dezember 2009 erließ die Kommission den streitigen Beschluss.
13 Das Verfahren E 2/2005 bezieht sich auf folgende Maßnahmen des allgemeinen Systems der staatlichen Beihilfen des Königreichs der Niederlande für die Wocos:
a)
staatliche Garantien für Darlehen des Garantiefonds für den sozialen Wohnungsbau;
b)
Beihilfen des Zentralen Fonds für das Wohnungswesen, projektbezogene Beihilfen oder Rationalisierungsbeihilfen in Form zinsgünstiger Darlehen oder direkter Zuschüsse;
c)
Verkauf von Grundstücken durch die Gemeinden unter dem Marktpreis;
d)
das Recht, Gelder bei der Bank Nederlandse Gemeenten aufzunehmen.
14 Im streitigen Beschluss stufte die Kommission alle diese Maßnahmen als staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV ein und vertrat den Standpunkt, dass das niederländische System zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus eine bestehende Beihilfe darstelle, die vor dem Inkrafttreten des EG-Vertrags in den Niederlanden eingeführt worden sei und deren spätere Reformen nicht zu wesentlichen Änderungen geführt hätten.
15 Im 41. Erwägungsgrund des streitigen Beschlusses führte die Kommission aus:
„Die niederländischen Behörden haben sich dazu verpflichtet, die Funktionsweise der Wocos und die diese begünstigenden Maßnahmen zu ändern. Sie haben der Kommission zu verschiedenen Änderungen Regelungsentwürfe vorgelegt. Die neuen Regeln sollen durch eine neue Ministerialverordnung zum 1. Januar 2010 und ein neues Wohnungsbaugesetz zum 1. Januar 2011 eingeführt werden. …“
16 Die Kommission prüfte die Vereinbarkeit der Beihilfe E 2/2005 in Bezug auf das Finanzierungssystem der Wocos in der im Anschluss an die Übernahme von Verpflichtungen durch die niederländischen Behörden geänderten Fassung. Sie gelangte im 72. Erwägungsgrund des streitigen Beschlusses zu dem Schluss, dass „die Beihilfen für Tätigkeiten auf dem Gebiet des sozialen Wohnungsbaus, d. h. Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Bau und der Vermietung von Wohnungen für Privatpersonen einschließlich des Baus und der Unterhaltung der dazugehörigen Infrastruktur … mit Art. 106 Abs. 2 AEUV vereinbar“ seien. Die Kommission hielt daher die Verpflichtungen der niederländischen Behörden in Bezug auf die Beihilfe E 2/2005 gemäß Art. 19 der Verordnung Nr. 659/1999 fest.
17 Am 30. August 2010 erließ die Kommission den Beschluss C(2010) 5841 final über die staatliche Beihilfe E 2/2005, mit dem sie die Erwägungsgründe 22 bis 24 des streitigen Beschlusses abänderte. In diesem Änderungsbeschluss vertrat die Kommission die Ansicht, dass sie auf der Grundlage der vorliegenden Beweise nicht zu dem Ergebnis kommen könne, die Maßnahme d) in dem streitigen Beschluss, d. h. das Recht zur Aufnahme von Geldern bei der Bank Nederlandse Gemeenten, erfülle alle Kriterien einer staatlichen Beihilfe.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss
18 Mit Klageschrift, die am 29. April 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhoben die Stichting Woonlinie, die Stichting Allee Wonen, die Woningstichting Volksbelang, die Stichting WoonInvest und die Stichting Woonstede nach Art. 263 AEUV Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses, soweit er die staatliche Beihilfe E 2/2005 betrifft.
19 Mit Beschluss des Gerichts vom 16. Dezember 2011, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (T‑202/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:765), wies das Gericht die Klage als unzulässig ab.
20 Mit Urteil vom 27. Februar 2014, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (C‑133/12 P, EU:C:2014:105), hob der Gerichtshof den Beschluss vom 16. Dezember 2011, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (T‑202/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:765), auf, soweit darin die Nichtigkeitsklage der Klägerinnen gegen den die Beihilferegelung E 2/2005 betreffenden Teil des Beschlusses für unzulässig erklärt wurde; im Übrigen wies er die Klage ab. Der Gerichtshof entschied, dass die Klage gegen den streitigen Beschluss zulässig war, soweit die Beihilferegelung E 2/2005 betroffen war, und verwies die Rechtssache zur Entscheidung über die Begründetheit an das Gericht zurück.
21 Die Rechtssache wurde der Siebten Kammer des Gerichts zugewiesen.
22 Die Kommission und die Klägerinnen reichten am 27. März und 15. April 2014 gemäß Art. 119 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ihre Schriftsätze ein.
23 Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Gericht die Klage als offensichtlich unbegründet abgewiesen.
Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
24 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Rechtsmittelführerinnen,
—
den angefochtenen Beschluss ganz oder teilweise aufzuheben;
—
die Sache an das Gericht zurückzuverweisen;
—
der Kommission die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen.
25 Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und den Stiftungen die Kosten aufzuerlegen. Für den Fall, dass der Gerichtshof die Rechtsmittelgründe als begründet erachten sollte, vertritt die Kommission hilfsweise den Standpunkt, dass es keinen Grund gebe, den angefochtenen Beschluss insgesamt aufzuheben, da die Stiftungen nicht die Zurückweisung des ersten Klagegrundes – die Kommission habe rechtsfehlerhaft festgestellt, dass alle Maßnahmen Teil einer Beihilferegelung seien – rügten, und dass es deshalb angebracht sei, die Sache an das Gericht zurückzuverweisen.
26 Mit Schriftsatz, der am 21. Januar 2016 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, haben die Stichting Allee Wonen und die Stichting WoonInvest dem Gerichtshof mitgeteilt, dass sie ihre Rechtsmittel zurücknähmen. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. März 2016, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (C‑414/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:229), wurden die Stichting Allee Wonen und die Stichting WoonInvest in der Rechtssache C‑414/15 P gestrichen und ihnen und der Kommission ihre jeweiligen Rechtsmittelkosten auferlegt.
Zum Rechtsmittel
Erster Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler, unzutreffende Beurteilung der relevanten Tatsachen und Begründungsmangel, da das Gericht der Ansicht gewesen sei, dass die Rechtsmittelführerinnen in Wirklichkeit auf das Schreiben nach Art. 17 abzielten und seine Nachprüfung sich nicht auf dieses Schreiben erstrecke
Vorbringen der Parteien
27 Mit ihrem ersten, gegen die Rn. 56 bis 60, 69 bis 74, 81, 82, 86 und 87 des angefochtenen Beschlusses gerichteten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe zu Unrecht angenommen, dass ihre Klagegründe in Wirklichkeit auf das Schreiben nach Art. 17 abzielten. Überdies habe das Gericht in Rn. 59 des angefochtenen Beschlusses aus seinem Urteil vom 11. März 2009, TF1/Kommission (T‑354/05, EU:T:2009:66), zu Unrecht geschlossen, dass seine Nachprüfung auf die von der Kommission vorgenommene Beurteilung der Geeignetheit der übernommenen Verpflichtungen zur Lösung der festgestellten wettbewerbsrechtlichen Probleme beschränkt sei und sich nicht auf die zugrunde liegende Frage der Erforderlichkeit der Verpflichtungen erstrecke. Aus dem Wortlaut des Art. 108 Abs. 1 AEUV ergebe sich nämlich, dass der endgültige Beschluss der Kommission eine Beurteilung dieser Frage enthalten müsse. Dieser Beschluss umfasse das gesamte in den Art. 17 bis 19 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehene Verfahren. Die Nachprüfung des Unionsrichters müsse daher auch die Frage umfassen, ob die frühere Situation mit dem Binnenmarkt vereinbar gewesen sei.
28 Die Kommission macht geltend, dass sich ein Beschluss gemäß Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 nicht auf eine endgültige Feststellung stütze, dass eine bestehende Beihilferegelung nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Dieser Beschluss sei Ausdruck der in Art. 108 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit und gründe sich nicht auf eine verbindliche einseitige Feststellung der Kommission, sondern darauf, dass sie und der betreffende Mitgliedstaat die Notwendigkeit der Anpassung einer bestehenden Beihilferegelung anerkennten. Die Kommission sei daher nicht verpflichtet, in ihrem Beschluss darzustellen, warum sie der Auffassung sei, dass diese Regelung nicht oder nicht mehr mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Außerdem habe sich im vorliegenden Fall der Schriftverkehr zwischen der Kommission und den niederländischen Behörden nach der Übermittlung des Schreibens nach Art. 17 nicht auf die Frage der Vereinbarkeit der bestehenden Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt, sondern darauf bezogen, wie diese Regelung anzupassen sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
29 In den Rn. 56 und 57 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht unter Verweis auf die Rn. 188 und 189 seines Urteils vom 11. März 2009, TF1/Kommission (T‑354/05, EU:T:2009:66), im Wesentlichen die Ansicht vertreten, die Kommission verfüge über ein weites Ermessen, um die Maßnahmen zu bestimmen, die auf ihre Schlussfolgerung hin, dass eine bestehende Beihilferegelung nicht oder nicht mehr mit dem Binnenmarkt vereinbar sei, als zweckdienlich erschienen, so dass das Gericht seine Nachprüfung darauf beschränken müsse, ob die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe, als sie zu der Auffassung gelangt sei, dass die eingegangenen Verpflichtungen geeignet seien, die mit der betreffenden Beihilferegelung verbundenen Wettbewerbsprobleme zu lösen.
30 Das Gericht ist in Rn. 59 des angefochtenen Beschlusses zu dem Ergebnis gekommen, dass die von ihm durchzuführende Nachprüfung sich nicht auf die von der Kommission vorgenommene Prüfung der Beihilferegelung vor der Übernahme von Verpflichtungen durch die niederländischen Behörden erstrecke. Es hat diese Schlussfolgerung in den Rn. 73, 82 und 87 des Beschlusses sinngemäß wiederholt.
31 In den Rn. 58, 72, 74, 81 und 86 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht im Wesentlichen die Ansicht vertreten, dass die Rechtsmittelführerinnen nicht die von der Kommission in dem streitigen Beschluss vorgenommene Beurteilung der Vereinbarkeit der bestehenden Beihilferegelung in der im Anschluss an die Übernahme von Verpflichtungen durch die niederländischen Behörden geänderten Fassung beanstandeten, sondern die von der Kommission vorgenommene Prüfung des Finanzierungssystems der Wocos in der ursprünglichen niederländischen Regelung vor ihrer Änderung durch die von diesen Behörden übernommenen Verpflichtungen, und dass diese Prüfung nicht im streitigen Beschluss, sondern im Schreiben nach Art. 17 enthalten sei.
32 Folglich hat das Gericht in Rn. 60 des angefochtenen Beschlusses das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des zweiten Klagegrundes als irrelevant zurückgewiesen, mit dem sie der Kommission vorwerfen, sie habe im Schreiben nach Art. 17 lediglich festgestellt, dass die Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nicht klar genug definiert gewesen sei, ohne einen offensichtlichen Fehler in der niederländischen Regelung zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus nachzuweisen; in den Rn. 69 bis 75 des Beschlusses hat es das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des dritten Klagegrundes implizit als irrelevant zurückgewiesen; in den Rn. 81 und 82 des Beschlusses hat es das Vorbringen im Rahmen des sechsten Klagegrundes als irrelevant zurückgewiesen, die Kommission habe zu Unrecht angenommen, das niederländische System des sozialen Wohnungsbaus enthalte einen offensichtlichen Fehler, da es keine spezifischen Einkommensgrenzen umfasse, und in den Rn. 86 bis 88 des Beschlusses hat es den fünften und den siebten Klagegrund implizit als irrelevant zurückgewiesen.
33 Nach Art. 108 Abs. 1 AEUV ist die Kommission zur fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilfen in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten befugt. Im Rahmen dieser Überprüfung schlägt die Kommission den Mitgliedstaaten die zweckdienlichen Maßnahmen vor, die die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Binnenmarkts erfordern. Stellt die Kommission – nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äußerung gesetzt hat – fest, dass eine Beihilfe mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 AEUV unvereinbar ist oder dass sie missbräuchlich angewandt wird, so beschließt sie gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV, dass der betreffende Staat die Beihilfe binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat.
34 Nach Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 setzt die Kommission, wenn sie zu der vorläufigen Auffassung gelangt, dass eine bestehende Beihilferegelung nicht oder nicht mehr mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, den betreffenden Mitgliedstaat hiervon in Kenntnis und gibt ihm Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer Frist von einem Monat.
35 Nach Art. 18 dieser Verordnung schlägt die Kommission, wenn sie aufgrund der von dem betreffenden Mitgliedstaat nach Art. 17 der Verordnung übermittelten Auskünfte zu dem Schluss gelangt, dass die bestehende Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt nicht oder nicht mehr vereinbar ist, dem betreffenden Mitgliedstaat zweckdienliche Maßnahmen vor.
36 Nach Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 hält die Kommission, wenn der betreffende Mitgliedstaat den vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmt und die Kommission hiervon in Kenntnis setzt, dies fest und unterrichtet den Mitgliedstaat hiervon.
37 Wenn die Kommission gemäß Art. 26 der Verordnung Nr. 659/1999 „nach … Artikel 18 [dieser Verordnung] in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 1 [dieser Verordnung]“ einen Beschluss erlässt, akzeptiert sie folglich in Ausübung ihrer Befugnis zur Beurteilung der Vereinbarkeit staatlicher Beihilfen mit dem Binnenmarkt die Verpflichtungen, die der Staat im Zusammenhang mit den ihm von ihr gemäß Art. 18 der Verordnung vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen übernommen hat, als geeignet, ihre Bedenken in Bezug auf die Vereinbarkeit der bestehenden Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt auszuräumen, und schließt das in Art. 108 Abs. 1 AEUV vorgesehene Verfahren ab.
38 Dieser Beschluss setzt notwendigerweise voraus, dass die Kommission zuvor die Vereinbarkeit der betreffenden Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt beurteilt hat und – nach Berücksichtigung der Auskünfte des betreffenden Mitgliedstaats – zu dem Ergebnis gelangt ist, dass diese Regelung nicht oder nicht mehr mit dem Binnenmarkt vereinbar ist und daher zweckdienliche Maßnahmen notwendig sind, um diese Unvereinbarkeit zu beseitigen.
39 Entgegen der Auffassung des Gerichts in Rn. 59 des angefochtenen Beschlusses dürfen diese Beurteilung der Kommission und ihre daraus gezogene Schlussfolgerung nicht der Kontrolle durch die Unionsgerichte entzogen werden, da andernfalls das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Recht der Begünstigten der bestehenden Beihilferegelung auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gefährdet wäre.
40 Ein Beschluss der Kommission nach Art. 18 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 kann, soweit er sich auf die vorherige Feststellung der Unvereinbarkeit einer bestehenden Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt stützt, die Interessen der Begünstigten dieser Regelung beeinträchtigen.
41 Hierzu hat der Gerichtshof in Rn. 48 des Urteils vom 27. Februar 2014, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (C‑133/12 P, EU:C:2014:105), festgestellt, dass die Beihilferegelung, in deren Genuss die Rechtsmittelführerinnen bis dahin gekommen waren, durch den streitigen Beschluss mit Wirkung vom 1. Januar 2011, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Wohnungsbaugesetzes, geändert wurde, und zwar in der Weise, dass sich die Bedingungen für die Ausübung ihrer Tätigkeit verschlechterten.
42 Deshalb hat der Gerichtshof in den Rn. 56 und 57 dieses Urteils festgestellt, dass die Rechtsmittelführerinnen ein legitimes Interesse an der Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses haben, soweit er die Beihilfe E 2/2005 betrifft, da die Nichtigerklärung dieses Beschlusses zur Folge hätte, dass die früheren, für sie vorteilhafteren Bedingungen fortgälten.
43 Das Recht der Begünstigten einer bestehenden Beihilferegelung auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz macht es somit erforderlich, dass sie mit einer Klage gegen einen Beschluss nach Art. 18 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 auch die Beurteilung dieser Regelung durch die Kommission sowie deren Schlussfolgerung anfechten können, wonach die Regelung nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar sei und daher zweckdienliche Maßnahmen notwendig seien, um diese Unvereinbarkeit zu beseitigen.
44 Zu dem Umstand, auf den sich das Gericht in den Rn. 58, 74 und 86 des angefochtenen Beschlusses stützt, dass diese Beurteilung hier nicht in dem streitigen Beschluss, sondern im Schreiben nach Art. 17 enthalten ist, ist zwar festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Zwischenmaßnahmen, die der Vorbereitung der endgültigen Entscheidung dienen, grundsätzlich keine Handlungen sind, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können (Urteil vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 50).
45 Eine Nichtigkeitsklage gegen Handlungen, die eine vorläufige Meinung der Kommission zum Ausdruck bringen, könnte nämlich den Unionsrichter zur Entscheidung über Fragen zwingen, zu denen das betreffende Organ sich noch nicht hat äußern können; sie würde damit der Erörterung der sachlichen Probleme vorgreifen und die verschiedenen Phasen des Verwaltungs- und des gerichtlichen Verfahrens durcheinanderbringen (Urteil vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 51).
46 Eine Zwischenmaßnahme kann nach der Rechtsprechung auch dann nicht Gegenstand einer Klage sein, wenn feststeht, dass die Rechtswidrigkeit dieser Handlung im Rahmen einer Klage gegen die endgültige Entscheidung, deren Vorbereitung sie dient, geltend gemacht werden kann. Unter derartigen Umständen bietet die Klage gegen die das Verfahren abschließende Entscheidung einen ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutz (Urteil vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Vorliegend geht aus dem streitigen Beschluss hervor, dass die nach Art. 18 der Verordnung Nr. 659/1999 von der Kommission vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen im Wesentlichen mit den ursprünglichen Angaben der Kommission im Schreiben nach Art. 17 an die niederländischen Behörden übereinstimmen. Die diesem Schreiben zugrunde liegende Prüfung wurde somit durch den streitigen Beschluss bestätigt.
48 Da jedoch das Schreiben nach Art. 17 einen ersten Schritt bei der Ausarbeitung des streitigen Beschlusses darstellt, können die Rechtsmittelführerinnen nicht daran gehindert sein, ihre Klage gegen diesen Beschluss darauf zu stützen, dass die in dem Schreiben enthaltene Beurteilung rechtswidrig sei.
49 Unter diesen Umständen hat das Gericht rechtsfehlerhaft gehandelt, als es die Argumente der Rechtsmittelführerinnen mit der Begründung zurückgewiesen hat, dass die von ihm durchzuführende Nachprüfung sich nicht auf die von der Kommission vorgenommene Prüfung der Beihilferegelung vor der Übernahme von Verpflichtungen durch die niederländischen Behörden erstrecke und dass diese Prüfung nicht Teil des streitigen Beschlusses sei.
50 Diese Feststellung wird nicht durch das Vorbringen der Kommission in Frage gestellt, wonach das ihrem Beschluss nach Art. 18 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 zugrunde liegende Ergebnis, dass die bestehende Beihilferegelung nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar sei, noch nicht endgültig gewesen sei.
51 Zwar führt wegen des Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV, auf dem das System der Überprüfung bestehender Beihilferegelungen basiert, das Verfahren nach dieser Bestimmung – im Unterschied zu dem Verfahren nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV – nicht zu einer förmlichen Feststellung der Unvereinbarkeit einer Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt.
52 Das ändert jedoch nichts daran, dass die Schlussfolgerung, die bestehende Beihilferegelung sei nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar, und der damit verbundene Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen ab dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission die Zustimmung des betreffenden Mitgliedstaats zu den Maßnahmen festgehalten hat, zwangsläufig die gleichen Rechtswirkungen haben wie eine entsprechende förmliche Feststellung in Bezug auf diesen Mitgliedstaat.
53 Allerdings verfügt die Kommission bei der Prüfung der Vereinbarkeit einer bestehenden Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt, die komplexe wirtschaftliche und soziale Bewertungen umfasst, über ein weites Ermessen. In diesem Rahmen beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle der Ausübung dieses Ermessens darauf, die Beachtung der Verfahrens- und Begründungsvorschriften sowie die inhaltliche Richtigkeit der festgestellten Tatsachen und das Fehlen von Rechtsfehlern, von offensichtlichen Fehlern bei der Bewertung der Tatsachen und von Ermessensmissbrauch zu überprüfen (vgl. entsprechend Urteil vom 26. September 2002, Spanien/Kommission, C‑351/98, EU:C:2002:530, Rn. 74).
54 Nach alledem greift der erste Rechtsmittelgrund durch.
Zweiter Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler, unzutreffende Beurteilung der relevanten Tatsachen und Begründungsmangel, da das Gericht der Ansicht gewesen sei, dass die von der Kommission vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen nur Vorschläge gewesen seien und durch die Zustimmung der niederländischen Behörden verbindlich geworden seien
Vorbringen der Parteien
55 Mit ihrem zweiten, gegen die Rn. 61 bis 66, 78 bis 80 und 90 bis 95 des angefochtenen Beschlusses gerichteten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, dass das Gericht Art. 108 Abs. 1 AEUV und die Verordnung Nr. 659/1999 verkannt habe, als es ihre Argumente in Bezug auf die von der Kommission verlangten zweckdienlichen Maßnahmen mit der Begründung zurückgewiesen habe, dass diese Maßnahmen nur Vorschläge gewesen seien und durch die Zustimmung der niederländischen Behörden verbindlich geworden seien. Das Urteil vom 22. Oktober 1996, Salt Union/Kommission (T‑330/94, EU:T:1996:154), auf das sich das Gericht in Rn. 63 des angefochtenen Beschlusses gestützt habe, betreffe die Frage der Zulässigkeit und sei nicht einschlägig. Ferner würde mit dem angefochtenen Beschluss dem Urteil vom 27. Februar 2014, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (C‑133/12 P, EU:C:2014:105), in dem der Gerichtshof ein legitimes Interesse der Rechtsmittelführerinnen an der Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses anerkannt habe, die Wirkung genommen.
56 Nach Ansicht der Kommission hat das Gericht Art. 108 Abs. 1 AEUV und ihre eigene Rolle im Verfahren der Zusammenarbeit bei der Überprüfung der Vereinbarkeit bestehender Beihilferegelungen mit dem Binnenmarkt durchaus berücksichtigt. Ihre Aufgabe im Rahmen dieses Verfahrens beschränke sich auf die Prüfung, ob die Verpflichtungen des betreffenden Mitgliedstaats ausreichten, um eine bestehende Beihilferegelung in Einklang mit dem Binnenmarkt zu bringen, und die Empfehlungen für zweckdienliche Maßnahmen seien nicht verbindlich.
57 Darüber hinaus werde dem Urteil vom 27. Februar 2014, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (C‑133/12 P, EU:C:2014:105), mit dem angefochtenen Beschluss nicht die Wirkung genommen, da die Rechtsmittelführerinnen die Möglichkeit hätten, die Anwendung des Beihilfebegriffs durch die Kommission zu beanstanden und die Unvereinbarkeit der geänderten Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt geltend zu machen.
58 Ferner hätte die Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses nicht zwangsläufig zur Folge, dass die Umstände vor der Änderung des allgemeinen Systems der staatlichen Beihilfen für die Wocos fortgälten, da die Entscheidung des niederländischen Gesetzgebers, eine solche Änderung vorzunehmen, politischer Natur sei und auf zahlreichen Erwägungen fuße. Den Mitgliedstaaten stehe es nämlich frei, eine bestehende Beihilferegelung aufzuheben, diese abzuschwächen oder sie durch eine andere Regelung, die mit dem Binnenmarkt vereinbar sei, zu ersetzen.
Würdigung durch den Gerichtshof
59 In den Rn. 63 und 64 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht im Wesentlichen die Auffassung vertreten, dass die zweckdienlichen Maßnahmen, die die Kommission nach Maßgabe von Art. 108 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Verordnung Nr. 659/1999 vorschlagen könne, lediglich Vorschläge darstellten, die der betreffende Mitgliedstaat annehmen oder ablehnen könne, und dass der Mitgliedstaat – wenn er ihnen zustimme – durch diese Zustimmung verpflichtet sei, sie umzusetzen.
60 In Rn. 65 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht unter Verweis auf Rn. 28 des Urteils vom 18. Juni 2002, Deutschland/Kommission (C‑242/00, EU:C:2002:380), und auf Rn. 52 des Urteils vom 4. Dezember 2013, Kommission/Rat (C‑121/10, EU:C:2013:784), die Auffassung vertreten, dass die zweckdienlichen Maßnahmen gegenüber dem Mitgliedstaat bindende Wirkung hätten, soweit er den Vorschlägen zustimme. Das Gericht hat diese Annahme in Rn. 79 des Beschlusses wiederholt.
61 Folglich hat das Gericht in Rn. 66 des angefochtenen Beschlusses das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des zweiten Klagegrundes, die Kommission habe ihre Befugnis überschritten, indem sie im streitigen Beschluss zweckdienliche Maßnahmen als verbindlich vorgeschrieben habe, mit der Begründung als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen, dass die Rechtsmittelführerinnen zu Unrecht behaupteten, die Kommission habe diese zweckdienlichen Maßnahmen im streitigen Beschluss verbindlich vorgeschrieben; in den Rn. 78 bis 80 des angefochtenen Beschlusses hat es das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen im Rahmen des vierten und des sechsten Klagegrundes als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen, die Kommission habe zum einen eine unrichtige Rechtsauffassung vertreten und ihre Befugnisse missbraucht, als sie von den niederländischen Behörden eine neue Definition des „sozialen Wohnungsbaus“ verlangt habe, und zum anderen die Entscheidung 2005/842/EG der Kommission vom 28. November 2005 über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden (ABl. 2005, L 312, S. 67), fehlerhaft ausgelegt, als sie eine spezifische Definition der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verlangt habe.
62 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 die Entscheidung der Kommission, mit der die Vorschläge des Mitgliedstaats festgehalten werden, diese Vorschläge verbindlich macht (Urteil vom 27. Februar 2014, Stichting Woonlinie u. a./Kommission, C‑133/12 P, EU:C:2014:105, Rn. 59).
63 Aus der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils und in Rn. 65 des angefochtenen Beschlusses angeführten Rechtsprechung ergibt sich nämlich, dass die zweckdienlichen Maßnahmen, die die Kommission nach Maßgabe von Art. 108 Abs. 1 AEUV vorschlägt, dem Mitgliedstaat gegenüber bindende Wirkung haben, soweit er ihnen zustimmt, wie dies in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehen ist. Diese Zustimmung hat jedoch gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung nur dann Rechtswirkungen, wenn die Kommission darüber in Kenntnis gesetzt wird und sie die Zustimmung festhält und den Mitgliedstaat hiervon unterrichtet.
64 Das Gericht hätte also die Begründetheit des in Rn. 61 des vorliegenden Urteils dargelegten Vorbringens der Rechtsmittelführerinnen prüfen müssen, und zwar unabhängig von der Frage, welche Rollen der Kommission und den Mitgliedstaaten beim Erlass der zweckdienlichen Maßnahmen zukommen.
65 Somit hat das Gericht in Rn. 65 des angefochtenen Beschlusses einen Rechtsfehler begangen und das in Rn. 61 des vorliegenden Urteils dargelegte Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen folglich zu Unrecht als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
66 In den Rn. 90 bis 95 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht entgegen der Auffassung der Rechtsmittelführerinnen nicht ihr Vorbringen in Bezug auf die von der Kommission verlangten zweckdienlichen Maßnahmen zurückgewiesen, sondern ihr Vorbringen im Rahmen des achten Klagegrundes geprüft. Mit diesem Klagegrund rügen die Rechtsmittelführerinnen jedoch, die Kommission habe das Verfahren in Bezug auf bestehende Beihilfemaßnahmen missbraucht und ihre Befugnisse überschritten, indem sie einem abschließenden Verzeichnis von Gebäuden zugestimmt habe, die als „Sozialimmobilien“ eingestuft werden könnten, obwohl sie weder im Schreiben nach Art. 17 noch in den Vorschlägen für zweckdienliche Maßnahmen Empfehlungen in Bezug auf die Erstellung eines solchen Verzeichnisses gegeben habe.
67 Der zweite Rechtsmittelgrund, kann daher – soweit die Rechtsmittelführerinnen damit dem Gericht vorwerfen, die Ansicht vertreten zu haben, dass die von der Kommission vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen nur Vorschläge gewesen seien und durch die Zustimmung der niederländischen Behörden verbindlich geworden seien – die Bewertungen in den Rn. 90 bis 95 des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage stellen.
68 Unter diesen Umständen ist dem zweiten Rechtsmittelgrund insoweit stattzugeben, als er die Beurteilungen in den Rn. 61 bis 66 und 78 bis 80 dieses Beschlusses betrifft.
69 Nach alledem ist der angefochtene Beschluss aufzuheben.
Zur Zurückverweisung der Sache an das Gericht
70 Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann dieser im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit entweder selbst endgültig entscheiden, wenn er zur Entscheidung reif ist, oder die Sache an das Gericht zurückverweisen.
71 Da das Gericht im vorliegenden Fall nicht die von ihm vorzunehmende Nachprüfung des streitigen Beschlusses durchgeführt und nicht die Begründetheit des in Rn. 61 des vorliegenden Urteils dargelegten Vorbringens der Rechtsmittelführerinnen geprüft hat, und zwar unabhängig von der Frage, welche Rollen der Kommission und den Mitgliedstaaten beim Erlass der zweckdienlichen Maßnahmen zukommen, hält der Gerichtshof den vorliegenden Rechtsstreit nicht für entscheidungsreif. Deshalb ist die Sache an das Gericht zurückzuverweisen.
Kosten
72 Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens vorzubehalten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss des Gerichts der Europäischen Union vom 12. Mai 2015, Stichting Woonlinie u. a./Kommission (T‑202/10 RENV, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:287), wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. März 2017.#A u. a. gegen Minister van Buitenlandse Zaken.#Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – Spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus – Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP – Rahmenbeschluss 2002/475/JI – Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 – Art. 2 Abs. 3 – Aufnahme der Organisation der ‚Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE)‘ in die Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind – Vorlagefrage nach der Gültigkeit dieser Aufnahme – Vereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht – Begriff der terroristischen Handlung – Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten.#Rechtssache C-158/14.
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62014CJ0158
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ECLI:EU:C:2017:202
| 2017-03-14T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0158
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
14. März 2017 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) — Spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus — Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP — Rahmenbeschluss 2002/475/JI — Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 — Art. 2 Abs. 3 — Aufnahme der Organisation der ‚Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE)‘ in die Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind — Vorlagefrage nach der Gültigkeit dieser Aufnahme — Vereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht — Begriff der terroristischen Handlung — Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten“
In der Rechtssache C‑158/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 2. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 4. April 2014, in dem Verfahren
A,
B,
C,
D
gegen
Minister van Buitenlandse Zaken
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, E. Juhász und M. Vilaras sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter), A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits, F. Biltgen und C. Lycourgos,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. März 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von A und B, vertreten durch A. M. van Eik, A. Eikelboom und T. Buruma, advocaten,
—
von C und D, vertreten durch H. Seton und X. B. Sijmons, advocaten,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch M. A. Sampol Pucurull, L. Banciella Rodríguez-Miñón und J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon, L. Christie und V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von M. Lester, Barrister,
—
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch F. Naert und G. Étienne als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre, F. Ronkes Agerbeek und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 29. September 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. 2002, L 164, S. 3) in der durch den Rahmenbeschluss 2008/919/JI des Rates vom 28. November 2008 (ABl. 2008, L 330, S. 21) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/475), des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. 2001, L 344, S. 93) und der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 des Rates vom 27. Dezember 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. 2001, L 344, S. 70) und zum anderen die Gültigkeit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 610/2010 des Rates vom 12. Juli 2010 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1285/2009 (ABl. 2010, L 178, S. 1), soweit sie die Organisation der „Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE)“ (oder, in englischer Sprache, die „Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE)“, im Folgenden: Organisation der LTTE) auf der in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 genannten Liste von Vereinigungen und Körperschaften (im Folgenden: Liste betreffend das Einfrieren von Geldern) belässt.
2 Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten von A, B, C und D (im Folgenden zusammen: A u. a.) jeweils gegen den Minister van Buitenlandse Zaken (Außenminister, im Folgenden: Minister) über restriktive Maßnahmen, die gegen diese Personen nach der nationalen Gesetzgebung im Bereich der Verfolgung von Terrorakten verhängt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
3 Nach den am 11. September 2001 in New York (Vereinigte Staaten), Washington (Vereinigte Staaten) und Pennsylvania (Vereinigte Staaten) verübten Terroranschlägen verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 28. September 2001 die Resolution 1373 (2001).
4 In den Erwägungsgründen dieser Resolution bekräftigt der Sicherheitsrat u. a. die „Notwendigkeit, durch terroristische Handlungen verursachte Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit mit allen Mitteln im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen zu bekämpfen“. Weiter heißt es darin, dass die Staaten „die internationale Zusammenarbeit durch zusätzliche Maßnahmen ergänzen müssen, um die Finanzierung und Vorbereitung terroristischer Handlungen in ihrem Hoheitsgebiet mit allen rechtlich zulässigen Mitteln zu verhüten und zu bekämpfen“.
5 In Ziff. 1 der genannten Resolution beschließt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen,
„… dass alle Staaten
a)
die Finanzierung terroristischer Handlungen verhüten und bekämpfen werden;
b)
die vorsätzliche Bereitstellung oder Sammlung von Geldern, gleichviel durch welche Mittel und ob mittelbar oder unmittelbar, durch ihre Staatsangehörigen oder in ihrem Hoheitsgebiet mit der Absicht oder in Kenntnis dessen, dass diese Gelder zur Ausführung terroristischer Handlungen verwendet werden, unter Strafe stellen werden;
…
d)
ihren Staatsangehörigen oder allen Personen und Einrichtungen in ihrem Hoheitsgebiet untersagen werden, Gelder, finanzielle Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen oder Finanz- oder damit zusammenhängende Dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar zum Nutzen von Personen zur Verfügung zu stellen, die terroristische Handlungen begehen, zu begehen versuchen, erleichtern oder sich daran beteiligen, oder zum Nutzen von Einrichtungen, die unmittelbar oder mittelbar im Eigentum oder unter der Kontrolle dieser Personen stehen oder zum Nutzen von Personen und Einrichtungen, die im Namen oder auf Anweisung dieser Personen handeln;
…“
Die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und ihre Zusatzprotokolle
6 Art. 2, der in den vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949, d. h. dem Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde (United Nations Treaty Series, Bd. 75, S. 31, im Folgenden: erstes Genfer Abkommen), dem Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See (United Nations Treaty Series, Bd. 75, S. 85, im Folgenden: zweites Genfer Abkommen), dem Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen (United Nations Treaty Series, Bd. 75, S. 135, im Folgenden: drittes Genfer Abkommen) und dem Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (United Nations Treaty Series, Bd. 75, S. 287, im Folgenden: viertes Genfer Abkommen) (im Folgenden zusammen: vier Genfer Abkommen) jeweils gleich lautet, bestimmt:
„Außer den Bestimmungen, die bereits in Friedenszeiten durchzuführen sind, findet das vorliegende Abkommen Anwendung in allen Fällen eines erklärten Krieges oder eines anderen bewaffneten Konflikts, der zwischen zwei oder mehreren der Hohen Vertragsparteien entsteht, auch wenn der Kriegszustand von einer dieser Parteien nicht anerkannt wird.
Das Abkommen findet auch in allen Fällen vollständiger oder teilweiser Besetzung des Gebietes einer Hohen Vertragspartei Anwendung, selbst wenn diese Besetzung auf keinen bewaffneten Widerstand stößt.
…“
7 Nach Art. 33 des vierten Genfer Abkommens gilt:
„Keine geschützte Person darf wegen einer Tat bestraft werden, die sie nicht persönlich begangen hat. Kollektivstrafen sowie jede Maßnahme zur Einschüchterung oder Terrorisierung sind untersagt. …“
8 Die vier Genfer Abkommen waren Gegenstand mehrerer Zusatzprotokolle. Dabei handelt es sich um das Zusatzprotokoll zu den vier Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 8. Juni 1977 (United Nations Treaty Series, Bd. 1125, S. 3), das Zusatzprotokoll zu den vier Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) vom 8. Juni 1977 (United Nations Treaty Series, Bd. 1125, S. 609) und das Zusatzprotokoll zu den vier Genfer Abkommen über die Annahme eines zusätzlichen Schutzzeichens (Protokoll III) vom 8. Dezember 2005 (United Nations Treaty Series, Bd. 2404, S. 261) (im Folgenden zusammen: Zusatzprotokolle).
9 Art. 1 Abs. 3 und 4 des Protokolls I sieht vor:
„(3) Dieses Protokoll, das die [vier Genfer Abkommen] ergänzt, findet in Situationen Anwendung, die in dem diesen Abkommen gemeinsamen Artikel 2 bezeichnet sind.
(4) Zu den in Absatz 3 genannten Situationen gehören auch bewaffnete Konflikte, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen, wie es in der Charta der Vereinten Nationen und in der Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist.“
10 Art. 51 Abs. 2 dieses Protokolls lautet wie folgt:
„Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten.“
11 In Art. 1 des Protokolls II heißt es:
„(1) Dieses Protokoll, das den den [vier Genfer Abkommen] gemeinsamen Artikel 3 weiterentwickelt und ergänzt, ohne die bestehenden Voraussetzungen für seine Anwendung zu ändern, findet auf alle bewaffneten Konflikte Anwendung, die von Artikel 1 des [Protokolls I] nicht erfasst sind und die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen.
(2) Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten.“
12 In Art. 4 Abs. 1 und 2 dieses Protokolls heißt es:
„(1) Alle Personen, die nicht unmittelbar oder nicht mehr an Feindseligkeiten teilnehmen, haben, gleichviel ob ihnen die Freiheit entzogen ist oder nicht, Anspruch auf Achtung ihrer Person, ihrer Ehre, ihrer Überzeugungen und ihrer religiösen Gepflogenheiten. Sie werden unter allen Umständen mit Menschlichkeit und ohne jede nachteilige Unterscheidung behandelt. Es ist verboten, den Befehl zu erteilen, niemanden am Leben zu lassen.
(2) Unbeschadet der allgemeinen Gültigkeit der vorstehenden Bestimmungen sind und bleiben in Bezug auf die in Absatz 1 genannten Personen jederzeit und überall verboten
…
d)
terroristische Handlungen;
…
h)
die Androhung einer dieser Handlungen.“
13 Art. 6 des Protokolls bestimmt:
„(1) Dieser Artikel findet auf die Verfolgung und Bestrafung solcher Straftaten Anwendung, die mit dem bewaffneten Konflikt im Zusammenhang stehen.
…
(5) Bei Beendigung der Feindseligkeiten bemühen sich die an der Macht befindlichen Stellen, denjenigen Personen eine möglichst weitgehende Amnestie zu gewähren, die am bewaffneten Konflikt teilgenommen haben oder denen aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt die Freiheit entzogen wurde, gleichviel ob sie interniert oder in Haft gehalten sind.“
14 Art. 13 Abs. 2 des Protokolls lautet:
„Weder die Zivilbevölkerung als solche noch einzelne Zivilpersonen dürfen das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten.“
15 Die Europäische Union ist weder Vertragspartei der vier Genfer Abkommen noch der Zusatzprotokolle. Dagegen sind alle Mitgliedstaaten jeweils Vertragsparteien.
Das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge
16 Im letzten Erwägungsgrund des am 15. Dezember 1997 in New York unterzeichneten Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge (United Nations Treaty Series, Bd. 2149, S. 256) heißt es:
„[U]nter Hinweis darauf, dass die Tätigkeiten der Streitkräfte der Staaten durch Regeln des Völkerrechts erfasst werden, die außerhalb des Rahmens dieses Übereinkommens liegen, und dass das Ausnehmen bestimmter Handlungen vom Geltungsbereich des Übereinkommens nicht bedeutet, dass ansonsten rechtswidrige Handlungen entschuldigt oder rechtmäßig werden oder dass die Verfolgung nach anderen Gesetzen verhindert wird …
…“
17 Art. 19 Abs. 2 des Übereinkommens sieht vor:
„Die Tätigkeiten von Streitkräften während eines bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts, die von jenem Recht erfasst werden, sind von diesem Übereinkommen nicht erfasst; die Tätigkeiten, die Streitkräfte eines Staates in Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten ausüben, sind von diesem Übereinkommen ebenfalls nicht erfasst, soweit sie von anderen Regeln des Völkerrechts erfasst sind.“
18 Die Union ist keine Vertragspartei dieses Übereinkommens. Dagegen sind alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien.
Das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus
19 Art. 2 Abs. 1 des am 9. Dezember 1999 in New York unterzeichneten Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (United Nations Treaty Series, Bd. 2178, S. 197) bestimmt:
„Eine Straftat im Sinne dieses Übereinkommens begeht, wer auf irgendeinem Wege unmittelbar oder mittelbar, widerrechtlich und vorsätzlich finanzielle Mittel bereitstellt oder sammelt in der Absicht oder in Kenntnis dessen, dass sie ganz oder teilweise verwendet werden, um
…
b)
eine andere Handlung vorzunehmen, die den Tod oder eine schwere Körperverletzung einer Zivilperson oder einer anderen Person, die bei einem bewaffneten Konflikt nicht aktiv an den Feindseligkeiten teilnimmt, herbeiführen soll, wenn diese Handlung aufgrund ihres Wesens oder der Umstände darauf abzielt, die Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen.“
20 Nach Art. 8 Abs. 1 dieses Übereinkommens treffen die Vertragsstaaten in Übereinstimmung mit ihren innerstaatlichen Rechtsgrundsätzen geeignete Maßnahmen zur Feststellung, Ermittlung und Sicherstellung oder Beschlagnahme jeglicher für die Begehung der in Art. 2 des Übereinkommens genannten Straftaten verwendeten oder bestimmten finanziellen Mittel sowie der durch diese Straftaten erlangten Erträge, um diese gegebenenfalls einzuziehen.
21 Art. 21 des Übereinkommens lautet:
„Dieses Übereinkommen berührt nicht die sonstigen Rechte, Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, die sich für Staaten und Einzelpersonen aus dem Völkerrecht, insbesondere den Zielen der Charta der Vereinten Nationen, dem humanitären Völkerrecht und sonstigen einschlägigen Übereinkommen, ergeben.“
22 Die Union ist keine Vertragspartei des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus. Dagegen sind alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien.
Das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung nuklearterroristischer Handlungen
23 Art. 4 Abs. 2 des am 13. April 2005 in New York unterzeichneten Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung nuklearterroristischer Handlungen (United Nations Treaty Series, Bd. 2445, S. 89) lautet:
„Die Tätigkeiten von Streitkräften während eines bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts, die von jenem Recht erfasst werden, sind von diesem Übereinkommen nicht erfasst; die Tätigkeiten, die Streitkräfte eines Staates in Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten ausüben, sind von diesem Übereinkommen ebenfalls nicht erfasst, soweit sie von anderen Regeln des Völkerrechts erfasst sind.“
24 Die Union ist keine Vertragspartei dieses Übereinkommens. Dagegen sind die allermeisten Mitgliedstaaten Vertragsparteien.
Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus
25 Art. 26 Abs. 5 des am 16. Mai 2005 in Warschau unterzeichneten Übereinkommens des Europarats zur Verhütung des Terrorismus (Sammlung der Europaratsverträge Nr. 196) lautet wie folgt:
„Die Tätigkeiten von Streitkräften während eines bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts, die von jedem Recht erfasst werden, sind von diesem Übereinkommen nicht erfasst; die Tätigkeiten, die Streitkräfte einer Vertragspartei in Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten ausüben, sind von diesem Übereinkommen ebenfalls nicht erfasst, soweit sie von anderen Regeln des Völkerrechts erfasst sind.“
26 Die Union hat dieses Übereinkommen gemäß dem Beschluss (EU) 2015/1913 des Rates vom 18. September 2015 über die Unterzeichnung – im Namen der Europäischen Union – des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung des Terrorismus (ABl. 2015, L 280, S. 22) hinsichtlich der Angelegenheiten unterzeichnet, die in die Zuständigkeit der Union fallen. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat es ebenfalls unterzeichnet und ratifiziert.
Unionsrecht
Gemeinsamer Standpunkt 2001/931
27 Wie sich aus seinen Erwägungsgründen ergibt, dient der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 der Umsetzung der Resolution 1373 (2001) – durch Handlungen sowohl auf Unionsebene als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten –, mit der der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen hat, dass alle Staaten die Finanzierung von terroristischen Handlungen zu verhindern und zu bestrafen haben.
28 Art. 1 dieses Gemeinsamen Standpunkts bestimmt:
„(1) Dieser Gemeinsame Standpunkt gilt im Einklang mit den Bestimmungen der nachstehenden Artikel für die im Anhang aufgeführten Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind.
(2) Im Sinne dieses Gemeinsamen Standpunkts bezeichnet der Ausdruck ‚Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind‘
—
Personen, die terroristische Handlungen begehen, zu begehen versuchen oder sich an deren Begehung beteiligen oder diese erleichtern;
—
Vereinigungen oder Körperschaften, die unmittelbar oder mittelbar Eigentum dieser Personen sind oder unter deren Kontrolle stehen; ferner Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die im Namen oder auf Weisung dieser Personen, Vereinigungen und Körperschaften handeln, einschließlich der Gelder, die aus Vermögen stammen oder hervorgehen, das unmittelbar oder mittelbar Eigentum dieser Personen und mit ihnen assoziierter Personen, Vereinigungen und Körperschaften ist oder unter deren Kontrolle steht.
(3) Im Sinne dieses Gemeinsamen Standpunkts bezeichnet der Ausdruck ‚terroristische Handlung‘ eine der nachstehend aufgeführten vorsätzlichen Handlungen, die durch ihre Art oder durch ihren Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen kann und im innerstaatlichen Recht als Straftat definiert ist, wenn sie mit dem Ziel begangen wird,
i)
die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder
ii)
eine Regierung oder eine internationale Organisation unberechtigterweise zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder
iii)
die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören:
a)
Anschläge auf das Leben einer Person, die zum Tode führen können;
b)
Anschläge auf die körperliche Unversehrtheit einer Person;
c)
Entführung oder Geiselnahme;
d)
weit reichende Zerstörungen an einer Regierungseinrichtung oder einer öffentlichen Einrichtung, einem Verkehrssystem, einer Infrastruktur einschließlich eines Informatiksystems, einer festen Plattform, die sich auf dem Festlandsockel befindet, einem allgemein zugänglichen Ort oder einem Privateigentum, die Menschenleben gefährden oder zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führen können;
e)
Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Güterverkehrsmitteln;
f)
Herstellung, Besitz, Erwerb, Beförderung oder Bereitstellung oder Verwendung von Schusswaffen, Sprengstoffen, Kernwaffen, biologischen und chemischen Waffen sowie die Forschung und Entwicklung in Bezug auf biologische und chemische Waffen;
g)
Freisetzung gefährlicher Stoffe oder Herbeiführen eines Brandes, einer Explosion oder einer Überschwemmung, wenn dadurch das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird;
h)
Manipulation oder Störung der Versorgung mit Wasser, Strom oder anderen lebenswichtigen natürlichen Ressourcen, wenn dadurch das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird;
i)
Drohung mit der Begehung einer der unter den Buchstaben a) bis h) genannten Straftaten;
j)
Anführen einer terroristischen Vereinigung;
k)
Beteiligung an den Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Aktivitäten in dem Wissen, dass diese Beteiligung zu den kriminellen Aktivitäten der Gruppe beiträgt.
Im Sinne dieses Absatzes bezeichnet der Ausdruck ‚terroristische Vereinigung‘ einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die in Verabredung handeln, um terroristische Handlungen zu begehen. Der Ausdruck ‚organisierter Zusammenschluss‘ bezeichnet einen Zusammenschluss, der nicht zufällig zur unmittelbaren Begehung einer terroristischen Handlung gebildet wird und der nicht notwendigerweise förmlich festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Mitgliedschaft oder eine ausgeprägte Struktur hat.
(4) Die Liste im Anhang wird auf der Grundlage genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten erstellt, aus denen sich ergibt, dass eine zuständige Behörde – gestützt auf ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien – gegenüber den betreffenden Personen, Vereinigungen oder Körperschaften einen Beschluss gefasst hat, bei dem es sich um die Aufnahme von Ermittlungen oder um Strafverfolgung wegen einer terroristischen Handlung oder des Versuchs, eine terroristische Handlung zu begehen, daran teilzunehmen oder sie zu erleichtern[,] oder um eine Verurteilung für derartige Handlungen handelt. …
…“
Verordnung Nr. 2580/2001
29 Nach Art. 1 Nr. 4 der Verordnung Nr. 2580/2001 gilt für die Zwecke dieser Verordnung die in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 enthaltene Bestimmung des Begriffs „terroristische Handlung“.
30 Art. 2 der Verordnung Nr. 2580/2001 bestimmt:
„(1) Sofern nicht eine Ausnahme nach Artikel 5 oder 6 vorliegt,
a)
werden alle Gelder, andere finanzielle Vermögenswerte und wirtschaftliche Ressourcen, die einer in der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 aufgeführten natürlichen oder juristischen Person, Vereinigung oder Körperschaft gehören oder in deren Eigentum stehen oder von ihr verwahrt werden, eingefroren;
…
(2) Sofern nicht eine Ausnahme nach Artikel 5 oder 6 vorliegt, ist die Erbringung von Finanzdienstleistungen für eine in der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 aufgeführte natürliche oder juristische Person, Vereinigung oder Körperschaft oder zu ihren Gunsten untersagt.
(3) Der Rat erstellt, überprüft und ändert einstimmig und im Einklang mit Artikel 1 Absätze 4, 5 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts [2001/931] die Liste der dieser Verordnung unterfallenden Personen, Vereinigungen oder Körperschaften. In dieser Liste sind aufgeführt:
i)
natürliche Personen, die eine terroristische Handlung begehen oder zu begehen versuchen oder sich an deren Begehung beteiligen oder diese erleichtern;
ii)
juristische Personen, Vereinigungen oder Körperschaften, die eine terroristische Handlung begehen oder zu begehen versuchen oder sich an deren Begehung beteiligen oder diese erleichtern;
…“
31 Nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2580/2001 ist die wissentliche und beabsichtigte Beteiligung an Maßnahmen untersagt, deren Ziel oder Folge direkt oder indirekt die Umgehung von Art. 2 dieser Verordnung ist.
32 Art. 9 der Verordnung Nr. 2580/2001 lautet wie folgt:
„Jeder Mitgliedstaat legt die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die Bestimmungen dieser Verordnung zu verhängen sind. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“
Rahmenbeschluss 2002/475
33 Wie sich aus seinen Erwägungsgründen 6 und 7 ergibt, hat der Rahmenbeschluss 2002/475 u. a. die Angleichung der Definition der terroristischen Straftaten in allen Mitgliedstaaten, die Bestimmung von Strafen und Sanktionen, die die Schwere dieser Straftaten widerspiegeln, und den Erlass von Vorschriften zur gerichtlichen Zuständigkeit zur Sicherstellung einer wirksamen Verfolgung terroristischer Straftaten zum Gegenstand.
34 Im elften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt es:
„Dieser Rahmenbeschluss gilt nicht für die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts, die diesem Recht unterliegen, und die Aktivitäten der Streitkräfte eines Staates in Wahrnehmung ihres offiziellen Auftrags, soweit sie anderen Regeln des Völkerrechts unterliegen –
…“
35 Art. 1 („Terroristische Straftaten sowie Grundrechte und Rechtsgrundsätze“) Abs. 1 des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die unter den Buchstaben a) bis i) aufgeführten, nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften als Straftaten definierten vorsätzlichen Handlungen, die durch die Art ihrer Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen können, als terroristische Straftaten eingestuft werden, wenn sie mit dem Ziel begangen werden,
—
die Bevölkerung auf schwer wiegende Weise einzuschüchtern oder
—
öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder
—
die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören:
a)
Angriffe auf das Leben einer Person, die zum Tode führen können;
b)
Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit einer Person;
c)
Entführung oder Geiselnahme;
d)
schwer wiegende Zerstörungen an einer Regierungseinrichtung oder einer öffentlichen Einrichtung, einem Verkehrsmittel, einer Infrastruktur einschließlich eines Informatiksystems, einer festen Plattform, die sich auf dem Festlandsockel befindet, einem allgemein zugänglichen Ort oder einem Privateigentum, die Menschenleben gefährden oder zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führen können;
e)
Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Gütertransportmitteln;
f)
Herstellung, Besitz, Erwerb, Beförderung oder Bereitstellung oder Verwendung von Schusswaffen, Sprengstoffen, atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie die Forschung und Entwicklung im Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waffen;
g)
Freisetzung gefährlicher Stoffe oder Herbeiführen von Bränden, Überschwemmungen oder Explosionen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefährdet wird;
h)
Störung oder Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Strom oder anderen lebenswichtigen natürlichen Ressourcen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefährdet wird;
i)
Drohung, eine der in a) bis h) genannten Straftaten zu begehen.“
36 Art. 2 („Straftaten im Zusammenhang mit einer terroristischen Vereinigung“) des Rahmenbeschlusses lautet wie folgt:
„(1) Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Begriff ‚terroristische Vereinigung‘ einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um terroristische Straftaten zu begehen. Der Begriff ‚organisierter Zusammenschluss‘ bezeichnet einen Zusammenschluss, der nicht nur zufällig zur unmittelbaren Begehung einer strafbaren Handlung gebildet wird und der nicht notwendigerweise förmlich festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Zusammensetzung oder eine ausgeprägte Struktur hat.
(2) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, damit die nachstehenden vorsätzlichen Handlungen unter Strafe gestellt werden:
a)
Anführen einer terroristischen Vereinigung,
b)
Beteiligung an den Handlungen einer terroristischen Vereinigung einschließlich Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Tätigkeit mit dem Wissen, dass diese Beteiligung zu den strafbaren Handlungen der terroristischen Vereinigung beiträgt.“
Beschlüsse 2001/927/EG und 2006/379/EG
37 Mit dem Beschluss 2001/927/EG des Rates vom 27. Dezember 2001 zur Aufstellung der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 (ABl. 2001, L 344, S. 83) wurde eine erste Liste von Personen, Vereinigungen und Körperschaften erstellt, auf die die genannte Verordnung Anwendung findet.
38 Mit dem Beschluss 2006/379/EG vom 29. Mai 2006 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/930/EG (ABl. 2006, L 144, S. 21) nahm der Rat die Organisation der LTTE in diese Liste auf. In der Folge verblieb diese Organisation in Anwendung der aufeinanderfolgenden Beschlüsse und Durchführungsverordnungen, mit denen diese Liste durch eine neue ersetzt wurde und der vorherige Beschluss bzw. die vorherige Durchführungsverordnung aufgehoben wurden, auf der Liste. Die Organisation der LTTE stand somit auf der Liste betreffend das Einfrieren von Geldern im Anhang der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010.
Niederländisches Recht
39 Nach Art. 2 Abs. 1 der Sanctieregeling terrorisme 2007‑II (Ministerialerlass über Sanktionen auf dem Gebiet des Terrorismus 2007‑II; im Folgenden: Ministerialerlass über Sanktionen von 2007) kann der Minister, wenn Personen oder Organisationen nach seiner Auffassung zum Kreis der in der Resolution 1373 (2001) genannten Personen oder Organisationen gehören, gegenüber diesen Personen oder Organisationen einen sogenannten Benennungsbescheid erlassen.
40 Nach Art. 2 Abs. 2 dieses Erlasses werden alle Ressourcen, die den von Art. 2 Abs. 1 erfassten Personen und Organisationen gehören, eingefroren.
41 Nach Art. 2 Abs. 3 des Erlasses ist es verboten, an von Art. 2 Abs. 1 erfasste Personen oder Organisationen bzw. zum Nutzen solcher Personen oder Organisationen Finanzdienstleistungen zu erbringen.
42 Nach Art. 2 Abs. 4 des Ministerialerlasses über Sanktionen von 2007 ist es untersagt, den von Art. 2 Abs. 1 des Erlasses erfassten Personen oder Organisationen unmittelbar oder mittelbar Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
43 Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich, dass der Minister am 8. Juni 2010 auf der Grundlage des Ministerialerlasses über Sanktionen von 2007 Benennungsbescheide gegen A u. a. (im Folgenden: Bescheide vom 8. Juni 2010) erließ, was zur Folge hatte, dass ihre jeweiligen finanziellen Ressourcen eingefroren wurden. Mit Bescheiden vom 10. Januar 2011, 8. Dezember 2010 und 25. November 2010 wies der Minister die von diesen Personen gegen die Bescheide vom 8. Juni 2010 eingelegten Rechtsbehelfe zurück. Er stützte diese Zurückweisungen auf den Umstand, dass A u. a. seiner Auffassung nach jeweils zum Kreis der von der Resolution 1373 (2001) erfassten Personen und Organisationen gehörten. Der Minister berücksichtigte ferner einen offiziellen Bericht des Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst (Allgemeiner Nachrichten- und Sicherheitsdienst, Niederlande) vom 14. Oktober 2008, nach dem sie für die Organisation der LTTE Mittel beschafft haben sollen. Der Minister trug weiterhin der Aufnahme dieser Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern Rechnung. Er stützte sich außerdem auf den Umstand, dass die Staatsanwaltschaft gegen A u. a. Strafverfahren wegen Beteiligung an einer terroristischen Organisation im Sinne des niederländischen Strafgesetzbuchs und wegen einer zugunsten der Organisation der LTTE begangenen Zuwiderhandlung gegen Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie Art. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 eingeleitet hatte.
44 Mit Urteilen vom 20. Dezember 2011, 18. Januar 2012 bzw. 30. August 2012 wiesen die Abteilungen für Verwaltungsrechtssachen der Rechtbank Zwolle-Lelystad (Bezirksgericht Zwolle-Lelystad, Niederlande), der Rechtbank ’s‑Gravenhage (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) und der Rechtbank Alkmaar (Bezirksgericht Alkmaar, Niederlande) die von A u. a. gegen die Bescheide des Ministers, mit denen dieser die Bescheide vom 8. Juni 2010 aufrechterhalten hatte, erhobenen Klagen ab. A u. a. legten gegen diese Urteile bei dem vorlegenden Gericht, dem Raad van State (Staatsrat, Niederlande) Rechtsmittel ein.
45 Im Rahmen dieser Rechtsmittel machen A u. a. insbesondere geltend, dass die Organisation der LTTE keine terroristische Organisation sei, da der Konflikt zwischen der sri-lankischen Regierung und dieser Organisation als ein bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts anzusehen sei. Die Aufnahme der Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern sei folglich rechtswidrig.
46 Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass Art. 2 des Ministerialerlasses über Sanktionen von 2007 der Umsetzung der Resolution 1373 (2001) diene und dass diese Bestimmung weder auf die Verordnung Nr. 2580/2001 noch auf den Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 verweise. Da der Minister seine Auffassung, nach der die Organisation der LTTE eine terroristische Organisation sei, ausdrücklich auf die Aufnahme dieser Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern gestützt habe, sei jedoch davon auszugehen, dass diese Aufnahme die Grundlage der Bescheide vom 8. Juni 2010 darstelle. Da sich der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 und die Verordnung Nr. 2580/2001 auf die Resolution 1373 (2001) bezögen, sei der Minister nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gehalten gewesen, die in diese Liste aufgenommenen Organisationen als terroristische Organisationen anzusehen. Allerdings könne die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte des Rates der Europäischen Union, mit denen dieser die Organisation der LTTE auf der Liste betreffend das Einfrieren von Geldern, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide vom 8. Juni 2010 gegolten habe, belassen habe, sowie die Gültigkeit der nachfolgenden Rechtsakte, mit denen dieses Organ die Organisation der LTTE auf dieser Liste belassen habe, in Anbetracht der von A u. a. vorgebrachten Argumente in Zweifel gezogen werden.
47 In Anbetracht der Urteile vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf (C‑188/92, EU:C:1994:90), und vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), möchte das vorlegende Gericht weiterhin wissen, ob A u. a. das Recht zuzusprechen ist, vor ihm den Einwand der Rechtswidrigkeit dieser Rechtsakte zu erheben, da diese Personen nicht die Nichtigerklärung dieser Maßnahmen vor den Unionsgerichten beantragt hätten. A u. a. befinden sich nach Ansicht dieses Gerichts in einer ähnlichen tatsächlichen Situation wie die Personen, denen in der Rechtssache, in der das Urteil vom 29. Juni 2010, E und F (C‑550/09, EU:C:2010:382), ergangen ist, vorgeworfen wurde, Mitglieder der Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP‑C) zu sein. In jenem Urteil habe der Gerichtshof entschieden, dass diese Personen nicht unbestreitbar berechtigt gewesen seien, auf der Grundlage von Art. 230 EG im Wege der Nichtigkeitsklage gegen die Aufnahme der DHKP‑C in die in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 genannte Liste vorzugehen. Fraglich sei, ob die in jenem Urteil gefundene Lösung unter der Geltung von Art. 263 AEUV übertragbar sei, da diese Bestimmung die Möglichkeiten für den Einzelnen, Rechtsakte der Union anzufechten, erweitert habe. Das vorlegende Gericht weist u. a. darauf hin, dass dann, wenn im Hinblick auf Art. 263 AEUV davon auszugehen sei, dass Personen, die sich in einer Situation wie A u. a. befänden, vor den nationalen Gerichten nicht den Einwand der Rechtswidrigkeit der Aufnahme einer Organisation in die Liste erheben könnten, jeder, der befürchte, eine nationale Behörde werde gegen ihn wegen einer tatsächlichen oder vermeintlichen Beteiligung an einer in die in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 genannte Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommenen Organisation Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus festsetzen, vorsorglich gegen die Aufnahme dieser Organisation in diese Liste Klage erheben müsste. Eine solche Situation verstieße jedoch nach Auffassung des vorlegenden Gerichts gegen das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen.
48 Für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass eine von A u. a. gegen die Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 erhobene Nichtigkeitsklage nicht ohne jeden Zweifel zulässig wäre, wirft das vorlegende Gericht schließlich die Frage nach der Gültigkeit der Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern auf. Erstens sei es, ungeachtet des Wortlauts des elften Erwägungsgrundes des Rahmenbeschlusses 2002/475, nicht ausgeschlossen, dass Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts als terroristische Straftaten anzusehen seien. In Anbetracht des Wertungsspielraums, den die Definition der „terroristischen Straftat“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses lasse, sei es indessen gestattet, bei der Feststellung, ob die Aktivitäten der Organisation der LTTE als „terroristische Straftaten“ einzustufen seien, den Umstand zu berücksichtigen, dass sie als Streitkraft in einem bewaffneten Konflikt gehandelt habe.
49 Zweitens weist dieses Gericht darauf hin, dass weder der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 noch die Verordnung Nr. 2580/2001 klarstellten, ob der Umstand, dass die darin genannten Handlungen oder Straftaten von Streitkräften bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts begangen worden seien, zu beachten sei. Es geht jedoch in Anbetracht der Entsprechung zwischen der Definition der „terroristischen Handlung“ in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Definition der „terroristischen Straftat“ in Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/475 davon aus, dass Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten, wenn sie vom Begriff der „terroristischen Straftat“ im Sinne dieses Rahmenbeschlusses nicht erfasst sein sollten, auch keine „terroristischen Handlungen“ im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 darstellen könnten.
50 Drittens stellt das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf die vier Genfer Abkommen von 1949 und die Zusatzprotokolle, Art. 19 Abs. 2 des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge, Art. 4 Abs. 2 des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung nuklearterroristischer Handlungen, Art. 26 Abs. 5 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung des Terrorismus und Art. 12 des Internationalen Übereinkommens gegen Geiselnahme fest, dass diese internationalen Übereinkünfte im Bereich des Terrorismus die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten aus ihrem jeweiligen Anwendungsbereich ausschlössen, was dafür sprechen dürfte, dass international Einvernehmen darüber bestehe, dass die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts nicht als terroristische Aktivitäten anzusehen seien. Das vorlegende Gericht bezieht sich allerdings auch auf Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus, Art. 33 des vierten Genfer Abkommens sowie auf Art. 4 Abs. 2 Buchst. d des Protokolls II und weist darauf hin, dass solche Aktivitäten nach diesen Übereinkünften nicht als terroristische Aktivitäten anzusehen seien, soweit sie sich nicht gegen Zivilpersonen oder andere Personen richteten, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnähmen.
51 Viertens stellt das vorlegende Gericht fest, dass der Rat die Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern mit dem Hinweis auf eine Reihe von Anschlägen begründet habe, die die Organisation der LTTE in der Zeit vom 12. August 2005 bis zum 12. April 2009 in Sri Lanka begangen haben solle und die daher im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen der sri-lankischen Regierung und dieser Organisation stünden. Es erläutert des Weiteren, der Minister habe in einem offiziellen Bericht von August 2009 anhand der in Art. 1 des Protokolls II genannten Kriterien die Auffassung vertreten, dass dieser Konflikt bis zum 18. Mai 2009 ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt gewesen sei. Außerdem habe der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen den Konflikt bis Juli 2009 als „bewaffneten Konflikt“ eingestuft. Schließlich betont das vorlegende Gericht die Bedeutung, die die Feststellung, ob dem bewaffneten Konflikt ein nicht internationaler Charakter im Sinne des humanitären Völkerrechts zukomme, seinem Dafürhalten nach habe.
52 Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wären A u. a. – u. a. aufgrund von Art. 47 der Charta – ohne Zweifel befugt gewesen, im eigenen Namen nach Art. 263 AEUV vor dem Gericht Klage auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 zu erheben, soweit die Organisation der LTTE durch diese Verordnung in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommen worden ist?
2. a)
Können Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts – auch unter Berücksichtigung des elften Erwägungsgrundes des Rahmenbeschlusses 2002/475 – „terroristische Straftaten“ im Sinne dieses Rahmenbeschlusses sein?
b)
Sofern Frage 2a bejaht wird: Können Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts „terroristische Handlungen“ im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 sein?
3. Handelt es sich bei den Handlungen, die der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010, soweit die Organisation der LTTE durch diese in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommen worden ist, zugrunde liegen, um „Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten“ im Sinne des humanitären Völkerrechts?
4. Ist – unter Berücksichtigung der Antwort auf die Fragen 1, 2a, 2b und 3 – die Durchführungsverordnung Nr. 610/2010, soweit die Organisation der LTTE durch diese in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommen worden ist, ungültig?
5. Sofern Frage 4 bejaht wird: Erstreckt sich die Ungültigkeit in diesem Fall auch auf die früheren und späteren Beschlüsse des Rates zur Aktualisierung der Liste betreffend das Einfrieren von Geldern, soweit die Organisation der LTTE durch diese Beschlüsse in diese Liste aufgenommen worden ist?
Vorbemerkungen
53 Mit Klagen, die am 11. April 2011 (Rechtssache T‑208/11) und am 28. September 2011 (Rechtssache T‑508/11) beim Gericht der Europäischen Union erhoben wurden, beantragte die Organisation der LTTE die Nichtigerklärung zweier Durchführungsverordnungen, soweit diese Rechtsakte sie dadurch betreffen, dass sie durch sie in die in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 genannte Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommen wurde. Im Verlauf des Verfahrens vor dem Gericht änderte diese Organisation ihre Anträge und beantragte die Nichtigerklärung der sie betreffenden Durchführungsverordnungen, die nach der Erhebung ihrer Klage erlassen worden waren und sie auf dieser Liste belassen hatten.
54 Mit Urteil vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat (T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885), wies das Gericht den ersten Klagegrund der Organisation der LTTE zurück, der auf eine Unanwendbarkeit der Verordnung Nr. 2580/2001 auf den Konflikt zwischen ihr und der sri-lankischen Regierung gestützt war und mit dem diese Organisation geltend machte, dass diese Verordnung nicht auf bewaffnete Konflikte anwendbar sei, da diese nur unter das humanitäre Völkerrecht fallen könnten.
55 Das Gericht folgte jedoch bestimmten Klagegründen der Organisation der LTTE und nahm den Standpunkt ein, dass der Rat sowohl gegen Art. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 verstoßen habe als auch – da in der Begründung nicht auf Beschlüsse zuständiger Behörden zu den dieser Organisation zur Last gelegten Handlungen verwiesen werde – gegen die Begründungspflicht von Unionsrechtsakten. Daher erklärte es die angefochtenen Verordnungen für nichtig, soweit sie diese Organisation betrafen.
56 Mit Rechtsmittelschrift vom 19. Dezember 2014 legte der Rat beim Gerichtshof ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat (T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885), ein.
57 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die vorliegende Rechtssache auf Rechtsakte der Union bezieht, die in den Jahren 2006 bis 2010 erlassen wurden und mit denen die Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommen wurde, wobei diese Aufnahme – wie sich aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils ergibt – mit einer Reihe von Anschlägen begründet wurde, die diese Organisation in der Zeit vom 12. August 2005 bis zum 12. April 2009 begangen hatte. Die Rechtssache C‑599/14 P betreffend das in der vorstehenden Randnummer genannte Rechtsmittel des Rates bezieht sich hingegen auf nach dem Jahr 2010 erlassene Rechtsakte der Union, mit denen die Eintragung der Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern nach 2010 aufrechterhalten wurde.
58 Unter diesen Umständen ist der Antrag der niederländischen Regierung auf Aussetzung der vorliegenden Rechtssache bis zur Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑599/14 P zurückzuweisen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
59 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es im Sinne der Rechtsprechung in den Urteilen vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf (C‑188/92, EU:C:1994:90), und vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), offensichtlich ist, dass von Personen, die sich in einer Situation wie der der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens befinden, beim Gericht erhobene Klagen auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 hinsichtlich der Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern zulässig gewesen wären.
60 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sowohl der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens als auch die Bescheide vom 8. Juni 2010 in die Zeit vor dem Inkrafttreten der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 fallen. Daher ist davon auszugehen, dass sich die Frage nicht nur auf diese Durchführungsverordnung bezieht, sondern auch auf die ihr vorangegangenen Rechtsakte, mit denen die Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommen und dann auf ihr belassen wurde.
61 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass das nationale Gericht wissen möchte, ob die in den Urteilen vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf (C‑188/92, EU:C:1994:90), und vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), entwickelte Rechtsprechung auf eine Rechtssache wie die Ausgangsrechtssache übertragbar ist.
62 In der Rechtssache, in der das Urteil vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf (C‑188/92, EU:C:1994:90), ergangen ist, hatte ein nationales Gericht mit einem im Verlauf des Jahres 1992 eingereichten Vorabentscheidungsersuchen dem Gerichtshof eine Frage nach der Gültigkeit einer im Verlauf des Jahres 1986 erlassenen Entscheidung der Europäischen Kommission im Bereich staatlicher Beihilfen vorgelegt. Die Empfängerin der Beihilfe, die Gegenstand der Entscheidung der Kommission war, hatte diese Entscheidung nicht angefochten, obwohl ihr die zuständige nationale Behörde eine Kopie der Entscheidung übersandt und sie ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass sie gegen die Entscheidung beim Gerichtshof der Europäischen Union Klage erheben könne.
63 Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten hat der Gerichtshof entschieden, dass der Empfänger einer Beihilfe, der die Entscheidung der Kommission zu dieser Beihilfe hätte anfechten können und die hierfür in den Bestimmungen des Vertrags vorgesehene Ausschlussfrist hat verstreichen lassen, aufgrund der Erfordernisse der Rechtssicherheit nicht die Möglichkeit haben kann, vor den nationalen Gerichten anlässlich einer Klage gegen die von den nationalen Behörden getroffenen Maßnahmen zur Durchführung dieser Entscheidung deren Rechtmäßigkeit erneut in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf,C‑188/92, EU:C:1994:90, Rn. 12 und 17).
64 In der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), ergangen ist, wurde beim Gerichtshof im Verlauf des Jahres 1999 ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht, das sich auf eine im Verlauf des Jahres 1992 erlassene Antidumpingverordnung bezog, die mit Erfolg durch eine Nichtigkeitsklage angefochten worden war, die zum Urteil des Gerichts vom 2. Mai 1995, NTN Corporation und Koyo Seiko/Rat (T‑163/94 und T‑165/94, EU:T:1995:83), bestätigt durch das Urteil des Gerichtshofs vom 10. Februar 1998, Kommission/NTN und Koyo Seiko (C‑245/95 P, EU:C:1998:46), geführt hatte. Diese Nichtigkeitsklage war von einer Reihe von Herstellern erhoben worden, die von dieser Antidumpingverordnung betroffen waren, nicht aber von Nachi Fujikoshi, der Muttergesellschaft der Klägerin des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), ergangen war, nämlich Nachi Europe.
65 Nachdem der Gerichtshof in Rn. 39 des Urteils vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), festgestellt hatte, dass Nachi Europe als von den Bestimmungen dieser Verordnung, mit denen die bei Nachi Fujikoshi hergestellten Waren mit einem besonderen Antidumpingzoll belegt wurden, unmittelbar und individuell betroffen angesehen werden konnte, hat er in Rn. 40 jenes Urteils entschieden, dass ein Importeur der von dieser Verordnung erfassten Waren, der wie Nachi Europe zweifellos zur Erhebung einer Klage vor dem Gericht befugt war, um die Nichtigerklärung des Antidumpingzolls auf diese Waren zu erwirken, der aber eine solche Klage nicht erhoben hatte, später nicht die Ungültigkeit dieses Antidumpingzolls vor einem nationalen Gericht geltend machen konnte.
66 Wie der Gerichtshof mehrfach betont hat, liefe es, wenn man einem Bürger, der zweifelsfrei befugt gewesen wäre, nach Art. 263 Abs. 4 AEUV im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen einen Rechtsakt der Union vorzugehen, gestatten würde, nach Ablauf der in Art. 263 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Klagefrist vor den nationalen Gerichten die Gültigkeit dieses Rechtsakts in Frage zu stellen, darauf hinaus, ihm die Möglichkeit zuzugestehen, die Bestandskraft zu unterlaufen, die diese Entscheidung ihm gegenüber nach Ablauf der Klagefristen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf, C‑188/92, EU:C:1994:90, Rn. 18, vom 15. Februar 2001, Nachi Europe, C‑239/99, EU:C:2001:101, Rn. 30, vom 27. November 2012, Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 41, und vom 5. März 2015, Banco Privado Português und Massa Insolvente do Banco Privado Português, C‑667/13, EU:C:2015:151, Rn. 28).
67 Der Gerichtshof ist allerdings nur unter Umständen, unter denen eine Nichtigkeitsklage offensichtlich zulässig gewesen wäre, davon ausgegangen, dass sich ein Bürger vor einem nationalen Gericht nicht auf die Ungültigkeit eines Rechtsakts der Union berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf, C‑188/92, EU:C:1994:90, Rn. 17 bis 25, vom 30. Januar 1997, Wiljo, C‑178/95, EU:C:1997:46, Rn. 15 bis 25, vom 15. Februar 2001, Nachi Europe, C‑239/99, EU:C:2001:101, Rn. 29 bis 40, und vom 22. Oktober 2002, National Farmers’ Union, C‑241/01, EU:C:2002:604, Rn. 34 bis 39). In etlichen anderen Fällen hat der Gerichtshof in der Tat entschieden, dass eine offensichtliche Zulässigkeit nicht dargetan worden war (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 23. Februar 2006, Atzeni u. a., C‑346/03 und C‑529/03, EU:C:2006:130, Rn. 30 bis 34, vom 8. März 2007, Roquette Frères, C‑441/05, EU:C:2007:150, Rn. 35 bis 48, vom 29. Juni 2010, E und F, C‑550/09, EU:C:2010:382, Rn. 37 bis 52, vom 18. September 2014, Valimar, C‑374/12, EU:C:2014:2231, Rn. 24 bis 38, und vom 5. März 2015, Banco Privado Português und Massa Insolvente do Banco Privado Português, C‑667/13, EU:C:2015:151, Rn. 27 bis 32).
68 Mit dem Vertrag von Lissabon sind zwar, um den Rechtsschutz natürlicher und juristischer Personen gegen Rechtsakte der Union zu stärken, die Voraussetzungen, unter denen eine Nichtigkeitsklage zulässig ist, durch den Erlass von Art. 263 Abs. 4 AEUV erweitert worden, der eine solche Klage auch gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter zulässt, die eine Person unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen.
69 Diese Erweiterung der Voraussetzungen, unter denen eine Nichtigkeitsklage zulässig ist, führt aber nicht dazu, dass es im Gegenzug unmöglich ist, vor einem nationalen Gericht die Gültigkeit eines Rechtsakts der Union in Frage zu stellen, soweit nicht eine von einer der Parteien des Rechtsstreits vor dem nationalen Gericht beim Gericht erhobene Nichtigkeitsklage offensichtlich zulässig gewesen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2011, Comitato Venezia vuole vivere u. a./Kommission, C‑71/09 P, C‑73/09 P und C‑76/09 P, EU:C:2011:368, Rn. 57).
70 Daraus ergibt sich, dass ein Vorabentscheidungsersuchen zur Gültigkeit eines Rechtsakts der Union nur dann zurückgewiesen werden kann, wenn eine Nichtigkeitsklage gegen einen Rechtsakt der Union offensichtlich zulässig gewesen wäre und die natürliche oder juristische Person, die eine solche Klage hätte erheben können, dies innerhalb der Ausschlussfrist nicht getan hat und sich im Rahmen eines nationalen Verfahrens auf die Rechtswidrigkeit des betreffenden Rechtsakts beruft, um das nationale Gericht dazu anzuhalten, den Gerichtshof mit dem in Rede stehenden Vorabentscheidungsersuchen zu befassen, das sich auf die Gültigkeit dieses Rechtsakts bezieht, und so die Bestandskraft zu umgehen, die dieser Rechtsakt ihr gegenüber nach dem Ablauf der Klagefrist entfaltet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf, C‑188/92, EU:C:1994:90, Rn. 18, und vom 15. Februar 2001, Nachi Europe, C‑239/99, EU:C:2001:101, Rn. 30).
71 Dies ist hier nicht der Fall.
72 Zunächst waren die Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens nämlich nicht selbst in der Liste betreffend das Einfrieren von Geldern eingetragen.
73 Weiterhin ist nicht offensichtlich, dass sie im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV von den fraglichen Rechtsakten „individuell“ betroffen waren. Die Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern hat nämlich gegenüber anderen Personen als dieser Organisation dadurch allgemeine Geltung, dass sie dazu beiträgt, eine unbestimmte Anzahl von Personen zur Beachtung spezifischer, gegen diese Organisation gerichteter restriktiver Maßnahmen zu verpflichten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 241 bis 244, vom 29. Juni 2010, E und F, C‑550/09, EU:C:2010:382, Rn. 51, und vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat, C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258, Rn. 56).
74 Schließlich wurde die Situation der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens nicht durch die Rechtsakte der Union zu dieser Aufnahme unmittelbar beeinträchtigt, sondern durch die Verhängung von Sanktionen, die allein auf das niederländische Recht gestützt waren, das neben anderen Gesichtspunkten u. a. diese Aufnahme berücksichtigte.
75 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass es nicht im Sinne der Rechtsprechung in den Urteilen vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf (C‑188/92, EU:C:1994:90), und vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), offensichtlich ist, dass von Personen, die sich in einer Situation wie der der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens befinden, beim Gericht erhobene Klagen auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 oder der dieser Durchführungsverordnung vorangegangenen Rechtsakte der Union hinsichtlich der Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern zulässig gewesen wären.
Zu den Fragen 2 bis 4
76 Einleitend ist zur dritten Frage, mit der geklärt werden soll, ob die Aktivitäten, mit denen die Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern und ihr Verbleib darauf von 2006 bis 2010 begründet wurde, „Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten“ im Sinne des humanitären Völkerrechts darstellen, festzustellen, dass der Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Rechtssache nicht über ausreichende Angaben verfügt, um diese Frage entscheiden zu können.
77 Mit seinen Fragen 2 und 4, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern durch die Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 und die dieser Durchführungsverordnung vorangegangenen Rechtsakte der Union gültig ist. Es möchte insbesondere wissen, ob Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts „terroristische Straftaten“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2002/475 oder „terroristische Handlungen“ im Sinne des gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 sein können.
78 Das vorlegende Gericht wirft hierzu die Frage auf, ob es möglich sei, die Aktivitäten der Organisation der LTTE, mit denen ihre Aufnahme in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern begründet worden sei, als terroristische Aktivitäten im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 anzusehen, auch wenn diese Rechtsakte in Verbindung mit dem Rahmenbeschluss 2002/475 zu lesen seien, dessen elfter Erwägungsgrund klarstelle, dass er nicht für die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten gelte.
79 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Verordnung, die restriktive Maßnahmen vorsieht – wie die Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 und die dieser Durchführungsverordnung vorangegangenen Rechtsakte der Union zur Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern – im Licht nicht nur des im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angenommenen Beschlusses nach Art. 215 Abs. 2 AEUV, sondern auch des historischen Kontexts auszulegen, in dem die von der Union erlassenen Bestimmungen, in die sich diese Verordnung einfügt, stehen (Urteil vom 1. März 2016, National Iranian Oil Company/Rat, C‑440/14 P, EU:C:2016:128, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).
80 Insoweit sind die Rechtsakte der Union zu unterscheiden, auf die sich die Buchstaben a und b der zweiten Frage jeweils beziehen, d. h. zum einen der Rahmenbeschluss 2002/475 und zum anderen der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 sowie die Verordnung Nr. 2580/2001. Daher sind es nicht so sehr die Begriffe „terroristische Straftaten“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2002/475 und „terroristische Handlungen“ im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001, die es zu prüfen und zu vergleichen gilt, sondern vielmehr die Ziele des Rahmenbeschlusses 2002/475, der in den Bereich Justiz und Inneres (JI) fällt, sowie die des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001, die im Wesentlichen unter die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) fallen.
81 Was den Rahmenbeschluss 2002/475 betrifft, hat dieser u. a. die Angleichung der Definition der terroristischen Straftaten in allen Mitgliedstaaten, die Verhängung von Strafen und Sanktionen, die die Schwere dieser Straftaten widerspiegeln, sowie die Festlegung von Vorschriften zur gerichtlichen Zuständigkeit zur Sicherstellung einer wirksamen Verfolgung terroristischer Straftaten zum Gegenstand.
82 In diesen strafrechtlichen Kontext fügt sich der elfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/475 ein, nach dem dieser nicht für die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts, die diesem Recht unterliegen, und die Aktivitäten der Streitkräfte eines Staates in Wahrnehmung ihres offiziellen Auftrags, soweit sie anderen Regeln des Völkerrechts unterliegen, gilt.
83 Der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 und die Verordnung Nr. 2580/2001 dienen hingegen der Umsetzung der nach den am 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten verübten Terroranschlägen verabschiedeten Resolution 1373 (2001) und sind hauptsächlich darauf gerichtet, terroristische Handlungen durch den Erlass von Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern zu verhüten, um die Vorbereitung solcher Handlungen, etwa die Finanzierung von Personen oder Organisationen, die terroristische Handlungen begehen könnten, zu verhindern.
84 Die Bestimmung der Personen und Körperschaften, die in die in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 vorgesehene Liste aufzunehmen sind, stellt in diesem Zusammenhang keine Sanktion dar, sondern eine präventive Maßnahme, die nach einem zweistufigen System erlassen wird, und zwar dergestalt, dass der Rat nach Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 nur Personen und Körperschaften in die Liste aufnehmen darf, in Bezug auf die eine zuständige Behörde – gestützt auf ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien, entweder zu einer terroristischen Handlung oder dem Versuch, eine terroristische Handlung zu begehen, daran teilzunehmen oder sie zu erleichtern, oder einer Verurteilung für derartige Handlungen – einen Beschluss hinsichtlich der Aufnahme von Ermittlungen oder der Strafverfolgung gefasst hat.
85 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass der elfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/475, der – wie die Kommission betont hat – allein die Klarstellung der Grenzen des Anwendungsbereichs dieses Rahmenbeschlusses bezweckt, für die Auslegung des Begriffs „terroristische Handlungen“ im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 nicht maßgeblich ist.
86 Das vorlegende Gericht meint, dass verschiedene völkerrechtliche Übereinkünfte möglicherweise dahin verstanden werden könnten, dass die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts nicht als terroristische Aktivitäten anzusehen seien. Daher äußert es Zweifel an der Einordnung der Aktivitäten, die die Organisation der LTTE durchgeführt habe und die – nach der Auffassung des Rates – die in den Jahren 2006 bis 2010 erlassenen Rechtsakte der Union zur Aufnahme dieser Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern rechtfertigten.
87 Es ist jedoch festzustellen, dass die Union keine Vertragspartei dieser völkerrechtlichen Übereinkünfte ist und dass diese in jedem Fall einer Einstufung von Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten als „terroristische Handlungen“ im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 nicht entgegenstehen, ohne dass es irgendwelche Anhaltspunkte dafür gäbe, dass diese Übereinkünfte etwaigen Regeln des Völkergewohnheitsrechts widersprächen, durch die die Union gebunden wäre.
88 Zunächst ist nämlich zum humanitären Völkerrecht festzustellen, dass Art. 33 des vierten Genfer Abkommens das Verbot jeder Maßnahme zur Einschüchterung oder Terrorisierung vorsieht. Ebenso sehen Art. 51 Abs. 2 des Protokolls I und Art. 13 Abs. 2 des Protokolls II vor, dass die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, verboten ist. Ferner bestimmt Art. 4 Abs. 2 des Protokolls II, dass terroristische Handlungen gegen Personen, die nicht unmittelbar oder nicht mehr an Feindseligkeiten teilnehmen, jederzeit und überall verboten sind.
89 Es ist auch hervorzuheben, dass das humanitäre Völkerrecht Ziele verfolgt, die sich von denen des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 unterscheiden, und dass es unterschiedliche Mechanismen einsetzt.
90 Ferner wird durch die im humanitären Völkerrecht vorgesehenen Regeln – wie die Generalanwältin in den Nrn. 107 bis 109 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat – der Erlass von präventiven Maßnahmen wie denen, deren Gegenstand die Organisation der LTTE war, außerhalb des in diesem Recht definierten Rahmens nicht untersagt.
91 Daher kann der Umstand – sein Vorliegen unterstellt –, dass bestimmte der in Rn. 86 des vorliegenden Urteils genannten Aktivitäten im humanitären Völkerrecht nicht verboten sind, jedenfalls nicht ausschlaggebend sein, da die Anwendung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 nicht von den Einstufungen abhängt, die sich aus dem humanitären Völkerrecht ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 30. Januar 2014, Diakité, C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 24 bis 26).
92 Sodann ist zum Völkerrecht im Bereich des Terrorismus festzustellen, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus die Strafbarkeit einer Handlung vorsieht, „die den Tod oder eine schwere Körperverletzung einer Zivilperson oder einer anderen Person, die bei einem bewaffneten Konflikt nicht aktiv an den Feindseligkeiten teilnimmt, herbeiführen soll, wenn diese Handlung aufgrund ihres Wesens oder der Umstände darauf abzielt, die Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen“.
93 Zudem sieht Art. 8 Abs. 1 dieses Übereinkommens die Verpflichtung vor, Maßnahmen zum Einfrieren der für die Begehung der in seinem Art. 2 genannten Straftaten verwendeten Gelder zu erlassen, und verbietet die Einführung von Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern, die sich auf andere terroristische Straftaten beziehen, nicht.
94 Nach dem letzten Erwägungsgrund des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge bedeutet ferner das Ausnehmen der Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten aus dem Anwendungsbereich dieses Übereinkommens „nicht …, dass ansonsten rechtswidrige Handlungen entschuldigt oder rechtmäßig werden oder dass die Verfolgung nach anderen Gesetzen verhindert wird“. Folglich schließt der Umstand, dass solche Aktivitäten nicht in den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens fallen, es indessen nicht aus, dass sie als rechtswidrige, zu verfolgende Aktivitäten – etwa als „terroristische Handlungen“ im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 – angesehen werden können.
95 Auch wenn schließlich bestimmte völkerrechtliche Übereinkünfte, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts von ihrem Anwendungsbereich ausnehmen, verbieten sie es den Vertragsstaaten nicht, bestimmte dieser Aktivitäten als „terroristische Handlungen“ einzustufen oder die Begehung solcher Handlungen zu verhindern.
96 Insofern ist darauf hinzuweisen, dass der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 und die Verordnung Nr. 2580/2001 nicht die Bestrafung terroristischer Handlungen zum Ziel haben, sondern vielmehr die Bekämpfung des Terrorismus durch die Verhinderung der Finanzierung terroristischer Handlungen, wie es der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 1373 (2001) empfiehlt.
97 Aus all diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 und die Verordnung Nr. 2580/2001 dahin auszulegen sind, dass Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts „terroristische Handlungen“ im Sinne dieser Rechtsakte der Union darstellen können.
98 Unter diesen Umständen ist auf die Fragen 2 und 4 zu antworten, dass, da der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 und die Verordnung Nr. 2580/2001 der Einstufung von Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts als „terroristische Handlungen“ im Sinne dieser Rechtsakte der Union nicht entgegenstehen, der Umstand, dass die Aktivitäten der Organisation der LTTE solche Aktivitäten darstellen könnten, die Gültigkeit der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 sowie der dieser Durchführungsverordnung vorangegangenen Rechtsakte der Union hinsichtlich der Aufnahme der Organisation der LTTE in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern nicht beeinträchtigt.
99 Da die fünfte Frage für den Fall gestellt wurde, dass die in der vorstehenden Randnummer genannten Rechtsakte ungültig sein sollten, ist sie nicht zu beantworten.
Kosten
100 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Es ist nicht im Sinne der Rechtsprechung in den Urteilen vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf (C‑188/92, EU:C:1994:90), und vom 15. Februar 2001, Nachi Europe (C‑239/99, EU:C:2001:101), offensichtlich, dass von Personen, die sich in einer Situation wie der der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens befinden, beim Gericht der Europäischen Union erhobene Klagen auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 610/2010 des Rates vom 12. Juli 2010 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1285/2009 oder der dieser Durchführungsverordnung vorangegangenen Rechtsakte der Union hinsichtlich der Aufnahme der Organisation der „Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE)“ in die in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 des Rates vom 27. Dezember 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus genannte Liste zulässig gewesen wären.
2. Da der Gemeinsame Standpunkt 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und die Verordnung Nr. 2580/2001 der Einstufung von Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts als „terroristische Handlungen“ im Sinne dieser Rechtsakte der Union nicht entgegenstehen, beeinträchtigt der Umstand, dass die Aktivitäten der Organisation der „Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE)“ solche Aktivitäten darstellen könnten, die Gültigkeit der Durchführungsverordnung Nr. 610/2010 sowie der dieser Durchführungsverordnung vorangegangenen Rechtsakte der Union hinsichtlich der in Nr. 1 des Tenors genannten Aufnahme nicht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 7. März 2017.#Verfahren auf Betreiben von Rzecznik Praw Obywatelskich (RPO).#Vorabentscheidungsersuchen des Trybunał Konstytucyjny w Warszawie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Anhang III Nr. 6 – Gültigkeit – Verfahren – Änderung eines Richtlinienvorschlags des Rates nach der Stellungnahme des Parlaments – Keine erneute Anhörung des Parlaments – Art. 98 Abs. 2 – Gültigkeit – Keine Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg – Grundsatz der Gleichbehandlung – Vergleichbarkeit von zwei Sachverhalten – Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg und auf jeglichen physischen Trägern.#Rechtssache C-390/15.
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62015CJ0390
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ECLI:EU:C:2017:174
| 2017-03-07T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0390
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
7. März 2017 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Steuerwesen — Mehrwertsteuer — Richtlinie 2006/112/EG — Anhang III Nr. 6 — Gültigkeit — Verfahren — Änderung eines Richtlinienvorschlags des Rates nach der Stellungnahme des Parlaments — Keine erneute Anhörung des Parlaments — Art. 98 Abs. 2 — Gültigkeit — Keine Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg — Grundsatz der Gleichbehandlung — Vergleichbarkeit von zwei Sachverhalten — Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg und auf jeglichen physischen Trägern“
In der Rechtssache C‑390/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 7. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2015, in dem Verfahren eingeleitet von
Rzecznik Praw Obywatelskich (RPO),
Beteiligte:
Marszałek Sejmu Rzeczypospolitej Polskiej,
Prokurator Generalny,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter J. Malenovský (Berichterstatter), J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
des Rzecznik Praw Obywatelskich (RPO), vertreten durch A. Bodnar, Rzecznik Praw Obywatelskich, sowie durch M. Wróblewski und A. Grzelak als Bevollmächtigte,
—
des Prokurator Generalny, vertreten durch R. Hernand als Bevollmächtigten,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, A. Miłkowska und K. Maćkowska als Bevollmächtigte,
—
der hellenischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis und S. Papaïoannou als Bevollmächtigte,
—
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Moro, E. Chatziioakeimidou und K. Pleśniak als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 98 Abs. 2 und von Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 (ABl. 2009, L 116, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2006/112).
2 Es ergeht im Anschluss an einen vom Rzecznik Praw Obywatelskich (polnischer Bürgerbeauftragter) gestellten Antrag auf Feststellung, dass nationale Rechtsvorschriften, die die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher und anderer digitaler Veröffentlichungen auf elektronischem Weg ausschließen, nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Sechste Richtlinie
3 Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2001/4/EG des Rates vom 19. Januar 2001 (ABl. 2001, L 22, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) sah vor:
„Der Normalsatz der Mehrwertsteuer wird von jedem Mitgliedstaat als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgesetzt, der für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist. Vom 1. Januar 2001 bis zum 31. Dezember 2005 darf dieser Satz nicht niedriger als 15 % sein.
…
Die Mitgliedstaaten können außerdem einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Diese ermäßigten Sätze werden als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der nicht niedriger als 5 % sein darf, und sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar.“
4 In Art. 1 der Richtlinie 2002/38/EG des Rates vom 7. Mai 2002 zur Änderung und vorübergehenden Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich der mehrwertsteuerlichen Behandlung der Rundfunk- und Fernsehdienstleistungen sowie bestimmter elektronisch erbrachter Dienstleistungen (ABl. 2002, L 128, S. 41) heißt es:
„Die Richtlinie 77/388/EWG wird vorübergehend wie folgt geändert:
1. Artikel 9 wird wie folgt geändert:
a)
In Absatz 2 Buchstabe e) wird der Schlusspunkt durch ein Komma ersetzt, und es werden folgende Gedankenstriche angefügt:
—
‚…
—
auf elektronischem Wege erbrachte Dienstleistungen wie unter anderem die in Anhang L aufgeführten Dienstleistungen.‘
…
2. In Artikel 12 Absatz 3 Buchstabe a) wird der folgende vierte Unterabsatz angefügt:
‚Unterabsatz 3 gilt nicht für die in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) letzter Gedankenstrich genannten Dienstleistungen.‘“
5 Die Sechste Richtlinie wurde durch die am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Richtlinie 2006/112 aufgehoben und ersetzt.
Richtlinie 2006/112
6 Art. 14 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“
7 Art. 24 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2006/112 lautet:
„Als ‚Dienstleistung‘ gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.“
8 Art. 25 der geänderten Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Eine Dienstleistung kann unter anderem in einem der folgenden Umsätze bestehen:
a)
Abtretung eines nicht körperlichen Gegenstands, gleichgültig, ob in einer Urkunde verbrieft oder nicht;
…“
9 Art. 96 der geänderten Richtlinie 2006/112 lautet:
„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“
10 Art. 98 Abs. 1 und 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.
(2) Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.
Die ermäßigten Steuersätze sind nicht anwendbar auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen.“
11 Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112 lautete in der Fassung vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2009/47:
„Lieferung von Büchern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder ‑manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.
12 Am 7. Juli 2008 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112 in Bezug auf ermäßigte Mehrwertsteuersätze vor (KOM[2008] 428 endg., im Folgenden: Richtlinienvorschlag). Er sah vor, Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112 in der Fassung vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2009/47 durch folgenden Text zu ersetzen:
„Lieferung von Büchern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder ‑manuskripte, Landkarten und hydrographische oder sonstige Karten, sowie Hörbücher, CD, CD-ROM oder andere körperliche Datenträger, die überwiegend denselben Informationsgehalt wiedergeben wie gedruckte Bücher), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.
13 Durch Legislative Entschließung vom 19. Februar 2009 billigte das Europäische Parlament eine geänderte Fassung des Richtlinienvorschlags. Keine der vom Parlament vorgenommenen Änderungen betraf den von der Kommission als Ersatz für Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112 in der Fassung vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2009/47 vorgeschlagenen Text.
14 Am 5. Mai 2009 verabschiedete der Rat den endgültigen Wortlaut der Richtlinie 2009/47. Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 lautet nunmehr:
„Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder Manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.
Polnisches Recht
15 Nach Art. 146 sowie Art. 41 Abs. 2 und 2a des Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (Dz. U. von 2011, Nr. 177, Position 1054, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) in Verbindung mit den Positionen 72 bis 75 von Anhang 3 sowie den Positionen 32 bis 35 von Anhang 10 dieses Gesetzes unterliegen die Lieferungen von Veröffentlichungen in gedruckter Form oder auf einem physischen Träger einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Dagegen gilt für die elektronische Übermittlung von Veröffentlichungen kein ermäßigter Mehrwertsteuersatz.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16 Mit Antragsschrift vom 6. Dezember 2013 ersuchte der Bürgerbeauftragte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgericht, Polen) um die Feststellung, dass die Positionen 72 bis 75 von Anhang 3 des Mehrwertsteuergesetzes in Verbindung mit dessen Art. 41 Abs. 2 sowie die Positionen 32 bis 35 von Anhang 10 des Mehrwertsteuergesetzes in Verbindung mit dessen Art. 41 Abs. 2a insofern nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind, als sie die Anwendung ermäßigter Mehrwertsteuersätze allein bei Veröffentlichungen vorsehen, die auf einem physischen Träger zur Verfügung gestellt werden, und nicht bei elektronisch übermittelten Veröffentlichungen.
17 Im Ausgangsverfahren haben der Marszałek Sejmu Rzeczypospolitej Polskiej (Präsident des Parlaments der Republik Polen) und der Prokurator Generalny (polnischer Generalstaatsanwalt) hervorgehoben, dass die fraglichen Bestimmungen des polnischen Gesetzes zur Umsetzung von Art. 98 Abs. 2 und Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 in nationales Recht ergangen seien, von denen der polnische Gesetzgeber nicht abweichen könne, da er sonst gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen würde. Die gleiche Auffassung haben die vom vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache zur Stellungnahme aufgeforderten Mitglieder der polnischen Regierung vertreten.
18 Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel an der Gültigkeit dieser beiden Bestimmungen der geänderten Richtlinie 2006/112.
19 Erstens könnte seines Erachtens die Richtlinie 2009/47, auf die Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 zurückgeht, mit einem Verfahrensfehler behaftet sein, weil der Wortlaut von Nr. 6 vom Wortlaut des dem Parlament zugeleiteten Richtlinienvorschlags abweiche.
20 Zweitens könnte Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6 gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen. Denn obwohl digitale Bücher unabhängig davon, ob sie auf einem physischen Träger zur Verfügung gestellt oder elektronisch übermittelt würden, vergleichbare Eigenschaften hätten und dieselben Bedürfnisse der Verbraucher erfüllten, sei nach Art. 98 Abs. 2 die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur bei der Lieferung digitaler Bücher auf einem physischen Träger zulässig.
21 Infolgedessen hat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Nr. 6 des Anhangs III der geänderten Richtlinie 2006/112 ungültig, weil im Gesetzgebungsverfahren das wesentliche Formerfordernis der Anhörung des Europäischen Parlaments nicht beachtet worden ist?
2. Ist Art. 98 Abs. 2 in Verbindung mit Nr. 6 des Anhangs III der geänderten Richtlinie 2006/112 ungültig, weil er den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt, soweit er die Anwendung der ermäßigten Steuersätze auf Bücher, die in digitaler Form herausgegeben werden, und andere elektronische Publikationen ausschließt?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 ungültig ist, weil in dem Gesetzgebungsverfahren, das zu seinem Erlass führte, gegen ein wesentliches Formerfordernis verstoßen wurde. Da der Wortlaut von Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 vom Wortlaut des Richtlinienvorschlags, auf dessen Grundlage das Parlament angehört wurde, abweicht, wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob das Parlament nicht erneut hätte angehört werden müssen.
23 Nach Art. 93 EGV (nunmehr Art. 113 AEUV), der ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vorsieht, musste das Parlament vor dem Erlass der Richtlinie 2009/47 und somit vor der Ersetzung von Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112 durch die Richtlinie 2009/47 angehört werden.
24 Die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments stellt nämlich in den im EG-Vertrag, nunmehr im AEU-Vertrag, vorgesehenen Fällen ein wesentliches Formerfordernis dar, dessen Missachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung zur Folge hat (Urteil vom 10. Mai 1995, Parlament/Rat, C‑417/93, EU:C:1995:127, Rn. 9).
25 Die wirksame Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren gemäß den im Vertrag vorgesehenen Verfahren ist ein wesentliches Element des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts, da die Befugnis des Parlaments Ausdruck des grundlegenden demokratischen Prinzips ist, dass die Völker durch eine repräsentative Versammlung an der Ausübung der Hoheitsgewalt beteiligt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 1995, Parlament/Rat, C‑21/94, EU:C:1995:220, Rn. 17, und vom 10. Juni 1997, Parlament/Rat, C‑392/95, EU:C:1997:289, Rn. 14).
26 Die Pflicht, das Parlament in den im Vertrag vorgesehenen Fällen im Gesetzgebungsverfahren anzuhören, impliziert, dass es immer dann erneut angehört wird, wenn der letztlich verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört wurde, es sei denn, die Änderungen entsprechen im Wesentlichen einem vom Parlament selbst geäußerten Wunsch (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat, C‑280/93, EU:C:1994:367, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Daher ist zu prüfen, ob Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 in seinem Wesen vom Wortlaut des Richtlinienvorschlags abweicht, auf dessen Grundlage das Parlament angehört wurde.
28 Hierzu ist festzustellen, dass nach dem Richtlinienvorschlag zu den künftig unter Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112 fallenden Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, für die ermäßigte Mehrwertsteuersätze gelten können, die „Lieferung von Büchern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder ‑manuskripte, Landkarten und hydrographische oder sonstige Karten, sowie Hörbücher, CD, CD-ROM oder andere körperliche Datenträger, die überwiegend denselben Informationsgehalt wiedergeben wie gedruckte Bücher), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“, gehören sollte.
29 Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 bezieht sich hingegen auf die „Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder Manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.
30 Ein Vergleich des Wortlauts des Richtlinienvorschlags und von Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 zeigt, dass Letzterer sich dadurch vom Richtlinienvorschlag unterscheidet, dass die dort aufgeführten „Hörbücher, CD [und] CD-ROM“ nicht als physische Träger erwähnt werden, bei denen ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz zur Anwendung kommen kann, und dass in Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112, anders als im Richtlinienvorschlag, nicht ausdrücklich von Büchern die Rede ist, „die überwiegend denselben Informationsgehalt wiedergeben wie gedruckte Bücher“, sondern von der Lieferung von Büchern auf „jeglichen physischen Trägern“.
31 Aus diesen Unterschieden kann aber nicht geschlossen werden, dass Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 in seinem Wesen vom Wortlaut des Richtlinienvorschlags abweicht.
32 Da auch der Richtlinienvorschlag neben gedruckten Büchern, Hörbüchern, CDs und CD-ROMs Bücher auf „andere[n] körperliche[n] Datenträger[n]“ erfassen sollte, kann die darin enthaltene Aufzählung nämlich nicht als abschließend angesehen werden, sondern sollte deutlich machen, dass alle denkbaren Arten körperlicher Datenträger erfasst werden sollten; dies entspricht der letztlich vom Rat in Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 gewählten Lösung.
33 Zwar wird in Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 nicht ausdrücklich klargestellt, dass die betreffenden physischen Träger, damit ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt werden kann, überwiegend denselben Informationsgehalt wiedergeben müssen wie gedruckte Bücher. Da er sich nach seinem Wortlaut jedoch nur auf „Bücher“ bezieht, worunter nach dem gewöhnlichen Wortsinn Druckwerke zu verstehen sind, müssen die betreffenden Träger, um in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung zu fallen, überwiegend denselben Informationsgehalt wiedergeben wie gedruckte Bücher.
34 Infolgedessen ist die vom Gerichtshof bereits in Rn. 53 des Urteils vom 5. März 2015, Kommission/Luxemburg (C‑502/13, EU:C:2015:143), getroffene Feststellung zu bekräftigen, dass es sich bei dem Wortlaut von Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 nur um eine redaktionelle Vereinfachung des Textes des Richtlinienvorschlags handelt, dessen Wesen in vollem Umfang erhalten blieb.
35 Unter diesen Umständen war der Rat nicht verpflichtet, das Parlament erneut anzuhören.
36 Nach alledem ist Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 nicht deshalb ungültig, weil im Gesetzgebungsverfahren, das zu seinem Erlass führte, gegen ein wesentliches Formerfordernis verstoßen wurde.
Zur zweiten Frage
37 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit deren Anhang III Nr. 6 ungültig ist, weil er gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstößt, soweit er die Anwendung ermäßigter Mehrwertsteuersätze auf die Lieferung von Büchern, die in digitaler Form herausgegeben werden, und anderen elektronischen Publikationen ausschließt.
Vorbemerkungen
38 Erstens ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht zwar im Wortlaut seiner Frage auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität Bezug nimmt, doch geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass es der Sache nach die Frage aufwirft, ob Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit deren Anhang III Nr. 6 im Licht des in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung gültig ist.
39 Zweitens erwähnt das vorlegende Gericht in seiner Frage zwar neben Büchern, die in digitaler Form herausgegeben werden, „andere elektronische Publikationen“, doch geht wiederum aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die von ihm geäußerten Zweifel allein dahin gehen, ob durch die geänderte Richtlinie 2006/112 die Lieferung digitaler Bücher möglicherweise ungleich behandelt wird, je nachdem, ob sie auf einem physischen Träger oder auf elektronischem Weg geliefert werden.
40 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit deren Anhang III Nr. 6 ungültig ist, weil er jede Möglichkeit für die Mitgliedstaaten ausschließt, auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, und deshalb gegen den in Art. 20 der Charta verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt.
Würdigung durch den Gerichtshof
41 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich zu behandeln, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteile vom 12. November 2014, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, C‑580/12 P, EU:C:2014:2363, Rn. 51, und vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 35).
– Zur Behandlung vergleichbarer Sachverhalte
42 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Merkmale, in denen sich unterschiedliche Sachverhalte voneinander unterscheiden, sowie ihre etwaige Vergleichbarkeit im Licht des Ziels und des Zwecks der in Rede stehenden Vorschriften zu bestimmen und zu beurteilen. Dabei sind die Grundsätze und Ziele des betreffenden Bereichs zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Im vorliegenden Fall ergibt sich die vom vorlegenden Gericht angesprochene unterschiedliche Behandlung daraus, dass die Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit haben, für die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorzusehen, während die Anwendung eines solchen Satzes bei der Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen Trägern zulässig ist. Infolgedessen sind die Merkmale, die diese beiden Sachverhalte kennzeichnen, sowie ihre etwaige Vergleichbarkeit im Licht der Ziele zu bestimmen und zu beurteilen, die der Gesetzgeber verfolgte, als er es den Mitgliedstaaten gestattete, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen Trägern anzuwenden.
44 Hierzu ist festzustellen, dass die Befugnis der Mitgliedstaaten, auf die Lieferung gedruckter Bücher einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, erstmals in der Richtlinie 92/77/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG (Annäherung der MwSt.-Sätze) (ABl. 1992, L 316, S. 1) vorgesehen war, durch deren Art. 1 in die Sechste Richtlinie ein Anhang H („Verzeichnis der Gegenstände und Dienstleistungen, auf die ermäßigte MwSt.-Sätze angewandt werden können“) eingefügt wurde, dessen Nr. 6 in Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112 in ihrer Fassung vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2009/47 übernommen wurde. Durch die letztgenannte Richtlinie wurde diese Befugnis auf die Lieferung von Büchern „auf jeglichen physischen Trägern“ erweitert.
45 Wie die Generalanwältin in Nr. 56 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, besteht das der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung von Büchern zugrunde liegende Ziel in der Förderung des Lesens, sei es von Belletristik, Sachbüchern, Zeitungen oder Zeitschriften.
46 Somit ist davon auszugehen, dass mit der geänderten Richtlinie 2006/112, soweit sie es den Mitgliedstaaten gestattet, auf die Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern ermäßigte Mehrwertsteuersätze anzuwenden, ein solches Ziel verfolgt wird.
47 Diese Schlussfolgerung wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass nach Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 auf die Lieferung von „Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“, kein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt werden darf. Solche Druckerzeugnisse sind nämlich dadurch gekennzeichnet, dass mit ihnen nicht das in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannte Ziel verfolgt wird.
48 Damit ein solches Ziel erreicht werden kann, müssen die Bürger der Europäischen Union aber in effektiver Weise Zugang zum Inhalt der Bücher haben, wobei es keine entscheidende Rolle spielt, in welcher Form sie bereitgestellt werden.
49 Folglich ist festzustellen, dass in Anbetracht des mit Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6 verfolgten Ziels die Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen Trägern und die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg vergleichbare Sachverhalte darstellen.
50 Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Art. 14 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2006/112 die Lieferung eines digitalen Buchs auf einem physischen Träger grundsätzlich eine Lieferung von Gegenständen darstellt, während nach Art. 24 Abs. 1 und Art. 25 dieser Richtlinie die Lieferung eines digitalen Buchs auf elektronischem Weg eine Dienstleistung darstellt. Da die Mehrwertsteuerregeln grundsätzlich darauf abzielen, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen in gleicher Weise zu besteuern, erscheint diese unterschiedliche Einordnung in Anbetracht des mit Art. 98 Abs. 2 der Richtlinie in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6 verfolgten, in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten Ziels nicht entscheidend.
51 Infolgedessen ist davon auszugehen, dass durch die Regelung in Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6, soweit mit ihr die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg ausgeschlossen wird, während sie bei der Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen Trägern zulässig ist, zwei Sachverhalte ungleich behandelt werden, obwohl sie in Anbetracht des vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziels vergleichbar sind.
– Zur Rechtfertigung
52 Wird eine unterschiedliche Behandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte festgestellt, liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung vor, sofern es für die unterschiedliche Behandlung eine gebührende Rechtfertigung gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 46).
53 Dies ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Fall, wenn die unterschiedliche Behandlung im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der Maßnahme, die zu einer solchen unterschiedlichen Behandlung führt, verfolgt wird, und wenn die unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu diesem Ziel steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Oktober 2013, Schaible, C‑101/12, EU:C:2013:661, Rn. 77, und vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 43).
54 In diesem Kontext ist anerkannt, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass einer steuerlichen Maßnahme Entscheidungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art treffen, divergierende Interessen in eine Rangfolge bringen oder komplexe Beurteilungen vornehmen muss. Infolgedessen ist ihm in diesem Rahmen ein weites Ermessen zuzuerkennen, so dass sich die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen auf offensichtliche Fehler beschränken muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 123, sowie vom 17. Oktober 2013, Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 35).
55 Im vorliegenden Fall ergibt sich die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils festgestellte unterschiedliche Behandlung aus Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6, der die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf alle elektronischen Dienstleistungen und somit auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg, anders als bei der Lieferung – auch digitaler – Bücher auf jeglichen physischen Trägern, ausschließt.
56 Insoweit geht aus den Materialien zur Richtlinie 2002/38 hervor, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Änderungen hinsichtlich der Besteuerung elektronisch erbrachter Dienstleistungen einen ersten Schritt zur Umsetzung einer neuen Politik im Bereich der Mehrwertsteuer darstellten, mit der das Mehrwertsteuersystem vereinfacht und gestärkt werden sollte, um die legalen Handelsgeschäfte innerhalb des Binnenmarkts zu fördern. Weiter heißt es dort, dass der elektronische Handel ein erhebliches Potenzial für die Schaffung von Wohlstand und Beschäftigung in der Union aufweise und dass sich das für Investitionen und Handel notwendige Klima des Vertrauens nur unter klaren und verlässlichen rechtlichen Rahmenbedingungen entwickeln könne.
57 Wie der Rat und die Kommission in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs und in der mündlichen Verhandlung erläutert haben, ist der Ausschluss der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg in Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 als Teil einer Mehrwertsteuer-Sonderregelung für den elektronischen Handel aufzufassen. Es sei nämlich als erforderlich angesehen worden, die auf elektronischem Weg erbrachten Dienstleistungen klaren, einfachen und einheitlichen Regeln zu unterwerfen, damit der für diese Dienstleistungen geltende Mehrwertsteuersatz zweifelsfrei ermittelt werden könne und so die Handhabung dieser Steuer durch die Steuerpflichtigen und die nationalen Finanzverwaltungen erleichtert werde.
58 Dass es sich dabei um ein rechtlich zulässiges Ziel handelt, kann bei vernünftiger Betrachtung nicht bezweifelt werden.
59 Der diesem Ziel zugrunde liegende Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt nämlich, dass eine Unionsregelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang ihrer Rechte und Pflichten eindeutig zu erkennen, damit sie sich darauf in Kenntnis der Sachlage einstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑582/08, EU:C:2010:429, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Außerdem hat der Gerichtshof bereits anerkannt, dass die Aufstellung allgemeiner Regeln, die von den Wirtschaftsteilnehmern leicht angewandt und von den zuständigen nationalen Behörden einfach kontrolliert werden können, für einen Gesetzgeber ein legitimes Ziel darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2015, Sopora, C‑512/13, EU:C:2015:108, Rn. 33).
61 Was die Eignung der in Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6 vorgesehenen Maßnahme für die Erreichung des in den Rn. 56 und 57 des vorliegenden Urteils dargelegten Ziels angeht, ist nicht ersichtlich, dass der Unionsgesetzgeber bei der von ihm vorgenommenen Beurteilung das ihm zustehende Ermessen überschritten hätte.
62 Durch den Ausschluss der auf elektronischem Weg erbrachten Dienstleistungen von der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes erspart es der Unionsgesetzgeber nämlich den Steuerpflichtigen und den nationalen Finanzverwaltungen, bei jeder Art erbrachter elektronischer Dienstleistungen zu prüfen, ob sie unter eine der Kategorien von Dienstleistungen fallen, die nach Anhang III der geänderten Richtlinie 2006/112 in den Genuss eines solchen ermäßigten Satzes kommen können.
63 Die fragliche Maßnahme muss deshalb als zur Erreichung des Ziels, den Mehrwertsteuersatz für die auf elektronischem Weg erbrachten Dienstleistungen zweifelsfrei zu ermitteln und so die Handhabung dieser Steuer durch die Steuerpflichtigen und die nationalen Finanzverwaltungen zu erleichtern, geeignet angesehen werden.
64 In Bezug auf das mit der Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit zusammenhängende Erfordernis, dass von den in Betracht kommenden geeigneten Maßnahmen die am wenigsten belastende zu wählen ist und dass die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen, ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber eventuell die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg getrennt von der Gesamtheit der elektronischen Dienstleistungen hätte behandeln und damit die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf solche Bücher hätte ermöglichen können.
65 Eine solche Lösung könnte jedoch dem vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziel zuwiderlaufen, das an das Erfordernis anknüpft, die durch die fortwährende Weiterentwicklung der elektronischen Dienstleistungen als Ganzes entstehende Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Deshalb hat er alle diese Dienstleistungen von der Liste der Umsätze ausgenommen, die nach Anhang III der geänderten Richtlinie 2006/112 in den Genuss eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes kommen können.
66 Würde man den Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben, auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, wie es bei der Lieferung solcher Bücher auf jeglichen physischen Trägern zulässig ist, würde die Kohärenz der gesamten vom Unionsgesetzgeber angestrebten Maßnahme beeinträchtigt, die darin besteht, alle elektronischen Dienstleistungen von der Möglichkeit der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auszunehmen.
67 Zur etwaigen Erstreckung der Möglichkeit, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, auf alle elektronischen Dienstleistungen ist festzustellen, dass der Erlass einer solchen Maßnahme allgemein zu einer Ungleichbehandlung nicht elektronischer Dienstleistungen, die grundsätzlich nicht in den Genuss eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes kommen, und elektronischer Dienstleistungen geführt hätte.
68 Folglich durfte der Unionsgesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens davon ausgehen, dass keine der beiden theoretisch denkbaren Maßnahmen zur Erreichung der verschiedenen von ihm verfolgten Ziele geeignet war.
69 Hinzuzufügen ist, dass der Rat, wie sich aus den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2002/38 sowie aus Art. 6 der Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Änderung der Richtlinie 2006/112 bezüglich des Ortes der Dienstleistung (ABl. 2008, L 44, S. 11) ergibt, eine Überprüfung des Systems der speziellen Besteuerung auf elektronischem Weg erbrachter Dienstleistungen vorgesehen hat, um der erworbenen Erfahrung Rechnung zu tragen. Überdies hat die Kommission in einer Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer (COM[2016] 148 final) angekündigt, einen Entwurf für eine Richtlinie zur Änderung der geänderten Richtlinie 2006/112 ausarbeiten zu wollen.
70 Unter diesen Umständen ist die aus Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6 resultierende unterschiedliche Behandlung der Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg und der Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern als gebührend gerechtfertigt anzusehen.
71 Daher ist festzustellen, dass die Regelung in Art. 98 Abs. 2 der geänderten Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6, die zum Ausschluss der Möglichkeit für die Mitgliedstaaten führt, auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, während sie auf die Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen Trägern einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden dürfen, nicht gegen den in Art. 20 der Charta verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt.
72 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Prüfung der Vorlagefragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6 der geänderten Richtlinie 2006/112 oder von Art. 98 Abs. 2 dieser Richtlinie in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6 berühren könnte.
Kosten
73 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der Vorlagefragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 geänderten Fassung oder von Art. 98 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III Nr. 6 berühren könnte.
Unterschriften
(*1) * Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 17. Februar 2017.#Unilever NV gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.#Unionsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Unionsbildmarke Fair & Lovely – Ältere nationale und Benelux-Wortmarken FAIR & LOVELY – Entscheidung über die Beschwerde – Art. 64 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 – Rechtliches Gehör – Art. 75 Satz 2 der Verordnung Nr. 207/2009 – Aussetzung des Verwaltungsverfahrens – Regel 20 Abs. 7 Buchst. c und Regel 50 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2868/95 – Vertrauensschutz – Ermessensmissbrauch – Offensichtliche Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-811/14.
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62014TJ0811
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ECLI:EU:T:2017:98
| 2017-02-17T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TJ0811 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 17. Februar 2017.#European Dynamics Luxembourg SA u. a. gegen Europäische Arzneimittel-Agentur.#Schiedsklausel – Mehrfach-Rahmenvertrag mit Kaskadensystem EMA/2012/10/ICT – Erbringung externer Dienstleistungen für Softwareanwendungen – An die Klägerinnen gerichtete Aufforderung zur Erbringung von Dienstleistungen – Ablehnung der von den Klägerinnen vorgeschlagenen Kandidaten – Verhältnismäßigkeit – Teilweise Umdeutung der Klage – Außervertragliche Haftung.#Rechtssache T-441/15.
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62015TJ0441
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ECLI:EU:T:2017:104
| 2017-02-17T00:00:00 |
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EUR-Lex - CELEX:62015TJ0441 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 25. Januar 2017.#Tomas Vilkas.#Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 23 – Frist für die Übergabe der gesuchten Person – Möglichkeit, mehrmals ein neues Übergabedatum zu vereinbaren – Widerstand der gesuchten Person gegen ihre Übergabe – Höhere Gewalt.#Rechtssache C-640/15.
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62015CJ0640
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ECLI:EU:C:2017:39
| 2017-01-25T00:00:00 |
Gerichtshof, Bobek
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0640
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
25. Januar 2017 (1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2002/584/JI — Europäischer Haftbefehl — Art. 23 — Frist für die Übergabe der gesuchten Person — Möglichkeit, mehrmals ein neues Übergabedatum zu vereinbaren — Widerstand der gesuchten Person gegen ihre Übergabe — Höhere Gewalt“
In der Rechtssache C‑640/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) mit Entscheidung vom 24. November 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Dezember 2015, in dem Verfahren über den Vollzug eines Europäischen Haftbefehls gegen
Tomas Vilkas
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter M. Vilaras, J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juli 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Vilkas, vertreten durch M. Kelly, QC, M. Lynam, BL, B. Coveney, J. Wood und T. Horan, Solicitors,
—
von Irland, vertreten durch E. Creedon, D. Curley und E. Pearson als Bevollmächtigte im Beistand von S. Stack, SC, und J. Benson, BL,
—
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigte,
—
der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas, R. Krasuckaitė und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten im Beistand von J. Holmes, Barrister,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Oktober 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).
2 Es ergeht im Rahmen des Vollzugs von Europäischen Haftbefehlen, die ein litauisches Gericht gegen Herrn Tomas Vilkas erlassen hat, in Irland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren
3 Art. 11 Abs. 3 des am 10. März 1995 unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 1995, C 78, S. 2, im Folgenden: Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren) bestimmt:
„Kann die Person aus Gründen höherer Gewalt nicht innerhalb der … vorgesehenen Frist übergeben werden, so teilt die … betroffene Behörde dies der anderen Behörde mit. Sie vereinbaren einen neuen Zeitpunkt für die Übergabe. In diesem Fall findet die Übergabe innerhalb von 20 Tagen nach dem vereinbarten neuen Zeitpunkt statt. Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf dieser Frist weiterhin in Haft, so wird sie freigelassen.“
Rahmenbeschluss
4 Die Erwägungsgründe 5 und 7 des Rahmenbeschlusses lauten:
„(5)
Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.
…
(7) Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 [EU] und Artikel 5 [EG] Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus.“
5 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses lautet:
„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.“
6 Art. 12 („Inhafthaltung der gesuchten Person“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„Im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ist jederzeit möglich, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaates die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft.“
7 Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses lautet:
„Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.“
8 In Art. 23 („Frist für die Übergabe der Person“) des Rahmenbeschlusses heißt es:
„(1) Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt.
(2) Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.
(3) Ist die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich, setzen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung und vereinbaren ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.
(4) Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.
(5) Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen.“
Irisches Recht
9 Section 16(1) und (2) des European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung regelt den Erlass von Beschlüssen zur Anordnung der Übergabe von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, durch den High Court (Hohes Gericht, Irland).
10 Nach Section 16(3A) dieses Gesetzes ist eine Person, gegen die ein solcher Beschluss ergangen ist, grundsätzlich spätestens zehn Tage nach dem Wirksamwerden des Beschlusses an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben.
11 Section 16(4) und (5) des Gesetzes bestimmt:
„(4)
Fasst der High Court [(Hohes Gericht)] einen Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2), muss er, sofern nicht eine Verschiebung der Übergabe gemäß Section 18 angeordnet wird,
…
(b)
anordnen, dass die Person bis zur Vollziehung des Beschlusses für einen Zeitraum, der 25 Tage nicht überschreiten darf, in Haft … genommen wird, und
(c)
anordnen, dass die Person dem High Court [(Hohes Gericht)] erneut vorgeführt wird,
(i)
wenn sie nicht innerhalb der Übergabefrist gemäß Subsection (3A) übergeben worden ist, möglichst bald nach deren Ablauf oder,
(ii)
wenn sie nach Einschätzung der zentralen Behörde in dem Staat aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss des Staates oder des betreffenden Ausstellungsstaates entziehen, nicht innerhalb der in Ziff. (i) genannten Übergabefrist übergeben werden wird, vor deren Ablauf.
(5) Wird eine Person dem High Court [(Hohes Gericht)] gemäß Subsection (4)(c) vorgeführt, muss der High Court [(Hohes Gericht)],
(a)
sofern zu seiner Überzeugung feststeht, dass die Person aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss des Staates oder des betreffenden Ausstellungsstaates entziehen, nicht innerhalb der Übergabefrist gemäß Subsection (3A) übergeben worden ist oder gegebenenfalls nicht rechtzeitig übergeben werden wird,
(i)
mit Zustimmung der ausstellenden Justizbehörde einen neuen Termin für die Übergabe der Person festlegen und
(ii)
anordnen, dass die Person bis zur Übergabe für einen Zeitraum, der zehn Tage ab dem gemäß Ziff. (i) festgelegten Datum nicht überschreiten darf, in Haft … genommen wird,
und
(b)
in allen anderen Fällen anordnen, dass die Person freigelassen wird.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Gegen Herrn Vilkas waren zwei Europäische Haftbefehle ergangen, die ein litauisches Gericht ausgestellt hatte.
13 Mit zwei Beschlüssen vom 9. Juli 2015 beschloss der High Court (Hohes Gericht), dass Herr Vilkas den litauischen Behörden zu übergeben sei, und zwar spätestens zehn Tage nach dem Wirksamwerden dieser Beschlüsse, d. h. spätestens am 3. August 2015.
14 Die irischen Behörden versuchten am 31. Juli 2015, Herrn Vilkas mittels eines gewerblichen Flugs den litauischen Behörden zu übergeben. Dieser erste Versuch scheiterte am Widerstand von Herrn Vilkas, da sich der Pilot des Flugzeugs weigerte, ihn an Bord der Maschine zu lassen, mit der dieser Flug durchgeführt werden sollte.
15 Der High Court (Hohes Gericht) ordnete daraufhin die Übergabe von Herrn Vilkas an die litauischen Behörden spätestens zehn Tage nach dem 6. August 2015 an. Am 13. August 2015 scheiterte ein erneuter Übergabeversuch am Verhalten des Betroffenen.
16 Der Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichstellung, Irland) beantragte daraufhin beim High Court (Hohes Gericht), einen dritten Versuch der Übergabe von Herrn Vilkas an die litauischen Behörden, dieses Mal über den See- und Landweg, zuzulassen. Dieses Gericht stellte jedoch am 14. August 2015 fest, dass es für die Entscheidung über diesen Antrag nicht zuständig sei, und ordnete die Freilassung von Herrn Vilkas an.
17 Der Minister for Justice and Equality hat gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht Berufung eingelegt.
18 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sieht Art. 23 des Rahmenbeschlusses es vor und/oder lässt es zu, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird?
2. Bejahendenfalls, trifft dies in einem oder in allen der nachfolgenden Fälle zu: Wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich gewesen ist, deshalb ein neues Übergabedatum vereinbart worden ist und festgestellt wird, dass die betreffenden Umstände
—
fortdauern oder,
—
nachdem sie weggefallen waren, erneut eingetreten sind oder,
—
nachdem sie weggefallen waren, andere derartige Umstände eingetreten sind, aufgrund deren die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der im Hinblick auf das neue Übergabedatum vorgesehenen Frist unmöglich ist oder wahrscheinlich unmöglich sein wird?
Zu den Vorlagefragen
19 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 23 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass er es in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens verbietet, dass die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde nach Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ein neues Übergabedatum vereinbaren, wenn der von der gesuchten Person wiederholt geleistete Widerstand ihre Übergabe innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß dieser Bestimmung vereinbarten ersten neuen Termin verhindert hat.
20 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses generell vorsieht, dass die vollstreckende Justizbehörde über die Übergabe der gesuchten Person „nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen“ entscheidet.
21 Speziell zur letzten Phase des Übergabeverfahrens bestimmt Art. 23 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, dass die Übergabe der gesuchten Person so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt erfolgt.
22 Dieser Grundsatz wird in Art. 23 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses konkretisiert, in dem es heißt, dass die Übergabe spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt.
23 Der Unionsgesetzgeber hat allerdings bestimmte Abweichungen von dieser Regel zugelassen, indem er zum einen vorgesehen hat, dass die betreffenden Behörden in bestimmten, in Art. 23 Abs. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fällen ein neues Übergabedatum vereinbaren, und zum anderen, dass die Übergabe der gesuchten Person dann binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin erfolgt.
24 Im Einzelnen bestimmt Art. 23 Abs. 3 Satz 1 des Rahmenbeschlusses, dass die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde ein neues Übergabedatum vereinbaren, wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist.
25 Somit wird die Zahl der neuen Übergabetermine, die die betreffenden Behörden vereinbaren können, wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der vorgesehenen Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist, in Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses nicht ausdrücklich beschränkt.
26 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass Art. 23 Abs. 3 Satz 1 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich nur auf den Fall Bezug nehme, dass die Übergabe der gesuchten Person aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entzögen, „innerhalb der in [Art. 23 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses] genannten Frist“, d. h. „spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls“, unmöglich sei.
27 Daher stelle sich die Frage, ob die Regel in Art. 23 Abs. 3 Satz 1 des Rahmenbeschlusses in Fällen Anwendung finde, in denen dem Einfluss der Mitgliedstaaten entzogene Umstände, die nach Ablauf dieser Frist aufgetreten seien, die Übergabe der gesuchten Person innerhalb einer Frist von zehn Tagen nach einem gemäß dieser Bestimmung vereinbarten ersten neuen Übergabetermin unmöglich gemacht hätten.
28 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass eine am Wortlaut orientierte Auslegung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses eine solche Anwendung nicht zwangsläufig ausschließt.
29 Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 25 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, musste in dem Fall, dass die Übergabe der gesuchten Person innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses vereinbarten ersten neuen Übergabetermin aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist, für die Vereinbarung dieses ersten neuen Übergabedatums definitionsgemäß die Voraussetzung, dass die Übergabe dieser Person innerhalb von zehn Tagen nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls unmöglich war, erfüllt gewesen sein.
30 Zum anderen sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 19. Dezember 2013, Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 34, und vom 16. November 2016, Hemming u. a., C‑316/15, EU:C:2016:879, Rn. 27).
31 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Rahmenbeschluss darauf gerichtet ist, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt (Urteile vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 28, und vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 76).
32 In diesem Rahmen soll Art. 23 des Rahmenbeschlusses ebenso wie dessen Art. 15 und 17 insbesondere die justizielle Zusammenarbeit beschleunigen, indem für den Erlass der den Europäischen Haftbefehl betreffenden Entscheidungen Fristen gesetzt werden, die die Mitgliedstaaten einhalten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Mai 2013, F, C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 58, und vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 29 und 33).
33 Die Annahme, dass die vollstreckende Justizbehörde über keine neue Frist zur Übergabe der gesuchten Person verfügen kann, wenn deren Übergabe innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses vereinbarten ersten neuen Übergabetermin aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, in der Praxis unmöglich ist, würde aber darauf hinauslaufen, dieser Behörde eine unerfüllbare Verpflichtung aufzuerlegen, und nichts zu dem verfolgten Ziel einer Beschleunigung der justiziellen Zusammenarbeit beitragen.
34 Außerdem ist bei der Auslegung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses auch dessen Art. 23 Abs. 5 zu berücksichtigen.
35 Diese letztere Bestimmung sieht vor, dass die gesuchte Person freigelassen wird, wenn sie sich nach Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses genannten Fristen noch immer in Haft befindet.
36 Wäre Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass die Regel in Satz 1 keine Anwendung findet, wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß dieser Bestimmung vereinbarten ersten neuen Übergabetermin aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist, müsste die gesuchte Person in einem solchen Fall also, wenn sie sich noch in Haft befände, ungeachtet der gegebenen Umstände zwingend freigelassen werden, da die in dieser Bestimmung genannte Frist abgelaufen wäre.
37 Folglich könnte diese Auslegung die Effektivität der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Verfahren spürbar einschränken und damit verhindern, dass das mit ihm verfolgte Ziel, durch die Einführung eines wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern, vollständig erreicht wird.
38 Diese Auslegung könnte ferner dazu führen, dass die gesuchte Person in Fällen freigelassen wird, in denen die Verlängerung der Dauer ihrer Haft nicht auf mangelnde Sorgfalt der vollstreckenden Behörde zurückzuführen ist und in denen die Gesamtdauer der Haft dieser Person in Anbetracht insbesondere ihres eigenen Beitrags zur Verzögerung des Verfahrens, der ihr drohenden Strafe und einer gegebenenfalls bestehenden Fluchtgefahr nicht übermäßig lang ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 59).
39 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die betreffenden Behörden auch dann nach dieser Bestimmung ein neues Übergabedatum vereinbaren müssen, wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß dieser Bestimmung vereinbarten ersten neuen Übergabetermin aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist.
40 Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses im Einklang mit Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wonach jeder Mensch das Recht auf Freiheit und Sicherheit hat, ausgelegt werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 54).
41 Die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bedeutet zwar, dass die vollstreckende Justizbehörde die noch immer inhaftierte gesuchte Person nicht unbedingt freilassen muss, wenn ihre Übergabe innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß dieser Bestimmung vereinbarten ersten neuen Übergabetermin aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist.
42 Wie der Generalanwalt in Nr. 37 der Schlussanträge ausgeführt hat, gebietet diese Auslegung jedoch nicht, die gesuchte Person in Haft zu halten, da Art. 12 des Rahmenbeschlusses klarstellt, dass es Sache der vollstreckenden Justizbehörde ist, zu entscheiden, ob diese Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist, und dass eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe dieses Rechts jederzeit möglich ist, sofern die zuständige Behörde die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft.
43 In diesem Zusammenhang steht, wenn die betreffenden Behörden gemäß Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ein zweites neues Übergabedatum vereinbaren, eine Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde, die gesuchte Person in Haft zu halten, nur dann im Einklang mit Art. 6 der Grundrechtecharta, wenn das Übergabeverfahren mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt wurde und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt. Um sich zu vergewissern, dass dies der Fall ist, muss diese Behörde eine konkrete Prüfung der in Rede stehenden Sachlage vornehmen und dabei alle relevanten Gesichtspunkte heranziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 58 und 59).
44 Demnach ist zu bestimmen, ob die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der von der gesuchten Person wiederholt geleistete Widerstand ihre Übergabe innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses vereinbarten ersten neuen Termin verhindert hat, gemäß dieser Bestimmung ein zweites neues Übergabedatum vereinbaren müssen.
45 Insoweit ist festzustellen, dass die einzelnen Sprachfassungen des Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bezüglich der Voraussetzungen für die Anwendung der Regel in Satz 1 dieser Bestimmung voneinander abweichen.
46 Während nämlich die Anwendung dieser Regel nach der griechischen, der französischen, der italienischen, der portugiesischen, der rumänischen und der finnischen Fassung dieser Bestimmung voraussetzt, dass die Übergabe unmöglich ist, weil in einem der betreffenden Mitgliedstaaten ein Fall von höherer Gewalt vorliegt, ist in anderen Sprachfassungen dieser Bestimmung, wie der spanischen, der tschechischen, der dänischen, der deutschen, der griechischen, der englischen, der niederländischen, der polnischen, der slowakischen und der schwedischen, von der Unmöglichkeit der Übergabe aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, die Rede.
47 Die Erforderlichkeit einer einheitlichen Auslegung einer Unionsvorschrift verbietet es, im Zweifelsfall eine ihrer Sprachfassungen isoliert zu betrachten, und gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen des Gesetzgebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen Sprachen auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. November 2001, Jany u. a., C‑268/99, EU:C:2001:616, Rn. 47, und vom 19. September 2013, van Buggenhout und van de Mierop, C‑251/12, EU:C:2013:566, Rn. 26 und 27).
48 Im Hinblick darauf ist festzustellen, dass die Formulierung in Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses auf Art. 11 Abs. 3 des Übereinkommens über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zurückgeht.
49 Zwar verwiesen die englische und die schwedische Fassung dieser letzteren Bestimmung auf Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, die spanische, die dänische, die deutsche, die griechische, die französische, die italienische, die niederländische, die portugiesische und die finnische Fassung dieser Bestimmung nahmen jedoch auf höhere Gewalt Bezug.
50 Aus dem erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen in seinen verschiedenen Sprachfassungen ergibt sich, dass der in Art. 11 Abs. 3 des Übereinkommens verwendete Begriff eng auszulegen ist und sich auf eine Situation bezieht, die nicht vorhersehbar war und deren Eintritt nicht verhindert werden konnte. Diese Erläuterung deutet darauf hin, dass die Vertragsparteien dieses Übereinkommens letztlich die Absicht hatten, sich auf den Begriff der höheren Gewalt nach herkömmlichem Verständnis zu beziehen, was durch die in diesem erläuternden Bericht angeführten Beispiele bestätigt wird.
51 Die Begründung des zum Erlass des Rahmenbeschlusses führenden Vorschlags der Kommission (KOM[2001] 522 endgültig) verweist in ihren verschiedenen Sprachfassungen auf das Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren und gibt die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Erläuterungen dieses erläuternden Berichts wieder. Die spanische, die dänische, die deutsche, die englische, die niederländische und die schwedische Fassung dieser Begründung nehmen sogar ausdrücklich auf das Konzept der höheren Gewalt Bezug, um die Tragweite der Wendung der Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, zu präzisieren.
52 Diese verschiedenen Gesichtspunkte zusammen genommen belegen, dass der Gebrauch dieser Wendung in bestimmten Sprachfassungen nicht bedeutet, dass der Unionsgesetzgeber die Regel in Art. 23 Abs. 3 Satz 1 des Rahmenbeschlusses auf andere Fälle als die anwendbar machen wollte, in denen die Übergabe der gesuchten Person aus Gründen höherer Gewalt in den Mitgliedstaaten unmöglich ist.
53 Nach einer auf verschiedenen Gebieten des Unionsrechts entwickelten ständigen Rechtsprechung sind unter „höherer Gewalt“ ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse zu verstehen, auf die derjenige, der sich darauf beruft, keinen Einfluss hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône, C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 23, vom 18. März 2010, SGS Belgium u. a., C‑218/09, EU:C:2010:152, Rn. 44, und vom 18. Juli 2013, Eurofit, C‑99/12, EU:C:2013:487, Rn. 31).
54 Es entspricht jedoch ebenfalls ständiger Rechtsprechung, dass die Bedeutung des Begriffs der höheren Gewalt, da er auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen ist, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (Urteile vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône, C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 25, vom 18. März 2010, SGS Belgium u. a., C‑218/09, EU:C:2010:152, Rn. 45, und vom 18. Juli 2013, Eurofit, C‑99/12, EU:C:2013:487, Rn. 32).
55 Bei dem Begriff der höheren Gewalt im Sinne von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses sind daher Aufbau und Zweck des Rahmenbeschlusses zu berücksichtigen, um die Tatbestandsmerkmale der höheren Gewalt, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben, auszulegen und anzuwenden (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône, C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 26).
56 Insoweit ist daran zu erinnern, dass Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses eine Ausnahme von der in dessen Art. 23 Abs. 2 aufgestellten Regel darstellt. Daher ist der Begriff der höheren Gewalt im Sinne von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Juni 2012, CIVAD, C‑533/10, EU:C:2012:347, Rn. 24 und 25, und vom 18. Juli 2013, Eurofit, C‑99/12, EU:C:2013:487, Rn. 37).
57 Ferner ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, dass die Verlängerung der Frist für die Übergabe der gesuchten Person nur dann durch Gründe höherer Gewalt gerechtfertigt sein kann, wenn diese bedeuten, dass die Übergabe dieser Person innerhalb der vorgesehenen Frist „unmöglich“ ist. Eine bloße Erschwerung ihrer Übergabe allein vermag daher die Anwendung der Regel in Satz 1 dieser Bestimmung nicht zu rechtfertigen.
58 In diesem Zusammenhang kann der Widerstand einer gesuchten Person gegen ihre Übergabe zwar durchaus als ein ungewöhnliches Ereignis angesehen werden, auf das die betreffenden Behörden keinen Einfluss haben.
59 Dass sich manche der gesuchten Personen ihrer Übergabe widersetzen, lässt sich jedoch grundsätzlich nicht als ein unvorhersehbares Ereignis qualifizieren.
60 Erst recht kann in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem sich die gesuchte Person bereits einem ersten Übergabeversuch widersetzt hat, der Umstand, dass sie sich einem zweiten Übergabeversuch ebenfalls widersetzt, normalerweise nicht als unvorhersehbar angesehen werden. Dies gilt, wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, im Übrigen auch für die Weigerung des Piloten eines Flugzeugs, einen gewalttätigen Fluggast einsteigen zu lassen.
61 Zu der Voraussetzung, dass es sich bei einem Ereignis nur dann um höhere Gewalt handelt, wenn dessen Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können, ist festzustellen, dass die betreffenden Behörden über Mittel verfügen, die es ihnen in den meisten Fällen ermöglichen, den Widerstand einer gesuchten Person zu überwinden.
62 Daher lässt sich nicht ausschließen, dass diese Behörden in Anbetracht des von der gesuchten Person geleisteten Widerstands unter den im nationalen Recht vorgesehenen Bedingungen und unter Wahrung der Grundrechte dieser Person bestimmte Zwangsmaßnahmen anwenden.
63 Es ist auch möglich, generell Beförderungsmittel zu wählen, deren Benutzung nicht durch den Widerstand der gesuchten Person effektiv verhindert werden kann. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich im Übrigen, dass die betreffenden Behörden im Ausgangsfall schließlich eine solche Lösung vorgeschlagen haben.
64 Gleichwohl lässt sich nicht völlig ausschließen, dass der Widerstand der gesuchten Person gegen ihre Übergabe aufgrund außergewöhnlicher Umstände für die betreffenden Behörden objektiv nicht vorhersehbar war und dass die Folgen dieses Widerstands für die Übergabe trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch diese Behörden nicht vermieden werden konnten. In diesem Fall fände die Regel in Art. 23 Abs. 3 Satz 1 des Rahmenbeschlusses Anwendung.
65 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im Ausgangsfall solche Umstände vorliegen.
66 Ferner ist, da die Möglichkeit besteht, dass das vorlegende Gericht feststellt, dass der wiederholte Widerstand der gesuchten Person im Ausgangsfall nicht als „höhere Gewalt“ im Sinne von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses angesehen werden kann, zu prüfen, ob dies bedeutet, dass die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde wegen des Ablaufs der in Art. 23 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen kein neues Übergabedatum mehr vereinbaren müssen.
67 Zwar sieht Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eindeutig vor, dass die vollstreckende Justizbehörde über die Übergabe der betreffenden Person innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen entscheidet, doch reicht der Wortlaut dieser Bestimmung nicht aus, um zu klären, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Ablauf dieser Fristen fortzusetzen ist und ob insbesondere die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, nach Ablauf der in Art. 23 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen die Übergabe durchzuführen und zu diesem Zweck mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum zu vereinbaren (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 34).
68 Insoweit ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der den „Eckstein“ der gerichtlichen Zusammenarbeit bildet, nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses bedeutet, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 36).
69 Angesichts der zentralen Rolle der Verpflichtung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls in dem durch den Rahmenbeschluss geschaffenen System und des Fehlens jeder ausdrücklichen Beschränkung der zeitlichen Geltungsdauer dieser Verpflichtung im Rahmenbeschluss kann daher die in dessen Art. 15 Abs. 1 aufgestellte Regel nicht dahin ausgelegt werden, dass sie impliziert, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der in Art. 23 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen mit der ausstellenden Justizbehörde kein neues Übergabedatum mehr vereinbaren dürfte oder dass der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht mehr verpflichtet wäre, das Verfahren zur Vollstreckung des Haftbefehls fortzusetzen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 37).
70 Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber in Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses zwar ausdrücklich festgelegt, dass der Ablauf der in Art. 23 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses genannten Fristen bedeutet, dass die betreffende Person, wenn sie sich noch immer in Haft befindet, freigelassen wird; er hat den Ablauf dieser Fristen jedoch mit keiner anderen Wirkung verknüpft und insbesondere nicht vorgesehen, dass dadurch den betreffenden Behörden die Möglichkeit genommen würde, nach Art. 23 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ein Übergabedatum zu vereinbaren, oder der Vollstreckungsmitgliedstaat von der Verpflichtung entbunden würde, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 38).
71 Außerdem wäre eine Auslegung von Art. 15 Abs. 1 und Art. 23 des Rahmenbeschlusses, nach der die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der in Art. 23 des Rahmenbeschlusses genannten Fristen nicht mehr die Übergabe der gesuchten Person durchführen und hierfür mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum vereinbaren dürfte, geeignet, das mit dem Rahmenbeschluss verfolgte Ziel einer Beschleunigung und Vereinfachung der justiziellen Zusammenarbeit zu beeinträchtigen, da sie insbesondere den Ausstellungsmitgliedstaat zwingen könnte, einen zweiten Europäischen Haftbefehl zu erlassen, um ein neues Übergabeverfahren innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen zu ermöglichen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 40).
72 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der bloße Ablauf der in Art. 23 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen den Vollstreckungsmitgliedstaat nicht seiner Verpflichtung entheben kann, das Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls fortzuführen und die Übergabe der gesuchten Person durchzuführen, wofür die betreffenden Behörden ein neues Übergabedatum vereinbaren müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 42).
73 Allerdings ergibt sich in einem solchen Fall aus Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses, dass die gesuchte Person, wenn sie sich noch immer Haft befindet, wegen des Ablaufs der in diesem Artikel festgelegten Fristen freizulassen ist.
74 Nach alledem sind die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:
—
Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nach dieser Bestimmung ein neues Übergabedatum vereinbaren, wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß dieser Bestimmung vereinbarten ersten neuen Übergabetermin wegen des von dieser Person wiederholt geleisteten Widerstands unmöglich ist, sofern dieser Widerstand aufgrund außergewöhnlicher Umstände für diese Behörden nicht vorhersehbar war und die Folgen des Widerstands für die Übergabe trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch die Behörden nicht vermieden werden konnten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
—
Art. 15 Abs. 1 und Art. 23 des Rahmenbeschlusses sind dahin auszulegen, dass diese Behörden auch nach Ablauf der in Art. 23 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen verpflichtet bleiben, ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.
Kosten
75 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nach dieser Bestimmung ein neues Übergabedatum vereinbaren, wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb von zehn Tagen nach einem gemäß dieser Bestimmung vereinbarten ersten neuen Übergabetermin wegen des von dieser Person wiederholt geleisteten Widerstands unmöglich ist, sofern dieser Widerstand aufgrund außergewöhnlicher Umstände für diese Behörden nicht vorhersehbar war und die Folgen des Widerstands für die Übergabe trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch die Behörden nicht vermieden werden konnten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Art. 15 Abs. 1 und Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass diese Behörden auch nach Ablauf der in Art. 23 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen verpflichtet bleiben, ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.
Unterschriften
(1 ) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 21. Dezember 2016.#Biuro podróży "Partner” Sp. z o.o, Sp. komandytowa w Dąbrowie Górniczej gegen Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Warszawie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 93/13/EWG – Richtlinie 2009/22/EG – Verbraucherschutz – Erga-omnes-Wirkung missbräuchlicher Klauseln, die in einem öffentlichen Register aufgeführt sind – Geldbuße, die gegen einen Gewerbetreibenden wegen der Verwendung einer Klausel verhängt wurde, die als mit der in diesem Register eingetragenen Klausel gleichwertig angesehen wird – Gewerbetreibender, der nicht an dem Verfahren beteiligt war, das zur Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel geführt hat – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Begriff ‚einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können‘.#Rechtssache C-119/15.
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62015CJ0119
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ECLI:EU:C:2016:987
| 2016-12-21T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0119
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
21. Dezember 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 93/13/EWG — Richtlinie 2009/22/EG — Verbraucherschutz — Erga-omnes-Wirkung missbräuchlicher Klauseln, die in einem öffentlichen Register aufgeführt sind — Geldbuße, die gegen einen Gewerbetreibenden wegen der Verwendung einer Klausel verhängt wurde, die als mit der in diesem Register eingetragenen Klausel gleichwertig angesehen wird — Gewerbetreibender, der nicht an dem Verfahren beteiligt war, das zur Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel geführt hat — Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Begriff ‚einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können‘“
In der Rechtssache C‑119/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 19. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 9. März 2015, in dem Verfahren
Biuro podróży „Partner“ sp. z o.o. sp.k. w Dąbrowie Górniczej
gegen
Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet, E. Levits (Berichterstatter) und F. Biltgen,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. März 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Biuro podróży „Partner“ sp. z o.o. sp.k. w Dąbrowie Górniczej, vertreten durch I. Bryła-Rokicka, Rechtsberaterin,
—
des Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów, vertreten durch D. Sprzączkowska, Rechtsberaterin,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Nowak und M. Kamejsza als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Goddin, A. Szmytkowska und D. Roussanov als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Juni 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) in Verbindung mit Art. 1 und 2 der Richtlinie 2009/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen (ABl. 2009, L 110, S. 30) sowie von Art. 267 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Biuro podróży „Partner“ sp. z o.o. sp.k. w Dąbrowie Górniczej (im Folgenden: Biuro Partner) und dem Prezes Urząd Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Präsident des Amts für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz, Polen). Gegenstand dieses Rechtsstreits ist die Verwendung von Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), die im nationalen Register der unzulässigen AGB-Bestimmungen eingetragen sind, durch Biuro Partner.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„Der Anhang [dieser Richtlinie] enthält eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können.“
4 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 lautet:
„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“
5 Art. 7 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.
(2) Die in Absatz 1 genannten Mittel müssen auch Rechtsvorschriften einschließen, wonach Personen oder Organisationen, die nach dem innerstaatlichen Recht ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, im Einklang mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften die Gerichte oder die zuständigen Verwaltungsbehörden anrufen können, damit diese darüber entscheiden, ob Vertragsklauseln, die im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung abgefasst wurden, missbräuchlich sind, und angemessene und wirksame Mittel anwenden, um der Verwendung solcher Klauseln ein Ende zu setzen.
(3) Die in Absatz 2 genannten Rechtsmittel können sich unter Beachtung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getrennt oder gemeinsam gegen mehrere Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors oder ihre Verbände richten, die gleiche allgemeine Vertragsklauseln oder ähnliche Klauseln verwenden oder deren Verwendung empfehlen.“
6 Art. 8 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten.“
7 Die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13 und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 304, S. 64) änderte die Richtlinie 93/13 dahin ab, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die Europäische Kommission über die Annahme spezifischer innerstaatlicher Vorschriften in bestimmten Bereichen zu informieren.
8 In Art. 8a der Richtlinie 93/13, der durch die Richtlinie 2011/83 mit Wirkung zum 13. Juni 2014 eingefügt wurde, heißt es:
„(1) Erlässt ein Mitgliedstaat Vorschriften nach Artikel 8, so setzt er die Kommission hiervon sowie von allen nachfolgenden Änderungen in Kenntnis, insbesondere wenn diese Vorschriften:
…
—
Listen mit Vertragsklauseln, die als missbräuchlich gelten, enthalten.
(2) Die Kommission stellt sicher, dass die in Absatz 1 genannten Informationen den Verbrauchern und den Unternehmern leicht zugänglich sind, u. a. auf einer speziellen Webseite.
…“
9 Art. 1 der Richtlinie 2009/22 legt deren Geltungsbereich wie folgt fest:
„(1) Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Unterlassungsklagen im Sinne des Artikels 2 zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher, die unter die in Anhang I aufgeführten Richtlinien fallen, um so das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten.
(2) Ein Verstoß im Sinne dieser Richtlinie ist jede Handlung, die den in Anhang I aufgeführten Richtlinien in der in die innerstaatliche Rechtsordnung der Mitgliedstaaten umgesetzten Form zuwiderläuft und die in Absatz 1 genannten Kollektivinteressen der Verbraucher beeinträchtigt.“
10 In Art. 2 („Unterlassungsklagen“) der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten bestimmen die zuständigen Gerichte oder Verwaltungsbehörden für die Entscheidung über die von qualifizierten Einrichtungen im Sinne des Artikels 3 eingelegten Rechtsbehelfe, die auf Folgendes abzielen können:
a)
eine mit aller gebotenen Eile und gegebenenfalls im Rahmen eines Dringlichkeitsverfahrens ergehende Anordnung der Einstellung oder des Verbots eines Verstoßes;
b)
gegebenenfalls Maßnahmen wie die Veröffentlichung der Entscheidung im vollen Wortlaut oder in Auszügen in der für angemessen erachteten Form und/oder die Veröffentlichung einer Richtigstellung, um die fortdauernde Wirkung des Verstoßes abzustellen;
…“
11 Die Richtlinie 93/13 ist in Nr. 5 des Anhangs I („Liste der Richtlinien nach Artikel 1“) der Richtlinie 2009/22 aufgeführt.
Polnisches Recht
Wettbewerbs- und Verbraucherschutzgesetz
12 Art. 24 des Ustawa o ochronie konkurencji i konsumentów (Wettbewerbs- und Verbraucherschutzgesetz) vom 16. Februar 2007 (Dz. U. Nr. 50, Pos. 331) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Wettbewerbs- und Verbraucherschutzgesetz) bestimmt:
„(1) Die Verwendung von Praktiken, die die Kollektivinteressen der Verbraucher beeinträchtigen, ist verboten.
(2) Eine Praktik, die die Kollektivinteressen der Verbraucher beeinträchtigt, ist jedes rechtswidrige Verhalten eines Gewerbetreibenden, das diese Interessen gefährdet, insbesondere:
1. die Verwendung von Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die in das Register der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen eingetragen sind, das in Art. 47945 des Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego [(Gesetz über die Zivilprozessordnung)] vom 17. November 1964 (Dz. U. Nr. 43, Pos. 296, mit Änderungen) genannt ist.
…“
13 In Art. 106 des Wettbewerbs- und Verbraucherschutzgesetzes heißt es:
„(1) Der Präsident des Amts für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz kann dem Gewerbetreibenden durch Beschluss eine Geldbuße auferlegen, die höchstens 10 % des Umsatzes betragen darf, der in dem Geschäftsjahr erzielt wurde, das dem Erlass der Geldbuße vorausgeht, wenn der Gewerbetreibende mit oder ohne Vorsatz
…
4. eine Praktik verwendet hat, die die Kollektivinteressen der Verbraucher im Sinne von Art. 24 beeinträchtigt.
…“
Zivilprozessordnung
14 Die Art. 3981, 3983, 3989, 47942, 47943 und 47945 des Gesetzes über die Zivilprozessordnung vom 17. November 1964 bestimmen in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zivilprozessordnung):
„Art. 3981
(1) Gegen das endgültige Urteil oder gegen den Beschluss, mit dem der Antrag abgelehnt oder die verfahrensbeendende Erledigung festgestellt wird, kann in einer von einem zweitinstanzlichen Gericht stammenden Rechtssache beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht, Polen)] von einer Partei, vom Prokurator Generalny [(Generalstaatsanwalt)], vom Rzecznik Praw Obywatelskich [(Beauftragter für Bürgerrechte)] oder vom Rzecznik Praw Dziecka [(Beauftragter für Kinderrechte)] eine Kassationsbeschwerde eingelegt werden, sofern nicht eine besondere Vorschrift etwas anderes bestimmt.
…
Art. 3983
(1) Eine Partei kann aus den folgenden Gründen Kassationsbeschwerde erheben:
1. Verstoß gegen materielles Recht durch seine fehlerhafte Auslegung oder Anwendung.
2. Verstoß gegen Verfahrensvorschriften, wenn er einen erheblichen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens haben konnte.
…
Art. 3989
(1) Das Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] stellt die Zulässigkeit der Kassationsbeschwerde fest, wenn
1. die Rechtssache eine wesentliche Rechtsfrage betrifft,
2. es erforderlich ist, rechtliche Bestimmungen auszulegen, die ernste Zweifel hervorrufen oder in der Rechtsprechung zu unterschiedlichen Auffassungen führen,
3. das Verfahren nichtig ist oder
4. die Kassationsbeschwerde offensichtlich begründet ist.
(2) Das Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] entscheidet unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die Zulässigkeit der Kassationsbeschwerde. Seine Entscheidung bedarf keiner schriftlichen Begründung.
…
Art. 47942
§ 1 Wird der Klage stattgegeben, so führt das Gericht den Inhalt der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen im Tenor an und untersagt deren Anwendung.
…
Art. 47943
Das rechtskräftige Urteil wirkt gegenüber Dritten, nachdem die für unzulässig erklärte Bestimmung in allgemeinen Geschäftsbedingungen in das in Art. 47945 § 2 genannte Register eingetragen worden ist.
…
Art. 47945
§ 1 Eine Abschrift des rechtskräftigen Urteils, mit dem der Klage stattgegeben wird, übersendet das Gericht an den Präsidenten des Amts für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz.
§ 2 Der Präsident des Amts für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz führt aufgrund der in § 1 genannten Urteile ein Register der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen.
§ 3 Das in § 2 genannte Register ist öffentlich.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 Biuro Partner ist eine polnische Gesellschaft, die im Bereich der Tourismusdienstleistungen tätig ist.
16 Mit Entscheidung vom 22. November 2011 stellte der Präsident des Amts für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz fest, dass Biuro Partner Klauseln verwendet habe, die Klauseln entsprächen, die in Verfahren gegen andere Gewerbetreibende für unzulässig erklärt worden und in das nationale Register der unzulässigen Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen eingetragen worden seien. Nach Ansicht des Präsidenten des Amts für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz schädigten diese von Biuro Partner verwendeten Klauseln die Kollektivinteressen der Verbraucher und rechtfertigten die Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 21127 polnischen Zloty (PLN) (etwa 6400 Euro).
17 Die HK Zakład Usługowo Handlowy „Partner“ sp. z o.o., Rechtsvorgängerin von Biuro Partner, bestritt, dass die von ihr verwendeten Klauseln den im Register eingetragenen Klauseln entsprächen.
18 Mit Urteil vom 19. November 2013 wies das Sąd Okręgowy w Warszawie – Sąd Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Bezirksgericht Warschau – Kammer für Wettbewerbs- und Verbraucherschutzsachen, Polen) die von Biuro Partner gegen die genannte Entscheidung des Präsidenten des Amts für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz erhobene Klage ab und schloss sich dessen Entscheidung an, dass sich die verglichenen Klauseln entsprächen.
19 Gegen dieses Urteil legte Biuro Partner beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) Berufung ein.
20 Das Berufungsgericht hegt Zweifel daran, wie die Richtlinien 93/13 und 2009/22 auszulegen sind. In diesem Zusammenhang bezieht es sich auf das Urteil vom 26. April 2012, Invitel (C‑472/10, EU:C:2012:242), in dem der Gerichtshof im Wesentlichen entschieden hat, dass die Wirkung einer Gerichtsentscheidung, mit der die Unzulässigkeit missbräuchlicher Klauseln festgestellt wird, auf alle Verbraucher ausgeweitet werden kann, die einen Vertrag mit dem gleichen Gewerbetreibenden abgeschlossen haben, der dieselben Klauseln enthält, ohne dass sie Partei des gegen diesen Gewerbetreibenden gerichteten Verfahrens sind. Die Zweifel des Berufungsgerichts beziehen sich insbesondere auf die Frage, ob dies auch für Verbraucher gilt, die einen Vertrag, der dieselben Klauseln enthält, mit einem anderen Gewerbetreibenden geschlossen haben, der nicht an dem Verfahren beteiligt war, das zur Feststellung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klauseln geführt hat.
21 Unter diesen Umständen hat das Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann im Licht von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2009/22 die Verwendung von Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die inhaltlich mit Klauseln übereinstimmen, die durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil für unzulässig erklärt und in das Register der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen eingetragen worden sind, in Bezug auf einen Gewerbetreibenden, der nicht an dem Verfahren beteiligt war, das zur Eintragung in das Register der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen führte, als rechtswidrige Handlung angesehen werden, die im Licht des nationalen Rechts eine die Kollektivinteressen der Verbraucher verletzende Verhaltensweise darstellt und aus diesem Grund zur Auferlegung einer Geldbuße in einem nationalen Verwaltungsverfahren berechtigt?
2. Ist im Licht von Art. 267 Abs. 3 AEUV das zweitinstanzliche Gericht, gegen dessen Berufungsentscheidung die Kassationsbeschwerde, wie sie die polnische Zivilprozessordnung vorsieht, gegeben ist, ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, oder ist der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der zur Entscheidung über die Kassationsbeschwerde berufen ist, ein solches Gericht?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2009/22 dahin auszulegen sind, dass sie es verbieten, die Verwendung von Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die inhaltlich mit Klauseln übereinstimmen, die durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung für unzulässig erklärt und in ein nationales Register der für unzulässig erklärten Bestimmungen eingetragen worden sind, in Bezug auf einen Gewerbetreibenden, der nicht an dem Verfahren beteiligt war, das zur Eintragung dieser Klauseln in das genannte Register führte, als rechtswidrige Handlung anzusehen, die zur Auferlegung einer Geldbuße berechtigt.
23 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass sowohl das vorlegende Gericht als auch die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen Zweifel daran geäußert haben, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und insbesondere deren Art. 47 vereinbar ist, da dem Gewerbetreibenden nach dieser Regelung die Möglichkeit genommen werde, Argumente dafür darzulegen, dass die fraglichen AGB-Bestimmungen nicht missbräuchlich seien, und ihm somit sein Recht auf rechtliches Gehör genommen werde.
24 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, jedoch nicht außerhalb dieser Fallgestaltungen Anwendung finden (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19).
25 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Unterlagen, die dem Gerichtshof vorliegen, dass mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung die Richtlinien 93/13 und 2009/22 umgesetzt wurden. Die Geldbuße, die auf der Grundlage dieser Regelung gegen Biuro Partner verhängte wurde, stellt somit eine Durchführung dieser Richtlinien dar. Folglich sind die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte zu wahren.
26 Da es in den Richtlinien 93/13 und 2009/22 keine Bestimmung gibt, die ein System des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für den Gewerbetreibenden ausdrücklich vorsieht, sind diese Richtlinien im Licht von Art. 47 der Charta auszulegen.
27 Daraus folgt, dass die Auslegung der Richtlinien 93/13 und 2009/22 im Licht von Art. 47 der Charta der Tatsache Rechnung tragen muss, dass jeder Person, deren durch das Unionsrecht gewährleistete Rechte verletzt werden können, ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf zusteht. Jedoch sind nicht nur Verbraucher betroffen, die geltend machen, dass sie durch eine missbräuchliche Klausel eines mit einem Gewerbetreibenden geschlossenen Vertrags benachteiligt seien, sondern auch ein Gewerbetreibender wie Biuro Partner, der geltend macht, dass die streitige Vertragsklausel nicht bereits deswegen als unzulässig angesehen und mit einer Geldbuße geahndet werden dürfe, weil eine entsprechende Klausel in das nationale Register der unzulässigen Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen eingetragen worden sei, ohne dass er an dem Verfahren beteiligt gewesen sei, das zur Aufnahme dieser Klausel in das Register geführt habe.
28 Abgesehen davon ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem auf der Annahme beruht, dass sich der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt (Urteil vom 29. Oktober 2015, BBVA, C‑8/14, EU:C:2015:731, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 In Anbetracht dieser schwächeren Position sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vor, dass missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher unverbindlich sind. Es handelt sich um eine zwingende Bestimmung, die darauf abzielt, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen (Urteil vom 29. Oktober 2015, BBVA, C‑8/14, EU:C:2015:731, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Angesichts der Art und Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der Schutz beruht, der Verbrauchern in einer solchen schwächeren Position gewährt wird, verpflichtet Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zudem die Mitgliedstaaten, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird (Urteil vom 21. Januar 2015, Unicaja Banco und Caixabank, C‑482/13, C‑484/13, C‑485/13 und C‑487/13, EU:C:2015:21, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Dieser Zweck, unzulässige Verhaltensweisen zu unterbinden, wird auch mit den Bestimmungen der Richtlinie 2009/22 verfolgt, die den durch die Richtlinie 93/13 angestrebten Verbraucherschutz um die Bereitstellung angemessener verfahrensrechtlicher Mittel bei Unterlassungsklagen ergänzt.
32 Der Gerichtshof hat die erste Frage des vorlegenden Gerichts in dem in den vorstehenden Randnummern dieses Urteils geschilderten Rahmen zu beantworten.
33 Hierzu ist festzustellen, dass sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte und insbesondere aus den Erklärungen der polnischen Regierung ergibt, dass die durch das polnische Recht eingesetzten Mittel, u. a. die Führung eines nationalen Registers der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, darauf abzielen, die Verpflichtungen zum Verbraucherschutz aus den Richtlinien 93/13 und 2009/22 aufs Beste zu erfüllen.
34 Dem vorlegenden Gericht zufolge dient das nationale Register drei Zielen im Hinblick auf die Erhöhung der Effektivität des Verbots missbräuchlicher Vertragsklauseln.
35 Zunächst soll dieses Register, das öffentlich ist und demzufolge von jedem Verbraucher oder Gewerbetreibenden eingesehen werden kann, den Umstand ausgleichen, dass es für andere Gewerbetreibende, die nicht den Anlass für die Aufnahme der betreffenden Klauseln in dieses Register gegeben haben, einfach ist, für unzulässig erklärte Klauseln zu verbreiten und zu vervielfältigen. Des Weiteren trägt es zur Transparenz des Verbraucherschutzsystems im polnischen Recht und damit zu der sich daraus ergebenden Rechtssicherheit bei. Schließlich stützt es das ordnungsgemäße Funktionieren des nationalen Rechtsschutzsystems, indem die Häufung von Gerichtsverfahren zu vergleichbaren Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die von diesen anderen Gewerbetreibenden benutzt werden, vermieden wird.
36 Erstens ist nicht zu bestreiten, dass die Einrichtung eines solchen Registers mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Aus den Bestimmungen der Richtlinie 93/13, insbesondere ihrem Art. 8 geht nämlich hervor, dass die Mitgliedstaaten Listen mit Vertragsklauseln einführen können, die als missbräuchlich gelten. Gemäß Art. 8a dieser Richtlinie in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung, der auf nach dem 13. Juni 2014 geschlossene Verträge anwendbar ist, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Kommission von der Einführung solcher Listen in Kenntnis zu setzen. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass diese von den nationalen Stellen eingeführten Listen oder Register grundsätzlich dem Interesse des Verbraucherschutzes im Rahmen der Richtlinie 93/13 entsprechen.
37 Zweitens geht aus Art. 8 der Richtlinie 93/13 hervor, dass nicht nur die Einrichtung eines Registers wie des vom Amt für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz eingerichteten, sondern auch die Führung dieses Registers den Anforderungen dieser Richtlinie und, allgemeiner, des Unionsrechts entsprechen müssen.
38 In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass dieses Register nicht nur im Interesse der Verbraucher, sondern auch im Interesse der Gewerbetreibenden auf transparente Art und Weise zu führen ist. Dieses Erfordernis setzt u. a. voraus, dass es unabhängig von der Anzahl der darin enthaltenen Klauseln klar aufgebaut ist.
39 Des Weiteren müssen die Klauseln in diesem Register das Kriterium der Aktualität erfüllen, was voraussetzt, dass das Register sorgfältig auf dem neuesten Stand gehalten wird und dass in Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit die Klauseln, die dort nicht mehr stehen dürfen, unverzüglich aus dem Register entfernt werden.
40 Überdies muss in Anwendung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes der Gewerbetreibende, gegen den eine Geldbuße aufgrund der Verwendung einer Klausel verhängt wurde, die als mit einer in das betreffende Register eingetragenen Klausel gleichwertig angesehen wurde, u. a. über die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs gegen diese Sanktion verfügen. Dieser Rechtsbehelf muss sowohl die Beurteilung des als rechtswidrig angesehenen Verhaltens als auch die Höhe der von der zuständigen nationalen Stelle, hier das Amt für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz, festgesetzten Geldbuße umfassen können.
41 Was diese Beurteilung angeht, ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass nach den polnischen Rechtsvorschriften die dem Gewerbetreibenden auferlegte Geldbuße auf der Feststellung beruht, dass die von ihm verwendete streitige Klausel mit einer AGB-Bestimmung gleichwertig ist, die für unzulässig erklärt wurde und im von diesem Amt geführten Register aufgeführt ist. Hierbei sieht die polnische Regelung vor, dass der Gewerbetreibende berechtigt ist, diese Gleichstellung vor einem Fachgericht anzufechten, nämlich vor dem Sąd Okręgowy w Warszawie – Sąd Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Bezirksgericht Warschau – Kammer für Wettbewerbs- und Verbraucherschutzsachen). Dieses Gericht hat die besondere Aufgabe, AGB-Bestimmungen zu überprüfen und damit die Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes zu wahren.
42 Nach den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt, beschränkt sich die Prüfung des zuständigen Gerichts nicht auf einen bloßen formalen Vergleich der geprüften Klauseln mit den im betreffenden Register eingetragenen Klauseln. Vielmehr bestehe diese Prüfung darin, den Inhalt der streitigen Klauseln zu würdigen, um zu bestimmen, ob sie unter Berücksichtigung sämtlicher für den jeweiligen Fall maßgeblicher Umstände insbesondere mit Blick auf die von ihnen hervorgerufenen Wirkungen inhaltlich mit den im Register eingetragenen übereinstimmten.
43 Nach den vorstehenden Erwägungen – wobei vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist, ob sie sachlich zutreffen – ist nicht davon auszugehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Verteidigungsrechte des Gewerbetreibenden oder den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes missachtet.
44 Was die Höhe der verhängten Geldbuße angeht, die das Amt für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz festsetzt, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dafür sorgen müssen, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.
45 Wenn hierzu auch festzustellen ist, dass die Festsetzung einer Geldbuße wegen der Verwendung einer als missbräuchlich eingestuften Klausel zweifellos ein Mittel darstellt, diese Verwendung zu beenden, so muss dieses Mittel dennoch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Daher müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass jeder Gewerbetreibende, der der Ansicht ist, dass die ihm auferlegte Geldbuße nicht diesem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts entspricht, ein Rechtsmittel einlegen kann, um die Höhe dieser Geldbuße anzufechten.
46 Im Ausgangsverfahren wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob die fragliche polnische innerstaatliche Regelung dem Gewerbetreibenden, gegen den das Amt für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz eine Geldbuße verhängt hat, ein Rechtsmittel gewährt, um die Höhe dieser Geldbuße unter Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzufechten.
47 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2009/22 sowie im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es nicht verbieten, die Verwendung von Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die inhaltlich mit Klauseln übereinstimmen, die durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung für unzulässig erklärt und in ein nationales Register der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen eingetragen worden sind, in Bezug auf einen Gewerbetreibenden, der nicht an dem Verfahren beteiligt war, das zur Eintragung der betreffenden Klauseln in dieses Register führte, als rechtswidrige Handlung anzusehen, sofern – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist – diesem Gewerbetreibenden ein effektiver Rechtsbehelf zusteht, und zwar sowohl gegen die Entscheidung, mit der die Gleichwertigkeit der verglichenen Klauseln festgestellt wird, in Bezug auf die Frage, ob diese Klauseln unter Berücksichtigung sämtlicher für den jeweiligen Fall maßgeblichen Umstände, insbesondere im Hinblick auf die von ihnen zum Nachteil der Verbraucher hervorgerufenen Wirkungen, inhaltlich mit den im Register eingetragenen übereinstimmen, als auch gegen die Entscheidung, mit der gegebenenfalls die Höhe der verhängten Geldbuße festgesetzt wird.
Zur zweiten Frage
48 Die zweite Frage geht dahin, ob das vorlegende Gericht als ein „einzelstaatliche[s] Gericht …, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV anzusehen ist.
49 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass diese Frage im Hinblick darauf gestellt wird, dass die Einordnung der Kassationsbeschwerde als Rechtsmittel im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV auf nationaler Ebene umstritten ist.
50 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass jeder Verstoß gegen das Unionsrecht als Kassationsgrund im Sinne von Art. 3983 Abs. 1 der Zivilprozessordnung gelte. Es kommt unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dem Schluss, dass es selbst nicht zu den Gerichten nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gehöre, da seine Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könnten.
51 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass, wie die polnische Regierung und die Kommission angemerkt haben, der Gerichtshof in Rechtssachen, in denen es um nationale Rechtsbehelfe ging, die mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vergleichbar waren, Gelegenheit hatte, den Begriff des „einzelstaatlichen Gericht[s] …, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, auszulegen.
52 In diesen Urteilen hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Entscheidungen eines nationalen Rechtsmittelgerichts, die von den Parteien bei einem obersten Gericht angefochten werden können, nicht von einem „einzelstaatlichen Gericht …, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, wie es in Art. 267 AEUV heißt, stammen. Der Umstand, dass eine solche Anfechtung nur nach vorheriger Zulassungserklärung durch das oberste Gericht in der Sache geprüft werden kann, bewirkt nicht, dass den Parteien das Rechtsmittel entzogen wird (Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio, C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Des Weiteren hat der Gerichtshof klargestellt, dass dies umso mehr für ein Verfahren gilt, das lediglich Beschränkungen insbesondere hinsichtlich der Art der Rechtsmittelgründe, die vor diesem Gericht geltend gemacht werden können, vorsieht, nämlich, dass eine Rechtsverletzung gerügt werden muss (Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio, C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 77).
54 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung zu nationalen Rechtsbehelfssystemen, die mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vergleichbar sind, ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Gericht wie das vorlegende Gericht, dessen Entscheidungen, die im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens ergehen, mit einer Kassationsbeschwerde angefochten werden können, nicht als „einzelstaatliche[s] Gericht …, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, anzusehen ist.
Kosten
55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in Verbindung mit den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2009/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen sowie im Licht von Art. 47 der Charta sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, die Verwendung von Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die inhaltlich mit Klauseln übereinstimmen, die durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung für unzulässig erklärt und in ein nationales Register der für unzulässig erklärten Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen eingetragen worden sind, in Bezug auf einen Gewerbetreibenden, der nicht an dem Verfahren beteiligt war, das zur Eintragung der betreffenden Klauseln in dieses Register führte, als rechtswidrige Handlung anzusehen, sofern – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist – diesem Gewerbetreibenden ein effektiver Rechtsbehelf zusteht, und zwar sowohl gegen die Entscheidung, mit der die Gleichwertigkeit der verglichenen Klauseln festgestellt wird, in Bezug auf die Frage, ob diese Klauseln unter Berücksichtigung sämtlicher für den jeweiligen Fall maßgeblichen Umstände, insbesondere im Hinblick auf die von ihnen zum Nachteil der Verbraucher hervorgerufenen Wirkungen, inhaltlich mit den im Register eingetragenen übereinstimmen, als auch gegen die Entscheidung, mit der gegebenenfalls die Höhe der verhängten Geldbuße festgesetzt wird.
2. Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Gericht wie das vorlegende Gericht, dessen Entscheidungen, die im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens ergehen, mit einer Kassationsbeschwerde angefochten werden können, nicht als „einzelstaatliche[s] Gericht …, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, anzusehen ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 8. Dezember 2016.#Eurosaneamientos SL u. a. gegen ArcelorMittal Zaragoza, SA und Francesc de Bolós Pi gegen Urbaser, SA.#Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Provincial de Zaragoza und des Juzgado de Primera Instancia de Olot.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Leistungen von Prozessbevollmächtigten – Gebührenordnung – Gerichte – Unmöglichkeit der Abweichung.#Verbundene Rechtssachen C-532/15 und C-538/15.
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62015CJ0532
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ECLI:EU:C:2016:932
| 2016-12-08T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0532
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
8. Dezember 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Leistungen von Prozessbevollmächtigten — Gebührenordnung — Gerichte — Unmöglichkeit der Abweichung“
In den verbundenen Rechtssachen C‑532/15 und C‑538/15
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa, Spanien) und dem Juzgado de Primera Instancia de Olot (Gericht erster Instanz Olot, Spanien) mit Entscheidungen vom 22. und 18. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 9. und 15. Oktober 2015, in den Verfahren
Eurosaneamientos SL,
Entidad Urbanística Conservación Parque Tecnológico de Reciclado López Soriano,
UTE PTR Acciona Infraestructuras SA
gegen
ArcelorMittal Zaragoza SA,
Beteiligter:
Consejo General de Procuradores de España (C‑532/15),
und
Francesc de Bolós Pi
gegen
Urbaser SA (C‑538/15)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und S. Rodin (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: X. Lopez Bancalari, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. September 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Eurosaneamientos SL, vertreten durch J. García-Gallardo Gil-Fournier, A. Guerrero Righetto, A. Rada Pumariño, abogados, und J. Issern Longares, procurador,
—
von Herrn de Bolós Pi, vertreten durch J. García-Gallardo Gil-Fournier, A. Guerrero Righetto, A. Figueras Sabater, abogados, und F. de Bolós Pi, procurador,
—
der Urbaser SA, vertreten durch J. Badía Armengol, L. Ruz Gutiérrez, abogados, und J. Pons Arau, procurador,
—
des Consejo General de Procuradores de España, vertreten durch A. Guerrero Righetto und J. García-Gallardo Gil-Fournier, abogados, und J. Estévez Fernández-Novoa, procurador,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta und M. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, M. de Ree und C. Schillemans als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe, C. Urraca Caviedes und J. Rius als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, der Art. 56 und 101 AEUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Art. 4 und 15 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36).
2 Sie ergingen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen der Eurosaneamientos SL, Entidad Urbanística Conservación Parque Tecnológico de reciclado López Soriano und der UTE PTR Acciona Infraestructuras SA auf der einen und der ArcelorMittal Zaragoza SA auf der anderen Seite und zum anderen zwischen Herrn Francesc de Bolós Pi und der Urbaser SA wegen der Honorare der Prozessbevollmächtigten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 4 Nr. 8 der Richtlinie 2006/123 lautet:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
8. ‚zwingende Gründe des Allgemeininteresses‘ Gründe, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung als solche anerkannt hat, einschließlich folgender Gründe: öffentliche Ordnung; öffentliche Sicherheit; Sicherheit der Bevölkerung; öffentliche Gesundheit; Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme der sozialen Sicherung; Schutz der Verbraucher, der Dienstleistungsempfänger und der Arbeitnehmer; Lauterkeit des Handelsverkehrs; Betrugsbekämpfung; Schutz der Umwelt und der städtischen Umwelt; Tierschutz; geistiges Eigentum; Erhaltung des nationalen historischen und künstlerischen Erbes; Ziele der Sozialpolitik und Ziele der Kulturpolitik;
…“
4 Art. 15 Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:
„(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:
…
g)
der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;
…
(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:
a)
Nicht-Diskriminierung: [D]ie Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;
b)
Erforderlichkeit: [D]ie Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;
c)
Verhältnismäßigkeit: [D]ie Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.
…“
Spanisches Recht
5 Die Tätigkeit der Prozessbevollmächtigten (procuradores) ist in erster Linie in der Ley Orgánica 6/1985 del Poder Judicial (Organgesetz 6/1985 über die richterliche Gewalt) vom 1. Juli 1985 (BOE Nr. 157 vom 2. Juli 1985) geregelt, und ihr Tätigwerden bei Verfahren richtet sich nach der Ley 1/2000 de Enjuiciamiento Civil (Gesetz 1/2000 über den Zivilprozess) vom 7. Januar 2000 (BOE Nr. 7 vom 8. Januar 2000, im Folgenden: Zivilprozessordnung). Die Aufgabe des Prozessbevollmächtigten besteht im Wesentlichen darin, die Parteien im Verfahren zu vertreten und effizient mit den Rechtssprechungsorganen zusammenzuarbeiten, um den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu erleichtern. Diese Aufgaben sind andere Aufgaben als die der Anwälte und mit diesen nicht vereinbar.
6 Art. 242 Abs. 4 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Die Ansprüche der Beamten, Prozessbevollmächtigten und freiberuflich Tätigen, die einer Gebührenordnung unterliegen, richten sich nach dieser.“
7 Das Real Decreto 1373/2003 por el que se aprueba el arancel de derechos de los procuradores de los tribunales (Königliches Dekret 1373/2003 zur Annahme der Gebührenordnung für Prozessbevollmächtigte) vom 7. November 2003 (BOE Nr. 278 vom 20. November 2003) in der durch das Real Decreto 1/2006 (Königliches Dekret 1/2006) vom 13. Januar 2006 (BOE Nr. 24 vom 28. Januar 2006) geänderten Fassung (im Folgenden: Real Decreto 1373/2003) schreibt für die Vergütung der Prozessbevollmächtigten einen im Voraus bestimmten verbindlichen Betrag vor, der Verhandlungen zwischen dem Prozessbevollmächtigten und seinem Mandanten zugänglich ist, aber höchstens um 12 % über- oder unterschritten werden darf, und legt den Höchstbetrag je Rechtssache nach dem Streitwert fest. Nach Änderungen in der Gesetzgebung im Jahr 2010 beträgt die Gesamthöchstgrenze für das Honorar, das ein Prozessbevollmächtigter in ein und derselben Rechtssache, für ein und dieselbe Handlung oder in ein und demselben Verfahren erhalten kann, 300000 Euro.
8 Die Richtlinie 2006/123 wurde durch die Ley 17/2009 sobre el libre acceso a las actividades de servicios y su ejercicio (Gesetz 17/2009 über die freie Aufnahme von Dienstleistungstätigkeiten und ihre Ausübung) vom 23. November 2009 (BOE Nr. 283 vom 24. November 2009) in das spanische Recht umgesetzt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑532/15
9 Nach einem Verfahren zwischen Eurosaneamientos, Entidad Urbanística Conservación Parque Tecnológico de reciclado López Soriano und UTE PTR Acciona Infraestructuras (im Folgenden: Eurosaneamientos u. a.) auf der einen und ArcelorMittal Zaragoza auf der anderen Seite wegen außervertraglicher Haftung wurde die letztgenannte Gesellschaft zur Tragung der Kosten verurteilt. Auf Antrag von Eurosaneamientos u. a. setzte die Geschäftsstelle der Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa, Spanien) die Kosten fest.
10 ArcelorMittal Zaragoza focht die Festsetzung mit der Begründung an, dass die Gebühren der Prozessbevollmächtigten, die Eurosaneamientos u. a. vertreten hätten, nicht geschuldet und die Honorare der Anwälte dieser Gesellschaften nicht geschuldet und überhöht seien. Die Geschäftsstelle der Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa) setzte die Kosten für die Anwaltshonorare auf den Betrag von 17558,70 Euro brutto und die Honorare für die Prozessbevollmächtigten auf 2793,56 Euro brutto herab.
11 Eurosaneamientos u. a. legten gegen die Entscheidung der Geschäftsstelle Beschwerde bei der Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa) ein.
12 Am 12. Februar 2015 erließ dieses Gericht im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens drei Beschlüsse, mit denen die Beschwerden von Eurosaneamientos u. a. zurückgewiesen wurden, soweit sie die Anwaltshonorare betrafen, und forderte die Parteien auf, sich hinsichtlich der Kosten für die Leistungen der Prozessbevollmächtigten, insbesondere bezüglich der Gebührenordnung, nach der sich die Höhe dieser Kosten bemisst, zur Einleitung eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV zu äußern.
13 Die Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa) hat Zweifel, ob das Vergütungssystem für die Prozessbevollmächtigten in Spanien mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Genauer stellt dieses Gericht fest, dass die Urteile des Gerichtshofs vom 19. Februar 2002, Arduino (C‑35/99, EU:C:2002:97), und vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a. (C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758), darauf hinzudeuten scheinen, dass die Voraussetzungen für das Nichtvorliegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens darin bestehen, dass erstens der Staat nicht auf seine Entscheidungsbefugnis oder die Kontrolle der Anwendung der betreffenden Gebührenordnung verzichtet hat, und zweitens, dass die Gerichte unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen von den festgelegten Höchst- und Mindestsätzen abweichen können.
14 In diesem Zusammenhang ist dieses Gericht der Ansicht, dass sich die gerichtliche Kontrolle darauf beschränke, die strikte Anwendung der durch das Real Decreto 1373/2003 festgelegten Gebührenordnung zu überprüfen, ohne dass unter außergewöhnlichen Umständen durch eine ordnungsgemäß begründete Entscheidung von den durch diese Gebührenordnung festgelegten Grenzen abgewichen werden könne oder kontrolliert werden könne, ob der geforderte Betrag im Verhältnis zur erbrachten Leistung stehe. Aus der Rechtsprechung des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof, Spanien) gehe darüber hinaus hervor, dass die Herabsetzung der Gebühren der Prozessbevollmächtigten durch die nationalen Gerichte eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts darstelle.
15 Außerdem stellt sich die Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa), obgleich ihres Erachtens die Auslegung der in der Richtlinie 2006/123 enthaltenen Begriffe „zwingender Grund des Allgemeininteresses“, „Erforderlichkeit“ und „Verhältnismäßigkeit“ Sache des Gerichtshofs ist, die Frage, ob die nationalen Gerichte befugt sind, in dem Fall, dass ein staatlicher Regelungsrahmen die Gebührenordnung für Leistungen festlegt und eine stillschweigende Erklärung hinsichtlich des Vorliegens eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses enthält, zu kontrollieren, ob eine solche Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt ist. Für den Fall, dass eine solche Rechtfertigung nicht gegeben ist, fragt sie sich ferner, ob die nationalen Gerichte befugt sind, diese Gebührenordnung unangewendet zu lassen oder die darin aufgeführten Beträge herabzusetzen, obwohl aus der Rechtsprechung des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof) hervorgehe, dass eine dahin gehende Entscheidung der nationalen Gerichte eine Auslegung contra legem darstelle.
16 Schließlich ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die verbindliche Festlegung des Preises bestimmter Leistungen unabhängig vom tatsächlichen Arbeitsaufwand und von eventuellen anderen Besonderheiten des Falles als dem Streitwert eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und von Art. 47 der Charta darstellen könnte, da die Partei des Rechtsstreits sich mittels der Kosten der Auferlegung im Voraus bestimmter festgesetzter Kosten ausgesetzt sehen könnte, ohne sich vergewissern zu können, dass sie verhältnismäßig oder gerechtfertigt sind, was einen Faktor darstelle, der die Erhebung einer Klage, deren Ausgang ungewiss oder zweifelhaft sei, effektiv behindern könne.
17 Unter diesen Umständen hat die Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist eine vom Staat erlassene Regelung, die eine staatliche Kontrolle bei der Festsetzung der Gebühren der Prozessbevollmächtigten („procuradores“) vorschreibt, indem sie durch eine Rechtsverordnung die genaue Höhe verbindlich festlegt und den Gerichten – insbesondere bei einer Verurteilung in die Kosten – die nachträgliche Kontrolle der Gebührenfestsetzung im konkreten Fall zuweist, wobei diese Kontrolle auf die strikte Anwendung der Gebührenordnung beschränkt ist, ohne dass unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen durch eine ordnungsgemäß begründete Entscheidung von den in den Gebührenvorschriften vorgesehenen Grenzen abgewichen werden darf, mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 101 AEUV vereinbar?
2. Erlaubt die Auslegung der Begriffe „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“, „Verhältnismäßigkeit“ und „Erforderlichkeit“ in den Art. 4 und 15 der Richtlinie 2006/123 durch den Gerichtshof es den Gerichten der Mitgliedstaaten in Fällen, in denen die Festsetzung des Betrags für solche Dienstleistungen auf einer staatlichen Regelung beruht und – in Ermangelung einer Regelung in den Umsetzungsvorschriften – eine stillschweigende Erklärung zum Vorliegen zwingender Gründe des Allgemeininteresses existiert, obwohl dieses wegen Widerspruchs zur Unionsrechtsprechung nicht geltend gemacht werden kann, in einem konkreten Fall das Vorliegen einer Beschränkung festzustellen, die nicht vom Allgemeininteresse getragen ist, so dass sie die Vorschriften zur Regelung der Vergütung der Prozessbevollmächtigten unangewendet lassen oder anpassen können?
3. Ist der Erlass einer solchen Regelung mit dem Recht auf einen fairen Prozess in seiner Auslegung durch den Gerichtshof vereinbar?
Rechtssache C‑538/15
18 Herr de Bolós Pi, ein spanischer Prozessbevollmächtigter (procurador), erhob gegen Urbaser Klage auf Zahlung von 66912,73 Euro an Honoraren, die ihm als Vergütung für sein Tätigwerden in zwei von ihm eingereichten verwaltungsrechtlichen Klagen zustünden, nebst den entsprechenden gesetzlichen Zinsen und Kosten.
19 Urbaser bringt vor, dass die Honorarforderungen von Herrn de Bolós Pi überhöht seien, da sie außer Verhältnis zu dessen Arbeitsaufwand für die oben genannten Klagen stünden. Herr de Bolós Pi habe sich darauf beschränkt, in dem einen Verfahren neun Schriftsätze und in dem anderen drei Schriftsätze einzureichen. Den Gerichten müsse es möglich sein, die Honorare der Prozessbevollmächtigten im Verhältnis zur erbrachten Arbeit festzusetzen, während die Festsetzung der Honorare allein auf der Grundlage des im Real Decreto 1373/2003 vorgesehenen Betrags gegen den Grundsatz des freien Wettbewerbs und damit gegen Art. 4 Abs. 3 EUV sowie die Richtlinie 2006/123 verstoße, was die Anrufung des Gerichtshofs im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens rechtfertige.
20 Zudem bestehe zwischen den Parteien eine mündliche Abrede, mit der die Honorare des Prozessbevollmächtigten auf 2000 Euro begrenzt worden seien. Gleichwohl habe Herr de Bolós Pi beschlossen, diese Abrede nicht einzuhalten, was der Rechtsanwalt, der mit den der Honorarforderung zugrunde liegenden Rechtssachen befasst war, vor dem vorlegenden Gericht bestätigte.
21 Mit prozessleitender Verfügung vom 23. Juli 2015 forderte der Juzgado de Primera Instancia de Olot (Gericht erster Instanz Olot, Spanien) die Parteien auf, zur Zweckmäßigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof Stellung zu nehmen.
22 Wie die Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa) stellt sich der Juzgado de Primera Instancia de Olot (Gericht erster Instanz Olot) erstens die Frage, ob in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Real Decreto 1373/2003 mit Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV vereinbar ist. Das Gericht stellt insbesondere fest, dass Art. 245 Abs. 2 der Zivilprozessordnung es den nationalen Gerichten verwehre, von den Grenzen abzuweichen, die in der durch dieses Real Decreto geschaffenen Gebührenordnung festgesetzt würden. Zweitens hat das Gericht Zweifel, ob das genannte Real Decreto mit der Richtlinie 2006/123 vereinbar ist, wonach keine Mindestpreise für Dienstleistungen eingeführt werden dürften, außer bei Erforderlichkeit, und sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig sein müssten. Drittens könnte es sich nach Ansicht des Gerichts als mit der EMRK, nämlich dem Recht auf ein faires Verfahren, unvereinbar erweisen, dass die durch diese Gebührenordnung festgelegten Beträge nicht wegen Unverhältnismäßigkeit, Übermäßigkeit oder des Umstands, dass sie der durchgeführten Arbeit nicht entsprechen, angefochten werden können.
23 Unter diesen Umständen hat der Juzgado de Primera Instancia de Olot (Gericht erster Instanz Olot) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist eine Regelung wie das Real Decreto 1373/2003, das für die Vergütung der Prozessbevollmächtigten Mindestgebühren bzw. ‑sätze festlegt, die höchstens um 12 % über- oder unterschritten werden dürfen, mit Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV vereinbar, wenn die Behörden des Mitgliedstaats, einschließlich seiner Gerichte, nicht von diesen Mindestsätzen abweichen dürfen, selbst wenn außerordentliche Umstände vorliegen?
2. Kann es für die Zwecke der Anwendung der gesetzlichen Gebühren und der Nichtanwendung der dort vorgesehenen Mindestsätze als außerordentlicher Umstand betrachtet werden, wenn ein erhebliches Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Arbeitsaufwand und dem Honorar besteht, das sich aus der Anwendung der Gebührenordnung ergibt?
3. Ist das Real Decreto 1373/2003 mit Art. 56 AEUV vereinbar?
4. Erfüllt dieses Real Decreto die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit des Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123?
5. Umfasst Art. 6 der EMRK das Recht, sich effektiv gegen die Festsetzung unverhältnismäßig hoher und nicht dem tatsächlichen Arbeitsaufwand entsprechender Honorare des Prozessbevollmächtigten wehren zu können?
24 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 5. November 2015 sind die Rechtssachen C‑ 532/15 und C‑538/15 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
25 Der Consejo General de Procuradores de España (Allgemeiner Rat der Prozessbevollmächtigten Spaniens) wendet ein, dass beide Vorlagen zur Vorabentscheidung unzulässig seien, und die spanische Regierung sowie Herr de Bolós Pi machen die Unzulässigkeit der Vorlage zur Vorabentscheidung in der Rechtssache C‑538/15 geltend. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgebracht, dass in Anbetracht des nationalen Rechts die Auslegung des Unionsrechts zur Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten in den Ausgangsverfahren nicht erforderlich sei. Was die Rechtssache C‑532/15 angehe, sei es allein Sache der nationalen Gerichte, über die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu entscheiden. Betreffend die Rechtssache C‑538/15 seien die vom vorlegenden Gericht genannten Bestimmungen des Real Decreto 1373/2003 auf den Rechtsstreit im Ausgangsverfahren nicht anwendbar, da für diesen ausschließlich die zwischen dem Prozessbevollmächtigten und seinem Mandanten geschlossene Vereinbarung gelte.
26 Nach ständiger Rechtsprechung ist das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (vgl. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Hieraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Im Hinblick hierauf geht jedoch aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht offensichtlich hervor, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten steht.
Zur Begründetheit
Vorbemerkungen
30 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2016, Oniors Bio, C‑233/15, EU:C:2016:305, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Von dieser Möglichkeit ist im Rahmen der vorliegenden Vorlagen zur Vorabentscheidung Gebrauch zu machen.
Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑532/15 sowie zur ersten und zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑538/15
32 Mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑532/15 und der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑538/15 möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der der Ausgangsverfahren entgegensteht, die für die Honorare der Prozessbevollmächtigten eine Gebühr festsetzt, die höchstens um 12 % über- oder unterschritten werden darf, und bezüglich deren sich die nationalen Gerichte darauf beschränken, ihre strikte Anwendung zu überprüfen, ohne dass sie in der Lage wären, unter außergewöhnlichen Umständen von den durch diese Gebührenordnung festgelegten Grenzen abzuweichen.
33 Zunächst ist entgegen dem Vorbringen von Eurosaneamientos u. a., des Consejo General de Procuradores de España (Allgemeiner Rat der Prozessbevollmächtigten Spaniens) und der österreichischen Regierung darauf hinzuweisen, dass die durch das Real Decreto 1373/2003 festgesetzten Honorare, da sie sich auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erstrecken, im Sinne von Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 AEUV zur Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten geeignet sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. Mai 2008, Hospital Consulting u. a., C‑386/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:256, Rn. 18 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Die Art. 101 und 102 AEUV betreffen zwar nur das Verhalten von Unternehmen und nicht als Gesetz oder Verordnung ergangene Maßnahmen der Mitgliedstaaten; in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, der eine Pflicht zur Zusammenarbeit begründet, verbieten sie es jedoch den Mitgliedstaaten, Maßnahmen, auch in Form von Gesetzen oder Verordnungen, zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln beeinträchtigen könnten (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. Mai 2008, Hospital Consulting u. a., C‑386/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:256, Rn. 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine Verletzung von Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 101 AEUV vor, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 101 AEUV verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt oder begünstigt oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt (vgl. Urteil vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Um zu überprüfen, ob das Königreich Spanien der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung ihren staatlichen Charakter genommen hat, ist zum einen zu untersuchen, ob es die Ausarbeitung der Gebührenordnung der Honorarsätze der Prozessbevollmächtigten an private Wirtschaftsteilnehmer, im vorliegenden Fall an die berufsständischen Vereinigungen der Prozessbevollmächtigten, übertragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Februar 2002, Arduino, C‑35/99, EU:C:2002:97, Rn. 36, vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 48, sowie Beschluss vom 5. Mai 2008, Hospital Consulting u. a., C‑386/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:256, Rn. 21), und zum anderen, ob die Festsetzung der Honorare der Prozessbevollmächtigten unter staatlicher Kontrolle bleibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Februar 2002, Arduino, C‑35/99, EU:C:2002:97, Rn. 42, vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 51, sowie Beschluss vom 5. Mai 2008, Hospital Consulting u. a., C‑386/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:256, Rn. 24).
37 In diesem Zusammenhang ergibt sich aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑532/15, dass das Real Decreto 1373/2003 eine vom Staat erlassene Rechtsvorschrift darstellt. Zudem hebt die spanische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen hervor, dass dieses Dekret nicht von den berufsständischen Vereinigungen der Prozessbevollmächtigten ausgearbeitet worden sei, sondern dass es sich dabei um eine staatliche Vorschrift handele, die vom spanischen Ministerrat gemäß dem ordentlichen Verfahren zur Ausarbeitung von Dekreten angenommen worden sei.
38 Darüber hinaus geht hinsichtlich des Verfahrens zur Festsetzung der Honorare der Prozessbevollmächtigten aus den Vorlageentscheidungen hervor, dass dieses Verfahren in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt. In diesem Zusammenhang stellen die vorlegenden Gerichte fest, dass die Beträge, die durch die durch das Real Decreto 1373/2003 geschaffene Gebührenordnung festgelegt wurden, für das nationale Gericht bei der Festsetzung der Honorare bindend sind und dass dieses Gericht weder unter außergewöhnlichen Umständen von dieser Gebührenordnung abweichen noch die Verhältnismäßigkeit zwischen den Honorarbeträgen und der erbrachten Leistung überprüfen darf.
39 Ausweislich der Vorlageentscheidungen können des Weiteren zum einen nach dem Decreto Real 1373/2003 ein Prozessbevollmächtigter und sein Mandant von den in dem Decreto Real vorgesehenen Honorarbeträgen um 12 % nach oben oder nach unten abweichen und ist zum anderen eine Gesamthöchstgrenze für die von einem Prozessbevollmächtigten in einer Rechtssache erhaltenen Honorare vorgesehen. Aus den schriftlichen Erklärungen der spanischen Regierung geht hervor, dass dieses königliche Dekret zudem die Möglichkeit vorsieht, ausnahmsweise aufgrund richterlicher Genehmigung von den in ihr vorgesehenen Maximalbeträgen abzuweichen, wie auch das Recht der Mandanten, im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens unnötige, fakultative, überflüssige oder nicht gesetzlich genehmigte Kosten und die Honorare, die nicht im Rahmen eines Rechtsstreits entstanden sind, anzufechten.
40 Unter diesen Umständen kann es dem Königreich Spanien allein aufgrund dessen, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, bei dem Verfahren der Festsetzung der Honorare der Prozessbevollmächtigten die Bestimmungen einer nationalen Regelung einzuhalten, die von diesem Mitgliedstaat gemäß dem ordentlichen Verfahren zum Erlass dieser Regelung ausgearbeitet und erlassen wurde, nicht vorgeworfen werden, dass es die Befugnis zur Ausarbeitung dieser Regelung oder ihre Anwendung auf die berufsständischen Vereinigungen der Prozessbevollmächtigten übertragen habe.
41 Aus den in den Rn. 37 bis 39 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen kann diesem Mitgliedstaat auch nicht der Vorwurf gemacht werden, den berufsständischen Vereinigungen der Prozessbevollmächtigten gegen Art. 101 AEUV verstoßende Kartellabsprachen vorzuschreiben oder zu begünstigen oder die Auswirkungen solcher Absprachen zu verstärken oder gegen Art. 102 AEUV verstoßende Missbräuche einer beherrschenden Stellung vorzuschreiben oder zu begünstigen oder die Auswirkungen solcher Missbräuche zu verstärken (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. Mai 2008, Hospital Consulting u. a., C‑386/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:256, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑532/15 und die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C‑538/15 zu antworten, dass Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der der Ausgangsverfahren nicht entgegensteht, die für die Honorare der Prozessbevollmächtigten eine Gebühr festsetzt, die höchstens um 12 % über- oder unterschritten werden darf, und bezüglich deren sich die nationalen Gerichte darauf beschränken, ihre strikte Anwendung zu überprüfen, ohne dass sie in der Lage wären, unter außergewöhnlichen Umständen von den durch diese Gebührenordnung festgelegten Grenzen abzuweichen.
Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑532/15 sowie zur dritten und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑538/15
43 Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑532/15 und der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑538/15 möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der der Ausgangsverfahren entgegensteht, soweit die nationalen Gerichte der Auffassung sind, dass sie nicht mit einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses im Sinne von Art. 4 Nr. 8 der Richtlinie 2006/123 gerechtfertigt werden kann und dass sie die Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 dieser Richtlinie nicht erfüllt.
44 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur – u. a. – dann abgelehnt werden kann, wenn die Vorschrift des Unionsrechts, um deren Auslegung der Gerichtshof ersucht wird, offensichtlich nicht angewandt werden kann (vgl. Beschluss vom 12. Mai 2016, Security Service u. a., C‑692/15 bis C‑694/15, EU:C:2016:344, Rn. 22 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Soweit die Vorabentscheidungsersuchen die Vereinbarkeit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr betreffen, ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht für Sachverhalte gelten, die sich ausschließlich innerhalb eines Mitgliedstaats abspielen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Mai 2016, Security Service u. a., C‑692/15 bis C‑694/15, EU:C:2016:344, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 47).
46 Der Gerichtshof hat entschieden, dass sich die konkreten Merkmale, die es ermöglichen, einen Zusammenhang zwischen den Bestimmungen des AEU‑Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr und dem Gegenstand oder den Umständen eines Rechtsstreits, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen des betreffenden Mitgliedstaats hinausweisen, herzustellen, aus der Vorlageentscheidung ergeben müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 54).
47 Folglich ist es im Zusammenhang mit einem Sachverhalt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, Sache des vorlegenden Gerichts, dem Gerichtshof den Anforderungen von Art. 94 seiner Verfahrensordnung entsprechend anzugeben, inwieweit der bei ihm anhängige Rechtsstreit trotz seines rein innerstaatlichen Charakters einen Anknüpfungspunkt bezüglich der Vorschriften des Unionsrechts betreffend die Grundfreiheiten aufweist, der die Auslegung im Wege der Vorabentscheidung, um die ersucht wird, für die Entscheidung dieses Rechtsstreits erforderlich macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 55).
48 Aus den Vorlageentscheidungen geht jedoch nicht hervor, dass es Merkmale im Zusammenhang mit den Parteien in den Verfahren vor den nationalen Gerichten oder mit den Tätigkeiten dieser Parteien gäbe, die sich nicht innerhalb des allein betroffenen Mitgliedstaats abspielten. Zudem geben die vorlegenden Gerichte nicht an, inwieweit die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten trotz ihres rein innerstaatlichen Charakters einen Anknüpfungspunkt bezüglich der Vorschriften des Unionsrechts betreffend die Grundfreiheiten aufweisen, der die Auslegung im Wege der Vorabentscheidung, um die ersucht wird, für die Entscheidung dieser Rechtsstreitigkeiten erforderlich macht.
49 Unter diesen Umständen ist festzuhalten, dass die Vorabentscheidungsersuchen keine konkreten Angaben enthalten, die die Feststellung zuließen, dass Art. 56 AEUV auf die Umstände der Ausgangsrechtsstreitigkeiten Anwendung finden könnte.
50 Nach alledem ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der zweiten Frage in der Rechtssache C‑532/15 sowie der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑538/15, die von der Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa) bzw. dem Juzgado de Primera Instancia de Olot (Gericht erster Instanz Olot) gestellt wurden, nicht zuständig ist.
Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑532/15 und zur fünften Frage in der Rechtssache C‑538/15
51 Mit der dritten Frage in der Rechtssache C‑532/15 und der fünften Frage in der Rechtssache C‑538/15 möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der der Ausgangsverfahren entgegensteht, die es den Mandanten verwehrt, die Honorare der Prozessbevollmächtigten wirksam anzufechten, wenn diese unverhältnismäßig sind und dem tatsächlichen Arbeitsaufwand nicht entsprechen.
52 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Daher ist zu prüfen, ob die den Ausgangsrechtssachen zugrunde liegenden rechtlichen Situationen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.
54 Im Rahmen der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen regelt die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung allgemein bestimmte Kosten im Bereich der Rechtspflege. Mit ihr wird nicht bezweckt, Bestimmungen des Unionsrechts durchzuführen. Im Übrigen enthält dieses keine spezielle Regelung in diesem Bereich und keine Regelung, die sich auf diese nationale Regelung auswirken könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2014, Torralbo Marcos, C‑265/13, EU:C:2014:187, Rn. 32).
55 Aus den Vorlageentscheidungen geht nicht hervor, dass der Gegenstand der Rechtsstreitigkeiten in den Ausgangsverfahren mit dem Unionsrecht im Zusammenhang steht (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 28 und 29, sowie in diesem Sinne Beschluss vom 28. November 2013, Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio, C‑258/13, EU:C:2013:810, Rn. 23).
56 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der dritten Frage in der Rechtssache C‑532/15 sowie der fünften Frage in der Rechtssache C‑538/15, die von der Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa) bzw. dem Juzgado de Primera Instancia de Olot (Gericht erster Instanz Olot) gestellt wurden, nicht zuständig ist.
Kosten
57 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der der Ausgangsverfahren nicht entgegensteht, die für die Honorare der Prozessbevollmächtigten eine Gebühr festsetzt, die höchstens um 12 % über- oder unterschritten werden darf, und bezüglich deren sich die nationalen Gerichte darauf beschränken, ihre strikte Anwendung zu überprüfen, ohne dass sie in der Lage wären, unter außergewöhnlichen Umständen von den durch diese Gebührenordnung festgelegten Grenzen abzuweichen.
2. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der zweiten und der dritten Frage in der Rechtssache C‑532/15 sowie der dritten bis fünften Frage in der Rechtssache C‑538/15, die von der Audiencia Provincial de Zaragoza (Provinzgericht Saragossa, Spanien) bzw. dem Juzgado de Primera Instancia de Olot (Gericht erster Instanz Olot, Spanien) gestellt wurden, nicht zuständig.
Unterschriften
(*1) * Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 27. Oktober 2016.#Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank gegen F. Wieland und H. Rothwangl.#Vorabentscheidungsersuchen des Centrale Raad van Beroep.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 18 und 45 AEUV – Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 3 und 94 – Verordnung (EG) Nr. 859/2003 – Art. 2 Abs. 1 und 2 – Alters- und Todesfallversicherung – Ehemalige Seeleute, die Staatsangehörige eines Drittstaats sind, der 1995 Mitglied der Europäischen Union wurde – Ausschluss des Anspruchs auf die Leistungen bei Alter.#Rechtssache C-465/14.
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62014CJ0465
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ECLI:EU:C:2016:820
| 2016-10-27T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0465
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
27. Oktober 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 18 und 45 AEUV — Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 3 und 94 — Verordnung (EG) Nr. 859/2003 — Art. 2 Abs. 1 und 2 — Alters- und Todesfallversicherung — Ehemalige Seeleute, die Staatsangehörige eines Drittstaats sind, der 1995 Mitglied der Europäischen Union wurde — Ausschluss des Anspruchs auf die Leistungen bei Alter“
In der Rechtssache C‑465/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht für Sozialversicherungssachen und den öffentlichen Dienst, Niederlande) mit Entscheidung vom 6. Oktober 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Oktober 2014, in dem Verfahren
Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank
gegen
F. Wieland,
H. Rothwangl
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Borg Barthet, S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. September 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
des Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank, vertreten durch H. van der Most und T. Theele als Bevollmächtigte,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch M. García‑Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Noort, M. Bulterman und H. Stergiou als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und G. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 4. Februar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 18 und Art. 45 Abs. 2 AEUV sowie der Art. 3 und 94 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 1), (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie des Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen (ABl. 2003, L 124, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen zweiter unterschiedlicher Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank (Verwaltungsrat der Sozialversicherungsanstalt, im Folgenden: SVB) und Herrn F. Wieland bzw. Herrn H. Rothwangl über die Weigerung der SVB, Letzteren eine Altersrente zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1408/71
3 Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71 heißt es:
„Die Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit gehören zur Freizügigkeit von Personen und sollen zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen.“
4 Art. 1 dieser Verordnung sieht vor:
„Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:
a)
‚Arbeitnehmer‘ … : jede Person,
i)
die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige … erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist;
…
j)
‚Rechtsvorschriften‘: in jedem Mitgliedstaat die bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 4 Absätze 1 und 2 genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit …
…
r)
‚Versicherungszeiten‘: die Beitrags-, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer Selbständigentätigkeit, die nach den Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind oder als zurückgelegt gelten, als Versicherungszeiten bestimmt oder anerkannt sind, sowie alle gleichgestellten Zeiten, soweit sie nach diesen Rechtsvorschriften als den Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt sind; die Zeiten, die im Rahmen eines Sondersystems für Beamte zurückgelegt wurden, gelten für die Anwendung dieser Verordnung als Versicherungszeiten;
…
sa)
‚Wohnzeiten‘: die Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften, unter denen sie zurückgelegt worden sind oder unter denen sie als zurückgelegt gelten, als solche bestimmt oder anerkannt sind;
… “
5 Art. 2 („Persönlicher Geltungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Diese Verordnung gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.“
6 Art. 3 („Gleichbehandlung“) dieser Verordnung sieht in seinem Abs. 1 vor:
„Die Personen, für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.“
7 In Art. 4 („Sachlicher Geltungsbereich“) der Verordnung Nr. 1408/71 heißt es:
„(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:
…
b)
Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,
c)
Leistungen bei Alter,
… “
8 Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung sieht in seinem Abs. 2 vor:
„Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:
…
c)
eine Person, die ihre Erwerbstätigkeit an Bord eines Schiffes ausübt, das unter der Flagge eines Mitgliedstaats fährt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates;
… “
9 Art. 44 („Allgemeine Vorschriften für die Feststellung der Leistungen, wenn für den Arbeitnehmer oder Selbständigen die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten“) bestimmt in seinem Abs. 1:
„Die Leistungsansprüche eines Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten, und die Leistungsansprüche seiner Hinterbliebenen werden nach diesem Kapitel festgestellt.“
10 Gemäß Art. 45 der Verordnung Nr. 1408/71 berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats des Antragstellers die nach den Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten. Ist der zuständige Träger verpflichtet, nach den in diesem Art. 45 festgelegten Bestimmungen die Leistungen unter Berücksichtigung der zusammengerechneten Versicherungs- oder Wohnzeiten zu berechnen, wird die Altersrente gemäß Art. 46 Abs. 2 dieser Verordnung festgestellt.
11 Art. 94 („Übergangsvorschriften für die Arbeitnehmer“) dieser Verordnung sieht in seinen Abs. 1 und 2 Folgendes vor:
„(1) Diese Verordnung begründet keinen Anspruch für einen Zeitraum vor dem 1. Oktober 1972 oder vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil davon.
(2) Für die Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach dieser Verordnung werden sämtliche Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungs- und Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats oder in einem Teil davon zurückgelegt worden sind.“
Verordnung Nr. 859/2003
12 Art. 1 der Verordnung Nr. 859/2003 lautet:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen des Anhangs finden die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen Anwendung, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.“
13 In Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 859/2003 heißt es:
„(1) Diese Verordnung begründet keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem 1. Juni 2003.
(2) Für die Feststellung der Ansprüche auf Leistungen nach dieser Verordnung werden sämtliche Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungszeiten, Zeiten einer Selbstständigentätigkeit und Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Juni 2003 zurückgelegt worden sind.“
Niederländisches Recht
14 Art. 2 der Algemene Ouderdomswet (Gesetz über die allgemeine Altersversorgung, Stb. 1956, Nr. 281, im Folgenden: AOW) lautet in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung:
„Gebietsansässiger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer seinen Wohnsitz in den Niederlanden hat.“
15 Art. 3 AOW in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom 30. Juli 1965 (Stb. 347, Nr. 882) geltenden Fassung sah vor:
„(1) Der Wohnsitz einer Person … richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.
…
(3) Für die Zwecke der Anwendung des Abs. 1 gelten Schiffe und Luftfahrzeuge, die ihren Heimat(flug)hafen innerhalb des Königreichs haben, in Bezug auf die Besatzung als Teil des Königreichs.“
16 Art. 3 AOW lautet in der Fassung, die sich aus dem Gesetz vom 30. Juli 1965 ergibt, wie folgt:
„(1) Der Wohnsitz einer Person … richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.
(2) Für die Zwecke der Anwendung des Abs. 1 gelten Schiffe und Luftfahrzeuge, die ihren Heimat(flug)hafen innerhalb des Königreichs haben, in Bezug auf die Besatzung als Teil des Königreichs.
… “
17 Art. 6 AOW bestimmte in seiner Fassung, die auf das Gesetz vom 25. Mai 1962 (Stb. 1962, S. 205) zurückgeht und rückwirkend ab dem 1. Oktober 1959 in Kraft trat, Folgendes:
„(1) Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes ist versichert, wer das 15. Lebensjahr, aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat, sofern
a)
er Gebietsansässiger ist;
…
(4) Von den Bestimmungen des Abs. 1 kann durch oder kraft Verordnung abgewichen werden
a)
gegenüber Ausländern;
b)
gegenüber Personen, für die eine ähnliche Regelung außerhalb des Königreichs gilt;
c)
gegenüber Personen, die nur vorübergehend im Inland ansässig sind oder die nur vorübergehend im Inland arbeiten;
d)
gegenüber den Ehegatten und anderen Mitgliedern des Haushalts … von Personen, auf die in diesem Absatz unter den Buchst. b und c abgestellt wird;
e)
gegenüber den Ehegatten von Staatsangehörigen, die aufgrund eines zwischen den Niederlanden und einem oder mehreren anderen Staaten geltenden Abkommens oder eines Systems der sozialen Sicherheit nicht nach dem vorliegenden Gesetz versichert sind.“
18 Art. 6 AOW lautet in der Fassung, die auf das Gesetz vom 30. Juli 1965 zurückgeht, wie folgt:
(1) Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes ist versichert, wer das 15. Lebensjahr, aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat, sofern
a)
er Gebietsansässiger ist;
…
(3) Von den Bestimmungen des Abs. 1 kann durch oder kraft Verordnung abgewichen werden
a)
gegenüber Ausländern;
b)
gegenüber Personen, für die eine ähnliche Regelung eines anderen Teils des Königreichs, eines anderen Staates oder einer anderen internationalen Organisation gilt;
c)
gegenüber Personen, die nur vorübergehend im Inland ansässig sind oder die nur vorübergehend im Inland arbeiten;
d)
gegenüber den Ehegatten und anderen Mitgliedern des Haushalts von Personen, auf die in diesem Absatz unter den Buchst. a, b und c abgestellt wird;
e)
gegenüber den Ehegatten von Staatsangehörigen, die aufgrund eines zwischen den Niederlanden und einem oder mehreren anderen Staaten geltenden Abkommens oder eines Systems der sozialen Sicherheit nicht nach dem vorliegenden Gesetz versichert sind.“
19 Art. 7 AOW lautet in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung:
„Anspruch auf eine Altersrente nach den Bestimmungen dieses Gesetzes hat, wer
a)
das 65. Lebensjahr vollendet hat und
b)
in dem Zeitraum, der mit dem Tag, an dem das 15. Lebensjahr vollendet wird, beginnt und mit dem Tag vor dem Tag, an dem das 65. Lebensjahr vollendet wird, endet, gemäß diesem Gesetz versichert war.“
20 Auf der Grundlage von Art. 6 AOW wurden schrittweise Verordnungen erlassen, zu denen in Bezug auf die im Ausgangsverfahren fraglichen Zeiträume der Besluit uitbreiding en beperking kring verzekerden volksverzekeringen (Verordnung zur Erweiterung und Beschränkung des Kreises der Sozialversicherungspflichtigen) vom 10. Juli 1959 (Stb. 1959, Nr. 230, im Folgenden: KB 230) und der Besluit uitbreiding en beperking kring verzekerden volksverzekeringen (Verordnung zur Erweiterung und Beschränkung des Kreises der Sozialversicherungspflichtigen) vom 1. Januar 1963 (Stb. 1963, Nr. 24, im Folgenden: KB 24) zählen.
21 Art. 2 einleitender Satz und Buchst. k des KB 230 sowie Art. 2 einleitender Satz und Buchst. k des KB 24 sahen gleichlautend Folgendes vor:
„… abweichend von Art. 6 Abs. 1 [AOW], von Art. 7 des Gesetzes über die allgemeine Versicherung der Witwen und Waisen und von Art. 6 des allgemeinen Gesetzes über die Familienbeihilfen ist nicht versichert
…
k)
der Ausländer, der zur Besatzung eines Seefahrzeugs gehört, das seinen Heimathafen im Hoheitsgebiet des Königreichs hat, sofern er an Bord dieses Fahrzeugs wohnt“.
22 Art. 2 Buchst. k des KB 24 wurde nach dessen Änderung durch die Verordnung vom 11. August 1965 (Stb. 373) zu Art. 2 Buchst. m.
23 Gemäß Art. 16 Abs. 1 AOW in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung besteht Anspruch auf eine Altersrente ab dem ersten Tag des Monats, in dem die betreffende Person die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Altersrente erfüllt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
24 Herr Wieland wurde am 20. März 1943 in Österreich geboren und besaß von Geburt an die österreichische Staatsangehörigkeit. Vom 11. Oktober 1962 bis zum 7. März 1966 arbeitete er an Bord von Schiffen der Holland-Amerika Lijn (im Folgenden: HAL), einer Gesellschaft nach niederländischem Recht, die eine Seeverbindung zwischen den Niederlanden und den Vereinigten Staaten von Amerika betrieb.
25 Im Laufe des Jahres 1966 verlegte Herr Wieland seinen Wohnsitz in die Vereinigten Staaten und erhielt am 29. August 1969 die amerikanische Staatsangehörigkeit; in diesem Zusammenhang verlor er die österreichische Staatsangehörigkeit.
26 Im April 2008 beantragte Herr Wieland bei der SVB eine Altersrente ab Vollendung seines 65. Lebensjahres.
27 Mit Bescheid vom 15. April 2008 lehnte die SVB diesen Antrag mit der Begründung ab, dass Herr Wieland in der Zeit von der Vollendung seines 15. bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres nicht nach der AOW versichert gewesen sei. Am 3. Oktober 2008 teilte der Betroffene der SVB mit, dass er ab diesem Zeitpunkt seinen Hauptwohnsitz nunmehr in Österreich habe.
28 Herr Rothwangl wurde am 7. Dezember 1943 geboren und besitzt die österreichische Staatsangehörigkeit. Vom 6. November 1962 bis zum 23. April 1963 arbeitete er an Bord von Schiffen der HAL.
29 Am 12. Januar 2009 beantragte Herr Rothwangl bei der SVB eine Altersrente. Zu diesem Zeitpunkt war er in Österreich ansässig, wo er nach den Daten der SVB während eines Gesamtzeitraums von 496 Monaten von April 1958 bis Juli 1998 gesetzlich altersversichert war.
30 Herr Rothwangl erhielt ab dem 1. März 1998 eine österreichische Erwerbsunfähigkeitspension und ab dem 1. September 1998 eine schweizerische Invalidenrente. Darüber hinaus bezog er vom 29. November 1998 bis zum 1. Dezember 2008 Leistungen nach der Wet op de arbeidsongeschiktheidsverzekering (Gesetz über die Arbeitsunfähigkeitsversicherung) in Höhe von 1,08 Euro brutto pro Tag.
31 Mit Bescheid vom 26. Mai 2009 verweigerte die SVB Herrn Rothwangl die beantragte Altersrente mit der Begründung, dass er in der Zeit von der Vollendung seines 15. bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres nicht nach der AOW versichert gewesen sei.
32 Sowohl Herr Wieland als auch Herr Rothwangl fochten die Bescheide der SVB vor der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) erfolgreich an. Die SVB legte beim vorlegenden Gericht Berufung ein.
33 In seiner Vorlageentscheidung nimmt der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht für Sozialversicherungssachen und den öffentlichen Dienst, Niederlande) auf das Urteil des EGMR vom 4. Juni 2002, Wessels-Bergervoet/Niederlande (CE:ECHR:2002:1112JUD003446297), Bezug, in dem der EGMR entschieden hat, dass die Entscheidung der niederländischen Einrichtung, einer Ehefrau auf der Grundlage der AOW nur eine verminderte Altersrente auszuzahlen, einen Verstoß gegen Art. 14 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) in Verbindung mit Art. 1 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten (1.) Zusatzprotokolls zur EMRK darstellt.
34 Das vorlegende Gericht erklärt, dass die niederländischen Gerichte zwar in Fällen, in denen es um Altersrentenansprüche von Seeleuten gegangen sei, die Argumentation des EGMR aus dem Urteil vom 4. Juni 2002, Wessels-Bergervoet/Niederlande (CE:ECHR:2002:1112JUD003446297), angewandt hätten, vertritt aber die Auffassung, dass sich der Fall von Herrn Wieland und Herrn Rothwangl von diesen Fällen unterscheide und die unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit durch die zuständigen niederländischen Behörden in den Rechtssachen des Ausgangsverfahrens im Hinblick auf Art. 14 EMRK gerechtfertigt sei. Es wirft die Frage auf, ob die Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit der Verordnung Nr. 859/2003 sowie mit den Art. 18 und 45 AEUV in diesen Rechtssachen relevant sein könnte.
35 In Bezug auf Herrn Rothwangl führt das Gericht aus, dass er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeiten während der 60er Jahre heute als Arbeitnehmer im Sinne nicht nur des AEU-Vertrags, sondern auch der Verordnung Nr. 1408/71 einzustufen sei. Auch die Tatsache, dass Herr Rothwangl zwischen dem 6. November 1962 und dem 23. April 1963, als er bei der HAL beschäftigt gewesen sei, nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats gehabt habe, stehe der Anwendung dieser Verordnung auf die während dieses Zeitraums ausgeübten beruflichen Aktivitäten nicht entgegen, da er das in dieser Verordnung vorgesehene Staatsangehörigkeitserfordernis aufgrund des mit 1. Januar 1995 wirksam gewordenen Beitritts der Republik Österreich zur Europäischen Union erfülle.
36 Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob der Zeitraum, in dem Herr Rothwangl als Seemann bei der HAL beschäftigt gewesen ist, als Versicherungszeit im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist. Insoweit geht es davon aus, dass die Art. 18 und 45 AEUV sowie Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 zu berücksichtigen seien.
37 In Bezug auf Herrn Wieland fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Frage nach der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 genauso beantwortet werden muss wie im Fall von Herrn Rothwangl. Denn die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gelte nicht für Drittstaatsangehörige, und Herr Wieland besitze die österreichische Staatsbürgerschaft seit dem 29. August 1969 nicht mehr.
38 Unter diesen Umständen hat der Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht für Sozialversicherungssachen und den öffentlichen Dienst) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind Art. 3 sowie Art. 94 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass einem ehemaligen Seemann, der zur Besatzung eines Seeschiffs mit einem Heimathafen in einem Mitgliedstaat gehörte, keinen Wohnsitz an Land hatte und nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besaß, nach dem Beitritt des Staates, dessen Staatsangehörigkeit dieser Seemann besitzt, zur Union (bzw. zu einer Rechtsvorgängerin der Union) oder nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 für diesen Staat nicht allein deshalb eine Altersrente (teilweise) verweigert werden darf, weil der genannte ehemalige Seemann zur Zeit einer (beanspruchten) Versicherung nicht im Besitz der Staatsangehörigkeit des (erstgenannten) Mitgliedstaats war?
2. Sind die Art. 18 und 45 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach ein Seemann, der zur Besatzung eines Seeschiffs mit einem Heimathafen in diesem Mitgliedstaat gehörte, keinen Wohnsitz an Land hatte und nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besaß, von der Altersrentenversicherung ausgeschlossen war, während nach dieser Regelung ein Seemann als versichert gilt, der Staatsangehöriger des Mitgliedstaats ist, in dem das Seeschiff seinen Heimathafen hat, und sich im Übrigen in der gleichen Situation befindet, wenn der Staat, dessen Staatsangehöriger der erstgenannte Seemann ist, inzwischen – zum Zeitpunkt der Feststellung der Rente – (einer Rechtsvorgängerin) der Union beigetreten oder die Verordnung Nr. 1408/71 inzwischen für diesen Staat in Kraft getreten ist?
3. Sind die Fragen 1 und 2 im Fall eines (ehemaligen) Seemanns, der zur Zeit seiner Tätigkeiten die Staatsangehörigkeit eines Staates besaß, der zu einem späteren Zeitpunkt (einer Rechtsvorgängerin) der Union beitritt, zur Zeit dieses Beitritts oder des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1408/71 für den erwähnten Staat und zur Zeit der Geltendmachung seines Anspruchs auf eine Altersrente jedoch nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, auf den die letztgenannte Verordnung gemäß Art. 1 der Verordnung Nr. 859/2003 aber dennoch Anwendung findet, genauso zu beantworten?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
39 Als Herr Wieland und Herr Rothwangl bei der HAL beschäftigt waren, war die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten hinsichtlich Wanderarbeitnehmern auf Ebene der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der Verordnung Nr. 3 des Rates vom 25. September 1958 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, Nr. 30, S. 561) geregelt. Diese Verordnung fand jedoch auf Seeleute keine Anwendung.
40 Diese Gegebenheit stand durchaus im Einklang mit den damals für Seeleute geltenden internationalen Vorschriften, da nach Art. 2 des Übereinkommens Nr. 71 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 28. Juni 1946 über die Altersrenten der Schiffsleute, das vom Königreich der Niederlande am 27. August 1957 ratifiziert wurde und am 10. Oktober 1962 in Kraft trat, jeder Mitgliedstaat der Internationalen Arbeitsorganisation verpflichtet war, nach seiner innerstaatlichen Gesetzgebung ein System von Altersrenten für Schiffsleute, die sich vom Dienst auf See zurückziehen, einzurichten oder die Einrichtung eines solchen Systems zu gewährleisten, wobei jedoch Personen, die keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats hatten und Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besaßen, von diesem System ausgeschlossen werden durften.
41 Ab dem 1. April 1967 führte die Verordnung Nr. 47/67/EWG des Rates vom 7. März 1967 zur Änderung und Ergänzung einiger Bestimmungen der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (Seeleute) (ABl. 1967, Nr. 44, S. 641) spezifische Vorschriften über Seeleute ein, die unter anderem die Bestimmung des anwendbaren Rechts und die Altersrente betrafen. Diese Vorschriften fanden in der Folge Eingang in die Verordnung Nr. 1408/71.
42 Daher war der Anschluss von Seeleuten an Systeme der sozialen Sicherheit in den Zeiträumen, in denen Herr Wieland und Herr Rothwangl bei der HAL beschäftigt waren, ausschließlich durch nationale Vorschriften geregelt.
43 Herr Wieland und Herr Rothwangl stellten jedoch ihre Anträge auf eine Altersrente zu einem Zeitpunkt, als die Verordnung Nr. 1408/71 galt.
44 Nach dem ersten Erwägungsgrund dieser Verordnung ist ihr Hauptzweck, die innerstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit zu koordinieren, um den Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Gebiet der Union umzusetzen.
45 Insoweit sind zwar die Mitgliedstaaten weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig, sie müssen aber gleichwohl das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beachten (Urteil vom 17. Januar 2012, Salemink, C‑347/10, EU:C:2012:17, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Daher darf diese Ausgestaltung nicht bewirken, dass vom Anwendungsbereich einer nationalen Regelung, wie sie in den Rechtssachen des Ausgangsverfahrens in Rede steht, Personen ausgeschlossen werden, auf die diese Regelung nach der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbar ist; zudem müssen die Systeme der Pflichtversicherung mit den Art. 18 und 45 AEUV vereinbar sein (Urteil vom 17. Januar 2012, Salemink, C‑347/10, EU:C:2012:17, Rn. 40).
47 Im Licht dieser Überlegungen sind die Vorlagefragen zu prüfen.
Zur ersten Frage
48 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 94 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass er einer Vorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, die für die Feststellung der Altersrentenansprüche Versicherungszeiten, die von einem Wanderarbeitnehmer nach dem Recht dieses Mitgliedstaats zurückgelegt worden sein sollen, nicht berücksichtigt, wenn – wie in der Rechtssache des Ausgangsverfahrens im Fall des Herrn Rothwangl – der Staat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Wanderarbeitnehmer besitzt, der Union nach der Zurücklegung dieser Versicherungszeiten beigetreten ist.
49 Für die Beantwortung dieser Frage ist zu bestimmen, ob und gegebenenfalls zu welchen Bedingungen ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der jedoch während der im Ausland vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 zurückgelegten Beschäftigungszeiten nicht Staatsbürger eines Mitgliedstaats war, im Zeitpunkt, in dem er seinen Antrag auf Altersrente stellt, den Anspruch erwirbt, dass die während dieses Zeitraums im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Versicherungszeiten für die Altersrente berücksichtigt werden.
50 Hier ist zu prüfen, ob der Betroffene Ansprüche nach Art. 94 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Altersrentenversicherung erworben hat, die mit den ihm in Österreich bereits zustehenden Ansprüchen zusammenzurechnen sind.
51 Insoweit ist in Bezug auf Art. 94 Abs. 1 dieser Verordnung, wonach Letztere keinen Anspruch für einen Zeitraum vor dem 1. Oktober 1972 oder vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil davon begründet, darauf hinzuweisen, dass sich diese Vorschrift nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in vollem Umfang in den Rahmen des Grundsatzes der Rechtssicherheit einfügt, der keine rückwirkende Anwendung einer Verordnung zulässt, unabhängig davon, ob sich eine solche Anwendung für den Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt, es sei denn, dass es im Wortlaut oder in der Zweckrichtung der Verordnung einen hinreichend klaren Anhaltspunkt dafür gibt, dass die Verordnung nicht nur für die Zukunft gilt. Gilt die neue Regelung somit zwar nur für die Zukunft, ist sie doch nach einem allgemein anerkannten Grundsatz, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, auch auf die künftigen Wirkungen von unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalten anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2002, Duchon, C‑290/00, EU:C:2002:234, Rn. 21 und 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Im gleichen Sinne sieht Art. 94 Abs. 2 dieser Verordnung zu dem Zweck, eine Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 auf künftige Wirkungen von unter der Geltung des früheren Rechts entstandenen Sachverhalten zu ermöglichen, die Verpflichtung vor, bei der Feststellung von Leistungsansprüchen alle Versicherungs-, Beschäftigungs- und Wohnzeiten zu berücksichtigen, die unter der Geltung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats „vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung [der] Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats … zurückgelegt worden sind“. Nach dieser Bestimmung kann ein Mitgliedstaat mithin eine Anrechnung von im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungszeiten für die Altersrente nicht schon deshalb ablehnen, weil diese Zeiten zurückgelegt worden sind, bevor die Verordnung für ihn in Kraft getreten ist (Urteile vom 18. April 2002, Duchon, C‑290/00, EU:C:2002:234, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 5. November 2014, Somova, C‑103/13, EU:C:2014:2334, Rn. 52).
53 Insoweit ist zu prüfen, ob die Zeiträume, in denen Herr Rothwangl bei der HAL beschäftigt war, im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Richtlinie Nr. 1408/71 Versicherungszeiten darstellen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind.
54 Da der Zeitpunkt, ab dem eine Person etwaige Altersrentenansprüche nach der AOW unter Berufung auf davor zurückgelegte Versicherungszeiten geltend machen kann, der Erste des Monats ist, in dem diese Person das 65. Lebensjahr vollendet hat, kann der Antrag von Herrn Rothwangl nicht als Antrag in Bezug auf einen Anspruch, der für einen Zeitraum vor Inkrafttreten dieser Verordnung oder vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats begründet wurde, im Sinne von Art. 94 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 gelten.
55 Hingegen stellt sich die Frage, ob für Herrn Rothwangl ein Anspruch aufgrund von Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls Beschäftigungs- und Wohnzeiten, die er nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder vor der Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats zurückgelegt hat, begründet werden kann.
56 Ein Antragsteller muss nämlich Versicherungszeiten und gegebenenfalls Beschäftigungs- und Wohnzeiten nachweisen können, die er nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder bei Mitgliedstaaten, die nach diesem Zeitpunkt der Union beigetreten sind, vor der Anwendung dieser Verordnung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats zurückgelegt hat, um sich erfolgreich auf Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 berufen zu können. Im Fall der Republik Österreich ist dies der 1. Januar 1995.
57 Was die Voraussetzung des Vorliegens von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Beschäftigungs- oder Wohnzeiten betrifft, ist der dem Gerichtshof unterbreiteten Akte zu entnehmen, dass Herr Rothwangl sie unbestreitbar erfüllt.
58 Hingegen ist hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzung, dass Versicherungszeiten nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, zum einen darauf hinzuweisen, dass es sich bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung um Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 1408/71 handelt.
59 Zum anderen wird der Begriff „Versicherungszeiten“, der in Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 vorkommt, in Art. 1 Buchst. r dieser Verordnung definiert als „die Beitrags-, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer Selbständigentätigkeit, die nach den Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind oder als zurückgelegt gelten, als Versicherungszeiten bestimmt oder anerkannt sind, sowie alle gleichgestellten Zeiten, soweit sie nach diesen Rechtsvorschriften als den Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt sind“ (Urteil vom 7. Februar 2002, Kauer, C‑28/00, EU:C:2002:82, Rn. 25).
60 Diese Verweisung auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften zeigt deutlich, dass die Verordnung Nr. 1408/71, insbesondere für die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, auf die Voraussetzungen verweist, die nach innerstaatlichem Recht erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Zeit als den eigentlichen Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt werden kann. Diese Anerkennung muss jedoch unter Beachtung der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit erfolgen (Urteil vom 7. Februar 2002, Kauer, C‑28/00, EU:C:2002:82, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Hier hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass Herr Rothwangl während seines Beschäftigungszeitraums bei der HAL insoweit nicht altersversichert gewesen sei, als nach der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zur Anwendung kommenden nationalen Regelung Drittstaatsangehörige, die als Mitglieder der Besatzung eines Seeschiffs an Bord dieses Schiffes wohnten, von der Versicherung in Bezug auf Leistungen bei Alter ausgeschlossen gewesen seien.
62 Da dieser Ausschluss insbesondere auf der Staatsangehörigkeit von Herrn Rothwangl beruhte, ist zu prüfen, ob er nach dem in Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltenen Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit geltend machen kann, dass er so zu behandeln ist, als habe er eine Versicherungszeit in den Niederlanden zurückgelegt, obwohl er diese zwingende Voraussetzung nach Art. 94 Abs. 2 dieser Verordnung in Wirklichkeit nicht erfüllt.
63 Insoweit hat der Gerichtshof zwar entschieden, dass die Versicherungszeiten, die vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 zurückgelegt wurden, zu berücksichtigen sind, um den Übergangsbestimmungen des Art. 94 Abs. 1 bis 3 dieser Verordnung Wirkung zu verleihen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Februar 2002, Kauer, C‑28/00, EU:C:2002:82, Rn. 52, und vom 18. April 2002, Duchon, C‑290/00, EU:C:2002:234, Rn. 23). In den mit diesen beiden Urteilen abgeschlossenen Rechtssachen waren die Betroffenen, die eine österreichische Pension beantragt hatten, nach der einschlägigen nationalen Regelung versichert gewesen. Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass die Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Maßnahmen am Maßstab des Unionsrechts, das nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Union galt, zu prüfen war (Urteil vom 18. April 2002, Duchon, C‑290/00, EU:C:2002:234, Rn. 28) und dass in der Folge die zuständige Stelle die Freizügigkeitsgrundsätze und die Übergangsbestimmungen des Art. 94 Abs. 1 bis 3 dieser Verordnung anwenden musste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Februar 2002, Kauer, C‑28/00, EU:C:2002:82, Rn. 45 und 50, sowie vom 18. April 2002, Duchon, C‑290/00, EU:C:2002:234, Rn. 32).
64 Wie die Generalanwältin in Nr. 52 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, reicht jedoch der Umstand, dass Herr Rothwangl schon vor dem Beitritt der Republik Österreich zur Union von seinem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch gemacht hat, als er für die HAL arbeitete, nicht aus, um ihn so behandeln zu können, als hätte er eine Altersversicherungszeit in den Niederlanden zurückgelegt. Denn im Unterschied zur Situation der Antragsteller in den mit den Urteilen vom 7. Februar 2002, Kauer (C‑28/00, EU:C:2002:82), und vom 18. April 2002, Duchon (C‑290/00, EU:C:2002:234), abgeschlossenen Rechtssachen schloss die niederländische Regelung Herrn Rothwangl von dieser Versicherung aus, als er für die HAL arbeitete, weil er Drittstaatsangehöriger war und an Bord der Schiffe wohnte, deren Besatzungsmitglied er war. Ein solcher Ausschluss war – obwohl er auf der Staatsangehörigkeit beruhte – zum Zeitpunkt des fraglichen Sachverhalts des Ausgangsverfahrens unionsrechtlich nicht verboten, da die Republik Österreich der Union noch nicht beigetreten war.
65 Zudem lässt sich anhand der dem Gerichtshof vorliegenden Aktenstücke die Frage, ob Herr Rothwangl während seiner Beschäftigungszeiten bei der HAL dem österreichischen System der sozialen Sicherheit angeschlossen war, nicht beantworten. Doch nur bei Bejahung dieser Frage müssten diese Zeiten vom zuständigen österreichischen Träger berücksichtigt werden.
66 Im Hinblick auf die vorstehenden Überlegungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 94 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass er einer Vorschrift eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die für die Feststellung der Altersrentenansprüche Versicherungszeiten, die von einem Wanderarbeitnehmer nach dem Recht dieses Mitgliedstaats zurückgelegt worden sein sollen, nicht berücksichtigt, wenn – wie in der Rechtssache des Ausgangsverfahrens im Fall des Herrn Rothwangl – der Staat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Wanderarbeitnehmer besitzt, der Union nach der Zurücklegung dieser Versicherungszeiten beigetreten ist.
Zur zweiten Frage
67 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 18 AEUV, der den Grundsatz des Diskriminierungsverbots normiert, und Art. 45 AEUV, der die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährleistet, dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach ein Seemann, der in einem bestimmten Zeitraum zur Besatzung eines Seeschiffs mit Heimathafen in diesem Mitgliedstaat gehörte und an Bord dieses Schiffes wohnte, von der Altersrentenversicherung für diesen Zeitraum ausgeschlossen wird, weil er während dieses Zeitraums nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats war.
68 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Akte über den Beitritt eines neuen Mitgliedstaats im Wesentlichen auf dem allgemeinen Grundsatz der sofortigen und vollständigen Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts auf diesen Staat beruht, wobei Abweichungen nur insoweit zulässig sind, als sie in Übergangsbestimmungen ausdrücklich vorgesehen sind (Urteil vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C‑424/10 und C‑425/10, EU:C:2011:866, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 In diesem Sinne bestimmt Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1, im Folgenden: Beitrittsakte), dass die Vorschriften der ursprünglichen Verträge für die neuen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt des Beitritts an bindend sind und in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und der Beitrittsakte gelten.
70 Da diese Beitrittsakte keine Übergangsbestimmungen zur Anwendung der Art. 7 und 48 des EG-Vertrags (die später zu den Art. 12 und 39 EG und nunmehr zu den Art. 18 und 45 AEUV wurden) enthält, sind diese Artikel als für Österreich bindend und unmittelbar ab dem Zeitpunkt des Beitritts Österreichs, nämlich dem 1. Januar 1995, anwendbar anzusehen. Daher mussten die anderen Mitgliedstaaten österreichische Staatsangehörige ab diesem Zeitpunkt als Unionsbürger behandeln.
71 Hingegen leitet sich aus dieser Beitrittsakte keine Verpflichtung für bestehende Mitgliedstaaten ab, österreichische Staatsangehörige genauso zu behandeln, wie sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten vor dem Beitritt Österreichs zur Union behandelt haben (vgl. entsprechend Urteile vom 26. Mai 1993, Tsiotras, C‑171/91, EU:C:1993:215, Rn. 12, sowie vom 15. Juni 1999, Andersson und Wåkerås-Andersson, C‑321/97, EU:C:1999:307, Rn. 46).
72 Daher könnte Herr Rothwangl nur dann verlangen, dass ihn das Königreich der Niederlande so behandelt, als wäre er altersversichert gewesen, wenn er während seiner Beschäftigungszeiten bei der HAL von den Rechten Gebrauch gemacht hätte, die sich aus den Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit ableiten. Wie in den Rn. 70 und 71 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, war das nicht der Fall.
73 Nach den vorstehenden Überlegungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 18 und 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, wonach ein Seemann, der in einem bestimmten Zeitraum zur Besatzung eines Seeschiffs mit Heimathafen in diesem Mitgliedstaat gehörte und an Bord dieses Schiffes wohnte, von der Altersrentenversicherung für diesen Zeitraum ausgeschlossen wird, weil er während dieses Zeitraums nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats war.
Zur dritten Frage
74 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 859/2003 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Beschäftigungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats von einem Arbeitnehmer zurückgelegt wurden, der – wie im Ausgangsverfahren im Fall des Herrn Wieland – in diesem Zeitraum kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats war, aber zum Zeitpunkt, zu dem er eine Altersrente beantragt, in den Anwendungsbereich des Art. 1 dieser Verordnung fällt, von diesem Mitgliedstaat für die Feststellung der Rentenansprüche dieses Arbeitnehmers nicht berücksichtigt werden.
75 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 der Verordnung Nr. 859/2003 die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen Anwendung finden, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.
76 Im vorliegenden Fall erfüllt Herr Wieland die in Art. 1 der Verordnung Nr. 859/2003 vorgesehenen Voraussetzungen, denn er ist ein US-amerikanischer Staatsbürger, der rechtmäßig seinen Wohnsitz in Österreich hat, seine Situation weist mit einem Element über die Grenzen eines einzelnen Mitgliedstaaten hinaus und er fällt ausschließlich aufgrund seiner Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71. Folglich fällt er in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 859/2003.
77 Der Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 859/2003 entspricht dem des Art. 94 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71.
78 Obwohl Herr Wieland in dem Zeitraum, in dem er bei der HAL beschäftigt war, in den Niederlanden ansässig war, war er daher angesichts der Antwort auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts aus denselben Gründen wie Herr Rothwangl nach der niederländischen Regelung nicht altersversichert.
79 Im Hinblick auf die vorstehenden Überlegungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 859/2003 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach Beschäftigungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats von einem Arbeitnehmer zurückgelegt wurden, der – wie im Ausgangsverfahren im Fall des Herrn Wieland – in diesem Zeitraum kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats war, aber zum Zeitpunkt, zu dem er eine Altersrente beantragt, in den Anwendungsbereich des Art. 1 dieser Verordnung fällt, von diesem Mitgliedstaat für die Feststellung der Rentenansprüche dieses Arbeitnehmers nicht berücksichtigt werden.
Kosten
80 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 94 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005, ist dahin auszulegen, dass er einer Vorschrift eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die für die Feststellung der Altersrentenansprüche Versicherungszeiten, die von einem Wanderarbeitnehmer nach dem Recht dieses Mitgliedstaats zurückgelegt worden sein sollen, nicht berücksichtigt, wenn der Staat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Wanderarbeitnehmer besitzt, der Europäischen Union nach der Zurücklegung dieser Versicherungszeiten beigetreten ist.
2. Die Art. 18 und 45 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, wonach ein Seemann, der in einem bestimmten Zeitraum zur Besatzung eines Seeschiffs mit Heimathafen in diesem Mitgliedstaat gehörte und an Bord dieses Schiffes wohnte, von der Altersrentenversicherung für diesen Zeitraum ausgeschlossen wird, weil er während dieses Zeitraums nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats war.
3. Art. 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach Beschäftigungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats von einem Arbeitnehmer zurückgelegt wurden, der in diesem Zeitraum kein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats war, aber zum Zeitpunkt, zu dem er eine Altersrente beantragt, in den Anwendungsbereich des Art. 1 dieser Verordnung fällt, von diesem Mitgliedstaat für die Feststellung der Rentenansprüche dieses Arbeitnehmers nicht berücksichtigt werden.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 27. Oktober 2016.#Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Freier Warenverkehr – Richtlinie 2007/23/EG – Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände – Art. 6 – Freier Verkehr von den Anforderungen der Richtlinie entsprechenden pyrotechnischen Gegenständen – Nationale Regelung, die das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände von der Erfüllung zusätzlicher Anforderungen abhängig macht – Verpflichtung zur vorherigen Anzeige bei einer nationalen Stelle, die befugt ist, die Gebrauchsanleitungen für diese Gegenstände zu prüfen und zu ändern.#Rechtssache C-220/15.
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62015CJ0220
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ECLI:EU:C:2016:815
| 2016-10-27T00:00:00 |
Gerichtshof, Bobek
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0220
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
27. Oktober 2016 (*1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Freier Warenverkehr — Richtlinie 2007/23/EG — Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände — Art. 6 — Freier Verkehr von den Anforderungen der Richtlinie entsprechenden pyrotechnischen Gegenständen — Nationale Regelung, die das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände von der Erfüllung zusätzlicher Anforderungen abhängig macht — Verpflichtung zur vorherigen Anzeige bei einer nationalen Stelle, die befugt ist, die Gebrauchsanleitungen für diese Gegenstände zu prüfen und zu ändern“
In der Rechtssache C‑220/15
betreffend ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 12. Mai 2015,
Europäische Kommission, vertreten durch D. Kukovec und A. C. Becker als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt B. Wägenbaur,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze, J. Möller und K. Petersen als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras (Berichterstatter), J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2016
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Mai 2007 über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände (ABl. 2007, L 154, S. 1) verletzt hat, indem sie über die Anforderungen dieser Richtlinie hinaus und ungeachtet der zuvor erfolgten Konformitätsbewertung der pyrotechnischen Gegenstände vorschreibt, dass zum einen diese Gegenstände vor ihrem Inverkehrbringen das Verfahren nach § 6 Abs. 4 der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz (BGBl. 1991 I, S. 169) in der durch das Gesetz vom 25. Juli 2013 geänderten Fassung (BGBl. 2013 I, S. 2749) (im Folgenden: SprengV) zu durchlaufen haben (im Folgenden: beanstandetes Anzeigeverfahren) und zum anderen die Bundesanstalt für Materialforschung und ‑prüfung (im Folgenden: BAM) gemäß dieser Vorschrift befugt ist, ihre Gebrauchsanleitungen zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern (im Folgenden: streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
2 Die Erwägungsgründe 1, 2, 8, 16, 19 und 20 der Richtlinie 2007/23 lauten:
„(1)
Die geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Inverkehrbringen von pyrotechnischen Gegenständen sind unterschiedlich, insbesondere was Aspekte wie Sicherheit und Leistungsmerkmale angeht.
(2) Da aufgrund dieser Rechts- und Verwaltungsvorschriften Handelshemmnisse innerhalb der Gemeinschaft entstehen können, sollten sie angeglichen werden, um den freien Verkehr pyrotechnischer Gegenstände im Binnenmarkt zu gewährleisten und gleichzeitig ein hohes Maß an Schutz der menschlichen Gesundheit und Sicherheit und Schutz der Verbraucher und der professionellen Endverbraucher zu gewährleisten.
…
(8) Gemäß den Prinzipien der Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung [(ABl. 1985, C 136, S. 1)] sollte ein pyrotechnischer Gegenstand dieser Richtlinie entsprechen, wenn er erstmals in der Gemeinschaft in den Verkehr gebracht wird. …
…
(16) Gemäß der ‚Neuen Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung‘ wird bei pyrotechnischen Gegenständen, die gemäß harmonisierten Normen hergestellt werden, von einer Konformität mit den in der vorliegenden Richtlinie vorgeschriebenen wesentlichen Sicherheitsanforderungen ausgegangen.
…
(19) Um den freien Verkehr pyrotechnischer Gegenstände in der Gemeinschaft zu ermöglichen, sollten diese zum Zwecke ihres Inverkehrbringens mit einer CE-Kennzeichnung versehen sein, die ihre Konformität mit den Bestimmungen dieser Richtlinie bestätigt.
(20) Gemäß der ‚Neuen Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung‘ ist ein Schutzklauselverfahren erforderlich, das die Möglichkeit bietet, die Konformität eines pyrotechnischen Gegenstands oder mangelhafter Gegenstände rückgängig zu machen. Infolgedessen sollten die Mitgliedstaaten alle zweckdienlichen Maßnahmen treffen, um das Inverkehrbringen von Produkten mit einer CE-Kennzeichnung zu verbieten oder einzuschränken oder solche Produkte vom Markt zu nehmen, falls diese Produkte bei ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher gefährden.“
3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 bestimmt:
„In dieser Richtlinie werden Vorschriften festgelegt, die den freien Verkehr pyrotechnischer Gegenstände im Binnenmarkt sicherstellen und gleichzeitig ein hohes Niveau an Schutz für die menschliche Gesundheit, die öffentliche Sicherheit und den Schutz und die Sicherheit der Verbraucher gewährleisten und die einschlägigen Aspekte im Zusammenhang mit dem Umweltschutz berücksichtigen sollen.“
4 In Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie ist „Inverkehrbringen“ definiert als „jede entgeltliche oder unentgeltliche erstmalige Bereitstellung eines bestimmten Produkts zum Zweck des Vertriebs und/oder der Verwendung dieses Produkts auf dem Gemeinschaftsmarkt. Feuerwerkskörper, die vom Hersteller für den Eigengebrauch hergestellt wurden und die von einem Mitgliedstaat für die Verwendung in seinem Hoheitsgebiet zugelassen wurden, gelten nicht als in den Verkehr gebracht“.
5 Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle angemessenen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass pyrotechnische Gegenstände nur dann in Verkehr gebracht werden können, wenn sie den Anforderungen dieser Richtlinie genügen, eine CE-Kennzeichnung tragen und die Verpflichtungen hinsichtlich der Konformitätsprüfung erfüllen.“
6 Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten dürfen das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände, die den Anforderungen dieser Richtlinie genügen, nicht verbieten, beschränken oder behindern.
(2) Die Bestimmungen dieser Richtlinie hindern einen Mitgliedstaat nicht daran, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder des Umweltschutzes Maßnahmen zum Verbot oder zur Beschränkung des Besitzes, der Verwendung und/oder des Verkaufs von Feuerwerkskörpern der Kategorien 2 und 3, von pyrotechnischen Gegenständen für Bühne und Theater und anderen pyrotechnischen Gegenständen an die breite Öffentlichkeit zu ergreifen.“
7 Art. 14 Abs. 4 und 6 der Richtlinie 2007/23 bestimmt:
„(4) Die Mitgliedstaaten organisieren die angemessene Überwachung von in Verkehr gebrachten Produkten und führen die Überwachung unter Berücksichtigung der Konformitätsvermutung von Produkten, die mit einer CE-Kennzeichnung versehen sind, durch.
…
(6) Stellt ein Mitgliedstaat fest, dass ein pyrotechnischer Gegenstand, der mit einer CE-Kennzeichnung versehen ist, dem die EG-Konformitätserklärung beigefügt ist und der seinem Zweck entsprechend verwendet wird, die Gesundheit und Sicherheit von Personen gefährden kann, so ergreift er alle geeigneten vorläufigen Maßnahmen, um diesen Gegenstand vom Markt zu nehmen, sein Inverkehrbringen zu verbieten oder seinen freien Verkehr zu beschränken. Er unterrichtet hiervon die Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten.“
Deutsches Recht
8 Nach § 6 Abs. 1 Sprengstoffgesetz (BGBl. 2002 I, S. 3518) in der durch das Gesetz vom 7. August 2013 geänderten Fassung (BGBl. 2013 I, S. 3154) gilt:
„Das Bundesministerium des Innern wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung
…
3. zum Schutze der in Nummer 1 bezeichneten Rechtsgüter zu bestimmen,
…
d)
dass über erworbene oder eingeführte explosionsgefährliche Stoffe nach § 1 Abs. 1 Anzeigen zu erstatten und dass den Anzeigen bestimmte Unterlagen beizufügen sind.“
9 In § 6 Abs. 4 SprengV heißt es:
„Explosivstoffe und pyrotechnische Gegenstände sind vom Hersteller oder Einführer vor der erstmaligen Verwendung im Geltungsbereich des Gesetzes der [BAM] anzuzeigen. Der Anzeige ist
…
2. für pyrotechnische Gegenstände die nach Anhang I Nummer 3 Buchstabe h der Richtlinie 2007/23/EG vorgeschriebene Anleitung beizufügen. Die Bundesanstalt vergibt zum Nachweis der Anzeige eine Identifikationsnummer. Die Identifikationsnummer ist in die Anleitung aufzunehmen. Die Bundesanstalt kann zur Abwendung von Gefahren für Leben und Gesundheit Beschäftigter oder Dritter oder Sachgüter die vom Hersteller festgelegten Anleitungen zur Verwendung einschränken oder ergänzen; eine nachträgliche Einschränkung oder Ergänzung ist zulässig. Satz 4 findet keine Anwendung auf pyrotechnische Gegenstände für Kraftfahrzeuge sowie Feuerwerk der Kategorien 1 und 4, wenn die Identifikationsnummer in die nach § 13 Absatz 1 Nummer 3 zu führenden Listen aufgenommen ist.“
Vorgerichtliches Verfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
10 Nach einem im Jahr 2012 im Rahmen eines „EU-Pilotverfahrens“ (3631/12/ENTR) geführten Schriftwechsel richtete die Kommission am 25. Januar 2013 ein Aufforderungsschreiben an die Bundesrepublik Deutschland, in dem sie ausführte, dass die deutsche Regelung zu pyrotechnischen Gegenständen Verpflichtungen enthalte, die über die in der Richtlinie 2007/23 festgelegten Anforderungen hinausgingen und zumindest hinsichtlich solcher Produkte, deren Konformität mit den Anforderungen der Richtlinie bereits von einer benannten Stelle im Sinne von Art. 10 der Richtlinie festgestellt worden sei, eine Beschränkung des freien Verkehrs pyrotechnischer Gegenstände darstellen könnten.
11 Das Aufforderungsschreiben betraf das beanstandete Anzeigeverfahren und die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen.
12 Dieses Schreiben beantwortete die Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 21. März 2013. Sie beschrieb die Funktion des beanstandeten Anzeigeverfahrens und erläuterte, dass die BAM nicht als eine für die Bewertung der Konformität pyrotechnischer Gegenstände benannte Stelle tätig werde, sondern Aufgaben der Marktüberwachung erfülle, die nicht in den Bereich der mit der Richtlinie 2007/23 durchgeführten Harmonisierung fielen. Sie führte weiter aus, dass der Zugang pyrotechnischer Artikel zum Markt zwar harmonisierten Anforderungen unterliege, dass dies jedoch nicht für die Anzündmittel gelte. Außerdem stelle das beanstandete Anzeigeverfahren für die Hersteller und Importeure einen geringen Aufwand dar und könne daher nicht als unverhältnismäßige Belastung angesehen werden. Schließlich trug sie vor, dass die Verbraucher oder Wirtschaftsteilnehmer der Mitgliedstaaten durch dieses Verfahren nicht diskriminiert würden.
13 Am 27. Januar 2014 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Bundesrepublik Deutschland, in der sie die das beanstandete Anzeigeverfahren und die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen betreffenden Rügen wiederholte, das Vorbringen dieses Mitgliedstaats zurückwies und ihn aufforderte, seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie 2007/23 binnen einer Frist von zwei Monaten nach Zugang der Stellungnahme nachzukommen.
14 Sie ergänzte darin u. a. ihr Vorbringen, das beanstandete Verfahren verursache – wie eine bei ihr eingegangene Beschwerde belege – finanziellen, administrativen und zeitlichen Mehraufwand, stelle also keine geringe Belastung dar. Dieser Beschwerde zufolge könne das beanstandete Anzeigeverfahren drei Monate dauern, sei gebührenpflichtig und beinhalte die Abgabe von Prüfmustern. Sie führte weiter aus, dass eine den Anforderungen der Richtlinie 2007/23 entsprechende Anleitung eine der wesentlichen Anforderungen der Richtlinie sei, die von einer benannten Stelle im Konformitätsbewertungsverfahren geprüft werde, so dass eine erneute Prüfung dieser Anleitungen anhand nationaler Rechtsvorschriften unzulässig sei. Schließlich falle das beanstandete Anzeigeverfahren nicht unter Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2007/23, der es den Mitgliedstaaten erlaube, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder des Umweltschutzes Maßnahmen zum Verbot oder zur Beschränkung des Besitzes, der Verwendung und/oder des Verkaufs von Feuerwerkskörpern zu ergreifen.
15 Die Bundesrepublik Deutschland beantwortete die mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 20. März und 2. April 2014.
16 Zum beanstandeten Anzeigeverfahren führte sie zunächst aus, die den Herstellern und Importeuren pyrotechnischer Gegenstände obliegende Pflicht, die von der BAM vergebene Identifikationsnummer in der Gebrauchsanleitung anzugeben, werde seit dem 27. März 2014 nicht mehr angewandt. Zudem habe die BAM in keinem Fall Prüfungen an bereits konformitätsbewerteten pyrotechnischen Gegenständen durchgeführt. Schließlich betrage die durchschnittliche Verfahrensdauer zwei bis drei Wochen; eine Dauer von drei Monaten könne sich höchstens unter außergewöhnlichen Umständen ergeben.
17 In Bezug auf die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen hielt sie an ihrem Vorbringen fest. Die mit der Richtlinie 2007/23 vorgenommene Harmonisierung betreffe nur das Inverkehrbringen, nicht aber den Gebrauch pyrotechnischer Gegenstände. Die Anforderungen an die Kennzeichnung nach den Art. 12 und 13 der Richtlinie 2007/23 stellten lediglich Mindestanforderungen dar, die von den nationalen Marktüberwachungsbehörden ergänzt werden könnten. Schließlich sei diese Befugnis nicht nur durch den Verbraucherschutz gerechtfertigt, sondern auch durch die Schutzpflicht für Leib und Leben aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes, Art. 2 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Art. 3 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
18 Vor diesem Hintergrund hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.
Zur Klage
Vorbringen der Parteien
19 Die Kommission macht geltend, dass nach § 6 Abs. 4 SprengV alle Hersteller und Importeure pyrotechnischer Gegenstände dem beanstandeten Anzeigeverfahren unterlägen, von dem ihr Zugang zum Markt abhänge und das daher gegen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 verstoße. Zwar stelle diese nationale Rechtsvorschrift keine materiellen Anforderungen auf, verpflichte aber alle Hersteller und Importeure, sämtliche pyrotechnischen Gegenstände – unabhängig davon, ob sie bereits von einer benannten Stelle im Hinblick auf die wesentlichen Anforderungen der Richtlinie 2007/23 überprüft worden seien – anzumelden, eine Gebühr zu entrichten, auf die Vergabe einer Identifikationsnummer zu warten und gegebenenfalls Änderungen der Gebrauchsanleitungen für diese Gegenstände hinzunehmen, bevor sie diese in Deutschland vermarkten könnten.
20 Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Bundesrepublik Deutschland das beanstandete Anzeigeverfahren unterschiedslos sowohl auf inländische als auch auf eingeführte Produkte anwende und die in den übrigen Mitgliedstaaten ansässigen Wirtschaftsteilnehmer nicht diskriminiere. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 enthalte nämlich kein bloßes Diskriminierungsverbot, sondern garantiere den freien Warenverkehr aller den Anforderungen der Richtlinie entsprechenden pyrotechnischen Gegenstände. Die Richtlinie 2007/23 enthalte keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Grad der Belastung durch eine Maßnahme ein Mindestmaß erreichen müsse, um als Beschränkung oder Behinderung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 zu gelten.
21 Die Kommission weist ferner das Vorbringen zurück, die BAM werde nicht als benannte Stelle im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2007/23, sondern als Marktüberwachungsbehörde im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates (ABl. 2008, L 218, S. 30) tätig, so dass das beanstandete Anzeigeverfahren nicht anhand der Richtlinie 2007/23 beurteilt werden könne. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass die BAM als Marktüberwachungsbehörde handele, dürfte sie kein zusätzliches Verfahren durchführen, das dem freien Verkehr mit pyrotechnischen Gegenständen widerspreche. Jedenfalls regele die Richtlinie 2007/23 sowohl den Zugang zum Markt als auch die Marktüberwachung, da die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie die Überwachung des Marktes für pyrotechnische Gegenstände „unter Berücksichtigung der Konformitätsvermutung von Produkten, die mit einer CE-Kennzeichnung versehen sind“, durchführten.
22 Auch die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen stelle eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 dar. In Wirklichkeit handele es sich dabei um eine zusätzliche Überprüfung, die unterschiedslos für alle Produkte durchgeführt werde, selbst wenn ausweislich der CE-Kennzeichnung bereits eine Konformitätsbewertung durchgeführt worden sei.
23 Die Kommission bestreitet, dass die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen darauf abzielt, den Besitz oder die Verwendung pyrotechnischer Gegenstände im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2007/23 zu verbieten oder zu beschränken. Der Besitz oder die Verwendung pyrotechnischer Gegenstände falle zwar unter die Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten, die von der BAM vorgenommene Überprüfung diene aber weniger dazu, festzulegen, wie pyrotechnische Gegenstände zu gebrauchen seien, sondern vielmehr dazu, die Eignung ihrer Gebrauchsanleitungen im Hinblick auf andere nationale Vorschriften sicherzustellen. Die Eignung der Gebrauchsanleitungen sei jedoch integraler Bestandteil der Konformitätsbewertung pyrotechnischer Gegenstände anhand der in Anhang I der Richtlinie 2007/23 aufgezählten wesentlichen Anforderungen. Die Konformitätsvermutung für Produkte mit der CE-Kennzeichnung erstrecke sich auch auf die Eignung ihrer Anleitungen.
24 Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, dass die den Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 obliegende Verpflichtung, das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände nicht zu verbieten, zu beschränken oder zu behindern, nur die entgeltliche oder unentgeltliche erstmalige Bereitstellung eines bestimmten Produkts zum Zweck des Vertriebs und/oder der Verwendung auf dem Unionsmarkt im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie betreffe. Anders als Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2013/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung pyrotechnischer Gegenstände auf dem Markt (ABl. 2013, L 178, S. 27) garantiere diese Vorschrift also nicht den freien Verkehr pyrotechnischer Gegenstände in der Union, sondern nur den ersten Schritt ihrer Vermarktung.
25 Da die Mitgliedstaaten die Befugnis zur Regelung der Vermarktung und des Vertriebs pyrotechnischer Gegenstände auch nach ihrer erstmaligen Bereitstellung auf dem Markt behielten, verstießen weder das beanstandete Anzeigeverfahren noch die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen gegen die Richtlinie 2007/23.
26 Zum beanstandeten Anzeigeverfahren führt die Bundesrepublik Deutschland aus, dass damit nicht das Konformitätsbewertungsverfahren bei einer benannten Stelle wiederholt werde, das gemäß Art. 4 Abs. 4 Buchst. a sowie den Art. 9 und 10 der Richtlinie 2007/23 für jeden pyrotechnischen Gegenstand durchzuführen sei. Zum einen finde das beanstandete Anzeigeverfahren deutlich nach dem Inverkehrbringen auf dem Unionsmarkt und der Bereitstellung auf dem deutschen Markt statt. Zum anderen führe die BAM keine technische Prüfung im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2007/23 durch, sondern vergebe lediglich eine Registrierungs- bzw. Identifikationsnummer und prüfe anhand der eingereichten Unterlagen, ob die pyrotechnischen Gegenstände korrekt gekennzeichnet seien.
27 Mit der Vergabe der Identifikationsnummer, die lediglich dem Nachweis diene, dass eine ordnungsgemäße Anzeige bei der BAM erfolgt sei, und die Rückverfolgbarkeit pyrotechnischer Gegenstände in der Lieferkette erleichtere, seien keine zusätzlichen materiellen Anforderungen verbunden, die über die wesentlichen Anforderungen des Anhangs I der Richtlinie 2007/23 hinausgingen. Im Übrigen sei die Verpflichtung zur Angabe der Identifikationsnummer in der Gebrauchsanleitung ausgesetzt worden.
28 Jedenfalls sei das beanstandete Anzeigeverfahren als rein förmliche Anzeige nur mit minimalen administrativen Belastungen verbunden, die weniger gravierend als Einfuhrlizenzen und weniger belastend als die Kontrollen der Marktüberwachungsbehörden seien, insbesondere angesichts der Gefahren für die Gesundheit und die Sicherheit von Personen, die von pyrotechnischen Gegenständen ausgingen, die gegebenenfalls nur von Personen mit ausreichender fachlicher Qualifikation verwendet werden dürften.
29 Hilfsweise trägt die Bundesrepublik Deutschland vor, das beanstandete Anzeigeverfahren, bei dem es sich um eine Maßnahme zur Vorbereitung der Markt- oder der Verwenderüberwachung handele, sei jedenfalls mit den in der Richtlinie 2007/23 aufgestellten Grundsätzen der Marktüberwachung vereinbar.
30 Zur streitigen Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen führt sie aus, dass diese keine Wiederholung des Konformitätsbewertungsverfahrens darstelle, da den benannten Stellen in Anhang I Nr. 3 Buchst. h der Richtlinie 2007/23 keine strenge Prüfpflicht in Bezug auf die Gebrauchsanleitungen der pyrotechnischen Gegenstände auferlegt werde.
31 Die BAM führe im Rahmen des beanstandeten Anzeigeverfahrens keine technischen Prüfungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2007/23 durch, sondern beschränke sich darauf, anhand der eingereichten Unterlagen die Ordnungsgemäßheit der Anleitungen zu prüfen. Außerdem stelle die BAM, wenn sie eine Anleitung ändere, keine zusätzlichen Anforderungen an pyrotechnische Stoffe oder an die Eignung der Anleitung, die zu den Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie 2007/23 hinzukämen. Ihre Kontrolle sei auf die Einhaltung der Anforderungen an die Anleitung nach der Richtlinie 2007/23 beschränkt und erstrecke sich nur auf die wichtigsten Kennzeichnungspflichten, deren Missachtung besonders große Gefahren für die Sicherheit und Gesundheit von Personen zur Folge habe.
32 Außerdem könnten die benannten Stellen die Korrektheit der Gebrauchsanleitungen für die pyrotechnischen Gegenstände und ihrer Kennzeichnung in der oder den Amtssprachen des Mitgliedstaats, in dem sie an den Verbraucher abgegeben würden, zum Zeitpunkt der Konformitätsbewertung gar nicht umfassend prüfen. Denn zu diesem Zeitpunkt stehe noch gar nicht fest, um welche Mitgliedstaaten es sich handele. Auch die Angaben, die die Kennzeichnung gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2007/23 enthalten müsse, nämlich die Altersgrenzen, die Gebrauchsbestimmungen und der Mindestsicherheitsabstand, seien zum Zeitpunkt der Konformitätsbewertung der pyrotechnischen Gegenstände noch nicht bekannt.
Würdigung durch den Gerichtshof
Vorbemerkungen zur Reichweite von Art. 2 Nr. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2007/23
33 Die Richtlinie 2007/23 wurde durch die Richtlinie 2013/29 mit Wirkung vom 1. Juli 2015 aufgehoben. Die vorliegende Klage betrifft jedoch ausschließlich Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23.
34 Nach dieser Vorschrift dürfen die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände, die den Anforderungen der Richtlinie 2007/23 genügen, nicht verbieten, beschränken oder behindern.
35 In Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2007/23 ist „Inverkehrbringen“ definiert als „jede entgeltliche oder unentgeltliche erstmalige Bereitstellung eines bestimmten Produkts zum Zweck des Vertriebs und/oder der Verwendung dieses Produkts auf dem Gemeinschaftsmarkt“.
36 Folglich dürfen, sobald ein pyrotechnischer Gegenstand erstmalig unter Einhaltung der Anforderungen der Richtlinie 2007/23 auf dem Unionsmarkt – d. h. im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – bereitgestellt wurde, die anderen Mitgliedstaaten seine Vermarktung und seinen Vertrieb in ihrem Hoheitsgebiet grundsätzlich nicht mehr behindern, indem sie etwa über diese Anforderungen hinaus gehend verlangen, dass in der Richtlinie nicht vorgesehene Pflichten oder zusätzliche Formalitäten erfüllt werden. Von einem Inverkehrbringen eines bestimmten Produkts im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie kann nämlich keine Rede sein, wenn es nicht im gesamten Unionsmarkt frei im Umlauf sein kann.
37 Die Bundesrepublik Deutschland macht insoweit jedoch unter Heranziehung einer auf der Definition des Begriffs „Inverkehrbringen“ nach Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2007/23 basierenden wörtlichen Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie geltend, dass diese nur das erstmalige Inverkehrbringen von pyrotechnischen Gegenständen – d. h. die erste Stufe ihrer Vermarktung – garantiere, so dass die Mitgliedstaaten befugt seien, alle späteren Stufen des Vertriebs bis zum Verkauf an den Endverbraucher durch den Einzelhandel zu regeln.
38 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.
39 Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteile vom 1. April 1993, Findling Wälzlager, C‑136/91, EU:C:1993:133, Rn. 11, und vom 4. Februar 2016, Hassan, C‑163/15, EU:C:2016:71, Rn. 19). Die Entstehungsgeschichte einer unionsrechtlichen Vorschrift kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (vgl. Urteile vom 27. November 2012, Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 135, und vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 50).
40 Im vorliegenden Fall geht aus den Erwägungsgründen 2 und 19 sowie aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 hervor, dass der Hauptzweck der Richtlinie darin besteht, Handelshemmnissen innerhalb der Gemeinschaft zu begegnen, die sich aus den unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Regelung des in der Richtlinie definierten Inverkehrbringens pyrotechnischer Gegenstände ergeben, und damit den freien Verkehr dieser Gegenstände im Binnenmarkt und gleichzeitig ein hohes Niveau an Schutz für die menschliche Gesundheit, die öffentliche Sicherheit und den Schutz und die Sicherheit der Verbraucher und professionellen Endverbraucher zu gewährleisten.
41 Die Richtlinie 2007/23 nennt gemäß der „Neuen Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung“, auf die in den Erwägungsgründen 8, 16 und 20 der Richtlinie verwiesen wird, die wesentlichen Anforderungen, denen die pyrotechnischen Gegenstände genügen müssen und die mit harmonisierten Normen und nationalen Umsetzungsnormen umgesetzt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Oktober 2014, Kommission/Deutschland, C‑100/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2293, Rn. 51).
42 Für das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände gemäß Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 16 und 19 erachten die Mitgliedstaaten diese Gegenstände als den grundlegenden Anforderungen des Anhangs I genügend, wenn sie die CE-Kennzeichnung tragen.
43 Sie dürfen ferner gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 die Vermarktung pyrotechnischer Gegenstände nicht verbieten, beschränken oder behindern, es sei denn, die von ihnen ergriffenen Maßnahmen fallen unter die Ausnahmen des Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie oder unter die Marktüberwachung nach Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie.
44 Folglich müssen pyrotechnische Gegenstände, die die CE-Kennzeichnung tragen, mit der bescheinigt wird, dass sie den wesentlichen Anforderungen der Richtlinie 2007/23 entsprechen, grundsätzlich ab ihrer ersten Bereitstellung auf dem Markt eines Mitgliedstaats ungehindert und ohne Beschränkungen in der gesamten Union verkehren können, unbeschadet der Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder des Umweltschutzes gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie oder vorläufig zur Marktüberwachung gemäß Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie und unter Beachtung ihres Art. 16 ergreifen können.
45 Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland kann Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 also ungeachtet der in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie enthaltenen Definition nicht dahin ausgelegt werden, dass er nur die erste Bereitstellung auf dem Markt von den Anforderungen der Richtlinie entsprechenden pyrotechnischen Gegenständen garantiert.
46 Jede andere Auslegung würde die gesamte durch die Richtlinie 2007/23 eingeführte Regelung aushöhlen, ob es sich nun um die Definition der wesentlichen Anforderungen, denen die pyrotechnischen Gegenstände entsprechen müssen, oder um die verschiedenen Prüfungen handelt, denen die Mitgliedstaaten die Gegenstände sowohl vor als auch nach ihrer ersten Bereitstellung auf dem Markt im Zuge der Prüfung ihrer Konformität, ihrer CE-Kennzeichnung und der Marktüberwachung unterziehen müssen.
47 Diese Auslegung wird im Übrigen durch die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2007/23 bestätigt. In die Richtlinie wurden nämlich die verschiedenen Grundsätze und Regelungen der „Neuen Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung“ übernommen, die die Kommission in ihrer Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Verbesserte Umsetzung der Richtlinien des neuen Konzepts vom 7. Mai 2003, KOM(2003) 240 endgültig, dargelegt hat.
48 Vor diesem Hintergrund ist die Vereinbarkeit des beanstandeten Anzeigeverfahrens und der streitigen Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen mit der Richtlinie 2007/23 zu prüfen.
Zur Vereinbarkeit des beanstandeten Anzeigeverfahrens mit der Richtlinie 2007/23
49 Gemäß § 6 Abs. 4 SprengV setzt die Verwendung pyrotechnischer Gegenstände in Deutschland voraus, dass der Hersteller oder Einführer sie zuvor mit ihren Gebrauchsanleitungen bei der BAM angezeigt hat und an ihn eine Identifikationsnummer vergeben wurde, die in die entsprechende Anleitung aufzunehmen ist.
50 Nach dieser Bestimmung wird der Zugang pyrotechnischer Gegenstände zum deutschen Markt von Formalitäten abhängig gemacht, die zum einen zu den verschiedenen in der Richtlinie 2007/23 festgelegten Anforderungen und insbesondere dem Konformitätsbewertungsverfahren, das bei diesen Gegenständen vor ihrem Inverkehrbringen zwingend durchgeführt werden muss, hinzukommen und zum anderen zur Erhebung einer Bearbeitungsgebühr führen können.
51 Sie stellt daher eine Behinderung des durch Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 garantierten freien Verkehrs pyrotechnischer Gegenstände dar.
52 Dass diese Formalitäten unterschiedslos für nationale und eingeführte Produkte gelten, nicht dem Konformitätsbewertungsverfahren des Art. 9 der Richtlinie 2007/23 nachgebildet sind und für die Hersteller oder Importeure nur eine geringe administrative oder finanzielle Belastung darstellen, vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern.
53 Ferner ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Maßnahme, die geeignet ist, die Einfuhren zu behindern, als Beschränkung des freien Warenverkehrs zu qualifizieren ist, selbst wenn die Behinderung geringfügig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2004, Radlberger Getränkegesellschaft und S. Spitz, C‑309/02, EU:C:2004:799, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Allein der Umstand, dass das beanstandete Anzeigeverfahren auf alle pyrotechnischen Gegenstände anzuwenden ist, die im Einklang mit der Richtlinie 2007/23 in einem Mitgliedstaat auf dem Markt bereitgestellt wurden, reicht aus, um die geltend gemachte Vertragsverletzung festzustellen, zumal sich die Bundesrepublik Deutschland auch nicht auf die in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2007/23 angeführten Rechtfertigungsgründe der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder des Umweltschutzes berufen hat.
55 Die Bundesrepublik Deutschland macht allerdings geltend, dass das beanstandete Anzeigeverfahren eine Maßnahme zur Vorbereitung der Markt- und der Verwenderüberwachung darstelle, die jedenfalls mit den in Art. 14 der Richtlinie 2007/23 aufgestellten Grundsätzen vereinbar sei.
56 Dieses Vorbringen kann jedoch nicht durchgreifen.
57 Nach Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2007/23 kann ein Mitgliedstaat zwar geeignete vorläufige Maßnahmen ergreifen, um einen pyrotechnischen Gegenstand, der den Anforderungen der Richtlinie entspricht, d. h., der mit einer CE-Kennzeichnung versehen ist, dem die EG-Konformitätserklärung beigefügt ist und der seinem Zweck entsprechend verwendet wird, vom Markt zu nehmen, sein Inverkehrbringen zu verbieten oder seinen freien Verkehr zu beschränken, wenn er die Gesundheit und Sicherheit von Personen gefährden kann.
58 Wie jedoch der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, beruht die Marktüberwachung, die die Mitgliedstaaten gemäß Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2007/23 organisieren und durchführen müssen, auf der Konformitätsvermutung für mit der CE-Kennzeichnung versehene Gegenstände und kann daher keine systematische Kontrolle aller in Deutschland vermarkteten pyrotechnischen Gegenstände, wie das bei dem beanstandeten Anzeigeverfahren der Fall ist, rechtfertigen.
59 Jedenfalls muss der Mitgliedstaat, der eine solche Maßnahme ergreifen möchte, gemäß Art. 14 Abs. 6 Satz 2 der Richtlinie 2007/23 zuvor die Kommission davon unterrichten, und nur diese ist gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie befugt, darüber zu entscheiden, ob diese Maßnahme gerechtfertigt ist. Das beanstandete Anzeigeverfahren sieht aber keine Unterrichtung der Kommission vor und gilt ohne deren vorherige Erlaubnis für jeden Hersteller oder Importeur, der in Deutschland pyrotechnische Gegenstände in Verkehr bringen möchte.
60 Aus der vorstehenden Würdigung ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 verletzt hat, indem sie über die Anforderungen dieser Richtlinie hinaus und ungeachtet der zuvor erfolgten Konformitätsbewertung der pyrotechnischen Gegenstände vorschreibt, dass diese Gegenstände vor ihrem Inverkehrbringen das beanstandete Anzeigeverfahren zu durchlaufen haben.
Zur Vereinbarkeit der streitigen Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen mit der Richtlinie 2007/23
61 Gemäß § 6 Abs. 4 SprengV kann die BAM zur Abwendung von Gefahren für Leben und Gesundheit Beschäftigter oder Dritter oder Sachgüter die vom Hersteller eines pyrotechnischen Gegenstands festgelegten Anleitungen zur Verwendung – auch nachträglich – einschränken oder ergänzen.
62 Die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen, die im Rahmen des beanstandeten Anzeigeverfahrens besteht, bedeutet, dass der Zugang von in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland in den Verkehr gebrachten pyrotechnischen Gegenständen zum deutschen Markt von einer systematischen Prüfung ihrer Gebrauchsanleitungen abhängig ist, die zu den im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens gemäß der Richtlinie 2007/23 durchgeführten Prüfungen hinzukommt.
63 Wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind nämlich gemäß Anhang I Nr. 3 Buchst. h der Richtlinie 2007/23 die Anleitungen jedes pyrotechnischen Gegenstands und erforderlichenfalls die Kennzeichnungen in Bezug auf die sichere Handhabung, Lagerung, Verwendung (einschließlich Sicherheitsabstände) und Entsorgung in der (den) Amtssprache(n) des Empfänger-Mitgliedstaats zu prüfen.
64 Diese der BAM übertragene Befugnis stellt daher eine Behinderung des durch Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 garantierten freien Verkehrs pyrotechnischer Gegenstände dar.
65 Aus der vorstehenden Würdigung ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23 verletzt hat, indem sie über die Anforderungen dieser Richtlinie hinaus und ungeachtet der zuvor erfolgten Konformitätsbewertung der pyrotechnischen Gegenstände vorschreibt, dass die BAM die streitige Befugnis zur Änderung der Gebrauchsanleitungen besitzt.
Kosten
66 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2007/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Mai 2007 über das Inverkehrbringen pyrotechnischer Gegenstände verletzt, indem sie über die Anforderungen dieser Richtlinie hinaus und ungeachtet der zuvor erfolgten Konformitätsbewertung der pyrotechnischen Gegenstände vorschreibt, dass zum einen diese Gegenstände vor ihrem Inverkehrbringen das Verfahren nach § 6 Abs. 4 der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz in der durch das Gesetz vom 25. Juli 2013 geänderten Fassung zu durchlaufen haben und zum anderen die Bundesanstalt für Materialforschung und ‑prüfung gemäß dieser Vorschrift befugt ist, ihre Gebrauchsanleitungen zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 12. Oktober 2016.#Christine Nigl u. a. gegen Finanzamt Waldviertel.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 4 Abs. 1 und 4 – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 9 und 11 – Begriff ‚Steuerpflichtiger‘ – Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die ihre Produkte unter einer gemeinsamen Marke und über eine Kapitalgesellschaft vertreiben – Begriff ‚eigenständiger Unternehmer‘ – Versagung der Eigenschaft als Steuerpflichtiger – Rückwirkung – Sechste Richtlinie 77/388 – Art. 25 – Richtlinie 2006/112 – Art. 272 und 296 – Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger – Ausnahme von der Pauschalregelung – Rückwirkung.#Rechtssache C-340/15.
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62015CJ0340
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ECLI:EU:C:2016:764
| 2016-10-12T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0340
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
12. Oktober 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Steuerrecht — Mehrwertsteuer — Sechste Richtlinie 77/388/EWG — Art. 4 Abs. 1 und 4 — Richtlinie 2006/112/EG — Art. 9 und 11 — Begriff ‚Steuerpflichtiger‘ — Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die ihre Produkte unter einer gemeinsamen Marke und über eine Kapitalgesellschaft vertreiben — Begriff ‚eigenständiger Unternehmer‘ — Versagung der Eigenschaft als Steuerpflichtiger — Rückwirkung — Sechste Richtlinie 77/388 — Art. 25 — Richtlinie 2006/112 — Art. 272 und 296 — Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger — Ausnahme von der Pauschalregelung — Rückwirkung“
In der Rechtssache C‑340/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 29. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2015, in dem Verfahren
Christine Nigl u. a.
gegen
Finanzamt Waldviertel
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras (Berichterstatter), J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. April 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Frau Nigl u. a., vertreten durch Rechtsanwalt H. Nigl und J. Auer,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer, S. Pfeiffer und F. Koppensteiner als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Juni 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2004/66/EG des Rates vom 26. April 2004 (ABl. 2004, L 168, S. 35) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) und der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Angehörigen der Familie Nigl, sämtlich Gesellschafter dreier Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die jeweils Wein anbauen, und dem Finanzamt Waldviertel (Österreich) (im Folgenden: Finanzamt) wegen der Bestimmung der Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger und der Weigerung, auf diese Gesellschaften die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger anzuwenden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Sechste Richtlinie
3 Art. 4 („Steuerpflichtiger“) der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
(2) Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst.
…
(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff ‚selbständig‘ schließt die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
…“
4 In Art. 25 („Gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger“) der Sechsten Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten können auf landwirtschaftliche Erzeuger, bei denen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung oder gegebenenfalls der vereinfachten Regelung nach Artikel 24 auf Schwierigkeiten stoßen würde, als Ausgleich für die Belastung durch die Mehrwertsteuer, die auf die von den Pauschallandwirten bezogenen Gegenstände und Dienstleistungen gezahlt wird, eine Pauschalregelung nach diesem Artikel anwenden.
…
(9) Jeder Mitgliedstaat hat die Möglichkeit, bestimmte Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger sowie diejenigen landwirtschaftlichen Erzeuger von der Pauschalregelung auszunehmen, bei denen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung oder gegebenenfalls der vereinfachten Regelung nach Artikel 24 Absatz 1 keine verwaltungstechnischen Schwierigkeiten mit sich bringt.
…“
Mehrwertsteuerrichtlinie
5 Art. 9 Abs. 1 in Titel III („Steuerpflichtiger“) der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
6 Art. 10 dieser Richtlinie lautet:
„Die selbstständige Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 schließt Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.“
7 Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer … kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.“
8 Art. 296 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten können auf landwirtschaftliche Erzeuger, bei denen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung oder gegebenenfalls der Sonderregelung des Kapitels 1 auf Schwierigkeiten stoßen würde, als Ausgleich für die Belastung durch die Mehrwertsteuer, die auf die von den Pauschallandwirten bezogenen Gegenstände und Dienstleistungen gezahlt wird, eine Pauschalregelung nach diesem Kapitel anwenden.
(2) Jeder Mitgliedstaat kann bestimmte Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger sowie diejenigen landwirtschaftlichen Erzeuger, bei denen die Anwendung der normalen Mehrwertsteuerregelung oder gegebenenfalls der vereinfachten Bestimmungen des Artikels 281 keine verwaltungstechnischen Schwierigkeiten mit sich bringt, von der Pauschalregelung ausnehmen.“
Österreichisches Recht
9 In § 2 („Unternehmer, Unternehmen“) des Umsatzsteuergesetzes 1994 (im Folgenden: UStG) heißt es:
„(1) Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Gewerblich oder beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern tätig wird.
(2) Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,
1. soweit natürliche Personen, einzeln oder zusammengeschlossen, einem Unternehmen derart eingegliedert sind, dass sie den Weisungen des Unternehmers zu folgen … verpflichtet sind;
2. wenn eine juristische Person dem Willen eines Unternehmers derart untergeordnet ist, dass sie keinen eigenen Willen hat. Eine … juristische Person ist dem Willen eines Unternehmers dann derart untergeordnet, dass sie keinen eigenen Willen hat (Organschaft), wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in sein Unternehmen eingegliedert ist. …
…“
10 Nach § 22 UStG wird bei nicht buchführungspflichtigen Unternehmern, die im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs Umsätze ausführen, die Steuer für diese Umsätze mit 10 % der Bemessungsgrundlage festgesetzt, wobei die Pflicht zur Buchführung gemäß den §§ 124 und 125 der Bundesabgabenordnung an die Höhe der Umsätze und den Wert des Betriebs anknüpft.
11 Zudem bilden nach § 1175 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs zwei oder mehrere Personen eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, wenn sie sich durch einen Vertrag zusammenschließen, um durch eine bestimmte Tätigkeit einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen. Dieser Vertrag unterliegt keinen Formerfordernissen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Seit dem Jahr 1998 sind die Kläger des Ausgangsverfahrens mittels dreier Gesellschaften bürgerlichen Rechts im Weinanbau tätig, wobei jede dieser Gesellschaften an verschiedenen Standorten Weingärten bewirtschaftet und mehrwertsteuerpflichtig ist. Die erste dieser Gesellschaften bürgerlichen Rechts wurde von Herrn Martin Nigl und Frau Christine Nigl, die zweite von Frau Gisela Nigl sen. und Herrn Josef Nigl und die dritte von Herrn Martin Nigl und Frau Gisela Nigl jun. gegründet. Im Zuge der Gründung der drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts wurde kein schriftlicher Vertrag erstellt.
13 Um der gestiegenen Nachfrage nach Weinen des von Herrn Martin Nigl entwickelten Hochwertsegments gerecht zu werden, gründeten die Kläger des Ausgangsverfahrens im Jahr 2001 die Weingut Nigl GmbH (im Folgenden: Handelsgesellschaft). Diese Gesellschaft kauft im Wesentlichen Weine der Betriebe der Gesellschaften bürgerlichen Rechts ein, um sie an Wiederverkäufer weiterzuverkaufen, oder vertreibt sie im Namen und auf Rechnung der jeweiligen Gesellschaft bürgerlichen Rechts an Endverbraucher. Außerdem produziert sie Wein aus von Vertragswinzern zugekauften Trauben und betreibt ein Hotel samt Restaurant.
14 Die Gesellschaften bürgerlichen Rechts wurden bei öffentlichen Stellen gemeldet, u. a. beim Finanzamt, das diese Gesellschaften als eigenständige Steuerpflichtige führte, und zwar als umsatzsteuerliche Unternehmer bzw. ertragsteuerliche Mitunternehmerschaften.
15 Die Einnahmen und Ausgaben der drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts werden getrennt über jeweils eigene Bankkonten abgewickelt. Die Gewinne werden innerhalb jeder Gesellschaft bürgerlichen Rechts unter ihren Mitgliedern aufgeteilt und die Gesellschaften haben kein gemeinsames Vermögen und kein gemeinsames Bankkonto. Jede Gesellschaft bürgerlichen Rechts bewirtschaftet getrennt eigene oder zugepachtete Weingärten, beschäftigt Arbeitnehmer und verfügt über ihre eigenen Wirtschaftsgüter wie Traktoren oder Maschinen. 15 % bis 20 % der Betriebsmittel werden zentral über die Handelsgesellschaft eingekauft, dann unter den Gesellschaften bürgerlichen Rechts entsprechend den produzierten Weinmengen aufgeteilt. Die Betriebskosten der Gebäude und die Kosten für Gas und Strom werden am Ende des Jahres von der Handelsgesellschaft weiterverrechnet.
16 Die Vinifizierung erfolgt getrennt nach den einzelnen Betrieben, die Abfüllung erfolgt jedoch über eine Gemeinschaftsanlage. Die von den Gesellschaften bürgerlichen Rechts produzierten Weine werden unter der gemeinsamen Marke Weingut Nigl durch die Handelsgesellschaft vertrieben und zu gemeinsam festgesetzten Preisen verkauft, wobei die von der Handelsgesellschaft gezahlten Kaufpreise durch Abschläge von ihren eigenen Verkaufspreisen ermittelt werden. Weder die Werbung noch die Website oder die Preislisten enthielten einen Hinweis auf die verschiedenen Betriebe oder die produzierenden Gesellschaften bürgerlichen Rechts. Schließlich erbringt die Handelsgesellschaft sämtliche Verwaltungsarbeiten für Rechnung der drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts.
17 Bis zum Jahr 2012 ging das Finanzamt davon aus, dass die Bewirtschaftung durch vier Steuersubjekte erfolge, nämlich die drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts und die Handelsgesellschaft.
18 Als Ergebnis einer im Jahr 2012 durchgeführten Außenprüfung gelangte das Finanzamt angesichts der engen wirtschaftlichen und organisatorischen Verflechtung der Gesellschaften bürgerlichen Rechts zu der Auffassung, dass deren Mitglieder seit dem Jahr 2005 eine einheitliche Personenvereinigung gebildet hätten. Nach Ansicht des Finanzamts liegt nur eine einzige Einkunftsquelle vor, deren Ergebnis den verschiedenen Mitgliedern der drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts zuzurechnen sei.
19 Umsatzsteuerlich bestehen für das Finanzamt rückwirkend seit dem Jahr 2005 zwei steuerpflichtige Unternehmer, nämlich die aus den Mitgliedern der drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete einheitliche Personenvereinigung und die Handelsgesellschaft. An alle Mitglieder der drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts und an die Handelsgesellschaft wurden Umsatzsteuerbescheide adressiert und mit Entscheidung vom 18. Juli 2012 wurden die Umsatzsteuer-Identifikationsnummern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts begrenzt.
20 Folglich stellte das Finanzamt die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger, von der die Gesellschaften bürgerlichen Rechts profitierten, in Frage.
21 Das mit Klagen zur Klärung der Frage befasste Bundesfinanzgericht (Österreich), ob die Kläger des Ausgangsverfahrens vier oder nur zwei Weinbaubetriebe als eigenständige Unternehmer führen, stellt fest, dass jedes Gebilde, das als solches nach außen auftrete und selbständig Leistungen im umsatzsteuerlichen Sinne erbringe, nach österreichischem Recht die Fähigkeit besitze, Unternehmer zu sein, selbst wenn es sich um eine nicht rechtsfähige Personenvereinigung handle.
22 Außerdem weist es darauf hin, dass es bereits entschieden habe, dass mangels eines Antrags der Republik Österreich auf Konsultation des in Art. 29 der Sechsten Richtlinie genannten Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer ertragsteuerlich jeweils eigenständige Mitunternehmerschaften nicht einen einzigen umsatzsteuerrechtlichen Unternehmer bildeten, ganz gleich welche Verhältnisse oder Beziehungen zwischen ihnen bestehen mögen.
23 In diesem Zusammenhang hat das Bundesfinanzgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Vorlagefragen
24 Zunächst ist angesichts des Zeitraums, für den das Finanzamt feststellte, dass die Mitglieder der drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts eine einheitliche Personenvereinigung gebildet hätten, nämlich von 2005 bis 2012, festzuhalten, dass die jeweils einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und der Mehrwertsteuerrichtlinie anwendbar sind.
Zur ersten Frage
25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie sowie Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als solche gegenüber ihren Lieferanten, gegenüber öffentlichen Stellen und zu einem gewissen Grad gegenüber ihren Kunden eigenständig auftreten und von denen jede ihre eigene Produktion sicherstellt, indem sie im Wesentlichen ihre Produktionsmittel verwendet, die aber einen Großteil ihrer Produkte unter einer gemeinsamen Marke über eine Kapitalgesellschaft vertreiben, deren Anteile von den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts und anderen Angehörigen der betreffenden Familie gehalten werden, als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer anzusehen sind.
26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie als „Steuerpflichtiger“ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis (vgl. u. a. Urteile vom 26. März 1987, Kommission/Niederlande, 235/85, EU:C:1987:161, Rn. 6, vom 16. September 2008, Isle of Wight Council u. a., C‑288/07, EU:C:2008:505, Rn. 27, und vom 29. Oktober 2009, Kommission/Finnland, C‑246/08, EU:C:2009:671, Rn. 35).
27 Die in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie und Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie verwendeten Begriffe, insbesondere der Begriff „wer“, verleihen dem Begriff „Steuerpflichtiger“ eine weite Definition mit dem Schwerpunkt auf der Selbständigkeit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Sinne, dass alle natürlichen und juristischen Personen, sowohl öffentliche als auch private, sowie Einrichtungen ohne Rechtspersönlichkeit, die objektiv die Kriterien dieser Bestimmung erfüllen, als Mehrwertsteuerpflichtige gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 28).
28 Zur Feststellung der Selbständigkeit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ist zu prüfen, ob der Betroffene seine Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt, und ob er das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt (Urteile vom 27. Januar 2000, Heerma, C‑23/98, EU:C:2000:46, Rn. 18, vom 18. Oktober 2007, van der Steen, C‑355/06, EU:C:2007:615, Rn. 23, und vom 29. September 2015, Gmina WrocławC‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 34).
29 Die erste Frage ist im Licht dieser Gesichtspunkte zu beantworten.
30 Der Umstand, dass Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens getrennt eigene oder – ebenfalls getrennt – zugepachtete Weingärten bewirtschaften, dass jede dieser Gesellschaften so gut wie ausschließlich ihre eigenen Produktionsmittel verwendet und ihre eigenen Arbeitnehmer beschäftigt, dass sie als solche eigenständig gegenüber ihren Lieferanten, gegenüber öffentlichen Stellen und zu einem gewissen Grad gegenüber ihren Kunden auftreten, zeugt davon, dass jede dieser Gesellschaften eine Tätigkeit im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt.
31 In diesem Zusammenhang reicht das Bestehen einer gewissen Zusammenarbeit zwischen solchen Gesellschaften bürgerlichen Rechts und einer Kapitalgesellschaft u. a. hinsichtlich des Vertriebs ihrer Produkte unter einer gemeinsamen Marke nicht aus, um die Eigenständigkeit dieser Gesellschaften bürgerlichen Rechts gegenüber der Kapitalgesellschaft in Frage zu stellen.
32 Dass solche Gesellschaften bürgerlichen Rechts einen Teil ihrer Tätigkeiten durch Übertragung auf eine dritte Gesellschaft zusammenlegen, geht nämlich auf eine Entscheidung über die Organisation dieser Tätigkeiten zurück und lässt nicht darauf schließen, dass die Gesellschaften bürgerlichen Rechts ihre Tätigkeiten nicht selbständig ausübten oder nicht das mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit einhergehende wirtschaftliche Risiko trügen.
33 Auch eignet sich die bestimmende Rolle eines der Mitglieder einer der Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie denen des Ausgangsverfahrens bei der Erzeugung der Weine dieser Gesellschaften und bei deren Vertretung nicht offenkundig dazu, die Feststellung in Zweifel zu ziehen, dass diese Gesellschaften ihre Tätigkeiten dadurch selbständig ausüben, dass jede im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung handelt.
34 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie sowie Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als solche gegenüber ihren Lieferanten, gegenüber öffentlichen Stellen und zu einem gewissen Grad gegenüber ihren Kunden eigenständig auftreten und von denen jede ihre eigene Produktion sicherstellt, indem sie im Wesentlichen ihre Produktionsmittel verwendet, die aber einen Großteil ihrer Produkte unter einer gemeinsamen Marke über eine Kapitalgesellschaft vertreiben, deren Anteile von den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts und anderen Angehörigen der betreffenden Familie gehalten werden, als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer anzusehen sind.
35 Angesichts der Antwort auf die erste Frage brauchen die zweite und die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.
Zur vierten Frage
36 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 der Sechsten Richtlinie und Art. 296 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie der Möglichkeit nicht entgegenstehen, die Anwendung der in diesen Artikeln vorgesehenen gemeinsamen Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger auf mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer angesehen werden und untereinander zusammenarbeiten, mit der Begründung abzulehnen, dass eine Kapitalgesellschaft, eine aus den Mitgliedern dieser Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung oder eine aus der Kapitalgesellschaft und den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung aufgrund der Betriebsgröße oder der Rechtsform nicht unter die Pauschalregelung fällt.
37 Es ist darauf hinzuweisen, dass die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger eine abweichende Regelung ist, die eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung der Sechsten Richtlinie und der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt und daher nur insoweit angewandt werden darf, als dies zur Erreichung ihres Ziels erforderlich ist (Urteile vom 15. Juli 2004, Harbs, C‑321/02, EU:C:2004:447, Rn. 27, vom 26. Mai 2005, Stadt Sundern, C‑43/04, EU:C:2005:324, Rn. 27, und vom 8. März 2012, Kommission/Portugal, C‑524/10, EU:C:2012:129, Rn. 49).
38 Zu den beiden Zielen dieser Regelung gehört jenes, dem Vereinfachungserfordernis zu entsprechen, das mit dem Ziel eines Ausgleichs der Mehrwertsteuer-Vorbelastung für die Landwirte in Einklang gebracht werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Mai 2005, Stadt Sundern, C‑43/04, EU:C:2005:324, Rn. 28, und vom 8. März 2012, Kommission/Portugal, C‑524/10, EU:C:2012:129, Rn. 50).
39 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 25 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und Art. 296 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten auf Landwirte eine Pauschalregelung anwenden „können“, wenn bei diesen die Anwendung der normalen Steuerregelung oder der vereinfachten Regelung auf insbesondere verwaltungstechnische Schwierigkeiten stieße.
40 Außerdem ergibt sich aus Art. 25 Abs. 9 der Sechsten Richtlinie und Art. 296 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass zum einen die Mitgliedstaaten bestimmte Gruppen landwirtschaftlicher Erzeuger von der Pauschalregelung „ausnehmen können“.
41 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die nationalen Rechtsvorschriften keine allgemeine Ausnahme einer Gruppe landwirtschaftlicher Erzeuger von der Pauschalregelung mit der Begründung vorsehen, diese Erzeuger würden mittels einer Kapitalgesellschaft oder einer Vereinigung wie der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten wirtschaftlich eng zusammenarbeiten.
42 Zum anderen sind nach Art. 25 Abs. 9 der Sechsten Richtlinie und Art. 296 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger solche ausgenommen, denen die Anwendung der normalen oder der vereinfachten Regelung keine verwaltungstechnischen Schwierigkeiten bereitet.
43 Der vom vorlegenden Gericht geltend gemachte Umstand, dass eine Kapitalgesellschaft, eine aus den Mitgliedern mehrerer Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung oder eine aus der Kapitalgesellschaft und den Mitgliedern dieser Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung aufgrund ihrer Größe oder ihrer Rechtsform nicht unter die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger fällt, kann sich aber nicht auf die Anwendung dieser Regelung auf die Gesellschaften bürgerlichen Rechts auswirken, da durch einen solchen Umstand an sich nicht nachgewiesen werden kann, dass ihnen die Anwendung der normalen oder der vereinfachten Regelung keine verwaltungstechnischen Schwierigkeiten bereiten würde.
44 Anders verhielte es sich jedoch, wenn Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens wegen ihrer Verbindungen zu einer Kapitalgesellschaft oder einer Vereinigung wie den oben in Rn. 36 genannten faktisch in der Lage wären, die Verwaltungskosten im Zusammenhang mit den sich aus der Anwendung der normalen oder der vereinfachten Regelung ergebenden Aufgaben zu tragen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
45 In diesem Fall kann die Tatsache, dass die Anwendung der Pauschalregelung immerhin geeignet ist, die mit der Anwendung der Mehrwertsteuerregelung verbundenen Verwaltungskosten zu senken, dagegen nicht berücksichtigt werden, da der Unionsgesetzgeber die Pauschalregelung nur zugunsten jener landwirtschaftlichen Erzeuger eingerichtet hat, bei denen die Anwendung der normalen Steuerregelung oder der vereinfachten Regelung auf insbesondere verwaltungstechnische Schwierigkeiten stieße.
46 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 25 der Sechsten Richtlinie und Art. 296 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie der Möglichkeit, die Anwendung der in diesen Artikeln vorgesehenen gemeinsamen Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger auf mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer angesehen werden und untereinander zusammenarbeiten, mit der Begründung abzulehnen, dass eine Kapitalgesellschaft, eine aus den Mitgliedern dieser Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung oder eine aus der Kapitalgesellschaft und den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung aufgrund der Betriebsgröße oder der Rechtsform nicht unter die Pauschalregelung fällt, auch dann nicht entgegenstehen, wenn die Gesellschaften bürgerlichen Rechts nicht zu einer Gruppe von der Pauschalregelung ausgenommener Erzeuger gehören, sofern sie aufgrund ihrer Verbindungen zur Kapitalgesellschaft oder einer dieser Vereinigungen faktisch in der Lage sind, die Verwaltungskosten im Zusammenhang mit den sich aus der Anwendung der normalen oder der vereinfachten Mehrwertsteuerregelung ergebenden Aufgaben zu tragen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Zur fünften Frage
47 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger für Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte, wissen, ob dieser Ausschluss rückwirkend, nur für die Zukunft oder überhaupt nicht wirksam ist.
48 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit es nicht verbietet, dass das Finanzamt abgezogene Mehrwertsteuer oder Mehrwertsteuer für bereits erbrachte Leistungen, die dieser Steuer hätten unterworfen werden müssen, innerhalb der Verjährungsfrist nacherhebt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Februar 2014, Fatorie, C‑424/12, EU:C:2014:50, Rn. 47 und 48, sowie vom 9. Juli 2015, Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C‑144/14, EU:C:2015:452, Rn. 42).
49 Dasselbe gilt auch dann, wenn eine Regelung, von der ein Mehrwertsteuerpflichtiger profitiert, vom Finanzamt in Frage gestellt wird, und auch für einen Zeitraum vor dieser Einschätzung. Dies allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Einschätzung innerhalb der Verjährungsfrist für das Handeln des Finanzamts erfolgt und ihre Folgen nicht bis zu einem Zeitpunkt vor Eintritt der ihr zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage zurückwirken.
50 Unter diesen Voraussetzungen kann der Umstand, dass das Finanzamt zunächst mehreren Gesellschaften bürgerlichen Rechts die Pauschalregelung gewährt hat, keinen Einfluss auf die Beantwortung der Vorlagefrage haben, da die Sach- und Rechtslage, auf der die neue Einschätzung durch das Finanzamt beruht, nach dieser Gewährung und innerhalb der Verjährungsfrist für das Handeln des Finanzamts eingetreten ist.
51 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass für den Fall, dass die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger für Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte, dieser Ausschluss für den Zeitraum vor dem Zeitpunkt wirksam ist, zu dem die dem Ausschluss zugrunde liegende Einschätzung vorgenommen wurde, sofern die Einschätzung innerhalb der Verjährungsfrist für das Handeln des Finanzamts erfolgt und ihre Folgen nicht bis zu einem Zeitpunkt vor Eintritt der ihr zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage zurückwirken.
Kosten
52 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2004/66/EG des Rates vom 26. April 2004 geänderten Fassung sowie Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 10 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als solche gegenüber ihren Lieferanten, gegenüber öffentlichen Stellen und zu einem gewissen Grad gegenüber ihren Kunden eigenständig auftreten und von denen jede ihre eigene Produktion sicherstellt, indem sie im Wesentlichen ihre Produktionsmittel verwendet, die aber einen Großteil ihrer Produkte unter einer gemeinsamen Marke über eine Kapitalgesellschaft vertreiben, deren Anteile von den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts und anderen Angehörigen der betreffenden Familie gehalten werden, als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer anzusehen sind.
2. Art. 25 der Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2004/66 geänderten Fassung und Art. 296 der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass sie der Möglichkeit, die Anwendung der in diesen Artikeln vorgesehenen gemeinsamen Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger auf mehrere Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens, die als mehrwertsteuerpflichtige eigenständige Unternehmer angesehen werden und untereinander zusammenarbeiten, mit der Begründung abzulehnen, dass eine Kapitalgesellschaft, eine aus den Mitgliedern dieser Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung oder eine aus der Kapitalgesellschaft und den Mitgliedern der Gesellschaften bürgerlichen Rechts gebildete Personenvereinigung aufgrund der Betriebsgröße oder der Rechtsform nicht unter die Pauschalregelung fällt, auch dann nicht entgegenstehen, wenn die Gesellschaften bürgerlichen Rechts nicht zu einer Gruppe von der Pauschalregelung ausgenommener Erzeuger gehören, sofern sie aufgrund ihrer Verbindungen zur Kapitalgesellschaft oder einer dieser Vereinigungen faktisch in der Lage sind, die Verwaltungskosten im Zusammenhang mit den sich aus der Anwendung der normalen oder der vereinfachten Mehrwertsteuerregelung ergebenden Aufgaben zu tragen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
3. Falls die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger für Gesellschaften bürgerlichen Rechts wie die des Ausgangsverfahrens grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte, ist dieser Ausschluss für den Zeitraum vor dem Zeitpunkt wirksam, zu dem die dem Ausschluss zugrunde liegende Einschätzung vorgenommen wurde, sofern die Einschätzung innerhalb der Verjährungsfrist für das Handeln des Finanzamts erfolgt und ihre Folgen nicht bis zu einem Zeitpunkt vor Eintritt der ihr zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage zurückwirken.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 12. Oktober 2016.#Land Hessen gegen Pollmeier Massivholz GmbH & Co. KG und Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Staatliche Maßnahmen, die ein Sägewerk im Land Hessen betreffen – Entscheidung, mit der festgestellt wird, dass keine staatliche Beihilfe vorliegt – Nichteröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Ernsthafte Schwierigkeiten – Berechnung des Beihilfeelements staatlicher Bürgschaften – Mitteilung der Kommission über staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften.#Rechtssache C-242/15 P.
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62015CJ0242
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ECLI:EU:C:2016:765
| 2016-10-12T00:00:00 |
Wathelet, Gerichtshof
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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
12. Oktober 2016(*)
„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Staatliche Maßnahmen, die ein Sägewerk im Land Hessen betreffen – Entscheidung, mit der festgestellt wird, dass keine staatliche Beihilfe vorliegt – Nichteröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Ernsthafte Schwierigkeiten – Berechnung des Beihilfeelements staatlicher Bürgschaften – Mitteilung der Kommission über staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften“
In der Rechtssache C‑242/15 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 26. Mai 2015,
Land Hessen, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte U. Soltész und A. Richter,
Rechtsmittelführer,
andere Parteien des Verfahrens:
Pollmeier Massivholz GmbH & Co. KG mit Sitz in Creuzburg (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte J. Heithecker und J. Ylinen,
Klägerin im ersten Rechtszug,
Europäische Kommission, vertreten durch F. Erlbacher und C. Urraca Caviedes als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt das Land Hessen (Deutschland) die teilweise Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen
Union vom 17. März 2015, Pollmeier Massivholz/Kommission (T‑89/09, EU:T:2015:153, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit
dem dieses zum einen die Entscheidung K(2008) 6017 endgültig der Kommission vom 21. Oktober 2008, Staatliche Beihilfe N 512/2007
– Deutschland, Abalon Hardwood Hessen GmbH (im Folgenden: streitige Entscheidung), für nichtig erklärt hat, soweit darin festgestellt
wird, dass die vom Land Hessen gewährten staatlichen Bürgschaften keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 87 Abs. 1
EG darstellen, und zum anderen die Klage der Pollmeier Massivholz GmbH & Co. KG auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung
insgesamt und der Entscheidung zum Beihilfeverfahren CP 195/2007 – Abalon Hardwood Hessen GmbH, die in dem Schreiben D/55056
der Kommission vom 15. Dezember 2008 (im Folgenden: Schreiben D/55056) enthalten sein soll, im Übrigen abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 69/2001
2 Art. 2 („De-minimis-Beihilfen“) der Verordnung (EG) Nr. 69/2001 der Kommission vom 12. Januar 2001 über die Anwendung der
Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf „De-minimis“-Beihilfen (ABl. 2001, L 10, S. 30), die zum Zeitpunkt der Gewährung der streitigen
Maßnahmen in Kraft war und auf die sich die Kommission für den Erlass der streitigen Entscheidung stützte, lautete:
„(1) Beihilfen, die die Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 des vorliegenden Artikels erfüllen, gelten als Maßnahmen, die nicht
alle Tatbestandsmerkmale des Artikels 87 Absatz 1 EG-Vertrag erfüllen, und unterliegen damit nicht der Anmeldungspflicht gemäß
Artikel 88 Absatz 3 EG-Vertrag.
(2) Die Gesamtsumme der einem Unternehmen gewährten De-minimis-Beihilfen darf 100 000 EUR bezogen auf einen Zeitraum von drei
Jahren nicht übersteigen. Dieser Schwellenwert gilt für Beihilfen gleich welcher Art und Zielsetzung.
(3) Der Schwellenwert des Absatzes 2 bezieht sich auf den Fall einer Barzuwendung. Bei den eingesetzten Beträgen sind die Bruttobeträge,
d. h. die Beträge vor Abzug der direkten Steuern, zugrunde zu legen. Wird die Beihilfe nicht als Zuschuss, sondern in anderer
Form gewährt, bestimmt sich die Höhe der Beihilfe nach ihrem Bruttosubventionsäquivalent.
…“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
3 Für die Zwecke des vorliegenden Rechtsmittels lässt sich die Vorgeschichte des Rechtsstreits, wie sie sich aus dem angefochtenen
Urteil ergibt, wie folgt zusammenfassen.
4 Pollmeier Massivholz ist eine in der Laubholzsägebranche tätige Gesellschaft deutschen Rechts, die in der Nähe der Grenze
des Landes Hessen mehrere Sägewerke für Buchenholz betreibt.
5 Im Jahr 2007 gingen bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zwei Beschwerden – darunter eine von Pollmeier Massivholz
– ein, mit denen gerügt wurde, dass der Abalon Hardwood Hessen GmbH (im Folgenden: Beihilfeempfängerin) für die Errichtung
eines neuen Sägewerks für Buchenholz in Hessen rechtswidrige Beihilfen gewährt worden seien.
6 Auf ein Auskunftsersuchen der Kommission hin meldeten die deutschen Behörden mit Schreiben vom 6. September 2007 aus Gründen
der Rechtssicherheit zum einen einen regionalen Investitionszuschuss in Höhe von insgesamt 4 500 000 Euro an, der vom Land
Hessen aufgrund einer bestehenden Beihilferegelung gewährt wurde, und zum anderen zwei staatliche Bürgschaften, die nach Maßgabe
der Richtlinien des Landes Hessen für die Übernahme von Bürgschaften und Garantien für die gewerbliche Wirtschaft (im Folgenden:
Richtlinien des Landes Hessen) gewährt wurden. Diese Behörden erklärten ferner, dass sie die mit den angemeldeten Maßnahmen
vorgesehenen Zahlungen in Erwartung einer positiven Entscheidung der Kommission in dem durch die Anmeldung in Gang gesetzten
Verfahren ausgesetzt hätten.
7 Die Beschwerdeführer wandten sich im Verwaltungsverfahren nicht nur gegen die angemeldeten Beihilfemaßnahmen, sondern auch
gegen drei weitere Maßnahmen.
8 In der streitigen Entscheidung ging die Kommission sowohl auf die angemeldeten Maßnahmen als auch auf die weiteren Maßnahmen
ein. Auf der Grundlage der Angaben der deutschen Behörden stellte die Kommission fest, dass der Investitionszuschuss durch
zwei Bescheide vom 20. Dezember 2006 und die staatlichen Bürgschaften durch einen Bescheid vom 28. Dezember 2006 bewilligt
worden seien.
9 Im Rahmen der Würdigung der in der streitigen Entscheidung geprüften Maßnahmen ging die Kommission auf die Frage ein, ob die
angemeldeten Maßnahmen neue Beihilfen im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März
1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] (ABl. 1999, L 83, S. 1) darstellten.
10 Insoweit gelangte die Kommission nach der Feststellung, dass die Beihilfeempfängerin ein gesundes Unternehmen sei, zum einen
zu dem Schluss, dass der Investitionszuschuss keine neue Beihilfe, sondern eine bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b
Ziff. ii der Verordnung Nr. 659/1999 darstelle, die mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sei.
11 Was zum anderen die staatlichen Bürgschaften anbelangt, führte die Kommission aus, dass sie nach der zum Zeitpunkt der Bewilligung
im Jahr 2006 geltenden De-minimis-Regel gewährt worden seien. Das Beihilfeelement dieser Bürgschaften sei anhand der Richtlinien des Landes Hessen berechnet
worden, die vorsähen, dass sich das Beihilfeelement der von den Behörden des Landes Hessen an nicht in Schwierigkeiten befindliche
Unternehmen gewährten Bürgschaften auf 0,5 % des verbürgten Betrags belaufe (im Folgenden: 0,5%-Methode). Diese Methode stehe
im Einklang mit einer von der Kommission genehmigten und in mehreren Entscheidungen bestätigten Praxis, und im vorliegenden
Fall überschreite das aus der Anwendung dieser Methode resultierende Beihilfeelement von 93 250 Euro nicht die in Art. 2 Abs. 2
der Verordnung Nr. 69/2001 vorgesehene Obergrenze von 100 000 Euro und falle daher in den Anwendungsbereich dieser Verordnung.
Die der Beihilfeempfängerin gewährten staatlichen Bürgschaften seien mithin keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 87
Abs. 1 EG und unterlägen daher auch nicht der in Art. 88 Abs. 3 EG vorgesehenen Anmeldepflicht.
12 Die Kommission prüfte außerdem die übrigen Maßnahmen, gegen die sich die Beschwerden richteten, und stellte fest, dass es
sich bei ihnen nicht um staatliche Beihilfen handele.
13 Aufgrund dieser Erwägungen und ohne Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens gemäß Art. 88 Abs. 2 EG entschied die Kommission,
keine Einwände gegen die angemeldeten Maßnahmen und die übrigen Maßnahmen, gegen die sich die Beschwerden richteten, zu erheben.
Mit dem Schreiben D/55056 teilte die Kommission Pollmeier Massivholz im Wesentlichen mit, dass deren Beschwerde im Rahmen
des durch die Anmeldung in Gang gesetzten Verfahrens geprüft worden sei, und übermittelte ihr eine Kopie der streitigen Entscheidung.
Die Kommission teilte dieser Gesellschaft ferner mit, dass ihre Dienststellen das durch die Beschwerden in Gang gesetzte Verfahren
als abgeschlossen betrachteten.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
14 Mit Klageschrift, die am 25. Februar 2009 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Pollmeier Massivholz Klage auf Nichtigerklärung
der streitigen Entscheidung und der in dem Schreiben D/55056 angeblich enthaltenen Entscheidung.
15 Durch Beschluss des Präsidenten der Dritten Kammer des Gerichts vom 22. September 2009 ist das Land Hessen als Streithelfer
zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.
16 Zur Stützung ihrer Klage machte Pollmeier Massivholz sieben Klagegründe geltend. Mit dem dritten und dem siebten Klagegrund
wurde zum einen ein Verstoß gegen Art. 88 Abs. 2 und 3 EG gerügt, da die Kommission kein förmliches Prüfverfahren eröffnet
habe, obwohl ernsthafte Schwierigkeiten bestanden hätten, deren Vorliegen sich u. a. daraus ergeben habe, dass die Anwendung
der 0,5%-Methode zur Bestimmung des Beihilfeelements der staatlichen Bürgschaften unzureichend und unvollständig geprüft worden
sei, und zum anderen ein Verstoß gegen Art. 87 Abs. 1 EG und Art. 88 Abs. 3 EG, soweit die gewährten staatlichen Bürgschaften
nach Ansicht der Kommission als De-minimis-Beihilfen einzustufen seien.
17 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die streitige Entscheidung für nichtig erklärt, soweit die Kommission darin festgestellt
hat, dass die vom Land Hessen gewährten staatlichen Bürgschaften keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG
darstellten, und die Klage im Übrigen abgewiesen.
18 Dabei hat das Gericht zum einen die Klage insoweit als unzulässig abgewiesen, als sie sich gegen die Entscheidung richtete,
die in dem Schreiben D/55056 enthalten sein soll, und ist zum anderen den im Rahmen des dritten Klagegrundes erhobenen Rügen
hinsichtlich der Einstufung der staatlichen Bürgschaften als De-minimis-Beihilfen gefolgt. Die übrigen Rügen und Klagegründe hat es zurückgewiesen.
Anträge der Parteien
19 Mit seinem Rechtsmittel beantragt das Land Hessen,
– das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als die streitige Entscheidung für nichtig erklärt wird;
– die Klage in vollem Umfang abzuweisen;
– Pollmeier Massivholz die Kosten des Landes Hessen für die Verfahren vor dem Gericht und dem Gerichtshof aufzuerlegen.
20 Pollmeier Massivholz und die Kommission beantragen, das Rechtsmittel zurückzuweisen und dem Land Hessen die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
21 Das Land Hessen stützt sein Rechtsmittel auf vier Gründe.
Zum ersten Rechtsmittelgrund: Verkennung des Beurteilungsspielraums der Kommission bei der Festlegung des Beihilfewertes der
Bürgschaften
Vorbringen der Parteien
22 Der erste Rechtsmittelgrund gliedert sich in drei Teile.
23 Mit dem ersten Teil rügt das Land Hessen, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es in Rn. 150 des angefochtenen
Urteils die Ansicht vertreten habe, dass es hinsichtlich der Frage, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich von Art. 87
Abs. 1 EG falle, eine umfassende Prüfung durchzuführen habe. Bei der Festlegung des präzisen Wertes einer Beihilfe komme der
Kommission nämlich ein Beurteilungsspielraum zu, der der gerichtlichen Kontrolle entzogen sei. Im vorliegenden Fall habe die
Kommission ihren Beurteilungsspielraum dahin gehend ausgeübt, dass sie den Beihilfewert der streitigen Bürgschaften nach der
0,5%-Methode berechnet habe, und ihre Entscheidung sei der Kontrolle des Unionsrichters entzogen.
24 Im Rahmen des zweiten Teils macht das Land Hessen geltend, das Gericht habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, die Veröffentlichung
der Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen
und Bürgschaften (ABl. 2000, C 71, S. 14, im Folgenden: Mitteilung über Bürgschaften) stehe im vorliegenden Fall der Anwendung
der 0,5%-Methode entgegen. Die Tatsache, dass sich die Kommission erneut und diesmal in Form einer Mitteilung zur Frage der
Berechnung des Beihilfewertes von Bürgschaften geäußert habe, könne ihrer ständigen Praxis, diese Methode anzuwenden, nicht
die Wirksamkeit nehmen. Aus dem in Rn. 172 des angefochtenen Urteils genannten Schreiben der Kommission vom 11. November 1998
ergebe sich, dass es sich um eine gegenüber der Regelung in der Mitteilung über Bürgschaften speziellere Praxis handele. Des
Weiteren sei das Gericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass die in Rn. 176 des Urteils angeführte Entscheidungspraxis der
Kommission keine Bedeutung habe. Die Bürgschaften, um die es in den in dieser Randnummer des angefochtenen Urteils genannten
Entscheidungen gegangen sei, seien nämlich alle nach dem Inkrafttreten der Mitteilung über Bürgschaften genehmigt worden.
25 Mit dem dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes rügt das Land Hessen, das Gericht habe einen Fehler begangen, indem es
in den Rn. 158 ff. des angefochtenen Urteils den Standpunkt eingenommen habe, dass die Mitteilung über Bürgschaften inhaltlich
der Anwendung der 0,5%-Methode im vorliegenden Fall entgegengestanden habe. Diese Mitteilung erlaube nämlich die Anwendung
„anderer sachlich gerechtfertigter und allgemein akzeptierter Verfahren“. Die 0,5%-Methode entspreche dieser Definition. Das
Gericht habe daher in Rn. 186 des angefochtenen Urteils zu Unrecht die Auffassung vertreten, dass die Kommission nicht geprüft
habe, ob die Anwendung der Methode nach dieser Mitteilung rechtmäßig gewesen sei. Zudem bedeute das Fehlen einer solchen Prüfung,
dass der Fall klar gewesen sei und die Kommission vor keinen ernsthaften Schwierigkeiten gestanden habe.
26 Die Kommission hält den ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes für unbegründet. Pollmeier Massivholz hält diesen Rechtsmittelgrund
insgesamt für unbegründet.
Würdigung durch den Gerichtshof
27 Hinsichtlich des ersten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs,
dass der Begriff „staatliche Beihilfe“, wie er im AEU-Vertrag definiert ist, ein Rechtsbegriff und anhand objektiver Kriterien
auszulegen ist. Deshalb hat der Unionsrichter die Frage, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich von Art. 107 Abs. 1 AEUV
fällt, grundsätzlich unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits und des technischen
oder komplexen Charakters der von der Kommission vorgenommenen Beurteilungen umfassend zu prüfen (Urteile vom 22. Dezember
2008, British Aggregates/Kommission, C‑487/06 P, EU:C:2008:757, Rn. 111, und vom 4. September 2014, SNCM und Frankreich/Corsica
Ferries France, C‑533/12 P und C‑536/12 P, EU:C:2014:2142, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Der Gerichtshof hat zwar auch entschieden, dass der Unionsrichter im Rahmen dieser Kontrolle nicht die wirtschaftliche Beurteilung
seitens der Kommission durch seine eigene ersetzen darf und dass die Kontrolle, die die Unionsgerichte in Bezug auf die Würdigung
komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten durch die Kommission ausüben, eine beschränkte Kontrolle ist, in deren Rahmen nur
geprüft werden darf, ob die Vorschriften über das Verfahren und die Begründung eingehalten wurden, ob der Sachverhalt zutreffend
festgestellt wurde und ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder Ermessensmissbrauch vorliegt (Urteil vom 2. September
2010, Kommission/Scott, C‑290/07 P, EU:C:2010:480, Rn. 66).
29 Im vorliegenden Fall geht jedoch aus dem angefochtenen Urteil – insbesondere aus seiner Rn. 169 – hervor, dass das Gericht
nicht die Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten durch die Kommission kontrolliert hat, sondern im Einklang mit
der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung untersucht hat, ob die Kommission die Vereinbarkeit der
Anwendung der 0,5%-Methode mit der Mitteilung über Bürgschaften geprüft hat, um eine ordnungsgemäße Anwendung von Art. 107
AEUV sicherzustellen.
30 Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist daher zurückzuweisen.
31 Hinsichtlich des zweiten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes ist erstens festzustellen, dass das Vorbringen des Landes Hessen,
das Gericht habe einen Fehler begangen, indem es die Auffassung vertreten habe, dass die Veröffentlichung der Mitteilung über
Bürgschaften der Anwendung der 0,5%-Methode entgegenstehe, auf einem fehlerhaften Verständnis des angefochtenen Urteils beruht
und deshalb zurückzuweisen ist. Das Gericht hat in dem Urteil nämlich nicht geprüft, ob diese Methode mit der Regelung in
der Mitteilung vereinbar ist. Aus den Rn. 158, 167 und 169 des Urteils geht vielmehr hervor, dass das Gericht nach der Feststellung,
dass die Mitteilung über Bürgschaften im vorliegenden Fall anwendbar sei – was im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels nicht
in Abrede gestellt wird –, lediglich ausgeführt hat, dass die Kommission keine Prüfung der Vereinbarkeit der Anwendung der
0,5%-Methode mit der Regelung in der Mitteilung vorgenommen habe, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen sei.
32 Was zweitens das Vorbringen des Landes Hessen anbelangt, dass sich aus dem in Rn. 172 des angefochtenen Urteils genannten
Schreiben der Kommission vom 11. November 1998 ergebe, dass die 0,5%-Methode eine von der Regelung in der Mitteilung über
Bürgschaften abweichende Sonderregelung darstelle, ist darauf hinzuweisen, dass das Rechtsmittel nach Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2
AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf Rechtsfragen beschränkt ist und die Würdigung
der Tatsachen und der Beweismittel somit, außer im Fall ihrer Verfälschung, keine Rechtsfrage ist, die als solche der Kontrolle
des Gerichtshofs im Rahmen eines Rechtsmittels unterläge (Beschluss vom 5. Februar 2015, Griechenland/Kommission, C‑296/14 P,
nicht veröffentlicht, EU:C:2015:72, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Mit diesem Vorbringen wendet sich das Land Hessen – ohne eine Verfälschung geltend zu machen – in Wirklichkeit gegen die vom
Gericht in den Rn. 174 und 175 des angefochtenen Urteils vorgenommene Würdigung, dass die Kommission die Anwendung der 0,5%-Methode,
wie sich aus ihrem Schreiben vom 11. November 1998 ergebe, nur vorläufig akzeptiert habe und dass damit eine Beschränkung
der Kommission bei der Beurteilung der zeitlich nach der Mitteilung über Bürgschaften gewährten staatlichen Bürgschaften weder
bezweckt noch bewirkt worden sei. Dieses Vorbringen ist deshalb als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen.
34 Gleiches gilt drittens für das Vorbringen des Landes Hessen, dass das Gericht zu Unrecht die Auffassung vertreten habe, die
in Rn. 176 des angefochtenen Urteils angeführte Entscheidungspraxis der Kommission habe keine Bedeutung. Mit diesem Vorbringen
wendet sich das Land Hessen nämlich in Wirklichkeit gegen die vom Gericht in Rn. 176 vorgenommene Würdigung, wonach diese
Praxis nicht die Schlussfolgerung in Frage stellt, dass die der Beihilfeempfängerin gewährten staatlichen Bürgschaften anhand
der Mitteilung über Bürgschaften zu prüfen seien, weil die von dieser Praxis betroffenen staatlichen Bürgschaften alle unter
Beihilferegelungen fielen, die vor dem Erlass dieser Mitteilung genehmigt worden seien.
35 Nach alledem ist der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ebenfalls zurückzuweisen.
36 Zum dritten Teil dieses Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass das Gericht in den Rn. 158 ff. des angefochtenen Urteils
entgegen dem Vorbringen des Landes Hessen nicht die Auffassung vertreten hat, dass die Mitteilung über Bürgschaften inhaltlich
der Anwendung der 0,5%-Methode entgegensteht.
37 Wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, betraf die vom Gericht vorgenommene Prüfung nämlich nicht die
Vereinbarkeit der Anwendung dieser Methode mit der Regelung in der Mitteilung, sondern das Vorliegen ernsthafter Schwierigkeiten
hinsichtlich der Frage, ob die streitigen Bürgschaften als De-minimis-Beihilfen eingestuft werden können.
38 Insoweit hat das Gericht in den Rn. 49 und 50 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt, dass der Begriff der ernsthaften
Schwierigkeiten, bei deren Bestehen die Kommission das förmliche Prüfverfahren eröffnen muss, seinem Wesen nach objektiv ist
und es einen Anhaltspunkt für das Bestehen ernsthafter Schwierigkeiten darstellt, wenn die Prüfung durch die Kommission im
Vorprüfungsverfahren unzureichend oder unvollständig war.
39 Das Gericht konnte daher in Rn. 186 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei feststellen, dass die Tatsache, dass die Kommission
nicht geprüft hat, ob die Anwendung der 0,5%-Methode bei der Bestimmung des Beihilfeelements der der Beihilfeempfängerin gewährten
Bürgschaften nach der Mitteilung über Bürgschaften rechtmäßig war, ein Indiz für das Bestehen ernsthafter Schwierigkeiten
hinsichtlich der Frage darstellte, ob die streitigen Bürgschaften als De-minimis-Beihilfen eingestuft werden konnten.
40 Demnach ist auch der dritte Teil und infolgedessen der erste Rechtsmittelgrund insgesamt als teils unbegründet und teils offensichtlich
unzulässig zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verkennung des objektiven Beihilfebegriffs
Vorbringen der Parteien
41 Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund rügt das Land Hessen, das Gericht habe in den Rn. 154, 171 und 173 des angefochtenen
Urteils unzutreffenderweise angenommen, dass die 0,5%-Methode nur im Rahmen genehmigter Beihilferegelungen Anwendung finden
könne. Da die Bestimmung des Beihilfewertes eine Auslegung des objektiven Beihilfebegriffs im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV
voraussetze, könne der Wert einer Beihilfe nämlich nicht unterschiedlich bestimmt werden, je nachdem, ob sie aufgrund einer
genehmigten Beihilferegelung vergeben werde oder nicht. Durch die Tatsache, dass eine Bürgschaftsregelung notifiziert und
von der Kommission genehmigt worden sei, könne sich der Beihilfewert der betreffenden Bürgschaft nicht ändern. Außerdem sei
die 0,5%-Methode ein angemessenes Mittel zur Bestimmung eines Näherungswertes für das Bruttosubventionsäquivalent einer Bürgschaft
im Sinne von Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 69/2001, wenn keine empirischen Daten über die Ausfallraten von Bürgschaften
an gesunde Unternehmen vorlägen. Spätere De-minimis-Regelungen sähen ebenfalls Näherungsmethoden vor.
42 Nach Ansicht von Pollmeier Massivholz ist der zweite Rechtsmittelgrund als ins Leere gehend zurückzuweisen. Diese Gesellschaft
macht ferner geltend, das Land Hessen habe implizit behauptet, es habe bis ins Jahr 2006 keine empirischen Daten über die
Ausfallraten von Bürgschaften an gesunde Unternehmen gegeben. Dies sei ein neuer Vortrag des Landes Hessen, der im Rahmen
eines Rechtsmittels unzulässig sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
43 Ohne dass über die von Pollmeier Massivholz erhobene Einrede der Unzulässigkeit entschieden zu werden braucht, ist unmittelbar
festzustellen, dass der zweite Rechtsmittelgrund nicht durchgreifen kann.
44 Zum einen hat das Gericht in Rn. 154 des angefochtenen Urteils nämlich festgestellt, dass die der Beihilfeempfängerin gewährten
Bürgschaften nicht unter eine von der Kommission genehmigte Beihilferegelung fielen, da die Richtlinien des Landes Hessen,
die die Anwendung der 0,5%-Methode vorsähen, zum Zeitpunkt der Gewährung der Beihilfen bei der Kommission nicht angemeldet
und daher nicht Gegenstand einer entsprechenden Genehmigungsentscheidung gewesen seien.
45 In Rn. 171 des Urteils hat das Gericht festgestellt, dass die Praxis der Kommission, die Zugrundelegung des Satzes von 0,5 %
zu akzeptieren, zwischen 1991 und 1998 im Rahmen der von der Kommission gemäß Art. 88 Abs. 1 EG vorgenommenen fortlaufenden
Prüfung der Leitlinien der verschiedenen Länder und des Bundes für staatliche Bürgschaften entstanden sei und die Leitlinien
des Landes Hessen nie Gegenstand dieser fortlaufenden Prüfung gewesen seien.
46 In Rn. 173 des Urteils hat das Gericht festgestellt, dass diese Praxis vor dem Erlass der Mitteilung über Bürgschaften im
Rahmen eines speziellen Verfahrens zur fortlaufenden Prüfung bestehender Beihilfen entstanden sei und die Leitlinien des Landes
Hessen nie Gegenstand dieses Verfahrens gewesen seien.
47 Entgegen dem Vorbringen des Landes Hessen geht aus den Rn. 154, 171 und 173 des angefochtenen Urteils nicht hervor, dass das
Gericht angenommen hat, dass die 0,5%-Methode nur im Rahmen genehmigter Beihilferegelungen Anwendung finden kann. Das Gericht
hat in Rn. 154 des Urteils nämlich lediglich ausgeführt, dass die der Beihilfeempfängerin gewährten Bürgschaften nicht unter
eine Beihilferegelung fielen, in deren Rahmen die Kommission die Anwendung der 0,5%-Methode akzeptiert habe. In ähnlicher
Weise hat das Gericht in den Rn. 171 und 173 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen lediglich darauf hingewiesen, dass
die Leitlinien des Landes Hessen nie Gegenstand des Verfahrens der fortlaufenden Prüfung der Leitlinien der verschiedenen
Länder gewesen seien, aus dem die Praxis, die Anwendung dieser Methode zu akzeptieren, hervorgegangen sei.
48 Zum anderen geht jedenfalls das Vorbringen des Landes Hessen ins Leere, dass die 0,5%-Methode ein angemessenes Mittel zur
Bestimmung eines Näherungswertes für das Bruttosubventionsäquivalent einer Bürgschaft im Sinne von Art. 2 Abs. 3 der Verordnung
Nr. 69/2001 sei, wenn keine empirischen Daten über die Ausfallraten von Bürgschaften an gesunde Unternehmen vorlägen. Wie
in Rn. 37 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, betraf die Prüfung des Gerichts nämlich nicht die Frage, ob die Anwendung
dieser Methode zulässig ist, sondern das Vorliegen ernsthafter Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage, ob die streitigen Bürgschaften
als De-minimis-Beihilfen eingestuft werden können.
49 Nach alledem ist der zweite Rechtsmittelgrund als teils unbegründet und teils ins Leere gehend zurückzuweisen.
Zum dritten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
Vorbringen der Parteien
50 Der dritte Rechtsmittelgrund gliedert sich in zwei Teile.
51 Mit dem ersten Teil rügt das Land Hessen, das Gericht habe gegen den in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union verankerten allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, indem es in den Rn. 171, 173, 175 und 176 des angefochtenen Urteils
bei der Berechnung des Beihilfewertes der streitigen Bürgschaften zwischen aufgrund genehmigter Beihilferegelungen gewährten
Beihilfen und nicht unter diese Regelungen fallenden Beihilfen unterschieden habe. Bei diesen beiden Kategorien von Bürgschaften
handele es sich nämlich um vergleichbare Sachverhalte, die gleich zu behandeln seien. Der wirtschaftliche Wert einer Bürgschaft
könne nicht davon abhängen, ob die sie einführenden Maßnahmen bei der Kommission angemeldet worden seien oder nicht. Außerdem
habe das Gericht durch diesen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung auch gegen allgemeine Grundsätze des Beihilferechts
verstoßen. Eine Beihilfe, die die Voraussetzungen erfülle, um als De-minimis-Beihilfe eingestuft werden zu können, falle nämlich nicht unter Art. 107 Abs. 1 AEUV und könne daher nicht Gegenstand einer
Entscheidung nach Art. 107 Abs. 3 AEUV sein. Daher könne die Kommission angemeldete Beihilfen nicht gegenüber nicht angemeldeten
Beihilfen privilegieren.
52 Mit dem zweiten Teil rügt das Land Hessen, das Gericht habe gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, indem es in Rn. 185
des angefochtenen Urteils zwischen vor der Veröffentlichung der Mitteilung über Bürgschaften und nach dieser Veröffentlichung
gewährten Bürgschaften unterschieden habe. Die Anwendung der sich aus der Entscheidungspraxis der Kommission ergebenden 0,5%-Methode
stelle eine gegenüber dieser Mitteilung speziellere Regelung dar. Außerdem sei die Anwendung dieser Methode selbst dann zulässig,
wenn sie am Maßstab der Mitteilung zu messen sei, und diese Methode sei nach dem Erlass der Mitteilung weiter intensiv angewandt
worden.
53 Pollmeier Massivholz hält den dritten Rechtsmittelgrund für unbegründet.
Würdigung durch den Gerichtshof
54 Der Grundsatz der Gleichbehandlung verbietet es u. a., gleiche Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln, sofern eine solche
Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (Beschluss vom 22. März 2012, Italien/Kommission, C‑200/11 P, nicht veröffentlicht,
EU:C:2012:165, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Hinsichtlich des ersten Teils des dritten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass er nicht durchgreifen kann, da er auf
einem fehlerhaften Verständnis des angefochtenen Urteils beruht. Aus den Ausführungen in den Rn. 44 bis 47 des vorliegenden
Urteils ergibt sich nämlich, dass das Gericht in den Rn. 171 und 173 des angefochtenen Urteils nicht angenommen hat, dass
die 0,5%-Methode nur im Rahmen genehmigter Beihilferegelungen Anwendung finden kann. Daher kann nicht geltend gemacht werden,
dass das Gericht bei der Berechnung des Beihilfeelements der Bürgschaften zwischen aufgrund genehmigter Beihilferegelungen
gewährten Beihilfen und nicht unter diese Regelungen fallenden Beihilfen unterschieden hat.
56 Im Übrigen ist festzustellen, dass das Gericht in den Rn. 175 und 176 des Urteils im Wesentlichen lediglich darauf hingewiesen
hat, dass Bürgschaften wie die der Beihilfeempfängerin gewährten, die die Praxis der Kommission, die Zugrundelegung eines
Satzes von 0,5 % zu akzeptieren, nicht betroffen habe und die in den zeitlichen Anwendungsbereich der Mitteilung über Bürgschaften
fielen, nach dieser Mitteilung zu beurteilen seien. Daher entspricht die vom Land Hessen vorgetragene unterschiedliche Behandlung
einem objektiv unterschiedlichen Sachverhalt.
57 Hinsichtlich des zweiten Teils des dritten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass das Land Hessen nichts zur Stützung
seiner These eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung vorgetragen hat und im Wesentlichen lediglich die Argumente
geltend gemacht hat, die in den Rn. 33 und 48 des vorliegenden Urteils bereits zurückgewiesen worden sind. Daher kann dieser
Teil ebenso wenig durchgreifen.
58 Nach alledem ist der dritte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum vierten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
Vorbringen der Parteien
59 Der vierte Rechtsmittelgrund besteht aus zwei Teilen.
60 Im Rahmen des ersten Teils macht das Land Hessen geltend, das Gericht habe den Grundsatz des Vertrauensschutzes verkannt,
indem es die Ansicht vertreten habe, dass das Schreiben der Kommission vom 11. November 1998 keine begründete Erwartung habe
wecken können, dass die Kommission die 0,5%-Methode anwenden werde. Das Gericht habe sich in Rn. 183 des angefochtenen Urteils
zu Unrecht darauf gestützt, dass das Schreiben vom 11. November 1998 der Veröffentlichung der Mitteilung über Bürgschaften
vorausgegangen sei. Dies sei nämlich irrelevant, weil die in dieser Mitteilung vorgesehenen Kriterien nicht die Anwendung
der 0,5%-Methode ausschlössen und die Anwendung dieser Methode jedenfalls eine speziellere Regelung darstelle.
61 Mit dem zweiten Teil trägt das Land Hessen vor, dass sich ein berechtigtes Vertrauen auf die Anwendung der 0,5%-Methode durch
die Kommission daraus ergebe, dass die Kommission die Rechtmäßigkeit der Leitlinien des Landes Hessen nicht beanstandet habe,
obwohl diese Leitlinien, die die Anwendung dieser Methode vorsähen, im Rahmen des Verfahrens, das zu der streitigen Entscheidung
geführt habe, der Kommission zur Kenntnis gebracht worden seien.
62 Pollmeier Massivholz hält zum einen den zweiten Teil des vierten Rechtsmittelgrundes für unzulässig, weil er eine Wiederholung
des Vorbringens im ersten Rechtszug darstelle, und zum anderen diesen Rechtsmittelgrund insgesamt für unbegründet.
Würdigung durch den Gerichtshof
63 Hinsichtlich des ersten Teils des vierten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 181 des angefochtenen
Urteils zu Recht ausgeführt hat, dass sich jeder, bei dem ein Unionsorgan durch klare Zusicherungen begründete Erwartungen
geweckt hat, auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann. Klare, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende
Auskünfte stellen unabhängig von der Form ihrer Mitteilung solche Zusicherungen dar.
64 Das Gericht hat jedoch in Ausübung der ihm zustehenden ausschließlichen Zuständigkeit für die Feststellung und Beurteilung
der relevanten Tatsachen sowie der ihm vorgelegten Beweise in Rn. 183 des Urteils festgestellt, dass das Schreiben der Kommission
vom 11. November 1998 in einem besonderen Kontext stehe und die in diesem Schreiben vorgesehenen zeitlichen Beschränkungen
der Akzeptanz der Anwendung der 0,5%-Methode unbestimmt gewesen seien.
65 Daher kann das Land Hessen nicht mit Erfolg geltend machen, dass das Gericht den Grundsatz des Vertrauensschutzes verkannt
hat.
66 Das Vorbringen des Landes Hessen zur Erheblichkeit des Umstands, dass das Schreiben der Kommission vom 11. November 1998 der
Veröffentlichung der Mitteilung über Bürgschaften vorausgegangen sei, ist aus denselben Gründen wie den in den Rn. 33 und
48 des vorliegenden Urteils angeführten zurückzuweisen.
67 Zum zweiten Teil des vierten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass dieser entgegen dem Vorbringen von Pollmeier Massivholz
zulässig ist. Da das Land Hessen die Anwendung des Unionsrechts – hier des Grundsatzes des Vertrauensschutzes – durch das
Gericht beanstandet, kann es ihm nämlich nicht deshalb verwehrt sein, diese Rechtsfrage im Rechtsmittelverfahren erneut aufzuwerfen,
weil sie im ersten Rechtszug geprüft worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami
u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 47).
68 Was die Begründetheit dieses zweiten Teils anbelangt, können in der bloßen Tatsache, dass die Kommission im Verwaltungsverfahren
die 0,5%-Methode nicht beanstandet hat, keine klaren Zusicherungen der Kommission gesehen werden, die begründete Erwartungen
in Bezug auf die Anwendung dieser Methode hätten wecken können, denn das Unterbleiben einer Beanstandung kann klaren, nicht
an Bedingungen geknüpften und übereinstimmenden Auskünften im Sinne von Rn. 63 des vorliegenden Urteils nicht gleichgestellt
werden.
69 In Anbetracht dessen ist der vierte Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
70 Nach alledem ist das Rechtsmittel zurückzuweisen.
Kosten
71 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet
ist. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach ihrem Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet,
ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Pollmeier Massivholz und die Kommission
beantragt haben, das Land Hessen zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und dieses mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind
ihm die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Das Land Hessen trägt die Kosten.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 5. Oktober 2016.#Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) gegen CJ.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Vertragsbediensteter – Befristeter Vertrag – Kündigung – Zerstörung des Vertrauensverhältnisses – Anspruch auf rechtliches Gehör.#Rechtssache T-395/15 P.
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62015TJ0395
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ECLI:EU:T:2016:598
| 2016-10-05T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62015TJ0395 - EN - EUR-Lex
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EUR-Lex - CELEX:62015TJ0395 - EN
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 28. September 2016.#Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland gegen Europäische Kommission.#EAGFL, Abteilung Garantie – EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem – Kürzungen und Ausschlüsse bei Nichteinhaltung der anderweitigen Verpflichtungen – Pauschale finanzielle Berichtigung durch die Kommission gemäß den hierfür geltenden internen Leitlinien – Beweislast – Auslegung des Anhangs II der Verordnung (EG) Nr. 73/2009.#Rechtssache T-437/14.
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62014TJ0437
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ECLI:EU:T:2016:577
| 2016-09-28T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TJ0437
URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
28. September 2016 (*1)
„EAGFL, Abteilung Garantie — EGFL und ELER — Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben — Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem — Kürzungen und Ausschlüsse bei Nichteinhaltung der anderweitigen Verpflichtungen — Pauschale finanzielle Berichtigung durch die Kommission gemäß den hierfür geltenden internen Leitlinien — Beweislast — Auslegung des Anhangs II der Verordnung (EG) Nr. 73/2009“
In der Rechtssache T‑437/14
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch M. Holt und J. Kraehling als Bevollmächtigte im Beistand von V. Wakefield, Barrister,
Kläger,
unterstützt durch
Königreich der Niederlande, vertreten durch M. Bulterman und B. Koopman als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch K. Skelly und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung von neun Einträgen im Anhang des Durchführungsbeschlusses 2014/191/EU der Kommission vom 4. April 2014 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. 2014, L 104, S. 43) in Bezug auf den im Anhang des Beschlusses aufgeführten Posten betreffend finanzielle Berichtigungen in Höhe von 5606459,48 Euro, die hinsichtlich von Ausgaben, die das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland in den Haushaltsjahren 2008, 2009 und 2010 in Schottland getätigt hat, wegen ihrer Nichtvereinbarkeit mit den Vorschriften der Europäischen Union vorgenommen wurden,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek, der Richterin I. Labucka (Berichterstatterin) und des Richters V. Kreuschitz,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. November 2015
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
1 Am 29. September 2003 erließ der Rat der Europäischen Union die Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 2019/93, (EG) Nr. 1452/2001, (EG) Nr. 1453/2001, (EG) Nr. 1454/2001, (EG) Nr. 1868/94, (EG) Nr. 1251/1999, (EG) Nr. 1254/1999, (EG) Nr. 1673/2000, (EWG) Nr. 2358/71 und (EG) Nr. 2529/2001 (ABl. 2003, L 270, S. 1).
2 Nach Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung musste „[e]in Betriebsinhaber, der Direktzahlungen bezieht, … die Grundanforderungen an die Betriebsführung nach Anhang III … einhalten“.
3 Art. 4 der Verordnung sah vor:
„(1) Die Grundanforderungen an die Betriebsführung gemäß Anhang III werden in den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft in folgenden Bereichen festgelegt:
—
Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanzen,
—
Umwelt,
—
Tierschutz.
(2) Die in Anhang III aufgeführten Rechtsvorschriften gelten im Rahmen dieser Verordnung in ihrer jeweils aktuellen Fassung und im Falle von Richtlinien in der von den Mitgliedstaaten umgesetzten Fassung.“
4 Art. 6 („Kürzung oder Ausschluss von Direktzahlungen“) der Verordnung bestimmte:
„(1) Werden die Grundanforderungen … aufgrund einer unmittelbar dem einzelnen Betriebsinhaber zuzuschreibenden Handlung oder Unterlassung nicht erfüllt, so wird der Gesamtbetrag der in dem betreffenden Kalenderjahr … zu gewährenden Direktzahlungen gemäß Artikel 7 gekürzt oder ausgeschlossen.
…“
5 Art. 7 Abs. 1 der Verordnung sah den Erlass von Durchführungsbestimmungen zu den Kürzungen und Ausschlüssen gemäß Art. 6 vor, wobei „Schwere, Ausmaß, Dauer und Häufigkeit der Verstöße sowie die Kriterien nach den Absätzen 2, 3 und 4“ zu berücksichtigen waren. Diese Absätze bestimmten u. a.:
„(2) Bei Fahrlässigkeit beträgt die Kürzung höchstens 5 %, bei wiederholten Verstößen höchstens 15 %.
(3) Bei vorsätzlichen Verstößen beträgt die Kürzung grundsätzlich nicht weniger als 20 % und kann bis zum vollständigen Ausschluss von einer oder mehreren Beihilferegelungen gehen und für ein oder mehrere Kalenderjahre gelten.
…“
6 Der die Grundanforderungen an die Betriebsführung (im Folgenden: GAB) auflistende Anhang III wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 21/2004 des Rates vom 17. Dezember 2003 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Schafen und Ziegen und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 sowie der Richtlinien 92/102/EWG und 64/432/EWG (ABl. 2004, L 5, S. 8) geändert und um einen Punkt 8a (im Folgenden: GAB 8a) mit folgendem Wortlaut ergänzt:
„Verordnung … Nr. 21/2004 …: Artikel 3, 4 und 5“.
7 Die Verordnung Nr. 1782/2003 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2009 durch die Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005, (EG) Nr. 247/2006, (EG) Nr. 378/2007 sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 (ABl. 2009, L 30, S. 16) aufgehoben und ersetzt (vgl. Art. 146 Abs. 1 und Art. 149). Die Verordnung Nr. 73/2009 wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 637/2008 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 608) aufgehoben. Gemäß ihrem Art. 74 gilt diese Verordnung ab dem 1. Januar 2015.
8 Der dritte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 73/2009 lautete:
„Mit der Verordnung … Nr. 1782/2003 wurde der Grundsatz festgelegt, dass die Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebsinhaber, die bestimmte Anforderungen im Bereich der Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanzen, der Umwelt und des Tierschutzes nicht erfüllen, gekürzt bzw. die Betriebsinhaber davon ausgeschlossen werden. Diese Regelung der ‚Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen‘ (‚Cross-Compliance‘) ist integraler Bestandteil der gemeinschaftlichen Unterstützung in Form von Direktzahlungen und sollte daher beibehalten werden. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass sich eine Reihe von Anforderungen im Rahmen der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen nicht ausreichend auf die landwirtschaftliche Tätigkeit bzw. landwirtschaftliche Fläche bezieht oder eher die nationalen Behörden als die Betriebsinhaber betrifft. Daher empfiehlt es sich, den Geltungsbereich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen anzupassen.“
9 Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 bestimmte:
„(1) Ein Betriebsinhaber, der Direktzahlungen bezieht, muss die [GAB] nach Anhang II … erfüllen.
…“
10 Art. 5 dieser Verordnung sah bezüglich der GAB vor:
„(1) Die [GAB] gemäß Anhang II werden in den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft in folgenden Bereichen festgelegt:
a)
Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanzen,
b)
Umwelt,
c)
Tierschutz.
(2) Die in Anhang II aufgeführten Rechtsakte gelten in ihrer jeweils geltenden Fassung und im Falle von Richtlinien so, wie sie von den Mitgliedstaaten umgesetzt wurden.“
11 Art. 14 der Verordnung Nr. 73/2009 verpflichtete die Mitgliedstaaten, ein integriertes System zur Verwaltung und Kontrolle u. a. der anderweitigen Verpflichtungen einzurichten.
12 Art. 22 der Verordnung Nr. 73/2009 verpflichtete die Mitgliedstaaten, durch Vor-Ort-Kontrollen zu prüfen, ob die Betriebsinhaber ihren anderweitigen Verpflichtungen nachkamen.
13 Für den Fall, dass die anderweitigen Verpflichtungen nicht eingehalten wurden und diese Nichteinhaltung unmittelbar dem Betriebsinhaber anzulasten war, der den Beihilfeantrag gestellt hatte, sah Art. 23 der Verordnung vor, dass „der Gesamtbetrag der Direktzahlungen, der … diesem Betriebsinhaber gewährt [worden war] oder zu gewähren [war], nach den Durchführungsbestimmungen gemäß Artikel 24 gekürzt“ werden sollte.
14 Art. 24 der Verordnung sah den Erlass von Durchführungsbestimmungen zu den Kürzungen und Ausschlüssen vor. Ferner bestimmte er, dass bei Fahrlässigkeit die Kürzung höchstens 5 %, bei wiederholten Verstößen höchstens 15 % betragen durfte. Bei vorsätzlichen Verstößen durfte die Kürzung grundsätzlich nicht weniger als 20 % betragen und konnte bis zum vollständigen Ausschluss von einer oder mehreren Beihilferegelungen gehen und für ein oder mehrere Kalenderjahre gelten.
15 In Anhang II („[GAB] gemäß den Artikeln 4 und 5“) lautete der Eintrag betreffend die GAB 8:
„Verordnung … Nr. 21/2004 …: Artikel 3, 4 und 5“.
16 Mit der Verordnung Nr. 21/2004, auf die sich die GAB 8a der Verordnung Nr. 1782/2003 und die GAB 8 der Verordnung Nr. 73/2009 (im Folgenden zusammen: GAB 8) beziehen, wurde ein System zur Kennzeichnung und Registrierung von Schafen und Ziegen eingeführt, das gemäß ihrem 20. Erwägungsgrund eine Änderung der Verordnung Nr. 1782/2003 erforderte.
17 Art. 3 der Verordnung Nr. 21/2004 sieht vor:
„(1) Das System zur Kennzeichnung und Registrierung von Tieren umfasst folgende Elemente:
a)
Kennzeichen zur Identifikation jedes Tieres;
b)
aktuelle Bestandsregister in jedem Betrieb;
c)
Begleitdokumente;
d)
ein zentrales Betriebsregister und/oder eine elektronische Datenbank.
(2) Die Kommission und die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats haben Zugang zu allen unter diese Verordnung fallenden Informationen. Die Mitgliedstaaten und die Kommission treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle interessierten Parteien einschließlich der von dem betreffenden Staat anerkannten Verbraucherorganisationen Zugang zu diesen Informationen erhalten, vorausgesetzt, die nationalen Bestimmungen über Datenschutz und Datenvertraulichkeit bleiben gewahrt.“
18 Art. 4 der Verordnung regelt die Anforderungen an die Kennzeichnung jedes Tieres. Er verweist auf die Kennzeichnungsvorschriften nach Abschnitt A des Anhangs dieser Verordnung.
19 Art. 5 der Verordnung regelt die Anforderungen an die Registerführung und verweist auf die Vorschriften nach Abschnitt B des Anhangs dieser Verordnung.
20 Art. 6 der Verordnung regelt die Anforderungen an die Begleitdokumente und verweist auf die Vorschriften nach Abschnitt C des Anhangs dieser Verordnung.
21 Art. 7 der Verordnung bezieht sich auf das zentrale Register, während Art. 8 die elektronische Datenbank betrifft und auf die Vorschriften nach Abschnitt D des Anhangs dieser Verordnung verweist.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
22 Die Europäische Kommission überprüfte für die Antragsjahre 2008, 2009 und 2010 die Einhaltung der anderweitigen Verpflichtungen (im Folgenden: Cross-Compliance) in Schottland (Untersuchung XC/2010/002/GB Vereinigtes Königreich [Schottland]) und unterrichtete das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit Schreiben vom 24. November 2010 über die Mängel, die ihre Prüfer im schottischen Cross-Compliance-System festgestellt hatten.
23 Das Vereinigte Königreich nahm mit Antwortschreiben vom 23. Februar 2011 gegenüber der Kommission Stellung.
24 Am 19. Dezember 2011 lud die Kommission das Vereinigte Königreich schriftlich zu einer für den 21. Februar 2012 geplanten bilateralen Besprechung ein. Das Vereinigte Königreich nahm die Einladung an und erläuterte mit Schreiben vom 14. Februar 2012 seinen Standpunkt zu den von der Kommission aufgeworfenen Fragen.
25 Mit Schreiben vom 2. März 2012 übermittelte die Kommission dem Vereinigten Königreich das Protokoll der bilateralen Besprechung.
26 Im Nachgang zu dieser Besprechung stellte die Kommission in einer Mitteilung vom 27. März 2013 an das Vereinigte Königreich fest, dass die Umsetzung des Cross-Compliance-Systems in Schottland in den Jahren 2008, 2009 und 2010 nicht im Einklang mit den Vorschriften der Europäischen Union gestanden habe. Ferner informierte sie das Vereinigte Königreich über ihren Vorschlag, einen Betrag von 5606459,48 Euro von der Finanzierung durch die Union auszuschließen. In der Anlage zu ihrem Schreiben erläuterte die Kommission die Gründe für diesen Ausschluss. Im Einzelnen konstatierte sie für die Antragsjahre 2009 und 2010 erstens Unzulänglichkeiten bei der wirksamen Kontrolle der GAB 2 und 4, zweitens Mängel bei der wirksamen Kontrolle der Standards der Erhaltung in gutem landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand (im Folgenden: GLÖZ-Standards) 4, 16 und 18 sowie drittens unzureichende Kontrollen und Sanktionen hinsichtlich der GAB 8 im Rahmen der Cross-Compliance. Für das Antragsjahr 2008 konstatierte sie Unzulänglichkeiten bei der wirksamen Kontrolle der GAB 2 und 4, Mängel bei der wirksamen Kontrolle der GLÖZ-Standards 4, 16 und 18, unzureichende Kontrollen und Sanktionen hinsichtlich mehrerer GAB im Rahmen der Cross-Compliance sowie einen großzügigen Umgang mit Verstößen gegen die GAB 7 und 8. Zudem sei es hinsichtlich der GAB 4 ausgeschlossen gewesen, die 5%-Sanktion für fahrlässige Nichteinhaltung anzuwenden, und es seien nicht alle geringfügigen Verstöße systematisch erfasst worden. In ihrem Schreiben schlug die Kommission für das Jahr 2008 eine Berichtigung von 5 % vor und für die Jahre 2009 und 2010 jeweils eine Berichtigung von 2 %, da die schottischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen ergriffen hätten, um einige der festgestellten Mängel zu beseitigen.
27 Mit Schreiben vom 14. Mai 2013 beantragte die Koordinierungsstelle des Vereinigten Königreichs, die Sache an die Schlichtungsstelle zu verweisen. Die dieser Stelle vorgelegten Fragen betrafen zum einen die finanzielle Berichtigung wegen lückenhafter Durchführung der Cross-Compliance-Kontrollen im Zusammenhang mit der GAB 4, zum anderen die Auslegung der GAB 8. Die Schlichtungsverhandlung fand am 18. Juli 2013 statt, führte aber zu keiner Einigung.
28 Mit Schreiben vom 8. November 2013 teilte die Kommission dem Vereinigten Königreich mit, dass sie an ihrem im Schreiben vom 27. März 2013 dargelegten Standpunkt festhalte.
29 Mit dem Durchführungsbeschluss 2014/191/EU vom 4. April 2014 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. 2014, L 104, S. 43, im Folgenden: angefochtener Beschluss) schloss die Kommission in Übereinstimmung mit dem Vorschlag in ihrer Mitteilung vom 27. März 2013 bestimmte in den Haushaltsjahren 2008, 2009 und 2010 in Schottland getätigte Ausgaben wegen Nichtübereinstimmung mit den Vorschriften der Europäischen Union von der Finanzierung durch die Union aus (vgl. Art. 1) und setzte eine pauschale Berichtigung von 5 % für das Jahr 2008 bzw. jeweils 2 % für die Jahre 2009 und 2010 fest.
Verfahren und Anträge der Parteien
30 Das Vereinigte Königreich hat mit Klageschrift, die am 16. Juni 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
31 Das Vereinigte Königreich beantragt,
—
neun Einträge im Anhang des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
32 Die Kommission beantragt,
—
die Klage als unbegründet abzuweisen;
—
dem Vereinigten Königreich die Kosten aufzuerlegen.
33 Mit Schriftsatz, der am 2. April 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat das Königreich der Niederlande beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Vereinigten Königreichs zugelassen zu werden.
34 Am 7. Juli 2015 ist das Königreich der Niederlande mit Beschluss des Präsidenten der Vierten Kammer des Gerichts gemäß Art. 116 § 6 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Vereinigten Königreichs zugelassen worden.
35 Am 30. September 2015 hat das Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung den Parteien eine Reihe von schriftlichen Fragen zur Beantwortung in der mündlichen Verhandlung gestellt und der Kommission aufgegeben, das Dokument VI/5330/97 vom 23. Dezember 1997 („Leitlinien für die Berechnung der finanziellen Auswirkungen bei der Vorbereitung der Entscheidung über den Jahresabschluss des EAGFL, Abteilung Garantie“) vorzulegen.
36 In der Sitzung vom 11. November 2015 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
Rechtliche Würdigung
37 Zur Stützung seiner Klage macht das Vereinigte Königreich im Wesentlichen einen einzigen Klagegrund geltend, mit dem es rügt, dass die Kommission durch rechtswidrige Auslegung der GAB 8 die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung verletzt habe.
38 Das Vereinigte Königreich beanstandet es insbesondere als rechtsfehlerhaft, dass die Kommission diese GAB dahin ausgelegt habe, dass sie sich auch auf Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und d der Verordnung Nr. 21/2004 und damit auf die dort genannten Anforderungen beziehe, also auf die Führung eines zentralen Betriebsregisters oder einer elektronischen Datenbank und auf den Besitz von Begleitdokumenten für Schafe und Ziegen.
39 Erstens missachte diese Auslegung, da die GAB 8 ausdrücklich nur auf die Art. 3, 4 und 5 der Verordnung Nr. 21/2004 verweise, den gesetzgeberischen Willen, die Art. 6 bis 8 mit ihren materiellen Detailregelungen zu Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und d der Verordnung Nr. 21/2004 vom Geltungsbereich der GAB 8 auszuschließen und nur die Anforderungen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und b sowie den Art. 4 und 5 dieser Verordnung in den Rang von Cross-Compliance-Verpflichtungen zu erheben.
40 Zweitens wäre nach Auffassung des Vereinigten Königreichs der Verweis auf die Art. 4 und 5 in der GAB 8 sinnlos, wenn der Gesetzgeber alle Elemente von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 21/2004 in diese GAB hätte einschließen wollen. Ein Verweis allein auf Art. 3 hätte genügt.
41 In Wirklichkeit sei Art. 3 keine hinreichend detaillierte Vorschrift, und die einzigen substanziellen Regelungen, die verbindliche Pflichten für Betriebsinhaber begründen könnten, seien in den Art. 4 ff. der Verordnung Nr. 21/2004 enthalten.
42 Drittens ergebe sich der Ausschluss der Art. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 21/2004 aus der teleologischen Auslegung dieser Verordnung. Ihre Bestimmungen seien im Bereich der Cross-Compliance zwar allesamt verbindlich, aber die Nichterfüllung bestimmter Pflichten ziehe nicht zwangsläufig finanzielle Konsequenzen nach sich. Die Anforderungen nach Art. 4 der Verordnung betreffend die Kennzeichnung der Tiere und nach Art. 5 der Verordnung betreffend die Führung eines Bestandsregisters über die Tiere seien Grundpfeiler des Systems, die es ermöglichten, auch die anderen Pflichten zu erfüllen. Überdies richteten sich die Art. 6 bis 8 nicht unmittelbar an die Betriebsinhaber, sondern an die nationalen Behörden.
43 Viertens sei der Ausschluss der Art. 6 bis 8 vom Geltungsbereich der GAB 8 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit gerechtfertigt. Da diese GAB Gegenstand unterschiedlicher Auslegungen sei und zu negativen finanziellen Konsequenzen für die Betriebsinhaber führen könne, müsse sie in einem für Letztere günstigen Sinn ausgelegt werden.
44 Fünftens erforderten die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung, dass ein Betriebsinhaber, der gegen einen nicht in der Aufzählung der GAB 8 enthaltenen Artikel der Verordnung Nr. 21/2004 verstoßen habe, nicht genauso behandelt werde wie ein Betriebsinhaber, der gegen einen dort aufgeführten Artikel verstoßen habe.
45 Die Kommission trägt zunächst vor, die Klage des Vereinigten Königreichs sei offensichtlich unschlüssig, da sich die Einträge im Anhang des angefochtenen Beschlusses auf sechs Mängel oder Unzulänglichkeiten, die für das Jahr 2008 im Cross-Compliance-System des Vereinigten Königreichs festgestellt worden seien, und auf drei Mängel in den Jahren 2009 und 2010 bezögen. Während des gesamten Verfahrens sei sie davon ausgegangen, dass jede Unzulänglichkeit für sich genommen ausreiche, um die festgesetzte finanzielle Berichtigung zu rechtfertigen. Das Vereinigte Königreich habe im Verwaltungsverfahren weder die nicht mit der GAB 8 zusammenhängenden Mängel bestritten noch den Grundsatz beanstandet, dass jeder dieser Mängel für sich genommen den festgesetzten Berichtigungssatz rechtfertige.
46 In der Sache weist die Kommission erstens darauf hin, dass Art. 3 der Verordnung Nr. 21/2004 hinsichtlich des Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Schafen und Ziegen übergreifenden Charakter habe, alle in den Buchst. a bis d genannten Elemente umfasse und in seiner Gesamtheit als GAB aufgenommen worden sei. Er sei in allen seinen Teilen verbindlich. Die Einrichtung eines solchen Systems sei der Zweck dieser Verordnung, wie durch ihren 20. Erwägungsgrund bestätigt werde. Ihre Bestimmungen seien systematisch und teleologisch auszulegen.
47 Zweitens sei zwar einzuräumen, dass die Art. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 21/2004 nicht spezifisch als GAB bezeichnet und somit im Rahmen der Cross-Compliance nicht „unmittelbar anwendbar“ oder „ohne Weiteres durchsetzbar“ seien, so dass Betriebsinhaber nicht wegen Verstoßes gegen die darin enthaltenen Detailregelungen bestraft werden könnten. Das vollständige Fehlen von Begleitdokumenten oder von Beiträgen zu einem zentralen elektronischen Register, wie sie nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und d dieser Verordnung vorgeschrieben seien, könne jedoch sanktioniert werden. Die Art. 6 bis 8 der Verordnung seien außerdem relevant, um die Pflichten aus Art. 3 auszulegen und festzustellen, ob ein Betriebsinhaber seiner Pflicht, über ein System zur Kennzeichnung und Registrierung zu verfügen, nachgekommen sei.
48 Drittens diene die ausdrückliche Aufnahme der Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 21/2004 in die GAB 8 einem anderen Ziel als die Aufnahme von Art. 3 dieser Verordnung, nämlich der Gewährleistung von Einheitlichkeit in den konkreten Bereichen Registrierung und Kennzeichnung der Tiere; diese Bereiche seien grundlegende Bestandteile des Systems zur Registrierung und Kennzeichnung. Dementsprechend setze sich ein Betriebsinhaber schon mit dem Verstoß gegen eine bloße Einzelheit dieser Vorschriften einer Sanktion aus.
49 Was hingegen die Pflicht zur Führung von Begleitdokumenten oder zu Beiträgen zu einer zentralen Datenbank betreffe, unterlägen die Mittel, mit denen der Betriebsinhaber diesen Pflichten nachkomme, nicht streng den Bestimmungen in Art. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 21/2004, auch wenn ein Kontrolleur sie bei einer Überprüfung berücksichtigen müsse.
50 Viertens vertritt die Kommission die Ansicht, ihre Auslegung der fraglichen Vorschriften laufe dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht zuwider, denn die Bestimmungen der Verordnung Nr. 21/2004 seien allesamt verbindlich.
51 In seiner Erwiderung tritt das Vereinigte Königreich dem Vorwurf entgegen, dass seine Klage unschlüssig sei, und trägt vor, die Entscheidung der Kommission über die GAB 8 entfalte unabhängig von der Auswirkung der finanziellen Berichtigung Rechtswirkungen und könne somit Gegenstand einer Klage sein.
52 Insbesondere sei dem Argument der Kommission entgegenzutreten, dass jeder Mangel für sich genommen den angewandten Kürzungssatz rechtfertige. Die Kommission habe nämlich für das Jahr 2008 auf der Grundlage von sechs Mängeln einen Kürzungssatz von 5 % und für die Jahre 2009 und 2010 auf der Grundlage von drei in diesen Jahren fortdauernden Mängeln einen Satz von 2 % angewandt. Auch wenn die Berechnungsmethode nicht kumulativ sei, müssten sich die verschiedenen Mängel demnach auf den letztlich angewandten Satz auswirken.
53 Überdies führe der Umstand, dass das Vereinigte Königreich im Schlichtungsverfahren die anderen festgestellten Mängel und die Behauptung der Kommission, dass jeder dieser Mängel als Rechtfertigung für die vorgeschlagene Berichtigung ausreiche, nicht bestritten habe, nicht zur Unzulässigkeit des Bestreitens im Rahmen der vorliegenden Klage.
54 Nachdem die Schlichtungsstelle für die Jahre 2009 und 2010 aufgrund anderer mildernder Umstände eine Berichtigung von 2 % vorgeschlagen habe, stehe es der Kommission zudem frei, gemäß Art. 31 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates vom 21. Juni 2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. 2005, L 209, S. 1) auch für das Jahr 2008 eine Berichtigung unter Berücksichtigung des der Union tatsächlich entstandenen Schadens vorzunehmen.
55 Der Beschluss der Kommission über die GAB 8 entfalte jedenfalls Rechtswirkungen und könne somit Gegenstand der vorliegenden Klage sein. Insbesondere unterliege der Mitgliedstaat nicht nur einer finanziellen Berichtigung, sondern auch der Pflicht, Abhilfemaßnahmen zur Anpassung an die Unionsvorschriften zu treffen (Art. 11 Abs. 3 der Verordnung [EG] Nr. 885/2006 der Kommission vom 21. Juni 2006 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1290/2005 des Rates hinsichtlich der Zulassung der Zahlstellen und anderen Einrichtungen sowie des Rechnungsabschlusses für den EGFL und den ELER [ABl. 2006, L 171, S. 90]). Wenn eine solche Anpassung unterlassen werde, wiege die Verfehlung des Staates noch schwerer, und nach der Mitteilung AGRI/61495/2002 der Kommission über wiederholte Mängel könnten noch weiter gehende Berichtigungen vorgenommen werden.
56 In ihrer Gegenerwiderung trägt die Kommission vor, der angefochtene Beschluss sei im Rahmen des Rechnungsabschlussverfahrens nach Art. 31 der Verordnung Nr. 1290/2005 erlassen worden und entfalte nur finanzielle Wirkungen, wohingegen die Durchsetzung der Unionsvorschriften eher das Ziel eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV sei.
57 Zur Auslegung der GAB 8 macht das Vereinigte Königreich im Wesentlichen geltend, diese sei so zu verstehen, dass sie die Cross-Compliance-Verpflichtungen nach den Art. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 21/2004 ausschließe, da diese Bestimmungen in der GAB 8 nicht ausdrücklich genannt würden.
58 Die Kommission hält dem im Wesentlichen entgegen, dass, was die Verordnung Nr. 21/2004 angehe, Art. 3 zu den Vorschriften zähle, auf die die GAB 8 verweise. Dieser Artikel zähle vier verschiedene Cross-Compliance-Verpflichtungen auf, die auch dann verbindlich und anwendbar blieben, wenn die Art. 6 bis 8 der Verordnung, die die Anforderungen nach Art. 3 Buchst. c und d konkretisierten, es nicht mehr seien.
59 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, und die Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehört (vgl. Urteil vom 7. Juni 2005, VEMW u. a.,C‑17/03, EU:C:2005:362, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Wenn die wörtliche und die historische Auslegung einer Verordnung, insbesondere einer ihrer Bestimmungen, nicht die Beurteilung ihrer genauen Bedeutung ermöglichen, ist für die Auslegung der betreffenden Regelung sowohl auf deren Zielsetzung als auch auf ihre Systematik abzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 31. März 1998, Frankreich u. a./Kommission,C‑68/94 und C‑30/95, EU:C:1998:148, Rn. 168, und vom 25. März 1999, Gencor/Kommission,T‑102/96, EU:T:1999:65, Rn. 148).
61 Hinsichtlich der Jahre 2009 und 2010 ist die Verordnung Nr. 73/2009, mit der die Verordnung Nr. 1782/2003 ab dem 1. Januar 2009 aufgehoben wurde (Art. 146 Abs. 1 und Art. 149 der Verordnung Nr. 73/2009), auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles anzuwenden, hinsichtlich des Jahres 2008 bleibt hingegen die Verordnung Nr. 1782/2003 anwendbar.
62 Der im Wesentlichen mit Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1782/2003 übereinstimmende Art. 4 der Verordnung Nr. 73/2009 bestimmte, dass Betriebsinhaber, die Direktzahlungen bezogen, die GAB nach Anhang II erfüllen mussten. Dieser Anhang verweist auf verschiedene Anforderungen in den Bereichen Umwelt, Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanzen, Kennzeichnung, Registrierung und Tierschutz.
63 Unter diesen Anforderungen verwies die im Wesentlichen mit der GAB 8a in Anhang III der Verordnung Nr. 1782/2003 übereinstimmende GAB 8 in Anhang II der Verordnung Nr. 73/2009 hinsichtlich der Kennzeichnung und Registrierung von Tieren auf die Art. 3, 4 und 5 der Verordnung Nr. 21/2004.
64 Obwohl Art. 3 der Verordnung Nr. 21/2004 vier Elemente aufzählt, die das System zur Kennzeichnung und Registrierung von Tieren bilden, werden nur die Art. 4 und 5, die die ersten beiden (in Art. 3 Buchst. a und b aufgeführten) Elemente konkretisieren und ausgestalten, in der GAB 8 genannt.
65 Was erstens die Auslegung der Art. 3 bis 8 der Verordnung Nr. 21/2004 betrifft, geht aus ihrer Systematik hervor, dass Art. 3 nicht als eigenständige Regelung konzipiert wurde, da in ihm lediglich die Elemente aufgezählt werden, die sodann in den Art. 4 bis 8, die den Inhalt dieser Elemente definieren, aufgegriffen und konkretisiert werden.
66 Was zweitens die Bedeutung angeht, die dem Umstand beizumessen ist, dass die GAB 8 auf die Art. 3 bis 5 der Verordnung Nr. 21/2004 verweist, ist davon auszugehen, dass nur die in den Art. 4 und 5 geregelten und in Art. 3 Buchst. a und b aufgezählten Elemente in den Rang von Cross-Compliance-Anforderungen erhoben werden.
67 Die Stichhaltigkeit dieser Auslegung der GAB 8 wird dadurch bestätigt, dass die in Art. 3 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 21/2004 aufgezählten und in den Art. 4 und 5 dieser Verordnung aufgegriffenen Elemente einerseits und die in Art. 3 Buchst. c und d der Verordnung Nr. 21/2004 erwähnten und in den Art. 6 bis 8 dieser Verordnung aufgegriffenen Elemente andererseits unterschiedlicher Natur sind. Denn im Gegensatz zu den Elementen, die Gegenstand der Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 21/2004 sind, betreffen die in den Art. 6 bis 8 dieser Verordnung geregelten Elemente Pflichten, die im Wesentlichen nur den Mitgliedstaaten obliegen, was den gesetzgeberischen Willen erklären kann, ihre Erfüllung nicht zu einer Voraussetzung der Zahlungen an Betriebsinhaber zu machen.
68 Dieses Ergebnis hat auch unter Berücksichtigung von Art. 6 der Verordnung Nr. 21/2004 Bestand, da dieser die zuständige Behörde jedes Mitgliedstaats verpflichtet, ein Muster des Begleitdokuments zu erstellen, mit dem ein Tier bei jeder Verbringung zwischen verschiedenen Betrieben innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets versehen sein muss, und dessen Verwendung nach Abs. 4 dieses Artikels in den Mitgliedstaaten, die über eine betriebsbereite zentrale elektronische Datenbank verfügen, freigestellt ist. Ferner müssen die Mitgliedstaaten dieses Dokument untereinander sowie an die Kommission übermitteln. Gemäß Abs. 3 dieser Vorschrift ist der Tierhalter des Bestimmungsbetriebs lediglich verpflichtet, das Dokument während eines von der zuständigen Behörde festzusetzenden Zeitraums zu verwahren.
69 Dasselbe gilt für Art. 7 der Verordnung, da er die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein zentrales Register aller Betriebe in ihrem Hoheitsgebiet einzurichten und zu führen, und für Art. 8 der Verordnung, der bestimmt, dass die Mitgliedstaaten eine elektronische Datenbank errichten, an die die Tierhalter gemäß Abs. 2 dieser Vorschrift innerhalb einer bestimmten Frist die Angaben zu den in ihren Betrieben befindlichen Tieren und deren Verbringungen übermitteln.
70 Nach alledem ist das Vereinigte Königreich zwar an die gesamte Verordnung Nr. 21/2004 gebunden, was deren Art. 5 bis 8 einschließt, aber die Erfüllung dieser Vorschriften kann nicht – auch nicht aufgrund des Verweises der GAB 8 auf Art. 3 der Verordnung – als Bedingung der Zahlungen an Betriebsinhaber angesehen werden.
71 Folglich hat die Kommission mit ihrer Annahme, dass die Unionsrechtskonformität der Zahlungen an schottische Betriebsinhaber anhand der GAB 8 zu beurteilen sei, einen Rechtsfehler begangen, soweit sie verlangt hat, dass alle in Art. 3 der Verordnung Nr. 21/2004 aufgezählten Elemente einschließlich der in den Art. 6 bis 8 dieser Verordnung konkretisierten Elemente zu erfüllen seien.
72 Unter den Umständen des vorliegenden Falles bedingt dieser Fehler jedoch nicht die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses.
73 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass, selbst wenn einer der Gründe, auf die ein streitiger Rechtsakt gestützt ist, rechtsfehlerhaft ist, dieser Fehler nicht zur Nichtigerklärung dieses Rechtsakts führen kann, wenn die anderen Gründe der angefochtenen Entscheidung ausreichen, um deren Rechtmäßigkeit zu belegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2006, SELEX Sistemi Integrati/Kommission,T‑155/04, EU:T:2006:387, Rn. 47).
74 In Anwendung der im Dokument VI/5330/97 dargelegten Methode, deren Rechtmäßigkeit das Vereinigte Königreich nicht in Abrede stellt, war die Kommission berechtigt, für jeden im Kontrollsystem des Vereinigten Königreichs festgestellten Mangel einen finanziellen Berichtigungskoeffizienten von 5 % anzuwenden.
75 Aus Abs. 2 des Anhangs 2 des Dokuments VI/5330/97 ergibt sich, dass die finanziellen Berichtigungen insbesondere unter Berücksichtigung der Tragweite der festgestellten Nichtübereinstimmung berechnet werden und die Kommission dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der Union entstandenen finanziellen Schaden Rechnung trägt. Für die Bemessung der finanziellen Berichtigung ist in diesem Dokument eine Methode auf der Basis der finanziellen Verlustrisiken vorgesehen, die dazu dienen soll, systemische Unregelmäßigkeiten zu erfassen, und zu pauschalen Berichtigungen in Höhe von 2 %, 5 %, 10 % oder 25 % der gemeldeten Ausgaben führen kann, je nach Ausmaß des finanziellen Verlustrisikos für die Union aufgrund der Mängel in den Kontrollsystemen (Anhang 2 des Dokuments VI/5330/97, Abs. 8).
76 Hinsichtlich der Auswahl unter den anwendbaren Pauschalen, wie sie in Punkt 3.1 erster Gedankenstrich des Dokuments AGRI‑2005‑64043 vom 9. Juni 2006 („Mitteilung der Kommission, wie sie mit Mängeln, die in den von den Mitgliedstaaten eingeführten Systemen zur Kontrolle der Cross-Compliance-Verpflichtungen festgestellt wurden, im Kontext des Rechnungsabschlusses des EAGFL, Abteilung ‚Garantie‘, umzugehen gedenkt“; im Folgenden: Mitteilung AGRI‑2005‑64043), dessen Rechtmäßigkeit das Vereinigte Königreich nicht in Abrede stellt, aufgegriffen werden, bestimmt das Dokument VI/5330/97 für den Fall, dass alle Schlüsselkontrollen zwar durchgeführt werden, aber nicht in der vorschriftsmäßigen Zahl, Häufigkeit und Gründlichkeit, dass eine Berichtigung in Höhe von 5 % anzuwenden ist, da vernünftigerweise davon ausgegangen werden könne, dass diese Kontrollen nicht im erforderlichen Maß die Ordnungsmäßigkeit der Anträge garantierten und das Verlustrisiko für den EAGFL erheblich sei (Anhang 2 des Dokuments VI/5330/97, Abs. 18).
77 Ferner ergibt sich aus Abs. 25 des Anhangs 2 des Dokuments VI/5330/97, dass, wenn dasselbe System mehrere Mängel aufweist, die Berichtigungspauschalen nicht addiert werden, sondern der gravierendste Mangel als Indikator für die durch das Kontrollsystem insgesamt verursachten Risiken angesehen wird.
78 Im vorliegenden Fall hat die Kommission für das Jahr 2008 auf der Grundlage von verschiedenen im Cross-Compliance-System des Vereinigten Königreichs festgestellten Mängeln, die oben in Rn. 26 zusammengefasst und im Anhang des angefochtenen Beschlusses genannt worden sind, pauschale Berichtigungen von 5 % vorgenommen. Für die Antragsjahre 2009 und 2010 hat sie unter Berücksichtigung mildernder Umstände, insbesondere der vom Vereinigten Königreich ergriffenen Maßnahmen zur Beseitigung der festgestellten Mängel, einen reduzierten Berichtigungssatz angewandt. Jeder der angefochtenen neun Einträge im Anhang des angefochtenen Beschlusses bezieht sich auf mehrere Mängel, nicht nur auf die GAB 8. Bezüglich des Vereinigten Königreichs und der Maßnahme „Cross-Compliance“ lauten diese Einträge, die in Verbindung mit der Anlage zum Schreiben vom 27. März 2013 zu lesen sind, wie folgt:
Haus-halts-jahr
Grund
Art
%
Wäh-rung
Betrag
Abzüge
Finanzielle Auswirkungen
2009 Zu mildes Sanktions-system für [GAB] 7 und 8. Nichtverfolgung ge-ringfügiger Verstöße. Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards, Haushaltsjahr 2008
Pau-schal
5 EUR
–2 949 043,26
–59 941,88
–2 889 101,38
2010 Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards und der [GAB] 2, 4 und 8, Haushaltsjahr 2009
Pau-schal
2 EUR
–1 175 238,88
–24 310,41
–1 150 928,47
2010 Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards und der [GAB] 2, 4 und 8, Haushaltsjahr 2009
Pau-schal
2 EUR
1 901,10
0,00
1 901,10
2010 Zu mildes Sanktions-system für [GAB] 7 und 8. Nichtverfolgung ge-ringfügiger Verstöße. Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards, Haushaltsjahr 2008
Pau-schal
5 EUR
–4 961,22
–34,71
–4 926,51
2011 Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards und der [GAB] 2, 4 und 8, Haushaltsjahr 2010
Pau-schal
2 EUR
795,26
0,00
795,26
2011 Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards und der [GAB] 2, 4 und 8, Haushaltsjahr 2010
Pau-schal
2 EUR
–58,63
0,00
–58,63
2011 Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards und der [GAB] 2, 4 und 8, Haushaltsjahr 2009
Pau-schal
2 EUR
– 879,96
0,00
– 879,96
2011 Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards und der [GAB] 2, 4 und 8, Haushaltsjahr 2010
Pau-schal
2 EUR
–1 164 633,01
– 388,79
–1 164 244,22
2011 Zu mildes Sanktions-system für [GAB] 7 und 8. Nichtverfolgung ge-ringfügiger Verstöße. Unwirksame Kontrolle der GLÖZ-Standards, Haushaltsjahr 2008
Pau-schal
5 EUR
– 440,27
0,00
– 440,27
79 Hinsichtlich der Berechnung der Berichtigung hat die Kommission im Schreiben vom 27. März 2013 klargestellt, dass im Einklang mit der Mitteilung AGRI‑2005‑64043 fehlende oder unzulängliche Cross-Compliance-Kontrollen und die fehlerhafte Anwendung oder gar Nichtanwendung der vorgeschriebenen Sanktionen, mit der Folge, dass diese ihre abschreckende Wirkung verlören, als Mängel in den Schlüsselkontrollen gewertet würden. In diesem Schreiben werden die Mängel wie folgt aufgelistet:
„Jahr 2008
—
Mängel bei der wirksamen Kontrolle der GAB 2 und 4;
—
Mängel bei der wirksamen Kontrolle der GLÖZ-Standards 4, 16 und 18;
—
nicht alle GAB waren im Rahmen der Cross-Compliance Gegenstand ausreichender Kontrollen und Sanktionen;
—
hinsichtlich der GAB 4 war die 5%-Sanktion wegen fahrlässiger Nichteinhaltung ausgeschlossen;
—
großzügiger Umgang mit Verstößen gegen die GAB 7 und 8;
—
keine systematische Erfassung aller geringfügigen Verstöße.
Jahre 2009 und 2010
—
Mängel bei der wirksamen Kontrolle der GAB 2 und 4;
—
Mängel bei der wirksamen Kontrolle der GLÖZ-Standards 4, 16 und 18;
—
unzulängliche Kontrollen und Sanktionen hinsichtlich der GAB 8 im Rahmen der Cross-Compliance.“
80 Im selben Schreiben erklärte die Kommission unter Verweis auf die Mitteilung AGRI‑2005‑64043, dass sie aufgrund dieser Mängel oder Unzulänglichkeiten für das Jahr 2008 eine Berichtigung von 5 % vorschlage und dass „jeder [dieser] Mängel für sich genommen genügen könnte, um die vorgeschlagene Berichtigung zu rechtfertigen“.
81 Das Vereinigte Königreich ist diesem Standpunkt der Kommission vor der Schlichtungsstelle nicht entgegengetreten.
82 Dieser Standpunkt wurde durch die Feststellungen der Schlichtungsstelle, die dem Schreiben vom 8. November 2013 als Anlage beigefügt waren, mit folgenden Worten bestätigt:
„Nach Ansicht der Dienststellen würde jeder im Schlichtungsschreiben, nicht aber im Schlichtungsantrag dargelegte Mangel für sich genommen genügen, um zu der vorgeschlagenen Berichtigung zu führen.“
83 Ebenso wenig bestreitet das Vereinigte Königreich, dass es im Rahmen der vorliegenden Klage nur die Beurteilung der Kommission hinsichtlich der GAB 8 beanstandet hat, die im Fall jedes einzelnen Eintrags im Anhang des angefochtenen Beschlusses nur einen der Gründe darstellt, auf die die Kommission die Anwendung des Berichtigungssatzes gestützt hat.
84 Zudem wurde das Vereinigte Königreich im Verwaltungsverfahren in die Lage versetzt, zu verstehen, dass die festgestellten Mängel Schlüsselkontrollen betrafen und ein erhebliches Verlustrisiko für die Mittel der Union nach sich zogen, so dass jeder von ihnen auf der Grundlage der im Dokument VI/5330/97 dargelegten Methodik eine pauschale Berichtigung von 5 % rechtfertigen konnte.
85 Das Vereinigte Königreich scheint zwar im Rahmen der vorliegenden Klage in Abrede zu stellen, dass der angewandte Berichtigungssatz auf andere Mängel als die von ihm bestrittenen gestützt werden kann, jedoch beruht das einzige von ihm vorgebrachte Argument auf der Feststellung, dass von Jahr zu Jahr unterschiedliche Sätze angewandt worden seien. Dies sei ein Beleg für die Auswirkung, die jeder Mangel auf den festgesetzten Berichtigungssatz haben könne.
86 Dieses Argument greift jedoch nicht durch. Bereits im Schreiben vom 27. März 2013 hatte die Kommission nämlich erläutert, dass sich für die Jahre 2009 und 2010 das Risiko für die Mittel der Union verringert habe, da die schottischen Behörden im Laufe des Jahres 2009 Abhilfemaßnahmen ergriffen hätten, um einige der festgestellten Mängel zu beseitigen; infolgedessen habe sie den Berichtigungssatz auf 2 % festgesetzt. Die Kommission hat also den anwendbaren Satz aufgrund eines mildernden Umstands gesenkt.
87 Nach alledem ist die vorliegende Klage als unbegründet abzuweisen.
Kosten
88 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
89 Da das Vereinigte Königreich unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
90 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt seine Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Das Königreich der Niederlande trägt seine eigenen Kosten.
Prek
Labucka
Kreuschitz
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. September 2016.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 22. September 2016.#Breitsamer und Ulrich GmbH & Co. KG gegen Landeshauptstadt München.#Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2000/13/EG – Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln – Art. 1 Abs. 3 Buchst. b – Begriff ‚vorverpacktes Lebensmittel‘ – Art. 2 – Unterrichtung und Schutz der Verbraucher – Art. 3 Abs. 1 Nr. 8 – Ursprungs- oder Herkunftsort eines Lebensmittels – Art. 13 Abs. 1 – Etikettierung von vorverpackten Lebensmitteln – Art. 13 Abs. 4 – Verpackungen oder Behältnisse, deren größte Oberfläche weniger als 10 cm2 beträgt – Richtlinie 2001/110/EG – Art. 2 Nr. 4 – Angabe des Ursprungslands bzw. der Ursprungsländer des Honigs – Honig-Portionspackungen, die in Sammelkartons abgepackt sind, die an Gemeinschaftseinrichtungen abgegeben werden – Portionspackungen, die einzeln verkauft oder in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, an den Endverbraucher abgegeben werden – Angabe des Ursprungslands bzw. der Ursprungsländer dieses Honigs.#Rechtssache C-113/15.
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62015CJ0113
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ECLI:EU:C:2016:718
| 2016-09-22T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0113
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
22. September 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 2000/13/EG — Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln — Art. 1 Abs. 3 Buchst. b — Begriff ‚vorverpacktes Lebensmittel‘ — Art. 2 — Unterrichtung und Schutz der Verbraucher — Art. 3 Abs. 1 Nr. 8 — Ursprungs- oder Herkunftsort eines Lebensmittels — Art. 13 Abs. 1 — Etikettierung von vorverpackten Lebensmitteln — Art. 13 Abs. 4 — Verpackungen oder Behältnisse, deren größte Oberfläche weniger als 10 cm2 beträgt — Richtlinie 2001/110/EG — Art. 2 Nr. 4 — Angabe des Ursprungslands bzw. der Ursprungsländer des Honigs — Honig-Portionspackungen, die in Sammelkartons abgepackt sind, die an Gemeinschaftseinrichtungen abgegeben werden — Portionspackungen, die einzeln verkauft oder in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, an den Endverbraucher abgegeben werden — Angabe des Ursprungslands bzw. der Ursprungsländer dieses Honigs“
In der Rechtssache C‑113/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Februar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 6. März 2015, in dem Verfahren
Breitsamer und Ulrich GmbH & Co. KG
gegen
Landeshauptstadt München,
Beteiligte:
Landesanwaltschaft Bayern,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter D. Šváby, J. Malenovský, M. Safjan (Berichterstatter) und M. Vilaras,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Januar 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Breitsamer und Ulrich GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt M. Kraus,
—
der Landeshauptstadt München, vertreten durch S. Groth und K. Eichhorn als Bevollmächtigte,
—
der Landesanwaltschaft Bayern, vertreten durch Oberlandesanwalt R. Käß,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, K. Herbout-Borczak und K. Skelly als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 5. April 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. 2000, L 109, S. 29) und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. e der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (ABl. 2011, L 304, S. 18).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Breitsamer und Ulrich GmbH & Co. KG und der Landeshauptstadt München (Deutschland) über die Verpflichtung, auf jeder der Portionspackungen Honig, die in Kartons verpackt sind, welche an gemeinschaftliche Einrichtungen geliefert werden, das Ursprungsland des Honigs anzugeben, wenn diese Portionspackungen separat verkauft oder in fertig zusammengestellten Gerichten zu einem Pauschalpreis an den Endverbraucher abgegeben werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2000/13
3 Die Erwägungsgründe 4 bis 6, 8, 14 und 15 der Richtlinie 2000/13 lauteten:
„(4)
Mit dieser Richtlinie sollen die allgemeinen, horizontalen Gemeinschaftsregeln für alle Lebensmittel festgesetzt werden, die in den Handel gebracht werden.
(5) Die spezifischen, vertikalen Regeln, die nur bestimmte Lebensmittel betreffen, müssen dagegen im Rahmen der Vorschriften für diese Erzeugnisse festgelegt werden.
(6) Jede Regelung der Etikettierung von Lebensmitteln soll vor allem der Unterrichtung und dem Schutz der Verbraucher dienen.
…
(8) Eine detaillierte Etikettierung, die Auskunft gibt über die genaue Art und die Merkmale des Erzeugnisses, ermöglicht es dem Verbraucher, sachkundig seine Wahl zu treffen, und ist insofern am zweckmäßigsten, als sie die geringsten Handelshemmnisse nach sich zieht.
…
(14) Die Regeln für die Etikettierung müssen auch das Verbot enthalten, den Käufer zu täuschen oder den Lebensmitteln medizinische Eigenschaften zuzuschreiben. Um wirksam zu sein, muss dieses Verbot auf die Aufmachung der Lebensmittel und auf die Lebensmittelwerbung ausgedehnt werden.
(15) Zum Zwecke der Erleichterung des Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten kann gestattet werden, dass auf der dem Verkauf an den Endverbraucher vorangehenden Stufe nur die Angaben über die wesentlichen Merkmale auf der äußeren Verpackung angebracht werden und dass bestimmte, für ein vorverpacktes Lebensmittel vorgeschriebene Angaben lediglich auf den Warenbegleitpapieren erscheinen.“
4 Art. 1 der Richtlinie bestimmte:
„(1) Diese Richtlinie gilt für die Etikettierung von Lebensmitteln, die ohne weitere Verarbeitung an den Endverbraucher abgegeben werden sollen, sowie für bestimmte Aspekte ihrer Aufmachung und der für sie durchgeführten Werbung.
(2) Diese Richtlinie gilt auch für Lebensmittel, die an Gaststättenbetriebe, Krankenhäuser, Kantinen und ähnliche gemeinschaftliche Einrichtungen (nachstehend ‚gemeinschaftliche Einrichtungen‘ genannt) abgegeben werden sollen.
(3) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:
a)
‚Etikettierung‘ alle Angaben, Kennzeichnungen, Hersteller- oder Handelsmarken, Abbildungen oder Zeichen, die sich auf ein Lebensmittel beziehen und auf jeglicher Art von Verpackung, Schriftstück, Tafel, Etikett, Ring oder Verschluss angebracht sind und dieses Lebensmittel begleiten oder sich auf dieses Lebensmittel beziehen;
b)
‚vorverpackte Lebensmittel‘ die Verkaufseinheit, die ohne weitere Verarbeitung an den Endverbraucher und an gemeinschaftliche Einrichtungen abgegeben werden soll und die aus einem Lebensmittel und der Verpackung besteht, in die das Lebensmittel vor dem Feilbieten abgepackt worden ist, gleichviel, ob die Verpackung es ganz oder teilweise umschließt, jedoch auf solche Weise, dass der Inhalt nicht verändert werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt.“
5 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i dieser Richtlinie sah vor:
„Die Etikettierung und die Art und Weise, in der sie erfolgt, dürfen nicht
a)
geeignet sein, den Käufer irrezuführen, und zwar insbesondere nicht
i)
über die Eigenschaften des Lebensmittels, namentlich über Art, Identität, Beschaffenheit, Zusammensetzung, Menge, Haltbarkeit, Ursprung oder Herkunft und Herstellungs- oder Gewinnungsart.“
6 Art. 3 Abs. 1 Nr. 8 der Richtlinie bestimmte:
„Die Etikettierung der Lebensmittel enthält nach Maßgabe der Artikel 4 bis 17 und vorbehaltlich der dort vorgesehenen Ausnahmen nur folgende zwingende Angaben:
…
8. den Ursprungs- oder Herkunftsort, falls ohne diese Angabe ein Irrtum des Verbrauchers über den tatsächlichen Ursprung oder die wahre Herkunft des Lebensmittels möglich wäre“.
7 Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/13 lautete:
„Die Gemeinschaftsvorschriften, die nur für einzelne Lebensmittel und nicht für Lebensmittel im Allgemeinen gelten, können zusätzlich zu den in Artikel 3 aufgeführten Angaben weitere zwingende Angaben verlangen.
…“
8 Art. 8 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie bestimmte:
„Besteht eine Vorverpackung aus zwei oder mehr Einzelvorverpackungen mit derselben Menge desselben Erzeugnisses, so wird die Nettofüllmenge in der Weise angegeben, dass die in jeder Einzelpackung enthaltene Nettofüllmenge und die Gesamtzahl der Einzelpackungen angegeben werden. Diese Angaben können jedoch entfallen, wenn die Gesamtzahl der Einzelpackungen von außen leicht zu sehen und einfach zu zählen ist und wenn mindestens eine Angabe der Nettofüllmenge jeder Einzelpackung deutlich von außen sichtbar ist.“
9 Art. 13 Abs. 1 und 4 der Richtlinie sah vor:
a)
Bei vorverpackten Lebensmitteln befinden sich die in Artikel 3 und Artikel 4 Absatz 2 genannten Angaben auf der Vorverpackung oder auf einem mit ihr verbundenen Etikett.
b)
Sofern die vorverpackten Lebensmittel
—
für den Endverbraucher bestimmt sind, aber auf einer dem Verkauf an den Endverbraucher vorangehenden Stufe vermarktet werden, sofern diese Stufe nicht der Verkauf an eine gemeinschaftliche Einrichtung ist,
—
an gemeinschaftliche Einrichtungen abgegeben werden sollen, um dort zubereitet, verarbeitet, aufgeteilt oder abgegeben zu werden,
brauchen die in Artikel 3 und Artikel 4 Absatz 2 genannten Angaben abweichend von Buchstabe a) und unbeschadet der Gemeinschaftsvorschriften für die Nennfüllmengen nur in den dazugehörenden Geschäftspapieren aufgeführt zu sein, wenn sichergestellt ist, dass diese Papiere mit allen Etikettierungsangaben entweder die Lebensmittel, auf die sie sich beziehen, begleiten oder vor bzw. gleichzeitig mit der Lieferung abgesandt wurden.
c)
In den unter Buchstabe b) genannten Fällen befinden sich die in Artikel 3 Absatz 1 Nummern 1, 5 und 7 sowie gegebenenfalls die in Artikel 10 genannten Angaben auch auf der äußeren Verpackung, in der die Lebensmittel vermarktet werden.
…
(4) Bei zur Wiederverwendung bestimmten Glasflaschen, die eine unverwischbare Aufschrift tragen und dementsprechend weder ein Etikett noch eine Halsschleife noch ein Brustschild haben, sowie bei Verpackungen oder Behältnissen, deren größte Oberfläche weniger als 10 cm2 beträgt, brauchen nur die in Artikel 3 Absatz 1 Nummern 1, 4 und 5 genannten Angaben aufgeführt zu werden.
…“
10 Art. 14 der Richtlinie lautete:
„Bei Lebensmitteln, die dem Endverbraucher und gemeinschaftlichen Einrichtungen in nicht vorverpackter Form feilgeboten werden oder die auf Wunsch des Käufers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, regeln die Mitgliedstaaten die Art und Weise, in der die in Artikel 3 und Artikel 4 Absatz 2 genannten Angaben gemacht werden.
Sie brauchen diese Angaben insgesamt oder teilweise nicht zwingend vorzuschreiben, sofern die Unterrichtung des Käufers gewährleistet ist.“
11 Gemäß Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1169/2011 wurde die Richtlinie 2000/13 mit Wirkung vom 13. Dezember 2014 aufgehoben.
Richtlinie 2001/110/EG
12 Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/110/EG des Rates vom 20. Dezember 2001 über Honig (ABl. 2002, L 10, S. 47) heißt es:
„Vorbehaltlich bestimmter Bedingungen sind die allgemeinen Etikettierungsbestimmungen für Lebensmittel der Richtlinie [2000/13] anwendbar. In Anbetracht des engen Zusammenhangs zwischen der Qualität des Honigs und seiner Herkunft ist unbedingt sicherzustellen, dass vollständige Informationen zu diesen Aspekten gegeben werden, damit der Verbraucher nicht über die Qualität des Erzeugnisses irregeführt wird. In Anbetracht des engen Zusammenhangs zwischen der Qualität des Honigs und seiner Herkunft ist unbedingt sicherzustellen, dass vollständige Informationen zu diesen Aspekten gegeben werden, damit der Verbraucher nicht über die Qualität des Erzeugnisses irregeführt wird. Damit den besonderen Interessen der Verbraucher bezüglich der geographischen Merkmale von Honig Rechnung getragen wird und eine vollständige Transparenz in dieser Hinsicht sichergestellt ist, ist es erforderlich, dass das Ursprungsland, in dem der Honig erzeugt wurde, auf dem Etikett angegeben wird.“
13 Art. 1 der Richtlinie 2001/110 lautet:
„Diese Richtlinie gilt für die in Anhang I beschriebenen Erzeugnisse. Diese Erzeugnisse müssen den in Anhang II festgelegten Anforderungen entsprechen.“
14 Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Richtlinie [2000/13] gilt unter den nachstehend festgelegten Bedingungen für die in Anhang I beschriebenen Lebensmittel:
1. Die Bezeichnung ‚Honig‘ ist den in Anhang I Ziffer 1 definierten Erzeugnissen vorbehalten und im Handel zur Benennung dieses Erzeugnisses zu verwenden.
…
4. a)
Das Ursprungsland bzw. die Ursprungsländer, in dem/denen der Honig erzeugt wurde, ist/sind auf dem Etikett anzugeben.
Hat der Honig seinen Ursprung in mehr als einem Mitgliedstaat oder Drittland, so kann statt dessen folgende Angabe gewählt werden:
—
‚Mischung von Honig aus EG-Ländern‘,
—
‚Mischung von Honig aus Nicht-EG-Ländern‘,
—
‚Mischung von Honig aus EG-Ländern und Nicht-EG-Ländern‘.
b)
Für die Zwecke der Richtlinie [2000/13], insbesondere deren Artikel 13, 14, 16 und 17, gelten die Angaben gemäß Buchstabe a) als Angaben gemäß Artikel 3 der genannten Richtlinie.“
15 Anhang I der Richtlinie 2001/110 trägt die Überschrift „Verkehrsbezeichnungen, Beschreibung und Begriffsbestimmungen der Erzeugnisse“.
Deutsches Recht
Die Honigverordnung
16 § 3 Abs. 4 und 5 der Honigverordnung vom 16. Januar 2004 (BGBl. 2004 I S. 92) in ihrer für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Honigverordnung) bestimmt:
„(4) Zusätzlich zu den nach der Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung [vom 15. Dezember 1999 (BGBl. 1999 I S. 2464)] vorgeschriebenen Angaben muss die Kennzeichnung der in Anlage 1 aufgeführten Erzeugnisse folgende Angaben enthalten, die nach Maßgabe des Absatzes 5 anzugeben sind:
1. das Ursprungsland oder die Ursprungsländer, in dem oder denen der Honig erzeugt wurde; bei mehr als einem Ursprungsland kann stattdessen jeweils eine der folgenden Angaben gemacht werden, sofern der Honig dort erzeugt wurde:
a)
‚Mischung von Honig aus EG-Ländern‘,
b)
‚Mischung von Honig aus Nicht-EG-Ländern‘,
c)
‚Mischung von Honig aus EG-Ländern und Nicht-EG-Ländern‘,
…
(5) … Im Übrigen gilt für die Art und Weise der Kennzeichnung nach Abs. 4 § 3 Abs. 3 Satz 1, 2 und 3 erster Halbsatz und Abs. 4 der Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung entsprechend.“
17 § 4 Nr. 3 der Honigverordnung verbietet das Inverkehrbringen von Erzeugnissen, die nicht mit einer nach § 3 Abs. 4 dieser Verordnung vorgeschriebenen Angabe versehen sind.
Die Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung
18 § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Kennzeichnung von Lebensmitteln bestimmt:
„Diese Verordnung gilt für die Kennzeichnung von Lebensmitteln in Fertigpackungen im Sinne des § 42 Absatz 1 des [Gesetzes über das Inverkehrbringen und die Bereitstellung von Messgeräten auf dem Markt, ihre Verwendung und Eichung sowie über Fertigpackungen vom 25. Juli 2013 (BGBl. 2013 I S. 2722), im Folgenden: Mess‑ und Eichgesetz], die dazu bestimmt sind, an Verbraucher (§ 3 Nr. 4 des Lebensmittel‑ und Futtermittelgesetzbuches) abgegeben zu werden. Dem Verbraucher stehen Gaststätten, Einrichtungen zur Gemeinschaftsverpflegung sowie Gewerbetreibende, soweit sie Lebensmittel zum Verbrauch innerhalb ihrer Betriebsstätte beziehen, gleich.“
19 § 3 Abs. 3 und 4 dieser Verordnung sieht vor:
„(3) Die Angaben nach Absatz 1 sind auf der Fertigpackung oder einem mit ihr verbundenen Etikett an gut sichtbarer Stelle in deutscher Sprache, leicht verständlich, deutlich lesbar und unverwischbar anzubringen. Die Angaben nach Absatz 1 können auch in einer anderen leicht verständlichen Sprache angegeben werden, wenn dadurch die Information des Verbrauchers nicht beeinträchtigt wird. Sie dürfen nicht durch andere Angaben oder Bildzeichen verdeckt oder getrennt werden; die Angaben nach Absatz 1 Nr. 1, 4 und 5 und die Mengenkennzeichnung nach § 43 Absatz 1 des Mess- und Eichgesetzes sind im gleichen Sichtfeld anzubringen.
(4) Abweichend von Absatz 3 können
1. die Angaben nach Absatz 1 bei
a)
tafelfertig zubereiteten, portionierten Gerichten, die zur Abgabe an Einrichtungen zur Gemeinschaftsverpflegung zum Verzehr an Ort und Stelle bestimmt sind,
b)
Fertigpackungen, die unter dem Namen oder der Firma eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum niedergelassenen Verkäufers in den Verkehr gebracht werden sollen, bei der Abgabe an diesen,
c)
Lebensmitteln in Fertigpackungen, die zur Abgabe an Verbraucher im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 bestimmt sind, um dort zubereitet, verarbeitet, aufgeteilt oder abgegeben zu werden,
…
in den dazugehörenden Geschäftspapieren enthalten sein, wenn sichergestellt ist, dass diese Papiere mit allen Etikettierungsangaben entweder die Lebensmittel, auf die sie sich beziehen, begleiten oder vor oder gleichzeitig mit der Lieferung abgesandt wurden. Im Falle der Nummer 1 Buchstabe b und c sind die in Absatz 1 Nr. 1, 2 und 4 genannten Angaben auch auf der äußeren Verpackung der Lebensmittel anzubringen. Im Falle des Absatzes 2 Nr. 3 müssen die Angaben nach Absatz 1 Nr. 1 und 4 nicht im gleichen Sichtfenster angebracht sein.“
Das Mess- und Eichgesetz
20 Nach § 42 Abs. 1 des Mess- und Eichgesetzes sind „Fertigpackungen“ Verpackungen beliebiger Art, in die in Abwesenheit des Käufers Erzeugnisse abgepackt und die in Abwesenheit des Käufers verschlossen werden, wobei die Menge des darin enthaltenen Erzeugnisses ohne Öffnen oder merkliche Änderung der Verpackung nicht verändert werden kann.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
21 Breitsamer und Ulrich, ein in der Union im Bereich der Herstellung und Abfüllung von Honig tätiges Unternehmen, vermarktet u. a. ein Lebensmittel mit der Bezeichnung „Breitsamer Imkergold“ (im Folgenden: fraglicher Honig). Es handelt sich um in 120 Portionspackungen in Form von mit einem zugeschweißten Aluminiumdeckel verschlossenen Portionsbechern zu je 20 Gramm abgefüllten Honig ein und desselben Typs (im Folgenden: in Rede stehende Honig-Portionspackungen). Diese 120 Portionspackungen werden in einen von diesem Unternehmen verschlossenen Sammelkarton gepackt und in dieser Form an gemeinschaftliche Einrichtungen verkauft.
22 Auf diesem Sammelkarton befinden sich die verpflichtenden Angaben zu diesem Lebensmittel gemäß den Richtlinien 2000/13 und 2001/110, insbesondere die Angabe des Ursprungslands des Honigs. Die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen enthalten hingegen nicht die Angabe des Ursprungslands des Honigs.
23 Am 30. Oktober 2012 verhängte die Stadt München gegen den Geschäftsführer von Breitsamer und Ulrich ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen die gesetzlichen Etikettierungspflichten nach der Honigverordnung, weil das Unternehmen im ersten Halbjahr 2011 Honig in Portionspackungen in den Verkehr gebracht habe, auf denen die Angabe des Ursprungslands des Honigs gefehlt habe.
24 Am 5. November 2012 erhob Breitsamer und Ulrich Klage vor dem Verwaltungsgericht München auf Feststellung, dass das Unternehmen nicht dadurch gegen die Honigverordnung verstoßen habe, dass es nicht auf jeder in Rede stehenden Honig-Portionspackung das Ursprungsland des Honigs angegeben habe. Mit Urteil vom 25. September 2013 wies dieses Gericht die Klage ab.
25 Breitsamer und Ulrich legte gegen dieses Urteil Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein und trug zur Begründung vor, dass die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen keine „vorverpackten Lebensmittel“ im Sinne der Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung seien. Sie stellten nämlich keine Verkaufseinheiten dar, weil diese Portionen in Sammelkartons an Gemeinschaftseinrichtungen abgegeben würden, die die einzelnen Portionspackungen ihrerseits nicht verkauften.
26 Breitsamer und Ulrich verweist ferner auf ein Dokument vom 31. Januar 2013 mit dem Titel „Fragen und Antworten zur Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel“, das von einer von der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher der Europäischen Kommission eingesetzten Arbeitsgruppe aus Sachverständigen der Mitgliedstaaten (im Folgenden: Dokument der Sachverständigengruppe) erstellt worden war. In Punkt 2.1.3 dieses auf der Internetseite der Kommission veröffentlichten Dokuments heißt es: „In Anbetracht der verschiedenen Arten der Abgabe von Lebensmitteln an den Endverbraucher in Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen sei angemerkt, dass Portionsbecher (z. B. Marmelade, Honig, Senf), die den Kunden von Anbietern von Gemeinschaftsverpflegung als Teil der Mahlzeit angeboten werden, nicht als Verkaufseinheiten gelten. In solchen Fällen wäre daher die Angabe der Lebensmittelinformationen auf der Sammelpackung ausreichend.“
27 Schließlich führt Breitsamer und Ulrich aus, dass die Etikettierung von Honig-Portionspackungen, die von anderen Unternehmen hergestellt würden oder aus anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland stammten, unbeanstandet geblieben sei, obwohl bei diesen Portionspackungen die Angabe des Ursprungslands des Honigs fehle.
28 Die Landesanwaltschaft Bayern, die am Ausgangsverfahren beteiligt ist, macht geltend, dass das Ziel des Unionsrechts darin bestehe, den Verbraucher möglichst umfassend über die ihm gereichten Lebensmittel zu informieren. Die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen verlören nicht dadurch ihre Eigenschaft als vorverpackte Waren, dass sie in einem verschlossenen Sammelkarton abgepackt seien.
29 Nach Angabe des vorlegenden Gerichts fällt der fragliche Honig unter Anhang I der Honigverordnung, mit der die Richtlinie 2001/110 in das deutsche Recht umgesetzt worden sei.
30 Unter diesen Umständen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Vorlagefragen
31 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 dahin auszulegen ist, dass jede der Honig-Portionspackungen, die die Form eines mit einem versiegelten Aluminiumdeckel verschlossenen Portionsbechers aufweisen und in Sammelkartons abgepackt sind, die an Gemeinschaftseinrichtungen abgegeben werden, ein „vorverpacktes Lebensmittel“ ist, wenn diese Gemeinschaftseinrichtungen diese Portionen einzeln verkaufen oder sie in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, an den Endverbraucher abgeben.
32 Vorab ist festzustellen, dass nach dem Wortlaut der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen in den Gemeinschaftseinrichtungen einzeln an den Endverbraucher verkauft werden können, was von Breitsamer und Ulrich bestritten wird.
33 Insoweit spricht nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. Urteile vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 25, und vom 7. April 2016, KA Finanz, C‑483/14, EU:C:2016:205, Rn. 41).
34 Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit kann nicht allein dadurch widerlegt werden, dass eine der Parteien des Ausgangsverfahrens bestimmte Tatsachen bestreitet, deren Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat und die den Streitgegenstand bestimmen (vgl. Urteile vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 26, und vom 14. April 2016, Polkomtel, C‑397/14, EU:C:2016:256, Rn. 38).
35 Im vorliegenden Fall gehört die Frage, ob die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen auch einzeln verkauft werden, zum tatsächlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits, den der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat.
36 Unter diesen Umständen ist auf die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in dieser Weise formulierten Vorlagefragen zu antworten. Allerdings verfügt der Gerichtshof hinsichtlich der Verordnung Nr. 1169/2011 nicht über die erforderlichen Informationen tatsächlicher und rechtlicher Art, um die ihm gestellten Fragen im Hinblick auf diese Verordnung sachgerecht beantworten zu können.
37 Nach Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 ist unter einem „vorverpackten Lebensmittel“ im Sinne dieser Richtlinie die Verkaufseinheit zu verstehen, die ohne weitere Verarbeitung an den Endverbraucher und gemeinschaftliche Einrichtungen abgegeben werden soll und die aus einem Lebensmittel und der Verpackung besteht, in die das Lebensmittel vor dem Feilbieten abgepackt worden ist, gleichviel, ob die Verpackung es ganz oder teilweise umschließt, jedoch auf solche Weise, dass der Inhalt nicht verändert werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt.
38 Gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie befinden sich die in Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie genannten Angaben bei vorverpackten Lebensmitteln auf der Vorverpackung oder auf einem mit ihr verbundenen Etikett.
39 Insoweit bestimmt Art. 3 Abs. 1 Nr. 8 der Richtlinie, dass zu diesen Angaben die Angabe des Ursprungs- oder Herkunftsorts gehört, falls ohne diese Angabe ein Irrtum des Verbrauchers über den tatsächlichen Ursprung oder die wahre Herkunft des Lebensmittels möglich wäre.
40 Gemäß den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2000/13 sollen mit dieser Richtlinie die allgemeinen, horizontalen Gemeinschaftsregeln für alle Lebensmittel festgesetzt werden, die in den Handel gebracht werden, während die spezifischen, vertikalen Regeln, die nur bestimmte Lebensmittel betreffen, im Rahmen der Vorschriften für diese Erzeugnisse festgelegt werden müssen.
41 Es ist festzustellen, dass die Richtlinie 2001/110 solche spezifischen Regeln für Honig aufstellt. Diese Richtlinie gilt gemäß ihrem Art. 1 für die in Anhang I der Richtlinie beschriebenen Erzeugnisse. Es ist unstreitig, dass der hier fragliche Honig ein solches Erzeugnis ist.
42 Jedoch sieht Art. 2 Satz 1 der Richtlinie 2001/110 vor, dass unter bestimmten Bedingungen für die in Anhang I dieser Richtlinie beschriebenen Erzeugnisse die Richtlinie 2000/13 gilt. Art. 2 Nr. 4 Buchst. a der Richtlinie 2001/110 bestimmt im Wesentlichen, dass für die Zwecke der Richtlinie 2000/13, insbesondere deren Art. 13 und 14, die Angabe des Ursprungslands des Honigs als Angabe gemäß Art. 3 der zuletzt genannten Richtlinie gilt.
43 Diese Bestimmungen werden durch den fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/110 erläutert, in dem es heißt: „Vorbehaltlich bestimmter Bedingungen sind die allgemeinen Etikettierungsbestimmungen für Lebensmittel der Richtlinie [2000/13] anwendbar. In Anbetracht des engen Zusammenhangs zwischen der Qualität des Honigs und seiner Herkunft ist unbedingt sicherzustellen, dass vollständige Informationen zu diesen Aspekten gegeben werden, damit der Verbraucher nicht über die Qualität des Erzeugnisses irregeführt wird. Damit den besonderen Interessen der Verbraucher bezüglich der geographischen Merkmale von Honig Rechnung getragen wird und eine vollständige Transparenz in dieser Hinsicht sichergestellt ist, ist es erforderlich, dass das Ursprungsland, in dem der Honig erzeugt wurde, auf dem Etikett angegeben wird.“
44 Aus der Kombination dieser beiden Richtlinien ergibt sich, dass im Fall eines Erzeugnisses, das unter die Richtlinie 2001/110 fällt, das Ursprungsland des Honigs auf der Vorverpackung oder auf einem mit ihr verbundenen Etikett angegeben werden muss, da das Fehlen dieser Angabe in jedem Fall geeignet ist, einen Irrtum des Verbrauchers über den tatsächlichen Ursprung oder die wahre Herkunft des Honigs im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Nr. 8 der Richtlinie 2000/13 hervorzurufen.
45 Außerdem stellt Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2000/13 klar, dass diese Richtlinie auch für Lebensmittel gilt, die an Gaststättenbetriebe, Krankenhäuser, Kantinen und ähnliche gemeinschaftliche Einrichtungen („gemeinschaftliche Einrichtungen“ genannt) abgegeben werden sollen. Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, wurden im vorliegenden Fall die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen, in Sammelkartons abgepackt, an solche Gemeinschaftseinrichtungen abgegeben.
46 Allerdings ist zu prüfen, ob nicht die in Art. 13 Abs. 1 Buchst. b bzw. in Art. 14 der Richtlinie 2000/13 vorgesehenen abweichenden Bestimmungen unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen Anwendung finden.
47 Was erstens Art. 13 Abs. 1 Buchst. b erster und zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie angeht, so sieht diese Bestimmung vor, dass zum einen in Fällen, in denen die vorverpackten Lebensmittel für den Endverbraucher bestimmt sind, aber auf einer dem Verkauf an den Endverbraucher vorangehenden Stufe vermarktet werden, sofern diese Stufe nicht der Verkauf an eine gemeinschaftliche Einrichtung ist, und zum anderen in Fällen, in denen die vorverpackten Lebensmittel an gemeinschaftliche Einrichtungen abgegeben werden sollen, um dort zubereitet, verarbeitet, aufgeteilt oder abgegeben zu werden, die in Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Angaben nur in den dazugehörenden Geschäftspapieren aufgeführt zu sein brauchen, wenn sichergestellt ist, dass diese Papiere mit allen Etikettierungsangaben entweder die Lebensmittel, auf die sie sich beziehen, begleiten oder vor bzw. gleichzeitig mit der Lieferung abgesandt wurden.
48 Es ist jedoch festzustellen, dass diese Bestimmungen unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht anwendbar sind. Wie nämlich aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, haben die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen die Form von mit einem von Breitsamer und Ulrich versiegelten Aluminiumdeckel verschlossenen Portionsbechern, die von der Gemeinschaftseinrichtung, an die sie geliefert wurden, ohne weitere Verarbeitung an den Endverbraucher abgegeben werden.
49 Daher werden zum einen, wenn die für den Endverbraucher bestimmten Portionen auf einer dem Verkauf an den Endverbraucher vorangehenden Stufe vermarktet werden, diese Portionen entgegen der von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich der Richtlinie 2000/13 erfassten Fallgestaltung an Gemeinschaftseinrichtungen verkauft. Zum anderen wird der fragliche Honig von diesen Gemeinschaftseinrichtungen nicht im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie zubereitet, verarbeitet, aufgeteilt oder abgegeben.
50 Was zweitens Art. 14 der Richtlinie 2000/13 anbelangt, so heißt es in diesem Artikel, dass bei Lebensmitteln, die dem Endverbraucher und gemeinschaftlichen Einrichtungen in nicht vorverpackter Form feilgeboten werden oder die auf Wunsch des Käufers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, die Mitgliedstaaten die Art und Weise regeln, in der die in Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Angaben gemacht werden. Dabei brauchen die Mitgliedstaaten diese Angaben insgesamt oder teilweise nicht zwingend vorzuschreiben, sofern die Unterrichtung des Käufers gewährleistet ist.
51 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen nicht auf Wunsch des Käufers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, so dass die von Art. 14 erfassten Fallgestaltungen nicht einschlägig sind.
52 Damit hängt im Hinblick auf den Sachverhalt, auf den Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/13 abzielt, die Pflicht zur Etikettierung von Honig-Portionspackungen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen und damit zur Angabe des Ursprungslands oder der Ursprungsländer dieses Honigs auf diesen Portionen gemäß Art. 2 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2001/110 davon ab, ob diese Portionen als „vorverpackte Lebensmittel“ im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 anzusehen sind.
53 Insoweit ergibt sich aus Art. 8 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2000/13, dass eine Vorverpackung aus zwei oder mehr Einzelvorverpackungen bestehen kann. Der Umstand, dass die Sammelkartons, in die die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen abgepackt worden sind, selbst als Vorverpackungen eingestuft werden könnten, bedeutet daher für sich genommen nicht, dass diese Einzelportionen keine „vorverpackten Lebensmittel“ im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 sein können.
54 Im vorliegenden Fall erfüllen Honig-Portionspackungen wie die im Ausgangsverfahren fraglichen mehrere der in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 vorgesehenen Voraussetzungen, um als „vorverpackte Lebensmittel“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden zu können.
55 Wie sich nämlich aus den Sachverhaltsangaben in Rn. 48 des vorliegenden Urteils ergibt, sind die in Rede stehenden Honig-Portionspackungen zum einen dazu bestimmt, nach der Öffnung des Sammelkartons durch die Gemeinschaftseinrichtung, an die dieser geliefert wurde, dem Endverbraucher ohne weitere Verarbeitung feilgeboten zu werden. Zum anderen wurden diese Portionen vor dem Feilbieten abgepackt, wobei ihre Verpackung sie auf solche Weise ganz umschließt, dass ihr Inhalt nicht verändert werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt.
56 Allerdings ist festzustellen, dass zwischen den verschiedenen Sprachfassungen des Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 Abweichungen bestehen.
57 So verwenden u. a. die englische („any single item“) und die polnische („każd[a] pojedyncz[a] sztuk[a]“) Sprachfassung Begriffe, die nur auf ein einzelnes Element ohne weiteres Eigenschaftswort Bezug nehmen. Dagegen stellen andere Sprachfassungen der Bestimmung, wie beispielsweise die Fassungen in spanischer Sprache („la unidad de venta“), in deutscher Sprache („die Verkaufseinheit“) oder in französischer Sprache („l’unité de vente“), ebenfalls auf ein einziges Element ab, aber beziehen auch den Begriff „Verkauf“ mit ein.
58 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann der Wortlaut einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts nicht als alleinige Grundlage für deren Auslegung herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Die Bestimmungen des Unionsrechts müssen nämlich im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Textes des Unionsrechts voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteile vom 27. März 1990, Cricket St Thomas, C‑372/88, EU:C:1990:140, Rn. 18 und 19, vom 15. November 2012, Kurcums Metal, C‑558/11, EU:C:2012:721, Rn. 48, und vom 17. März 2016, Kødbranchens Fællesråd, C‑112/15, EU:C:2016:185, Rn. 36).
59 Zur allgemeinen Systematik der Richtlinie 2000/13 ist festzustellen, dass die verschiedenen Sprachfassungen des Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie voneinander abweichen, diese Bestimmung aber in jedem Fall das Anbieten zum „Verkauf“ erwähnt, sei es in spanischer Sprache („puesto a la venta“), in deutscher Sprache („vor dem Feilbieten“), in englischer Sprache („being offered for sale“), in französischer Sprache („présentation à la vente“) oder in polnischer Sprache („oferowanie na sprzedaż“).
60 Auch Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie, der vorverpackte Lebensmittel betrifft, nimmt Bezug auf den „Verkauf“ der Lebensmittel. In demselben Sinn bezieht sich Art. 14 der Richtlinie 2000/13 auf den Fall, dass die Lebensmittel dem Endverbraucher und gemeinschaftlichen Einrichtungen in nicht vorverpackter Form feilgeboten werden.
61 Außerdem stellen andere Bestimmungen dieser Richtlinie auf einen „Käufer“ ab. Neben dem erwähnten Art. 14 bestimmt Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i der Richtlinie, dass die Etikettierung und die Art und Weise, in der sie erfolgt, nicht geeignet sein dürfen, den „Käufer“ irrezuführen, und zwar insbesondere nicht über die Eigenschaften des Lebensmittels, zu denen sein Ursprung oder seine Herkunft zählt.
62 Damit ergibt sich aus der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2000/13, dass über die in Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie vorgesehenen anderen Voraussetzungen hinaus die Etikettierungspflicht gemäß Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie Lebensmittel betrifft, die ohne weitere Verarbeitung Endverbrauchern und gemeinschaftlichen Einrichtungen feilgeboten werden.
63 Diese Situation kann die Form eines separaten Verkaufs von Portionspackungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden an den Endverbraucher in einer Gemeinschaftseinrichtung, beispielsweise in einem Restaurant oder einer Kantine, annehmen.
64 Eine solche Situation liegt auch vor, wenn diese Portionspackungen in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, abgegeben werden, beispielsweise als Bestandteil eines von einem Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung zusammengestellten Menus oder als Bestandteil eines Hotelbuffets.
65 Wie nämlich die Generalanwältin in Nr. 54 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, deckt der Pauschalpreis alle Waren und Dienstleistungen ab, die für die Abgabe dieser Mahlzeit erforderlich sind, und umfasst daher die verschiedenen Bestandteile dieser Mahlzeit, gegebenenfalls einschließlich der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Honig-Portionspackungen.
66 Diese Auslegung von Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 wird durch die Zielsetzung der Richtlinie bestätigt.
67 Sowohl aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie als auch aus ihrem Art. 2 geht nämlich hervor, dass sie im Interesse der Unterrichtung und des Schutzes des Endverbrauchers von Lebensmitteln, namentlich was Art, Identität, Beschaffenheit, Zusammensetzung, Menge, Haltbarkeit, Ursprung oder Herkunft und Herstellungs- oder Gewinnungsart dieser Erzeugnisse angeht, konzipiert wurde (Urteil vom 23. November 2006, Lidl Italia, C‑315/05, EU:C:2006:736, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 In dieser Hinsicht soll, wie es im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/13 heißt, die detaillierte Etikettierung, die Auskunft über die genaue Art und die Merkmale des Erzeugnisses gibt, es dem Verbraucher ermöglichen, sachkundig seine Wahl zu treffen.
69 Die Richtlinie verlangt daher, dass der Käufer über korrekte, neutrale und objektive Informationen verfügt, durch die er nicht irregeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2015, Teekanne, C‑195/14, EU:C:2015:361, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Wie oben in Rn. 43 ausgeführt, ergibt sich aber aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/110, dass es erforderlich ist, dass das Ursprungsland, in dem der Honig erzeugt wurde, auf dem Etikett angegeben wird, damit den besonderen Interessen der Verbraucher bezüglich der geografischen Merkmale von Honig Rechnung getragen wird und eine vollständige Transparenz in dieser Hinsicht sichergestellt ist.
71 Eine solche Angabe auf Honig-Portionspackungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden trägt somit dazu bei, dass der Verbraucher bei der Entscheidung, diesen Honig einzeln zu kaufen oder, wenn er als Bestandteil eines pauschal bezahlten Fertiggerichts abgegeben wird, zu verzehren, sachkundig seine Wahl treffen kann.
72 Es ist hinzuzufügen, dass gemäß Art. 13 Abs. 4 der Richtlinie 2000/13 bei Verpackungen oder Behältnissen, deren größte Oberfläche weniger als 10 cm2 beträgt, nur die in Art. 3 Abs. 1 Nrn. 1, 4 und 5 genannten Angaben aufgeführt zu werden brauchen. In diesem Fall wäre folglich die Angabe des Ursprungslands, die in Art. 3 Abs. 1 Nr. 8 aufgeführt ist, nicht erforderlich.
73 Alle in der mündlichen Verhandlung anwesenden Verfahrensbeteiligten haben erklärt, dass die größte Oberfläche der in Rede stehenden Honig-Portionspackungen mehr als 10 cm2 betrug.
74 Es ist vom vorlegenden Gericht zu überprüfen, ob die fragliche Oberfläche tatsächlich größer als 10 cm2 ist. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, brauchte gemäß Art. 13 Abs. 4 der Richtlinie 2000/13 auf Honig-Portionspackungen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, das Ursprungsland des Honigs nicht angegeben zu werden.
75 Sollte es dagegen der Fall sein, stellt nach den vorstehenden Ausführungen jede der Portionspackungen in Form von mit einem versiegelten Aluminiumdeckel verschlossenen Portionsbechern, die in einem von dem Lebensmittelunternehmer verschlossenen Sammelkarton abgepackt sind und in dieser Form an Gemeinschaftseinrichtungen verkauft werden, sofern diese sie einzeln verkaufen oder sie in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, an den Endverbraucher abgeben, ein „vorverpacktes Lebensmittel“ dar, das als solches der Pflicht zur Angabe des Ursprungslands des Honigs unterliegt.
76 Die dafür vorgebrachten Argumente, dass Honig-Portionspackungen wie die im Ausgangsverfahren fraglichen keiner Etikettierungspflicht unterliegen, vermögen diese Auslegung nicht in Frage zu stellen.
77 So ist erstens vorgetragen worden, es gehe aus dem oben in Rn. 26 des vorliegenden Urteils angeführten Dokument der Sachverständigengruppe hervor, dass Honig-Portionsbecher, die den Endverbrauchern in einer Einrichtung zur Gemeinschaftsverpflegung als Teil der Mahlzeit angeboten würden, nicht als Verkaufseinheiten gälten. Daher sei die Angabe der Herkunft dieses Honigs auf dem Sammelkarton ausreichend.
78 Insoweit genügt die Feststellung, dass dieses Dokument der Sachverständigengruppe keinerlei Bindungswirkung hat. Es enthält im Übrigen in seinem Punkt 1 die Angabe, dass es keinen formalrechtlichen Status besitze und dass für die Auslegung der Rechtsvorschriften der Union im Fall von Streitigkeiten letztlich der Gerichtshof zuständig sei.
79 Zweitens ist dahin argumentiert worden, dass der Lebensmittelunternehmer auf jeder Honig-Portionspackung eine Angabe wie „nicht einzeln zu verkaufen“ anbringen könne, was zur Folge hätte, dass ohne einen Einzelverkauf von der Richtlinie 2000/13 nicht verlangt würde, dass auf jeder der Portionspackungen das Ursprungsland des Honigs angegeben werde.
80 Wie jedoch in den Rn. 63 und 64 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, betrifft die Pflicht zur Etikettierung von Honig-Portionspackungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/13 insbesondere die Situation, in der die Portionspackungen dazu bestimmt sind, ohne weitere Verarbeitung dem Endverbraucher in einer Gemeinschaftseinrichtung feilgeboten zu werden, d. h. die Fälle, in denen die Portionen einzeln verkauft oder in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, abgegeben werden.
81 Unter diesen Umständen muss keine Unterscheidung danach getroffen werden, ob es sich bei dem Verkauf von Honig-Portionspackungen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen um einen Einzelverkauf handelt oder nicht.
82 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13 dahin auszulegen ist, dass jede der Honig-Portionspackungen, die die Form eines mit einem versiegelten Aluminiumdeckel verschlossenen Portionsbechers aufweisen und in Sammelkartons abgepackt sind, die an Gemeinschaftseinrichtungen abgegeben werden, ein „vorverpacktes Lebensmittel“ ist, wenn diese Gemeinschaftseinrichtungen diese Portionen einzeln verkaufen oder sie in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, an den Endverbraucher abgeben.
Kosten
83 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür ist dahin auszulegen, dass jede der Honig-Portionspackungen, die die Form eines mit einem versiegelten Aluminiumdeckel verschlossenen Portionsbechers aufweisen und in Sammelkartons abgepackt sind, die an Gemeinschaftseinrichtungen abgegeben werden, ein „vorverpacktes Lebensmittel“ ist, wenn diese Gemeinschaftseinrichtungen diese Portionen einzeln verkaufen oder sie in fertig zusammengestellten Gerichten, die pauschal bezahlt werden, an den Endverbraucher abgeben.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 21. September 2016.#European Federation for Cosmetic Ingredients gegen Secretary of State for Business, Innovation and Skills und Attorney General.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Kosmetische Mittel – Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 – Art. 18 Abs. 1 Buchst. b – Kosmetische Mittel, deren Bestandteile oder Kombinationen von Bestandteilen, zur Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung‘ durch Tierversuche bestimmt worden sind – Verbot des Inverkehrbringens auf dem Markt der Europäischen Union – Umfang.#Rechtssache C-592/14.
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62014CJ0592
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ECLI:EU:C:2016:703
| 2016-09-21T00:00:00 |
Bobek, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0592
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
21. September 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Rechtsangleichung — Kosmetische Mittel — Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 — Art. 18 Abs. 1 Buchst. b — Kosmetische Mittel, deren Bestandteile oder Kombinationen von Bestandteilen ‚zur Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung‘ durch Tierversuche bestimmt worden sind — Verbot des Inverkehrbringens auf dem Markt der Europäischen Union — Umfang“
In der Rechtssache C‑592/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Verwaltungskammer], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 15. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Dezember 2014, in dem Verfahren
European Federation for Cosmetic Ingredients
gegen
Secretary of State for Business, Innovation and Skills,
Attorney General,
Beteiligte:
Cruelty Free International, vormals British Union for the Abolition of Vivisection,
European Coalition to End Animal Experiments,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter A. Arabadjiev, J.‑C. Bonichot, C. G. Fernlund (Berichterstatter) und E. Regan,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Dezember 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der European Federation for Cosmetic Ingredients, vertreten durch D. Abrahams, Barrister, sowie R. Cana und I. de Seze, avocats,
—
von Cruelty Free International und der European Coalition to End Animal Experiments, vertreten durch D. Thomas, Solicitor, und A. Bates, Barrister,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Barfoot als Bevollmächtigten im Beistand von G. Facenna, QC, und J. Holmes, Barrister,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch S. Charitaki und A. Magrippi als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und J. Traband als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Flynn und P. Mihaylova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. März 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über kosmetische Mittel (ABl. 2009, L 342, S. 59).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der European Federation for Cosmetic Ingredients (im Folgenden: EFfCI) einerseits und dem Secretary of State for Business, Innovation and Skills (Staatssekretär für Handel, Innovation und berufliche Qualifizierung, im Folgenden: Staatssekretär für Handel) und dem Attorney General, unter Beteiligung von Cruelty Free International, vormals British Union for the Abolition of Vivisection, und der European Coalition to End Animal Experiments, andererseits wegen des Umfangs des in dieser Bestimmung festgelegten Vermarktungsverbots.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 4, 38 bis 42 sowie 45 und 50 der Verordnung Nr. 1223/2009 lauten:
„(4)
Mit dieser Verordnung werden die Rechtsvorschriften über kosmetische Mittel in der Gemeinschaft umfassend harmonisiert, um zu einem Binnenmarkt für kosmetische Mittel zu gelangen und zugleich ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu gewährleisten.
…
(38) Das dem Vertrag beigefügte Protokoll über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere sieht vor, dass die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Politik der Gemeinschaft, insbesondere im Bereich des Binnenmarkts, dem Wohlergehen der Tiere in vollem Umfang Rechnung zu tragen haben.
(39) In der Richtlinie 86/609/EWG des Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere ([ABl. 1986, L 358, S. 1]) wurden gemeinsame Regeln für die Verwendung von Tieren zu Versuchszwecken in der Gemeinschaft aufgestellt und die Bedingungen festgelegt, unter denen diese Versuche im Staatsgebiet der Mitgliedstaaten durchgeführt werden müssen. Insbesondere dürfen gemäß Artikel 7 dieser Richtlinie keine Tierversuche durchgeführt werden, wenn wissenschaftlich zufriedenstellende Alternativen zur Verfügung stehen.
(40) Es besteht die Möglichkeit, die Sicherheit kosmetischer Mittel und ihrer Bestandteile mit alternativen Methoden zu gewährleisten, die nicht zwangsläufig auf alle Verwendungsmöglichkeiten chemischer Bestandteile anwendbar sind. Daher sollte der Einsatz dieser Methoden in der gesamten Kosmetikindustrie gefördert und die Übernahme dieser Methoden auf Gemeinschaftsebene sichergestellt werden, wenn sie den Verbrauchern ein gleichwertiges Schutzniveau bieten.
(41) Es ist inzwischen möglich, die Sicherheit kosmetischer Fertigerzeugnisse aufgrund des Wissens über die Sicherheit der darin enthaltenen Bestandteile zu garantieren. Folglich sollte ein Verbot von Tierversuchen für kosmetische Fertigerzeugnisse vorgesehen werden. …
(42) Es wird zunehmend möglich sein, die Sicherheit der in kosmetischen Mitteln verwendeten Bestandteile durch die Verwendung der vom Europäischen Zentrum zur Validierung alternativer Methoden (EZVAM) auf Gemeinschaftsebene validierten oder als wissenschaftlich validiert anerkannten tierversuchsfreien Alternativmethoden zu gewährleisten, unter gebührender Berücksichtigung der Entwicklung der Validierung innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Nach Anhörung des [Wissenschaftlichen Ausschusses „Verbrauchersicherheit“ (SCCS)] zur Anwendbarkeit der validierten alternativen Methoden auf den Bereich der kosmetischen Mittel sollte die Kommission unverzüglich die als auf solche Bestandteile anwendbar anerkannten validierten oder gebilligten Methoden veröffentlichen. Um ein Höchstmaß an Schutz für die Tiere zu erreichen, sollte eine Frist für die Einführung eines endgültigen Verbots festgesetzt werden.
…
(45) Die Anerkennung der in der Gemeinschaft entwickelten alternativen Versuchsmethoden durch Drittländer sollte gefördert werden. Zu diesem Zweck sollten die Kommission und die Mitgliedstaaten alle geeigneten Schritte unternehmen, um die Anerkennung dieser Methoden durch die OECD zu erleichtern. Ferner sollte sich die Kommission darum bemühen, im Rahmen der Kooperationsabkommen der Europäischen Gemeinschaft die Anerkennung der in der Gemeinschaft mit alternativen Methoden durchgeführten Sicherheitsprüfungen zu erwirken, damit die Ausfuhr der nach diesen Verfahren getesteten kosmetischen Erzeugnisse nicht behindert wird, und um zu vermeiden, dass Drittländer eine Wiederholung dieser Versuche unter Verwendung von Tieren verlangen.
…
(50) Es sollte möglich sein, dass in die Sicherheitsbewertung eines kosmetischen Mittels Ergebnisse von Risikobewertungen einfließen, die bereits in anderen einschlägigen Bereichen vorgenommen wurden. Die Verwendung solcher Daten sollte ordnungsgemäß belegt und begründet werden.“
4 Gemäß Art. 1 („Gegenstand und Zielsetzung“) der Verordnung Nr. 1223/2009 werden „[m]it dieser Verordnung … Regeln aufgestellt, die jedes auf dem Markt bereitgestellte kosmetische Mittel erfüllen muss, um das Funktionieren des Binnenmarktes und ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu gewährleisten“.
5 Art. 3 („Sicherheit“) der Verordnung sieht vor:
„Die auf dem Markt bereitgestellten kosmetischen Mittel müssen bei normaler oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung für die menschliche Gesundheit sicher sein, …“
6 Art. 10 („Sicherheitsbewertung“) der Verordnung bestimmt:
„(1) Zum Nachweis der Konformität des kosmetischen Mittels mit Artikel 3 stellt die verantwortliche Person vor dem Inverkehrbringen eines kosmetischen Mittels sicher, dass das kosmetische Mittel eine Sicherheitsbewertung auf der Grundlage der maßgeblichen Informationen durchlaufen hat und ein Sicherheitsbericht für das kosmetische Mittel gemäß Anhang I erstellt worden ist.
Die verantwortliche Person stellt sicher, dass
a)
die beabsichtigte Verwendung des kosmetischen Mittels und die voraussichtliche systemische Belastung durch einzelne Inhaltsstoffe in einer endgültigen Zusammensetzung bei der Sicherheitsbewertung berücksichtigt werden,
b)
bei der Sicherheitsbewertung ein angemessenes Beweiskraftkonzept für die Überprüfung der Daten aus allen vorhandenen Quellen angewendet wird,
c)
der Sicherheitsbericht für das kosmetische Mittel hinsichtlich zusätzlicher sachdienlicher Informationen, die sich nach dem Inverkehrbringen des Mittels ergeben haben, aktualisiert wird.
…“
7 Art. 11 („Produktinformationsdatei“) der Verordnung Nr. 1223/2009 sieht vor, dass, „[w]enn ein kosmetisches Mittel in Verkehr gebracht wird, … die verantwortliche Person darüber eine Produktinformationsdatei“ führt und dass diese Datei u. a. „den in Artikel 10 Absatz 1 genannten Sicherheitsbericht für das kosmetische Mittel“ und „Daten über jegliche vom Hersteller, Vertreiber oder Zulieferer im Zusammenhang mit der Entwicklung oder der Sicherheitsbewertung des kosmetischen Mittels oder seiner Bestandteile durchgeführten Tierversuche, einschließlich aller Tierversuche zur Erfüllung der Rechtsvorschriften von Drittländern“, enthält.
8 In Art. 18 („Tierversuche“) der Verordnung heißt es:
„(1) Unbeschadet der allgemeinen Verpflichtungen aus Artikel 3 ist Folgendes untersagt:
a)
das Inverkehrbringen von kosmetischen Mitteln, deren endgültige Zusammensetzung zur Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung durch Tierversuche bestimmt worden ist, wobei eine andere als eine alternative Methode angewandt wurde, nachdem eine solche alternative Methode unter gebührender Berücksichtigung der Entwicklung der Validierung innerhalb der OECD auf Gemeinschaftsebene validiert und angenommen wurde;
b)
das Inverkehrbringen von kosmetischen Mitteln, deren Bestandteile oder Kombinationen von Bestandteilen zur Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung durch Tierversuche bestimmt worden sind, wobei eine andere als eine alternative Methode angewandt wurde, nachdem eine solche alternative Methode unter gebührender Berücksichtigung der Entwicklung der Validierung innerhalb der OECD auf Gemeinschaftsebene validiert und angenommen wurde;
c)
die Durchführung von Tierversuchen mit kosmetischen Fertigerzeugnissen innerhalb der Gemeinschaft zur Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung;
d)
die Durchführung von Tierversuchen mit Bestandteilen oder Kombinationen von Bestandteilen innerhalb der Gemeinschaft zur Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung, nach dem Datum, an dem diese Versuche durch eine oder mehrere in der Verordnung (EG) Nr. 440/2008 der Kommission vom 30. Mai 2008 über Prüfmethoden gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) ([ABl. 2008, L 142, S. 1]) oder in Anhang VIII der vorliegenden Verordnung aufgeführte, validierte Alternativmethoden ersetzt werden müssen.
(2) Die Kommission hat nach Anhörung des [Wissenschaftlichen Ausschusses ‚Verbrauchersicherheit‘ (SCCS)] und des Europäischen Zentrums zur Validierung alternativer Methoden (ECVAM) unter gebührender Berücksichtigung der Entwicklung der Validierung innerhalb der OECD Zeitpläne für die Umsetzung der Bestimmungen gemäß Absatz 1 Buchstaben a), b) und d) einschließlich der Fristen für die stufenweise Einstellung der verschiedenen Versuche erstellt. Die Zeitpläne wurden am 1. Oktober 2004 veröffentlicht und dem Europäischen Parlament und dem Rat übermittelt. Der Umsetzungszeitraum für Absatz 1 Buchstaben a, b und d endete am 11. März 2009.
Für Versuche im Zusammenhang mit der Toxizität bei wiederholter Verabreichung, der Reproduktionstoxizität und der Toxikokinetik, für die noch keine Alternativen geprüft werden, endet der Umsetzungszeitraum für Absatz 1 Buchstaben a und b am 11. März 2013.
…
Unter außergewöhnlichen Umständen, bei denen bezüglich der Sicherheit eines bestehenden Kosmetikbestandteils ernsthafte Bedenken bestehen, kann ein Mitgliedstaat die Kommission ersuchen, eine Ausnahme von Absatz 1 zu gewähren. Das Ersuchen enthält eine Bewertung der Lage und umfasst die notwendigen Maßnahmen. Auf dieser Grundlage kann die Kommission nach Anhörung des [Wissenschaftlichen Ausschusses ‚Verbrauchersicherheit‘ (SCCS)] in Form einer begründeten Entscheidung eine Ausnahme genehmigen. Diese Genehmigung enthält die Bedingungen, die für diese Ausnahme bezüglich der spezifischen Ziele, der Dauer und der Übermittlung der Ergebnisse gelten.
Eine Ausnahme wird nur gewährt, wenn
a)
der Bestandteil weit verbreitet ist und nicht durch einen anderen Bestandteil mit ähnlicher Funktion substituiert werden kann;
b)
das spezifische Gesundheitsproblem für den Menschen begründet und die Notwendigkeit der Durchführung von Tierversuchen anhand eines detaillierten Forschungsprotokolls, das als Grundlage für die Bewertung vorgeschlagen wurde, nachgewiesen wird.
…“
9 In Anhang I dieser Verordnung sind die Angaben aufgeführt, die der Sicherheitsbericht für ein kosmetisches Mittel enthalten muss; in Abschnitt 8 in Teil A („Sicherheitsinformationen über kosmetische Mittel“) dieses Anhangs heißt es:
„Unbeschadet der Bestimmungen von Artikel 18 die toxikologischen Profile der im kosmetischen Mittel enthaltenen Stoffe für alle maßgeblichen toxikologischen Endpunkte. …“
Recht des Vereinigten Königreichs
10 Regulation 12 der Cosmetic Products Enforcement Regulations 2013 (SI 2013/1478) (Durchführungsverordnung über kosmetische Mittel von 2013) sieht u. a. vor, dass sich strafbar macht, wer gegen das in Art. 18 der Verordnung Nr. 1223/2009 enthaltene Verbot verstößt.
11 Gemäß Regulation 6 wird die Verordnung von der vollziehenden Behörde, im vorliegenden Fall dem Staatssekretär für Handel, durchgeführt, der die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbefugnisse im Hinblick auf Verstöße gegen die Verpflichtungen aus dieser Verordnung übertragen sind.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Die EFfCI ist ein Wirtschaftsverband, der die in der Europäischen Union ansässigen Hersteller von zur Verwendung in kosmetischen Mitteln bestimmten Bestandteilen vertritt.
13 Mitglieder dieses Verbands führten außerhalb der Union Tierversuche durch, um zu überprüfen, ob bestimmte Kosmetikbestandteile für die menschliche Gesundheit sicher sind. Die aus diesen Versuchen gewonnenen Daten waren erforderlich, um diese Bestandteile in kosmetischen Mitteln verwenden zu dürfen, die in Japan und in China verkauft werden sollten.
14 Diese Bestandteile wurden bisher noch nicht in kosmetischen Mitteln, die auf dem Unionsmarkt in Verkehr gebracht wurden, verwendet, weil Unklarheit hinsichtlich des Umfangs des in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 enthaltenen Verbots von Tierversuchen bestand.
15 Die EFfCI brachte daher beim vorlegenden Gericht eine Klage auf gerichtliche Überprüfung „judicial review“ bezüglich des Umfangs dieses Verbots ein, um feststellen zu lassen, ob sich die drei betroffenen Gesellschaften strafbar machen, wenn sie im Vereinigten Königreich kosmetische Mittel in Verkehr bringen, deren Bestandteile außerhalb der Union durch Tierversuche bestimmt worden sind.
16 Vor diesem Gericht hat die EFfCI geltend gemacht, dass das in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 festgelegte Verbot nur dann greife, wenn die fraglichen Tierversuche zur Einhaltung einer oder mehrerer Bestimmungen der Verordnung durchgeführt worden seien. Seien diese Versuche jedoch außerhalb der Union zur Erfüllung der Rechtsvorschriften eines Drittlands durchgeführt worden, könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Bestandteile „zur Einhaltung der Bestimmungen [der Verordnung Nr. 1223/2009]“ durch Tierversuche bestimmt worden seien.
17 Der Staatssekretär für Handel und der Attorney General hingegen haben die Ansicht vertreten, dass Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 dahin auszulegen sei, dass auch das Inverkehrbringen kosmetischer Mittel, deren Bestandteile zur Erfüllung der Rechtsvorschriften eines Drittlands in Tierversuchen außerhalb der Europäischen Union getestet worden seien, verboten sei, wenn diese Rechtsvorschriften denen der Verordnung entsprächen.
18 Cruelty Free International und die European Coalition to End Animal Experiments haben unter Verweis u. a. auf die Nrn. 84 bis 86 der Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der Rechtssache Frankreich/Parlament und Rat (C‑244/03, EU:C:2005:178) vorgetragen, dass mit dieser Bestimmung das Inverkehrbringen von kosmetischen Mitteln, die in Tierversuchen bestimmte Bestandteile enthielten, unabhängig davon verboten werden solle, ob die Verwendung der aufgrund dieser Versuche in Drittländern gewonnenen Daten zum Nachweis der Sicherheit des Mittels für die menschliche Gesundheit nach der Verordnung Nr. 1223/2009 erforderlich sei oder nicht.
19 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Tragweite von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009, insbesondere der Wendung „zur Einhaltung der Bestimmungen dieser Verordnung“, eine echte Rechtsfrage aufwerfe.
20 Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Verwaltungskammer], Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Anträgen auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
21 Mit Schreiben, die am 28. April bzw. am 6. Juni 2016 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen sind, haben die EFfCI und die französische Regierung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt, weil sich die Schlussanträge des Generalanwalts auf Gesichtspunkte stützten, die zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht erörtert worden seien. Zudem gingen die Schlussanträge über die Vorlagefragen hinaus, weil das vorlegende Gericht ausdrücklich festgestellt habe, dass die für die Zwecke der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission (ABl. 2006, L 396, S. 1) durchgeführten Tierversuche kein Vorabentscheidungsersuchen rechtfertigten.
22 Die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung des Gerichtshofs sehen keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vor, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (vgl. u. a. Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 24).
23 Der Generalanwalt hat nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Die Schlussanträge des Generalanwalts oder ihre Begründung binden den Gerichtshof nicht (Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 25).
24 Dass ein Beteiligter mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 26).
25 Allerdings kann der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
26 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Ansicht, dass er über alle zur Beantwortung der Vorlagefragen erforderlichen Angaben verfügt und dass diese insbesondere in der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 2015 zwischen den Parteien erörtert wurden.
27 Die Anträge auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens sind daher zurückzuweisen.
Zu den Vorlagefragen
28 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob – und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen – Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 dahin auszulegen ist, dass er das Inverkehrbringen von kosmetischen Mitteln auf dem Unionsmarkt verbietet, bei denen einige Bestandteile durch Tierversuche außerhalb der Union bestimmt worden sind, um kosmetische Mittel in Drittländern vermarkten zu können.
29 Um diese Fragen zu beantworten, ist insbesondere zu prüfen, ob die Wendung „zur Einhaltung der Bestimmungen [der Verordnung Nr. 1223/2009]“ in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Tierversuche wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfassen kann.
30 Ihrer üblichen Bedeutung im gewöhnlichen Sprachgebrauch zufolge legt diese Wendung nahe, dass sie auf die den fraglichen Versuchen zugrunde liegende Absicht Bezug nimmt, die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1223/2009 einzuhalten. Bei einer rein wörtlichen Betrachtungsweise lässt sich die Wendung somit dahin auslegen, dass sie die Erbringung des Nachweises voraussetzt, dass es dem für diese Versuche Verantwortlichen während ihrer Durchführung darum ging, die Bestimmungen dieser Verordnung einzuhalten. Nach einer solchen Auslegung wären Tierversuche wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die von dem Bestreben, Rechtsvorschriften von Drittländern über die Sicherheit kosmetischer Mittel zu erfüllen, geleitet gewesen sein sollen, nicht von dem in der fraglichen Bestimmung enthaltenen Verbot erfasst.
31 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts jedoch nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 10. Juli 2014, D. und G., C‑358/13 und C‑181/14, EU:C:2014:2060, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit der Verordnung Nr. 1223/2009 ausweislich ihres vierten Erwägungsgrundes die Rechtsvorschriften über kosmetische Mittel in der Union umfassend harmonisiert werden sollen, um zu einem Binnenmarkt für kosmetische Mittel zu gelangen und zugleich ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu gewährleisten. Nach Art. 1 werden mit dieser Verordnung Regeln aufgestellt, die jedes auf dem Markt bereitgestellte kosmetische Mittel erfüllen muss.
33 Was die Regeln zur Gewährleistung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus betrifft, so folgt aus den Art. 3, 10 und 11 dieser Verordnung, dass ein kosmetisches Mittel für die menschliche Gesundheit sicher sein muss, dass es eine Sicherheitsbewertung auf der Grundlage der maßgeblichen Informationen durchlaufen haben muss und dass ein Sicherheitsbericht zu erstellen und in die Produktinformationsdatei aufzunehmen ist.
34 Die Verordnung Nr. 1223/2009 enthält ferner Regeln, mit denen ein Niveau des Schutzes von Tieren im Kosmetiksektor geschaffen werden soll, das höher als das in anderen Sektoren geltende Schutzniveau ist. Aus einer Gesamtschau der Erwägungsgründe 38 bis 42 sowie 45 und 50 ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber im Rahmen dieser Verordnung dem Wohlergehen der Tiere Rechnung tragen wollte, und zwar u. a dadurch, dass er eine Verwendung tierversuchsfreier Alternativmethoden zur Gewährleistung der Sicherheit von Produkten im Kosmetiksektor, die umfassender als in anderen Sektoren sein soll, aktiv fördert. Aus dem 42. Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt sich insbesondere, dass es zunehmend möglich sein wird, die Sicherheit der in kosmetischen Mitteln verwendeten Bestandteile mit Hilfe solcher Methoden zu gewährleisten und dass, „[u]m ein Höchstmaß an Schutz für die Tiere zu erreichen, … eine Frist für die Einführung eines endgültigen Verbots [der anderen Methoden] festgesetzt werden“ sollte.
35 Da die Verordnung Nr. 1223/2009 somit darauf abzielt, die Bedingungen für den Zugang von kosmetischen Mitteln zum Unionsmarkt festzulegen und ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu gewährleisten, wobei zugleich für das Wohlergehen der Tiere gesorgt werden soll, indem im Bereich kosmetischer Mittel Tierversuche verboten werden, muss Art. 18 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung dahin verstanden werden, dass er diesen Marktzugang an die Beachtung des Verbots von Tierversuchen knüpft.
36 In diesem Zusammenhang ist erstens festzustellen, dass im Rahmen der Sicherheitsbewertung, die nach Art. 10 der Verordnung Nr. 1223/2009 für ein kosmetisches Mittel erforderlich ist, Tierversuche in Betracht gezogen werden können. Nach Abs. 1 Buchst. b dieses Artikels ist sicherzustellen, dass bei dieser Sicherheitsbewertung ein angemessenes Beweiskraftkonzept für die Überprüfung der Daten aus allen vorhandenen Quellen angewandt wird. Allerdings sieht Anhang I Abschnitt 8 dieser Verordnung vor, dass das toxikologische Profil, das Bestandteil des Sicherheitsberichts für ein kosmetisches Mittel ist, unbeschadet der Bestimmungen von Art. 18 dieser Verordnung zu erstellen ist.
37 Tierversuche, deren Ergebnisse nicht in diesem Bericht aufscheinen, sind daher nicht als „zur Einhaltung der Bestimmungen [der Verordnung Nr. 1223/2009]“ im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung durchgeführt anzusehen. Lässt sich die Sicherheitsbewertung für das kosmetische Mittel auch ohne diese Ergebnisse gewährleisten, hängt der Zugang dieses Mittels zum Unionsmarkt nämlich nicht von solchen Versuchen ab.
38 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass – wie der Generalanwalt in den Nrn. 94, 95 und 98 seiner Schlussanträge dargelegt hat – das in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 aufgestellte Verbot nicht schon dann gilt, wenn in der Produktinformationsdatei für das kosmetische Mittel aus Tierversuchen gewonnene Daten angeführt werden. Denn nach Art. 11 der Verordnung muss diese Datei Daten über jegliche, insbesondere vom Hersteller durchgeführten Tierversuche zur Erfüllung der Rechtsvorschriften von Drittländern enthalten.
39 Dagegen reicht der Umstand, dass im Sicherheitsbericht für ein kosmetisches Mittel Ergebnisse von Tierversuchen mit einem Bestandteil zum kosmetischen Gebrauch angeführt werden, um die Sicherheit dieses Bestandteils für die menschliche Gesundheit nachzuweisen, für die Feststellung aus, dass diese Versuche zur Einhaltung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1223/2009 durchgeführt wurden, um Zugang zum Unionsmarkt zu erhalten.
40 Unerheblich ist insoweit, dass es dieser Tierversuche bedurfte, um die Vermarktung kosmetischer Mittel in Drittländern zu ermöglichen.
41 Zweitens ist festzustellen, dass Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 nicht nach dem Ort, an dem der in Rede stehende Tierversuch durchgeführt wurde, unterscheidet. Eine solche Unterscheidung im Wege der Auslegung einzuführen, stünde in Widerspruch zu dem mit der Verordnung Nr. 1223/2009 im Allgemeinen und ihrem Art. 18 im Besonderen verfolgten Tierschutzziel.
42 Wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, will diese Verordnung nämlich aktiv eine Verwendung tierversuchsfreier Alternativmethoden zur Gewährleistung der Sicherheit von Produkten im Kosmetiksektor fördern, die umfassender als in anderen Sektoren sein soll, und zwar insbesondere dadurch, dass sie für die stufenweise Abschaffung von Tierversuchen in diesem Sektor sorgt. Die Verwirklichung dieses Ziels wäre erheblich gefährdet, wenn es möglich wäre, die in Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1223/2009 aufgestellten Verbote dadurch zu umgehen, dass die verbotenen Tierversuche außerhalb der Union durchgeführt werden.
43 Daher ist diese Bestimmung im Licht ihres Zusammenhangs und ihrer Ziele dahin auszulegen, dass Tierversuche, die außerhalb der Union durchgeführt werden, um die Vermarktung kosmetischer Mittel in Drittländern zu ermöglichen, und deren Ergebnisse verwendet werden, um die Sicherheit dieser Mittel im Hinblick auf ihr Inverkehrbringen auf dem Unionsmarkt nachzuweisen, als „zur Einhaltung der Bestimmungen [dieser Verordnung]“ durchgeführte Tierversuche anzusehen sind.
44 Das in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 aufgestellte Vermarktungsverbot kann daher dann greifen, wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tierversuche nach Ablauf der in Art. 18 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Fristen für die stufenweise Einstellung der verschiedenen Versuche durchgeführt wurden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
45 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1223/2009 dahin auszulegen ist, dass er das Inverkehrbringen von kosmetischen Mitteln auf dem Unionsmarkt, bei denen einige Bestandteile durch Tierversuche außerhalb der Union bestimmt worden sind, um kosmetische Mittel in Drittländern vermarkten zu können, verbieten kann, wenn die dabei gewonnenen Daten verwendet werden, um die Sicherheit dieser Mittel im Hinblick auf ihr Inverkehrbringen auf dem Unionsmarkt nachzuweisen.
Kosten
46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über kosmetische Mittel ist dahin auszulegen, dass er das Inverkehrbringen von kosmetischen Mitteln auf dem Markt der Europäischen Union, bei denen einige Bestandteile durch Tierversuche außerhalb der Union bestimmt worden sind, um kosmetische Mittel in Drittländern vermarkten zu können, verbieten kann, wenn die dabei gewonnenen Daten verwendet werden, um die Sicherheit dieser Mittel im Hinblick auf ihr Inverkehrbringen auf dem Unionsmarkt nachzuweisen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 15. September 2016.#PT Perindustrian dan Perdagangan Musim Semi Mas (PT Musim Mas) gegen Rat der Europäischen Union.#Dumping – Einfuhren von Biodiesel mit Ursprung in Indonesien – Endgültige Vereinnahmung der vorläufigen Antidumpingzölle – Endgültige Antidumpingzölle – Verteidigungsrechte – Art. 2 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 – Normalwert – Produktionskosten.#Rechtssache T-80/14.
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62014TJ0080
|
ECLI:EU:T:2016:504
| 2016-09-15T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TJ0080 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 15. September 2016.#SC Star Storage SA u. a. gegen Institutul Naţional de Cercetare-Dezvoltare în Informatică (ICI) u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti und der Curtea de Apel Oradea.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG – Öffentliche Aufträge – Nachprüfungsverfahren – Nationale Regelung, wonach die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen Handlungen des öffentlichen Auftraggebers die Bestellung einer ‚Wohlverhaltenssicherheit‘ voraussetzt – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.#Verbundene Rechtssachen C-439/14 und C-488/14.
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62014CJ0439
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ECLI:EU:C:2016:688
| 2016-09-15T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0439
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
15. September 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG — Öffentliche Aufträge — Nachprüfungsverfahren — Nationale Regelung, wonach die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen Handlungen des öffentlichen Auftraggebers die Bestellung einer ‚Wohlverhaltenssicherheit‘ voraussetzt — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 47 — Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“
In den verbundenen Rechtssachen C‑439/14 und C‑488/14
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Beschluss vom 19. September 2014 und von der Curte de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea, Rumänien) mit Beschluss vom 8. Oktober 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September und 4. November 2014, in den Verfahren
SC Star Storage SA
gegen
Institutul Naţional de Cercetare-Dezvoltare în Informatică (ICI) (C‑439/14)
und
SC Max Boegl România SRL,
SC UTI Grup SA,
Astaldi SpA,
SC Construcții Napoca SA
gegen
RA Aeroportul Oradea,
SC Porr Construct SRL,
Teerag-Asdag Aktiengesellschaft,
SC Col-Air Trading SRL,
AVZI SA,
Trameco SA,
Iamsat Muntenia SA (C‑488/14)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter D. Šváby, J. Malenovský, M. Safjan und M. Vilaras (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Januar 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der SC Star Storage SA, vertreten durch A. Fetiță, avocate,
—
der SC Max Boegl România SRL, vertreten durch F. Irimia, avocat,
—
der rumänischen Regierung, vertreten durch R.‑H. Radu, R. Haţieganu, D. Bulancea und M. Bejenar als Bevollmächtigte,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis und K. Karavasili als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und I. Rogalski als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. April 2016
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. 1989, L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 335, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665), von Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. 1992, L 76, S. 14) in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 92/13) und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der SC Star Storage SA und dem Institut Naţional de Cercetare-Dezvoltare în Informatică (ICI) (Nationales Institut für Informatikforschung und -entwicklung [ICI]) betreffend ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über den Aufbau einer IT‑Infrastruktur und die Erbringung von Dienstleistungen zur Vorbereitung, Verwaltung, Entwicklung und Einrichtung einer Plattform für Cloud-Computing (Rechtssache C‑439/14) und zwischen der SC Max Boegl România SRL, der SC UTI Grup SA, der Astaldi SpA und der SC Construcţii Napoca SA (im Folgenden: Max Boegl u. a.) einerseits und der RA Aeroportul Oradea SA, der SC Porr Construct SRL, der Teerag-Asdag Aktiengesellschaft, der SC Col-Air Trading SRL, der AZVI SA, der Trameco SA und der Iamsat Muntenia SA andererseits betreffend ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über die Erweiterung und Modernisierung des Flughafens Oradea (Rumänien) (Rechtssache C‑488/14).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 89/665
3 Art. 1 („Anwendungsbereich und Zugang zu Nachprüfungsverfahren“) Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665 bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Aufträge im Sinne der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge [(ABl. 2004, L 134, S. 114)], sofern diese Aufträge nicht gemäß den Artikeln 10 bis 18 der genannten Richtlinie ausgeschlossen sind.
Aufträge im Sinne der vorliegenden Richtlinie umfassen öffentliche Aufträge, Rahmenvereinbarungen, öffentliche Baukonzessionen und dynamische Beschaffungssysteme.
Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18/EG fallenden Aufträge die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 2 bis 2f der vorliegenden Richtlinie auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die in dieser Richtlinie getroffene Unterscheidung zwischen einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts und den übrigen innerstaatlichen Bestimmungen nicht zu Diskriminierungen zwischen Unternehmen führt, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags einen Schaden geltend machen könnten.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.“
Richtlinie 92/13
4 Art. 1 („Anwendungsbereich und Zugang zu Nachprüfungsverfahren“) Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13 sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Aufträge im Sinne der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste [(ABl. 2004, L 134, S. 1], sofern diese Aufträge nicht gemäß Artikel 5 Absatz 2, Artikel 18 bis 26, Artikel 29 und 30 oder Artikel 62 der genannten Richtlinie ausgeschlossen sind.
Aufträge im Sinne der vorliegenden Richtlinie umfassen Liefer-, Bau- und Dienstleistungsaufträge, Rahmenvereinbarungen und dynamische Beschaffungssysteme.
Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/17/EG fallenden Aufträge die Entscheidungen der Auftraggeber wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 2 bis 2f der vorliegenden Richtlinie auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die in dieser Richtlinie getroffene Unterscheidung zwischen einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts und den übrigen innerstaatlichen Bestimmungen nicht zu Diskriminierungen zwischen Unternehmen führt, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines Auftrags einen Schaden geltend machen könnte.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.“
Richtlinie 2007/66
5 Der 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66 lautet:
„Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie soll namentlich die uneingeschränkte Achtung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren nach Artikel 47 Absätze 1 und 2 der Charta sicherstellen.“
Richtlinie 2004/17
6 Art. 16 Buchst. b der Richtlinie 2004/17 sieht vor:
„Diese Richtlinie gilt für Aufträge, die nicht aufgrund der Ausnahme nach den Artikeln 19 bis 26 oder nach Artikel 30 in Bezug auf die Ausübung der betreffenden Tätigkeit ausgeschlossen sind und deren geschätzter Wert ohne Mehrwertsteuer (MwSt.) die folgenden Schwellenwerte nicht unterschreitet:
…
b)
5186000 EUR bei Bauaufträgen.“
Richtlinie 2004/18
7 Art. 7 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/18 bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für die Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht aufgrund der Ausnahmen nach den Artikeln 10 und 11 und nach den Artikeln 12 bis 18 ausgeschlossen sind und deren geschätzter Wert netto ohne Mehrwertsteuer (MwSt) die folgenden Schwellenwerte erreicht oder überschreitet:
…
b)
207000 [Euro]:
—
bei öffentlichen Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, die von anderen als den in Anhang IV genannten öffentlichen Auftraggebern vergeben werden;
—
bei öffentlichen Lieferaufträgen, die von den in Anhang IV genannten öffentlichen Auftraggebern im Verteidigungsbereich vergeben werden, sofern es sich um Aufträge über Waren handelt, die nicht in Anhang V aufgeführt sind;
—
bei öffentlichen Dienstleistungsaufträgen, die von öffentlichen Auftraggebern für die in Anhang II Teil A Kategorie 8 genannten Dienstleistungen, für die in Anhang II Teil A Kategorie 5 genannten Dienstleistungen im Telekommunikationsbereich, deren CPV-Positionen den CPC‑Referenznummern 7524, 7525 und 7526 entsprechen, und/oder für die in Anhang II Teil B genannten Dienstleistungen vergeben werden;
c)
5186000 [Euro] bei öffentlichen Bauaufträgen.“
Rumänisches Recht
8 Die Art. 2711 und 2712 der Ordonanţa de Urgenţă a Guvernului Nr. 34/2006, privind atribuirea contractelor de achiziţie publică, a contractelor de concesiune de lucrări publice şi a contractelor de concesiune de servicii (Dringlichkeitsverordnung Nr. 34/2006 betreffend die Vergabe öffentlicher Beschaffungsaufträge, öffentlicher Baukonzessionen und von Dienstleistungskonzessionen) in der durch die Ordonanța de Urgență a Guvernului Nr. 51/2014 (Dringlichkeitsverordnung Nr. 51/2014) geänderten und vervollständigten Fassung (im Folgenden: OUG Nr. 34/2006) bestimmen:
„Art. 2711
(1) Der Beschwerdeführer ist verpflichtet, zu dem Zweck, den öffentlichen Auftraggeber gegen die Gefahr eines möglichen nicht konformen Verhaltens zu schützen, für den gesamten Zeitraum zwischen der Erhebung der Beschwerde im Verwaltungsrechtsweg/der Stellung des gerichtlichen Antrags/der Klageerhebung und dem Zeitpunkt, zu dem die entsprechende Entscheidung des Nationalen Rates für Beschwerdeentscheidungen/das Urteil des zuständigen Gerichts bestands- bzw. rechtskräftig wird, eine Wohlverhaltenssicherheit zu stellen.
(2) Die Beschwerde/der Antrag/die Klage wird zurück-/abgewiesen, wenn der Beschwerdeführer die Bestellung der in Abs. 1 vorgesehenen Sicherheit nicht nachweist.
(3) Die Wohlverhaltenssicherheit ist durch Banküberweisung oder durch ein nach den gesetzlichen Vorschriften von einer Bank oder einer Versicherungsgesellschaft herausgegebenes Sicherungsinstrument zu stellen und im Original am Sitz des öffentlichen Auftraggebers und in Kopie beim Nationalen Rat für Beschwerdeentscheidungen oder beim Gericht gleichzeitig mit der Erhebung der Beschwerde/der Stellung des Antrags/der Klageerhebung zu hinterlegen.
(4) Die Höhe der Wohlverhaltenssicherheit wird unter Bezugnahme auf den geschätzten Wert des zu vergebenden Auftrags wie folgt festgelegt:
a)
1 % des geschätzten Werts, wenn dieser geringer als die in Art. 55 Abs. 2 Buchst. a und b vorgesehenen Schwellenwerte ist;
b)
1 % des geschätzten Werts, wenn dieser geringer als die in Art. 55 Abs. 2 Buchst. c vorgesehenen Schwellenwerte ist, jedoch nicht mehr als der 10000 Euro entsprechende Betrag in [rumänischen Lei (RON)] zum Umrechnungskurs der rumänischen Nationalbank zum Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit;
c)
1 % des geschätzten Werts, wenn dieser gleich den oder höher als die in Art. 55 Abs. 2 Buchst. a und b vorgesehenen Schwellenwerte ist, jedoch nicht mehr als der 25000 Euro entsprechende Betrag in RON zum Umrechnungskurs der rumänischen Nationalbank zum Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit;
d)
1 % des geschätzten Werts, wenn dieser gleich den oder höher als die in Art. 55 Abs. 2 Buchst. c vorgesehenen Schwellenwerte ist, jedoch nicht mehr als der 100000 Euro entsprechende Betrag in RON zum Umrechnungskurs der rumänischen Nationalbank zum Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit.
(5) Die Wohlverhaltenssicherheit muss mindestens 90 Tage gültig und unwiderruflich sein, und sie muss auf erstes Anfordern des öffentlichen Auftraggebers zahlbar sein, wenn die Beschwerde/der Antrag/die Klage zurück-/abgewiesen wird.
(6) Ist die Entscheidung des Nationalen Rates für Beschwerdeentscheidungen oder das Urteil des Gerichts bis zum letzten Tag der Gültigkeit der Wohlverhaltenssicherheit nicht bestands- bzw. rechtskräftig geworden und hat der Beschwerdeführer die Gültigkeit der Wohlverhaltenssicherheit nicht nach den Voraussetzungen der Abs. 1 bis 5 verlängert, behält der öffentliche Auftraggeber die Wohlverhaltenssicherheit ein. Die Bestimmungen des Art. 2712 Abs. 3 bis 5 gelten entsprechend.
(7) Die Abs. 1 bis 6 gelten entsprechend in dem Fall, dass eine andere Person als der öffentliche Auftraggeber oder der Beschwerdeführer nach Art. 281 Klage gegen die Entscheidung des Nationalen Rates für Beschwerdeentscheidungen erhebt.
Art. 2712
(1) Wird die Beschwerde vom Nationalen Rat für Beschwerdeentscheidungen oder, wenn der Beschwerdeführer sich unmittelbar an das Gericht wendet, von diesem zurückgewiesen, ist der öffentliche Auftraggeber zur Einbehaltung der Wohlverhaltenssicherheit verpflichtet, sobald die Entscheidung des Nationalen Rates für Beschwerdeentscheidungen/das Urteil des Gerichts bestands‑/rechtskräftig geworden ist. Die Einbehaltung erfolgt für die Lose, bezüglich deren die Beschwerde zurückgewiesen wurde.
(2) Abs. 1 findet auch Anwendung, wenn der Beschwerdeführer die Beschwerde/den Antrag/die Klage zurücknimmt.
(3) Die Maßnahme nach Abs. 1 findet keine Anwendung, wenn der Nationale Rat für Beschwerdeentscheidungen/das Gericht die Beschwerde als gegenstandslos zurückweist oder wenn die Beschwerde/der Antrag/die Klage zurückgenommen worden ist, nachdem der öffentliche Auftraggeber nach Maßgabe des Art. 2563 Abs. 1 die erforderlichen Abhilfemaßnahmen getroffen hat.
(4) Gibt der Nationale Rat für Beschwerdeentscheidungen der Beschwerde bzw. das zuständige Gericht der Klage gegen die die Beschwerde zurückweisende Entscheidung des Nationalen Rates für Beschwerdeentscheidungen statt, so ist der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, dem Beschwerdeführer die Wohlverhaltenssicherheit spätestens fünf Tage nach dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung/das Urteil bestands‑/rechtskräftig geworden ist, herauszugeben.
(5) Wendet sich der Beschwerdeführer unmittelbar an das Gericht und gibt dieses der Klage statt, findet Abs. 4 entsprechende Anwendung.
(6) Die dem öffentlichen Auftraggeber aus der Wohlverhaltenssicherheit zufließenden Beträge stellen Einnahmen dieses öffentlichen Auftraggebers dar.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑439/14
9 Das ICI veröffentlichte als öffentlicher Auftraggeber am 1. April 2014 im Sistemul Electronic de Achiziţii Publice (Elektronisches System für öffentliche Beschaffungen, im Folgenden: SEAP) eine Bekanntmachung über die Einleitung eines Ausschreibungsverfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über den Aufbau einer IT‑Infrastruktur und die Erbringung von Dienstleistungen zur Vorbereitung, Verwaltung, Entwicklung und Einrichtung einer Plattform für Cloud-Computing sowie die entsprechenden Ausschreibungsunterlagen. Das Vergabekriterium für diesen Auftrag mit einem geschätzten Wert von 61287713,71 RON (etwa 13700000 Euro) ohne Mehrwertsteuer war das „des niedrigsten Preises“.
10 Aufgrund von Anfragen mehrerer Wirtschaftsteilnehmer veröffentlichte das ICI im SEAP Erläuterungen zu den Bestimmungen der Ausschreibungsunterlagen.
11 Am 30. Juni 2014 erhob Star Storage gegen die Erläuterungen Nrn. 4 und 5 vom 24. Juni 2014 und Nr. 7 vom 26. Juni 2014 Beschwerde beim Consiliul Naţional de Soluţionare a Contestaţiilor (Nationaler Rat für Beschwerdeentscheidungen, im Folgenden: CNSC).
12 Mit Entscheidung vom 18. Juli 2014 wies der CNSC diese Beschwerde u. a. auf der Grundlage von Art. 2711 Abs. 2 der OUG Nr. 34/2006 als unzulässig zurück, da Star Storage keine Wohlverhaltenssicherheit gestellt habe.
13 Am 5. August 2014 erhob Star Storage Klage bei der Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) u. a. auf Aufhebung dieser zurückweisenden Entscheidung und machte geltend, dass die nach rumänischem Recht vorgesehene Verpflichtung zur Bestellung einer Wohlverhaltenssicherheit sowohl gegen die rumänische Verfassung als auch gegen Unionsrecht verstoße.
14 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Wohlverhaltenssicherheit aufgrund ihrer Höhe und ihrer rechtlichen Ausgestaltung geeignet, das Recht des Wirtschaftsteilnehmers auf ein wirksames Verfahren zur Nachprüfung von Handlungen der öffentlichen Auftraggeber erheblich zu beeinträchtigen.
15 Unter diesen Umständen hat die Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3 der Richtlinie 89/665 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Zugang zu den Verfahren zur Nachprüfung von Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers von der Erfüllung der Verpflichtung abhängig macht, im Voraus eine „Wohlverhaltenssicherheit“ wie die in Art. 2711 und Art. 2712 der OUG Nr. 34/2006 geregelte zu hinterlegen?
Rechtssache C‑488/14
16 Die RA Aeroportul Oradea veröffentlichte als öffentliche Auftraggeberin am 21. Januar 2014 im SEAP eine Bekanntmachung über die Einleitung eines Ausschreibungsverfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über Arbeiten zur Erweiterung und Modernisierung der Infrastruktur des Flughafens Oradea (Rumänien). Der geschätzte Wert des Auftrags beträgt ohne Mehrwertsteuer 101232054 RON (etwa 22800000 Euro), das festgelegte Vergabekriterium war das „des wirtschaftlich günstigsten Angebots“.
17 Dem nach der Bewertung der Angebote erstellten Bericht zufolge wurde das von der Arbeitsgemeinschaft SC Max Boegl România SRL, SC UTI Grup SA und Astaldi SpA abgegebene Angebot für nicht den Vorschriften entsprechend erklärt, während das von der Arbeitsgemeinschaft SC Construcţii Napoca SA, SC Aici Cluj SA und CS Icco Energ SRL abgegebene Angebot unter Anwendung der festgelegten Vergabekriterien zweitplatziert wurde.
18 Diese beiden Bietergemeinschaften erhoben jeweils eine Beschwerde gegen diesen Bericht beim CNSC. Mit Entscheidung vom 10. Juli 2014 wurden diese Beschwerden als unbegründet zurückgewiesen. Folglich erhoben die beiden Bietergemeinschaften jeweils eine Klage gegen diese Entscheidung bei der Curte de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea).
19 Dieses Gericht wies die Kläger des Ausgangsverfahrens im Verhandlungstermin vom 10. September 2014 darauf hin, dass sie aufgrund des Inkrafttretens der Art. 2711 und 2712 der OUG Nr. 34/2006 am 1. Juli 2014 verpflichtet waren, eine „Wohlverhaltenssicherheit“ zu stellen. Max Boegl u. a. beantragte sodann, bei der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) einen Antrag auf Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsvorschriften zu stellen und dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.
20 Unter diesen Umständen hat die Curte de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea, Rumänien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Zugang zu den Verfahren zur Nachprüfung von Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers von der Erfüllung der Verpflichtung abhängig macht, im Voraus eine „Wohlverhaltenssicherheit“ wie die in Art. 2711 und Art. 2712 der OUG Nr. 34/2006 geregelte zu hinterlegen?
Verfahren vor dem Gerichtshof
21 Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. November und 10. Dezember 2014 sind die Anträge der Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) und der Curte de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea), die Rechtssachen C‑439/14 und C‑488/14 dem in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückgewiesen worden.
22 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. November 2014 sind die Rechtssachen C‑439/14 und C‑488/14 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
23 Mit Urteil Nr. 5 vom 15. Januar 2015 hat die Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) die teilweise Verfassungswidrigkeit der Art. 2711 und 2712 der OUG Nr. 34/2006 festgestellt, die Star Storage und Max Boegl u. a. geltend gemacht hatten.
24 Mit Schreiben vom 21. Juli 2015 hat der Gerichtshof gemäß Art. 101 seiner Verfahrensordnung ein Ersuchen um Klarstellung an die Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) und die Curte de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea) mit der Aufforderung gerichtet, sich zu dem Urteil Nr. 5 vom 15. Januar 2015 der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) und seinen möglichen Auswirkungen auf ihre Vorabentscheidungsersuchen zu äußern.
25 Die Curte de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea) hat mit Schreiben vom 11. August 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 26. August 2015, im Wesentlichen ausgeführt, dass das Urteil Nr. 5 vom 15. Januar 2015 der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) die Verfassungswidrigkeit von Art. 2712 Abs. 1 und 2 der OUG Nr. 34/2006 festgestellt habe, aber die Verfassungswidrigkeit von Art. 2711 und Art. 2712 Abs. 3 bis 6 der OUG Nr. 34/2006 verneint habe, so dass ihr Vorabentscheidungsersuchen nur mehr diese letzten Bestimmungen betreffe.
26 Die Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) hat mit Schreiben vom 14. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 23. September 2015, ebenfalls angegeben, dass das Urteil Nr. 5 vom 15. Januar 2015 der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) bestätigt habe, dass die verpflichtende Bestellung einer Wohlverhaltenssicherheit als Voraussetzung für die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen verfassungsmäßig sei und dass es daher weiterhin notwendig sei, zu prüfen, ob die Bestimmungen der Art. 2711 und 2712 der OUG Nr. 34/2006, die für mit der rumänischen Verfassung vereinbar erklärt worden seien und die Ausübung von Rechtsbehelfen im Rahmen von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge von der Voraussetzung abhängig machten, dass eine „Wohlverhaltenssicherheit“ bestellt werde, als mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes, der durch die Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13 in Verbindung mit Art. 47 der Charta gewährleistet sei, vereinbar angesehen werden könnten.
27 Sie ist außerdem der Ansicht, dass die rumänische Regelung einer eingehenden Analyse zum einen des Umstands bedürfe, dass die Wohlverhaltenssicherheit zu der „Teilnahmesicherheit“ hinzukomme, die der Bieter nach Art. 431 der OUG Nr. 34/2006 ebenfalls leisten müsse und die bis zu 2 % des geschätzten Auftragswerts ausmache, und zum anderen des Umstands, dass es weder möglich sei, von der Höhe der Wohlverhaltenssicherheit, die nach Art. 2711 Abs. 4 der OUG Nr. 34/2006 automatisch mit 1 % des geschätzten Auftragswerts festgesetzt werde und bis zu einem 100000 Euro entsprechenden Maximalbetrag gestellt werden müsse, abzuweichen, noch eine Ermäßigung zu gewähren oder eine Staffelung der Zahlungen nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu vereinbaren.
28 Die Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) ersucht den Gerichtshof daher, folgende Vorlagefrage zu beantworten:
Sind Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Bestimmung entgegenstehen, die den Zugang zu den Verfahren zur Nachprüfung von Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers von der Erfüllung der Verpflichtung abhängig macht, eine „Wohlverhaltenssicherheit“ wie die in Art. 2711 und Art. 2712 der OUG Nr. 34/2006 geregelte zugunsten des öffentlichen Auftraggebers zu hinterlegen?
29 Schließlich hat die Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) mit Urteil Nr. 750 vom 4. November 2015 auch Art. 2711 Abs. 5 der OUG Nr. 34/2006, der die unbedingte Zahlung der Wohlverhaltenssicherheit an den öffentlichen Auftraggeber auf erstes Anfordern hin vorsieht, wenn die Beschwerde, der Antrag oder die Klage zurück- bzw. abgewiesen wird, für mit der rumänischen Verfassung unvereinbar erklärt.
Vorbemerkungen
30 Da es sich bei dem in der Rechtssache C‑439/14 in Rede stehenden öffentlichen Auftrag um Lieferungen und Dienstleistungen handelt, deren Wert den in Art. 7 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 angegebenen Schwellenwert übersteigt, findet die Richtlinie 89/665 im Ausgangsrechtsstreit Anwendung.
31 Die rumänische Regierung und die Europäische Kommission sind sich hingegen über die Art des in der Rechtssache C‑488/14 in Rede stehenden öffentlichen Auftrags uneinig. Erstere ist der Ansicht, dass dieser Auftrag unter die Richtlinie 2004/18 und folglich unter die Richtlinie 89/665 falle, während Letztere meint, dass dieser Auftrag unter die Richtlinie 2004/17 und demnach unter die Richtlinie 92/13 falle.
32 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es dem Gerichtshof nicht möglich ist, festzustellen, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende öffentliche Auftrag unter die Richtlinie 2004/17 oder die Richtlinie 2004/18 fällt, da das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑488/14 nur sehr wenige Angaben zu diesem Auftrag gemacht hat.
33 Diese Unklarheit, deren Behebung dem vorlegenden Gericht obliegt, hat jedoch auf das Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache C‑488/14 keine Auswirkung, da – wie die Generalanwältin in Nr. 25 ihrer Schlussanträge festgestellt hat – die in Rede stehende Höhe des öffentlichen Auftrags die Schwellenwerte für öffentliche Bauaufträge in Art. 7 Buchst. c der Richtlinie 2004/18 und Art. 16 Buchst. b der Richtlinie 2004/17 erreicht.
34 Der Gerichtshof wird daher die in der Rechtssache C‑439/14 und die in der Rechtssache C‑488/14 gestellte Frage gleichzeitig beantworten, da die Bestimmungen der Richtlinien 89/665 und 92/13, deren Auslegung erbeten wird, den gleichen Wortlaut haben.
Zu den Vorlagefragen
35 Wie aus den Erläuterungen der beiden vorlegenden Gerichte in Beantwortung des Ersuchens um Klarstellung des Gerichtshofs und aus den in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärungen hervorgeht, sind die Bestimmungen der Art. 2712 Abs. 1 und 2 und Art. 2711 Abs. 5 letzter Satz der OUG Nr. 34/2006 durch die Urteile Nr. 5 vom 15. Januar 2015 und Nr. 750 vom 4. November 2015 der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) für mit der rumänischen Verfassung unvereinbar erklärt worden.
36 Die beiden vorlegenden Gerichte haben erklärt, dass sie diese Bestimmungen demnach nicht mehr anwenden dürfen, was die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat. Sie haben jedoch ausdrücklich erklärt, dass sie ihre Vorlagefrage aufrechterhielten, da die anderen Bestimmungen der in den Ausgangsverfahren streitigen rumänischen Regelung nach wie vor Anwendung fänden.
37 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Vorabentscheidungsersuchen ausschließlich diejenigen Bestimmungen der rumänischen Regelung über die Wohlverhaltenssicherheit betreffen, die für mit der rumänischen Verfassung vereinbar erachtet worden sind. Dabei ist es allein Sache der vorlegenden Gerichte, im Rahmen ihrer Entscheidung über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten die Konsequenzen aus den Urteilen Nr. 5 vom 15. Januar 2015 und Nr. 750 vom 4. November 2015 der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) zu ziehen.
38 Daraus folgt, dass die vorlegenden Gerichte mit ihrer Frage im Wesentlichen wissen möchten, ob Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13 im Licht des Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, die die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen eine Handlung des öffentlichen Auftraggebers von der Bestellung der in dieser Regelung vorgesehenen Wohlverhaltenssicherheit durch den Beschwerdeführer zugunsten des öffentlichen Auftraggebers abhängig macht, wobei diese Sicherheit dem Beschwerdeführer unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zurückzuerstatten ist.
39 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 92/13 die Mitgliedstaaten verpflichten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2004/17 und 2004/18 fallenden Aufträge die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber wirksam und vor allem möglichst rasch auf Verstöße gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.
40 Sowohl nach Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 als auch nach Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 92/13 sind die Mitgliedstaaten im Übrigen verpflichtet, sicherzustellen, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.
41 Diese Vorschriften, die die Wirtschaftsteilnehmer vor der Willkür des öffentlichen Auftraggebers schützen sollen, zielen somit darauf ab, sicherzustellen, dass in allen Mitgliedstaaten Möglichkeiten einer wirksamen Nachprüfung bestehen, um die effektive Anwendung der Unionsvorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu gewährleisten, vor allem dann, wenn Verstöße noch beseitigt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2002, Universale-Bau u. a., C‑470/99, EU:C:2002:746, Rn. 71, vom 11. September 2014, Fastweb, C‑19/13, EU:C:2014:2194, Rn. 34, und vom 12. März 2015, eVigilo, C‑538/13, EU:C:2015:166, Rn. 50).
42 Weder die Richtlinie 89/665 noch die Richtlinie 92/13 enthalten aber Bestimmungen, die die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieses Rechtsschutzes konkret regeln. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Richtlinie 89/665 nur die Mindestvoraussetzungen festlegt, denen die in den nationalen Rechtsordnungen geschaffenen Nachprüfungsverfahren entsprechen müssen, um die Beachtung der unionsrechtlichen Bestimmungen im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu gewährleisten (vgl. insbesondere Urteile vom 27. Februar 2003, SantexC‑327/00, EU:C:2003:109, Rn. 47, vom 19. Juni 2003, GAT, C‑315/01, EU:C:2003:360, Rn. 45, und vom 30. September 2010, Strabag u. a., C‑314/09, EU:C:2010:567, Rn. 33).
43 Nach ständiger Rechtsprechung dürfen jedoch die Modalitäten gerichtlicher Verfahren zum Schutz der Rechte, die das Unionsrecht den durch Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber geschädigten Bewerbern und Bietern einräumt, die praktische Wirksamkeit der Richtlinien 89/665 und 92/13 nicht beeinträchtigen, deren Zweck es ist, sicherzustellen, dass rechtswidrige Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber Gegenstand einer wirksamen und möglichst raschen Nachprüfung sein können (vgl. insbesondere Urteile vom 12. Dezember 2002, Universale-Bau u. a., C‑470/99, EU:C:2002:746, Rn. 72, vom 27. Februar 2003, Santex, C‑327/00, EU:C:2003:109, Rn. 51, und vom 3. März 2005, Fabricom, C‑21/03 und C‑34/03, EU:C:2005:127, Rn. 42, Beschluss vom 4. Oktober 2007, Consorzio Elisoccorso San Raffaele, C‑492/06, EU:C:2007:583, Rn. 29, Urteile vom 12. März 2015, eVigilo, C‑538/13, EU:C:2015:166, Rn. 40, und vom 6. Oktober 2015, Orizzonte Salute, C‑61/14, EU:C:2015:655, Rn. 47).
44 Es ist insbesondere darauf zu achten, dass weder die Wirksamkeit der Richtlinien 89/665 und 92/13 (vgl. Urteile vom 18. Juni 2002, HI, C‑92/00, EU:C:2002:379, Rn. 58 und 59, und vom 11. Dezember 2014, Croce Amica One Italia, C‑440/13, EU:C:2014:2435, Rn. 40) noch der Schutz der Rechte, die das Unionsrecht Einzelnen einräumt, beeinträchtigt werden (Urteile vom 12. Dezember 2002, Universale-Bau u. a., C‑470/99, EU:C:2002:746, Rn. 72, und vom 28. Januar 2010, Uniplex [UK], C‑406/08, EU:C:2010:45, Rn. 49).
45 Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2007/66, wie sich aus ihrem 36. Erwägungsgrund ergibt, und damit die Richtlinien 89/665 und 92/13, die durch sie geändert und vervollständigt wurden, im Einklang mit Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta die uneingeschränkte Achtung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren sicherstellen sollen.
46 Bei der Festlegung der Modalitäten gerichtlicher Nachprüfungsverfahren zum Schutz der Rechte, die die Richtlinien 89/665 und 92/13 den durch Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber geschädigten Bewerbern und Bietern einräumen, müssen die Mitgliedstaaten daher die Beachtung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren gewährleisten.
47 Im vorliegenden Fall schreiben die Art. 2711 Abs. 1 bis 5 der OUG Nr. 34/2006 vor, dass jede Person, die an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilnimmt und eine Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers vor dem CNSC oder unmittelbar bei einem Gericht anfechten will, als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Rechtsbehelfe zur Bestellung einer Wohlverhaltenssicherheit verpflichtet ist. Diese Sicherheit in Höhe eines Betrags, der 1 % des geschätzten Werts des betreffenden öffentlichen Auftrags entspricht und dessen Obergrenze im Fall von öffentlichen Liefer- und Dienstleistungsaufträgen 25000 Euro und im Fall von öffentlichen Bauaufträgen 100000 Euro beträgt, ist durch Banküberweisung oder durch ein von einer Bank oder einer Versicherungsgesellschaft bereitgestelltes Sicherungsinstrument zugunsten des öffentlichen Auftraggebers zu stellen und muss mindestens 90 Tage gültig sein.
48 Nach 2712 Abs. 4 und 5 der OUG Nr. 34/2006 muss diese Sicherheit jedoch spätestens fünf Tage nach dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung oder das Urteil bestands‑ oder rechtskräftig geworden ist, wieder herausgegeben werden, wenn der Beschwerde oder Klage stattgegeben wird, aber auch dann, wenn die Beschwerde oder die Klage zurückgenommen oder zurück- bzw. abgewiesen wird, weil der Einbehaltung der Sicherheit durch den öffentlichen Auftraggeber in Anbetracht der Urteile Nr. 5 vom 15. Januar 2015 und Nr. 750 vom 4. November 2015 der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) von diesem Zeitpunkt an die Rechtsgrundlage fehlt.
49 Wie die Generalanwältin in Nr. 37 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, stellt somit die Bestellung der Wohlverhaltenssicherheit als eine Voraussetzung dafür, einen Rechtsbehelf prüfen lassen zu können, eine Einschränkung des Rechts im Sinne von Art. 47 der Charta dar, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Eine solche Einschränkung kann nach Art. 52 Abs. 1 der Charta nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist, den Wesensgehalt dieses Rechts achtet und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und den von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht (vgl. Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 160).
50 Es ist festzustellen, dass die gesetzliche Grundlage für die Wohlverhaltenssicherheit in den Ausgangsverfahren durch die OUG Nr. 34/2006 klar und genau festgelegt ist, so dass sie als durch das nationale Recht vorgesehen anzusehen ist (vgl. Urteile vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 47, und vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 81). Im Übrigen lässt der Umstand, dass die Wohlverhaltenssicherheit den erheblichen Betrag von 25000 Euro oder 100000 Euro ausmachen kann, nicht den Schluss zu, dass die Verpflichtung, eine solche Sicherheit zu stellen, den Wesensgehalt des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf beeinträchtigt, da diese Sicherheit unabhängig vom Ausgang des Nachprüfungsverfahrens vom öffentlichen Auftraggeber jedenfalls nicht einbehalten werden darf.
51 Es bleibt trotzdem zu überprüfen, ob die Wohlverhaltenssicherheit einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht und, wenn ja, ob sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta wahrt.
52 Nach Art. 2711 Abs. 1 der OUG Nr. 34/2006 dient die Wohlverhaltenssicherheit dem Zweck, den öffentlichen Auftraggeber gegen die Gefahr „eines möglichen nicht konformen Verhaltens“ zu schützen. Die rumänische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen und während der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass es das Hauptziel der Wohlverhaltenssicherheit gewesen sei, für einen reibungslosen Ablauf der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu sorgen, indem die missbräuchliche Ausübung von Rechtsbehelfen und Verzögerungen bei der Auftragsvergabe verhindert würden.
53 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Abwehr missbräuchlicher Rechtsbehelfe, wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ein legitimes Ziel ist, das nicht nur zur Erreichung der mit den Richtlinien 89/665 und 92/13 verfolgten Ziele, sondern auch generell zu einer ordnungsgemäßen Rechtspflege beiträgt.
54 Eine finanzielle Voraussetzung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Wohlverhaltenssicherheit ist nämlich eine Maßnahme, die geeignet ist, von missbräuchlichen Beschwerden abzuschrecken, und die allen Beteiligten die Behandlung ihrer Rechtsbehelfe im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege im Einklang mit Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta innerhalb möglichst kurzer Fristen garantieren kann.
55 Jedoch muss, auch wenn das Interesse an einer ordnungsgemäßen Rechtspflege die Auferlegung einer finanziellen Beschränkung für den Zugang einer Person zu einem Rechtsbehelf rechtfertigen kann, diese Beschränkung in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, EU:C:2010:811, Rn. 47 und 60).
56 Insoweit ist festzustellen, dass die Verpflichtung zur Bestellung der Wohlverhaltenssicherheit in ihrer jetzigen Fassung zwar eine weniger abschreckende Maßnahme als in ihrer ursprünglichen Fassung darstellt, da sie bei Rücknahme oder Zurückweisung des Rechtsbehelfs vom öffentlichen Auftraggeber nicht mehr automatisch und unbedingt einbehalten werden darf, aber sie trotzdem geeignet ist, das mit der rumänischen Regelung verfolgte Ziel der Abwehr missbräuchlicher Rechtsbehelfe zu erreichen.
57 Erstens bildet die Stellung der Wohlverhaltenssicherheit, wie die Generalanwältin in Nr. 55 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, für den Beschwerdeführer unabhängig davon eine finanzielle Belastung, ob er eine Banküberweisung vornimmt oder eine Bankgarantie stellt.
58 Die Höhe der Wohlverhaltenssicherheit wird in Form eines Prozentsatzes des herangezogenen Werts des öffentlichen Auftrags festgesetzt und kann im Fall von öffentlichen Liefer- und Dienstleistungsaufträgen bis zu 25000 Euro und im Fall von öffentlichen Bauaufträgen bis zu 100000 Euro ausmachen.
59 Die Aufbringung eines Betrags dieser Höhe durch Banküberweisung und die Notwendigkeit, die erforderlichen Schritte für die Bestellung einer Bankgarantie zu ergreifen und die dafür anfallenden Kosten zu tragen, können die Beschwerdeführer zu einer gewissen Vorsicht bei der Erhebung ihrer Rechtsbehelfe veranlassen. Im Übrigen kann die Wohlverhaltenssicherheit, da sie die Mittel oder zumindest die Kreditmöglichkeiten der Beschwerdeführer bis zu ihrer Freigabe bindet, einen Anreiz bieten, im Rahmen der von ihnen eingeleiteten Verfahren im Einklang mit dem Gebot der Schnelligkeit der Nachprüfungsverfahren in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 92/13 Sorgfalt walten zu lassen. Wie die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass eine solche finanzielle Voraussetzung potenzielle Beschwerdeführer zu einer ernsthaften Bewertung ihres Interesses an der Einleitung eines Gerichtsverfahrens und ihrer Chance, zu obsiegen, veranlasst und sie somit von der Einreichung von Anträgen abschreckt, die offensichtlich unbegründet sind oder nur der Verzögerung des Vergabeverfahrens dienen (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2015, Orizzonte Salute, C‑61/14, EU:C:2015:655, Rn. 73).
60 Zweitens ist nicht davon auszugehen, dass die bloße Verpflichtung, diese Sicherheit als Voraussetzung für die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen zu stellen, über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels der Abwehr missbräuchlicher Rechtsbehelfe erforderlich ist, da nach den Urteilen Nr. 5 vom 15. Januar 2015 und Nr. 750 vom 4. November 2015 der Curte Constituţională (Verfassungsgerichtshof) die automatische und unbedingte Einbehaltung der Wohlverhaltenssicherheit durch den öffentlichen Auftraggeber und ihre Zahlbarkeit auf erstes Anfordern hin nicht mehr möglich sind.
61 Die Wohlverhaltenssicherheit bleibt mit einer Größenordnung von 1 % des Werts des öffentlichen Auftrags und einer Obergrenze je nach der Art des Auftrags mäßig (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Orizzonte Salute, C‑61/14, EU:C:2015:655, Rn. 58). Dies gilt insbesondere für Bieter, die normalerweise eine gewisse finanzielle Leistungsfähigkeit nachweisen müssen. Weiter kann diese Sicherheit jedenfalls in Form einer Bankgarantie gestellt werden. Sie muss schließlich nur für den Zeitraum von der Einreichung des Rechtsbehelfs bis zur endgültigen Entscheidung über ihn gestellt werden.
62 Schließlich hat die Curte de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) den Gerichtshof in ihrer Antwort auf dessen Ersuchen um Klarstellung hin ersucht, ihre Frage unter Berücksichtigung der Kumulierung der Wohlverhaltenssicherheit und der Teilnahmesicherheit, die der Bieter nach Art. 431 der OUG Nr. 34/2006 ebenfalls leisten muss, zu beantworten. Sie hat jedoch insoweit keine näheren Angaben zu der geltenden Regelung über die Teilnahmesicherheit oder zu ihrem Verhältnis zur Wohlverhaltenssicherheit gemacht. Unter diesen Umständen kann sich der Gerichtshof dazu nicht äußern.
63 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13 im Licht des Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren streitigen, die die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen eine Handlung des öffentlichen Auftraggebers von der Bestellung der in dieser Regelung vorgesehenen Wohlverhaltenssicherheit durch den Beschwerdeführer zugunsten des öffentlichen Auftraggebers abhängig macht, nicht entgegenstehen, da diese Sicherheit dem Beschwerdeführer unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zurückzuerstatten ist.
Kosten
64 Für die Parteien der Ausgangsverfahren sind die Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 geänderten Fassung und Art. 1 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung sind im Licht des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren streitigen, die die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen eine Handlung des öffentlichen Auftraggebers von der Bestellung der in dieser Regelung vorgesehenen Wohlverhaltenssicherheit durch den Beschwerdeführer zugunsten des öffentlichen Auftraggebers abhängig macht, nicht entgegenstehen, da diese Sicherheit dem Beschwerdeführer unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zurückzuerstatten ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst (Zweite Kammer) vom 21. Juli 2016.#AV gegen Europäische Kommission.#Öffentlicher Dienst – Bediensteter auf Zeit – Einstellung – Ärztliche Untersuchung vor der Einstellung – Unvollständige Erklärungen bei der ärztlichen Untersuchung – Medizinischer Vorbehalt – Rückwirkende Anwendung des medizinischen Vorbehalts – Keine Bewilligung von Invalidengeld – Aufhebung – Durchführung eines Urteils des Gerichts.#Rechtssache F-91/15.
|
62015FJ0091
|
ECLI:EU:F:2016:170
| 2016-07-21T00:00:00 |
Gericht für den öffentlichen Dienst
|
Sammlung der Rechtsprechung – Sammlung von Rechtssachen im öffentlichen Dienst
|
EUR-Lex - CELEX:62015FJ0091 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 12. Juli 2016.#Ana Pérez Gutiérrez gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 181 – Außervertragliche Haftung der Europäischen Union – Öffentliche Gesundheit – Von der Europäischen Kommission für die gesundheitsbezogenen Warnhinweise auf Verpackungen von Tabakerzeugnissen vorgeschlagene Fotografien – Unbefugte Verwendung des Bildnisses einer verstorbenen Person.#Rechtssache C-604/15 P.
|
62015CO0604
|
ECLI:EU:C:2016:545
| 2016-07-12T00:00:00 |
Bobek, Gerichtshof
|
EUR-Lex - CELEX:62015CO0604 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 14. Juli 2016.#Sprengen/Pakweg Douane BV gegen Staatssecretaris van Financiën.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsamer Zolltarif – Kombinierte Nomenklatur – Positionen 8471 und 8521 – Erläuterungen – Übereinkommen über den Handel mit Waren der Informationstechnologie – ‚Screenplays‘.#Rechtssache C-97/15.
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62015CJ0097
|
ECLI:EU:C:2016:556
| 2016-07-14T00:00:00 |
Bobek, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0097
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
14. Juli 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsamer Zolltarif — Kombinierte Nomenklatur — Positionen 8471 und 8521 — Erläuterungen — Übereinkommen über den Handel mit Waren der Informationstechnologie — ‚Screenplays‘“
In der Rechtssache C‑97/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 6. Februar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2015, in dem Verfahren
Sprengen/Pakweg Douane BV
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, des Richters C. Vajda (Berichterstatter) und der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Februar 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Sprengen/Pakweg Douane BV, vertreten durch H. de Bie, S. S. Mulder und N. van den Broek, advocaten,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Noort, M. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Caeiros, F. Wilman und W. Roels als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur (im Folgenden: KN) in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1) in den sich nacheinander aus der Verordnung (EG) Nr. 1549/2006 der Kommission vom 17. Oktober 2006 (ABl. 2006, L 301, S. 1) und der Verordnung (EG) Nr. 1214/2007 der Kommission vom 20. September 2007 (ABl. 2007, L 286, S. 1) ergebenden Fassungen und insbesondere die Auslegung der Positionen 8471 und 8521 KN.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Sprengen/Pakweg Douane BV (im Folgenden: Sprengen) und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen) wegen der Einreihung von Apparaten, sogenannten „Screenplays“, die eine Multimediafestplatte enthalten und Mittel zur Wiedergabe einer großen Vielzahl an von einem Computer unmittelbar auf ein Fernsehgerät oder einen Videomonitor übertragenen Multimediadateien bieten, die von Fotos über Musik bis zu Filmen reichen, innerhalb der KN.
Rechtlicher Rahmen
KN und HS
3 Die Tarifierung von Waren, die in die Europäische Union eingeführt werden, richtet sich nach der KN.
4 Die KN beruht auf dem Harmonisierten System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (im Folgenden: HS), das durch den Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens, jetzt Weltzollorganisation (WZO), der durch das am 15. Dezember 1950 in Brüssel unterzeichnete Abkommen zur Gründung dieses Rates errichtet worden war, erarbeitet wurde. Das HS wurde durch das am 14. Juni 1983 in Brüssel geschlossene Internationale Übereinkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (im Folgenden: HS-Übereinkommen) errichtet und mit dem dazugehörigen Änderungsprotokoll vom 24. Juni 1986 mit dem Beschluss 87/369/EWG des Rates vom 7. April 1987 (ABl. 1987, L 198, S. 1) im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genehmigt. Die KN übernimmt die Positionen und sechsstelligen Unterpositionen des HS; nur die siebte und die achte Stelle bilden eigene Unterteilungen.
5 Nach Art. 12 der Verordnung Nr. 2658/87 veröffentlicht die Europäische Kommission jedes Jahr in Form einer Verordnung die vollständige Fassung der KN zusammen mit den entsprechenden autonomen und vertragsmäßigen Zollsätzen des Gemeinsamen Zolltarifs, wie sie sich aus den vom Rat der Europäischen Union oder von der Kommission beschlossenen Maßnahmen ergeben. Diese Verordnung wird spätestens bis zum 31. Oktober im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und gilt jeweils ab dem 1. Januar des darauffolgenden Jahres.
6 Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass die KN auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in ihren in den Jahren 2007 und 2008 geltenden Fassungen, die sich aus den Verordnungen Nrn. 1549/2006 und 1214/2007 ergeben, anwendbar ist. Die sich aus diesen Verordnungen ergebenden Fassungen der Allgemeinen Vorschriften, der Tarifpositionen der Kapitel 84 und 85 der KN sowie der Erläuterungen zu diesen Kapiteln, auf die sich die Vorlagefragen beziehen, weichen in ihrem Wortlaut nicht voneinander ab.
7 Teil II der KN enthält einen Abschnitt XVI mit der Überschrift „Maschinen, Apparate, mechanische Geräte und elektrotechnische Waren, Teile davon; Tonaufnahme‑ oder Tonwiedergabegeräte, Fernseh‑Bild‑ und ‑Tonaufzeichnungsgeräte oder Fernseh-Bild- und ‑Tonwiedergabegeräte, Teile und Zubehör für diese Geräte“.
8 Die Anmerkungen 3 und 5 zu Abschnitt XVI der KN lauten:
„(3)
Soweit nichts anderes bestimmt ist, sind kombinierte Maschinen aus zwei oder mehr Maschinen verschiedener Art, die zusammen arbeiten sollen und ein Ganzes bilden, sowie Maschinen, die ihrer Beschaffenheit nach dazu bestimmt sind, zwei oder mehrere verschiedene, sich abwechselnde oder ergänzende Tätigkeiten (Funktionen) auszuführen, nach der das Ganze kennzeichnenden Haupttätigkeit (Hauptfunktion) einzureihen.
…
(5) Bei der Anwendung der Anmerkungen des Abschnitts XVI umfasst der Begriff ‚Maschinen‘ alle Maschinen, Apparate, Geräte und Vorrichtungen der in den Positionen des Kapitels 84 oder 85 genannten Art.“
9 Abschnitt XVI der KN enthält ein Kapitel 84 mit der Überschrift „Kernreaktoren, Kessel, Maschinen, Apparate und mechanische Geräte; Teile davon“.
10 In Anmerkung 5 zu Kapitel 84 heißt es:
„…
C)
Vorbehaltlich der Bestimmungen der nachstehenden Absätze D) und E) wird eine Einheit dann als Teil eines automatischen Datenverarbeitungssystems angesehen, wenn sie alle folgenden Bedingungen erfüllt:
1)
sie ist von der ausschließlich oder hauptsächlich in einem automatischen Datenverarbeitungssystem verwendeten Art;
2)
sie ist an die Zentraleinheit unmittelbar oder über eine oder mehrere andere Einheiten anschließbar; und
3)
sie ist in der Lage, Daten in einer Form (Codes oder Signale) zu empfangen oder zu liefern, die vom System verwendbar sind.
Gesondert gestellte Einheiten einer automatischen Datenverarbeitungsmaschine sind in die Position 8471 einzureihen.
Tastaturen, X/Y-Koordinateneingabegeräte und Plattenspeichereinheiten, die die Bedingungen der vorstehenden Absätze C) 2) und C) 3) erfüllen, sind jedoch stets als Einheiten in die Position 8471 einzureihen.
D)
…
E)
Maschinen, in die eine automatische Datenverarbeitungsmaschine eingebaut ist oder die mit einer automatischen Datenverarbeitungsmaschine zusammenarbeiten und die eine eigene Funktion (andere als die Datenverarbeitung) ausführen, sind in die ihrer Funktion entsprechende Position oder, falls keine solche vorhanden ist, in eine Sammelposition einzureihen.“
11 Die Position 8471 KN und deren Unterposition 8471 70 50 lauten wie folgt:
„8471
Automatische Datenverarbeitungsmaschinen und ihre Einheiten; magnetische oder optische Leser, Maschinen zum Aufzeichnen von Daten auf Datenträger in codierter Form und Maschinen zum Verarbeiten solcher Daten, anderweit weder genannt noch inbegriffen:
…
8471 70
– Speichereinheiten:
…
8471 70 50
– – – – – Festplattenspeichereinheiten
…“
12 Abschnitt XVI der KN enthält auch ein Kapitel 85 mit der Überschrift „Elektrische Maschinen, Apparate, Geräte und andere elektrotechnische Waren, Teile davon; Tonaufnahme- oder Tonwiedergabegeräte, Bild- und Tonaufzeichnungs- oder ‑wiedergabegeräte, für das Fernsehen, Teile und Zubehör für diese Geräte“.
13 Die Position 8521 KN und deren Unterposition 8521 90 00 lauten wie folgt:
„8521
Videogeräte zur Bild- und Tonaufzeichnung oder ‑wiedergabe, auch mit eingebautem Videotuner:
…
8521 90 00
– andere“.
Erläuterungen zum HS
14 Die WZO genehmigt nach Maßgabe von Art. 8 des HS-Übereinkommens die von dem in Art. 6 des Übereinkommens geregelten Ausschuss für das HS ausgearbeiteten Erläuterungen und Einreihungsavise. Nach Art. 7 Abs. 1 des HS‑Übereinkommens besteht die Aufgabe dieses Ausschusses u. a. darin, Änderungen des HS‑Übereinkommens vorzuschlagen und Erläuterungen, Einreihungsavise und sonstige Stellungnahmen zur Auslegung des HS auszuarbeiten.
15 Nach Art. 3 Abs. 1 des HS‑Übereinkommens verpflichtet sich jede Vertragspartei, ihre Zolltarifnomenklatur und ihre Statistiknomenklaturen mit dem HS in Übereinstimmung zu bringen, alle Positionen und Unterpositionen des HS sowie die dazugehörigen Codenummern zu verwenden, ohne etwas hinzuzufügen oder zu ändern, und die Nummernfolge des HS einzuhalten. Die Vertragsparteien verpflichten sich außerdem, die Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung des HS sowie alle Anmerkungen zu den Abschnitten, Kapiteln und Unterpositionen des HS anzuwenden und die Tragweite der Abschnitte, Kapitel, Positionen oder Unterpositionen des HS nicht zu verändern.
16 In der im Jahr 2007 erlassenen Fassung der Erläuterungen zum HS heißt es zu Position 8521:
„A.- Aufzeichnungsgeräte und kombinierte Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte
Diese Geräte können, wenn sie an eine Fernsehkamera oder ein Fernsehempfangsgerät angeschlossen werden, elektrische Impulse (analoge Signale) oder analoge Signale, die in digitale Signale (oder eine Kombination dieser Signale) gewandelt wurden, die den Bildern und dem Ton entsprechen, wie sie von der Fernsehkamera oder einem Fernsehempfangsgerät empfangen wurden, auf einen Träger aufzeichnen. Gewöhnlich werden die Bilder und der Ton auf demselben Träger gespeichert. Die Aufzeichnung kann magnetisch oder optisch erfolgen. Gewöhnlich werden Bänder oder Platten als Aufzeichnungsträger verwendet.
Zu dieser Position gehören auch Geräte, die gewöhnlich digitale Codes, die Videobildern und Tönen entsprechen, auf eine magnetische Platte aufzeichnen, indem sie den digitalen Code von einer automatischen Datenverarbeitungsmaschine übertragen (z. B. digitale Videorecorder).
Bei der magnetischen Aufzeichnung auf Band werden die Bilder und Töne in getrennten Spuren auf das Band aufgezeichnet, während bei der magnetischen Aufzeichnung auf eine Platte die Bilder und Töne als magnetisierte Muster oder Stellen in spiralförmigen Spuren auf die Oberfläche der Platte aufgezeichnet werden.
Bei der optischen Aufzeichnung werden digitale Daten, die Bildern und Tönen entsprechen[,] durch einen Laser auf eine Platte geschrieben.
Videorekorder, die Signale von einem Fernsehempfangsgerät aufzeichnen, enthalten auch einen Tuner, der die Auswahl des gewünschten Signals (oder Fernsehkanals) aus dem Frequenzband, das von der Fernsehsendestation übertragen wird, ermöglicht.
Werden die Geräte zur Wiedergabe verwendet, wandeln sie die Aufzeichnungen in Videosignale um. Diese Signale werden entweder an eine Sendestation oder an ein Fernsehempfangsgerät weitergeleitet.
B.‑ WIEDERGABEGERÄTE
Diese Geräte sind ausschließlich zur direkten Bild‑ und Tonwiedergabe mit einem Fernsehempfangsgerät bestimmt. Die bei diesen Geräten verwendeten Träger werden zuvor mit Hilfe von speziellen Aufzeichnungsgeräten auf mechanischem, magnetischem oder optischem Wege mit Aufzeichnungen versehen. An derartigen Wiedergabegeräten können genannt werden:
Geräte für Platten, auf die Bild und Ton durch verschiedene Verfahren gespeichert sind und durch ein optisches Lasersystem, einen kapazitiven Sensor, Drucksensor oder Magnetkopf abgenommen werden. Vorbehaltlich der Anmerkung 3 zu Abschnitt XVI sind Geräte, die sowohl Video‑ als auch Audioaufnahmen wiedergeben können, in diese Position einzureihen.
Geräte, die die auf einem lichtempfindlichen Film aufgezeichneten Bildangaben (der Ton ist auf demselben Film magnetisch aufgezeichnet worden) dekodieren und in Videosignale umwandeln.“
Übereinkommen über den Handel mit Waren der Informationstechnologie
17 Das Übereinkommen über den Handel mit Waren der Informationstechnologie, das aus der am 13. Dezember 1996 auf der ersten Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Singapur angenommenen Ministererklärung über den Handel mit Waren der Informationstechnologie sowie ihren Anhängen und Anlagen besteht (im Folgenden: ITA), sowie die Mitteilung über seine Durchführung wurden mit dem Beschluss 97/539/EG des Rates vom 24. März 1997 über die Beseitigung der Zölle auf Waren der Informationstechnologie (ABl. 1997, L 155, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigt. Nach Abs. 1 des ITA sollten sich die Handelsregelungen einer jeden Vertragspartei so entwickeln, dass der Marktzugang für Waren der Informationstechnologie verbessert wird.
18 Die Verordnung (EG) Nr. 2559/2000 des Rates vom 16. November 2000 zur Änderung des Anhangs I der Verordnung Nr. 2658/87 (ABl. 2000, L 293, S. 1) wurde erlassen, um, wie aus den Erwägungsgründen 2 und 3 dieser Verordnung hervorgeht, das ITA anzuwenden.
19 Die Anlagen A und B des Anhangs I des ITA lauten wie folgt:
„Attachment A, Section 1
…
8471 Automatic data processing machines and units thereof; magnetic or optical readers, machines for transcribing data onto data media in coded form and machines for processing such data, not elsewhere specified or included:
…
8471 70
Storage units, including central storage units, optical disk storage, hard disk drives and magnetic tape storage units
…
Attachment B
Positive list of specific products to be covered by this agreement wherever they are classified in the HS.
…
Proprietary format storage devices including media therefore for automatic data processing machines, with or without removable media and whether magnetic, optical or other technology, including Bernoulli Box, Syquest, or Zipdrive cartridge storage units[.]
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 Sprengen meldete in den Jahren 2007 und 2008 in eigenem Namen und für eigene Rechnung für die Auftraggeberin Iomega International SA sogenannte „Screenplays“ zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr an.
21 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Screenplays Apparate sind, die die Speicherung von Multimediadateien und deren Wiedergabe auf einem Fernsehgerät oder einem Videomonitor erlauben.
22 Zu diesem Zweck enthalten die Screenplays eine Festplatte, auf die von einem Personalcomputer Video‑, Musik‑ oder auch Bilddateien in den verschiedenen gängigen Formaten gespeichert werden können. Die Verbindung mit dem Personalcomputer wird mittels des in die Screenplays eingebauten Firewire- oder USB-Anschlusses hergestellt.
23 Diese Geräte können anschließend von dem Computer getrennt werden und mit einem Kabel an ein Fernsehgerät oder einen Videomonitor angeschlossen werden, um darauf diese Videos, Musik oder Bilder wiederzugeben. Durch in den Screenplays vorhandene Hard‑ und Software werden die auf ihrer Festplatte gespeicherten (digitalen) Multimediadateien dekodiert und in ein (analoges) Pal‑/NTSC‑Signal umgewandelt, das sich auf einem solchen Fernsehgerät oder einem solchen Videomonitor darstellen lässt.
24 In der mit den Screenplays gelieferten Gebrauchsanweisung heißt es:
„Mit dem Iomega Screenplay Multimedia-Drive können Sie Ihre Lieblingsmultimediadateien auf Ihrem Computer auf Ihrem Fernsehgerät wiedergeben. Kopieren Sie einfach Filme, Fotos und Musik über den USB- oder Firewire-Anschluss von einem PC oder Mac-Computer auf den Screenplay Pro-Drive. Anschließend können Sie die Filme, Diapräsentationen der Fotos und Ihre Musik auf jedem Fernsehgerät wiedergeben.“
25 Die Screenplays wurden von Sprengen unter der Unterposition 8471 70 50 KN als „Festplattenspeichereinheiten“ angemeldet, für die ein Zollsatz von 0 % gilt.
26 Die niederländischen Zollbehörden vertraten nach einer Untersuchung die Auffassung, dass die Screenplays als „Videogeräte zur Bild‑ und Tonwiedergabe“ in die Unterposition 8521 90 00 KN einzureihen seien, für die ein Zollsatz von 13,9 % gelte. Daraufhin wurden Zahlungsaufforderungen erlassen und an Sprengen übermittelt.
27 Gegen diese Zahlungsaufforderungen legte Sprengen Einspruch ein. Nachdem der Einspruch zurückgewiesen worden war, erhob sie Klage gegen diese Zahlungsaufforderungen bei der Rechtbank Haarlem (Gericht Haarlem, Niederlande), die am 22. Dezember 2011 abgewiesen wurde. Sprengen legte daraufhin gegen dieses Urteil beim Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) Berufung ein, die mit Urteil vom 24. Oktober 2013 ebenfalls zurückgewiesen wurde, und zwar mit der Begründung, dass die Screenplays in die Position 8521 KN einzureihen seien.
28 Sprengen legte gegen das Berufungsurteil beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) Kassationsbeschwerde ein. Vor diesem Gericht machte Sprengen erstens geltend, dass der Berufungsrichter die Tragweite der Position 8521 KN und insbesondere den Begriff „Videogeräte zur Bild‑ und Tonwiedergabe“ im Sinne dieser Position zu weit ausgelegt habe, und dass diese Auslegung gegen das HS und die KN verstoße. Zweitens ist Sprengen der Ansicht, dass der Berufungsrichter, auch wenn die Screenplays in die Position 8521 KN eingereiht werden könnten, die Anmerkung 3 zu Abschnitt XVI der KN falsch ausgelegt habe, wonach Maschinen, die zwei oder mehrere verschiedene, sich abwechselnde oder ergänzende Tätigkeiten (Funktionen) ausführen könnten, nach der das Ganze kennzeichnenden Haupttätigkeit (Hauptfunktion) einzureihen seien. Zuletzt machte Sprengen geltend, der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) habe zu Unrecht entschieden, dass die Screenplays nicht in den Anwendungsbereich des ITA fielen und dass sie sich im Zusammenhang mit der Anwendung des Zolltarifs nicht mit Erfolg auf dieses Übereinkommen berufen könne.
29 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Anmerkung 5 C letzter Absatz zu Kapitel 84 der KN – gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Anlagen A und B (zum Anhang) des ITA – dahin auszulegen, dass Apparate wie die hier beschriebenen Screenplays als „Festplattenspeichereinheiten“ in die Unterposition 8471 70 50 KN einzureihen sind, obwohl sie Merkmale und Eigenschaften aufweisen, die es ihnen ermöglichen, auf den Festplatten gespeicherte Multimediadateien nach deren Umwandlung in analoge Signale auf einem Fernsehgerät oder einem Videomonitor wiederzugeben?
2. Falls nicht, ist Position 8521 KN dann dahin auszulegen, dass Apparate wie die Screenplays selbst dann in diese Position einzureihen sind, wenn die Videowiedergabefunktion nicht ihre einzige Funktion, aber die Hauptfunktion darstellt?
Zu den Vorlagefragen
30 Mit seinen Fragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die KN dahin auszulegen ist, dass Apparate wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Screenplays, die zum einen die Funktion haben, Multimediadateien zu speichern, und zum anderen die Funktion, sie auf einem Fernsehgerät oder einem Videomonitor wiederzugeben, in die Unterposition 8471 70 50 KN oder in die Position 8521 dieser Nomenklatur einzureihen sind.
31 Im Hinblick auf die Beantwortung der Vorlagefragen ist zum einen anzumerken, dass nach den Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der KN für die Einreihung der Waren der Wortlaut der Positionen und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln maßgebend ist, während die Überschriften der Abschnitte, Kapitel und Teilkapitel nur Hinweise sind (vgl. Urteile vom 12. Juni 2014, Lukoyl Neftohim Burgas, C‑330/13, EU:C:2014:1757, Rn. 33, und vom 11. Juni 2015, Baby Dan, C‑272/14, EU:C:2015:388, Rn. 25).
32 Zum anderen ist nach ständiger Rechtsprechung das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen der KN und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (vgl. u. a. Urteile vom 16. Februar 2006, Proxxon, C‑500/04, EU:C:2006:111, Rn. 21, und vom 5. März 2015, Vario Tek, C‑178/14, EU:C:2015:152, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Hierzu ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Positionen 8471, in die die Unterposition 8471 70 50 fällt, und 8521 KN sowie den dazugehörigen Erläuterungen, dass die Funktion der betreffenden Ware für deren Einreihung in eine dieser Positionen entscheidend ist.
34 Diese Positionen beschreiben nämlich spezifisch die Funktion, die die von ihnen erfassten Waren erfüllen. So bezieht sich die Position 8471 KN insbesondere auf „Automatische Datenverarbeitungsmaschinen und ihre Einheiten“. Die Position 8521 KN betrifft hingegen „Videogeräte zur Bild- und Tonaufzeichnung oder ‑wiedergabe, auch mit eingebautem Videotuner“.
35 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Apparate Funktionen haben, die es für sich betrachtet erlauben, sie in beide Positionen einzureihen, die in Rn. 30 des vorliegenden Urteils erwähnt werden. Diese Apparate haben insbesondere zum einen die Funktion, Multimediadateien zu speichern, und zum anderen die Funktion, sie auf einem Fernsehgerät oder einem Videomonitor wiederzugeben.
36 Aus dieser Entscheidung ergibt sich auch, dass die Hauptfunktion dieser Apparate in der Bild‑ und Tonwiedergabe besteht.
37 Es ist jedoch erstens festzustellen, dass nach Anmerkung 3 zu Abschnitt XVI der KN, der die Kapitel 84 und 85 dieser Nomenklatur enthält, soweit nichts anderes bestimmt ist, kombinierte Maschinen aus zwei oder mehr Maschinen verschiedener Art, die zusammenarbeiten sollen und ein Ganzes bilden, sowie Maschinen, die zwei oder mehrere verschiedene, sich abwechselnde oder ergänzende Tätigkeiten (Funktionen) ausführen können, nach der das Ganze kennzeichnenden Haupttätigkeit (Hauptfunktion) einzureihen sind.
38 Daraus folgt, dass Apparate wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Screenplays im Hinblick auf ihre Hauptfunktion grundsätzlich in die Position 8521 KN einzureihen sind, die speziell Videogeräte zur Bild- und Tonwiedergabe betrifft.
39 Diese Feststellung wird durch das Argument von Sprengen, wonach eine solche Einreihung aufgrund der Erläuterung zu Position 8521 HS ausgeschlossen sei, nicht in Frage gestellt. In diesem Rahmen macht Sprengen geltend, dass nach dieser Anmerkung nur die Geräte in diese Position einzureihen seien, die „ausschließlich“ zur direkten Bild‑ und Tonwiedergabe mit einem Fernsehempfangsgerät bestimmt seien. Selbst wenn die Screenplays eine solche Wiedergabefunktion hätten, würde es sich aber nach Ansicht von Sprengen jedenfalls nicht um die „ausschließliche“ Funktion dieser Geräte handeln.
40 Hierzu ist festzustellen, dass die HS‑Erläuterungen nach ständiger Rechtsprechung erheblich zur Auslegung der einzelnen Tarifpositionen beitragen, ohne jedoch rechtsverbindlich zu sein. Der Inhalt dieser Erläuterungen muss daher mit den Bestimmungen der KN in Einklang stehen und darf deren Bedeutung nicht verändern (Urteil vom 26. November 2015, Duval, C‑44/15, EU:C:2015:783, Rn. 24).
41 Daher steht der Umstand, dass Abschnitt B der Erläuterung zu Position 8521 HS besagt, dass die von dieser Position erfassten Geräte „ausschließlich“ zur direkten Bild‑ und Tonwiedergabe mit einem Fernsehempfangsgerät bestimmt sind, der Feststellung in Rn. 38 des vorliegenden Urteils nicht entgegen. Die Verwendung des Begriffs „ausschließlich“ schließt nämlich nicht jedes Gerät aus, das auch andere Funktionen als die Videowiedergabefunktion hat, sondern soll diese Geräte von den sogenannten „Kombinierten Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräten“ unterscheiden, die von Abschnitt A dieser Erläuterungen erfasst sind.
42 Eine solche Auslegung wird zweitens durch Anmerkung 5 zu Kapitel 84 KN bestätigt, das die Unterposition 8471 70 50 KN enthält. Anmerkung 5 C zu diesem Kapitel enthält Bestimmungen, die vorbehaltlich der Anmerkungen 5 D und 5 E zu diesem Kapitel gelten. Nach Anmerkung 5 E zu Kapitel 84 KN „[sind] Maschinen, in die eine automatische Datenverarbeitungsmaschine eingebaut ist oder die mit einer automatischen Datenverarbeitungsmaschine zusammenarbeiten und die eine eigene Funktion (andere als die Datenverarbeitung) ausführen, … in die ihrer Funktion entsprechende Position oder, falls keine solche vorhanden ist, in eine Sammelposition einzureihen“.
43 Nach dem Wortlaut dieser Anmerkung 5 E bezeichnet der verwendete Ausdruck „eigene Funktion“ eine „andere als die Datenverarbeitung“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2008, Kip Europe u. a., C‑362/07 und C‑363/07, EU:C:2008:710, Rn. 32).
44 Des Weiteren folgt aus dem Sinn und Zweck dieser Anmerkung, dass mit der in dieser enthaltenen Wendung „sind in die ihrer Funktion entsprechende Position … einzureihen“ verhindert werden soll, dass Geräte, deren Funktion mit der Datenverarbeitung nichts zu tun hat, nur deshalb in die Position 8471 KN eingereiht werden, weil eine automatische Datenverarbeitungsmaschine in sie eingebaut ist oder sie mit einer solchen Maschine zusammenarbeiten (Urteil vom 11. Dezember 2008, Kip Europe u. a., C‑362/07 und C‑363/07, EU:C:2008:710, Rn. 33).
45 Es ist festzustellen, wie es die niederländische Regierung und die Kommission vor dem Gerichtshof erläutert haben, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Apparate eine eigene Funktion im Sinne dieser Bestimmung haben, die in der Wiedergabe von Bildern und Tönen auf Fernsehbildschirmen besteht. Diese Funktion kann nämlich nicht als Datenverarbeitungsfunktion im Sinne der Position 8471 KN angesehen werden.
46 Entgegen dem Vorbringen des vorlegenden Gerichts ist der Umstand, dass ein Gerät zwei Tätigkeiten ausführt, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Apparate, für die Anwendbarkeit der Anmerkung 5 E zu Kapitel 84 der KN unerheblich. Diese Anmerkung setzt nämlich zwangsläufig voraus, dass das betreffende Gerät mehrere Tätigkeiten ausführen kann.
47 Daher sind die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Apparate nach der Anmerkung 5 E zu Kapitel 84 der KN nicht in die Position 8471 KN und insbesondere nicht in die Unterposition 8471 70 50 dieser Nomenklatur einzureihen.
48 Drittens ist zu prüfen, ob diese Auslegung der KN durch die Bestimmungen des ITA, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, in Frage gestellt wird. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bestimmungen eines Übereinkommens wie des ITA zwar für den Einzelnen keine Rechte begründen können, auf die er sich nach dem Unionsrecht unmittelbar vor den Gerichten berufen könnte, wenn eine Unionsregelung in dem betreffenden Bereich besteht, dass aber der Vorrang der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge vor den Bestimmungen des abgeleiteten Rechts gebietet, diese Bestimmungen nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit den genannten Verträgen auszulegen (Urteil vom 22. November 2012, Digitalnet u. a., C‑320/11, C‑330/11, C‑382/11 und C‑383/11, EU:C:2012:745, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Nach Ansicht von Sprengen sind die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Apparate sowohl in Anlage A als „storage units“ als auch in Anlage B des Anhangs des ITA als „proprietary format storage devices“ einzureihen.
50 Diese Anlage A enthält einen Verweis auf die Unterposition 8471 70 HS, die der Unterposition 8471 70 KN entspricht. Wie sich jedoch aus Rn. 47 des vorliegenden Urteils ergibt, können diese Apparate nicht in diese Unterposition der KN eingereiht werden. Daher ist diese Anlage A für das Ausgangsverfahren irrelevant.
51 Anlage B des Anhangs des ITA, die ein Verzeichnis spezifischer Waren enthält, die unabhängig von ihrer Einreihung im HS unter das ITA fallen, nimmt Bezug auf „proprietary format storage devices“. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, ist für die Feststellung, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Apparate unter diesen Begriff einzureihen sind, auf deren Hauptfunktion und deren objektive Merkmale abzustellen. Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass die Hauptfunktion dieser Apparate die Ton‑ und Bildwiedergabe und nicht die Datenspeicherung ist. Diese Apparate sind daher nicht unter den Begriff „proprietary format storage devices“ einzureihen, auf den diese Anlage B Bezug nimmt.
52 Folglich ist festzustellen, dass die Anlagen A und B des Anhangs des ITA für das Ausgangsverfahren nicht von Bedeutung sind.
53 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die KN dahin auszulegen ist, dass Apparate wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Screenplays, deren Funktion zum einen darin besteht, Multimediadateien zu speichern, und zum anderen darin, diese auf einem Fernsehgerät oder einem Videomonitor wiederzugeben, in die Position 8521 dieser Nomenklatur einzureihen sind.
Kosten
54 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Die Kombinierte Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif in den sich nacheinander aus der Verordnung (EG) Nr. 1549/2006 der Kommission vom 17. Oktober 2006 und der Verordnung (EG) Nr. 1214/2007 der Kommission vom 20. September 2007 ergebenden Fassungen ist dahin auszulegen, dass Apparate wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Screenplays, deren Funktion zum einen darin besteht, Multimediadateien zu speichern, und zum anderen darin, diese auf einem Fernsehgerät oder einem Videomonitor wiederzugeben, in die Position 8521 dieser Nomenklatur einzureihen sind.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 14. Juli 2016.#Verband Sozialer Wettbewerb e.V. gegen Innova Vital GmbH.#Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts München I.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 – Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel – Art. 1 Abs. 2 – Geltungsbereich – Lebensmittel, die als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen – Angaben in kommerziellen Mitteilungen, die sich ausschließlich an medizinische Fachkreise richten.#Rechtssache C-19/15.
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62015CJ0019
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ECLI:EU:C:2016:563
| 2016-07-14T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0019
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
14. Juli 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verbraucherschutz — Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 — Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel — Art. 1 Abs. 2 — Geltungsbereich — Lebensmittel, die als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen — Angaben in kommerziellen Mitteilungen, die sich ausschließlich an medizinische Fachkreise richten“
In der Rechtssache C‑19/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht München I (Deutschland) mit Entscheidung vom 16. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Januar 2015, in dem Verfahren
Verband Sozialer Wettbewerb e. V.
gegen
Innova Vital GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter D. Šváby, J. Malenovský, M. Safjan (Berichterstatter) und M. Vilaras,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Innova Vital GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt T. Büttner,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch A. Dimitrakopoulou und K. Karavasili als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und K. Herbout-Borczak als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Februar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (ABl. 2006, L 404, S. 9, berichtigt im ABl. 2007, L 12, S. 3) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1047/2012 der Kommission vom 8. November 2012 (ABl. 2012, L 310, S. 36) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1924/2006).
2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen dem Verband Sozialer Wettbewerb e. V., einem deutschen Wettbewerbsverein, und der Innova Vital GmbH über die Geltung der Verordnung Nr. 1924/2006 für nährwert‑ oder gesundheitsbezogene Angaben in einem Schreiben, das sich ausschließlich an medizinische Fachkreise richtet.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinien 2000/31/EG und 2006/123/EG
3 Gemäß Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (ABl. 2000, L 178, S. 1) bezeichnet für die Zwecke dieser Richtlinie der Ausdruck
„‚kommerzielle Kommunikation‘ alle Formen der Kommunikation, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes von Waren und Dienstleistungen oder des Erscheinungsbilds eines Unternehmens, einer Organisation oder einer natürlichen Person dienen, die eine Tätigkeit in Handel, Gewerbe oder Handwerk oder einen reglementierten Beruf ausübt; die folgenden Angaben stellen als solche keine Form der kommerziellen Kommunikation dar:
—
Angaben, die direkten Zugang zur Tätigkeit des Unternehmens bzw. der Organisation oder Person ermöglichen, wie insbesondere ein Domain-Name oder eine Adresse der elektronischen Post;
—
Angaben in Bezug auf Waren und Dienstleistungen oder das Erscheinungsbild eines Unternehmens, einer Organisation oder Person, die unabhängig und insbesondere ohne finanzielle Gegenleistung gemacht werden“.
4 Art. 4 Nr. 12 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) sieht für den Begriff „kommerzielle Kommunikation“ eine ähnliche Definition vor.
Verordnung Nr. 1924/2006
5 In den Erwägungsgründen 1, 2, 4, 9, 14, 16 bis 18 und 23 der Verordnung Nr. 1924/2006 heißt es:
„(1)
Zunehmend werden Lebensmittel in der Gemeinschaft mit nährwert‑ und gesundheitsbezogenen Angaben gekennzeichnet, und es wird mit diesen Angaben für sie Werbung gemacht. Um dem Verbraucher ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten und ihm die Wahl zu erleichtern, sollten die im Handel befindlichen Produkte, einschließlich der eingeführten Produkte, sicher sein und eine angemessene Kennzeichnung aufweisen. Eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung ist eine Grundvoraussetzung für eine gute Gesundheit, und einzelne Produkte sind im Kontext der gesamten Ernährung von relativer Bedeutung.
(2) Unterschiede zwischen den nationalen Bestimmungen über solche Angaben können den freien Warenverkehr behindern und ungleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen. Sie haben damit eine unmittelbare Auswirkung auf das Funktionieren des Binnenmarktes. Es ist daher notwendig, Gemeinschaftsregeln für die Verwendung von nährwert‑ und gesundheitsbezogenen Angaben über Lebensmittel zu erlassen.
…
(4) Diese Verordnung sollte für alle nährwert‑ und gesundheitsbezogenen Angaben gelten, die in kommerziellen Mitteilungen, u. a. auch in allgemeinen Werbeaussagen über Lebensmittel und in Werbekampagnen wie solchen, die ganz oder teilweise von Behörden gefördert werden, gemacht werden. Auf Angaben in nichtkommerziellen Mitteilungen, wie sie z. B. in Ernährungsrichtlinien oder ‑empfehlungen von staatlichen Gesundheitsbehörden und ‑stellen oder in nichtkommerziellen Mitteilungen und Informationen in der Presse und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu finden sind, sollte sie jedoch keine Anwendung finden. …
…
(9) Es gibt eine Vielzahl von Nährstoffen und anderen Substanzen – unter anderem Vitamine, Mineralstoffe einschließlich Spurenelementen, Aminosäuren, essenzielle Fettsäuren, Ballaststoffe, verschiedene Pflanzen‑ und Kräuterextrakte und andere – mit ernährungsbezogener oder physiologischer Wirkung, die in Lebensmitteln vorhanden und Gegenstand entsprechender Angaben sein können. Daher sollten allgemeine Grundsätze für alle Angaben über Lebensmittel festgesetzt werden, um ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, dem Verbraucher die notwendigen Informationen für eine sachkundige Entscheidung zu liefern und gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Lebensmittelindustrie zu schaffen.
…
(14) Es gibt eine Vielzahl von Angaben, die derzeit bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln und der Werbung hierfür in manchen Mitgliedstaaten gemacht werden und sich auf Stoffe beziehen, deren positive Wirkung nicht nachgewiesen wurde bzw. zu denen derzeit noch keine ausreichende Einigkeit in der Wissenschaft besteht. Es muss sichergestellt werden, dass für Stoffe, auf die sich eine Angabe bezieht, der Nachweis einer positiven ernährungsbezogenen Wirkung oder physiologischen Wirkung erbracht wird.
…
(16) Es ist wichtig, dass Angaben über Lebensmittel vom Verbraucher verstanden werden können[,] und es ist angezeigt, alle Verbraucher vor irreführenden Angaben zu schützen. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat es allerdings in seiner Rechtsprechung in Fällen im Zusammenhang mit Werbung seit dem Erlass der Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom10. September 1984 [zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung (ABl. 1984, L 250, S. 17)] für erforderlich gehalten, die Auswirkungen auf einen fiktiven typischen Verbraucher zu prüfen. Entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und im Interesse der wirksamen Anwendung der darin vorgesehenen Schutzmaßnahmen nimmt diese Verordnung den normal informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher unter Berücksichtigung sozialer, kultureller und sprachlicher Faktoren nach der Auslegung des Gerichtshofs als Maßstab, zielt mit ihren Bestimmungen jedoch darauf ab, die Ausnutzung von Verbrauchern zu vermeiden, die aufgrund bestimmter Charakteristika besonders anfällig für irreführende Angaben sind. Richtet sich eine Angabe speziell an eine besondere Verbrauchergruppe wie z. B. Kinder, so sollte die Auswirkung der Angabe aus der Sicht eines Durchschnittsmitglieds dieser Gruppe beurteilt werden. Der Begriff des Durchschnittsverbrauchers beruht dabei nicht auf einer statistischen Grundlage. Die nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden müssen sich bei der Beurteilung der Frage, wie der Durchschnittsverbraucher in einem gegebenen Fall typischerweise reagieren würde, auf ihre eigene Urteilsfähigkeit unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlassen.
(17) Eine wissenschaftliche Absicherung sollte der Hauptaspekt sein, der bei der Verwendung nährwert‑ und gesundheitsbezogener Angaben berücksichtigt wird, und die Lebensmittelunternehmer, die derartige Angaben verwenden, sollten diese auch begründen. Eine Angabe sollte wissenschaftlich abgesichert sein, wobei alle verfügbaren wissenschaftlichen Daten berücksichtigt und die Nachweise abgewogen werden sollten.
(18) Eine nährwert‑ oder gesundheitsbezogene Angabe sollte nicht gemacht werden, wenn sie den allgemein akzeptierten Ernährungs‑ und Gesundheitsgrundsätzen zuwiderläuft oder wenn sie zum übermäßigen Verzehr eines Lebensmittels verleitet oder diesen gutheißt oder von vernünftigen Ernährungsgewohnheiten abbringt.
…
(23) Gesundheitsbezogene Angaben sollten für die Verwendung in der Gemeinschaft nur nach einer wissenschaftlichen Bewertung auf höchstmöglichem Niveau zugelassen werden. Damit eine einheitliche wissenschaftliche Bewertung dieser Angaben gewährleistet ist, sollte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit solche Bewertungen vornehmen. …“
6 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Verordnung sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Mit dieser Verordnung werden die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben harmonisiert, um das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und gleichzeitig ein hohes Verbraucherschutzniveau zu bieten.
(2) Diese Verordnung gilt für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben, die in kommerziellen Mitteilungen bei der Kennzeichnung und Aufmachung von oder bei der Werbung für Lebensmittel gemacht werden, die als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen.
…“
7 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung bestimmt:
„(1) Für die Zwecke dieser Verordnung
a)
gelten für ‚Lebensmittel‘, ‚Lebensmittelunternehmer‘, ‚Inverkehrbringen‘ und ‚Endverbraucher‘ die Begriffsbestimmungen in Artikel 2 und Artikel 3 Nummern 3, 8 und 18 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit [(ABl. 2002, L 31, S. 1)];
…
(2) Ferner bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚Angabe‘ jede Aussage oder Darstellung, die nach dem Gemeinschaftsrecht oder den nationalen Vorschriften nicht obligatorisch ist, einschließlich Darstellungen durch Bilder, grafische Elemente oder Symbole in jeder Form, und mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Lebensmittel besondere Eigenschaften besitzt;
…
4. ‚nährwertbezogene Angabe‘ jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Lebensmittel besondere positive Nährwerteigenschaften besitzt, und zwar aufgrund
a)
der Energie (des Brennwerts), die es
i)
liefert,
ii)
in vermindertem oder erhöhtem Maße liefert oder
iii)
nicht liefert, und/oder
b)
der Nährstoffe oder anderen Substanzen, die es
i)
enthält,
ii)
in verminderter oder erhöhter Menge enthält oder
iii)
nicht enthält;
5. ‚gesundheitsbezogene Angabe‘ jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht;
…“
8 Kapitel II der Verordnung Nr. 1924/2006, das die Allgemeinen Grundsätze regelt, besteht aus den Art. 3 bis 7. Unter der Überschrift „Allgemeine Grundsätze für alle Angaben“ sieht Art. 3 der Verordnung vor:
„Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben dürfen bei der Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln, die in der Gemeinschaft in Verkehr gebracht werden, bzw. bei der Werbung hierfür nur verwendet werden, wenn sie der vorliegenden Verordnung entsprechen.
Unbeschadet der Richtlinien 2000/13/EG und 84/450/EWG dürfen die verwendeten nährwert‑ und gesundheitsbezogenen Angaben
a)
nicht falsch, mehrdeutig oder irreführend sein;
…“
9 Art. 5 („Allgemeine Bedingungen“) dieser Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Die Verwendung nährwert- und gesundheitsbezogener Angaben ist nur zulässig, wenn die nachstehenden Bedingungen erfüllt sind:
a)
Es ist anhand allgemein anerkannter wissenschaftlicher Nachweise nachgewiesen, dass das Vorhandensein, das Fehlen oder der verringerte Gehalt des Nährstoffs oder der anderen Substanz, auf die sich die Angabe bezieht, in einem Lebensmittel oder einer Kategorie von Lebensmitteln eine positive ernährungsbezogene Wirkung oder physiologische Wirkung hat.
…
(2) Die Verwendung nährwert- oder gesundheitsbezogener Angaben ist nur zulässig, wenn vom durchschnittlichen Verbraucher erwartet werden kann, dass er die positive Wirkung, wie sie in der Angabe dargestellt wird, versteht.“
10 Die Art. 10 bis 19 der Verordnung beziehen sich auf gesundheitsbezogene Angaben.
11 Art. 10 („Spezielle Bedingungen“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Gesundheitsbezogene Angaben sind verboten, sofern sie nicht den allgemeinen Anforderungen in Kapitel II und den speziellen Anforderungen im vorliegenden Kapitel entsprechen, gemäß dieser Verordnung zugelassen und in die Liste der zugelassenen Angaben gemäß den Artikeln 13 und 14 aufgenommen sind.“
Deutsches Recht
12 § 8 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) (BGBl. 2010 I S. 254) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor:
„Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
13 Innova Vital, deren Geschäfte von einem Arzt geführt werden, brachte in Deutschland ein in Tropfenform zu verabreichendes Vitamin-D3-haltiges Nahrungsergänzungsmittel unter dem Namen „Innova Mulsin® Vitamin D3“ in den Verkehr.
14 Im November 2013 richtete der Geschäftsführer von Innova Vital ausschließlich an namentlich genannte Ärzte ein Schreiben (im Folgenden: in Rede stehendes Schreiben), in dem es hieß:
„…
Sie kennen die Fakten: 87 % der Kinder in Deutschland haben Vitamin[-]D-Werte von unter 30 ng/ml im Blut. Laut [der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)] sollten es aber zwischen 50-75 ng/ml sein.
Wie schon in zahlreichen Studien beschrieben wurde, trägt Vitamin D maßgeblich zur Prävention mehrerer Krankheiten, wie z. B. atopische Dermatitis, Osteoporose, Diabetes mellitus und [Multiple Sklerose] bei. Nach diesen Studien ist ein zu niedriger Vitamin[-]D-Spiegel schon im Kindesalter mit verantwortlich für das spätere Auftreten der genannten Krankheitsbilder.
Aus diesem Grund habe auch ich meinem Sohn die empfohlenen Vitamin[-]D-Präparate verabreicht und dabei festgestellt, dass die herkömmliche Tablettenform von Säuglingen, Kleinkindern und auch Schulkindern nicht sehr gut angenommen wird. Mein Sohn spuckte diese regelmäßig wieder aus.
Darüber habe ich mir als Arzt mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Immunologie Gedanken gemacht und eine Vitamin[-]D3[-]Emulsion (Innova Mulsin® D3) zur Verabreichung in Tropfenform entwickelt.
…
Vorteile der Mulsine:
…
schnelle Vorbeugung oder Beseitigung von Mangelzuständen (Vitamin[‑]D3[‑]Mangel bei 80 % der Bevölkerung im Winter beschrieben)
…
Direkt-Bestellkonditionen sowie kostenfreies Infomaterial für Ihre Praxis erhalten Sie unter …“
15 Das in Rede stehende Schreiben enthielt eine bebilderte Darstellung des Nahrungsergänzungsmittels Innova Mulsin® Vitamin D3 mit Angaben über seine Zusammensetzung, seinen Verkaufspreis und die Tagestherapiekosten nach der Dosierungsempfehlung von einem Tropfen täglich.
16 Der Verband Sozialer Wettbewerb machte beim Landgericht München I (Deutschland) gegen Innova Vital Unterlassungsansprüche gemäß § 8 UWG in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung geltend.
17 Er berief sich darauf, dass das in Rede stehende Schreiben gesundheitsbezogene Angaben enthalte, die nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 verboten seien, und zwar die folgenden beiden Angaben:
„Wie schon in zahlreichen Studien beschrieben wurde, trägt Vitamin D maßgeblich zur Prävention mehrerer Krankheiten, wie z. B. atopische Dermatitis, Osteoporose, Diabetes mellitus und [Multiple Sklerose] bei. Nach diesen Studien ist ein zu niedriger Vitamin[-]D-Spiegel schon im Kindesalter verantwortlich für das spätere Auftreten der genannten Krankheitsbilder“
und
„schnelle Vorbeugung oder Beseitigung von Mangelzuständen (Vitamin D3[-]Mangel bei 80 % der Bevölkerung im Winter beschrieben)“.
18 Der Verband Sozialer Wettbewerb verwies hierzu u. a. darauf, dass die Vorschriften der Verordnung Nr. 1924/2006 für Werbung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Fachkreise gälten.
19 Innova Vital hält dem entgegen, die Verordnung Nr. 1924/2006 beziehe sich nicht auf Werbung innerhalb der Fachkreise. Da das in Rede stehende Schreiben nur an Ärzte gerichtet gewesen sei, seien die Bestimmungen der Verordnung folglich nicht auf die in diesem Schreiben enthaltenen und nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 verbotenen Angaben anzuwenden.
20 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hängt die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung des Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 ab, der Gegenstand und Anwendungsbereich der Verordnung regle.
21 Unter diesen Umständen hat das Landgericht München I das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 so auszulegen, dass die Vorschriften dieser Verordnung auch für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben gelten, die in kommerziellen Mitteilungen bei der Werbung für Lebensmittel gemacht werden, die als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen, wenn sich die kommerzielle Mitteilung bzw. Werbung ausschließlich an Fachkreise richtet?
Zur Vorlagefrage
22 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 dahin auszulegen ist, dass nährwert‑ oder gesundheitsbezogene Angaben in kommerziellen Mitteilungen über Lebensmittel, die als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen, in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, auch wenn sich diese Mitteilungen nicht an den Endverbraucher, sondern ausschließlich an medizinische Fachkreise richten.
23 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteile vom 17. November 1983, Merck, 292/82, EU:C:1983:335, Rn. 12, vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 44, und vom 17. März 2016, Liffers, C‑99/15, EU:C:2016:173, Rn. 14).
24 Erstens ist zum Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 festzustellen, dass diese Verordnung gemäß dieser Bestimmung für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben gilt, wenn zum einen diese Angaben in kommerziellen Mitteilungen in Form der Kennzeichnung oder Aufmachung von Lebensmitteln oder bei der Werbung für sie gemacht werden und wenn zum anderen die fraglichen Lebensmittel als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen.
25 Die Verordnung Nr. 1924/2006 enthält keine Definition des Begriffs „kommerzielle Mitteilung“. Der Begriff wird jedoch in anderen Bereichen des Unionsrechts durch Bestimmungen des abgeleiteten Rechts definiert, die im vorliegenden Fall heranzuziehen sind, um die Kohärenz des Unionsrechts zu wahren.
26 So sind nach Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2000/31 unter „kommerzieller Kommunikation“ alle Formen der Kommunikation zu verstehen, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes von Waren und Dienstleistungen oder des Erscheinungsbilds eines Unternehmens, einer Organisation oder einer natürlichen Person dienen, die eine Tätigkeit in Handel, Gewerbe oder Handwerk oder einen reglementierten Beruf ausübt.
27 Eine ähnliche Definition des Begriffs „kommerzielle Kommunikation“ enthält Art. 4 Nr. 12 der Richtlinie 2006/123. Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass kommerzielle Kommunikation im Sinne dieser Bestimmung nicht nur die klassische Werbung umfasst, sondern auch andere Formen der Werbung und der Übermittlung von Informationen mit dem Ziel, neue Kunden zu gewinnen (vgl. Urteil vom 5. April 2011, Société fiduciaire nationale d’expertise comptable, C‑119/09, EU:C:2011:208, Rn. 33).
28 Außerdem ergibt sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1924/2006, dass der Begriff „kommerzielle Mitteilung“ auch Mitteilungen betrifft, die Werbezwecken dienen.
29 Vor diesem Hintergrund ist der Begriff „kommerzielle Mitteilung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung dahin zu verstehen, dass er u. a. Mitteilungen in Form einer Lebensmittelwerbung erfasst, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes dieser Lebensmittel dienen.
30 Eine solche Mitteilung kann jedoch auch die Form eines nährwert- oder gesundheitsbezogene Angaben im Sinne der Verordnung enthaltenden Werbeschreibens annehmen, das Lebensmittelunternehmer an medizinische Fachkreise richten, damit diese ihren Patienten gegebenenfalls den Kauf und/oder den Verbrauch dieses Lebensmittels empfehlen.
31 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2004 keine näheren Angaben zum Adressaten der kommerziellen Mitteilung macht und nicht danach unterscheidet, ob es sich um einen Endverbraucher oder einen Angehörigen medizinischer Fachkreise handelt. Daher muss, wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge festgestellt hat, die Ware selbst für den Verbraucher bestimmt sein, nicht jedoch die Mitteilung, deren Gegenstand sie bildet.
32 Unter diesen Umständen lässt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2000/31 und Art. 4 Nr. 12 der Richtlinie 2006/123 folgern, dass die Verordnung Nr. 1924/2006 auch für nährwert‑ oder gesundheitsbezogene Angaben in kommerziellen Mitteilungen gilt, die ausschließlich an medizinische Fachkreise gerichtet sind.
33 Zweitens ist hervorzuheben, dass eine Prüfung des Zusammenhangs, in den sich Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 einfügt, nichts ergibt, was dieser Auslegung widerspräche.
34 Zwar beziehen sich, wie Innova Vital geltend macht, bestimmte Erwägungsgründe und Bestimmungen der Verordnung Nr. 1924/2006, so insbesondere die Erwägungsgründe 1, 9, 16, 29 und 36 sowie Art. 5 Abs. 2 dieser Verordnung, ausdrücklich auf die „Verbraucher“, ohne die „Fachkreise“ zu erwähnen.
35 Dass in diesen Erwägungsgründen und Bestimmungen ein Hinweis auf die „Fachkreise“ fehlt, kann jedoch nicht bedeuten, dass die Verordnung den Fall, in dem eine kommerzielle Mitteilung ausschließlich an medizinische Fachkreise gerichtet ist, nicht erfasste. Denn in einem solchen Fall zielt die Kommunikation zwischen den Lebensmittelunternehmern und den medizinischen Fachkreisen hauptsächlich auf den Endverbraucher ab, damit er das Lebensmittel, das Gegenstand der Kommunikation ist, auf Empfehlung dieser Fachkreise erwirbt.
36 Im Übrigen ergibt sich aus keiner Bestimmung der Verordnung Nr. 1924/2006, dass diese nicht für kommerzielle Mitteilungen gälte, die sich an medizinische Fachkreise richten.
37 Drittens schließlich wird die Auslegung, wonach die Verordnung auch für kommerzielle Mitteilungen gilt, die sich ausschließlich an medizinische Fachkreise richten, durch die Ziele der Verordnung bestätigt.
38 Die Verordnung Nr. 1924/2006 soll nämlich nach ihrem Art. 1 Abs. 1 das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts gewährleisten und gleichzeitig ein hohes Verbraucherschutzniveau bieten.
39 Wie insoweit aus den Erwägungsgründen 1 und 18 dieser Verordnung hervorgeht, gehört der Gesundheitsschutz zu den Hauptzwecken der Verordnung (Urteil vom 6. September 2012, Deutsches Weintor, C‑544/10, EU:C:2012:526, Rn. 45). Zu diesem Zweck sind u. a. dem Verbraucher die für eine sachkundige Entscheidung notwendigen Informationen zu liefern (Urteile vom 10. April 2014, Ehrmann, C‑609/12, EU:C:2014:252, Rn. 40, und vom 17. Dezember 2015, Neptune Distribution, C‑157/14, EU:C:2015:823, Rn. 49).
40 In diesem Sinne sieht Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 vor, dass die Verwendung nährwert- und gesundheitsbezogener Angaben nur zulässig ist, wenn anhand allgemein anerkannter wissenschaftlicher Nachweise nachgewiesen ist, dass das Vorhandensein, das Fehlen oder der verringerte Gehalt eines Nährstoffs oder einer anderen Substanz, auf die sich die Angabe bezieht, in einem Lebensmittel oder einer Kategorie von Lebensmitteln eine positive ernährungsbezogene Wirkung oder physiologische Wirkung hat. Auch der 14. Erwägungsgrund der Verordnung ist in diesem Sinne formuliert.
41 Wie im 17. Erwägungsgrund der Verordnung dargelegt, sollte die wissenschaftliche Absicherung der Hauptaspekt sein, der bei der Verwendung nährwert‑ und gesundheitsbezogener Angaben berücksichtigt wird. Darüber hinaus heißt es im 23. Erwägungsgrund der Verordnung, dass gesundheitsbezogene Angaben für die Verwendung in der Union nur nach einer wissenschaftlichen Bewertung auf höchstmöglichem Niveau zugelassen werden sollten und dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit solche Bewertungen vornehmen sollte, damit eine einheitliche wissenschaftliche Bewertung dieser Angaben gewährleistet ist.
42 Die Verordnung Nr. 1924/2006 sieht somit ein Verfahren vor, mit dem nachgeprüft werden kann, ob eine Angabe im Sinne dieser Verordnung wissenschaftlich abgesichert ist.
43 Zwar kann davon ausgegangen werden, dass die medizinischen Fachkreise über umfangreichere wissenschaftliche Kenntnisse verfügen als ein Endverbraucher, also als ein, wie es im 16. Erwägungsgrund heißt, normal informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher. Nicht angenommen werden kann jedoch, dass diese Fachkreise in der Lage sind, jederzeit über alle speziellen und aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisse zu verfügen, die notwendig sind, um jedes einzelne Lebensmittel und die nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben, die bei der Kennzeichnung oder Aufmachung dieser Lebensmittel oder bei der Werbung für sie verwendet werden, zu bewerten.
44 Wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge festgestellt hat, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die medizinischen Fachkreise selbst durch falsche, irreführende oder unwahre Angaben in die Irre geleitet werden.
45 Daher könnten die medizinischen Fachkreise falsche Informationen über die Lebensmittel, die Gegenstand der kommerziellen Mitteilung sind, völlig gutgläubig an die Endverbraucher weitergeben, mit denen sie in Verbindung stehen. Diese Gefahr verdient umso größere Beachtung, als die Fachkreise aufgrund des Vertrauensverhältnisses, das im Allgemeinen zwischen ihnen und ihren Patienten besteht, einen erheblichen Einfluss auf diese ausüben können.
46 Wenn an medizinische Fachkreise gerichtete nährwert- oder gesundheitsbezogene Angaben nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1924/2006 fielen und damit verwendet werden dürften, ohne notwendig auf wissenschaftliche Nachweise gestützt zu sein, bestünde überdies die Gefahr, dass Lebensmittelunternehmer ihre Verpflichtungen aus dieser Verordnung dadurch umgingen, dass sie sich über Angehörige medizinischer Fachkreise an den Endverbraucher wendeten, damit diese ihre Produkte dem Endverbraucher empföhlen.
47 Folglich trägt die Anwendung der Verordnung Nr. 1924/2006 auf nährwert‑ oder gesundheitsbezogene Angaben in kommerziellen Mitteilungen an Fachkreise im Rahmen des Binnenmarkts, dessen ordnungsgemäßes Funktionieren die Verordnung gewährleisten soll, zu einem hohen Verbraucherschutzniveau bei.
48 Die von Innova Vital vorgetragenen Argumente sind nicht geeignet, diese Auslegung zu entkräften, wonach die Verordnung Nr. 1924/2006 für nährwert‑ oder gesundheitsbezogene Angaben in kommerziellen Mitteilungen auch dann gilt, wenn sich die Mitteilung ausschließlich an medizinische Fachkreise richtet.
49 Zwar ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006, dass die Verwendung nährwert‑ oder gesundheitsbezogener Angaben nur zulässig ist, wenn der durchschnittliche Verbraucher die positiven Wirkungen, die in der Angabe dargestellt werden, versteht.
50 Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass jede objektive Information über neue wissenschaftliche Entwicklungen, die Lebensmittelunternehmer unter Verwendung technischer oder wissenschaftlicher Terminologie – wie hier des Begriffs „atopische Dermatitis“ – an medizinische Fachkreise richten, verboten wäre.
51 Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 ist nämlich dahin zu verstehen, dass diese Bestimmung im Interesse einer sachkundigen Entscheidung des Endverbrauchers zur Anwendung gelangt, wenn die nährwert‑ und gesundheitsbezogenen Angaben unmittelbar dem Endverbraucher mitgeteilt werden. In einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits jedoch wird das solche Angaben enthaltende Schreiben, wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge festgestellt hat, nicht als solches dem Endverbraucher vorgelegt, sondern den medizinischen Fachkreisen übermittelt, die stillschweigend dazu aufgefordert werden, das betroffene Lebensmittel dem Endverbraucher zu empfehlen.
52 Darüber hinaus sieht der vierte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1924/2006 vor, dass die Verordnung auf Angaben in nicht kommerziellen Mitteilungen wie z. B. in den Ernährungsrichtlinien oder ‑empfehlungen staatlicher Gesundheitsbehörden und ‑stellen oder in nicht kommerziellen Mitteilungen und Informationen in der Presse und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen keine Anwendung finden sollte.
53 Daher steht die Verordnung der objektiven Information medizinischer Fachkreise über neue wissenschaftliche Entwicklungen, die sich technischer oder wissenschaftlicher Terminologie bedient, nicht entgegen, wenn die Mitteilung nicht kommerzieller Art ist.
54 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 dahin auszulegen ist, dass nährwert‑ oder gesundheitsbezogene Angaben in kommerziellen Mitteilungen über Lebensmittel, die als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen, in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, auch wenn sich diese Mitteilungen nicht an den Endverbraucher, sondern ausschließlich an medizinische Fachkreise richten.
Kosten
55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1047/2012 der Kommission vom 8. November 2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass nährwert- oder gesundheitsbezogene Angaben in kommerziellen Mitteilungen über Lebensmittel, die als solche an den Endverbraucher abgegeben werden sollen, in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, auch wenn sich diese Mitteilungen nicht an den Endverbraucher, sondern ausschließlich an medizinische Fachkreise richten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Beschluss des Gerichts (Dritte Kammer) vom 27. April 2016.#European Union Copper Task Force gegen Europäische Kommission.#Nichtigkeitsklage – Pflanzenschutzmittel – Durchführungsverordnung (EU) 2015/408 – Erstellung einer Liste mit Substitutionskandidaten – Aufnahme von Kupferverbindungen in diese Liste – Keine individuelle Betroffenheit – Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-310/15.
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62015TO0310
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ECLI:EU:T:2016:265
| 2016-04-27T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62015TO0310 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 22. Juni 2016.#M. H. gegen M. H.#Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Fehlen eines vernünftigen Zweifels – Gerichtliche Zuständigkeit in Ehesachen – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 16 Abs. 1 Buchst. a – Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem ein Gericht angerufen ist – Begriff ‚Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde‘.#Rechtssache C-173/16.
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62016CO0173
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ECLI:EU:C:2016:542
| 2016-06-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016CO0173
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
22. Juni 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs — Fehlen eines vernünftigen Zweifels — Gerichtliche Zuständigkeit in Ehesachen — Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 — Art. 16 Abs. 1 Buchst. a — Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem ein Gericht angerufen ist — Begriff ‚Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde‘“
In der Rechtssache C‑173/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) mit Entscheidung vom 18. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2016, in dem Verfahren
M. H.
gegen
M. H.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter C. G. Fernlund (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, nach Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen M. H. und M. H. betreffend das Zerbrechen der familiären Bindungen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 16 („Anrufung eines Gerichts“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt in Abs. 1:
„Ein Gericht gilt als angerufen
a)
zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken,
oder
b)
falls die Zustellung an den Antragsgegner vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat, vorausgesetzt, dass der Kläger es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen.“
4 Art. 19 Abs. 1 und 3 dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zwischen denselben Parteien gestellt, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.
…
(3) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.
In diesem Fall kann der Antragsteller, der den Antrag bei dem später angerufenen Gericht gestellt hat, diesen Antrag dem zuerst angerufenen Gericht vorlegen.“
Irisches Recht
5 Nach den in Irland anwendbaren Verfahrensvorschriften, wie sie das vorlegende Gericht dargelegt hat, ist ein Verfahren eröffnet, wenn die Ladungsschrift („summons“) von der Geschäftsstelle des betreffenden Gerichts ausgefertigt („issued“) wird. Die Zustellung der Ladungsschrift muss nicht vor der Eröffnung des Verfahrens erfolgen. Nach ihrer Ausfertigung wird die Ladungsschrift dem Antragsgegner zugestellt.
6 Auch wenn das Verfahren erst dann als anhängig gilt, wenn es durch Ausfertigung der Ladungsschrift eröffnet wurde, ist das betreffende Gericht dennoch befugt, schon vor der Ausfertigung eine Entscheidung in diesem Verfahren zu erlassen. Dies geschieht in Familiensachen in dringenden Fällen.
Recht des Vereinigten Königreichs
7 Gemäß der Vorlageentscheidung ähneln die im Vereinigten Königreich (England und Wales) anwendbaren Verfahrensvorschriften den in Irland anwendbaren Vorschriften, die in den Rn. 5 und 6 des vorliegenden Beschlusses dargelegt wurden. Anstelle einer Ladungsschrift ist das verfahrenseinleitende Schriftstück allerdings eine Antragsschrift („petition“).
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
8 Herr M. H., der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, und Frau M. H., die Rechtsmittelgegnerin des Ausgangsverfahrens, heirateten am 26. Juni 1982.
9 Die Rechtsmittelgegnerin des Ausgangsverfahrens reichte einen Scheidungsantrag ein, der bei der Geschäftsstelle des Familiengerichts des Vereinigten Königreichs (England und Wales) (im Folgenden: englisches Familiengericht) am 7. September 2015 um 7.53 Uhr einging. Spätestens um 10.30 Uhr desselben Tages wurde die Antragsschrift mit einem Eingangsstempel versehen. Sodann wurde sie am 11. September 2015 von der Geschäftsstelle dieses Gerichts ausgefertigt. Am 15. September 2015 wurde sie dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens zugestellt.
10 Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens reichte am 7. September 2015 gegen 14.30 Uhr bei der Geschäftsstelle des High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) eine Ladungsschrift bezüglich der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes ein, die kurz darauf am selben Tag ausgefertigt wurde. Die Ladungsschrift wurde der Rechtsmittelgegnerin des Ausgangsverfahrens am 9. September 2015 zugestellt.
11 Das von der Rechtsmittelgegnerin des Ausgangsverfahrens vor dem englischen Familiengericht eingeleitete Scheidungsverfahren gilt als am 11. September 2015 eröffnet und seit diesem Datum bei diesem Gericht anhängig. Das vom Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens vor dem High Court (Hoher Gerichtshof) in Irland betriebene Verfahren betreffend die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes gilt als am 7. September 2015 eröffnet und seit diesem Datum bei diesem Gericht anhängig.
12 In dem in Irland betriebenen Verfahren beantragten die Beteiligten des Ausgangsverfahrens beim High Court (Hoher Gerichtshof) jeweils, im Hinblick auf die Anwendung von Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 dieses Gericht – so der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens – bzw. das englische Familiengericht – so die Rechtsmittelgegnerin des Ausgangsverfahrens – als zuerst angerufenes Gericht festzustellen.
13 Der High Court (Hoher Gerichtshof) entschied über diese Anträge, indem er auf der Grundlage von Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 feststellte, dass das englische Familiengericht zuerst angerufen worden sei.
14 Gegen diese Entscheidung legte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht ein Rechtsmittel ein.
15 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist der „Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück … bei Gericht eingereicht wurde“, im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 auszulegen als
a)
der Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück bei Gericht eingegangen ist, auch wenn das Verfahren gemäß den nationalen Rechtsvorschriften nicht unmittelbar mit Eingang dieses Schriftstücks eingeleitet wird, oder als
b)
der Zeitpunkt, zu dem das Verfahren nach Eingang des verfahrenseinleitenden Schriftstücks bei Gericht gemäß den nationalen Rechtsvorschriften eingeleitet wird?
16 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.
Zur Vorlagefrage
17 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
18 Diese Bestimmung ist hier anzuwenden.
19 Da die Rechtssache mit dem vorliegenden Beschluss gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung erledigt wird, ist über den Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens nicht zu entscheiden.
20 Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass der „Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde“, im Sinne dieser Vorschrift der Zeitpunkt ist, zu dem die Einreichung bei dem betreffenden Gericht erfolgt, auch wenn durch die Einreichung als solche nicht sofort das Verfahren nach nationalem Recht eingeleitet wird.
21 Der Gerichtshof hat sich kürzlich im Urteil vom 6. Oktober 2015, A (C‑489/14, EU:C:2015:654), zur Frage der Rechtshängigkeit im Verhältnis zwischen zwei Verfahren – einem Scheidungsverfahren und einem Verfahren der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes – bei zwei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten geäußert.
22 Hinsichtlich der Zielsetzung der Regeln über die Rechtshängigkeit in Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass damit Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten und daraus möglicherweise resultierende gegensätzliche Entscheidungen verhindert werden sollen. Zu diesem Zweck wollte der Unionsgesetzgeber einen klaren und wirksamen Mechanismus einführen, um die Fälle der Rechtshängigkeit zu lösen (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, A, C‑489/14, EU:C:2015:654, Rn. 29).
23 Wie sich aus den Wendungen „zuerst angerufene[s] Gericht“ und „später angerufene[s] Gericht“ in Art. 19 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt, gründet dieser Mechanismus auf der chronologischen Reihenfolge, in der die betreffenden Gerichte angerufen wurden.
24 Um den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem ein Gericht als angerufen gilt, und damit festzustellen, welches das zuerst angerufene Gericht ist, ist Art. 16 („Anrufung eines Gerichts“) der Verordnung Nr. 2201/2003 heranzuziehen.
25 Der Gerichtshof hat in Rn. 30 des Beschlusses vom 16. Juli 2015, P (C‑507/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:512), festgestellt, dass dieser Artikel eine eigenständige Definition des Zeitpunkts enthält, zu dem ein Gericht als angerufen anzusehen ist. Der Unionsgesetzgeber hat einen einheitlichen Begriff des Zeitpunkts der Anrufung eines Gerichts bestimmt, der sich nach der Vornahme einer einzigen Handlung richtet, nämlich je nach dem betrachteten Verfahrenssystem entweder der Einreichung oder der Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks, wobei allerdings auch berücksichtigt wird, ob in der Folge die zweite Handlung tatsächlich vorgenommen wurde. So ist gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 der Zeitpunkt der Anrufung derjenige, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken (Beschluss vom 16. Juli 2015, P, C‑507/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:512, Rn. 32).
26 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 die Anrufung des Gerichts nicht etwa die Erfüllung zweier Voraussetzungen erfordert – nämlich Einreichung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks oder eines gleichwertigen Schriftstücks und Zustellung dieses Schriftstücks an den Antragsgegner –, sondern nur einer Voraussetzung, nämlich Einreichung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks oder eines gleichwertigen Schriftstücks. Nach dieser Vorschrift stellt die Einreichung für sich genommen die Anrufung des Gerichts dar, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken (Beschluss vom 16. Juli 2015, P, C‑507/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:512, Rn. 37).
27 Bezüglich dieser Voraussetzung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass ihr Zweck darin besteht, Schutz gegen Missbrauch des Verfahrensrechts zu gewährleisten. Daher sind bei der Prüfung dieser Voraussetzung keine Verzögerungen zu berücksichtigen, die auf das betreffende Gerichtssystem zurückzuführen sind, sondern nur ein etwaiger Mangel an Sorgfalt des Antragstellers (Beschluss vom 16. Juli 2015, P, C‑507/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:512, Rn. 34).
28 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, wie auch das vorlegende Gericht ausführt, dass nach der Klärung, für welche der beiden in Art. 16 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Optionen sich der betreffende Mitgliedstaat entschieden hat, der Zeitpunkt, zu dem ein Gericht angerufen wurde, im Rahmen der ersten, in Art. 16 Abs. 1 Buchst. a geregelten Option allein auf der objektiven Feststellung beruht, zu welchem Zeitpunkt das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei diesem Gericht eingereicht wurde, unabhängig von jeder nationalen Verfahrensvorschrift, die bestimmt, wann und unter welchen Umständen das Verfahren eröffnet ist oder als anhängig gilt, sofern der Antragsteller in der Folge das Erfordernis der Zustellung dieses Schriftstücks an den Antragsgegner beachtet hat.
29 Folglich ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass der „Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde“, im Sinne dieser Vorschrift der Zeitpunkt ist, zu dem die Einreichung bei dem betreffenden Gericht erfolgt, auch wenn durch die Einreichung als solche nicht sofort das Verfahren nach nationalem Recht eingeleitet wird.
Kosten
30 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass der „Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde“, im Sinne dieser Vorschrift der Zeitpunkt ist, zu dem die Einreichung bei dem betreffenden Gericht erfolgt, auch wenn durch die Einreichung als solche nicht sofort das Verfahren nach nationalem Recht eingeleitet wird.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 24. Mai 2016.#Leonmobili Srl und Gennaro Leone gegen Homag Holzbearbeitungssysteme GmbH u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Corte di appello di Bari.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 – Art. 3 Abs. 1 und 2 – Insolvenzverfahren – Internationale Zuständigkeit – Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners – Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat – Keine Niederlassung im Ursprungsmitgliedstaat – Vermutung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Ort des neuen satzungsmäßigen Sitzes ist – Beweis des Gegenteils.#Rechtssache C-353/15.
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62015CO0353(01)
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ECLI:EU:C:2016:374
| 2016-05-24T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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EUR-Lex - CELEX:62015CO0353(01) - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 14. April 2016.#John Dalli gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Untersuchungsbericht des OLAF, der ein Mitglied der Europäischen Kommission betrifft – Angeblicher mündlicher Beschluss des Präsidenten der Kommission, den betroffenen Kommissar von seinen Aufgaben zu entbinden – Nichtigkeits- und Schadensersatzklage.#Rechtssache C-394/15 P.
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62015CO0394
|
ECLI:EU:C:2016:262
| 2016-04-14T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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EUR-Lex - CELEX:62015CO0394 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 14. April 2016.#Malvino Cervati und Società Malvi Sas di Cervati Malvino gegen Agenzia delle Dogane und Agenzia delle Dogane – Ufficio delle Dogane di Livorno.#Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Verordnung (EG) Nr. 565/2002 – Art. 3 Abs. 3 – Zollkontingent – Knoblauch mit Ursprung in Argentinien – Einfuhrlizenzen – Keine Übertragbarkeit der Rechte aus Einfuhrlizenzen – Umgehung – Rechtsmissbrauch – Voraussetzungen – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 – Art. 4 Abs. 3.#Rechtssache C-131/14.
|
62014CJ0131
|
ECLI:EU:C:2016:255
| 2016-04-14T00:00:00 |
Gerichtshof, Sharpston
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62014CJ0131
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
14. April 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Landwirtschaft — Gemeinsame Marktorganisation — Verordnung (EG) Nr. 565/2002 — Art. 3 Abs. 3 — Zollkontingent — Knoblauch mit Ursprung in Argentinien — Einfuhrlizenzen — Keine Übertragbarkeit der Rechte aus Einfuhrlizenzen — Umgehung — Rechtsmissbrauch — Voraussetzungen — Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 — Art. 4 Abs. 3“
In der Rechtssache C‑131/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 13. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 21. März 2014, in dem Verfahren
Malvino Cervati,
Società Malvi Sas di Cervati Malvino (aufgelöst)
gegen
Agenzia delle Dogane,
Agenzia delle Dogane – Ufficio delle Dogane di Livorno,
Beteiligter:
Roberto Cervati,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin C. Toader, des Richters A. Rosas, der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. November 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von M. Cervati, der Società Malvi Sas di Cervati Malvino und von R. Cervati, vertreten durch C. Mazzoni, M. Moretto und G. Rondello, avvocati,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, avvocato dello Stato,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch I. Chalkias, I. Dresiou, O. Tsirkinidou und D. Ntourntoureka als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und P. Rossi als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1047/2001 der Kommission vom 30. Mai 2001 zur Einführung einer Einfuhrlizenz- und Ursprungsbescheinigungsregelung sowie zur Festlegung der Verwaltung der Zollkontingente für aus Drittländern eingeführten Knoblauch (ABl. L 145, S. 35) und der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn M. Cervati in seiner Eigenschaft als Komplementär und gesetzlicher Vertreter der aufgelösten Società Malvi Sas di Cervati Malvino (im Folgenden: Malvi) und Malvi auf der einen und der Agenzia delle Dogane (Zollagentur) und der Agenzia delle Dogane – Ufficio delle Dogane di Livorno (Zollagentur – Zollamt Livorno, Italien) (im Folgenden zusammen: Zollagentur) auf der anderen Seite über einen Malvi zugestellten geänderten Festsetzungsbescheid wegen Einfuhren von Knoblauch mit Ursprung in Argentinien unter Anwendung des Präferenzzolls.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 2988/95
3 Art. 4 in Titel II („Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen“) der Verordnung Nr. 2988/95 sieht vor:
„(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils
—
durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;
…
(3) Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen [Unionsvorschriften] zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.
…“
Verordnung (EG) Nr. 1291/2000
4 Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1291/2000 der Kommission vom 9. Juni 2000 mit gemeinsamen Durchführungsvorschriften für Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen sowie Vorausfestsetzungsbescheinigungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse (ABl. L 152, S. 1) bestimmt:
„Die Einfuhr- oder Ausfuhrlizenz berechtigt und verpflichtet dazu, mit dieser Lizenz, ausgenommen im Falle höherer Gewalt, innerhalb ihrer Gültigkeitsdauer die angegebene Menge des bezeichneten Erzeugnisses und/oder der bezeichneten Ware einzuführen bzw. auszuführen.“
5 In Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung heißt es:
„Die Pflichten aus den Lizenzen sind nicht übertragbar. Die Rechte aus den Lizenzen können während der Gültigkeitsdauer der Lizenzen vom Lizenzinhaber übertragen werden. …“
6 Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1291/2000 bestimmt:
„Der Antrag auf Erteilung einer Lizenz wird abgelehnt, wenn am Tag der Antragstellung … keine ausreichende Sicherheit bei der zuständigen Stelle geleistet worden ist.“
7 Art. 35 Abs. 2 dieser Verordnung sieht vor:
„… die Sicherheit [verfällt] bei Nichterfüllung der Verpflichtung zur Ein‑ bzw. Ausfuhr für eine Menge, die dem Unterschied zwischen
a)
95 v. H. der in der Lizenz angegebenen Menge und
b)
der tatsächlich ein- bzw. ausgeführten Menge entspricht.
…
Beträgt die eingeführte oder ausgeführte Menge jedoch weniger als 5 v. H. der in der Lizenz angegebenen Menge, so verfällt die Sicherheit vollständig.
…“
Verordnung Nr. 1047/2001
8 Art. 5 („Erteilung der Lizenzen“) der Verordnung Nr. 1047/2001 sieht in seinem Abs. 1 vor, dass „[a]bweichend von Artikel 9 der Verordnung … Nr. 1291/2000 … die Rechte aus [den A‑]Lizenzen nicht übertragbar [sind]“.
9 Die Verordnung Nr. 1047/2001 wurde mit Wirkung vom 1. Juni 2002 durch die Verordnung (EG) Nr. 565/2002 der Kommission vom 2. April 2002 zur Festlegung der Verwaltung der Zollkontingente und zur Einführung einer Ursprungsbescheinigungsregelung für aus Drittländern eingeführten Knoblauch (ABl. L 86, S. 11) aufgehoben.
Verordnung Nr. 565/2002
10 In den Erwägungsgründen 1, 3 und 5 bis 7 der Verordnung Nr. 565/2002 heißt es:
„(1)
… Seit 1. Juni 2001 setzt sich der normale Zollsatz für die Einfuhr von Knoblauch des KN-Codes 0703 20 00 aus einem Wertzoll von 9,6 % und einem spezifischen Betrag von 1200 [Euro]/t netto zusammen. Im Rahmen des mit dem Beschluss 2001/404/EG [des Rates vom 28. Mai 2001 über den Abschluss eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Argentinischen Republik im Rahmen des Artikels XXVIII des Allgemeinen Zoll und Handelsabkommens (GATT) 1994 zur Änderung der in der Liste CXL im Anhang zum GATT vorgesehenen Zugeständnisse hinsichtlich von Knoblauch (ABl. L 142, S. 7)] genehmigten Abkommens mit Argentinien ist jedoch ein vom spezifischen Zoll befreites Kontingent von 38370 Tonnen, nachstehend ‚GATT‑Kontingent‘ genannt, eröffnet worden. Gemäß dem Abkommen wird dieses Kontingent folgendermaßen aufgeteilt: 19147 Tonnen auf Einfuhren mit Ursprung in Argentinien (laufende Nummer 09.4104) …
…
(3) Die Modalitäten der Verwaltung des GATT‑Kontingents wurden mit der Verordnung … Nr. 1047/2001 … festgelegt. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen könnte diese Verwaltung jedoch verbessert und vereinfacht werden. So sollte insbesondere die Forderung nach einer Einfuhrlizenz für Einfuhren, die außerhalb des GATT‑Kontingents erfolgen, aufgehoben und die Bedingungen für den Zugang der Einführer zu diesem Kontingent angepasst werden, um den traditionellen Handelsströmen besser Rechnung zu tragen.
…
(5) Da für die nicht unter das GATT‑Kontingent fallenden nicht präferenziellen Einfuhren ein spezifischer Zoll gilt, erfordert die Verwaltung dieser Einfuhren die Einführung einer Einfuhrlizenzregelung. Die Durchführungsbestimmungen zu dieser Regelung müssen von den Bestimmungen der Verordnung … Nr. 1291/2000 … abweichen oder diese ergänzen.
(6) Es sind Maßnahmen erforderlich, um die spekulative Beantragung von Einfuhrlizenzen so weit wie möglich zu verhindern, die keiner tatsächlichen Handelstätigkeit auf dem Obst- und Gemüsemarkt entspricht. Zu diesem Zweck sind besondere Vorschriften für die Beantragung und Gültigkeit der Lizenzen vorzusehen.
(7) Da in dem Abkommen mit Argentinien vorgesehen ist, für die Verwaltung des GATT‑Kontingents die Regelung der traditionellen/neuen Einführer anzuwenden, ist es angebracht, den Begriff der traditionellen Einführer zu definieren und die zugeteilten Mengen zwischen diesen beiden Kategorien von Einführern aufzuteilen, wobei die optimale Ausschöpfung des Kontingents gewährleistet sein muss.“
11 Diese Verordnung enthält in ihrem Art. 2 Abs. 1 folgende Definitionen:
„Im Sinne dieser Verordnung sind:
a)
‚Einfuhrjahr‘: der Jahreszeitraum vom 1. Juni eines Jahres bis zum 31. Mai des folgenden Jahres;
…
c)
‚traditionelle Einführer‘: Einführer, die in zumindest zwei der drei vorhergehenden vollständigen Einfuhrjahre Knoblauch in die Gemeinschaft eingeführt haben, ungeachtet des Ursprungs und des Zeitpunktes dieser Einfuhren;
d)
‚Referenzmenge‘: die Höchstmenge der jährlichen Knoblaucheinfuhren eines traditionellen Einführers im Laufe eines der Kalenderjahre 1998, 1999 und 2000. Hat der betreffende Einführer in zumindest zwei dieser drei Jahre keinen Knoblauch eingeführt, so entspricht seine Referenzmenge der Höchstmenge seiner jährlichen Knoblaucheinfuhren im Laufe eines der drei letzten vollständigen Einfuhrjahre, die dem Jahr vorausgehen, für das er die Lizenz beantragt;
e)
‚neue Einführer‘: nichttraditionelle Einführer.
…“
12 Art. 3 („Einfuhrlizenzregelung“) der Verordnung Nr. 565/2002 bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Verordnung ist für sämtliche Einfuhren im Rahmen der [mit dem Beschluss 2001/404 eröffneten Zollkontingente für Knoblauch des KN-Codes 0703 20 00] die Vorlage einer gemäß der Verordnung … Nr. 1291/2000 erteilten Einfuhrlizenz, nachstehend ‚Lizenz‘ genannt, erforderlich.
…
(3) Abweichend von Artikel 9 der Verordnung … Nr. 1291/2000 sind die Rechte aus diesen Lizenzen nicht übertragbar.
(4) Die Sicherheit gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung … Nr. 1291/2000 beläuft sich auf 15 [Euro]/t Eigengewicht.“
13 Art. 5 („Lizenzanträge“) der Verordnung Nr. 565/2002 bestimmt:
„(1) Die Lizenzanträge können nur von Einführern gestellt werden.
…
Hat ein neuer Einführer bereits im vorangegangenen vollständigen Einfuhrjahr Lizenzen gemäß dieser Verordnung oder der Verordnung … Nr. 1047/2001 erhalten, so muss er den Nachweis erbringen, dass er mindestens 90 % der ihm zugeteilten Menge tatsächlich auf eigene Rechnung in den Verkehr gebracht hat.
…
(3) Die Lizenzanträge eines traditionellen Einführers dürfen in keinem Einfuhrjahr seine Referenzmenge überschreiten.
(4) Für jeden der drei Ursprünge und jedes Quartal gemäß Anhang I dürfen sich die Lizenzanträge eines neuen Einführers höchstens auf eine Menge beziehen, die 10 % der in Anhang I für den betreffenden Ursprung und das betreffende Quartal genannten Menge entspricht.
…“
14 In Art. 6 („Höchstmenge“) dieser Verordnung heißt es:
„(1) Für jeden der drei Ursprünge und jedes Quartal gemäß Anhang I werden Lizenzen nur für eine Höchstmenge erteilt, die gleich der Summe ist aus
a)
der in Anhang I für den betreffenden Ursprung und das betreffende Quartal genannten Menge;
b)
der im vorangegangenen Quartal für diesen Ursprung nicht beantragten Menge;
c)
der nicht ausgeschöpften Menge, die nach Kenntnis der Kommission auf früher für diesen Ursprung erteilte Lizenzen entfällt.
…
(2) Für jeden der drei Ursprünge und für jedes Quartal gemäß Anhang I wird die gemäß Absatz 1 berechnete Höchstmenge folgendermaßen aufgeteilt:
a)
70 % für die traditionellen Einführer,
b)
30 % für die neuen Einführer.
Ab dem ersten Montag des zweiten Monats jeden Quartals werden die verfügbaren Mengen jedoch unterschiedslos den beiden Kategorien von Einführern zugeteilt.“
15 Nach ihrem Art. 13 Abs. 2 gilt die Verordnung Nr. 565/2002 im Wesentlichen für die Lizenzen, die ab dem 8. April 2002 beantragt wurden, und für die Überführungen in den freien Verkehr, die ab dem 1. Juni 2002 erfolgen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
16 Malvi war eine im Bereich der Einfuhr und Ausfuhr von Obst und Gemüse tätige Gesellschaft, die die Eigenschaft eines traditionellen Einführers im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 565/2002 hatte. Über eine andere Gesellschaft, die wiederum auf andere Unternehmer zurückgriff, kaufte Malvi Knoblauch mit Ursprung in Argentinien, der im Februar und im März 2003 im Rahmen des in dieser Verordnung vorgesehenen Zollkontingents eingeführt wurde und auf den daher ein Präferenzzoll anwendbar war (im Folgenden: streitige Einfuhren), obwohl sie nicht über eine hierfür erforderliche Einfuhrlizenz verfügte, da ihre eigenen Lizenzen erschöpft waren.
17 Die Zollagentur – Zollamt Livorno ging davon aus, dass Malvi die Zoll- und Mehrwertsteuervorschriften widerrechtlich durch ein Betrugssystem umgangen habe, in dem L’Olivo Maria Imp. Exp. (im Folgenden: L’Olivo), die ein neuer Einführer im Sinne der Verordnung Nr. 565/2002 gewesen sei und die streitigen Einfuhren vorgenommen habe, als Briefkastengesellschaft gehandelt habe. Sie hielt Malvi als für mit L’Olivo gesamtschuldnerisch haftbar und erließ gegen sie einen geänderten Festsetzungsbescheid.
18 Das von der Zollagentur angesprochene und als betrügerisch erachtete System lässt sich wie folgt beschreiben. In einem ersten Schritt kaufte L’Olivo, die über die für die Anwendung des Präferenzzolls erforderlichen Einfuhrlizenzen verfügte, von der von Herrn R. Tonini geführten Bananaservice Srl (im Folgenden: Bananaservice), die über keine Einfuhrlizenzen verfügte, Partien Knoblauch mit Ursprung in Argentinien, die sich in Zolllagern im Transit befanden. In einem zweiten Schritt führte L’Olivo diese Partien Knoblauch unter Anwendung des Präferenzzolls in die Europäische Union ein und verkaufte sie nach der Überführung in den freien Verkehr weiter an die Tonini Roberto & C. Sas (im Folgenden: Tonini). In einem dritten Schritt verkaufte sie Tonini weiter an Malvi.
19 Die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) führt aus, dass zum einen nur L’Olivo über eigene Einfuhrlizenzen verfügt habe und zum anderen die Partien Knoblauch gegen ein angemessenes Entgelt, das jedoch geringer als der spezifische Zoll für Einfuhren außerhalb des GATT‑Kontingents gewesen sei, veräußert worden seien.
20 Malvi erhob gegen den geänderten Festsetzungsbescheid Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Livorno (Finanzgericht der Provinz Livorno), die dieser Klage mit Entscheidung vom 15. November 2006 stattgab.
21 Gegen diese Entscheidung legte die Zollagentur bei der Commissione tributaria regionale della Toscana (Finanzgericht der Region Toskana, Italien) Berufung ein, die die Entscheidung mit Urteil vom 7. September 2010 abänderte. Das Berufungsgericht war der Auffassung, dass ein traditioneller Einführer, der über keine eigene Einfuhrlizenz im Rahmen des GATT‑Kontingents verfüge, einen Zollbetrug begehe, wenn er – anstatt die Ware direkt vom Ausführer zu erwerben und sie außerhalb des Kontingents unter Zahlung des spezifischen Zolls einzuführen – die bereits von einem anderen Unternehmer verzollte Ware erwerbe, der sie in seinem Auftrag gekauft habe, um sie ihm über ein Unternehmen, das Lizenzen für die Einfuhr im Rahmen des Kontingents besitze, gegen ein angemessenes Entgelt für den erbrachten Dienst weiterzuverkaufen.
22 Gegen dieses Urteil legte Herr M. Cervati in seiner Eigenschaft als Komplementär von Malvi bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) Kassationsbeschwerde ein.
23 Er stützt sein Rechtsmittel u. a. auf einen Verstoß gegen die Verordnungen Nrn. 1047/2001 und 565/2002, wobei er geltend macht, dass es einem traditionellen Einführer, der über keine Lizenz für die Einfuhr im Rahmen des GATT‑Kontingents verfüge, nicht verboten sei, sich an einen anderen traditionellen Einführer aus der Union zu wenden, der, nachdem er die Ware von einem Lieferanten außerhalb der Union erworben habe, sie als ausländische Ware einem dritten Unternehmer verkaufe, der sie, ohne seine Lizenz zu übertragen, in die Union verbringe und sie dann an den zweiten traditionellen Einführer gegen die Zahlung eines angemessenen Entgelts für den erbrachten Dienst weiterverkaufe, der sie wiederum an den ersten weiterverkaufe. Außerdem sei es der Hauptzweck des GATT‑Kontingents, die Deckung des Versorgungsbedarfs des Unionsmarkts zu gewährleisten, indem sein Gleichgewicht erhalten bleibe. Daher führten der Wegfall einigen Einführern bereits zugeteilter Quoten und damit die fehlende Ausschöpfung des Kontingents zu spekulativen Preissteigerungen. Somit sei unter den Umständen des Ausgangsverfahrens keine Umgehung des Gesetzes ersichtlich.
24 Die Zollagentur hält dem entgegen, dass ein Teil des einem anderen Unternehmen zugewiesenen Kontingents genutzt worden sei und folglich ein Zollbetrug vorliege, der darauf ausgerichtet sei, den Mechanismus zum Schutz des Binnenmarkts zu umgehen. Der Betrug sei im vorliegenden Fall u. a. deshalb offenkundig, weil Malvi die Partien Knoblauch mit Ursprung in Argentinien im Voraus bestellt habe, die anschließend von L’Olivo eingeführt worden seien, Malvi Tonini, die denselben Geschäftsführer wie Bananaservice habe, im Voraus Geldbeträge ausgehändigt habe und L’Olivo einen Gewinn in Höhe von 0,25 Euro pro Kilo erzielt habe. Herr M. Cervati erkläre nicht, welchen Vorteil außer dem steuerlichen in Form des Präferenzzolls er aus einem solchen System ziehe.
25 Da der Rechtsstreit, den sie zu entscheiden hat, in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Lösung finde und die anwendbare unionsrechtliche Regelung in der nationalen Rechtsprechung unterschiedlich ausgelegt werde, hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Verordnungen Nrn. 1047/2001 und 2988/95 dahin auszulegen, dass es verboten ist und einen Rechtsmissbrauch sowie eine Umgehungshandlung darstellt, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer in der Gemeinschaft, A (Malvi), bestimmte Warenpartien, da er nicht über eine Einfuhrlizenz verfügt oder seinen Kontingentanteil ausgeschöpft hat, von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer in der Gemeinschaft, B (Tonini), erwirbt, der die Waren seinerseits von einem außergemeinschaftlichen Lieferanten (Bananaservice) erworben und als Auslandsware an einen anderen Wirtschaftsteilnehmer in der Gemeinschaft, C (L’Olivo), veräußert hat, der wiederum – da er die Voraussetzungen hierfür erfüllt – eine Lizenz im Rahmen des Kontingents erhalten hat und – ohne seine Lizenz zu übertragen – die Partien in der Europäischen Gemeinschaft in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt hat, um sie nach der Verzollung gegen ein angemessenes Entgelt, das geringer als der spezifische Zoll für Einfuhren außerhalb des Kontingents ist, dem Wirtschaftsteilnehmer B (Tonini) zu veräußern, der sie letztlich dem Wirtschaftsteilnehmer A (Malvi) verkauft?
Zur Vorlagefrage
26 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Dementsprechend hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Dabei kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herausarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteile Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 39 und 40, und Cimmino u. a., C‑607/13, EU:C:2015:448, Rn. 37 und 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung zunächst hervor, dass die streitigen Einfuhren in den Monaten Februar und März 2003 vorgenommen wurden. Die Verordnung Nr. 1047/2001, die das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage anführt, wurde aber durch die Verordnung Nr. 565/2002 mit Wirkung vom 1. Juni 2002 aufgehoben. Zudem gilt die Verordnung Nr. 565/2002 nach ihrem Art. 13 Abs. 2 für die Lizenzen, die ab dem 8. April 2002 beantragt wurden, und für die Überführungen in den freien Verkehr, die ab dem 1. Juni 2002 erfolgen. Auf den Ausgangsrechtsstreit ist daher in zeitlicher Hinsicht die Verordnung Nr. 565/2002 anwendbar, und nicht die Verordnung Nr. 1047/2001.
28 Des Weiteren geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Gesellschaft vorgeworfen wird, sich mit im Rahmen des GATT‑Kontingents eingeführtem Knoblauch versorgt zu haben, obwohl sie ihre eigenen zur Einfuhr im Rahmen dieses Kontingents berechtigenden Lizenzen bereits ausgeschöpft hatte. Die Zollbehörden beanstanden daher, dass diese Gesellschaft insofern missbräuchlich einen Teil des einem anderen Unternehmer vorbehaltenen Kontingents genutzt habe – um die zum Präferenzzoll eingeführte Ware zu erhalten –, als sie zur Umgehung des in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 565/2002 normierten Verbots, Rechte aus diesen Lizenzen zu übertragen, beigetragen habe.
29 Schließlich betrifft die Verordnung Nr. 2988/95, die das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage ebenfalls anführt, wie in ihrem Titel angegeben zwar allgemein den Schutz der finanziellen Interessen der Union, in Art. 4 Abs. 3 wird aber speziell die Frage des Rechtsmissbrauchs behandelt.
30 Unter diesen Voraussetzungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 565/2002 und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen sind, dass sie einem System wie dem des Ausgangsverfahrens, durch das aufgrund der Bestellung durch einen Unternehmer, der ein traditioneller Einführer im Sinne der erstgenannten Verordnung ist und seine Lizenzen für die Einfuhr zum Präferenzzoll ausgeschöpft hat, bei einem zweiten Unternehmer, bei dem es sich ebenfalls um einen traditionellen Einführer handelt, der über keine Einfuhrlizenzen verfügt,
—
die Ware zunächst außerhalb der Union von einer mit dem zweiten Unternehmer verbundenen Gesellschaft an einen dritten Unternehmer, der ein neuer Einführer im Sinne der Verordnung Nr. 565/2002 ist und über Einfuhrlizenzen verfügt, verkauft wird,
—
diese Ware sodann vom dritten Unternehmer unter Anwendung des Präferenzzolls in der Union in den freien Verkehr übergeführt und anschließend von ihm an den zweiten Unternehmer weiterverkauft wird und
—
diese Ware schließlich vom zweiten Unternehmer an den ersten veräußert wird,
entgegenstehen, weil ein solches System insofern einen Rechtsmissbrauch des ersten Unternehmers begründet, als es diesem ermöglicht, die im Rahmen des von der Verordnung Nr. 565/2002 vorgesehenen Zollkontingents eingeführte Ware zu erwerben, obwohl er über keine hierfür erforderliche Lizenz verfügt.
31 Hierzu ist festzustellen, dass im Ausgangsverfahren nur die Ware veräußert wurde und diese zudem aufgrund von Lizenzen, deren Rechtmäßigkeit nicht bestritten wird, in die Union eingeführt wurde. Formal betrachtet gab es daher keinen Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 565/2002 normierte Verbot der Übertragung der Rechte aus den Lizenzen. Außerdem steht fest, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Erwerbs‑, Einfuhr‑ und Weiterveräußerungsvorgänge für sich genommen die Formvoraussetzungen für die Gewährung des Präferenzzolls erfüllten.
32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht jedoch nicht erlaubt. Die Anwendung des Unionsrechts kann nämlich nicht so weit gehen, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich aus dem Unionsrecht Vorteile zu ziehen (vgl. insbesondere Urteile Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 68 und 69 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 29 und 30).
33 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis zum einen insofern ein objektives Element voraus, als sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben muss, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 52, und SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 32).
34 Zum anderen setzt eine solche Feststellung ein subjektives Element in dem Sinne voraus, dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein muss, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen bezweckt wird, einen ungerechtfertigten Vorteil dadurch zu erlangen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden. Denn das Missbrauchsverbot ist nicht relevant, wenn die fraglichen Umsätze eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung eines Vorteils (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 53, und SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 33). Dieses subjektive Element muss zudem in Bezug auf die betreffende Einrichtung vorliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 55).
35 Obschon der Gerichtshof, wenn er auf Vorlage entscheidet, gegebenenfalls Klarstellungen vornehmen kann, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben, obliegt es diesem Gericht, festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im bei ihm anhängigen Rechtsstreit erfüllt sind. In diesem Zusammenhang verlangt die Prüfung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis, dass das vorlegende Gericht alle relevanten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls berücksichtigt, und zwar einschließlich der der betreffenden Einfuhr vorangehenden und nachfolgenden Handelstätigkeiten (Urteile SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Cimmino u. a., C‑607/13, EU:C:2015:448, Rn. 60).
36 Hierzu geht, was als Erstes die Ziele der Verordnung Nr. 565/2002 anbelangt, aus deren Erwägungsgründen 6 und 7 hervor, dass sie darauf gerichtet ist, das vorgesehene Zollkontingent zu verwalten, indem die zugeteilten Mengen zwischen den traditionellen Einführern und den neuen Einführern aufgeteilt werden, wobei die optimale Ausschöpfung dieses Kontingents gewährleistet sein muss und die spekulative Beantragung von Einfuhrlizenzen, die keiner tatsächlichen Handelstätigkeit auf dem Obst- und Gemüsemarkt entspricht, verhindert wird.
37 Im Unterschied zu den Verordnungen, um die es in den den Urteilen SICES u. a. (C‑155/13, EU:C:2014:145) und Cimmino u. a. (C‑607/13, EU:C:2015:448) zugrunde liegenden Rechtssachen ging und nach denen im Wesentlichen eine bestimmte Menge der auf deren Grundlage verwalteten Kontingente den neuen Unternehmern vorbehalten war, wird den neuen Einführern durch die Verordnung Nr. 565/2002 jedoch keine absolute Menge des GATT‑Kontingents vorbehalten.
38 Zwar sieht Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 565/2002 vor, dass die Lizenzanträge eines traditionellen Einführers in keinem Einfuhrjahr seine Referenzmenge überschreiten dürfen, was dazu beiträgt, die Ausweitung der Einfuhrtätigkeit der traditionellen Einführer zu begrenzen. Im Einklang mit dem im sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 565/2002 genannten Ziel, die spekulative Beantragung von Lizenzen zu verhindern, die keiner tatsächlichen Handelstätigkeit auf dem Obst- und Gemüsemarkt entspricht, muss zudem nach Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Verordnung ein neuer Einführer, der Lizenzen gemäß dieser Verordnung erhalten hat und einen neuen Antrag auf Erteilung von Lizenzen einreichen möchte, den Nachweis erbringen, dass er mindestens 90 % der ihm zugeteilten Menge tatsächlich auf eigene Rechnung in den Verkehr gebracht hat.
39 Allerdings bestimmt, auch wenn nach Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 565/2002 für jeden Ursprung und für jedes Quartal die Warenhöchstmenge, für die die Lizenzen erteilt werden, 70 % für die traditionellen Einführer und 30 % für die neuen Einführer beträgt, Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Verordnung ausdrücklich, dass „[a]b dem ersten Montag des zweiten Monats jeden Quartals … die verfügbaren Mengen … unterschiedslos den beiden Kategorien von Einführern zugeteilt [werden]“.
40 Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, dass ein System wie das des Ausgangsverfahrens die mit der Verordnung Nr. 565/2002 verfolgten Ziele vereitelt.
41 Erstens erwirbt der erste Käufer der Ware in der Union, der auch ein traditioneller Einführer ist, durch den Kauf dieser Ware bei einem neuen Einführer, der über Lizenzen verfügt, ebenso wenig das Recht, dass seine in Art. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 565/2002 definierte Referenzmenge auf einer Grundlage berechnet wird, die die Warenmengen umfasst, die er beim neuen Einführer gekauft hat, wie der zweite Käufer in der Union, ebenfalls ein traditioneller Einführer, nicht das Recht erwirbt, dass seine Referenzmenge auf einer Grundlage berechnet wird, die die Warenmengen umfasst, die er beim ersten Käufer in der Union gekauft hat.
42 Zweitens ermöglicht es ein solches System dem ersten und dem zweiten Käufer in der Union, die auch traditionelle Einführer sind, zwar, sich zum Präferenzzoll eingeführten Knoblauch zu beschaffen, obwohl sie nicht mehr über die hierfür erforderlichen Lizenzen verfügen, und so ihre Position auf dem Markt des Vertriebs von Knoblauch über den ihnen zugeteilten Kontingentanteil hinaus zu stärken. Wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils festgestellt, wird den neuen Einführern durch die Verordnung Nr. 565/2002 allerdings kein absoluter Teil des Kontingents vorbehalten. Auch sollen durch das in dieser Verordnung normierte Verbot, sich diese Ware bei einem anderen Unternehmer nur deswegen zu beschaffen, weil sie zuvor zum Präferenzzoll eingeführt worden ist, weder der Markt des Knoblauchvertriebs innerhalb der Union reglementiert werden noch die Positionen der verschiedenen Teilnehmer auf diesem Markt festgelegt werden, selbst wenn sie im Übrigen die Eigenschaft eines traditionellen Einführers im Sinne dieser Verordnung haben.
43 Damit ein solches System des Verkaufs und Wiederverkaufs der Ware zwischen Unternehmern weder einen ungehörigen Einfluss eines Unternehmers auf den Markt, insbesondere eine Umgehung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 565/2002 durch die traditionellen Einführer, noch einen Verstoß gegen das Ziel, wonach die Beantragung von Lizenzen einer tatsächlichen Handelstätigkeit entsprechen muss, nach sich zieht, ist es jedoch erforderlich, dass jede Transaktion innerhalb dieses Systems zu einem Preis erfolgt, der dem Marktpreis entspricht, und die Einfuhr zum Präferenzzoll aufgrund von rechtmäßig erlangten Lizenzen und durch den Inhaber dieser Lizenzen erfolgt. Im Einzelnen hat das vorlegende Gericht zu überprüfen, ob jeder beteiligte Unternehmer für die Einfuhr, den Verkauf oder den Wiederverkauf der fraglichen Ware eine angemessene Gegenleistung erhält, die es ihm ermöglicht, die ihm im Rahmen der Verwaltung des Kontingents zugeteilte Position beizubehalten.
44 Da das vorlegende Gericht angibt, dass die fragliche Ware „gegen ein angemessenes Entgelt“ veräußert worden sei, und nicht bestritten wird, dass die streitigen Einfuhren durch L’Olivo und aufgrund von rechtmäßig erlangten Lizenzen erfolgten, ist diese Voraussetzung im vorliegenden Fall offenbar erfüllt, was das vorlegende Gericht jedoch zu überprüfen hat.
45 Da feststeht, dass der im Ausgangsverfahren fragliche neue Einführer die betreffende Ware auf eigene Rechnung in den freien Verkehr übergeführt hat, beeinträchtigt drittens ein System wie jenes des Ausgangsverfahrens auch nicht das Ziel, die spekulative Beantragung von Lizenzen zu verhindern, und auch nicht jenes des tatsächlichen Eintretens neuer Unternehmer in den Markt der Knoblaucheinfuhr.
46 Was als Zweites das in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannte subjektive Element anbelangt, ist zunächst anzumerken, dass dessen Erforschung im Ausgangsverfahren nur relevant ist, wenn das vorlegende Gericht feststellen sollte, dass das im Ausgangsverfahren fragliche System die mit der Verordnung Nr. 565/2002 verfolgten Ziele beeinträchtigt, da die Feststellung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis voraussetzt, dass ein objektives und ein subjektives Element kumulativ erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 31 bis 33).
47 Hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Vorliegens eines solchen subjektiven Elements ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass nur dann angenommen werden kann, dass mit einem System wie jenem des Ausgangsverfahrens im Wesentlichen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils für den zweiten Käufer in der Union bezweckt war, wenn die Einfuhr darauf gerichtet war, dem Käufer einen solchen Vorteil zu verschaffen, und wenn die Transaktionen jeder wirtschaftlichen und geschäftlichen Rechtfertigung für den Einführer und die anderen in diesem System mitwirkenden Unternehmer entbehrten, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat (vgl. entsprechend Urteile SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 37, und Cimmino u. a., C‑607/13, EU:C:2015:448, Rn. 65).
48 Die Feststellung des vorlegenden Gerichts, dass dieses System nicht der wirtschaftlichen oder kommerziellen Rechtfertigung entbehrte, könnte sich z. B. auf den Umstand stützen, dass der Verkaufspreis der Ware auf einem Niveau festgelegt wurde, das es dem Einführer und den anderen in diesem System mitwirkenden Unternehmern erlaubte, einen in dem betreffenden Sektor für die jeweilige Art von Ware und Transaktion als normal oder üblich angesehenen Gewinn zu erzielen (vgl. in diesem Sinne Urteil SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 37). Hierzu gibt das vorlegende Gericht an, dass die fragliche Ware „gegen ein angemessenes Entgelt“ veräußert worden sei. In diesem Zusammenhang hat die bloße Tatsache, dass dieses Entgelt geringer als der spezifische Zoll für Einfuhren außerhalb des Kontingents ist, dann keine Auswirkung, wenn dieses Entgelt im betreffenden Sektor für die in Rede stehende Art von Ware und Transaktion als ein normales oder übliches Entgelt angesehen werden kann, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
49 Für eine solche Feststellung könnte das vorlegende Gericht auch die Tatsache berücksichtigen, dass nach dem fünften Erwägungsgrund und Art. 3 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 565/2002 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1291/2000 die Einführer unter Androhung von Sanktionen verpflichtet sind, die ihnen erteilten Lizenzen zu verwenden, und die Einführer, einschließlich eines neuen Einführers im Rahmen einer Transaktion wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, daher ein tatsächliches Interesse an der Durchführung von Einfuhren haben (vgl. entsprechend Urteil SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 37).
50 In diesem Kontext können derartige Transaktionen, auch wenn ein System wie jenes des Ausgangsverfahrens durch den Willen des ersten oder des zweiten Käufers in der Union motiviert sind, in den Genuss des Präferenzzolls zu kommen und sich somit Waren günstiger zu beschaffen, als dies bei Einfuhr außerhalb des Kontingents möglich wäre, und der Einführer und die anderen betroffenen Unternehmer sich dessen bewusst sind, nicht von vornherein dahin bewertet werden, dass sie jeder wirtschaftlichen oder kommerziellen Rechtfertigung für diese Einführer entbehren (vgl. in diesem Sinne Urteile SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 38, und Cimmino u. a., C‑607/13, EU:C:2015:448, Rn. 65).
51 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass unter gewissen Umständen ein System wie jenes des Ausgangsverfahrens mit dem wesentlichen Ziel eingerichtet wurde, künstlich die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, um vom Präferenzzoll zu profitieren. Unter die Gesichtspunkte, durch die der künstliche Charakter eines solchen Systems festgestellt werden könnte, fällt u. a. der Umstand, dass der Einführer, der Inhaber von Lizenzen ist, kein Geschäftsrisiko trägt, oder auch der Umstand, dass die Gewinnspanne des Einführers geringfügig ist oder der Preis des Verkaufs des Knoblauchs durch den Einführer an den ersten Käufer in der Union, dann durch diesen an den zweiten Käufer in der Union, unter dem Marktpreis liegt (vgl. in diesem Sinne Urteile SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 39, und Cimmino u. a., C‑607/13, EU:C:2015:448, Rn. 67).
52 Soweit die Vorlagefrage Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 betrifft, genügt im Übrigen der Hinweis, dass diese Bestimmung im Wesentlichen die gleichen aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgehenden Kriterien wie die in den Rn. 32 bis 34 des vorliegenden Urteils genannten vorsieht, indem sie ausführt, dass die Handlungen, die diese Kriterien erfüllen – nämlich Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden –, zur Folge haben, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.
53 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 565/2002 und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen sind, dass sie einem System wie dem des Ausgangsverfahrens grundsätzlich nicht entgegenstehen, durch das aufgrund der Bestellung durch einen Unternehmer, der ein traditioneller Einführer im Sinne der erstgenannten Verordnung ist und seine Lizenzen für die Einfuhr zum Präferenzzoll ausgeschöpft hat, bei einem zweiten Unternehmer, bei dem es sich ebenfalls um einen traditionellen Einführer handelt, der über keine Einfuhrlizenzen verfügt,
—
die Ware zunächst außerhalb der Union von einer mit dem zweiten Unternehmer verbundenen Gesellschaft an einen dritten Unternehmer, der ein neuer Einführer im Sinne der Verordnung Nr. 565/2002 ist und über Einfuhrlizenzen verfügt, verkauft wird,
—
diese Ware sodann vom dritten Unternehmer unter Anwendung des Präferenzzolls in der Union in den freien Verkehr übergeführt und anschließend von ihm an den zweiten Unternehmer weiterverkauft wird und
—
diese Ware schließlich vom zweiten Unternehmer an den ersten veräußert wird, der auf diese Weise die im Rahmen des von der Verordnung Nr. 565/2002 vorgesehenen Zollkontingents eingeführte Ware erwirbt, obwohl er über keine hierfür erforderliche Lizenz verfügt.
Kosten
54 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 565/2002 der Kommission vom 2. April 2002 zur Festlegung der Verwaltung der Zollkontingente und zur Einführung einer Ursprungsbescheinigungsregelung für aus Drittländern eingeführten Knoblauch und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sind dahin auszulegen, dass sie einem System wie dem des Ausgangsverfahrens grundsätzlich nicht entgegenstehen, durch das aufgrund der Bestellung durch einen Unternehmer, der ein traditioneller Einführer im Sinne der erstgenannten Verordnung ist und seine Lizenzen für die Einfuhr zum Präferenzzoll ausgeschöpft hat, bei einem zweiten Unternehmer, bei dem es sich ebenfalls um einen traditionellen Einführer handelt, der über keine Einfuhrlizenzen verfügt,
—
die Ware zunächst außerhalb der Union von einer mit dem zweiten Unternehmer verbundenen Gesellschaft an einen dritten Unternehmer, der ein neuer Einführer im Sinne der Verordnung Nr. 565/2002 ist und über Einfuhrlizenzen verfügt, verkauft wird,
—
diese Ware sodann vom dritten Unternehmer unter Anwendung des Präferenzzolls in der Europäischen Union in den freien Verkehr übergeführt und anschließend von ihm an den zweiten Unternehmer weiterverkauft wird und
—
diese Ware schließlich vom zweiten Unternehmer an den ersten veräußert wird, der auf diese Weise die im Rahmen des von der Verordnung Nr. 565/2002 vorgesehenen Zollkontingents eingeführte Ware erwirbt, obwohl er über keine hierfür erforderliche Lizenz verfügt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 7. April 2016.#Antonio Tita u. a. gegen Ministero della Giustizia u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale regionale di giustizia amministrativa di Trento.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Richtlinie 89/665/EWG – Öffentliche Aufträge – Nationale Rechtsvorschriften – Gebühren für den Zugang zu den Verwaltungsgerichten auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Gebühren mit abschreckender Wirkung – Gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten – Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz.#Rechtssache C-495/14.
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62014CO0495
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ECLI:EU:C:2016:230
| 2016-04-07T00:00:00 |
Gerichtshof, Bobek
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 3. März 2016.#Europäische Kommission gegen Republik Malta.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 46b – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 54 – Altersversorgung – Doppelleistungsbestimmungen – Personen, die eine Altersrente nach der nationalen Regelung und eine Beamtenpension nach der Regelung eines anderen Mitgliedstaats erhalten – Kürzung des Betrags der Altersrente.#Rechtssache C-12/14.
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62014CJ0012
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ECLI:EU:C:2016:135
| 2016-03-03T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0012
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
3. März 2016 (*1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Soziale Sicherheit — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 46b — Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Art. 54 — Altersversorgung — Doppelleistungsbestimmungen — Personen, die eine Altersrente nach der nationalen Regelung und eine Beamtenpension nach der Regelung eines anderen Mitgliedstaats erhalten — Kürzung des Betrags der Altersrente“
In der Rechtssache C‑12/14
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 10. Januar 2014,
Europäische Kommission, vertreten durch K. Mifsud-Bonnici und D. Martin als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Republik Malta, vertreten durch A. Buhagiar und P. Grech als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Republik Österreich, vertreten durch C. Pesendorfer und G. Hesse als Bevollmächtigte,
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch J. Beeko, S. Behzadi-Spencer und V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von T. de la Mare, QC,
Streithelfer,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und K. Jürimäe,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juli 2015,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. November 2015
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Malta dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 46b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie gegen Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, und – Berichtigung – ABl. L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) verstoßen hat, dass sie maltesische Altersrenten um den Betrag von Beamtenpensionen anderer Mitgliedstaaten kürzt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1408/71
2 Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) Buchst. j der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:
„Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:
…
j)
‚Rechtsvorschriften‘: in jedem Mitgliedstaat die bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 4 [Absatz 1] genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit …
…“
3 Art. 4 („Sachlicher Geltungsbereich“) Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:
…
c)
Leistungen bei Alter,
…“
4 Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Abgabe von Erklärungen zum Geltungsbereich dieser Verordnung vor. Dort heißt es:
„Die Mitgliedstaaten geben in Erklärungen, die gemäß Artikel 97 notifiziert und veröffentlicht werden, die Rechtsvorschriften und Systeme, die unter Artikel 4 [Absatz 1] fallen, … an.“
5 In Art. 46b („Besondere Vorschriften für das Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art, die nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschuldet werden“) der Verordnung Nr. 1408/71 heißt es:
„(1) Die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen gelten nicht für eine nach Artikel 46 Absatz 2 berechnete Leistung.
(2) Die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats über die Kürzung, das Ruhen oder die Entziehung einer Leistung dürfen auf eine nach Artikel 46 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer i) berechnete Leistung nur dann angewandt werden, wenn es sich:
a)
um eine Leistung handelt, deren Höhe von der Dauer der zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten unabhängig ist und die in Anhang IV Teil D aufgeführt ist, oder
b)
um eine Leistung handelt, deren Höhe aufgrund einer fiktiven Zeit bestimmt wird, die als zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und einem späteren Zeitpunkt zurückgelegt betrachtet wird. In diesem letzteren Fall finden die genannten Vorschriften Anwendung bei Zusammentreffen einer solchen Leistung
i)
mit einer Leistung gleichen Typs, außer wenn ein Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten zur Vermeidung einer zwei- oder mehrfachen Berücksichtigung der gleichen fiktiven Zeit geschlossen wurde, oder
ii)
mit einer Leistung der in Buchstabe a) genannten Art.
Die unter den Buchstaben a) und b) genannten Leistungen und die Abkommen sind in Anhang IV Teil D aufgeführt.“
6 Art. 97 („Notifizierungen in Bezug auf bestimmte Vorschriften“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
„(1) Die Notifizierungen gemäß … Artikel 5 … sind an den Präsidenten des Rates [der Europäischen Union] zu richten. Dabei ist der Zeitpunkt des Inkrafttretens der in Betracht kommenden Rechtsvorschriften und Systeme … anzugeben …
(2) Notifizierungen nach Absatz 1 werden im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht.“
Verordnung Nr. 883/2004
7 Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzt, die gemäß ihren Art. 91 und 97 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. L 284, S. 1) am 1. Mai 2010 ‐ dem Zeitpunkt, zu dem die Verordnung Nr. 1408/71 aufgehoben wurde – anwendbar wurde.
8 Art. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 definiert den Begriff „Rechtsvorschriften“ folgendermaßen:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…
l)
‚Rechtsvorschriften‘ für jeden Mitgliedstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit.
…“
9 Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
…
d)
Leistungen bei Alter;
…“
10 In Art. 9 („Erklärungen der Mitgliedstaaten zum Geltungsbereich dieser Verordnung“) der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten notifizieren der … Kommission schriftlich … die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen im Sinne des Artikels 3 … In diesen Notifizierungen ist das Datum anzugeben, ab dem diese Verordnung auf die von den Mitgliedstaaten darin genannten Regelungen Anwendung findet.
(2) Diese Notifizierungen werden der … Kommission jährlich übermittelt und im erforderlichen Umfang bekannt gemacht.“
11 Nach Art. 54 („Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art“) der Verordnung Nr. 883/2004 gilt:
„(1) Treffen Leistungen gleicher Art, die nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschuldet werden, zusammen, so gelten die in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgesehenen Doppelleistungsbestimmungen nicht für eine anteilige Leistung.
(2) Doppelleistungsbestimmungen gelten nur dann für eine autonome Leistung, wenn es sich:
a)
um eine Leistung handelt, deren Höhe von der Dauer der zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten unabhängig ist,
oder
b)
um eine Leistung handelt, deren Höhe unter Berücksichtigung einer fiktiven Zeit bestimmt wird, die als zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und einem späteren Zeitpunkt zurückgelegt angesehen wird, und die zusammentrifft:
i)
mit einer Leistung gleicher Art, außer wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten ein Abkommen zur Vermeidung einer mehrfachen Berücksichtigung der gleichen fiktiven Zeit geschlossen haben,
oder
ii)
mit einer Leistung nach Buchstabe a).
Die unter den Buchstaben a) und b) genannten Leistungen und Abkommen sind in Anhang IX aufgeführt.“
Richtlinie 98/49/EG
12 In Art. 1 der Richtlinie 98/49/EG des Rates vom 29. Juni 1998 zur Wahrung ergänzender Rentenansprüche von Arbeitnehmern und Selbständigen, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 209, S. 46) heißt es:
„Ziel dieser Richtlinie ist es, Ansprüche von Anspruchsberechtigten ergänzender Rentensysteme, die sich von einem Mitgliedstaat in einen anderen begeben, zu schützen und dadurch dazu beizutragen, dass Hindernisse für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Selbständigen innerhalb der Gemeinschaft beseitigt werden. Dieser Schutz betrifft Rentenansprüche aus freiwilligen wie auch aus vorgeschriebenen ergänzenden Rentensystemen mit Ausnahme der von der Verordnung … Nr. 1408/71 erfassten Systeme.“
Nationales Recht
Maltesisches Recht
13 Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit (Maltese Social Security Act) sieht vor:
„Wenn eine Person einen Anspruch auf eine andere Pension als eine Pension hat, die zu einem beliebigen Zeitpunkt vollständig als Einmalzahlung geleistet wurde, wird der Betrag dieser Pension von jeder nach den Art. 53 bis 55 des vorliegenden Teils erhaltenen Rente abgezogen.“
Recht des Vereinigten Königreichs
14 Die drei im Vereinigten Königreich geltenden und in der vorliegenden Rechtssache anwendbaren Pensionsregelungen sind die Pensionsregelung des nationalen Gesundheitsdiensts (National Health Service Pension Scheme), die Hauptpensionsregelung des öffentlichen Dienstes (Principal Civil Service Pension Scheme) und die Pensionsregelung der Streitkräfte von 1975 (Armed Forces Pension Scheme 1975), soweit sie das Personal der königlichen Luftwaffe (Royal Air Force) betrifft, das vor dem 6. April 2005 den Dienst aufgenommen hat (im Folgenden zusammen: in Rede stehende Pensionsregelungen). Die Hauptpensionsregelung des öffentlichen Dienstes und die Pensionsregelung des nationalen Gesundheitsdiensts wurden auf der Grundlage des Altersversorgungsgesetzes von 1972 (Superannuation Act 1972) erlassen. Die in der Pensionsregelung der Streitkräfte von 1975 enthaltenen Bestimmungen über die Pensionsregelung für das Personal der königlichen Luftwaffe wurden auf der Grundlage der mit dem Gesetz von 1917 über die Errichtung der Luftwaffe (Air Force [Constitution] Act 1917) verliehenen Befugnisse erlassen.
Vorverfahren
15 Im Anschluss an drei Petitionen an das Europäische Parlament, die von maltesischen Bürgern eingereicht wurden, die rügten, dass der Betrag der Pension, die sie nach den in Rede stehenden Pensionsregelungen erhielten, nach Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit von ihrer gesetzlichen maltesischen Altersrente abgezogen worden sei, richtete die Kommission am25. November 2010 ein Mahnschreiben an die Republik Malta, in dem sie diesen Mitgliedstaat auf die mögliche Unvereinbarkeit dieser nationalen Bestimmung mit Art. 46b der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 54 der Verordnung Nr. 883/2004 aufmerksam machte.
16 Die Republik Malta antwortete auf dieses Mahnschreiben mit Schreiben vom 27. Januar und vom 28. Dezember 2011.
17 Mit Schreiben vom 28. Februar 2012 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Malta, in der sie ihren Standpunkt bekräftigte und diesen Mitgliedstaat aufforderte, der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab ihrer Zustellung nachzukommen. Die Republik Malta erhielt ihren Standpunkt in einem Schreiben vom 25. Juli 2012 aufrecht.
18 Da die Antwort der Republik Malta sie nicht zufriedenstellte, beschloss die Kommission, die vorliegende Klage zu erheben.
19 Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. August 2014 wurden die Republik Österreich und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Malta zugelassen.
Zur Klage
Zur Zulässigkeit
Vorbringen der Parteien
20 Die Republik Malta stellt die Zulässigkeit der vorliegenden Klage mit der Begründung in Abrede, dass die Kommission die Klage nicht gegen sie, sondern gegen das Vereinigte Königreich hätte richten müssen.
21 Die Republik Malta macht geltend, die in Rede stehenden Pensionsregelungen seien deshalb nicht in den Erklärungen des Vereinigten Königreichs nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 genannt worden, weil das Vereinigte Königreich davon ausgehe, dass die betreffenden Pensionen nicht in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fielen. Wenn sich die Kommission gegen eine Erklärung wende, die ein Mitgliedstaat in Bezug auf die Leistungen abgegeben habe, die in den Geltungsbereich einer Verordnung über die soziale Sicherheit fielen, dann habe sie, so die Republik Malta, die Prüfung dieser Angelegenheit unmittelbar mit dem betroffenen Mitgliedstaat fortzusetzen. Im vorliegenden Fall sei der einzige Mitgliedstaat, der in der Lage sei, Argumente und Beweise beizubringen, das Vereinigte Königreich. Somit stelle eine Klage gegen die Republik Malta eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren dar.
22 Das Vereinigte Königreich, das die Republik Malta in ihrem Vorbringen unterstützt, macht geltend, dass die Kommission ihr Ermessen missbrauche, indem sie von dem in Art. 258 AEUV vorgesehenen Verfahren Gebrauch mache, um die Maßnahmen eines anderen Mitgliedstaats in Frage zu stellen. Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs wird dem Mitgliedstaat, dessen Maßnahmen in Frage gestellt würden, der mit dem Vertragsverletzungsverfahren verliehene Schutz vorenthalten, und auch dann, wenn er als Streithelfer zugelassen werde, verfüge er in diesem Zusammenhang nur über begrenztere Verfahrensrechte.
23 Die Kommission beantragt die Zurückweisung der von der Republik Malta und dem Vereinigten Königreich erhobenen Unzulässigkeitseinrede.
Würdigung durch den Gerichtshof
24 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache der Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, die Zweckmäßigkeit eines Einschreitens gegen diesen Mitgliedstaat zu beurteilen, die von ihm verletzten Bestimmungen zu benennen und den Zeitpunkt für die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens zu wählen, wobei die Erwägungen, die für diese Wahl bestimmend sind, die Zulässigkeit ihrer Klage nicht beeinflussen (Urteil Kommission/Polen, C‑311/09, EU:C:2010:257, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 In Anbetracht dieses Beurteilungsspielraums ist es für die Zulässigkeit der gegen einen Mitgliedstaat erhobenen Vertragsverletzungsklage ohne Bedeutung, dass gegen einen anderen Mitgliedstaat keine derartige Klage erhoben wurde. Gegen die Zulässigkeit der vorliegenden Klage lässt sich daher nicht der Umstand einwenden, dass die Kommission keine Vertragsverletzungsklage gegen das Vereinigte Königreich erhoben hat.
26 Zu der Rüge eines Ermessensmissbrauchs genügt der Hinweis, dass die Kommission nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kein Klageinteresse nachzuweisen braucht und auch nicht die Gründe darlegen muss, die sie zur Erhebung einer Vertragsverletzungsklage veranlasst haben. Da der Gegenstand der Klage im vorliegenden Fall dem Streitgegenstand entspricht, wie er in dem Mahnschreiben und der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgelegt wurde, kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Kommission ermessensmissbräuchlich gehandelt habe (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Spanien, C‑562/07, EU:C:2009:614, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann die Zulässigkeit einer Vertragsverletzungsklage gegen einen Mitgliedstaat auch nicht durch den Umstand in Frage gestellt werden, dass der Gerichtshof im Rahmen dieser Klage dazu angehalten wäre, zu klären, wie die Regelung eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf das Unionsrecht einzustufen ist. Durch eine solche Klärung werden auch die Verfahrensrechte dieses zuletzt genannten Mitgliedstaats, der Streithelfer in dem Verfahren ist, nicht verletzt.
28 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die vorliegende Klage zulässig ist.
Zur Begründetheit
Vorbringen der Parteien
29 In ihrer Klageschrift macht die Kommission erstens geltend, dass die in Rede stehenden Pensionsregelungen in den Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 fielen.
30 Nach Auffassung dieses Organs sehen die Pensionsregelungen des öffentlichen Dienstes des Vereinigten Königreichs zum einen Leistungen bei Alter im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 und von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 883/2004 vor und beruhen zum anderen auf „Rechtsvorschriften“ im Sinne von Art. 1 Buchst. j Abs. 1 bzw. Art. 1 Buchst. l Abs. 1 dieser Verordnungen.
31 Die Kommission trägt zweitens vor, dass Art. 46b der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 54 der Verordnung Nr. 883/2004 einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit entgegenstünden, soweit diese die Kürzung der nach den maltesischen Gesetzen gezahlten Altersrente bis zur Höhe der Pension des öffentlichen Dienstes des Vereinigten Königreichs vorsehe.
32 In ihrer Klagebeantwortung macht die Republik Malta, insoweit unterstützt von der Republik Österreich und dem Vereinigten Königreich, insbesondere geltend, sie sei durch den Umstand gebunden, dass die britischen Regelungen nie in den vom Vereinigten Königreich nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 abgegebenen Erklärungen genannt worden seien. Die Mitgliedstaaten könnten nicht verpflichtet sein, die Rechtsnatur der von anderen Mitgliedstaaten gewährten Leistungen unabhängig zu bewerten und somit die von den betreffenden Mitgliedstaaten nach diesen Bestimmungen abgegebenen Erklärungen zu ignorieren. Eine solche Behauptung sei dem juristischen Wert und dem Status dieser Erklärungen des betroffenen Mitgliedstaats abträglich, beeinträchtige das gesamte mit diesen Verordnungen geschaffene System der Koordinierung der sozialen Sicherheit und bringe Schwierigkeiten praktischer und verwaltungstechnischer Natur mit sich.
33 Die Republik Malta macht, insoweit unterstützt vom Vereinigten Königreich, ferner geltend, dass die Pensionsregelungen des öffentlichen Dienstes des Vereinigten Königreichs als ergänzende Rentensysteme angesehen werden könnten, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/49 fielen. Wenn ein Mitgliedstaat keine Erklärung nach der Verordnung Nr. 1408/71 oder der Verordnung Nr. 883/2004 abgegeben habe und die Pensionsregelungen offenbar als in den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/49 fallend ansehe, seien die betreffenden Pensionen als aus dem Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 ausgenommen anzusehen.
34 Die Kommission, nach deren Auffassung die Richtlinie 98/49 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, erwidert, dass die fehlende Nennung der in Rede stehenden Pensionsregelungen in den vom Vereinigten Königreich abgegebenen Erklärungen von der Republik Malta nicht als ein Beweis dafür angesehen werden könne, dass diese Regelungen nicht unter die in Frage stehenden Bestimmungen fielen. Nach Ansicht der Kommission geht aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Republik Malta die Anwendbarkeit der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 auf die britischen Pensionsregelungen nicht danach hätte beurteilen dürfen, ob eine Leistung in der nationalen Gesetzgebung als „Leistung der sozialen Sicherheit“ eingestuft werde, sondern nach den Tatbestandsmerkmalen der betreffenden Leistung.
Würdigung durch den Gerichtshof
35 Die von der Kommission angeführten Rügen gehen dahin, zunächst feststellen zu lassen, dass die Mitgliedstaaten eine Pflicht zur Prüfung der Gesetzgebung eines anderen Mitgliedstaats haben, um sich zu vergewissern, dass diese Gesetzgebung – ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht Gegenstand einer Erklärung des anderen Mitgliedstaats nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 war – in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fällt, und anschließend, dass eine solche Prüfung, wenn sie von der Republik Malta vorgenommen worden wäre, zu dem Ergebnis hätte führen müssen, dass die in Rede stehenden Rentenregelungen Leistungen bei Alter vorsehen und auf Rechtsvorschriften beruhen, die in den Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 sowie 883/2004 fallen, und dass die Anwendung von Art. 56 des maltesischen Gesetzes über die soziale Sicherheit daher, soweit er die Kumulierung der Leistungen aus den in Rede stehenden Pensionsregelungen mit der nach der maltesischen Gesetzgebung geschuldeten Altersrente verbietet, mit Art. 46b der Verordnung Nr. 1408/71 und mit Art. 54 der Verordnung Nr. 883/2004 unvereinbar ist.
36 Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 erlegen den Mitgliedstaaten eine Pflicht auf, die Rechtsvorschriften und Systeme betreffend Leistungen der sozialen Sicherheit zu erklären, die in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fallen, und die Mitgliedstaaten haben sich daran – unter Beachtung der aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgenden Anforderungen – zu halten.
37 Aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergibt sich nämlich, dass jeder Mitgliedstaat für die in Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 und in Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 genannten Erklärungen eine sorgfältige Prüfung seiner eigenen Regelungen der sozialen Sicherheit vorzunehmen und diese nach Abschluss der Prüfung gegebenenfalls als in den Geltungsbereich dieser Verordnungen fallend zu erklären hat (vgl. entsprechend Urteile FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 51, und Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 22). Aus diesem Grundsatz ergibt sich ferner, dass die anderen Mitgliedstaaten berechtigterweise erwarten dürfen, dass der betroffene Mitgliedstaat diesen Pflichten nachgekommen ist.
38 Somit begründen diese Erklärungen eine Vermutung, dass die nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 erklärten nationalen Gesetze in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fallen, und binden grundsätzlich die anderen Mitgliedstaaten. Umgekehrt können die anderen Mitgliedstaaten, wenn ein Mitgliedstaat ein nationales Gesetz nicht gemäß diesen Verordnungen erklärt hat, daraus grundsätzlich folgern, dass dieses Gesetz nicht in deren sachlichen Geltungsbereich fällt.
39 Zudem müssen, solange die von einem Mitgliedstaat abgegebenen Erklärungen nicht geändert oder zurückgezogen werden, die anderen Mitgliedstaaten sie beachten. Es obliegt dem Mitgliedstaat, der die Erklärung abgegeben hat, sie zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn ein anderer Mitgliedstaat Zweifel an der Richtigkeit dieser Erklärungen äußert (vgl. in diesem Sinne Urteil Banks u. a., C‑178/97, EU:C:2000:169, Rn. 43).
40 Dieses Ergebnis bedeutet jedoch nicht, dass einem Mitgliedstaat jede Möglichkeit einer Reaktion versagt wäre, wenn er Kenntnis von Informationen hat, die Zweifel an der Richtigkeit der von einem anderen Mitgliedstaat abgegebenen Erklärungen wecken.
41 Wenn die Erklärung Fragen aufwirft und die Mitgliedstaaten sich insbesondere nicht über die Einordnung der Rechtsvorschriften oder Systeme im Rahmen des Geltungsbereichs der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 verständigen können, steht es ihnen zunächst offen, sich an die in den Art. 80 und 81 der Verordnung Nr. 1408/71 sowie in den Art. 71 und 72 der Verordnung Nr. 883/2004 genannte Verwaltungskommission zu wenden. Wenn es dieser nicht gelingt, zwischen den Standpunkten der Mitgliedstaaten zum im vorliegenden Fall anwendbaren Recht zu vermitteln, obliegt es sodann gegebenenfalls dem Mitgliedstaat, der die Richtigkeit einer Erklärung eines anderen Mitgliedstaats bezweifelt, sich an die Kommission zu wenden oder, als letztes Mittel, ein Verfahren auf der Grundlage von Art. 259 AEUV einzuleiten, so dass der Gerichtshof die Frage des anwendbaren Rechts anlässlich einer solchen Klage prüfen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Banks u. a., C‑178/97, EU:C:2000:169, Rn. 44).
42 Im Hinblick auf die von der Kommission vorgetragenen Argumente ist zu ergänzen, dass die Feststellung, dass ein Mitgliedstaat die von einem anderen Mitgliedstaat abgegebene Erklärung berücksichtigen muss, auch nicht zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Widerspruch steht (vgl. u. a. Urteile Beerens, 35/77, EU:C:1977:194, Rn. 9, sowie Hliddal und Bornand, C‑216/12 und C‑217/12, EU:C:2013:568, Rn. 46), nach der der Umstand, dass ein Mitgliedstaat ein nationales Gesetz oder eine nationale Regelung in seine Erklärung nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgenommen hat, als Beleg dafür anzusehen ist, dass die auf der Grundlage dieses Gesetzes oder dieser Regelung gewährten Leistungen Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Verordnungen sind, während sich aus dem Umstand, dass ein Gesetz oder eine Regelung nicht Gegenstand einer solchen Erklärung war, als solches nicht ergibt, dass dieses Gesetz oder diese Regelung nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnungen fällt.
43 Auch wenn die Mitgliedstaaten nicht allgemein prüfen müssen, ob das Recht der anderen Mitgliedstaaten in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 883/2004 fällt, kann ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit über ein solches Gesetz oder eine solche Regelung befasst ist, nämlich jederzeit dazu aufgerufen sein, sich mit der Einordnung des in der bei ihm anhängigen Rechtssache in Rede stehenden Systems zu beschäftigen und gegebenenfalls dem Gerichtshof eine darauf bezogene Frage vorzulegen.
44 Dagegen ergibt sich aus keinem der beiden in Rede stehenden Artikel, dass andere Mitgliedstaaten als derjenige, der das betreffende Gesetz oder die betreffende Regelung eingeführt, aber nicht erklärt hat, die Verpflichtung hätten, auf eigene Verantwortung festzustellen, ob das Gesetz oder die Regelung dennoch als in den sachlichen Geltungsbereich der betroffenen Verordnungen fallend anzusehen ist.
45 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Kommission die vorliegende Vertragsverletzungsklage zu Unrecht auf eine allgemeine Verpflichtung zulasten der Mitgliedstaaten gestützt hat, zu prüfen, ob Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass sie nicht Gegenstand einer Erklärung nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 oder nach Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 waren, dennoch in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnungen fallen.
46 Somit ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
47 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Republik Malta die Kosten aufzuerlegen. Nach Art. 140 der Verfahrensordnung tragen die Republik Österreich und das Vereinigte Königreich ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.
3. Die Republik Österreich sowie das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
|
|||||||||||
Beschluss des Gerichts (Dritte Kammer) vom 16. Februar 2016.#Industrias Químicas del Vallés, SA gegen Europäische Kommission.#Nichtigkeitsklage – Pflanzenschutzmittel – Durchführungsverordnung (EU) 2015/408 – Erstellung einer Liste mit Substitutionskandidaten – Aufnahme von Metalaxyl in diese Liste – Fehlende individuelle Betroffenheit – Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-296/15.
|
62015TO0296
|
ECLI:EU:T:2016:79
| 2016-02-16T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TO0296 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 4. Februar 2016.#Koinonia Tis Pliroforias Anoichti Stis Eidikes Anagkes – Isotis gegen Europäische Kommission.#Schiedsklausel – Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation – Vertrag REACH112 – Rückzahlung der gezahlten Vorschüsse – Förderfähige Kosten.#Rechtssache T-562/13.
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62013TJ0562
|
ECLI:EU:T:2016:63
| 2016-02-04T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0562 - EN - EUR-Lex
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0562 - EN
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Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 17. Dezember 2015.#Sandra Bitter gegen Bundesrepublik Deutschland.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Berlin.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase – Sanktion wegen Emissionsüberschreitung – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-580/14.
|
62014CO0580
|
ECLI:EU:C:2015:835
| 2015-12-17T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CO0580
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
17. Dezember 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 2003/87/EG — System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten — Sanktion wegen Emissionsüberschreitung — Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑580/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Dezember 2014, in dem Verfahren
Sandra Bitter als Insolvenzverwalterin der Ziegelwerk Höxter GmbH
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und E. Regan,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Rechtsanwalt G. Buchholz,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
—
des Europäischen Parlaments, vertreten durch P. Schonard und A. Tamás als Bevollmächtigte,
—
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Simm und N. Rouam als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. White und A. C. Becker als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 16 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. L 275, S. 32) in der durch die Richtlinie 2009/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 (ABl. L 140, S. 63) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/87).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Rechtsanwältin Bitter als Insolvenzverwalterin der Ziegelwerk Höxter GmbH (im Folgenden: Ziegelwerk Höxter) und der Bundesrepublik Deutschland wegen einer Sanktion, die Letztere gegen die Ziegelwerk Höxter verhängt hatte, weil diese ihrer Verpflichtung zur Berichterstattung über ihre Berechtigungen für das Kohlendioxidäquivalent für das Jahr 2011 und zur Abgabe dieser Berechtigungen nicht nachgekommen war.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 lautet:
„Im sechsten Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die Umwelt, das mit der Entscheidung Nr. 1600/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 22. Juli 2002 über das sechste Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft (ABl. L 242, S. 1)] eingeführt wurde, wird die Klimaänderung als vorrangiger Maßnahmenbereich definiert und die Einrichtung eines gemeinschaftsweiten Systems für den Emissionshandel bis 2005 gefordert. In dem Programm wird bekräftigt, dass die Gemeinschaft sich zu einer 8%igen Verringerung ihrer Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2008–2012 gegenüber dem Stand von 1990 verpflichtet hat und dass die globalen Treibhausgasemissionen längerfristig gegenüber dem Stand von 1990 um etwa 70 % gesenkt werden müssen.“
4 Im vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:
„Bei Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls, das mit der Entscheidung 2002/358/EG des Rates vom 25. April 2002 über die Genehmigung des Protokolls von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen im Namen der Europäischen Gemeinschaft sowie die gemeinsame Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtungen [(ABl. L 130, S. 1)] genehmigt wurde, werden die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten verpflichtet sein, ihre gemeinsamen anthropogenen Treibhausgasemissionen, die in Anhang A des Protokolls aufgeführt sind, im Zeitraum 2008–2012 gegenüber dem Stand von 1990 um 8 % zu senken.“
5 Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Betreiber für jede Anlage bis zum 30. April jeden Jahres eine Anzahl von nicht gemäß Kapitel II vergebenen Zertifikaten abgibt, die den nach Artikel 15 geprüften Gesamtemissionen der Anlage im vorhergehenden Kalenderjahr entspricht, und dass diese Zertifikate anschließend gelöscht werden.“
6 Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Betreibern oder Luftfahrzeugbetreibern, die nicht bis zum 30. April jeden Jahres eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten zur Abdeckung ihrer Emissionen im Vorjahr abgeben, eine Sanktion wegen Emissionsüberschreitung auferlegt wird. Die Sanktion wegen Emissionsüberschreitung beträgt für jede ausgestoßene Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber oder Luftfahrzeugbetreiber keine Zertifikate abgegeben hat, 100 [Euro]. Die Zahlung der Sanktion entbindet den Betreiber nicht von der Verpflichtung, Zertifikate in Höhe dieser Emissionsüberschreitung abzugeben, wenn er die Zertifikate für das folgende Kalenderjahr abgibt.“
7 Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2003/87 sah in seiner ursprünglichen Fassung vor:
„Während des am 1. Januar 2005 beginnenden Dreijahreszeitraums verhängen die Mitgliedstaaten für jede von der Anlage ausgestoßene Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat, eine niedrigere Sanktion wegen Emissionsüberschreitung in Höhe von 40 [Euro]. Die Zahlung der Sanktion entbindet den Betreiber nicht von der Verpflichtung, Zertifikate in Höhe dieser Emissionsüberschreitung abzugeben, wenn er die Zertifikate für das folgende Kalenderjahr abgibt.“
Deutsches Recht
8 Die Richtlinie 2003/87 wurde durch das Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas‑Emissionshandelsgesetz – TEHG) vom 8. Juli 2004 (BGBl. I S. 1578) umgesetzt.
9 § 6 Abs. 1 TEHG bestimmt:
„Der Verantwortliche hat bis zum 30. April eines Jahres, erstmals im Jahr 2006, eine Anzahl von Berechtigungen an die zuständige Behörde abzugeben, die den durch seine Tätigkeit im vorangegangenen Kalenderjahr verursachten Emissionen entspricht.“
10 § 18 („Durchsetzung der Abgabepflicht“) Abs. 1 bis 3 TEHG sieht vor:
„(1) Kommt der Verantwortliche seiner Pflicht nach § 6 Abs. 1 nicht nach, so setzt die zuständige Behörde für jede emittierte Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Verantwortliche keine Berechtigungen abgegeben hat, eine Zahlungspflicht von 100 Euro, in der ersten Zuteilungsperiode von 40 Euro, fest. Von der Festsetzung einer Zahlungspflicht kann abgesehen werden, wenn der Verantwortliche seiner Pflicht nach § 6 Abs. 1 aufgrund höherer Gewalt nicht nachkommen konnte.
(2) Soweit der Verantwortliche nicht ordnungsgemäß über die durch seine Tätigkeit verursachten Emissionen berichtet hat, schätzt die zuständige Behörde die durch die Tätigkeit im vorangegangenen Kalenderjahr verursachten Emissionen. Die Schätzung ist unwiderlegliche Basis für die Verpflichtung nach § 6 Abs. 1. Die Schätzung unterbleibt, wenn der Verantwortliche im Rahmen der Anhörung zum Festsetzungsbescheid nach Absatz 1 seiner Berichtspflicht ordnungsgemäß nachkommt.
(3) Der Verantwortliche bleibt verpflichtet, die fehlenden Berechtigungen, im Falle des Absatzes 2 nach Maßgabe der erfolgten Schätzung, bis zum 30. April des Folgejahres abzugeben …“
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage
11 Ziegelwerk Höxter ist eine Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, die bis September 2011 eine Treibhausgase ausstoßende Anlage betrieben hat. Mit Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 1. November 2011 wurde über das Vermögen dieser Gesellschaft ein Insolvenzverfahren eröffnet.
12 Im Rahmen dieses Verfahrens wurde Rechtsanwältin Bitter zur Insolvenzverwalterin bestellt. In dieser Eigenschaft wurde sie von den deutschen Behörden als Betreiberin der Anlage und damit als Verantwortliche für die Einhaltung der nach dem TEHG für diese Anlage geltenden Verpflichtungen angesehen.
13 Diese Behörden forderten sie deshalb auf, die Berichte über die Treibhausgasemissionen für das Jahr 2011 vorzulegen und die Emissionsberechtigungen für dieses Jahr abzugeben.
14 Rechtsanwältin Bitter war der Ansicht, dass Ziegelwerk Höxter nicht mehr verpflichtet sei, über ihre für das Jahr 2011 ausgegebenen Berechtigungen für das Kohlendioxidäquivalent zu berichten und diese Berechtigungen abzugeben, da sie ihre Tätigkeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im September 2011 eingestellt habe; ihre etwaigen Schulden seien lediglich als Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle anzumelden.
15 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass ein ehemaliger Bevollmächtigter dieses Unternehmens den zuständigen deutschen Behörden mit E-Mail vom 20. September 2012 mitgeteilt hat, dass dieses Unternehmen im Jahr 2011 3 324 Tonnen Kohlendioxid ausgestoßen habe.
16 Mit Bescheid vom 20. März 2013 schätzten diese Behörden die Zahl der nicht abgegebenen Emissionsberechtigungen dieses Unternehmens für das Jahr 2011 auf 3323 und verhängten gemäß § 18 TEHG, mit dem Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 umgesetzt wurde, eine Sanktion in Höhe von 332300 Euro gegen dieses Unternehmen.
17 Rechtsanwältin Bitter focht diesen Bescheid beim Verwaltungsgericht Berlin an, das sich fragt, ob die Höhe der in dieser Bestimmung vorgesehenen Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
18 Das Verwaltungsgericht Berlin ist insbesondere der Ansicht, dass, da der Gerichtshof bereits festgestellt habe, dass die in Art. 16 Abs. 4 der ursprünglichen Fassung der Richtlinie 2003/87 während der ersten Handelsperiode in den Jahren 2005 bis 2007 vorgesehene Sanktion in Höhe von 40 Euro pro Tonne emittiertes Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspreche (Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664), dies für die in Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 ab 2008 vorgesehene Sanktion in Höhe von 100 Euro pro Tonne emittiertes Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat, nicht gelten könne, zumal außerdem die Preise für Treibhausgasemissionszertifikate seit Dezember 2006 drastisch eingebrochen seien.
19 Das vorlegende Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürften, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sei, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stünden, die am wenigsten belastende zu wählen sei und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürften. Es bezieht sich auf das Urteil Agrarproduktion Staebelow (C‑504/04, EU:C:2006:30, Rn. 35 und 40).
20 Unter diesen Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht Berlin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstößt die Regelung in Art. 16 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/87, wonach die Sanktion wegen Emissionsüberschreitung für jede ausgestoßene Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber oder Luftfahrzeugbetreiber keine Zertifikate abgegeben hat, 100 Euro beträgt, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?
Zur Vorlagefrage
21 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
22 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.
23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/87 insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gültig ist.
24 Zunächst ist zu beachten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, verlangt, dass die von einer unionsrechtlichen Bestimmung eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über das dafür Erforderliche hinausgehen (vgl. Urteile Vodafone u. a., C‑58/08, EU:C:2010:321, Rn. 51, und Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 34).
25 In Bezug auf die gerichtliche Nachprüfung dieser Voraussetzungen ist dem Unionsgesetzgeber jedoch ein weites Ermessen einzuräumen, wenn er in einem Bereich tätig wird, in dem von ihm politische, wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt werden und in dem er komplexe Beurteilungen vornehmen muss. Daher kann der Gerichtshof bei seiner gerichtlichen Nachprüfung der Wahrnehmung einer solchen Zuständigkeit die Beurteilung des Unionsgesetzgebers nicht durch seine eigene ersetzen. Er könnte dessen gesetzgeberische Entscheidung nur dann beanstanden, wenn diese offensichtlich fehlerhaft erschiene oder wenn die Nachteile, die sich aus ihr für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer ergeben, zu den im Übrigen mit ihr verbundenen Vorteilen völlig außer Verhältnis stünden (vgl. Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Den Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union vom 8. März 2001, auf die im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 Bezug genommen wird, ist insoweit zu entnehmen, dass die unionsweite Einführung eines Systems für die Verbuchung und den Handel mit Emissionszertifikaten für das Kohlendioxidäquivalent eine gesetzgeberische Entscheidung ist, in der eine im Kontext eines dringenden Bedarfs, auf schwerwiegende die Umwelt betreffende Bedenken zu reagieren, stehende politische Zielorientierung zum Ausdruck kommt. Diese gesetzgeberische Entscheidung beruht überdies auf komplexen und ausführlich erörterten wirtschaftlichen und technischen Überlegungen, die im Grünbuch zum Handel mit Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union (KOM[2000] 87 endg.) dargelegt wurden. Mit dem Ziel, zur Erfüllung der Verpflichtungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten aus dem Kyoto-Protokoll beizutragen, hatte der Unionsgesetzgeber somit Veranlassung, die künftigen und ungewissen Wirkungen seines Tätigwerdens selbst zu beurteilen und abzuwägen (vgl. Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 36)
27 Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Unionsakts kann aber nicht von einer rückschauenden Würdigung seines Wirkungsgrades abhängen. Ist der Unionsgesetzgeber genötigt, die künftigen Auswirkungen einer Regelung zu beurteilen, und lassen sich diese Auswirkungen nicht genau vorhersehen, so kann seine Beurteilung nur dann beanstandet werden, wenn sie in Anbetracht der Erkenntnisse, über die er zum Zeitpunkt des Erlasses der fraglichen Regelung verfügte, offensichtlich irrig erscheint (vgl. in diesem Sinne Urteile Jippes u. a., C‑189/01, EU:C:2001:420, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 37).
28 In Anwendung dieser Grundsätze hat der Gerichtshof im Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka (C‑203/12, EU:C:2013:664) die Verhältnismäßigkeit nicht nur der in Art. 16 Abs. 4 der ursprünglichen Fassung der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen vorübergehenden Sanktion von 40 Euro pro Tonne, sondern auch der in Art. 16 Abs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen pauschalen Sanktion von 100 Euro pro Tonne in Bezug darauf anerkannt, dass es für das nationale Gericht keine Möglichkeit gibt, ihre Höhe anzupassen.
29 Der Gerichtshof hat weiter festgestellt, dass die Richtlinie 2003/87 den Betreibern eine angemessene Frist einräumt, um ihrer Abgabepflicht nachzukommen, und dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Mechanismen zur Mahnung, Aufforderung und vorzeitigen Abgabe einzuführen, durch die gutgläubige Betreiber umfassend über diese Pflicht informiert werden und so der Gefahr, dass eine Sanktion gegen sie verhängt wird, entgehen können (Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 40 und 41).
30 Der Gerichtshof hat u. a. hervorgehoben, dass die Abgabepflicht nach Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 und die pauschale Sanktion, mit der sie nach Art. 16 dieser Richtlinie bewehrt ist und die keine andere Flexibilität als die vorübergehende Herabsetzung ihrer Höhe in den Jahren 2005 bis 2007 bietet, dem Unionsgesetzgeber bei der Verfolgung des legitimen Ziels der Einführung eines leistungsfähigen Systems für den Handel mit Zertifikaten für das Kohlendioxidäquivalent erforderlich erschienen, um zu verhindern, dass einige Betreiber oder Mittelspersonen auf dem Markt dazu verleitet werden, das System durch missbräuchliche Spekulation in Bezug auf die Preise, Mengen, Fristen oder komplexen Finanzprodukte, die eine Begleiterscheinung jedes Marktes sind, zu umgehen oder zu manipulieren (Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 39).
31 Er hat insbesondere festgestellt, dass die relative Strenge der Sanktion dadurch gerechtfertigt ist, dass Verstöße gegen die Verpflichtung, eine ausreichende Anzahl an Zertifikaten abzugeben, in der gesamten Union schlüssig und konsequent geahndet werden müssen (Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 39).
32 Der Umstand, dass der fragliche Betrag höher ist als derjenige, über den der Gerichtshof im Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka (C‑203/12, EU:C:2013:664) entschieden hat, kann diese Einschätzung nicht in Frage stellen, da die Verhängung einer geringeren Sanktion während der ersten Handelsperiode – wie der Gerichtshof in Rn. 25 diese Urteils festgestellt hat – dadurch gerechtfertigt war, dass es sich um eine Probephase des Systems handelte, in der die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer weniger belastenden Verpflichtungen unterlagen.
33 Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber die anzuwendende Sanktion nach dieser ersten Handelsperiode nicht erhöht, sondern während dieser ersten Periode die Höhe der nach Art. 16 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/87 standardmäßig festgesetzten Sanktion von 100 Euro vorübergehend „herabgesetzt“ (vgl. Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, EU:C:2013:664, Rn. 25 und 39).
34 Was das Argument betrifft, die Preise für die Emissionshandelszertifikate seien seit dieser ersten Handelsperiode drastisch eingebrochen, hat der Gerichtshof in Rn. 27 des Urteils Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka (C‑203/12, EU:C:2013:664) bereits festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber durch die Einführung einer von vornherein feststehenden Sanktion das System für den Handel mit Zertifikaten vor Wettbewerbsverzerrungen aufgrund von Marktmanipulationen schützen wollte. Wie aus Rn. 25 des vorliegenden Urteils hervorgeht, kann der Gerichtshof die Beurteilung des Unionsgesetzgebers nicht durch seine eigene ersetzen.
35 Folglich hat die Prüfung der Vorlagefrage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 16 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie Nr. 2003/87, soweit er eine Sanktion von 100 Euro pro ausgestoßener Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat, vorsieht, im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beeinträchtigen könnte.
Kosten
36 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 16 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates in der durch die Richtlinie 2009/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 geänderten Fassung, soweit er eine Sanktion von 100 Euro pro ausgestoßener Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat, vorsieht, im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beeinträchtigen könnte.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 17. Dezember 2015.#Gergely Szemerey gegen Miniszterelnökséget vezető miniszter.#Vorabentscheidungsersuchen der Gyulai közigazgatási és munkaügyi bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Agrarpolitik – Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes – Zahlungen für Agrarumweltmaßnahmen – Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 – Art. 23 und 58 – Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 – Verordnung (EG) Nr. 1975/2006 – Beihilfe für den Anbau einer seltenen Pflanzenart – Zahlungsantrag – Inhalt – Erfordernis einer Bescheinigung – Sanktionen bei Nichtvorlage.#Rechtssache C-330/14.
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62014CJ0330
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ECLI:EU:C:2015:826
| 2015-12-17T00:00:00 |
Wahl, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0330
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
17. Dezember 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsame Agrarpolitik — Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums — Zahlungen für Agrarumweltmaßnahmen — Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 — Art. 23 und 58 — Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 — Verordnung (EG) Nr. 1975/2006 — Beihilfe für den Anbau einer seltenen Pflanzenart — Zahlungsantrag — Inhalt — Erfordernis einer Bescheinigung — Sanktionen bei Nichtvorlage“
In der Rechtssache C‑330/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Gyulai közigazgatási és munkaügyi bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyula, Ungarn) mit Entscheidung vom 28. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2014, in dem Verfahren
Gergely Szemerey
gegen
Miniszterelnökséget vezető miniszter als Rechtsnachfolger des Mezőgazdasági és Vidékfejlesztési Hivatal Központi Szerve
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Szemerey, vertreten durch I. Boross und M. Honoré, ügyvédek,
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des Miniszterelnökséget vezető miniszter, vertreten durch A. Ivanovits und P. Káldy, ügyvédek,
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der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
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der hellenischen Regierung, vertreten durch I. Chalkias, O. Tsirkinidou und A. Vasilopoulou als Bevollmächtigte,
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der Europäischen Kommission, vertreten durch G. von Rintelen und A. Sipos als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. September 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor (ABl. L 316, S. 65) in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) (ABl. L 277, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 473/2009 des Rates vom 25. Mai 2009 (ABl. L 144, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1698/2005) und mit der Verordnung (EG) Nr. 1975/2006 der Kommission vom 7. Dezember 2006 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1698/2005 hinsichtlich der Kontrollverfahren und der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen bei Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums (ABl. L 368, S. 74) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 484/2009 der Kommission vom 9. Juni 2009 (ABl. L 145, S. 25) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1975/2006).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Szemerey und dem Miniszterelnökséget vezető miniszter als Rechtsnachfolger des Mezőgazdasági és Vidékfejlesztési Hivatal Központi Szerve (Kanzlei des Premierministers als Rechtsnachfolgerin der Zentralen Behörde des Amtes für Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums, im Folgenden: Behörde) über die Entscheidung, einen von Herrn Szemerey gestellten Antrag auf flächenbezogene Beihilfen abzulehnen und gegen ihn wegen Nichtbeachtung der Antragsvoraussetzungen eine finanzielle Sanktion zu verhängen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1698/2005
3 Die Verordnung Nr. 1698/2005 enthält die allgemeinen Bestimmungen für die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch die Gemeinschaft, die vom Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) finanziert wird.
4 Für die in dieser Verordnung vorgesehene Unterstützung der Entwicklung des ländlichen Raums werden vier Schwerpunkte gesetzt, die in ebenso vielen Abschnitten des Titels IV dieser Verordnung geregelt sind. Abschnitt 2 trägt die Überschrift „Schwerpunkt 2 – Verbesserung der Umwelt und der Landschaft“. Nach dem zu diesem Abschnitt gehörenden Art. 36 Buchst. a Ziff. iv betreffen die Beihilfen dieses Abschnitts u. a. Maßnahmen zur Förderung der nachhaltigen Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen in Form von Zahlungen für Agrarumweltmaßnahmen.
5 Art. 74 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1698/2005 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten sorgen bei jedem Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum dafür, dass das entsprechende Verwaltungs- und Kontrollsystem eingerichtet ist und dass eine klare Zuweisung der Funktionen sowie eine angemessene Trennung zwischen den Funktionen der mit der Verwaltung betrauten Stelle und den Funktionen anderer Stellen erfolgt …“
Verordnung Nr. 1975/2006
6 Die Verordnung Nr. 1975/2006 enthält spezielle Bestimmungen über die Kontrolle und die Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen hinsichtlich der in der Verordnung Nr. 1698/2005 vorgesehenen Fördermaßnahmen.
7 Art. 4 („Anträge auf Fördermittel und Zahlungsanträge“) der Verordnung Nr. 1975/2006 bestimmt:
„(1) Unbeschadet der spezifischen Bestimmungen der vorliegenden Verordnung legen die Mitgliedstaaten geeignete Verfahren für die Anträge auf Fördermittel fest.
…
(3) Die Anträge auf Fördermittel und Zahlungsanträge können bei offensichtlichen Fehlern, die von der zuständigen Behörde anerkannt wurden, jederzeit nach ihrer Einreichung korrigiert werden.“
8 Art. 5 („Allgemeine Kontrollgrundsätze“) der Verordnung Nr. 1975/2006 sieht vor:
„(1) Unbeschadet der spezifischen Bestimmungen der vorliegenden Verordnung tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass alle durch gemeinschaftliche oder einzelstaatliche Rechtsvorschriften oder in den Programmen zur Entwicklung des ländlichen Raums aufgestellten Förderkriterien anhand von überprüfbaren Indikatoren, die von den Mitgliedstaaten festzulegen sind, kontrolliert werden können.
…
(3) Unbeschadet spezifischer Bestimmungen werden keine Zahlungen an Personen geleistet, wenn feststeht, dass sie die Voraussetzungen für den Erhalt dieser Zahlungen künstlich geschaffen haben, um einen den Zielen der betreffenden Stützungsregelung zuwiderlaufenden Vorteil zu erwirken.“
9 Teil II („Verwaltungs- und Kontrollvorschriften“) der Verordnung Nr. 1975/2006 enthält einen Titel I mit der Überschrift „Fördermittel für bestimmte Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums im Rahmen der Schwerpunkte 2 und 4“. Kapitel II („Kontrollen, Kürzungen und Ausschlüsse“) dieses Titels enthält Art. 10 („Allgemeine Grundsätze“), in dem es heißt:
„(1) Die Anträge auf Fördermittel und die darauf folgenden Zahlungsanträge werden so geprüft, dass zuverlässig festgestellt werden kann, ob die Fördervoraussetzungen erfüllt sind.
(2) Die Mitgliedstaaten legen für jede Stützungsmaßnahme geeignete Methoden und Instrumente zur Überprüfung der Fördervoraussetzungen fest.
…
(4) Die Erfüllung der Förderkriterien wird durch Verwaltungs- und Vor-Ort-Kontrollen überprüft.
(5) Die Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen wird durch Vor-Ort-Kontrollen und gegebenenfalls durch Verwaltungskontrollen überprüft.
…“
10 Abschnitt I des Kapitels II der Verordnung Nr. 1975/2006 trägt die Überschrift „Erfüllung der Förderkriterien“. Dieser Abschnitt enthält einen Unterabschnitt I („Kontrollen“), in dem Art. 11 („Verwaltungskontrollen“) in Abs. 1 Folgendes bestimmt:
„Alle Anträge auf Fördermittel und Zahlungsanträge werden einer Verwaltungskontrolle unterzogen, die sich auf alle Elemente bezieht, deren Überprüfung mit verwaltungstechnischen Mitteln möglich und angemessen ist. Über die durchgeführten Kontrollen, die Ergebnisse der Überprüfung und die bei Abweichungen getroffenen Abhilfemaßnahmen werden Aufzeichnungen geführt.“
11 Unterabschnitt II von Abschnitt I trägt die Überschrift „Kürzungen und Ausschlüsse“. Der darin enthaltene Art. 18 („Kürzungen und Ausschlüsse bei Nichterfüllung der Förderkriterien“) bestimmt:
„(1) Werden mit der Beihilfegewährung verbundene Verpflichtungen, ausgenommen Verpflichtungen in Zusammenhang mit der angegebenen Fläche bzw. der angegebenen Zahl von Tieren, nicht erfüllt, so wird die beantragte Beihilfe gekürzt oder verweigert.
(2) Der Mitgliedstaat setzt den Betrag, um den die Beihilfe gekürzt wird, insbesondere auf der Grundlage von Schwere, Ausmaß und Dauer des festgestellten Verstoßes fest.
Die Beurteilung der Schwere eines Verstoßes hängt insbesondere davon ab, welche Bedeutung den Auswirkungen des Verstoßes unter Berücksichtigung der Ziele der nicht eingehaltenen Kriterien beizumessen ist.
Das Ausmaß eines Verstoßes wird insbesondere anhand der Auswirkungen des Verstoßes auf das Vorhaben insgesamt beurteilt.
Die Beurteilung der Dauer eines Verstoßes richtet sich insbesondere danach, wie lange die Auswirkungen des Verstoßes andauern oder welche Möglichkeiten bestehen, diese Auswirkungen mit angemessenen Mitteln abzustellen.
(3) Beruhen die Verstöße auf absichtlichen Falschangaben, so wird der Begünstigte in dem betreffenden Kalenderjahr und im darauf folgenden Kalenderjahr von der jeweiligen Maßnahme ausgeschlossen.“
Verordnung Nr. 1122/2009
12 Durch die Verordnung Nr. 1122/2009 wurde die Verordnung (EG) Nr. 796/2004 der Kommission vom 21. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, zur Modulation und zum Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem nach der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 des Rates mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe (ABl. L 141, S. 18) aufgehoben. Nach ihrem Art. 87 gilt die Verordnung Nr. 1122/2009 für Beihilfeanträge, die sich auf ab dem 1. Januar 2010 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen.
13 In den Erwägungsgründen 19, 28 und 29 der Verordnung Nr. 1122/2009 heißt es:
„(19)
Die pünktliche Einreichung der Anträge auf Werterhöhung oder Zuteilung von Zahlungsansprüchen im Rahmen der Betriebsprämienregelung ist für eine effiziente Verwaltung von größter Bedeutung. Daher sollten die Mitgliedstaaten einen Termin für die Einreichung der Anträge festsetzen, der spätestens der 15. Mai sein sollte. Zur Vereinfachung der Verfahren sollten die Mitgliedstaaten beschließen dürfen, dass der Antrag gleichzeitig mit dem Sammelantrag eingereicht werden muss …
…
(28) Die Einhaltung der Fristen für die Einreichung der Beihilfeanträge, die Änderung von flächenbezogenen Anträgen und die Vorlage von Belegdokumenten, Verträgen oder Anbauerklärungen ist unerlässlich, damit die nationalen Verwaltungen wirksame Kontrollen der Richtigkeit der Beihilfeanträge organisieren und vornehmen können. Daher sollte geregelt werden, innerhalb welcher Fristen verspätete Einreichungen von Anträgen zulässig sind. Um die Betriebsinhaber zur Einhaltung der Fristen anzuhalten, sollte außerdem bei verspäteten Anträgen eine Kürzung des Beihilfebetrags vorgenommen werden.
(29) Die pünktliche Einreichung der Anträge auf Zahlungsansprüche durch die Betriebsinhaber ist unerlässlich für die Mitgliedstaaten, um die Zahlungsansprüche rechtzeitig festzusetzen. Die verspätete Einreichung dieser Anträge ist daher nur innerhalb derselben zusätzlichen Frist zu erlauben wie derjenigen, die für die verspätete Einreichung der Beihilfeanträge festgesetzt worden ist. Außerdem ist ein abschreckender Kürzungssatz anzuwenden, es sei denn, die Verspätung ist auf höhere Gewalt oder außergewöhnliche Umstände zurückzuführen.“
14 Art. 23 („Verspätete Einreichung“) der Verordnung Nr. 1122/2009 sieht in Abs. 1 vor:
„Außer in Fällen höherer Gewalt und außergewöhnlicher Umstände nach Artikel 75 werden die Beihilfebeträge, auf die der Betriebsinhaber im Fall rechtzeitiger Einreichung Anspruch gehabt hätte, bei Einreichung eines Beihilfeantrags nach dem festgesetzten Termin um 1 % je Arbeitstag Verspätung gekürzt.
Unbeschadet jeglicher besonderer Maßnahmen, welche die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Notwendigkeit ergreifen, dass Nachweise rechtzeitig vorgelegt werden müssen, um wirksame Kontrollen planen und durchführen zu können, gilt Unterabsatz 1 auch für Unterlagen, Verträge oder Erklärungen, die der zuständigen Behörde nach den Artikeln 12 und 13 vorzulegen sind, sofern solche Unterlagen, Verträge oder Erklärungen anspruchsbegründend für die Gewährung der betreffenden Beihilfe sind. In diesem Fall wird die Kürzung auf den betreffenden Beihilfebetrag angewandt.
Beträgt die Verspätung mehr als 25 Kalendertage, so ist der Antrag als unzulässig anzusehen.“
15 Gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 1975/2006 in Verbindung mit der Entsprechungstabelle in Anhang II der Verordnung Nr. 1122/2009 gilt deren Art. 23 für unter die Verordnung Nr. 1975/2006 fallende Sachverhalte sinngemäß.
16 Art. 58 („Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von zu viel angemeldeten Flächen“) der Verordnung Nr. 1122/2009 bestimmt:
„Liegt bei einer Kulturgruppe die angemeldete Fläche für die Zwecke der flächenbezogenen Beihilferegelungen, ausgenommen die Regelungen für Stärkekartoffeln und Saatgut gemäß Titel IV Kapitel 1 Abschnitte 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 [des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005, (EG) Nr. 247/2006, (EG) Nr. 378/2007 sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 (ABl. L 30, S. 16)], über der gemäß Artikel 57 der vorliegenden Verordnung ermittelten Fläche, so wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, berechnet, wenn die Differenz über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht.
Liegt die Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird für die betreffende Kulturgruppe keine flächenbezogene Beihilfe gewährt.
Beläuft sich die Differenz auf mehr als 50 %, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe des Betrags, der der Differenz zwischen der angemeldeten Fläche und der gemäß Artikel 57 der vorliegenden Verordnung ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen. Dieser Betrag wird gemäß Artikel 5b der Verordnung (EG) Nr. 885/2006 der Kommission [vom 21. Juni 2006 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates hinsichtlich der Zulassung der Zahlstellen und anderen Einrichtungen sowie des Rechnungsabschlusses für den EGFL und den ELER (ABl. L 171, S. 90)] verrechnet. Kann der Betrag im Verlauf der drei Kalenderjahre, die auf das Kalenderjahr der Feststellung folgen, nicht vollständig gemäß dem genannten Artikel verrechnet werden, so wird der Restbetrag annulliert.“
17 Art. 75 („Höhere Gewalt und außergewöhnliche Umstände“) der Verordnung Nr. 1122/2009 sieht in Abs. 1 vor:
„Konnte ein Betriebsinhaber infolge höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände im Sinne des Artikels 31 der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 seinen Verpflichtungen nicht nachkommen, so bleibt der Beihilfeanspruch für die bei Eintritt der höheren Gewalt oder der außergewöhnlichen Umstände beihilfefähige Fläche bzw. beihilfefähigen Tiere bestehen. Betrifft der Verstoß aufgrund höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände die Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, so wird außerdem die entsprechende Kürzung nicht angewendet.“
Ungarisches Recht
18 § 29 Abs. 3 der Verordnung des Ministeriums für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung Nr. 61/2009 (V.14.) über die detaillierten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von durch den ELER gewährten Beihilfen [Az Európai Mezőgazdasági Vidékfejlesztési Alapból nyújtott agrár-környezetgazdálkodási támogatások igénybevételének részletes feltételeiről szóló 61/2009. (V.14.) FVM rendelet] sieht in der durch die Verordnung Nr. 31/2010 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 61/2009) vor:
„In Bezug auf die in § 3 Abs. 1 Buchst. a, aa bis ac, definierten spezifischen Programme hat der Beihilfeberechtigte, wenn er gefährdete seltene Ackerbaupflanzen mit erheblicher kulturgeschichtlicher und genetischer Bedeutung im Sinne von Anhang 12 oder Gemüse nach Anhang 13 anbaut, im fraglichen Jahr für die betreffenden landwirtschaftlichen Parzellen Anspruch auf die in Kapitel II genannte besondere Beihilfe, sofern das Landwirtschaftsamt bescheinigt, dass es sich bei der fraglichen Pflanzenart um eine Pflanze im Sinne von Anhang 12 oder 13 handelt.“
19 § 43 Abs. 6 der Verordnung Nr. 61/2009 bestimmt:
„Im Fall des Anbaus einer seltenen Pflanzenart muss dem Zahlungsantrag das gemäß § 29 Abs. 3 erstellte Dokument über seltene Pflanzenarten beigefügt werden.“
20 § 55 Abs. 4 der Verordnung Nr. 61/2009 schreibt vor:
„Stellt sich bei einer Vor-Ort-Kontrolle heraus, dass der Beihilfeberechtigte nicht im Besitz der in § 29 Abs. 3 vorgesehenen Bescheinigung ist, wird die gesamte Beihilfe für ein Wirtschaftsjahr nicht an den Beihilfeberechtigten für die fragliche Parzelle ausgezahlt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
21 Der Kläger des Ausgangsverfahrens reichte im Mai 2010 einen Sammelantrag auf flächenbezogene Beihilfen ein. Der Antrag betraf die Zahlung einer Beihilfe im Rahmen des ökologischen Ackerbauprogramms für eine Fläche von 52,9 ha, wobei auf 29,69 ha eine bedrohte seltene Pflanzenart, die aus kulturgeschichtlicher und genetischer Sicht von Bedeutung ist, angebaut werden sollte.
22 Im Jahr 2010 wurde die Aussaat der fraglichen Art durch Hochwasser und andere Naturereignisse verhindert. Der Kläger des Ausgangsverfahrens machte daher zunächst im Juni und dann im Juli 2010 das Vorliegen höherer Gewalt geltend. Im Anschluss an Empfehlungen der ungarischen Behörden änderte er den Nutzungscode für die von seinem Antrag erfasste Fläche in „stillgelegte Fläche“.
23 Im März 2011 lehnte die Zahlstelle den vom Kläger des Ausgangsverfahrens eingereichten Antrag auf Auszahlung der Beihilfe ab und verhängte gegen ihn eine finanzielle Sanktion in Höhe von 2483953 ungarischen Forint (HUF) (etwa 7900 Euro), die auf drei Jahre verteilt von den flächenbezogenen Beihilfen, auf die er für diese Jahre normalerweise Anspruch hätte, in Abzug zu bringen sei. Außerdem bestätigte die Zahlstelle in dieser Entscheidung das von Herrn Szemerey geltend gemachte Vorliegen von höherer Gewalt.
24 Herr Szemerey legte dagegen bei der Behörde Widerspruch ein. Die Behörde wies den Widerspruch durch Bescheid vom 13. Januar 2012 mit der Begründung zurück, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Einreichung seines Antrags auf flächenbezogene Beihilfe die für die beantragte Beihilfe erforderliche Bescheinigung des ungarischen Landwirtschaftsamts für die seltene Pflanzenart (im Folgenden: in Rede stehende Bescheinigung) nicht vorgelegt habe.
25 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der ungarische Gesetzgeber die in der Verordnung Nr. 61/2009 vorgesehenen Vorschriften über Bescheinigungen für seltene Pflanzenarten mit Wirkung vom 30. März 2010 geändert hatte. Seit dem Inkrafttreten dieser Änderung muss der Antragsteller die Bescheinigung gleichzeitig mit seinem Sammelantrag auf flächenbezogene Beihilfe einreichen, d. h. im vorliegenden Fall bis zum 15. Mai 2010, während die Bescheinigung vor dieser Änderung der Rechtsvorschriften erst bei einer Vor-Ort-Kontrolle vorzuweisen war.
26 Da Herr Szemerey die in Rede stehende Bescheinigung nicht gleichzeitig mit dem Antrag auf flächenbezogene Beihilfe vorgelegt hatte, kam die Behörde zu dem Ergebnis, dass die von der fraglichen seltenen Pflanzenart betroffenen Parzellen bei der Festsetzung der Höhe der Beihilfe nicht berücksichtigt werden könnten. Nach ihren Feststellungen wich nämlich die im Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens angegebene Fläche um mehr als 50 % von der ermittelten Fläche ab. Sie sah daher im Beihilfeantrag von Herrn Szemerey einen Fall „zu viel angemeldeter Flächen“ im Sinne der Verordnung Nr. 1122/2009 und beschloss, die in deren Art. 58 vorgesehenen Sanktionen anzuwenden. Ferner führte die Behörde in ihrem Bescheid aus, die fragliche seltene Pflanzenart werde gewöhnlich im Frühling ausgesät, und Herr Szemerey habe somit bei der Einreichung seines Beihilfeantrags wissen können, dass er die in Rede stehende Bescheinigung nicht bis zum 15. Mai 2010 erhalten könne, so dass er seinen Antrag schon zu diesem Zeitpunkt auf andere, nicht seltene Pflanzenarten hätte abändern können.
27 Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob gegen diesen Bescheid der Behörde Klage beim Gyulai közigazgatási és munkaügyi bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyula), mit der er seine Rechtmäßigkeit anficht.
28 Unter diesen Umständen hat das Gyulai közigazgatási és munkaügyi bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Gyula) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind der Grundsatz der Flexibilität und der Möglichkeit zur Änderung gemäß dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 796/2004, der 27. Erwägungsgrund dieser Verordnung und die Erwägungsgründe 18, 23 und 26 der Verordnung Nr. 1122/2009 dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, wonach dem Zahlungsantrag im Fall des Anbaus einer seltenen Pflanzenart eine Bescheinigung über die seltene Pflanze beizufügen ist, wenn nach der Verwaltungspraxis die Beantragung dieser Bescheinigung nur vor Stellung des Antrags, zwischen dem 2. und dem 15. April 2010, seine Beifügung hingegen nur gleichzeitig mit der Einreichung des Sammelantrags möglich war und die Regelung keine Möglichkeit zur Korrektur des im Fehlen der Bescheinigung bestehenden Mangels des Antrags vorsah?
2. Ist diese Regelung mit der Verpflichtung eines Mitgliedstaats vereinbar, die Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik nicht zu gefährden, bzw. lässt sich feststellen, dass die Geltendmachung aus dem Unionsrecht abgeleiteter Beihilfeansprüche für Landwirte, die seltene Pflanzen anbauen, im Jahr 2010 zur Zeit der Änderung der Rechtsvorschriften unmöglich oder übermäßig erschwert und unvorhersehbar wurde?
3. Verstößt die Verwaltungspraxis, nach der bei Fehlen der Bescheinigung über die seltene Pflanze eine Sanktion wegen zu viel angemeldeter Flächen hinsichtlich des gesamten Antrags ohne Berücksichtigung von Vorsatz, Fahrlässigkeit oder der Umstände verhängt wird, wenn der Zahlungsantrag im Übrigen hinsichtlich der gesamten Parzelle den Beihilfevoraussetzungen entspricht und der Erzeuger auf der angegebenen Fläche die angegebene Pflanze anbaut, gegen den 57. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 796/2004 bzw. den 75. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1122/2009 und speziell den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?
4. Sind die Entlastungsgründe in den Erwägungsgründen 67 oder 71 der Verordnung Nr. 796/2004 bzw. dem 75. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1122/2009 anwendbar, wenn der Landwirt eine entgegenstehende oder unangemessene Verwaltungspraxis als außergewöhnlichen Umstand anführt und dartun möchte, dass sein Fehler ganz oder teilweise durch die Praxis der Verwaltungsbehörde verursacht wurde?
5. Kann die akzeptierte Mitteilung des Landwirts, dass bezüglich des vollständigen Unterbleibens des Anbaus (der Aussaat) ein Fall höherer Gewalt vorliege, als sachlich richtige Angabe im Sinne des 67. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 796/2004 bzw. des 93. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1122/2009 gewertet werden, die den Landwirt hinsichtlich der unterbliebenen Beifügung der Bescheinigung über den Anbau der seltenen Pflanze entlastet und damit hinsichtlich des gesamten Antrags die Befreiung von den Sanktionen bedeutet?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
29 Die ungarische Regierung hält die Vorlagefragen für unzulässig, weil sie keine Rechtsvorschriften in der einschlägigen unionsrechtlichen Regelung beträfen, sondern lediglich Erwägungsgründe der Verordnungen Nr. 796/2004 und Nr. 1122/2009.
30 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen formal auf die Auslegung der Erwägungsgründe der Verordnungen Nr. 796/2004 und Nr. 1122/2009 beschränkt hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. entsprechend Urteil Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Insoweit wird nicht bestritten, dass der Beihilfeantrag, der Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, vom Kläger des Ausgangsverfahrens eingereicht wurde, um Zahlungen für Agrarumweltmaßnahmen gemäß Art. 36 Buchst. a Ziff. iv der Verordnung Nr. 1698/2005 zu erhalten, deren Durchführungsmodalitäten, insbesondere hinsichtlich der Kontrollverfahren sowie der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, in der Verordnung Nr. 1975/2006 festgelegt sind. Ferner geht aus Art. 7 der Verordnung Nr. 1975/2006 hervor, dass bestimmte Vorschriften der Verordnung Nr. 796/2004, die durch die Verordnung Nr. 1122/2009 ersetzt wurde, und insbesondere Art. 23 der letztgenannten Verordnung für Beihilfeanträge der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art sinngemäß gelten. Zudem steht fest, dass Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 unter den Umständen des Ausgangsverfahrens angewandt wurde.
33 Somit sind die Fragen des vorlegenden Gerichts dahin zu verstehen, dass geklärt werden soll, ob das Unionsrecht und insbesondere dessen Bestimmungen über die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angesprochenen Zahlungen für Agrarumweltmaßnahmen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der zum einen die Zulässigkeit eines Antrags auf Agrarumweltbeihilfe voraussetzt, dass der Antragsteller der Zahlstelle spätestens bei der Einreichung seines Beihilfeantrags ein Dokument wie die in Rede stehende Bescheinigung vorlegt, und die zum anderen bei nicht fristgerechter Vorlage dieses Dokuments als Sanktion für den Antragsteller vorsieht, dass sein Antrag insgesamt abgelehnt und sein Beihilfeanspruch für die drei Folgejahre gekürzt wird.
34 Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.
Zur ersten und zur zweiten Frage
35 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 23 der Verordnung Nr. 1122/2009 in Verbindung mit den Verordnungen Nr. 1698/2005 und Nr. 1975/2006 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die im Fall der Beantragung einer Agrarumweltbeihilfe verlangt, dass der Antragsteller der Zahlstelle bei der Einreichung seines Beihilfeantrags eine Bescheinigung über die seltene Pflanzenart vorlegt, die ihm den Anspruch auf Zahlung dieser Beihilfe verschafft.
36 Vorab ist festzustellen, dass es in keiner der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Verordnungen eine ausdrückliche Bestimmung gibt, die einer solchen nationalen Regelung entgegensteht.
37 In Bezug auf die Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum sieht Art. 74 der Verordnung Nr. 1698/2005 vor, dass die Mitgliedstaaten bei jedem dieser Programme ein System einrichten müssen, das ihre wirksame Kontrolle ermöglicht.
38 Insbesondere haben die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1975/2006 dafür Sorge zu tragen, dass alle durch gemeinschaftliche oder einzelstaatliche Rechtsvorschriften oder in den Programmen zur Entwicklung des ländlichen Raums aufgestellten Förderkriterien anhand von überprüfbaren Indikatoren, die von den Mitgliedstaaten festzulegen sind, kontrolliert werden können. Nach Art. 5 Abs. 3 muss mittels dieser Indikatoren insbesondere überprüft werden können, dass niemand die Zahlungen missbräuchlich erhalten und einen den Zielen der betreffenden Stützungsregelung zuwiderlaufenden Vorteil erwirken kann.
39 Insoweit können nach den in Art. 10 der Verordnung Nr. 1975/2006 vorgesehenen allgemeinen Grundsätzen für die Kontrollen von Beihilfe- und Zahlungsanträgen die Mitgliedstaaten für jede Stützungsmaßnahme die geeigneten Methoden und Instrumente zur Überprüfung der Fördervoraussetzungen frei festlegen. Art. 10 Abs. 4 bestimmt, dass die Erfüllung der Förderkriterien durch Verwaltungs- und Vor-Ort-Kontrollen überprüft wird. Nach Art. 11 der Verordnung Nr. 1975/2006 werden alle Anträge auf Fördermittel und Zahlungsanträge einer Verwaltungskontrolle unterzogen, die sich auf alle Elemente bezieht, deren Überprüfung mit verwaltungstechnischen Mitteln möglich und angemessen ist.
40 Im vorliegenden Fall machen die Behörde und die ungarische Regierung geltend – wobei es Sache des vorlegenden Gerichts ist, dies zu prüfen –, dass die Vorlage der in Rede stehenden Bescheinigung eine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Beihilfeantrags sei, die das nationale Recht vorsehe, um den zuständigen Stellen eine Ex-ante-Überprüfung zu ermöglichen, ob der Antragsteller für eine bestimmte Beihilferegelung in Betracht komme, und dadurch die Wirksamkeit der Kontrolle zu erhöhen. Dabei sorgt das Erfordernis der gleichzeitigen Vorlage einer solchen Bescheinigung mit dem Beihilfeantrag dafür, dass Zahlungen nicht vor dem Abschluss der Kontrollen getätigt werden und auf diese Weise im Einklang mit dem im vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1975/2006 zum Ausdruck kommenden Willen des Unionsgesetzgebers die abschreckende Wirkung der Kontrollen gewährleistet wird.
41 Folglich fällt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, nach der zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Antrags auf Agrarumweltbeihilfe gehört, dass der Antragsteller der Zahlstelle spätestens bei der Einreichung seines Beihilfeantrags eine Bescheinigung der in Rede stehenden Art vorlegt, in das den Mitgliedstaaten nach den Art. 5, 10 und 11 der Verordnung Nr. 1975/2006 zustehende Ermessen und trägt zu dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel bei, die Wirksamkeit der Kontrollen zu gewährleisten.
42 Die von den Mitgliedstaaten im Rahmen ihres Ermessens ergriffenen Maßnahmen dürfen jedoch nicht die praktische Wirksamkeit der Bestimmungen der Verordnungen Nr. 1698/2005, Nr. 1975/2006 und Nr. 1122/2009 sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit (vgl. entsprechend Urteil Bonn Fleisch, C‑1/06, EU:C:2007:396, Rn. 40) und der Rechtssicherheit (vgl. entsprechend Beschluss Dél-Zempléni Nektár Leader Nonprofit, C‑24/13, EU:C:2014:40, Rn. 31 und 32), beeinträchtigen.
43 Erstens macht der Kläger des Ausgangsverfahrens in seinen schriftlichen Erklärungen geltend, diese Regelung sei unverhältnismäßig, da sie eine Frist vorsehe, nach deren Ablauf keine Mängelbehebung möglich sei, wenn die in Rede stehende Bescheinigung nicht fristgerecht habe beigefügt werden können.
44 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach den Erwägungsgründen 19 und 28 der Verordnung Nr. 1122/2009 die Festsetzung von Fristen für die Einreichung der Beihilfeanträge und der Belegdokumente unerlässlich ist, um das mit dem Unionsrecht im Bereich von Agrarbeihilfen verfolgte Ziel eines effizienten Verwaltungs- und Kontrollsystems zu erreichen.
45 Allerdings sieht Art. 23 der Verordnung Nr. 1122/2009 ausdrücklich vor, dass im Rahmen der Verfahren für die Einreichung dieser Anträge und Belegdokumente über die von den Mitgliedstaaten festgesetzte Frist hinaus eine zusätzliche Frist von 25 Tagen vorzusehen ist, binnen deren vorbehaltlich der Anwendung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Sanktion eine verspätete Einreichung möglich ist.
46 Die Behörde hat aber in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung im Einklang mit Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1122/2009 eine zusätzliche Frist von 25 Tagen für die verspätete Einreichung der in Rede stehenden Bescheinigung gewähre; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
47 Was zweitens den vom Kläger des Ausgangsverfahrens gerügten Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit durch die Änderung der Modalitäten für die Einreichung von Dokumenten wie der in Rede stehenden Bescheinigung im Jahr 2010 angeht, gebietet dieser Grundsatz, dass eine Regelung, die nachteilige Folgen für Einzelne hat, klar und bestimmt und ihre Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sein muss (Beschluss Dél-Zempléni Nektár Leader Nonprofit, C‑24/13, EU:C:2014:40, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Einzelne nicht auf das völlige Ausbleiben von Gesetzesänderungen vertrauen, sondern nur die Modalitäten der Durchführung einer solchen Änderung beanstanden kann. Insoweit erfordert der Grundsatz der Rechtssicherheit insbesondere, dass der Gesetzgeber die besondere Situation der Wirtschaftsteilnehmer berücksichtigt und gegebenenfalls die Anwendung der neuen Rechtsvorschriften entsprechend anpasst (Beschluss Dél-Zempléni Nektár Leader Nonprofit, C‑24/13, EU:C:2014:40, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht zu beurteilen, ob die Modalitäten des Inkrafttretens der im Ausgangsverfahren fraglichen neuen nationalen Regelung es den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern gestatteten, ihre Anforderungen unter angemessenen Bedingungen zu erfüllen, und es insbesondere dem Kläger des Ausgangsverfahrens erlaubten, die in Rede stehende Bescheinigung innerhalb der in dieser geänderten nationalen Regelung gesetzten Frist zu beantragen, zu erhalten und einzureichen.
50 Dabei muss das vorlegende Gericht insbesondere prüfen, ob das Erfordernis einer Bescheinigung über seltene Pflanzenarten, wie das Büro geltend macht, nicht neu ist und ob die neue Regelung für die Beantragung der Bescheinigung bei den zuständigen Stellen keine zwingende Frist vorsah, und es muss diese Gesichtspunkte gegebenenfalls bei seiner Beurteilung berücksichtigen.
51 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 23 der Verordnung Nr. 1122/2009 in Verbindung mit den Verordnungen Nr. 1698/2005 und Nr. 1975/2006 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die im Fall der Beantragung einer Agrarumweltbeihilfe verlangt, dass der Antragsteller der Zahlstelle bei der Einreichung seines Beihilfeantrags eine Bescheinigung über die seltene Pflanzenart vorlegt, die ihm den Anspruch auf Zahlung dieser Beihilfe verschafft, sofern diese Regelung es den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern gestattete, ihre Anforderungen unter angemessenen Bedingungen zu erfüllen; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Zu den Fragen 3 bis 5
52 Mit seinen Fragen 3 bis 5, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Sanktion im Fall der Beantragung einer Agrarumweltbeihilfe anwendbar ist, wenn der Antragsteller es versäumt, seinem Beihilfeantrag ein Dokument wie die in Rede stehende Bescheinigung beizufügen.
53 Vorab ist hervorzuheben, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens darüber streiten, aus welchen Gründen der Kläger des Ausgangsverfahrens die in Rede stehende Bescheinigung nicht innerhalb der in der nationalen Regelung festgelegten Frist vorlegte. Der Kläger des Ausgangsverfahrens führt dies auf einen Fall höherer Gewalt zurück, der ihn daran gehindert habe, die fragliche Pflanzenart auszusäen und die Bescheinigung rechtzeitig zu erlangen. Die Behörde macht geltend, die Bescheinigung hätte vor der Aussaat dieser Pflanzenart eingeholt und somit fristgerecht vorgelegt werden können.
54 Unstreitig ist jedoch, dass das Versäumnis des Klägers des Ausgangsverfahrens auf der Grundlage des Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 geahndet wurde, der Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von „zu viel angemeldeten“ Flächen im Rahmen von Beihilfeanträgen nach der flächenbezogenen Beihilferegelung betrifft. Der dem Kläger des Ausgangsverfahrens zur Last gelegte Verstoß betrifft aber keine Verpflichtung im Zusammenhang mit der Größe der im Beihilfeantrag angegebenen Fläche, sondern die Verpflichtung zur fristgerechten Vorlage der in Rede stehenden Bescheinigung, die belegt, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Beihilfe erfüllt sind.
55 Dieser Verstoß fällt daher nicht unter Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009, sondern unter deren Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3, denn dort sind, wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt, spezielle Sanktionen für solche Verstöße vorgesehen.
56 Nach der letztgenannten Bestimmung werden bei Einreichung eines solchen Dokuments nach dem festgesetzten Termin, außer in Fällen höherer Gewalt und außergewöhnlicher Umstände, die nach dem betreffenden Antrag zu zahlenden Beihilfebeträge um 1 % je Arbeitstag der Verspätung gekürzt. Zudem sieht diese Bestimmung vor, dass bei einer Verspätung von mehr als 25 Kalendertagen der Antrag als unzulässig anzusehen ist.
57 Folglich sieht Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, in der ein Antragsteller die in Rede stehende Bescheinigung weder innerhalb der Frist für die Einreichung seines Beihilfeantrags noch innerhalb der zusätzlichen Frist von 25 Tagen für die verspätete Einreichung dieses Antrags und der dazugehörigen Belegdokumente vorgelegt hat, als einzige Sanktion vor, dass der Zahlungsantrag für unzulässig zu erklären ist.
58 Da die Frage, ob der dem Kläger des Ausgangsverfahrens vorgeworfene Verstoß auf einem Fall höherer Gewalt beruht und ob er infolgedessen der in Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 vorgesehenen Sanktion entgehen könnte, eine Tatsachenwürdigung betrifft, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dieser Verstoß auf außerhalb der Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers liegenden, ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Umständen beruht, deren Folgen trotz aller von ihm aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Parras Medina, C‑208/01, EU:C:2002:593, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Demnach ist auf die Fragen 3 bis 5 zu antworten, dass Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Sanktion im Fall der Beantragung einer Agrarumweltbeihilfe nicht anwendbar ist, wenn der Antragsteller es versäumt, seinem Beihilfeantrag ein Dokument wie die in Rede stehende Bescheinigung beizufügen. Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein solches Versäumnis grundsätzlich zur Unzulässigkeit des Antrags auf Zahlung der Agrarumweltbeihilfe führt.
Kosten
60 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor ist in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 473/2009 des Rates vom 25. Mai 2009 geänderten Fassung und mit der Verordnung (EG) Nr. 1975/2006 der Kommission vom 7. Dezember 2006 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1698/2005 hinsichtlich der Kontrollverfahren und der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen bei Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums in der durch die Verordnung (EG) Nr. 484/2009 der Kommission vom 9. Juni 2009 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die im Fall der Beantragung einer Agrarumweltbeihilfe verlangt, dass der Antragsteller der Zahlstelle bei der Einreichung seines Beihilfeantrags eine Bescheinigung über die seltene Pflanzenart vorlegt, die ihm den Anspruch auf Zahlung dieser Beihilfe verschafft, sofern diese Regelung es den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern gestattete, ihre Anforderungen unter angemessenen Bedingungen zu erfüllen; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
2. Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Sanktion im Fall der Beantragung einer Agrarumweltbeihilfe nicht anwendbar ist, wenn der Antragsteller es versäumt, seinem Beihilfeantrag ein Dokument wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bescheinigung beizufügen, das ihm den Anspruch auf Zahlung dieser Beihilfe verschafft. Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein solches Versäumnis grundsätzlich zur Unzulässigkeit des Antrags auf Zahlung der Agrarumweltbeihilfe führt.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 10. Dezember 2015.#Canon Europa NV gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Zollunion und Gemeinsamer Zolltarif – Verordnung (EU) Nr. 861/2010 – Nichtigkeitsklage – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht – Überlassung der Waren und Mitteilung des Abgabenbetrags – Verwendung vereinfachter Verfahren und Einsatz von Mitteln der Datenverarbeitung.#Rechtssache C-552/14 P.
|
62014CJ0552
|
ECLI:EU:C:2015:804
| 2015-12-10T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
|
EUR-Lex - CELEX:62014CJ0552 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 3. Dezember 2015.#Republik Polen gegen Europäische Kommission.#EAGFL – Abteilung Garantie – EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Entwicklung des ländlichen Raums – Von Polen getätigte Ausgaben – Art. 33b der Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 – Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1258/1999 – Art. 31 der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 – Gemischte Finanzkorrektur – Begründungspflicht.#Rechtssache T-367/13.
|
62013TJ0367
|
ECLI:EU:T:2015:933
| 2015-12-03T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0367 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 11. November 2015.#Hellenische Republik gegen Europäische Kommission.#EAGFL – Abteilung Garantie – EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Angemessene Verfahrensdauer – Fehlende Schlüsselkontrollen – Extrapolation der Feststellung von Mängeln.#Rechtssache T-550/13.
|
62013TJ0550
|
ECLI:EU:T:2015:835
| 2015-11-11T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0550 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 18. November 2015. # Government of Malaysia gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM). # Rechtssache T-508/13.
|
62013TJ0508
|
ECLI:EU:T:2015:861
| 2015-11-18T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62013TJ0508
URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
18. November 2015 (*1)
„Gemeinschaftsmarke — Widerspruchsverfahren — Anmeldung der Gemeinschaftsbildmarke HALAL MALAYSIA — Nicht eingetragene ältere Bildmarke HALAL MALAYSIA — Relatives Eintragungshindernis — Keine gemäß dem Recht des Mitgliedstaats vor dem Zeitpunkt der Anmeldung der Gemeinschaftsmarke erworbenen Rechte an dem älteren Zeichen — Art. 8 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 — Benutzung der älteren Marke als Gütesiegel — Regeln des Common Law für die Klage wegen Kennzeichenverletzung (action for passing off) — Kein Goodwill“
In der Rechtssache T‑508/13
Government of Malaysia, Prozessbevollmächtigte: zunächst R. Volterra, Solicitor, R. Miller, Barrister, V. von Bomhard und T. Heitmann, avocats, dann R. Volterra, R. Miller und V. von Bomhard,
Kläger,
gegen
Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM), vertreten durch P. Bullock und N. Bambara als Bevollmächtigte,
Beklagter,
andere Beteiligte des Verfahrens vor der Beschwerdekammer des HABM:
Paola Vergamini, wohnhaft in Castelnuovo di Garfagnana (Italien),
betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Ersten Beschwerdekammer des HABM vom 27. Juni 2013 (Sache R 326/2012‑1) zu einem Widerspruchsverfahren zwischen dem Government of Malaysia und Paola Vergamini
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek sowie der Richterin I. Labucka (Berichterstatterin) und des Richters V. Kreuschitz,
Kanzler: I. Dragan, Verwaltungsrat,
aufgrund der am 20. September 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,
aufgrund der am 17. Dezember 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung,
aufgrund der am 16. April 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Erwiderung,
auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2015
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Am 25. Mai 2010 meldete Frau Paola Vergamini, andere Beteiligte des Verfahrens vor der Beschwerdekammer des HABM, gemäß der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. L 78, S. 1) beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) eine Gemeinschaftsmarke an.
2 Dabei handelt es sich um folgendes Bildzeichen:
3 Die Marke wurde für folgende Waren der Klassen 5, 18, 25, 29, 30, 31, 32 und 43 des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung angemeldet:
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Klasse 5: „Pharmazeutische und veterinärmedizinische Erzeugnisse; Sanitärprodukte für medizinische Zwecke; diätetische Erzeugnisse für medizinische Zwecke, Babykost; Pflaster; Verbandmaterial; Desinfektionsmittel; Mittel zur Vertilgung von schädlichen Tieren; Fungizide, Herbizide“;
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Klasse 18: „Leder und Lederimitationen sowie Waren daraus, soweit sie nicht in anderen Klassen enthalten sind; Häute und Felle, Reise- und Handkoffer; Regenschirme, Sonnenschirme und Spazierstöcke; Peitschen, Pferdegeschirre und Sattlerwaren“;
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Klasse 25: „Bekleidungsstücke, Schuhwaren, Kopfbedeckungen“;
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Klasse 29: „Fleisch, Fisch, Geflügel und Wild; Fleischextrakte; konserviertes, gefrorenes, getrocknetes und gekochtes Obst und Gemüse; Gallerten (Gelees), Konfitüren, Marmeladen, Kompotte; Eier, Milch und Milchprodukte; Speiseöle und ‑fette“;
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Klasse 30: „Kaffee, Tee, Kakao, Zucker, Reis, Tapioka, Sago, Kaffee-Ersatzmittel; Mehle und Getreidepräparate, Brot, feine Backwaren und Konditorwaren, Speiseeis; Honig, Melassesirup; Hefe, Backpulver; Salz, Senf; Essig, Saucen (Würzmittel); Gewürze; Kühleis“;
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Klasse 31: „Land-, garten- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse sowie Samenkörner, soweit sie nicht in anderen Klassen enthalten sind; lebende Tiere; frisches Obst und Gemüse; Sämereien, lebende Pflanzen und natürliche Blumen; Futtermittel; Malz“;
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Klasse 32: „Biere; Mineralwässer; Mineralwässer und kohlensäurehaltige Getränke und andere alkoholfreie Getränke; Fruchtgetränke und Fruchtsäfte; Sirupe und andere Präparate für die Zubereitung von Getränken“;
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Klasse 43: „Verpflegung und Bewirtung von Gästen; Beherbergung von Gästen“.
4 Die Anmeldung der Gemeinschaftsmarke wurde im Blatt für Gemeinschaftsmarken Nr. 127/2010 vom 13. Juli 2010 veröffentlicht.
5 Am 13. Oktober 2010 legte der Kläger, das Government of Malaysia, gemäß Art. 41 der Verordnung Nr. 207/2009 gegen die Eintragung der angemeldeten Marke vollumfänglich Widerspruch ein.
6 Der Widerspruch war auf die Widerspruchsgründe des Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und b und Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 gestützt.
7 Zur Begründung des Widerspruchs wurde das im Folgenden dargestellte Bildzeichen angeführt, das nach Ansicht des Klägers für die Zwecke von Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 207/2009 „notorisch bekannt“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung in Verbindung mit Art. 6bis der Pariser Übereinkunft zum Schutze des gewerblichen Eigentums vom 20. März 1883 in der überarbeiteten und geänderten Fassung und für die Zwecke von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung eine im Vereinigten Königreich nicht eingetragene Marke ist, deren Benutzung der Kläger für eine Reihe von Waren und Dienstleistungen, darunter Lebensmittel, beansprucht:
8 Am 16. Dezember 2011 wies die Widerspruchsabteilung den Widerspruch in vollem Umfang zurück. Erstens war sie der Ansicht, dass die notorische Bekanntheit des älteren Zeichens im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 207/2009 in keinem Mitgliedstaat der Europäischen Union bewiesen worden sei. Zweitens befand sie bei der Bewertung der Kriterien für die Anwendung von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung, dass die vom Kläger vorgelegten Beweise nicht für den Schluss ausreichten, dass die nicht angemeldete Marke des Klägers am Tag der Anmeldung der angefochtenen Marke den im Vereinigten Königreich erforderlichen „Goodwill“ (Anziehungskraft auf Kunden) erworben hatte.
9 Am 14. Februar 2012 legte der Kläger gegen die Entscheidung der Widerspruchsabteilung nach den Art. 58 bis 64 der Verordnung Nr. 207/2009 beim HABM Beschwerde ein.
10 Mit Entscheidung vom 27. Juni 2013 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Erste Beschwerdekammer des HABM die Beschwerde zurück.
11 Zu dem in Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 genannten Widerspruchsgrund war die Beschwerdekammer der Ansicht, es sei nicht dargetan worden, dass die unerlaubte Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich in Bezug auf Zeichen begangen werden könne, die als Gütesiegel fungierten. Sie wies jedoch darauf hin, dass in Anbetracht der „erweiterten“ Form der Klage wegen Kennzeichenverletzung, die von der nationalen Rechtsprechung anerkannt sei und es mehreren Wirtschaftsteilnehmern erlaube, über Rechte an einem Zeichen zu verfügen, das Ansehen auf dem Markt genieße, diese unerlaubte Handlung in Bezug auf den erworbenen Goodwill betreffend ein Zeichen, das als Gütesiegel fungiere, begangen werden könne. Sodann stellte sie fest, dass die vom Kläger vorgelegten Beweise nicht ausreichten, um unter den Umständen des vorliegenden Falles sicher folgern zu können, dass die Vermarktungstätigkeiten zu dem erforderlichen Goodwill bei den maßgeblichen Verkehrskreisen geführt hätten. Schließlich stellte sie fest, dass ohne Nachweis des Goodwill, der eines der kumulativen Tatbestandsmerkmale dieser unerlaubten Handlung sei, dem auf diese Bestimmung gestützten Widerspruch nicht stattgegeben werden könne.
12 Zu den in Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 207/2009 genannten Widerspruchsgründen hat die Beschwerdekammer festgestellt, dass der Kläger nicht die notorische Bekanntheit des älteren Zeichens in der Union dargetan habe und dass insbesondere keiner der vorgelegten Beweise hinreichend belege, dass den maßgeblichen Verkehrskreisen dieses Zeichen zum maßgeblichen Zeitpunkt, d. h. am 25. Mai 2010, bekannt gewesen sei.
Anträge der Parteien
13 Der Kläger beantragt,
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die angefochtene Entscheidung aufzuheben;
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dem HABM die Kosten aufzuerlegen.
14 Das HABM beantragt,
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die Klage abzuweisen;
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dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zur Zulässigkeit des Vorbringens des HABM
15 In der Erwiderung trägt der Kläger vor, die vom HABM in der Klagebeantwortung vorgetragenen neuen Punkte seien nach Art. 135 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 und nach der Rechtsprechung unzulässig. Er bezieht sich dabei insbesondere auf den folgenden Vortrag:
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Die Benutzung des älteren Zeichens erfülle nicht die Anforderungen von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009;
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der vom Recht des Vereinigten Königreichs für die unerlaubte Handlung der Kennzeichenverletzung geforderte Goodwill könne nur bestehen, wenn er ein Vermögensgegenstand eines Unternehmens sei, und gehöre im vorliegenden Fall den Importeuren, den Zwischenhändlern und den Einzelhändlern;
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die Rechtsprechung von 1984 habe eine Mindestschwelle für Verkäufe festgelegt, damit der vom Recht des Vereinigten Königreichs für die unerlaubte Handlung der Kennzeichenverletzung geforderte Goodwill entstehen könne.
16 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Klage beim Gericht auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der von den Beschwerdekammern des HABM erlassenen Entscheidungen im Sinne von Art. 65 der Verordnung Nr. 207/2009 gerichtet ist. Des Weiteren können gemäß Art. 135 § 4 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 die Schriftsätze der Parteien den vor der Beschwerdekammer verhandelten Streitgegenstand nicht ändern.
17 Im vorliegenden Fall hat sich die Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung auf die Feststellung beschränkt, das ältere Zeichen habe nicht den vom Recht des Vereinigten Königreichs für die Klage wegen Kennzeichenverletzung geforderten Goodwill vor dem Zeitpunkt der Anmeldung der Gemeinschaftsmarke erworben, und hat nicht die anderen in Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 vorgesehenen Voraussetzungen geprüft. Da die Beschwerdekammer die Frage, ob das ältere Zeichen im geschäftlichen Verkehr von mehr als lediglich örtlicher Bedeutung benutzt worden ist, nicht in der Sache geprüft hat, kommt es dem Gericht nicht zu, sie erstmals im Rahmen seiner Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung zu untersuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2011, Völkl/HABM – Marker Völkl [VÖLKL], T‑504/09, Slg, EU:T:2011:739, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher ist diese Rüge unzulässig.
18 Zu dem weiteren Vorbringen des HABM betreffend die Voraussetzungen der Klage wegen Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich ist festzustellen, dass es der Vervollständigung der von der Beschwerdekammer geprüften Fragen dient und daher für zulässig zu erklären ist.
Zur Begründetheit
19 Die Klägerin macht als einzigen Klagegrund einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 geltend. Dieser Klagegrund gliedert sich in zwei Teile.
Vorbemerkungen
20 Nach Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 kann der Inhaber eines Kennzeichens der Eintragung einer Gemeinschaftsmarke widersprechen, wenn dieses vier Voraussetzungen erfüllt. Das geltend gemachte Zeichen muss im geschäftlichen Verkehr benutzt werden, es muss von mehr als lediglich örtlicher Bedeutung sein, das Kennzeichenrecht muss nach dem Recht des Mitgliedstaats erworben worden sein, in dem das Zeichen vor dem Tag der Anmeldung der Gemeinschaftsmarke benutzt wurde, und das Zeichen muss schließlich seinem Inhaber die Befugnis verleihen, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen. Diese vier Voraussetzungen beschränken die Zahl der sonstigen Zeichen, die geltend gemacht werden können, um die Eintragung einer gültigen Gemeinschaftsmarke für das gesamte Unionsgebiet gemäß Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. März 2009, Moreira da Fonseca/HABM – General Óptica [GENERAL OPTICA], T‑318/06 bis T‑321/06, Slg, EU:T:2009:77, Rn. 32). Diese Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, so dass, wenn ein Zeichen eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, einem Widerspruch, der auf eine nicht eingetragene Marke oder andere im geschäftlichen Verkehr benutzte Kennzeichnungsrechte im Sinne von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 gestützt wird, der Erfolg versagt bleibt (Urteil vom 30. Juni 2009, Danjaq/HABM – Mission Productions [Dr. No], T‑435/05, Slg, EU:T:2009:226, Rn. 35).
21 Die ersten beiden Voraussetzungen, d. h. diejenigen der Benutzung und der nicht lediglich örtlichen Bedeutung des älteren Zeichens, ergeben sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 und sind daher im Licht des Unionsrechts auszulegen. So stellt die Verordnung Nr. 207/2009 einheitliche Maßstäbe für die Benutzung der Zeichen und ihre Bedeutung auf, die mit den Grundsätzen in Einklang stehen, die dem durch diese Verordnung aufgestellten System zugrunde liegen (Urteil GENERAL OPTICA, oben in Rn. 20 angeführt, EU:T:2009:77, Rn. 33).
22 Demgegenüber ergibt sich aus der Wendung „wenn und soweit nach dem für den Schutz des Kennzeichens maßgeblichen Recht … des Mitgliedstaats“, dass die beiden weiteren, in Art. 8 Abs. 4 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 207/2009 genannten Voraussetzungen im Unterschied zu den vorangehenden gemäß dieser Verordnung nach Kriterien zu beurteilen sind, die das Recht festlegt, dem das geltend gemachte Kennzeichen unterliegt. Dieser Verweis auf das Recht, dem das geltend gemachte Kennzeichen unterliegt, ist deshalb völlig gerechtfertigt, weil die Verordnung Nr. 207/2009 für außerhalb des Systems der Gemeinschaftsmarke stehende Zeichen die Möglichkeit einräumt, sie gegen eine Gemeinschaftsmarke anzuführen. Somit lässt sich nur anhand des Rechts des Mitgliedstaats, dem das geltend gemachte Zeichen unterliegt, feststellen, ob dieses älter als die Gemeinschaftsmarke ist und ob es ein Verbot der Benutzung einer jüngeren Marke rechtfertigen kann (Urteil GENERAL OPTICA, oben in Rn. 20 angeführt, EU:T:2009:77, Rn. 34).
23 Der Widersprechende muss belegen, dass das in Rede stehende Kennzeichen in den Anwendungsbereich des geltend gemachten Rechts des Mitgliedstaats fällt und es erlauben würde, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juni 2007, Budějovický Budvar/HABM – Anheuser-Busch [BUDWEISER], T‑53/04 bis T‑56/04, T‑58/04 und T‑59/04, EU:T:2007:167, Rn. 74].
Zum ersten Teil des einzigen Klagegrundes: fehlerhafte Auslegung der Tatbestandsmerkmale der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich
24 Dieser erste Teil gliedert sich in drei Rügen.
25 Zur ersten Rüge, wonach die Beschwerdekammer die Tatbestandsmerkmale der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich fehlerhaft ausgelegt und angewandt habe, indem sie nicht anerkannt habe, dass die ältere Marke unter die „klassische“ Form dieser unerlaubten Handlung falle, trägt der Kläger vor, zum einen habe die Beschwerdekammer nicht zugestanden, dass er bewiesen habe, dass diese unerlaubte Handlung für Zeichen gelte, die als Gütesiegel fungierten, und zum anderen habe sie den Widerspruch anhand der Annahme geprüft, dass er auf diese unerlaubte Handlung in ihrer „erweiterten“ Form gestützt sei, was die Prüfung der Tatsachen und der Beweise im vorliegenden Fall negativ beeinflusst habe.
26 Zudem gehörten in der „klassischen“ Form der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich das Ansehen und der Goodwill der in Rede stehenden Marke ausschließlich dem Anmelder. Demgegenüber gehörten in der „erweiterten“ Form dieser unerlaubten Handlung das Ansehen und der Goodwill der in Rede stehenden Marke nicht ausschließlich dem Anmelder, sondern mehreren selbständigen Wirtschaftsteilnehmern eines Bereichs, die jeweils ihre Rechte in vollem Umfang gegenüber Dritten geltend machen könnten.
27 Der Widerspruch sei auf die „klassische“ Form der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich gestützt, da die drei grundlegenden Elemente der unerlaubten Handlung in dieser Form vorlägen, nämlich der erlangte Goodwill, die irreführende Präsentationsweise und die Schädigung des Goodwill. Darüber hinaus bestehe kein Zweifel, dass diese unerlaubte Handlung für Gütesiegel gelte.
28 Das HABM tritt diesem Vorbringen entgegen.
29 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass er in der Zwischenzeit sein Gütesiegel gemäß Art. 6ter der Pariser Übereinkunft zum Schutze des gewerblichen Eigentums eingetragen und mitgeteilt habe.
30 Insoweit ist zum einen zu beachten, dass, da das HABM keine Tatsachen berücksichtigen kann, die die Beteiligten vor ihm nicht vorgetragen haben, die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidungen auf der Grundlage solcher Tatsachen nicht angefochten werden kann. Daher kann auch das Gericht keine Beweise für solche Tatsachen berücksichtigen (Urteil vom 18. Juli 2006, Rossi/HABM, C‑214/05 P, Slg, EU:C:2006:494, Rn. 52). Zum anderen ist zu beachten, dass Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 seinem Wortlaut nach nur auf Widerspruch des Inhabers einer nicht eingetragenen Marke oder eines sonstigen im geschäftlichen Verkehr benutzten Kennzeichenrechts von mehr als lediglich örtlicher Bedeutung angewandt werden kann.
31 Im vorliegenden Fall ist das für die nicht eingetragene ältere Marke geltende Recht eines Mitgliedstaats der Trade Marks Act 1994 (Markengesetz des Vereinigten Königreichs), dessen Section 5 (4) bestimmt:
„Eine Marke ist von der Eintragung ausgeschlossen, wenn oder soweit ihre Benutzung im Vereinigten Königreich untersagt werden kann
a)
gemäß einer Rechtsregel (insbesondere dem Recht der Kennzeichenverletzung [law of passing off]) zum Schutz einer nicht eingetragenen Marke oder eines sonstigen im geschäftlichen Verkehr benutzten Kennzeichenrechts …“
32 Aus Section 5 (4) des Trade Marks Act 1994 in seiner Auslegung durch die nationalen Gerichte ergibt sich, dass der Kläger gemäß den Rechtsregeln, die für die im Recht des Vereinigten Königreichs vorgesehene Klage wegen Kennzeichenverletzung gelten, nachweisen muss, dass drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich der erworbene Goodwill, die irreführende Präsentationsweise und die Schädigung des Goodwill (Urteil vom 18. Januar 2012, Tilda Riceland Private/HABM – Siam Grains [BASmALI], T‑304/09, Slg, EU:T:2012:13, Rn. 19).
33 Daher ist im vorliegenden Fall als Erstes zu prüfen, ob das ältere Zeichen, das vom Kläger als ein Gütesiegel dargestellt worden ist, das die zertifizierten Waren von den nicht zertifizierten unterscheide, als Grundlage für eine Klage wegen Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich dienen kann. Nach Ansicht der Beschwerdekammer hat der Kläger nicht, wie es ihm oblegen hätte, bewiesen, dass die unerlaubte Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich für die Zeichen gilt, die als Gütesiegel fungieren,.
34 Insoweit hat das Gericht bereits festgestellt, dass nach der nationalen Rechtsprechung ein Kennzeichen für Waren oder Dienstleistungen ein Ansehen auf dem Markt im Sinne der für die Klage wegen Kennzeichenverletzung geltenden Regeln besitzen kann (Urteile vom 11. Juni 2009, Last Minute Network/HABM – Last Minute Tour [LAST MINUTE TOUR], T‑114/07 und T‑115/07, Slg, EU:T:2009:196, Rn. 84, und BASmALI, oben in Rn. 32 angeführt, EU:T:2012:13, Rn. 28).
35 Darüber hinaus wurde bereits entschieden, dass sich aus der nationalen Rechtsprechung – insbesondere aus der oben in Rn. 34 angesprochenen – ergibt, dass ein Zeichen für Waren oder Dienstleistungen ein Ansehen auf dem Markt im Sinne der für die Klage wegen Kennzeichenverletzung geltenden Rechtsvorschriften besitzen kann, obgleich es von mehreren Wirtschaftsteilnehmern benutzt wird. Daraus folgt, dass diese Wirtschaftsteilnehmer nach einer in der nationalen Rechtsprechung anerkannten „erweiterten“ Form dieser Klage wegen Kennzeichenverletzung über ihre Rechte an einem Kennzeichen verfügen können, das ein Ansehen auf dem Markt erlangt hat (Urteil BASmALI, oben in Rn. 32 angeführt, EU:T:2012:13, Rn. 28).
36 Somit ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass das ältere Zeichen insofern, als es dazu dient, die mit ihm zertifizierten Waren oder Dienstleistungen zu bezeichnen, als Gütesiegel den vom Recht des Vereinigten Königreichs als Tatbestandsmerkmal der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung geforderten Goodwill erlangt haben kann.
37 Allerdings stellt sich noch die Frage, ob der Kläger als Verwalter eines Zertifizierungssystems der einzige Inhaber des Goodwill im Zusammenhang mit der Vermarktung der Waren und Dienstleistungen sein muss, die mit dem in Rede stehenden Gütesiegel versehen sind.
38 Das Gericht ist der Ansicht, dass auch öffentliche Einrichtungen durch die Klage wegen Kennzeichenverletzung geschützt sein können, soweit ihre Tätigkeiten einen Goodwill schaffen können. Machen diese Einrichtungen nämlich von einem bestimmten Zeichen, das ihnen ausschließlich gehört, Gebrauch, können sie den Goodwill im Zusammenhang mit der Vermarktung der Waren und Dienstleistungen, die dieses Zeichen tragen, geltend machen. Ebenso kann der Goodwill, wenn diese Einrichtungen die Benutzung irgendeines Zeichens mit anderen Wirtschaftsteilnehmern teilen, von diesen öffentlichen Einrichtungen und den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern geltend gemacht werden. Jedenfalls konnte im vorliegenden Fall ein Goodwill geschaffen werden.
39 In dem Fall, dass ein älteres Zeichen von mehreren Wirtschaftsteilnehmern benutzt wird, ist die Inhaberschaft am Goodwill anhand der Umstände der Rechtssache zu prüfen. Daher ist für die Bestimmung, ob der Kläger der einzige Inhaber des Goodwill ist, die Anziehungskraft des Gütesiegels auf die Kunden zu bewerten.
40 Hierzu ist festzustellen, dass der Kläger die Funktionsweise seines Zertifizierungssystems, mit dem angezeigt werden soll, dass die betreffenden Waren der Scharia entsprechen, dessen Funktion, die von den Parteien, die autorisierte Benutzer seiner Marke werden möchten, entwickelten Herstellungsprozesse zu prüfen, und dessen Funktion, die Benutzung der Marke durch diese zu überwachen, um sicherzustellen, dass die Qualitätsstandards seines Systems eingehalten werden, im Detail erläutert hat. Diese Erklärungen müssen seiner Ansicht nach zu der Feststellung führen, dass die Genehmigung, die er den Benutzern für die Benutzung seiner Marke und seines Zertifizierungssystems erteilt, rechtlich gesehen einer Nutzungslizenz entspricht. Diese Benutzer seien nur die Lizenznehmer und würden weder Eigentumsrechte an der Marke noch Rechte bezüglich des Ansehens oder des Goodwill im Zusammenhang mit dieser erwerben. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger betont, dass er weder den Goodwill noch das Ansehen der Marke mit Dritten teile.
41 Daher habe, so der Kläger, die Beschwerdekammer einen Fehler begangen, indem sie festgestellt habe, dass er den mit der älteren Marke verbundenen Goodwill mit den autorisierten Benutzern teile und dass sich der Widerspruch auf die „erweiterte“ Form der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung stützen müsse. Damit habe die Beschwerdekammer fehlerhaft bestimmt, auf welche Tätigkeit sich der Goodwill beziehe.
42 Das Gericht ist der Ansicht, dass der Kläger im vorliegenden Fall in Anbetracht seines Zertifizierungssystems, mit dem angezeigt werden soll, dass die betreffenden Waren der Scharia entsprechen, von dessen Funktion, die von den Parteien, die autorisierte Benutzer seines Gütesiegels werden möchten, entwickelten Herstellungsprozesse zu prüfen, und von dessen Funktion, die Benutzung des Gütesiegels durch diese Benutzer zu überwachen, um sicherzustellen, dass die von ihm aufgestellten Qualitätsstandards eingehalten werden, als Inhaber des Goodwill anzusehen ist.
43 Die Verbraucher der Waren und die Nutzer der Dienstleistungen werden nämlich beim Anblick des vom Kläger verliehenen Gütesiegels darüber informiert, dass diese den Halal-Ernährungsregeln nach dem in Malaysia garantierten Kontrollsystem entsprechen. Außerdem ist das Gütesiegel geeignet, auf ein öffentliches, von der Regierung stammendes Profil hinzuweisen, das die Verbraucher hierüber informiert, was die ausschließliche Inhaberschaft des Klägers verstärkt und gegen eine mit anderen Wirtschaftsteilnehmern, selbst autorisierten Benutzern, geteilte Inhaberschaft spricht.
44 Jedoch ergibt sich sowohl aus Rn. 41 der angefochtenen Entscheidung als auch aus der Würdigung der Beschwerdekammer, dass das Bestehen des vom Recht des Vereinigten Königreichs für die unerlaubte Handlung der Kennzeichenverletzung, sei es in ihrer „erweiterten“ oder in ihrer „klassischen“ Form, geforderten Goodwill nicht dargetan worden ist.
45 Was das vom Kläger angeführte Halal-Zertifizierungssystem betrifft, ist im Übrigen zu beachten, dass die Beschwerdekammer dessen Bestehen nicht in Frage gestellt hat.
46 Die Beschwerdekammer hat nämlich betont, dass es keinen Beweis gebe, der – allein oder verbunden mit anderen – gesicherte und unmittelbare Schlüsse zulasse hinsichtlich der für das Vereinigte Königreich geltend gemachten Wahrnehmung des Gütesiegels des Klägers durch den Verbraucher und folglich der Erlangung des geforderten Goodwill bei den maßgeblichen Verkehrskreisen, die das zertifizierte Endprodukt kauften.
47 Der Kläger hat hingegen hervorgehoben, das HABM habe eingeräumt, dass die der Beschwerdekammer vorgelegten Beweise eine bestimmte Benutzung des Zeichens bestätigten, was das Bestehen eines gewissen Goodwill belege.
48 Hierzu ist festzustellen, dass die bestimmte Benutzung eines Zeichens, wie sie von der Beschwerdekammer in Rn. 41 der angefochtenen Entscheidung festgestellt worden ist, nicht zwingend das Bestehen eines Goodwill belegt, dass also eine bestimmte Benutzung eines bestimmten Zeichens seiner tatsächlichen Benutzung gleichkommen kann, wenn auch nicht soweit, dass von ihm eine Anziehungskraft auf die Kunden ausginge, die in diesem Fall ihre Wahl aufgrund des guten Rufes, den der Kläger gegebenenfalls erlangt hätte, treffen würden. Somit hat der Kläger unabhängig von der „klassischen“ oder „erweiterten“ Form der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im vorliegenden Fall nicht das Bestehen des Goodwill, d. h. der Anziehungskraft seines Gütesiegels auf die Kunden, bewiesen.
49 Aus keinem der vom Kläger vorgelegten Beweise ergibt sich nämlich, dass der Verbraucher das Gütesiegel des Klägers wirklich soweit kannte, dass er ihm Vorrang gegenüber den anderen Zeichen einräumte, die sich auf den mit dem Zeichen versehenen Waren befanden.
50 Daraus folgt, dass der Kläger keinerlei Goodwill des Gütesiegels dargetan hat, der eines der kumulativen Tatbestandsmerkmale der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich darstellt. Somit ist ein eventueller Fehler der Beschwerdekammer, der in der Anwendung der „erweiterten“ statt der „klassischen“ Form dieser unerlaubten Handlung läge, jedenfalls nicht geeignet, die angefochtene Entscheidung fehlerhaft zu machen.
51 Daher ist die erste Rüge zurückzuweisen.
52 Im Rahmen der zweiten Rüge trägt der Kläger vor, die Beschwerdekammer habe für die Erfüllung des ersten Tatbestandsmerkmals der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich zu Unrecht ein Mindestmaß für den „geforderten“ oder „hinreichenden“ Goodwill verlangt.
53 Was das Bestehen des Goodwill der nicht eingetragenen älteren Marke und die Frage betreffe, ob er ausreiche, so habe das Gericht dessen Umfang zu beurteilen. Sollte festgestellt werden, dass dieser Umfang begrenzt sei, könne es für den Kläger, der eine Kennzeichenverletzung geltend mache, schwieriger sein, den Beweis zu erbringen, dass die anderen Tatbestandsmerkmale der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung erfüllt seien.
54 Die Beschwerdekammer hätte den Umfang des Ansehens und des Goodwill der nicht eingetragenen älteren Marke würdigen müssen, um zu prüfen, ob das erste Tatbestandsmerkmal der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung erfüllt gewesen sei, und hätte sodann beurteilen müssen, ob die anderen Tatbestandsmerkmale der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung im Vereinigten Königreich erfüllt gewesen seien.
55 Das HABM tritt diesem Vorbringen entgegen.
56 Zum Erfordernis einer Mindestschwelle für den Goodwill ist festzustellen, dass die Gerichte im Vereinigten Königreich wenig geneigt sind, zu entscheiden, dass ein Unternehmen Kunden haben kann, aber keinen Goodwill (Urteil vom 9. Dezember 2010, Tresplain Investments/HABM – Hoo Hing [Golden Elephant Brand], T‑303/08, Slg, EU:T:2010:505, Rn. 110 bis 115).
57 Entgegen dem Vortrag des Klägers hat die Beschwerdekammer mit der Feststellung, der Vertrieb der mit diesem Gütesiegel versehenen Waren sei unabhängig von einer solchen Mindestschwelle begrenzt und ungeeignet, keine Mindestschwelle für den Goodwill seines Gütesiegels gefordert.
58 Die Beschwerdekammer hat sich nämlich auf den Umstand konzentriert, dass die vorgelegten Beweise nicht den sicheren Schluss zuließen, dass die Vermarktungstätigkeiten des Klägers den geforderten Goodwill bei den maßgeblichen Verkehrskreisen geschaffen hätten. Überdies ist festzustellen, dass sich die Beschwerdekammer, als sie in Rn. 37 der angefochtenen Entscheidung auf einen bestimmten Grad des Goodwill, nämlich „einen hinreichenden Goodwill“ verwiesen hat, nur auf das Erfordernis beziehen wollte, dass das Zeichen des Klägers bei dessen Kunden einen Goodwill genießen müsse, damit die Klage wegen Kennzeichenverletzung zulässig sei.
59 Darüber hinaus ist festzustellen, dass das HABM in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, es halte die De-minimis-Regel nicht für einschlägig, womit es der Argumentation der Beschwerdekammer gefolgt ist, die in Rn. 33 der angefochtenen Entscheidung die Wendung „unabhängig von einer eventuellen Mindestschwelle“ verwendet hat. Somit hat die Beschwerdekammer lediglich angenommen, dass der nachgewiesene Umfang des Goodwill, unabhängig von einer eventuellen Mindestschwelle, eher begrenzt und ungeeignet sei, um unter den Umständen des vorliegenden Falles sicher schließen zu können, dass die Vermarktungstätigkeiten den geforderten Goodwill bei den maßgeblichen Verkehrskreisen geschaffen hätten.
60 Aus den vorstehenden Ausführungen geht entgegen dem Vortrag des Klägers hervor, dass die Beschwerdekammer von ihm zu keinem Zeitpunkt den Beweis des Erreichens einer Mindestschwelle für den Goodwill seines Gütesiegels verlangt hat. Die Beschwerdekammer hat vielmehr nur den Beweis des Bestehens eines Goodwill als erstes Tatbestandsmerkmal der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung verlangt, da dessen Fehlen nach Ansicht der Gerichte des Vereinigten Königreichs die Prüfung der anderen Tatbestandsmerkmale der unerlaubten Handlung entbehrlich mache und dazu führe, dass die Klage wegen Kennzeichenverletzung ohne Weiteres abzuweisen sei.
61 Damit ist die zweite Rüge zurückzuweisen.
62 Zur dritten Rüge, mit der eine fehlerhafte Definition der maßgeblichen Verkehrskreise beanstandet wird, weist der Kläger darauf hin, dass im Rahmen einer Klage wegen Kennzeichenverletzung das Ansehen und der Goodwill bei allen seinen Kunden, d. h. bei den Fachkunden wie bei den Endverbrauchern, zu berücksichtigen seien. Die Beschwerdekammer habe jedoch die betreffenden Fachkunden außer Acht gelassen, zu denen in der vorliegenden Rechtssache die im Vereinigten Königreich ansässigen Einzelhändler, Großhändler und Importeure gehörten, da sie die mit der nicht eingetragenen älteren Marke versehenen Waren gekauft hätten.
63 Der Kläger trägt vor, die Absatzförderung und die Werbung für sein Zertifizierungsverfahren, die Einkäufe der Waren durch die Einzel- und Großhändler sowie die von den Unternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich getätigten Importe seien der Beweis für das Bestehen des Goodwill seines Gütesiegels.
64 Das HABM tritt diesem Vorbringen entgegen.
65 Bezüglich der maßgeblichen Verkehrskreise ist der nationalen Rechtsprechung zu entnehmen, dass bei der unerlaubten Handlung der Kennzeichenverletzung für die Beurteilung der Frage, ob die Präsentationsweise der Waren und Dienstleistungen des Beklagten irreführend ist, auf die Kunden des Klägers abzustellen ist (Urteil LAST MINUTE TOUR, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:196, Rn. 60).
66 Der mit der Klage wegen Kennzeichenverletzung geschützte Besitzstand bezieht sich nämlich nicht auf ein Wort oder einen Namen, deren Benutzung durch Dritte eingeschränkt ist, sondern auf die Kundschaft selbst, in die mit der streitigen Benutzung eingegriffen wird, da das Ansehen einer Marke in ihrer auf die Kundschaft ausgeübten Anziehungskraft besteht und das Kriterium ist, das die Unterscheidung eines eingeführten Unternehmens von einem neuen Unternehmen erlaubt (Urteil LAST MINUTE TOUR, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:196, Rn. 61).
67 Im vorliegenden Fall hat sich die Beschwerdekammer in Rn. 33 der angefochtenen Entscheidung auf die „Kunden des Widersprechenden, die die als halal zertifizierte Ware kaufen“, bezogen. Es ist zu beachten, dass die Beschwerdekammer zu keinem Zeitpunkt behauptet hat, die maßgeblichen Verkehrskreise bestünden nur aus den Endverbrauchern. Es ist nämlich festzustellen, dass die Zwischenhändler, d. h. die Einzelhändler, Großhändler und Importeure, die Waren mit dem Gütesiegel des Klägers kauften und daher genauso wie die Endverbraucher „Kunden des Widersprechenden“ waren und somit nicht vom Begriff der maßgeblichen Verkehrskreise ausgeschlossen waren.
68 Überdies weist das Gericht darauf hin, dass die Beschwerdekammer die vom Kläger vorgelegten Beweise, nämlich eine Liste der malaysischen Exporteure und der europäischen Importeure, die Zollanmeldungen einer Fracht, eine Handelsrechnung hierüber und die den Einzelhändlern ausgestellten Rechnungen geprüft hat. Daraus folgt entgegen dem Vortrag des Klägers, dass die Beschwerdekammer auch die Fachkunden berücksichtigt hat.
69 Die dritte Rüge ist folglich zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des einzigen Klagegrundes: fehlerhafte Würdigung der für das Ansehen und den Goodwill der älteren Marke im Vereinigten Königreich vorgelegten Beweise
70 Der Kläger trägt vor, dass die Beschwerdekammer bei der Würdigung der von ihm vorgelegten Beweise weder die Bedeutung, die die Fachkunden und Endverbraucher – seien sie Muslime oder nicht – seiner Marke zuschrieben, noch deren Verbreitung im Vereinigten Königreich, noch seine weltweite und internationale Tätigkeit berücksichtigt habe.
71 Die Beschwerdekammer habe zu Unrecht die Verbraucherzielgruppe seiner Marke und seines Zertifizierungsprogramms, d. h. die muslimischen Verbraucher, außer Acht gelassen, und daher sei in der angefochtenen Entscheidung zu keinem Zeitpunkt der Goodwill seines Gütesiegels bei diesen Verbrauchern, für die der Halal-Charakter einer Ware der bestimmende und ausschlaggebende Faktor bei der Verkaufsentscheidung sei, in Betracht gezogen worden.
72 Darüber hinaus hätten der Beschwerdekammer zahlreiche, sämtlich aus der Zeit vor der Anmeldung der Gemeinschaftsmarke stammende Werbeanzeigen in einer Zeitung vorgelegen, von denen die meisten an den malaysischen Exportmarkt gerichtet gewesen seien und die im Vereinigten Königreich veröffentlicht und verbreitet worden seien. Daher hätten die in dieser Zeitung enthaltenen Anzeigen mit Sicherheit irgendeine Form von Ansehen und von Goodwill des in Rede stehenden Gütesiegels bei den maßgeblichen Verkehrskreisen und den Wirtschaftsteilnehmern im Vereinigten Königreich geschaffen.
73 Das HABM tritt diesem Vorbringen entgegen.
74 Es ist festzustellen, dass das Bestehen eines Goodwill, wie die Beschwerdekammer in Rn. 29 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt hat, grundsätzlich durch die Vorlage von Nachweisen für geschäftliche und werbende Tätigkeiten, Kundenkonten usw. dargetan wird. Der Nachweis ernsthafter geschäftlicher Tätigkeiten, die in den Erwerb eines Rufes und die Gewinnung von Kunden münden, würde im Allgemeinen für den Nachweis eines Goodwill ausreichen.
75 In dieser Hinsicht hält es das Gericht als Erstes für angebracht, zu prüfen, wie die Fachkunden und die Endverbraucher – seien sie Muslime oder nicht – das Gütesiegel des Klägers wahrnehmen. Als Zweites werden die Beweise wie Publikationen, Veranstaltungen und Informationen in Bezug auf die Tätigkeit des Klägers auf internationaler Ebene zu prüfen sein, mit denen die Verbreitung der Marke im Vereinigten Königreich dargetan werden soll.
76 Als Erstes ist, was die Wahrnehmung eines beliebigen Zeichens durch die muslimischen Verbraucher betrifft, das die Beachtung der Scharia durch bestimmte Produkte bestätigt, festzustellen, dass ein derartiges Zeichen besonders die Aufmerksamkeit dieser Verbraucher auf sich ziehen kann. Diese werden jedoch zunächst auf die Ware als solche und auf die sie kennzeichnende unterscheidungskräftige Marke achten und sich erst danach vergewissern, dass die Ware die Halal-Ernährungsregeln beachtet, indem sie nach dem dies bestätigenden Zeichen suchen, nämlich der nicht eingetragenen älteren Marke oder einem gleichwertigen Zeichen. Deshalb werden diese Verbraucher das Gütesiegel des Klägers zwar bemerken, jedoch erst nach der Wahrnehmung der anderen Zeichen, mit denen die Ware oder die Dienstleistung versehen sei.
77 Daher ist, der Beschwerdekammer folgend, festzustellen, dass mit den vom Kläger vorgelegten Beweisen nicht dargetan wird, dass die muslimischen Verbraucher das in Rede stehende Gütesiegel kannten und dass es ihre Kaufentscheidung beeinflussen konnte.
78 In der mündlichen Verhandlung hat das HABM vorgetragen, dass der Halal-Markt im Vereinigten Königreich im Jahr 2010 einen sehr hohen Umsatz aufgrund der Präsenz einer sehr großen muslimischen Gemeinschaft verzeichnete. Die malaysischen Waren mit dem Gütesiegel des Klägers sind jedoch nicht die einzigen weltweit hergestellten und auch nicht die einzigen im Vereinigten Königreich vertriebenen Halal-Waren. Daher war ein Beweis, etwa eine Umsatzzahl, dass die muslimischen Verbraucher des Vereinigten Königreichs das spezifische Gütesiegel des Klägers kannten und es aktiv auf den Halal-Waren, die es tragen, suchen würden, unerlässlich, um das Bestehen des Goodwill des Gütesiegels festzustellen.
79 Was die Wahrnehmung des Gütesiegels des Klägers durch die nicht muslimischen Verbraucher betrifft, so hat dieser in der mündlichen Verhandlung erklärt, da das Vereinigte Königreich eine multikulturelle Gesellschaft sei, kenne jeder, d. h. auch diese Verbraucher, genau die Bedeutung des Wortes „halal“.
80 Nach Ansicht des Klägers wird sein Gütesiegel von den nicht muslimischen Verbrauchern als ein Qualitätssymbol und nicht nur als ein Symbol für die Beachtung der Scharia ausgelegt. Er bezieht sich insoweit auf Werbeslogans in einer Zeitung wie „The mark of Quality, Hygiene & Safety“, „Peace of mind for non-Muslims too“ und „Besides the Brand, There’s One Symbol You Can Trust“. In der mündlichen Verhandlung hat er ausgeführt, dass die Zeitung überall auf der Welt in Papierform und elektronischer Form erhältlich und nicht nur im Abonnement zugänglich sei, wie die Beschwerdekammer fehlerhaft in Rn. 38 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt habe. Daher habe die Beschwerdekammer zu Unrecht festgestellt, dass die ältere Marke den Verbrauchern, die nicht die Halal-Ernährungsregeln befolgten, nicht bekannt sei und dass es daher schwieriger sei, ihren Goodwill darzutun. Der Kläger verweist auch auf zahlreiche in dieser Zeitung veröffentlichte Artikel und auf mehrere Internetseiten. Schließlich nennt er zwei Veranstaltungen im Vereinigten Königreich, an denen er teilgenommen und bei denen er sein Gütesiegel beworben habe.
81 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 nach der Rechtsprechung nicht die „ernsthafte“ Benutzung des zur Stützung des Widerspruchs geltend gemachten Zeichens vorsieht und dass sich dem Wortlaut von Art. 42 Abs. 2 und 3 dieser Verordnung nichts dafür entnehmen lässt, dass das Erfordernis des Nachweises der ernsthaften Benutzung für ein solches Zeichen gilt. Trotzdem muss das für den Widerspruch geltend gemachte Zeichen, um die Eintragung eines neuen Zeichens auf der Grundlage des genannten Artikels verhindern zu können, tatsächlich in hinreichend bedeutsamer Weise im geschäftlichen Verkehr benutzt werden (Urteil vom 29. März 2011, Anheuser-Busch/Budějovický Budvar, C‑96/09 P, Slg, EU:C:2011:189, Rn. 159).
82 Was den maßgeblichen Zeitpunkt betrifft, zu dem der Goodwill gemäß Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 festgestellt werden muss, ist auf den Tag der Anmeldung der Gemeinschaftsmarke abzustellen, gegen die der Widerspruch eingelegt worden ist (Urteil Golden Elephant Brand, oben in Rn. 56 angeführt, EU:T:2010:505, Rn. 99). Damit ist der im vorliegenden Fall maßgebliche Zeitpunkt der 25. Mai 2010. Das Gericht stellt aber fest, dass mehrere vom Kläger angeführte Beweise für den maßgeblichen Zeitraum nicht berücksichtigt werden können.
83 Jedenfalls ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass die Beschwerdekammer zu Recht entschieden hat, dass der Kläger nicht den Beweis einer signifikanten Benutzung des Gütesiegels erbracht hat. Die vom Kläger vorgelegten Beweise reichen nämlich nicht aus, um die Anziehungskraft seines Gütesiegels auf die Kundschaft und damit den Goodwill seines Gütesiegels darzutun. Der Kläger liefert keine Beweise, anhand deren sich die Wahrnehmung dieses Gütesiegels durch die betreffenden Verkehrskreise nachvollziehen ließe. Er tut dar, dass er die Werbung und Verbreitung seines Gütesiegels sichergestellt habe, legt jedoch keine Beweise betreffend dessen Wahrnehmung durch die muslimischen und nicht muslimischen Verbraucher vor.
84 Schließlich ist, dem HABM folgend, zu betonen, dass von allen Halal-Organisationen, an die sich der Kläger mit der Bitte um Bestätigung ihrer Kenntnis seines Gütesiegels gewandt hat, nur eine geantwortet hat, was eindeutig nicht ausreicht, um den Goodwill des Gütesiegels darzutun.
85 Als Zweites ist zu bestimmen, ob die Beschwerdekammer die Beweise, mit denen die Verbreitung der nicht eingetragenen älteren Marke im Vereinigten Königreich dargetan werden soll, richtig geprüft hat
86 Was erstens den Umsatz des „Global Halal food market“ (Weltmarkt für Halal-Lebensmittel) betrifft, ist festzustellen, dass der Kläger die Umsatzzahlen für die Jahre 2004, 2005 und 2009 sowie die für das Jahr 2010 erwarteten Zahlen u. a. für Frankreich und für das Vereinigte Königreich vorgelegt hat.
87 Diese Zahlen haben jedoch, wie die Beschwerdekammer in Rn. 34 der angefochtenen Entscheidung hervorhebt, nur einen schwachen Beweiswert, da sich ihnen nicht entnehmen lässt, welcher Prozentsatz des Verkaufs von Waren während des maßgeblichen Zeitraums mit das ältere Zeichen tragenden Waren erzielt wurde. Das betreffende Dokument besagt nämlich, dass „die meisten Waren“ die ältere Marke trügen, dass die Zahl der als halal zertifizierten Unternehmen in Malaysia „jährlich weiter steigt …“ und dass das Potenzial dieser Unternehmen, die in die ganze Welt exportierten, insbesondere nach Europa, „enorm“ sei. Wegen ihrer Ungenauigkeit können diese Zahlen daher nicht berücksichtigt werden, da im Rahmen von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 der Beweis der Benutzung eines älteren Zeichens nicht durch Wahrscheinlichkeiten und Vermutungen erbracht werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2013, Dimian/HABM – Bayer Design Fritz Bayer [Baby Bambolina], T‑581/11, EU:T:2013:553, Rn. 29).
88 Was zweitens die Liste der malaysischen Exporteure und der europäischen Importeure betrifft, hat der Kläger für das Vereinigte Königreich drei Unternehmen genannt. Er hat außerdem eine zugunsten eines Importeurs ausgestellte, auf den 10. Mai 2008 datierte Exporterklärung für 1892 Kartons mit Lebensmitteln angeführt. Das Gütesiegel erscheint auf 1600 Packungen einer Ware. Er hat darüber hinaus eine zugunsten eines anderen Importeurs ausgestellte, auf den 5. Mai 2010 datierte Handelsrechnung für 14 verschiedene Waren vorgelegt, von denen eine das Gütesiegel auf 85 ihrer Packungen trug.
89 Was zunächst die zugunsten eines Importeurs ausgestellte, auf den 5. Mai 2010 datierte Handelsrechnung betrifft, hat die Beschwerdekammer zu Recht in Rn. 35 der angefochtenen Entscheidung festgestellt, dass das Rechnungsdatum die Frage aufwerfe, ob die betreffenden Waren für die Verbraucher im Vereinigten Königreich vor dem maßgeblichen Zeitraum, d. h. vor dem Zeitpunkt der Eintragung der Gemeinschaftsmarke, verfügbar gewesen seien. Jedenfalls sind selbst bei Berücksichtigung dieser Handelsrechnung nur die 85 Packungen der Ware, auf der das Gütesiegel erscheint, zu berücksichtigen. 85 Packungen sind jedoch eine offenkundig unzureichende Menge, um den Beweis der Bekanntheit des Gütesiegels bei den maßgeblichen Verkehrskreisen zu erbringen.
90 Gleiches gilt für die 1600 Kartons einer von einer anderen Gesellschaft importierten Ware. Der Kläger hat nämlich den Beweis des Verkaufs im Vereinigten Königreich nur für insgesamt 1685 Waren mit einer Verpackung, die sein Gütesiegel trug, für die Jahre 2008 und 2010 erbracht – mit einer Ungewissheit hinsichtlich des Datums des Verkaufs von 85 Waren im Jahr 2010, wie die Beschwerdekammer zu Recht in Rn. 35 der angefochtenen Entscheidung angemerkt hat. Eine solche Menge ist unerheblich und kann daher nicht ausreichen, um die Bekanntheit des Gütesiegels bei den maßgeblichen Verkehrskreisen darzutun.
91 Was drittens die Liste der Einzelhändler betrifft, ist festzustellen, dass der Kläger Supermärkte in Birmingham, Manchester, London, Croydon, Romford, Enfield und in Surrey (sämtlich im Vereinigten Königreich), Kaufhäuser in London, Birmingham und Manchester sowie Supermarktketten in verschiedenen Orten im Vereinigten Königreich angeführt hat.
92 Was die Kaufhäuser betrifft, nennt der Kläger das Bewerben der malaysischen Küche durch die malaysische Handelswerbeagentur vom 11. bis 19. September 2010. Hierfür zitiert er einen Artikel mit der Überschrift „Our food a hit at Selfridges“ (Der Erfolg unserer Waren bei Selfridges), veröffentlicht in einer Zeitung vom 15. September 2010, der ausdrücklich besagt, dass das Bewerben am Samstag, d. h. am 11. September 2010, begonnen hatte. Es ist jedoch festzustellen, wie die Beschwerdekammer in Rn. 36 der angefochtenen Entscheidung hervorhebt, dass dieser Artikel nicht das Ausmaß etwaiger Verkäufe vor dem im vorliegenden Fall maßgeblichen Zeitraum nennt. Selbst wenn man annähme, dass dieser Artikel auf das Bewerben von 22000 Lebensmittelwaren durch 16 Gesellschaften Bezug nähme, erlaubte dies nicht die Feststellung, ob die Waren vor oder nach dem maßgeblichen Zeitraum verkauft worden sind.
93 Darüber hinaus hat der Kläger bezüglich einer Supermarktkette eine Woche mit Werbeveranstaltungen im Jahr 2007 im Rahmen einer Werbekampagne für den Besuch Malaysias genannt. Es ist jedoch, wie die Beschwerdekammer zu Recht in Rn. 36 der angefochtenen Entscheidung hervorgehoben hat, festzustellen, dass der Kläger weder zu den beworbenen Waren noch zu deren Ausstattung mit seinem Gütesiegel Beweise vorgelegt hat, so dass sich nicht bestimmen lässt, ob tatsächlich Verkäufe dieser Waren stattgefunden haben.
94 Außerdem ist festzustellen, dass die Liste der Einzelhändler und die Bilder einiger von ihnen verkaufter Waren, die das Gütesiegel des Klägers trugen, es nicht ermöglichen, den wirklichen Umfang der Vermarktung und der Bekanntheit des Gütesiegels bei den maßgeblichen Verkehrskreisen zu erkennen. Darüber hinaus lässt sich dieser Liste auch nicht das Datum der Vermarktung der Waren entnehmen.
95 Was viertens die beiden oben in Rn. 80 genannten Veranstaltungen betrifft, an denen der Kläger teilgenommen hat, ist festzustellen, dass er nur zwei Bilder vorgelegt hat, von denen das eine einen Prospekt mit der Überschrift „Malaysia – Your Reliable Trading Partner“ (Malaysia – Ihr verlässlicher Handelspartner) und das andere seinen Stand im Jahr 2007 zeigt. Wie die Beschwerdekammer in Rn. 37 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt hat, lassen diese Bilder nicht die Wirkung der Teilnahme des Klägers an diesen Veranstaltungen auf die Fachleute und die Endverbraucher im Vereinigten Königreich erkennen.
96 Im Rahmen des zweiten Teils des einzigen Klagegrundes können daher die Argumente, mit denen der Kläger dartun will, dass die Beschwerdekammer die von ihm vorgelegten Beweise für das Ansehen und den Goodwill der nicht eingetragenen älteren Marke im Vereinigten Königreich fehlerhaft gewürdigt habe, keinen Erfolg haben.
97 Nach alledem ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer zu Recht befunden hat, dass der Nachweis des Bestehens eines Goodwill der nicht eingetragenen älteren Marke im Vereinigten Königreich im vorliegenden Fall nicht erbracht worden ist. Die Klage ist daher insgesamt abzuweisen.
Kosten
98 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag des HABM dessen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Government of Malaysia trägt die Kosten.
Prek
Labucka
Kreuschitz
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. November 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 11. November 2015.#Kathleen Greenfield gegen The Care Bureau Ltd.#Vorabentscheidungsersuchen des Employment Tribunal Birmingham.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Berechnung der Urlaubsansprüche im Fall der Erhöhung der Arbeitszeit – Auslegung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes.#Rechtssache C-219/14.
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62014CJ0219
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ECLI:EU:C:2015:745
| 2015-11-11T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0219
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
11. November 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit — Arbeitszeitgestaltung — Richtlinie 2003/88/EG — Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub — Berechnung der Urlaubsansprüche im Fall der Erhöhung der Arbeitszeit — Auslegung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes“
In der Rechtssache C‑219/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 23. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Mai 2014, in dem Verfahren
Kathleen Greenfield
gegen
The Care Bureau Ltd
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zehnten Kammer F. Biltgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer und der Richter A. Borg Barthet und S. Rodin,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. September 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der The Care Bureau Ltd, vertreten durch I. Pettifer, Solicitor,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von G. Facenna, Barrister,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis als Bevollmächtigte,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. de Ree als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und J. Enegren als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Paragraf 4 Nr. 2 der am 6. Juni 1997 geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (im Folgenden: Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit) im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (ABl. 1998, L 14, S. 9) in der durch die Richtlinie 98/23/EG des Rates vom 7. April 1998 (ABl. L 131, S. 10) geänderten Fassung und von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Greenfield und The Care Bureau Ltd (im Folgenden: Care) über die Berechnung der finanziellen Vergütung für bezahlten, nicht genommenen Jahresurlaub, auf den Frau Greenfield nach der Beendigung ihres Arbeitsvertrags Anspruch zu haben behauptet.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Paragraf 4 („Grundsatz der Nichtdiskriminierung“) der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit bestimmt:
„1.
Teilzeitbeschäftigte dürfen in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Gründen gerechtfertigt.
2. Es gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-temporis-Grundsatz.“
4 Paragraf 6 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit sieht vor:
5 Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 heißt es:
6 Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
7 Art. 15 („Günstigere Vorschriften“) dieser Richtlinie bestimmt:
„Das Recht der Mitgliedstaaten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten, bleibt unberührt.“
8 Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Eine Abweichung von Art. 7 der Richtlinie ist jedoch nicht zulässig.
Recht des Vereinigten Königreichs
9 Die Verordnung von 1998 über die Arbeitszeit (Working Time Regulations 1998, SI 1998/1833) in der durch die Änderungsverordnung von 2007 (Working Time [Amendment] Regulations 2007, SI 2007/2079) geänderten Fassung (im Folgenden: Arbeitszeitverordnung) sieht in Art. 13 in Bezug auf den Anspruch auf Jahresurlaub vor:
„(1)
Gemäß Abs. 5 hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf vier Wochen Jahresurlaub pro Urlaubsjahr.
…
(5) Beginnt die Beschäftigung eines Arbeitnehmers (gemäß einer entsprechenden Vereinbarung) nach dem Beginn seines ersten Urlaubsjahres, hat er in diesem Urlaubsjahr Anspruch auf Urlaub entsprechend dem Anteil des Zeitraums nach Abs. 1, der mit dem bei Beginn seiner Beschäftigung verbleibenden Anteil des Urlaubsjahres identisch ist.“
10 In Art. 13A der Arbeitszeitverordnung heißt es:
„(1) Vorbehaltlich des Art. 26A Abs. 3 und 5 hat ein Arbeitnehmer in jedem Urlaubsjahr Anspruch auf einen nach Abs. 2 bestimmten zusätzlichen Urlaubszeitraum.
(2) Der zusätzliche Urlaubszeitraum, auf den ein Arbeitnehmer gemäß Abs. 1 Anspruch hat, beträgt:
a)
während des Urlaubsjahres mit Beginn frühestens zum 1. Oktober 2007, jedoch nicht vor dem 1. April 2008, 0,8 Wochen;
b)
während des Urlaubsjahres mit Beginn vor dem 1. Oktober 2007 einen Anteil von 0,8 Wochen entsprechend dem Anteil des Jahres mit Beginn zum 1. Oktober 2007, der bis zum Ende des Urlaubsjahres verstrichen wäre;
c)
während des Urlaubsjahres mit Beginn zum 1. April 2008, 0,8 Wochen;
d)
während des Urlaubsjahres mit Beginn nach dem 1. April 2008, jedoch vor dem 1. April 2009, 0,8 Wochen; hinzu kommt ein Anteil von 0,8 Wochen entsprechend dem Anteil des Jahres mit Beginn zum 1. April 2009, der bis zum Ende dieses Urlaubsjahres verstrichen wäre;
e)
während des Urlaubsjahres mit Beginn frühestens zum 1. April 2009, 1,6 Wochen.
(3) Die in Abs. 2 und Art. 13 Abs. 1 vorgesehenen Ansprüche sind auf 28 Tage beschränkt.
(4) Das Urlaubsjahr eines Arbeitnehmers beginnt nach diesem Artikel zum gleichen Zeitpunkt wie das Urlaubsjahr eines Arbeitnehmers nach Art. 13.
(5) Beginnt die Beschäftigung eines Arbeitnehmers nach dem Beginn seines ersten Urlaubsjahres, hat er in diesem Urlaubsjahr Anspruch auf zusätzlichen Urlaub entsprechend dem Anteil des Zeitraums nach Abs. 2, der mit dem bei Beginn seiner Beschäftigung verbleibenden Anteil des Urlaubsjahres identisch ist.
…“
11 Art. 14 der Arbeitszeitverordnung bestimmt:
„(1) Dieser Artikel gilt, wenn
a)
das Beschäftigungsverhältnis eines Arbeitnehmers während seines Urlaubsjahres beendet wird und
b)
an dem Tag, an dem die Beendigung wirksam wird (Tag der Beendigung), der Anteil des Urlaubs, auf den er gemäß Art. 13 und 13A im Urlaubsjahr Anspruch hat, von dem Anteil des bereits verstrichenen Urlaubsjahres abweicht.
(2) Ist der Anteil des vom Arbeitnehmer genommenen Urlaubs geringer als der bereits verstrichene Anteil des Urlaubsjahres, hat ihm der Arbeitgeber eine Ersatzvergütung nach Abs. 3 zu zahlen.
(3) Die Zahlung nach Abs. 2 beläuft sich
a)
auf den Betrag, der im Sinne dieses Artikels in einer entsprechenden Vereinbarung vorgesehen ist, oder,
b)
in Ermangelung von Vorschriften einer entsprechenden Vereinbarung, auf eine Summe, die dem Betrag entspricht, der dem Arbeitnehmer nach Art. 16 für einen nach folgender Formel berechneten Urlaub zu zahlen wäre: (A x B) – C. Dabei ist A die Urlaubszeit, auf die der Arbeitnehmer gemäß Art. 13 und Art. 13A Anspruch hat, B der Anteil des Urlaubsjahres des Arbeitnehmers, der vor dem Tag der Beendigung verstrichen ist, und C die Urlaubszeit, die der Arbeitnehmer zwischen dem Beginn des Urlaubsjahres und dem Tag der Beendigung genommen hat.
(4) In einer entsprechenden Vereinbarung kann vorgesehen werden, dass, wenn der vom Arbeitnehmer genommene Urlaubsanteil den Anteil des verstrichenen Urlaubsjahres überschreitet, er seinen Arbeitgeber entweder durch eine Zahlung, eine zusätzliche Arbeitsleistung oder auf andere Weise zu entschädigen hat.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Frau Greenfield war seit dem 15. Juni 2009 bei Care beschäftigt. Sie arbeitete auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags, der von Woche zu Woche unterschiedliche Arbeitsstunden und Arbeitstage vorsah. Die wöchentliche Vergütung variierte je nach der Zahl der geleisteten Tage und Stunden.
13 Sowohl nach dem Recht des Vereinigten Königreichs als auch nach diesem Arbeitsvertrag hatte Frau Greenfield Anspruch auf 5,6 Wochen Jahresurlaub. Das Urlaubsjahr begann für die Berechnung ihres Urlaubs am 15. Juni.
14 Frau Greenfield verließ Care am 28. Mai 2013. Es ist unstrittig, dass sie im letzten Urlaubsjahr sieben Tage bezahlten Urlaub genommen hatte. Insgesamt hatte sie 1729,5 Stunden gearbeitet und für insgesamt 62,84 Stunden bezahlten Urlaub in Anspruch genommen.
15 Frau Greenfield hatte diese sieben Tage bezahlten Urlaub im Juli 2012 genommen. In den letzten zwölf Wochen vor diesem Urlaub hatte sie in einem Rhythmus von einem Tag pro Woche gearbeitet.
16 Von August 2012 an begann Frau Greenfield in einem Rhythmus von zwölf Arbeitstagen und zwei an jedem zweiten Wochenende in Anspruch genommenen arbeitsfreien Tagen zu arbeiten. Dieser Rhythmus entsprach einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 41,1 Stunden. Care zufolge sollten alle von Frau Greenfield geleisteten Stunden, einschließlich der Überstunden, als Grundlage für die Berechnung ihres Anspruchs auf bezahlten Urlaub dienen.
17 Im November 2012 beantragte Frau Greenfield eine Woche bezahlten Urlaub. Care teilte ihr daraufhin mit, dass sie wegen der Urlaubstage, die sie im Juni und Juli 2012 genommen habe, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erschöpft habe. Der Anspruch auf bezahlten Urlaub werde zum Zeitpunkt des Urlaubsantritts auf der Grundlage des ihm in den vorausgehenden zwölf Wochen festgestellten Arbeitsrhythmus berechnet. Da Frau Greenfield ihren Urlaub zu einem Zeitpunkt genommen habe, als ihr Arbeitsrhythmus einem Tag pro Woche entsprochen habe, habe sie entsprechend sieben Wochen bezahlten Urlaub genommen und damit ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erschöpft.
18 Da Frau Greenfield der Ansicht war, dass sie einen Anspruch auf Entschädigung für bezahlten, nicht genommenen Urlaub habe, erhob sie gegen ihren Arbeitgeber Klage beim Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham), das ihrem Antrag stattgab.
19 Am 29. August 2013 bat Care das Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham) um eine schriftliche Begründung. Am 8. Oktober 2013 schlug dieses vor, die Entscheidung nochmals zu überprüfen, da die in Rede stehende Rechtslage in hinreichendem Maß ungeklärt sei, um den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung ersuchen zu können. Nach der Abgabe der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien kam das Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham) jedoch zu dem Schluss, dass eine solche Vorlage nicht erforderlich sei, und begründete seine Entscheidung schriftlich.
20 Am 19. Dezember 2013 legte Care gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel vor dem Employment Appeal Tribunal (Rechtsmittelgericht für Arbeitssachen) ein, das das Rechtsmittelverfahren bis zu einer Entscheidung durch das Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham) aussetzte.
21 In der Zwischenzeit, nämlich am 12. Dezember 2013, beantragte Care beim Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham) die Überprüfung seines Urteils. Dieses behandelte diesen Antrag in der mündlichen Verhandlung vom 24. Februar 2014 und hob dieses Urteil teilweise wegen eines in ihm enthaltenen Rechenfehlers und teilweise mit dem Ziel auf, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.
22 Vor dem Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham) trug Frau Greenfield vor, das nationale Recht verlange in Verbindung mit dem Unionsrecht, dass angesammelter und in Anspruch genommener Urlaub in der Folge einer Erhöhung der Arbeitsstunden, zum Beispiel bei einem Übergang von einer Teilzeit- zu einer Vollzeitbeschäftigung, rückwirkend nachberechnet und berichtigt werde, damit er der neuen Zahl der Arbeitsstunden und nicht jenen entspreche, die zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Urlaubs galten.
23 Care trägt vor, das Unionsrecht sehe diese Möglichkeit einer Neuberechnung nicht vor und die Mitgliedstaaten seien daher nicht verpflichtet, eine solche Anpassung im nationalen Recht vorzunehmen.
24 Da das Employment Tribunal Birmingham (Arbeitsgericht Birmingham) Zweifel im Hinblick auf die Auslegung des Unionsrechts hat, die es in der Rechtssache, mit der es befasst ist, vornehmen muss, hat es entschieden, das Verfahren auszusetzen und den Gerichtshof um Vorabentscheidung folgender Fragen zu ersuchen:
1. Ist der „Pro-rata-temporis-Grundsatz“, wie er in Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung niedergelegt ist, dahin auszulegen, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts (wie die Art. 13, 13A und 14 der Working Time Regulations) danach zur Folge haben muss, dass bei einer Erhöhung der Arbeitsstunden eines Arbeitnehmers der bereits angesammelte Urlaub im Verhältnis zu den neuen Arbeitsstunden berichtigt werden muss, so dass der Anspruch des Arbeitnehmers, der seine Arbeitsstunden erhöht, auf angesammelten Urlaub entsprechend den erhöhten Stunden nachberechnet wird?
2. Ist entweder Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung oder Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts (wie die Art. 13, 13A und 14 der Working Time Regulations) danach nicht zur Folge haben darf, dass bei einer Erhöhung der Arbeitsstunden eines Arbeitnehmers der bereits angesammelte Urlaub im Verhältnis zu den neuen Arbeitsstunden berichtigt werden muss, so dass der Anspruch des Arbeitnehmers, der seine Arbeitsstunden erhöht, auf angesammelten Urlaub entsprechend den berichtigten Stunden nachberechnet wird?
3. Wenn Frage(n) 1 und/oder 2 bejaht wird/werden: Gilt die Nachberechnung nur für den Teil des Urlaubsjahres, während dessen der Arbeitnehmer die erhöhten Arbeitsstunden geleistet hat, oder gilt sie für irgendeinen anderen Zeitraum?
4. Ist im Hinblick auf die Berechnung der von einem Arbeitnehmer in Anspruch genommenen Urlaubszeit entweder Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung oder Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts (wie die Art. 13, 13A und 14 der Working Time Regulations) zur Folge haben muss, dass eine unterschiedliche Methode anzuwenden ist, je nachdem, ob eine Vergütung des Arbeitnehmers als Ersatz für den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Vertragsende oder ein dem Arbeitnehmer verbleibender Anspruch auf Jahresurlaub bei fortdauernder Beschäftigung zu berechnen ist?
5. Bei Bejahung der Frage 4: Worin besteht der Unterschied zwischen den jeweils anzuwendenden Methoden?
Vorlagefragen
Zur ersten bis dritten Frage
25 Mit seinen Fragen 1 bis 3, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 über die Arbeitszeitgestaltung dahin auszulegen sind, dass im Fall einer Erhöhung der von einem Arbeitnehmer geleisteten Arbeitsstunden die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, vorzusehen, dass die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, der bereits erworben war und eventuell nach dem neuen Arbeitsrhythmus dieses Arbeitnehmers – gegebenenfalls rückwirkend – nachberechnet werden müssen, oder dass die Mitgliedstaaten dies nicht vorsehen dürfen, und ob in dem Fall, dass eine Nachberechnung vorzunehmen ist, sich diese nur auf den Zeitraum, in dem sich die Arbeitszeit des Arbeitnehmers erhöht hat, oder auf das ganze Urlaubsjahr erstreckt.
26 Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen (vgl. insbesondere Urteile BECTU, C‑173/99, EU:C:2001:356, Rn. 43, und Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C‑486/08, EU:C:2010:215, Rn. 28).
27 Der Gerichtshof hat ferner wiederholt darauf hingewiesen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der jedem Arbeitnehmer gewährt wird, als Grundsatz des Sozialrechts der Union in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich verankert ist, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird (vgl. u. a. Urteil Heimann und Toltschin, C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich auch, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden darf (vgl. u. a. Urteile Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C‑486/08, EU:C:2010:215, Rn. 29, und Heimann und Toltschin, C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Es steht außerdem fest, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, sich von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen (Urteil KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 31). Somit werden die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub im Hinblick auf den im Arbeitsvertrag vorgesehenen Arbeitsrhythmus erworben und sind dementsprechend zu berechnen.
30 Was erstens die Zeiteinheit betrifft, auf deren Grundlage die Berechnung vorzunehmen ist, ist festzustellen, dass die in der Richtlinie 2003/88 in Bezug auf die wöchentliche Höchstarbeitszeit vorgesehene Einheit die „Stunde“ ist.
31 Darüber hinaus ist, wie sich aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 ergibt, der Gesetzgeber der Europäischen Union der Ansicht, dass der in dieser Richtlinie verwendete Begriff der Ruhezeit, u. a. der der jährlichen Ruhezeit, in Tagen, Stunden und/oder Teilen davon ausgedrückt werden müsse.
32 Daraus folgt, dass die Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Mindestjahresurlaub im Sinne der Richtlinie 2003/88 im Hinblick auf die als Arbeit geleisteten und im Arbeitsvertrag hierfür vorgesehenen Tage oder Stunden und/oder Teile davon vorzunehmen ist.
33 Was zweitens den Arbeitszeitraum, auf den sich die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub beziehen, und die möglichen Folgen betrifft, die eine Änderung des Arbeitsrhythmus im Hinblick auf die Arbeitsstundenzahl einerseits auf den Umfang der bereits entstandenen Urlaubsansprüche und andererseits auf die Ausübung in zeitlicher Hinsicht haben kann oder haben muss, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Inanspruchnahme des Jahresurlaubs zu einer späteren Zeit als dem Zeitraum, in dem die Ansprüche entstanden sind, in keiner Beziehung zu der in dieser späteren Zeit vom Arbeitnehmer erbrachten Arbeitszeit steht (Urteil Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C‑486/08, EU:C:2010:215, Rn. 32).
34 Der Gerichtshof hat außerdem bereits entschieden, dass durch eine Veränderung, insbesondere Verringerung, der Arbeitszeit beim Übergang von einer Vollzeit- zu einer Teilzeitbeschäftigung der Anspruch auf Jahresurlaub, den der Arbeitnehmer in der Zeit der Vollzeitbeschäftigung erworben hat, nicht gemindert werden darf (Urteil Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C‑486/08, EU:C:2010:215, Rn. 32, und Beschluss Brandes, C‑415/12, EU:C:2013:398, Rn. 30).
35 Daraus folgt, dass, was die Entstehung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub betrifft, die Zeiträume, in denen der Arbeitnehmer nach verschiedenen Arbeitsrhythmen arbeitete, voneinander zu unterscheiden sind, wobei die Zahl der entstandenen Einheiten an jährlicher Ruhezeit im Vergleich zur Zahl der geleisteten Arbeitseinheiten für jeden Zeitraum getrennt zu berechnen ist.
36 Dieses Ergebnis wird nicht durch die Anwendung des in Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit geregelten Pro-rata-temporis-Grundsatzes in Frage gestellt.
37 Zwar ist die Anwendung dieses Grundsatzes, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, für die Gewährung des Jahresurlaubs für einen Zeitraum in Teilzeitbeschäftigung angemessen, da die Verringerung des Anspruchs auf Jahresurlaub für einen solchen Zeitraum in Bezug auf den für einen Zeitraum in Vollzeitbeschäftigung gewährten Anspruch aus objektiven Gründen gerechtfertigt ist. Dieser Grundsatz kann aber nicht nachträglich auf einen im Zeitraum der Vollzeitbeschäftigung erworbenen Anspruch auf Jahresurlaub angewandt werden.
38 Wenn Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 daher nicht von den Mitgliedstaaten verlangen, eine Nachberechnung der bereits entstandenen Ansprüche auf Jahresurlaub vorzunehmen, wenn ein Arbeitnehmer die Zahl seiner Arbeitsstunden erhöht, stehen sie aber auch nicht dem entgegen, dass die Mitgliedstaaten günstigere Bestimmungen für die Arbeitnehmer einführen und eine solche Nachberechnung vornehmen.
39 Wie sich nämlich aus Paragraf 6 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit und Art. 15 der Richtlinie 2003/88 ergibt, lassen diese beiden Rechtsakte, die nur einen Mindestschutz für bestimmte Rechte der Arbeitnehmer gewährleisten, die Möglichkeit der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner, für die Arbeitnehmer günstigere Vorschriften anzuwenden oder zu erlassen und eine solche Nachberechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub vorzusehen, unberührt.
40 Allerdings hat die für die Entstehung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zwischen den verschiedenen Arbeitsrhythmen vorzunehmende Unterscheidung keine Auswirkung auf die Ausübung der erworbenen Rechte. Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, kann der während eines Referenzzeitraums erworbene Jahresurlaub in einem späteren Zeitraum genommen werden und verliert die erworbene Ruhezeit nicht an Relevanz in Bezug auf die positive Wirkung des bezahlten Jahresurlaubs für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers, wenn er nicht in dem Zeitraum, in dem er entsteht und in dem der Arbeitnehmer vollzeitbeschäftigt war, sondern zu einer späteren Zeit genommen wird, zu der er teilzeitbeschäftigt ist (vgl. u. a. Urteil Federatie Nederlandse Vakbeweging, C‑124/05, EU:C:2006:244, Rn. 30, und Urteil KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 32).
41 Dies gilt erst recht, wenn der Urlaub nicht in dem Zeitraum, in dem der Urlaubsanspruch entstanden ist und in dem der Arbeitnehmer teilzeitbeschäftigt war, sondern zu einer späteren Zeit genommen wird, zu der er vollzeitbeschäftigt ist.
42 Was drittens den Zeitraum betrifft, auf den sich die Nachberechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub erstrecken muss, wenn der Arbeitnehmer, dessen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, wie im Ausgangsverfahren, während eines Zeitraums, in dem er teilzeitbeschäftigt war, entstanden sind, die Zahl der Arbeitsstunden erhöht und zu einer Vollzeitbeschäftigung übergeht, ist festzustellen, dass, wie sich aus Rn. 35 des vorliegenden Urteils ergibt, die Zahl der entstandenen Einheiten an jährlicher Ruhe im Vergleich zur Zahl der geleisteten Arbeitseinheiten für jeden Zeitraum getrennt zu berechnen ist.
43 In einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verlangt das Unionsrecht daher, dass eine Nachberechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nur in Bezug auf den Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer die Anzahl seiner Arbeitsstunden erhöht hat, vorgenommen wird. Die Einheiten bezahlten Jahresurlaubs, die bereits im Zeitraum der Teilzeitbeschäftigung genommen wurden und über die in diesem Zeitraum entstandenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub hinausgingen, sind von den Ansprüchen abzuziehen, die in dem Arbeitszeitraum, in dem der Arbeitnehmer die Zahl seiner Arbeitsstunden erhöht hat, neu entstanden sind.
44 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die Fragen 1 bis 3 zu antworten, dass Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen sind, dass im Fall einer Erhöhung der von einem Arbeitnehmer geleisteten Arbeitsstunden die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, vorzusehen, dass die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, der bereits erworben war und eventuell in Anspruch genommen wurde, nach dem neuen Arbeitsrhythmus dieses Arbeitnehmers rückwirkend nachberechnet werden müssen. Eine Nachberechnung ist jedoch für den Zeitraum vorzunehmen, in dem sich die Arbeitszeit des Arbeitnehmers erhöht hat.
Zur vierten und zur fünften Frage
45 Mit seiner vierten und seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen sind, dass die Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nach unterschiedlichen Grundsätzen vorzunehmen ist, je nachdem, ob eine Ersatzvergütung für den bezahlten, nicht genommenen Jahresurlaub in dem Fall, dass das Arbeitsverhältnis beendet wird, oder der Restbetrag der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub im Fall der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses zu bestimmen ist.
46 Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst festzustellen, dass sich aus der Beantwortung der Fragen 1 bis 3, anders als es das vorlegende Gericht vorzuschlagen scheint, ergibt, dass es für die Frage, wie die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu berechnen sind, keinen Unterschied macht, ob diese Berechnung während des Arbeitsverhältnisses oder nach dessen Beendigung vorzunehmen ist.
47 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub unabhängig ist von der Berechnung der dem Arbeitnehmer geschuldeten finanziellen Vergütung für bezahlten, nicht genommenen Jahresurlaub. Um diese Vergütung festlegen zu können, muss nämlich zuvor die Höhe dieser Ansprüche berechnet werden.
48 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass in keiner Vorschrift der Richtlinie 2003/88 ausdrücklich geregelt wird, wie die finanzielle Vergütung zu berechnen ist, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses an die Stelle der Mindestzeit oder der Mindestzeiten bezahlten Jahresurlaubs tritt (Urteil Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 57).
49 Insoweit ist festzustellen, dass auch die Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit keine Hinweise in Bezug auf die Regeln für die Berechnung dieser Entschädigung enthält.
50 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet allerdings der Ausdruck „bezahlter [J]ahresurlaub“ in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, dass das Arbeitsentgelt für die Dauer des Jahresurlaubs im Sinne dieser Richtlinie weiterzugewähren ist und dass der Arbeitnehmer mit anderen Worten für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten muss (Urteil Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 58).
51 Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die finanzielle Vergütung, auf die ein Arbeitnehmer Anspruch hat, der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage war, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses auszuüben, in der Weise zu berechnen ist, dass der Arbeitnehmer so gestellt wird, als hätte er diesen Anspruch während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses ausgeübt. Folglich ist das gewöhnliche Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers, das während der dem bezahlten Jahresurlaub entsprechenden Ruhezeit weiterzuzahlen ist, auch für die Berechnung der finanziellen Vergütung für bei Beendigung des Vertragsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub maßgebend (Urteil Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 61).
52 Daher ist die Berechnung der finanziellen Vergütung für bezahlten, nicht genommenen Jahresurlaub nach denselben Modalitäten wie bei der Berechnung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts vorzunehmen; auf den Zeitpunkt, in dem diese Berechnung vorgenommen wird, kommt es grundsätzlich nicht an.
53 Dies schließt jedoch nicht aus, dass der Zeitpunkt, in dem diese Berechnung vorzunehmen ist, einen Einfluss auf die Modalitäten dieser Berechnung haben kann.
54 Wie sich nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, erfordert die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts, wenn es sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt, eine spezielle Analyse. In einer solchen Situation ist es Sache des nationalen Gerichts, im Licht der in der erwähnten Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu beurteilen, ob die Methoden für die Berechnung eines gewöhnlichen Arbeitsentgelts und einer finanziellen Vergütung für bezahlten, nicht genommenen Urlaub auf der Grundlage eines Mittelwerts aus einem als repräsentativ geltenden Referenzzeitraum dem mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verfolgten Ziel entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil Lock, C‑539/12, EU:C:2014:351, Rn. 34).
55 Selbst wenn sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Schriftstücken nicht ergibt, dass sich das Arbeitsentgelt von Frau Greenfield aus mehreren Komponenten zusammensetzt, würde sich eine spezielle Analyse in Anlehnung an die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebene insbesondere dann gleichwohl als notwendig erweisen, wenn sich die Höhe des Arbeitsentgelts während des Jahresurlaubs und der für nicht genommenen Urlaub geschuldeten Vergütung aufgrund einer Schwankung des Entgelts von Frau Greenfield im Verlauf der Zeit und in Bezug auf die Einheit der Arbeitszeit unterscheiden sollten.
56 In der Rechtssache des Ausgangsverfahrens ist es daher Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob das Entgelt von Frau Greenfield aus mehreren Komponenten bestand oder ob es in ihrem letzten Arbeitsjahr Schwankungen in Bezug auf die Einheit der Arbeitszeit unterlag, an die es anknüpfte, um zu bestimmen, ob die im nationalen Recht vorgesehene Methode für die Berechnung der finanziellen Vergütung für bezahlten, nicht in Anspruch genommenen Urlaub mit den vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aufgestellten Regeln und Kriterien und dem mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verfolgten Zweck vereinbar ist.
57 Nach alledem ist auf die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass Paragraf 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen sind, dass die Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nach denselben Grundsätzen vorzunehmen ist, ganz gleich, ob es sich um die Bestimmung der Ersatzvergütung für bezahlten, nicht in Anspruch genommenen Jahresurlaub in dem Fall, dass das Arbeitsverhältnis beendet wird, oder um die Bestimmung des Restbetrags der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub im Fall der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses handelt.
Kosten
58 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
1. Paragraf 4 Nr. 2 der am 6. Juni 1997 geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit in der durch die Richtlinie 98/23/EG des Rates vom 7. April 1998 geänderten Fassung und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass im Fall einer Erhöhung der von einem Arbeitnehmer geleisteten Arbeitsstunden die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, vorzusehen, dass die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, der bereits erworben war und eventuell in Anspruch genommen wurde, nach dem neuen Arbeitsrhythmus dieses Arbeitnehmers rückwirkend nachberechnet werden müssen. Eine Nachberechnung ist jedoch für den Zeitraum vorzunehmen, in dem sich die Arbeitszeit des Arbeitnehmers erhöht hat.
2. Paragraf 4 Nr. 2 dieser Rahmenvereinbarung und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 sind dahin auszulegen, dass die Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nach denselben Grundsätzen vorzunehmen ist, ganz gleich, ob es sich um die Bestimmung der Ersatzvergütung für bezahlten, nicht genommenen Jahresurlaub in dem Fall, dass das Arbeitsverhältnis beendet wird, oder um die Bestimmung des Restbetrags der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub im Fall der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses handelt.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 29. Oktober 2015.#Saudaçor – Sociedade Gestora de Recursos e Equipamentos da Saúde dos Açores SA gegen Fazenda Pública.#Vorabentscheidungsersuchen des Supremo Tribunal Administrativo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 13 Abs. 1 – Behandlung als Nichtsteuerpflichtige – Begriff ‚Einrichtung des öffentlichen Rechts‘ – Aktiengesellschaft, die mit der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des Gesundheitssystems der Autonomen Region Azoren beauftragt ist – Bestimmung der Einzelheiten dieser Dienstleistungen einschließlich ihrer Vergütung in Programm-Verträgen zwischen der Gesellschaft und der Region.#Rechtssache C-174/14.
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62014CJ0174
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ECLI:EU:C:2015:733
| 2015-10-29T00:00:00 |
Gerichtshof, Jääskinen
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0174
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
29. Oktober 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Mehrwertsteuer — Richtlinie 2006/112/EG — Art. 13 Abs. 1 — Behandlung als Nichtsteuerpflichtige — Begriff ‚Einrichtung des öffentlichen Rechts‘ — Aktiengesellschaft, die mit der Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des Gesundheitssystems der Autonomen Region Azoren beauftragt ist — Bestimmung der Einzelheiten dieser Dienstleistungen einschließlich ihrer Vergütung in Programm-Verträgen zwischen der Gesellschaft und der Region“
In der Rechtssache C‑174/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) mit Entscheidung vom 12. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 2014, in dem Verfahren
Saudaçor – Sociedade Gestora de Recursos e Equipamentos da Saúde dos Açores SA
gegen
Fazenda Pública
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und K. Jürimäe,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Saudaçor – Sociedade Gestora de Recursos e Equipamentos da Saúde dos Açores SA, vertreten durch G. Leite de Campos, M. Clemente und J. Batista Pereira, advogados,
—
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und R. Campos Laires als Bevollmächtigte,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von P. Mantle, Barrister,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Guerra e Andrade und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juni 2015
folgendes
Urteil
1 Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114) und von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Saudaçor – Sociedade Gestora de Recursos e Equipamentos da Saúde dos Açores SA (im Folgenden: Saudaçor) und der Fazenda Pública (Staatskasse) über die Mehrwertsteuerpflichtigkeit dieser Gesellschaft für ihre Tätigkeiten im Bereich der Planung und Verwaltung des Gesundheitssystems der Autonomen Region Azoren (im Folgenden: ARA).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Richtlinie 2006/112 hat mit Wirkung vom 1. Januar 2007 die bis dahin bestehenden Rechtsvorschriften der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, insbesondere die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie), aufgehoben und ersetzt.
4 Nach dem ersten und dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 war eine Neufassung der Sechsten Richtlinie erforderlich, um alle anwendbaren Bestimmungen grundsätzlich ohne inhaltliche Änderungen in einer überarbeiteten Struktur und Fassung klar und wirtschaftlich darzubieten.
5 In Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
c)
Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.
6 Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
7 Art. 13 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
Falls sie solche Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Umsätze jedoch als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.
(2) Die Mitgliedstaaten können die Tätigkeiten von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die nach [Art.] 132 … von der Mehrwertsteuer befreit sind, als Tätigkeiten behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen.“
8 Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 bestimmt:
„‚Öffentliche Auftraggeber‘ sind der Staat, die Gebietskörperschaften, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts und die Verbände, die aus einer oder mehreren dieser Körperschaften oder Einrichtungen des öffentlichen Rechts bestehen.
Als ‚Einrichtung des öffentlichen Rechts‘ gilt jede Einrichtung, die
a)
zu dem besonderen Zweck gegründet wurde, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art zu erfüllen,
b)
Rechtspersönlichkeit besitzt und
c)
überwiegend vom Staat, von Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts finanziert wird, hinsichtlich ihrer Leitung der Aufsicht durch Letztere unterliegt oder deren Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan mehrheitlich aus Mitgliedern besteht, die vom Staat, von den Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts ernannt worden sind.
Die nicht erschöpfenden Verzeichnisse der Einrichtungen und Kategorien von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die die in Unterabsatz 2 Buchstaben a, b und c genannten Kriterien erfüllen, sind in Anhang III enthalten. …“
Portugiesisches Recht
Mehrwertsteuerregelung
9 Nach Art. 2 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs (Código do IVA) sind der Staat und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts nicht mehrwertsteuerpflichtig, wenn sie in Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse Umsätze tätigen. Dies gilt auch dann, wenn sie aus diesem Anlass Gebühren oder sonstige Gegenleistungen erhalten, sofern ihre Behandlung als Nichtsteuerpflichtige nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führt.
10 Nach Art. 2 Abs. 3 dieses Gesetzbuchs sind der Staat und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts bei Ausübung bestimmter Tätigkeiten für die dabei anfallenden steuerbaren Umsätze stets mehrwertsteuerpflichtig, sofern nicht nachgewiesen ist, dass sie diese Tätigkeiten in unbedeutendem Umfang ausführen.
Rechtliche Verfassung von Saudaçor
11 Saudaçor wurde durch die Regionale Gesetzgebende Verordnung Nr. 41/2003/A der ARA vom 17. Oktober 2003 über die Umwandlung der Anstalt für die Finanzverwaltung des Gesundheitswesens der Autonomen Region Azoren in eine Aktiengesellschaft mit ausschließlich öffentlichem Kapital namens SAUDAÇOR – Sociedade Gestora de Recursos e Equipamentos da Saúde dos Açores SA und zur Änderung der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 28/99/A vom 31. Juli (Decreto Legislativo Regional n.° 41/2003/A, Transforma o Instituto de Gestão Financeira da Saúde da Região Autónoma dos Açores em sociedade anónima de capitais exclusivamente públicos, passando a designar-se SAUDAÇOR – Sociedade Gestora de Recursos e Equipamentos da Saúde dos Açores, SA, e altera o Decreto Legislativo Regional n.° 28/99/A, de 31 de Julho) (Diário da República I, Serie A, Nr. 257 vom 6. November 2003, S. 7430) gegründet. Ihr Gesellschaftskapital wird zu 100 % von der ARA gehalten.
12 Nach Art. 2 Abs. 1 der genannten Regionalen Gesetzgebenden Verordnung besteht die Aufgabe von Saudaçor darin, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Gesundheitsbereich zu erbringen. Bei dieser Aufgabe geht es um die Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitssystems und der damit zusammenhängenden Informationssysteme, Infrastrukturen und Einrichtungen sowie um die Durchführung von Arbeiten im Bereich des Baus, der Erhaltung, der Instandsetzung und der Wiederherstellung der Gesundheitseinrichtungen und ‑dienste insbesondere in Gebieten, die von Naturkatastrophen betroffen sind, und in Gebieten, die als Risikozonen eingestuft sind.
13 Art. 3 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 41/2003/A bestimmt:
„Im Rahmen ihrer Aufgabe der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse obliegt es Saudaçor:
a)
die zentralisierte Versorgung im regionalen Gesundheitssektor zu bewirken;
b)
Gegenstände an die Mitgliedsorganisationen des regionalen Gesundheitssystems zu liefern und Dienstleistungen an sie zu erbringen;
c)
die Gesundheitseinrichtungen entsprechend den Zielen der gesundheitlichen Versorgungsleistungen, zu denen sich jede Einrichtung vertraglich verpflichtet hat, mit finanziellen Mitteln auszustatten;
d)
die Regeln und leitenden Grundsätze für die Haushaltsführung der Gesundheitseinrichtungen festzulegen sowie ihre Umsetzung zu verfolgen;
e)
die wirtschaftliche und finanzielle Leitung der Organe und Dienststellen, die zum regionalen Gesundheitssystem gehören oder von ihm finanziert werden, zu bewerten und regelmäßige Berichte über ihre finanzielle Lage und über die Verwaltung ihrer Humanressourcen und materiellen Mittel zu erstellen;
f)
die Entwicklung von Informationssystemen für die dem regionalen Gesundheitssystem angeschlossenen Einrichtungen zu fördern;
g)
Arbeiten im Wirkungsbereich des regionalen Gesundheitssystems durchzuführen, die von öffentlichem Interesse sind;
h)
in den jeweils erforderlichen Bereichen den Dienststellen und Betrieben des regionalen Gesundheitssystems Unterstützung zu leisten.“
14 Art. 4 Abs. 1 der besagten Regionalen Gesetzgebenden Verordnung bestimmt, dass Saudaçor diesem Rechtsakt, den Statuten in dessen Anhang, der rechtlichen Regelung für den Sektor der staatlichen Unternehmen gemäß der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 558/99 (Decreto-Lei n.° 558/99) vom 17. Dezember 1999 (Diário da República I, Serie A, Nr. 292 vom 17. Dezember 1999, S. 9012) und dem Privatrecht unterliegt. Nach Abs. 2 dieses Artikels hat Saudaçor bei ihrer Tätigkeit die Vorschriften über die Organisation und die Arbeitsweise des regionalen Gesundheitsdienstes der ARA zu befolgen.
15 Art. 10 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 41/2003/A sieht vor, dass Saudaçor für die Ausführung ihrer Aufgaben über die gleichen hoheitlichen Befugnisse verfügt wie die ARA, und führt anschließend beispielhaft einige dieser Befugnisse an, u. a. diejenige zur Enteignung.
16 Nach Art. 7 Abs. 3 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 558/99 in geänderter Fassung werden die öffentlichen Unternehmen nach den allgemeinen Vorschriften direkt und indirekt veranlagt und besteuert. Eine gleichlautende Bestimmung findet sich in Art. 9 Abs. 2 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 7/2008/A über Rechtsvorschriften für den Sektor der öffentlichen Unternehmen der Autonomen Region Azoren (Decreto Legislativo Regional n.o 7/2008/A, Regime do sector público empresarial da Região Autónoma dos Açores) vom 5. März 2008 (Diário da República I, Serie A, Nr. 58 vom 24. März 2008, S. 1649) in Bezug auf regionale öffentliche Unternehmen.
17 Saudaçor wird im Rahmen von Programm-Verträgen tätig, die gemäß Art. 21 Abs. 1 ihrer Satzung mit der Regierung der ARA geschlossen werden. In diesen Verträgen werden insbesondere die Dienstleistungen, die von ihr im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes zu erbringen sind, und der als „Finanzierungsbeitrag“ bezeichnete Ausgleich festgelegt, der von der Region als Gegenleistung für diese Dienstleistungen geschuldet wird und die Betriebskosten von Saudaçor decken soll.
18 So wurde am 23. Juli 2004 für den Zeitraum von 2004 bis 2008 ein erster Programm-Vertrag geschlossen, der einen Gesamtausgleich von 15905000 Euro, davon 3990000 Euro für das Jahr 2007 und 4050000 Euro für das Jahr 2008 vorsah. Nach Klausel 5 dieses Vertrags konnte der Gesamtbetrag durch gemeinsamen Beschluss der für Finanzen und für Gesundheit zuständigen Mitglieder der Regierung geändert werden, sollte er aufgrund einer umstandsbedingten Änderung für die Durchführung des Vertrags offensichtlich nicht ausreichen. Ein zweiter Programm-Vertrag wurde am 1. Januar 2009 für den Zeitraum von 2009 bis 2012 geschlossen. Er sah einen jährlichen Ausgleich von 8500000 Euro vor und enthielt eine ähnliche Änderungsklausel wie der Vorgängervertrag. Der genannte Betrag wurde durch gemeinsamen Beschluss der für Finanzen und für Gesundheit zuständigen Mitglieder der Regierung der ARA vom 8. März 2010 für das Jahr 2009 auf 6599147 Euro herabgesetzt.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
19 Am 2. März 2011 erstellte die Staatskasse einen Prüfungsberichtsentwurf, der in Bezug auf die von Saudaçor für die Steuerjahre 2007 bis 2010 geschuldete Mehrwertsteuer Berichtigungen in Höhe von insgesamt 4750586,24 Euro vorsah.
20 Nach Anhörung von Saudaçor wurde der Prüfungsbericht am 6. April 2011 angenommen.
21 In diesem Bericht vertrat die Staatskasse u. a. die Auffassung, dass sich Saudaçor in Anbetracht ihrer rechtlichen Verfassung nicht auf die Regel der Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nichtmehrwertsteuerpflichtige berufen könne, die in Art. 2 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs vorgesehen sei, mit dem der inhaltlich Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 entsprechende Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie habe umgesetzt werden sollen.
22 Nach Ansicht der Staatskasse betreffen die Dienstleistungen, die Saudaçor im Rahmen der Programm-Verträge im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes erbringe, Tätigkeitsbereiche des Privatsektors, was zur Folge habe, dass die Behandlung als Nichtmehrwertsteuerpflichtige zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte. Dies sei beispielsweise der Fall bei der Verwaltung und der Instandhaltung des Informatiksystems des Gesundheitssektors der Region. Es handele sich in Wirklichkeit um eine Tätigkeit wirtschaftlicher Natur, so dass die Beiträge, die in den Programm-Verträgen festgelegt und von den Regionalbehörden als Gegenleistung für diese Dienstleistungen gezahlt würden, der Mehrwertsteuer unterlägen. Saudaçor habe im Übrigen anerkannt, dass sie mehrwertsteuerpflichtig sei, da sie im Rahmen des Vorsteuerabzugs für den Erwerb von Gegenständen und Dienstleistungen einen Gesamtbetrag von 2300273,17 Euro geltend mache.
23 Saudaçor erhob vor dem Tribunal Administrativo e Fiscal de Ponta Delgada (Verwaltungs- und Finanzgericht Ponta Delgada) Klage gegen die Bescheide zur Festsetzung von Mehrwertsteuer und Verzugszinsen für die Geschäftsjahre 2007 bis 2010, hinsichtlich deren von ihr insgesamt 5157249,72 Euro gefordert werden.
24 Mit seinem Urteil wies dieses Gericht die Klage insbesondere mit der Begründung ab, dass für die Zwecke der Auslegung der in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Regel der Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nichtmehrwertsteuerpflichtige nicht auf den Begriff „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ nach seiner vergaberechtlichen Definition in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 abzustellen sei, da dieser Begriff eine weite Bedeutung habe, während der Begriff „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 bei Anwendung der Regel der Behandlung als Nichtmehrwertsteuerpflichtige eng auszulegen sei, weil diese eine Ausnahme von der allgemeinen Regel der Besteuerung jeder wirtschaftlichen Tätigkeit darstelle.
25 Nach Ansicht des genannten Gerichts erfasst diese Regel der Behandlung als Nichtmehrwertsteuerpflichtige nicht eine Einrichtung wie Saudaçor, die, auch wenn sie von der ARA gegründet worden sei, eine von der Region gesonderte Aktiengesellschaft sei, die den Regeln des Privatrechts unterliege und ihre Aufgaben und Ziele unabhängig verfolge.
26 Das besagte Gericht war ferner der Auffassung, dass die Dienstleistungen von Saudaçor im Rahmen der Programm-Verträge eine Tätigkeit wirtschaftlicher Natur darstellten, da sie gegen Entgelt erbracht würden. Die von der ARA gezahlten Beiträge seien nämlich die Gegenleistung für die Dienstleistungen von Saudaçor und könnten nicht als Transfers zwischen öffentlichen Stellen angesehen werden.
27 Nach Ansicht des mit einem Rechtsmittel gegen jenes Urteil befassten vorlegenden Gerichts geht es im Ausgangsverfahren zentral darum, ob sich eine Einrichtung wie Saudaçor auf die Regel der Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nichtmehrwertsteuerpflichtige berufen könne, die in dem inhaltlich mit Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 übereinstimmenden Art. 2 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs vorgesehen sei, und ob es sich bei den Beträgen der in Rede stehenden Mehrwertsteuerfestsetzungsbescheide um den Transfer von Haushaltsmitteln zwischen öffentlichen Stellen handele.
28 Zwar unterlägen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig nur die Tätigkeiten von hoheitlich handelnden Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht der Mehrwertsteuer, doch lasse sich anhand dieser Rechtsprechung nicht feststellen, ob eine Einrichtung wie Saudaçor in Anbetracht ihres rechtlichen Status als eine aus der Umwandlung einer staatlichen Einheit hervorgegangene Aktiengesellschaft unter diesen Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts falle. Insbesondere stelle sich die Frage, ob die Bedeutung dieses Begriffs mit der des Begriffs der Einrichtung des öffentlichen Rechts übereinstimme, wie er in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 im Rahmen der Definitionen der verschiedenen Kategorien von „öffentlichen Auftraggebern“ vorgesehen sei.
29 Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann der Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 vom nationalen Gericht durch Verweisung auf den normativen Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 ausgefüllt werden?
2. Fällt eine zu 100 % von der Autonomen Region Azoren gehaltene Einrichtung in Form einer Aktiengesellschaft mit ausschließlich öffentlichem Kapital, deren Gesellschaftszweck darin besteht, im Bereich des regionalen Gesundheitssystems im Hinblick auf dessen Förderung und Rationalisierung Beratungs- und Verwaltungstätigkeiten in Erfüllung von Programm-Verträgen mit der Autonomen Region Azoren zu erbringen, und die aufgrund einer Übertragung die Befugnisse besitzt, über die die Autonome Region – der originär die Verpflichtung obliegt, für den öffentlichen Gesundheitsdienst zu sorgen – in diesem Bereich verfügt, unter den Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 tätig wird?
3. Kann im Licht dieser Richtlinie die von dieser Gesellschaft empfangene Gegenleistung, die in der Zurverfügungstellung der für die Durchführung der Programm-Verträge erforderlichen finanziellen Mittel besteht, für die Zwecke der Mehrwertsteuerpflicht als Vergütung für erbrachte Dienstleistungen angesehen werden?
4. Erfüllt diese Gesellschaft bejahendenfalls die Voraussetzungen, um in den Genuss der in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 enthaltenen Bestimmung über die Mehrwertsteuerfreiheit zu gelangen?
Zu den Vorlagefragen
Zur dritten Frage
30 Mit seiner zuerst zu prüfenden dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die darin besteht, dass eine Gesellschaft an eine Region gemäß Programm-Verträgen, die sie mit ihr geschlossen hat, Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes erbringt, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
31 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass sich aus der Systematik und dem Zweck dieser Richtlinie sowie aus der Stellung ihres Art. 13 in dem durch die Sechste Richtlinie errichteten gemeinsamen Mehrwertsteuersystem ergibt, dass jede Tätigkeit wirtschaftlicher Natur grundsätzlich steuerpflichtig ist. Der Mehrwertsteuer unterliegen im Allgemeinen gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 Dienstleistungen, die gegen Entgelt erbracht werden, einschließlich derjenigen, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts erbracht werden. Die Art. 9 und 13 dieser Richtlinie stecken den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer somit sehr weit (Urteil Kommission/Niederlande, C‑79/09, EU:C:2010:171, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Die Möglichkeit, eine Dienstleistung als Umsatz gegen Entgelt einzustufen, setzt nur das Bestehen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dieser Leistung und einer tatsächlich vom Steuerpflichtigen empfangenen Gegenleistung voraus. Ein solcher unmittelbarer Zusammenhang besteht, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet (vgl. u. a. Urteil Serebryannay vek, C‑283/12, EU:C:2013:599, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 In Anbetracht der Natur der vorzunehmenden Prüfung ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Sache des nationalen Gerichts, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tätigkeiten anhand der vom Gerichtshof herausgearbeiteten Kriterien einzuordnen (Urteil Fazenda Pública, C‑446/98, EU:C:2000:691, Rn. 23, und Beschluss Gmina Wrocław, C‑72/13, EU:C:2014:197, Rn. 18).
34 Hier kommt dem vorlegenden Gericht die Überprüfung zu, ob sich aus den Akten und insbesondere aus den Programm-Verträgen zwischen Saudaçor und der ARA ergibt, dass die Tätigkeiten dieser Gesellschaft gegen Entgelt ausgeführt werden und damit wirtschaftlichen Charakter haben. Der Gerichtshof kann diesem Gericht jedoch mit Blick auf die Angaben in der Vorlageentscheidung Auslegungshinweise für seine Entscheidung geben.
35 Insoweit ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die ARA nach dem Wortlaut selbst der besagten Verträge Saudaçor „als Gegenleistung“ für die von dieser zu erbringenden Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes einen als „Finanzierungsbeitrag“ bezeichneten Ausgleich zu zahlen hat, dessen Höhe in diesen Verträgen spezifiziert wird.
36 In Anbetracht der Dauerhaftigkeit und Fortgesetztheit der Planungs- und Verwaltungsleistungen von Saudaçor kann der Umstand, dass dieser Ausgleich nicht nach Maßgabe individueller Leistungen, sondern pauschal und auf jährlicher Basis zur Deckung der Betriebskosten dieser Gesellschaft festgesetzt wird, für sich allein den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der erbrachten Dienstleistung und der empfangenen Gegenleistung, deren Betrag im Voraus und nach genau festgelegten Kriterien bestimmt wird, nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Le Rayon d’Or, C‑151/13, EU:C:2014:185, Rn. 36 und 37).
37 Das Bestehen dieses unmittelbaren Zusammenhangs scheint auch nicht dadurch in Zweifel gezogen werden zu können, dass die Programm-Verträge zwischen Saudaçor und der ARA bestimmte Klauseln enthalten, die vorsehen, dass der Saudaçor geschuldete Ausgleich der Höhe nach angepasst werden kann, wenn er sich aufgrund einer Änderung der Umstände als für die Durchführung dieser Verträge offensichtlich unzureichend erweist.
38 Da nämlich diese Klauseln darauf gerichtet sind, dass die Höhe des Ausgleichs im Voraus nach genau festgelegten Kriterien bestimmt wird, die sicherstellen, dass diese Höhe zur Deckung der Betriebskosten von Saudaçor ausreicht, kann davon ausgegangen werden, dass sie die Anpassung des Betrags der pauschalen Gegenleistung an die fortgesetzt und dauerhaft erbrachten Leistungen von Saudaçor bezwecken. Außerdem wurde zwar, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, der ursprünglich vorgesehene Jahresausgleich für das Jahr 2009 durch die ARA herabgesetzt, doch hat die portugiesische Regierung in der mündlichen Verhandlung ohne Widerspruch seitens Saudaçor erklärt, dass mit dieser Herabsetzung nur ein offensichtlicher Rechenfehler habe berichtigt werden sollen.
39 Der unmittelbare Zusammenhang zwischen der erbrachten Dienstleistung und der empfangenen Gegenleistung scheint ferner nicht dadurch in Frage gestellt werden zu können, dass, wie Saudaçor vorbringt, ihre Tätigkeit die Erfüllung einer verfassungsrechtlichen Pflicht bezweckt, die nach der portugiesischen Verfassung allein und unmittelbar dem Staat obliegt, nämlich der Pflicht, einen universellen und potenziell kostenfreien staatlichen Gesundheitsdienst zu errichten, der im Wesentlichen mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren ist.
40 Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 gilt nämlich als Steuerpflichtiger, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
41 Auch wenn im Übrigen das Ziel der Errichtung eines im Wesentlichen mit öffentlichen Mitteln zu finanzierenden universellen und potenziell kostenfreien staatlichen Gesundheitsdienstes im Rahmen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems insoweit berücksichtigt wird, als nach Art. 132 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmte gesundheitliche Versorgungsleistungen, die u. a. von Einrichtungen des öffentlichen Rechts bewirkt werden, von der Mehrwertsteuer befreit werden müssen, steht fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tätigkeit der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes nicht unter eine dieser Befreiungen fällt.
42 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die darin besteht, dass eine Gesellschaft an eine Region gemäß Programm-Verträgen, die sie mit ihr geschlossen hat, Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes erbringt, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
Zur ersten, zur zweiten und zur vierten Frage
43 Mit seiner ersten, seiner zweiten und seiner vierten Frage, die gemeinsam und an zweiter Stelle zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die darin besteht, dass eine Gesellschaft an eine Region gemäß Programm-Verträgen, die sie mit ihr geschlossen hat, Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes erbringt, unter der Annahme, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellt, von der in der erstgenannten Bestimmung vorgesehenen Regel der Behandlung als nicht mehrwertsteuerpflichtig erfasst wird.
44 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob, wie von Saudaçor geltend gemacht, der Begriff der sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 unter Heranziehung der Definition des Begriffs der Einrichtung des öffentlichen Rechts in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 auszulegen ist.
45 Eine solche Auslegung von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 kann nicht vertreten werden.
46 Durch die weite Definition des Begriffs der Einrichtung des öffentlichen Rechts und infolgedessen des Begriffs der öffentlichen Auftraggeber in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 soll nämlich deren Anwendungsbereich weit genug gezogen werden, um sicherzustellen, dass insbesondere die im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge gebotenen Transparenz- und Nichtdiskriminierungsregeln für eine Reihe staatlicher Einrichtungen gelten, die nicht zur öffentlichen Verwaltung gehören, aber dennoch vom Staat namentlich über ihre Finanzierung oder Verwaltung kontrolliert werden.
47 Der Kontext, in den sich der Begriff der Einrichtungen des öffentlichen Rechts in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 einfügt, ist aber ein grundlegend anderer.
48 Dieser Begriff soll nämlich nicht den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer definieren, sondern nimmt im Gegenteil eine Ausnahme von der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden allgemeinen Regel vor, nach der der Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer sehr weit dahin definiert ist, dass er alle gegen Entgelt erbrachten Dienstleistungen einschließlich derjenigen, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts erbracht werden, erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Niederlande, C‑79/09, EU:C:2010:171, Rn. 76 und 77).
49 Als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Mehrwertsteuerpflichtigkeit jeder Tätigkeit wirtschaftlicher Natur ist Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 eng auszulegen (vgl. u. a. Urteil Isle of Wight Council u. a., C‑288/07, EU:C:2008:505, Rn. 60, und Beschluss Gmina Wrocław, C‑72/13, EU:C:2014:197, Rn. 19).
50 Daraus folgt, dass mangels Anhaltspunkten im Wortlaut selbst des Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 die Systematik und der Zweck dieser Richtlinie sowie die Stellung zu berücksichtigen sind, die diese Bestimmung in dem von der Richtlinie geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystem einnimmt (vgl. entsprechend Urteil Isle of Wight Council u. a., C‑288/07, EU:C:2008:505, Rn. 25).
51 Wie der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen ist, offenbart eine Analyse von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 im Licht der Ziele dieser Richtlinie, dass zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen, damit die Regel der Behandlung als Nichtsteuerpflichtige greift, nämlich die Ausübung von Tätigkeiten durch eine öffentliche Einrichtung und die Vornahme von Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschluss Mihal, C‑456/07, EU:C:2008:293, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil Kommission/Niederlande, C‑79/09, EU:C:2010:171, Rn. 79).
52 Außerdem folgt nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sowohl aus den Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch aus dem Gleichheitsgrundsatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. u. a. Urteil Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853, Rn. 42).
53 Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 enthält keinerlei Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten.
54 Folglich sind die darin enthaltenen Begriffe, darunter derjenige der sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen.
55 Da Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112, wie oben in Rn. 49 in Erinnerung gerufen, als Ausnahme eng auszulegen ist, ist außerdem die Aufzählung in dieser Bestimmung als abschließend anzusehen, wobei der Begriff der sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts eine Auffangkategorie von anderen der öffentlichen Gewalt zuzuordnenden Einrichtungen als den dort konkret genannten bildet.
56 Was genau die erste der beiden in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 aufgestellten Voraussetzungen betrifft, d. h. diejenige der Eigenschaft als öffentliche Einrichtung, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Person, die der öffentlichen Gewalt vorbehaltene Handlungen in Unabhängigkeit vornimmt, ohne in die Organisation der öffentlichen Verwaltung eingegliedert zu sein, nicht als Einrichtung des öffentlichen Rechts im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschluss Mihal, C‑456/07, EU:C:2008:293, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Der Gerichtshof hat auch klargestellt, dass die Eigenschaft als „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ nicht allein daraus fließen kann, dass die in Rede stehende Tätigkeit in der Vornahme von der öffentlichen Gewalt vorbehaltenen Handlungen besteht (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschluss Mihal, C‑456/07, EU:C:2008:293, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Nichtsdestoweniger stellt der Umstand, dass der betreffenden Einrichtung nach dem anwendbaren nationalen Recht hoheitliche Befugnisse zukommen, auch wenn er für die Zwecke der besagten Einstufung nicht ausschlaggebend ist, doch einen Hinweis dar, der für die Feststellung, dass diese Einrichtung als Einrichtung des öffentlichen Rechts einzustufen ist, sicher von Bedeutung ist, denn er ist ein wesentliches Merkmal jedes Trägers öffentlicher Gewalt.
59 Art. 10 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 41/2003/A sieht aber vor, dass Saudaçor für die Ausführung ihrer Aufgaben über die gleichen hoheitlichen Befugnisse verfügt wie die ARA, und führt anschließend beispielhaft einige dieser Befugnisse an, u. a. diejenige zur Enteignung.
60 Außerdem scheint es mit Blick auf die oben in Rn. 56 angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs und unter Berücksichtigung des anwendbaren nationalen Rechts vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht nicht ausgeschlossen, dass Saudaçor als in die Organisation der öffentlichen Verwaltung der ARA eingegliedert zu betrachten ist.
61 In dieser Hinsicht kommt Saudaçor, wie aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Akten hervorgeht, insoweit als sie vom Staat infolge einer Umwandlung im Weg der Auslagerung der Aufgaben einer bestehenden staatlichen Einrichtung als Aktiengesellschaft errichtet wurde, in mehrerlei Hinsicht einer juristischen Person des Privatrechts gleich und verfügt gegenüber dem Staat über eine gewisse Autonomie in ihrer Arbeitsweise und laufenden Geschäftsführung.
62 Allerdings und ebenfalls vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheinen bestimmte Merkmale von Saudaçor für ihre Einstufung als Einrichtung des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 zu sprechen.
63 Die tatsächliche Autonomie von Saudaçor scheint nämlich dadurch begrenzt, dass ihr Kapital, das Beteiligungen von Einzelnen nicht offensteht, zu 100 % von der ARA gehalten wird, die außerdem – abgesehen von den Leistungen an Dritte im Rahmen der sogenannten „Nebentätigkeiten“, von denen feststeht, dass sie nur am Rande von Bedeutung sind – ihr einziger „Kunde“ ist. Diese Gesichtspunkte deuten darauf hin, dass die ARA in der Lage ist, einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeiten von Saudaçor auszuüben.
64 Dies findet auch darin Bestätigung, dass Saudaçor nach Klausel 3 Buchst. a des ersten zwischen ihr und der ARA geschlossenen Programm-Vertrags und Klausel 3 Abs. 1 Buchst. a des zweiten Programm-Vertrags ihre Aufgabe gemäß den von der ARA festgelegten Leitlinien erfüllt und dass sie sich nach Klausel 3 Buchst. h des ersten und Klausel 3 Abs. 1 Buchst. g des zweiten Programm-Vertrags der Aufsicht durch die ARA unterstellt.
65 Im Übrigen bestimmt Art. 4 Abs. 1 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 41/2003/A, dass Saudaçor diesem Rechtsakt, den Statuten in dessen Anhang, der rechtlichen Regelung für den Sektor der staatlichen Unternehmen gemäß der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 558/99 und dem Privatrecht unterliegt. In dem so festgelegten Rahmen ist das Privatrecht offensichtlich gegenüber den Regeln, die die rechtliche Verfassung von Saudaçor als öffentliches Unternehmen bestimmen, zweitrangig.
66 Zudem müssen zwar die Einzelheiten der Erbringung der Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes, u. a. was den dafür geschuldeten Ausgleich betrifft, in Programm-Verträgen geregelt werden, was nahelegen könnte, dass Saudaçor auf dem betreffenden Markt in Wettbewerb mit anderen privaten Wirtschaftsteilnehmern tätig wird, doch werden in der Autonomen Region Azoren diese Dienstleistungen ausschließlich von Saudaçor gemäß ihrer in Art. 2 Abs. 1 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 41/2003/A vorgesehenen Aufgabe erbracht und nicht im Wege etwa einer Ausschreibung an private Wirtschaftsteilnehmer vergeben.
67 Ferner scheint zwischen Saudaçor und der ARA eine organschaftliche Verbindung zu bestehen und sei es nur deshalb, weil diese Gesellschaft durch einen Rechtsakt des regionalen Gesetzgebers errichtet wurde, um, wie aus Art. 2 Abs. 1 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 41/2003/A hervorgeht, der Region „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Gesundheitsbereich“ zu erbringen.
68 Vorbehaltlich der Überprüfung dieser Gesichtspunkte durch das vorlegende Gericht ist somit nicht auszuschließen, dass dieses in Anbetracht einer Gesamtbeurteilung unter Berücksichtigung der auf Saudaçor anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts zu dem Ergebnis gelangt, dass Saudaçor als Einrichtung des öffentlichen Rechts im Sinne des Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 eingestuft werden kann.
69 Wie jedoch oben in Rn. 51 in Erinnerung gerufen, muss noch eine zweite in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung erfüllt sein, damit die dort vorgesehene Regel der Behandlung als Nichtmehrwertsteuerpflichtige anwendbar ist, nämlich diejenige, dass von der Mehrwertsteuer nur die Tätigkeiten befreit sind, die von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts ausgeführt werden, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt handelt.
70 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind darunter solche Tätigkeiten zu verstehen, die von den besagten Einrichtungen im Rahmen der ihnen eigenen rechtlichen Regelung ausgeübt werden. Nicht dazu gehören Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer. Der Gerichtshof hat auch klargestellt, dass der Gegenstand oder der Zweck der Tätigkeit insoweit unerheblich sind und dass die Tatsache, dass die Ausübung der in Rede stehenden Tätigkeit das Gebrauchmachen von hoheitlichen Befugnissen umfasst, die Feststellung erlaubt, dass diese Tätigkeit einer öffentlich-rechtlichen Regelung unterliegt (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil Fazenda Pública, C‑446/98, EU:C:2000:691, Rn. 17, 19 und 22).
71 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Befreiung hauptsächlich die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübten Tätigkeiten betrifft, die, obwohl sie wirtschaftlicher Art sind, eng mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse im Zusammenhang stehen (Urteil Isle of Wight Council u. a., C‑288/07, EU:C:2008:505, Rn. 31).
72 Diese zweite in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der genannten Richtlinie aufgestellte Voraussetzung wäre aber nicht erfüllt, wenn – wie von der portugiesischen Regierung vorgetragen und vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – die hoheitlichen Befugnisse, über die Saudaçor nach Art. 10 der Regionalen Gesetzgebenden Verordnung Nr. 41/2003/A verfügt, kein Instrument wären, dessen sie sich bedienen könnte, um die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tätigkeiten, also die Tätigkeiten der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes, deren Mehrwertsteuerpflichtigkeit streitig ist, zu verrichten, weil sie zur Ausführung anderer Tätigkeiten dienen.
73 Selbst wenn im Übrigen die Schlussfolgerung gezogen werden sollte, dass Saudaçor eine Einrichtung des öffentlichen Rechts ist, und davon ausgegangen würde, dass sie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende wirtschaftliche Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausübt, ergibt sich aus Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112, dass eine Einrichtung wie Saudaçor dennoch nicht von der Mehrwertsteuer befreit wäre, wenn festgestellt werden sollte, dass ihre Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
74 Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass die Frage, ob die Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde, in Bezug auf die fragliche Tätigkeit als solche zu beurteilen ist, ohne dass sich diese Beurteilung auf einen Markt im Besonderen bezieht, und in Bezug nicht nur auf den gegenwärtigen, sondern auch den potenziellen Wettbewerb, sofern die Möglichkeit für einen privaten Wirtschaftsteilnehmer, in den relevanten Markt einzutreten, real und nicht rein hypothetisch ist (Urteil Kommission/Niederlande, C‑79/09, EU:C:2010:171, Rn. 91).
75 Nach alledem ist auf die erste, die zweite und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die darin besteht, dass eine Gesellschaft an eine Region gemäß Programm-Verträgen, die sie mit ihr geschlossen hat, Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes erbringt, unter der Annahme, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellt, von der in der erstgenannten Bestimmung vorgesehenen Regel der Behandlung als nicht mehrwertsteuerpflichtig erfasst wird, wenn, was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist, davon ausgegangen werden kann, dass diese Gesellschaft als Einrichtung des öffentlichen Rechts einzustufen ist und dass sie die betreffende Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausübt, und sofern das vorlegende Gericht feststellt, dass die Befreiung der Tätigkeit nicht geeignet ist, zu größeren Wettbewerbsverzerrungen zu führen.
In diesem Zusammenhang ist der Begriff der sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 nicht unter Heranziehung der Definition des Begriffs der Einrichtung des öffentlichen Rechts in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 auszulegen.
Kosten
76 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die darin besteht, dass eine Gesellschaft an eine Region gemäß Programm-Verträgen, die sie mit ihr geschlossen hat, Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes erbringt, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
2. Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die darin besteht, dass eine Gesellschaft an eine Region gemäß Programm-Verträgen, die sie mit ihr geschlossen hat, Dienstleistungen im Bereich der Planung und Verwaltung des regionalen Gesundheitsdienstes erbringt, unter der Annahme, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellt, von der in der erstgenannten Bestimmung vorgesehenen Regel der Behandlung als nicht mehrwertsteuerpflichtig erfasst wird, wenn, was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist, davon ausgegangen werden kann, dass diese Gesellschaft als Einrichtung des öffentlichen Rechts einzustufen ist und dass sie die betreffende Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausübt, und sofern das vorlegende Gericht feststellt, dass die Befreiung der Tätigkeit nicht geeignet ist, zu größeren Wettbewerbsverzerrungen zu führen.
In diesem Zusammenhang ist der Begriff der sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 nicht unter Heranziehung der Definition des Begriffs der Einrichtung des öffentlichen Rechts in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge auszulegen.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Portugiesisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 29. Oktober 2015.#Benjámin Dávid Nagy gegen Vas Megyei Rendőr-főkapitányság.#Vorabentscheidungsersuchen des Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Diskriminierungsverbot – Art. 18 AEUV – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Freizügigkeit – Art. 63 AEUV – Freier Kapitalverkehr – Straßenverkehr – Fahrzeugführer mit Wohnsitz im betreffenden Mitgliedstaat – Verpflichtung, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle den Nachweis der ordnungsgemäßen Nutzung von in einem anderen Staat zugelassenen Fahrzeugen zu erbringen.#Rechtssache C-583/14.
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62014CJ0583
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ECLI:EU:C:2015:737
| 2015-10-29T00:00:00 |
Kokott, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0583
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
29. Oktober 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Diskriminierungsverbot — Art. 18 AEUV — Unionsbürgerschaft — Art. 20 AEUV — Freizügigkeit — Art. 63 AEUV — Freier Kapitalverkehr — Straßenverkehr — Fahrzeugführer mit Wohnsitz im betreffenden Mitgliedstaat — Verpflichtung, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle den Nachweis der ordnungsgemäßen Nutzung von in einem anderen Staat zugelassenen Fahrzeugen zu erbringen“
In der Rechtssache C‑583/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely, Ungarn) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Dezember 2014, in dem Verfahren
Benjámin Dávid Nagy
gegen
Vas Megyei Rendőr-főkapitányság
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Sechsten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter) und J.‑C. Bonichot,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Tátrai und G. Koós als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und B. Béres als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 AEUV und 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Nagy und dem Vas Megyei Rendőr-főkapitányság (Polizeipräsidium für das Komitat Eisenburg, im Folgenden: Polizeipräsidium) über eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen die nationalen Vorschriften über die Nutzung von Fahrzeugen mit ausländischem Kennzeichen durch in Ungarn wohnhafte Personen im Inland.
Rechtlicher Rahmen
3 In Ungarn bestimmt § 20 Abs. 1 Buchst. l und Abs. 4 des Gesetzes I von 1988 über den Straßenverkehr (A közúti közlekedésről szóló 1988. évi I. törvény, im Folgenden: Straßenverkehrsgesetz):
„(1) Wer gegen die Vorschriften dieses Gesetzes, besondere Vorschriften oder gemeinschaftsrechtliche Vorschriften über die Inbetriebhaltung oder Nutzung von Fahrzeugen mit ausländischem Kennzeichen im Inland durch in Ungarn ansässige Personen oder Einrichtungen verstößt, kann mit einer Geldbuße belegt werden.
…
(4) Wegen eines Verstoßes gegen eine in Abs. 1 … Buchst. l … genannte Vorschrift kann eine Geldbuße zwischen 10000 und 800000 [ungarische Forint (HUF) (etwa 32 Euro bis 2500 Euro)] festgesetzt werden. Der Höchstbetrag der Geldbuße wird durch eine besondere Rechtsnorm bestimmt …“
4 § 25/B dieses Gesetzes lautet:
„(1) Ein Kraftfahrzeug … darf am Straßenverkehr mit einer ungarischen amtlichen Zulassung und einem ungarischen amtlichen Kennzeichen, die von der Straßenverkehrsbehörde erteilt worden sind, teilnehmen, sofern
a)
sein Halter nach den Vorschriften dieses Gesetzes als inländischer Halter gilt oder
b)
der Fahrzeugführer im ungarischen Hoheitsgebiet über einen Wohnsitz verfügt.
(2) Abs. 1 Buchst. a findet keine Anwendung, wenn
a)
der Halter keine natürliche Person ist und seine regelmäßige Tätigkeit in einem anderem Staat ausübt und dort über eine eingetragene Niederlassung (Zweigstelle) verfügt …
…
(4) Abs. 1 Buchst. b findet keine Anwendung, wenn der Fahrzeugführer:
a)
seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im ungarischen Hoheitsgebiet hat,
b)
das Fahrzeug im ungarischen Hoheitsgebiet für einen Zeitraum von nicht mehr als 30 Tagen innerhalb von sechs Monaten nutzt und der Halter der Nutzung durch eine Erklärung zugestimmt hat, die in einer Urkunde festgehalten ist, in der der Zeitpunkt der Überlassung des Besitzes an dem Fahrzeug sowie der Zeitraum der Nutzungsberechtigung angegeben sind, oder
c)
das im Inland genutzte Fahrzeug von einem ausländischen Halter erhalten hat, um es bei seiner regelmäßigen Arbeitsleistung zu nutzen.
…
(5) Der Halter oder Führer des Fahrzeugs hat bei einer Kontrolle durch eine öffentliche oder in vollem Umfang beweiskräftige private Urkunde, die in ungarischer Sprache abgefasst ist oder der eine beglaubigte oder nicht beglaubigte einfache Übersetzung ins Ungarische beigefügt ist, nachzuweisen, dass die in den Abs. 2 und 4 festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.“
5 § 12/A der Regierungsverordnung Nr. 156/2009 vom 29. Juli 2009 über die Höhe der Geldbußen wegen Verstoßes gegen bestimmte Vorschriften betreffend den Transport von Gütern und die Beförderung von Personen auf der Straße und den Straßenverkehr und über die Aufgaben der Behörden bei der Verhängung von Geldbußen (A közúti árufuvarozáshoz, személyszállításhoz és a közúti közlekedéshez kapcsolódó egyes rendelkezések megsértése esetén kiszabható bírságok összegéről, valamint a bírságolással ősszefüggő hatósági feladatokról szóló 156/2009. Kormányrendelet) bestimmt:
„(1) Verstößt ein inländischer Halter, der keine natürliche Person ist, gegen § 20 Abs. 1 Buchst. l [des Straßenverkehrsgesetzes], ist er zur Zahlung einer Geldbuße in Höhe von
a)
400000 HUF [etwa 1250 Euro] im Fall eines Personenkraftwagens mit bis zu 2000 cm3 Hubraum,
b)
800000 HUF [etwa 2500 Euro] im Fall eines Personenkraftwagens mit mehr als 2000 cm3 Hubraum oder
c)
200000 HUF [etwa 625 Euro] im Fall anderer Fahrzeuge
verpflichtet.
(2) Verstößt eine natürliche Person gegen Art. 20 Abs. 1 Buchst. l des [Straßenverkehrsgesetzes], ist sie zur Zahlung einer Geldbuße in Höhe der Hälfte des in Abs. 1 genannten Betrags verpflichtet.“
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
6 Herr Nagy, ungarischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Ungarn, stand bis 16. Mai 2013 in keinem Arbeitsverhältnis im Sinne des Unionsrechts und hatte keinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Ausland.
7 Der Halbbruder von Herrn Nagy, ungarischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Österreich, ist einer der Gesellschafter und der gesetzliche Vertreter der in Österreich registrierten Alpen-Reisen Horváth OG (im Folgenden: Alpen‑Reisen).
8 Alpen-Reisen gestattete Herrn Nagy mit Vertrag vom 3. Dezember 2010, ab dem 7. Dezember 2010 bis auf Widerruf einen Pkw mit einem österreichischen Kennzeichen zu nutzen.
9 Herr Nagy war nicht ständig im Besitz des vorgenannten Fahrzeugs, sondern nutzte es gelegentlich, wenn sein Halbbruder ihn bat, Angelegenheiten für die Alpen-Reisen zu erledigen. Das Unternehmen trug die Kosten für den Unterhalt des Fahrzeugs.
10 Herr Nagy führte diesen Pkw am 16. Mai 2013 im Straßenverkehr in Szombathely (Ungarn), als er von der Polizei kontrolliert wurde. Bei der Kontrolle gab Herr Nagy an, dass sein Halbbruder ihm das Fahrzeug leihweise überlassen habe, damit er es in Ungarn nutzen könne, konnte aber an Ort und Stelle den Vertrag, der ihm das Recht zur Nutzung des Fahrzeugs verlieh, nicht vorlegen. Die Polizisten behielten daraufhin die Kennzeichen und die Verkehrszulassung für das Fahrzeug ein.
11 Mit Bescheid vom 30. Mai 2013 setzte das Polizeikommissariat Szombathely (Szombathelyi Rendőrkapitányság) gegen Herrn Nagy eine Geldbuße in Höhe von 400000 HUF (etwa 1250 Euro) wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Nutzung von Fahrzeugen mit ausländischem Kennzeichen durch in Ungarn wohnhafte Personen im Inland fest.
12 Herr Nagy erhob gegen diesen Bescheid beim Polizeipräsidium Widerspruch. Zur Begründung machte er geltend, dass er über das Einverständnis seines Halbbruders verfüge, den fraglichen Wagen zu führen, und dass die Bestimmungen des ungarischen Rechts, auf die die Geldbuße gestützt werde, gegen das Unionsrecht und insbesondere den Grundsatz der Freizügigkeit verstießen. Er bezog sich hierzu auf die zum damaligen Zeitpunkt beim Gerichtshof anhängige Rechtssache, in der später der Beschluss Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) erging und die dieselbe ungarische Regelung betraf.
13 Das Polizeipräsidium bestätigte mit Bescheid vom 15. Juli 2013 den Bescheid des Polizeikommissariats Szombathely. Das Polizeipräsidium führte insbesondere aus, dass Herr Nagy an Ort und Stelle kein Schriftstück zum Nachweis dafür habe vorlegen können, dass er das Fahrzeug im Inland rechtmäßig nutze.
14 Herr Nagy erhob gegen diesen Bescheid des Polizeipräsidiums Klage beim Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely). Zur Stützung dieser Klage machte er geltend, § 20 Abs. 1 Buchst. l und § 25/B Abs. 1 Buchst. b des Straßenverkehrsgesetzes, auf die der angegriffene Bescheid des Polizeipräsidiums vom 15. Juli 2013 gestützt sei, verstießen gegen Unionsrecht. Er legte den Vertrag vom 3. Dezember 2010 über die Überlassung des fraglichen Kraftfahrzeugs zur Nutzung bei und trug vor, nie eine berufliche Tätigkeit ausgeübt zu haben.
15 Das vorlegende Gericht setzte das Ausgangsverfahren bis zur Verkündung des Beschlusses Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) aus. In diesem Beschluss hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats, bei der es sich um dieselbe handelte wie im Ausgangsverfahren, entgegensteht, wonach im Straßennetz dieses Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine in diesem Mitgliedstaat wohnende Person, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von ihrem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der streitigen nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, da ihr sonst sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.
16 Da Herr Kovács Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts war, antwortete der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache im Hinblick auf Art. 45 AEUV und nicht im Hinblick auf Art. 18 AEUV und 20 AEUV, die ebenfalls Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens gewesen waren.
17 Nach der Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens ergänzte Herr Nagy seinen Sachvortrag und gab an, dass er auf Bitte seines Halbbruders regelmäßig als mithelfender Familienangehöriger bei Alpen‑Reisen im Rahmen ihrer grenzüberschreitenden Tätigkeiten zwischen Ungarn und Österreich ausgeholfen habe, dies aber unentgeltlich getan habe. Dem vorlegenden Gericht zufolge sollte Herr Nagy auch an dem Tag, an dem ihn die Polizei kontrolliert habe, eine solche Tätigkeit ausführen.
18 Unter diesen Umständen beschloss das Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely), das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 18 AEUV dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach in diesem Mitgliedstaat am Straßenverkehr grundsätzlich nur Kraftfahrzeuge teilnehmen dürfen, denen von diesem Mitgliedstaat eine Zulassung und ein Kennzeichen erteilt worden sind, und eine Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und kein Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts ist, wenn sie eine Befreiung von dieser Regel in Anspruch nehmen möchte, weil sie ein Kraftfahrzeug nutzt, das ihr ein Wirtschaftsteilnehmer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt hat, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen muss, dass sie die Voraussetzungen erfüllt, die die in Rede stehende Regelung des Mitgliedstaats vorsieht, und anderenfalls sofort eine Geldbuße verhängt wird, von der eine Befreiung nicht möglich ist und deren Betrag der Geldbuße entspricht, die bei einem Verstoß gegen die Registrierungspflicht festzusetzen ist?
2. Ist Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach in diesem Mitgliedstaat am Straßenverkehr grundsätzlich nur Kraftfahrzeuge teilnehmen dürfen, denen von diesem Mitgliedstaat eine Zulassung und ein Kennzeichen erteilt worden sind, und eine Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und kein Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts ist, wenn sie eine Befreiung von dieser Regel in Anspruch nehmen möchte, weil sie ein Kraftfahrzeug nutzt, das ihr ein Wirtschaftsteilnehmer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt hat, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen muss, dass sie die Voraussetzungen erfüllt, die die in Rede stehende Regelung des Mitgliedstaats vorsieht, und anderenfalls sofort eine Geldbuße verhängt wird, von der eine Befreiung nicht möglich ist und deren Betrag der Geldbuße entspricht, die bei einem Verstoß gegen die Registrierungspflicht festzusetzen ist?
Zu den Vorlagefragen
19 Mit diesen gemeinsam zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 18 AEUV und 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bestimmt, dass im Straßennetz des betreffenden Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine Person mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter des Fahrzeugs zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, und ihr anderenfalls sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.
20 Zunächst sei bemerkt, dass der Gerichtshof, selbst wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die Auslegung der Art. 18 AEUV und 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV beschränkt hat, nicht daran gehindert ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile ING. AUER, C‑251/06, EU:C:2007:658, Rn. 38, und van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 23).
21 Die gestellten Fragen müssen nämlich im Licht sämtlicher Bestimmungen des Vertrags und des abgeleiteten Rechts, die für die aufgeworfene Problematik von Bedeutung sein können, beantwortet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Mutsch, 137/84, EU:C:1985:335, Rn. 10, und van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 24).
22 Aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Akten geht hervor, dass Herr Nagy im ungarischen Straßennetz als Gebietsansässiger ein in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug nutzte, das ihm unentgeltlich von dem österreichischen Unternehmen Alpen-Reisen überlassen worden war, und dass der Halbbruder von Herrn Nagy einer der Gesellschafter und der gesetzliche Vertreter dieses Unternehmens ist.
23 Wie die Europäische Kommission zu Recht angemerkt hat, hat der Gerichtshof zu einer zwischen in verschiedenen Mitgliedstaaten wohnhaften Bürgern vereinbarten Leihe bereits entschieden, dass es sich beim grenzüberschreitenden unentgeltlichen Verleih eines Kraftfahrzeugs um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 28 und 36).
24 Da Art. 63 AEUV anwendbar ist und besondere Diskriminierungsverbote vorsieht, findet Art. 18 AEUV keine Anwendung (vgl. in diesem Sinne Urteil Missionswerk Werner Heukelbach, C‑25/10, EU:C:2011:65, Rn. 19).
25 Angesichts dessen sind die Vorlagefragen zunächst im Licht des Art. 63 AEUV und anschließend gegebenenfalls im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV zu prüfen.
26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats Beschränkungen im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV darstellen, wenn sie geeignet sind, die Gebietsansässigen davon abzuhalten, in einem anderen Mitgliedstaat Darlehen aufzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Belgien, C‑478/98, EU:C:2000:497, Rn. 18, und van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 40).
27 In Rn. 29 des Beschlusses Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705), in dem es um dieselbe ungarische Regelung wie im Ausgangsverfahren ging, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Regelung in ihren Folgen der Aufrechterhaltung der Verpflichtung, das Fahrzeug in Ungarn zuzulassen, gleichkommt.
28 Diese Regelung zwingt einen Fahrer wie den Kläger des Ausgangsverfahrens nämlich dazu, ständig die Schriftstücke bei sich zu führen, die belegen, dass die Voraussetzungen der Befreiung von der Zulassungspflicht erfüllt sind, da gegen ihn anderenfalls ein Bußgeld in gleicher Höhe verhängt wird wie gegen eine Person, die gegen die Verpflichtung zur Zulassung eines Fahrzeuges verstößt. Eine solche Sanktion steht offensichtlich außer Verhältnis zum im Ausgangsverfahren fraglichen Verstoß, der wesentlich weniger schwer wiegt als der Verstoß der Nichtzulassung eines Fahrzeugs (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 25 und 28).
29 Die Situation eines in Ungarn Ansässigen, der im Straßennetz dieses Mitgliedstaats ein Fahrzeug nutzt, das dort zugelassen ist und ihm unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, ist objektiv mit der Situation vergleichbar, in der ein solcher Gebietsansässiger unter denselben Umständen ein in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug nutzt. Nun unterliegt aber die Nutzung eines unentgeltlich überlassenen Fahrzeugs nicht den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Verpflichtungen, wenn es sich um ein in Ungarn zugelassenes Fahrzeug handelt.
30 Demnach stellt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV dar, es sei denn, dass das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassene Fahrzeug im Wesentlichen dauerhaft in Ungarn benutzt werden soll oder tatsächlich benutzt wird, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 50).
31 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine solche Beschränkung einer der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit diesem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem solchen Fall muss aber die Anwendung einer solchen Maßnahme auch geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Zwecks zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (vgl. u. a. Beschluss Kovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Der Gerichtshof hat in Rn. 34 des Beschlusses Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) entschieden, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zwar geeignet erscheint, die Durchsetzung des Ziels der Bekämpfung von Steuerbetrug in den Bereichen der Zulassungssteuer und der Kraftfahrzeugsteuer zu gewährleisten, jedoch über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgeht.
33 Ähnlich wie in dem Sachverhalt, der dem Beschluss Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) zugrunde lag, lassen sich den dem Gerichtshof unterbreiteten Akten keine Gesichtspunkte entnehmen, die den Schluss zulassen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens das Ziel der Bekämpfung des Steuerbetrugs nur dann erreicht werden könnte, wenn die Schriftstücke, die belegen, dass die Voraussetzungen der Befreiung von der Zulassungspflicht erfüllt sind, zum Zeitpunkt der Verkehrskontrolle vorgelegt werden, und anderenfalls ein Bußgeld verhängt wird, das dem Bußgeld für einen Verstoß gegen die Zulassungspflicht entspricht, und dass dieses Ziel nicht mehr erreicht werden könnte, wenn diese Schriftstücke wie im Ausgangsverfahren innerhalb kurzer Frist nach der Kontrolle vorgelegt werden (Beschluss Kovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 35).
34 Was das von der ungarischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen als Rechtfertigung angeführte Erfordernis wirksamer Verkehrskontrollen angeht, ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung ein beträchtliches Bußgeld festsetzt, mit dem spezifisch die Missachtung der Zulassungspflicht geahndet werden soll. Eine solche Maßnahme geht jedoch über das für die Erreichung des Ziels der Wirksamkeit von Verkehrskontrollen Erforderliche hinaus (vgl. in diesem Sinne BeschlussKovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 38).
35 Hierzu vertritt die ungarische Regierung die Ansicht, dass das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung, das der Gerichtshof in der Rechtssache, in der der Beschluss Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) ergangen ist, als nicht erfüllt ansah, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens erfüllt sei, in dem es um einen „Unionsbürger“ im Sinne des Art. 20 AEUV gehe, der kein „Arbeitnehmer“ im Sinne des Art. 45 AEUV sei. Im Fall eines Unionsbürgers, der kein Arbeitnehmer sei, seien nämlich die Kontrollmöglichkeiten der zuständigen nationalen Behörden geringer und das Risiko der Umgehung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelungen, insbesondere der in § 25/B des Straßenverkehrsgesetzes vorgesehenen Voraussetzungen für die Befreiung von der Zulassungspflicht, erhöht. Selbst unter der Annahme, dass ein solcher Unterschied zwischen der Situation von Arbeitnehmern und anderen Unionsbürgern in Bezug auf die Kontrollmöglichkeiten besteht, kann er es jedoch in keinem Fall rechtfertigen, unter Berufung auf das Ziel der Wirksamkeit von Verkehrskontrollen eine Geldbuße, wie sie nach dieser nationalen Regelung vorgesehen ist, zu verhängen.
36 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung den in Art. 63 AEUV niedergelegten Grundsatz der Freiheit des Kapitalverkehrs nicht beachtet, so dass sich die Beantwortung der im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV vorgelegten Fragen erübrigt.
37 Daher ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 63 Abs. 1 AEUV einer nationalen Regelung entgegensteht, die bestimmt, dass im Straßennetz des betreffenden Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine Person mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter des Fahrzeugs zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, und ihr anderenfalls sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.
Kosten
38 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 63 Abs. 1 AEUV steht einer nationalen Regelung entgegen, die bestimmt, dass im Straßennetz des betreffenden Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine Person mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter des Fahrzeugs zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, und ihr anderenfalls sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 26. Oktober 2015.#Andriy Portnov gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers – Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste.#Rechtssache T-290/14.
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62014TJ0290
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ECLI:EU:T:2015:806
| 2015-10-26T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TJ0290
URTEIL DES GERICHTS (Neunte Kammer)
26. Oktober 2015 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine — Einfrieren von Geldern — Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden — Aufnahme des Namens des Klägers — Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste“
In der Rechtssache T‑290/14
Andriy Portnov, wohnhaft in Kiev (Ukraine), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt M. Cessieux,
Kläger,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch V. Piessevaux und J.‑P. Hix als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch D. Gauci und T. Scharf als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
wegen Nichtigerklärung der Verordnung (EU) Nr. 208/2014 des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. L 66, S. 1) sowie des Beschlusses 2014/119/GASP des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. L 66, S. 26), soweit der Name des Klägers in die Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen aufgenommen wurde, die diesen restriktiven Maßnahmen unterliegen,
erlässt
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten G. Berardis (Berichterstatter) sowie der Richter O. Czúcz und A. Popescu,
Kanzler: S. Bukšek Tomac, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Mai 2015
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Der Kläger, Herr Andriy Portnov, ein ukrainischer Staatsbürger, hat zahlreiche Posten in der ukrainischen Verwaltung bekleidet, insbesondere den eines Beraters des ukrainischen Staatspräsidenten.
2 Am 5. März 2014 erließ der Rat der Europäischen Union, gestützt auf Art. 29 EUV, den Beschluss 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. L 66, S. 26, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
3 Art. 1 Abs. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses lautet:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
(2) Den im Anhang aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugute kommen.“
4 Die Einzelheiten dieser restriktiven Maßnahmen sind in den nachfolgenden Absätzen dieses Artikels festgelegt.
5 Am selben Tag erließ der Rat, gestützt auf Art. 215 Abs. 2 AEUV, die Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. L 66, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung).
6 Gemäß dem angefochtenen Beschluss ordnet die angefochtene Verordnung den Erlass der restriktiven Maßnahmen an und legt deren Einzelheiten im Wesentlichen gleichlautend wie im angefochtenen Beschluss fest.
7 Die Namen der von dem Beschluss und der angefochtenen Verordnung betroffenen Personen stehen in der Liste im Anhang dieses Beschlusses und in Anhang I dieser Verordnung (im Folgenden: Liste), zusammen u. a. mit der Begründung für ihre Aufnahme.
8 Der Name des Klägers war auf der Liste mit den Identifizierungsinformationen „ehemaliger Berater des Staatspräsidenten der Ukraine“ und folgender Begründung verzeichnet:
„Person ist in der Ukraine Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung zur Untersuchung von Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland.“
9 Am 6. März 2014 veröffentlichte der Rat im Amtsblatt der Europäischen Union die Mitteilung an die Personen, die den restriktiven Maßnahmen nach dem angefochtenen Beschluss und der angefochtenen Verordnung unterliegen (ABl. C 66, S. 1).
10 Nach dieser Mitteilung „[können d]ie betroffenen Personen … beim Rat unter Vorlage von entsprechenden Nachweisen beantragen, dass der Beschluss, sie in die … Liste aufzunehmen, überprüft wird“. In der Mitteilung werden die betroffenen Personen ferner darauf aufmerksam gemacht, „dass sie den Beschluss des Rates unter den in Artikel 275 Absatz 2 und Artikel 263 Absätze 4 und 6 [AEUV] genannten Voraussetzungen vor dem Gericht … anfechten können“.
11 Am 17. April 2014 beantragte der Kläger beim Rat, die Aufnahme seines Namens in die Liste zu überprüfen und ihm die Einzelheiten, die die Aufnahme gerechtfertigt hatten, mitzuteilen.
12 Der Rat bestätigte, dass der Antrag geprüft werde, und übermittelte als Anlage zur Klagebeantwortung und zur Gegenerwiderung die Unterlagen, aus denen die Akte des Klägers besteht, nämlich das Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine vom 3. März 2014 an die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik (im Folgenden: Schreiben vom 3. März 2014), sowie andere Beweise späteren Datums als die angefochtenen Rechtsakte.
13 Der angefochtene Beschluss und die angefochtene Verordnung wurden durch den Durchführungsbeschluss 2014/216/GASP des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung des angefochtenen Beschlusses (ABl. L 111, S. 91) und durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 381/2014 des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung der angefochtenen Verordnung (ABl. L 111, S. 33) geändert. Der Durchführungsbeschluss 2014/216 und die Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 haben an der Situation des Klägers jedoch nichts geändert.
14 Der angefochtene Beschluss ist außerdem durch den Beschluss (GASP) 2015/143 des Rates vom 29. Januar 2015 zur Änderung des angefochtenen Beschlusses (ABl. L 24, S. 16) geändert worden, der am 1. Februar 2015 in Kraft getreten ist. Bezüglich der Kriterien für die Benennung der von den restriktiven Maßnahmen erfassten Personen ergibt sich aus Art. 1 dieses Beschlusses, dass Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses durch folgenden Wortlaut ersetzt worden ist:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
Für die Zwecke dieses Beschlusses zählen zu Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich erklärt wurden, Personen, die Gegenstand von Untersuchungen der ukrainischen Behörden sind
a)
wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine oder wegen Beihilfe hierzu oder
b)
wegen Amtsmissbrauchs als Inhaber eines öffentlichen Amtes, um sich selbst oder einer dritten Partei einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen und wodurch ein Verlust staatlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine verursacht wird, oder wegen Beihilfe hierzu.“
15 Mit der Verordnung (EU) 2015/138 des Rates vom 29. Januar 2015 zur Änderung der angefochtenen Verordnung (ABl. L 24, S. 1) ist diese entsprechend dem Beschluss 2015/143 geändert worden.
16 Der angefochtene Beschluss und die angefochtene Verordnung sind später durch den Beschluss (GASP) 2015/364 des Rates vom 5. März 2015 zur Änderung des angefochtenen Beschlusses (ABl. L 62, S. 25) und die Durchführungsverordnung (EU) 2015/357 des Rates vom 5. März 2015 zur Durchführung der angefochtenen Verordnung (ABl. L 62, S. 1) geändert worden. Mit dem Beschluss 2015/364 ist Art. 5 des angefochtenen Beschlusses dahin geändert worden, dass für bestimmte Personen, deren Namen in die Liste aufgenommen worden waren, die restriktiven Maßnahmen bis zum 6. März 2016 oder bis zum 6. Juni 2015 verlängert werden. Die Durchführungsverordnung 2015/357 hat dementsprechend Anhang I der angefochtenen Verordnung ersetzt.
17 Infolge dieser Änderungen erscheint der Name des Klägers nicht mehr in der Liste.
Verfahren und Anträge der Parteien
18 Mit Klageschrift, die am 29. April 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Außerdem hat er eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren nach Art. 76a der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 beantragt.
19 Mit Entscheidung vom 4. Juni 2014 hat das Gericht den Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren abgelehnt.
20 Am 24. Juli 2014 hat der Rat seine Klagebeantwortung eingereicht. Außerdem hat er gemäß Art. 18 Abs. 4 Unterabs. 2 der Dienstanweisung für den Kanzler des Gerichts den mit Gründen versehenen Antrag gestellt, dass der Inhalt bestimmter Anlagen zur Klagebeantwortung in den Dokumenten zu dieser Rechtssache, die öffentlich zugänglich sind, nicht zitiert wird.
21 Mit Schriftsatz, der am 4. August 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Europäische Kommission beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 11. September 2014 hat der Präsident der Neunten Kammer des Gerichts den Streitbeitritt zugelassen. Mit Schriftsatz, der am 14. Oktober 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission auf die Einreichung des Streithilfeschriftsatzes verzichtet.
22 Die Erwiderung und die Gegenerwiderung sind am 17. September 2014 bzw. am 12. November 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen. Der Rat hat ferner gemäß Art. 18 Abs. 4 Unterabs. 2 der Dienstanweisung für den Kanzler des Gerichts den mit Gründen versehenen Antrag gestellt, dass der Inhalt bestimmter Anlagen zur Gegenerwiderung in den Dokumenten zu dieser Rechtssache, die öffentlich zugänglich sind, nicht zitiert wird.
23 Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 hat das Gericht am 31. März 2015 die Parteien zur Stellungnahme zu der Frage aufgefordert, ob der Kläger nach Streichung seines Namens von der Liste der Personen, die von den restriktiven Maßnahmen erfasst sind, noch ein Rechtsschutzinteresse habe, und falls ja, in Bezug auf welche Klagegründe. Die Parteien sind dem fristgerecht nachgekommen.
24 In der Sitzung vom 21. Mai 2015 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
25 Der Kläger beantragt,
—
die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie ihn betrifft;
—
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er ihn betrifft;
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
26 Der Rat, unterstützt durch die Kommission, beantragt,
—
die Klage als unbegründet abzuweisen;
—
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen;
—
hilfsweise, die Wirkungen des angefochtenen Beschlusses bis zum Wirksamwerden der teilweisen Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung aufrechtzuerhalten.
Rechtliche Würdigung
Zum Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses des Klägers
27 Nach den Änderungen der angefochtenen Rechtsakte durch den Beschluss 2015/364 und die Durchführungsverordnung 2015/357 erscheint der Name des Klägers nicht mehr in der Liste.
28 Auf die schriftliche Frage des Gerichts (oben, Rn. 23) hat der Rat, unterstützt durch die Kommission, die Ansicht vertreten, der Kläger habe nicht dargetan, dass sein Rechtsschutzinteresse fortbestehe.
29 Nach ständiger Rechtsprechung muss ebenso wie das Rechtsschutzinteresse des Klägers auch der Streitgegenstand bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung fortbestehen, andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. Dies setzt voraus, dass die Klage derjenigen Partei, die sie erhoben hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (vgl. Urteil vom 7. Juni 2007, Wunenburger/Kommission, C‑362/05 P, Slg, EU:C:2007:322, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Außerdem ist zu beachten, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Handlung zwar als solche einen materiellen Schaden oder eine Beeinträchtigung des Privatlebens nicht wiedergutmachen kann, aber gleichwohl geeignet ist, den Betroffenen zu rehabilitieren oder eine Form der Wiedergutmachung des immateriellen Schadens darzustellen, der ihm aufgrund dieser Rechtswidrigkeit entstanden ist, und somit den Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses zu begründen. Insoweit schließt der Umstand, dass die Aufhebung der fraglichen restriktiven Maßnahmen endgültig war, es nicht aus, dass ein Rechtsschutzinteresse in Bezug auf die Wirkungen der Rechtsakte, mit denen diese Maßnahmen zwischen dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens und dem ihrer Aufhebung angeordnet wurden, fortbesteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Mai 2013, Abdulrahim/Rat und Kommission, C‑239/12 P, Slg, EU:C:2013:331, Rn. 70 bis 72 und 82).
31 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der Kläger, wie er in seiner Antwort auf die Fragen des Gerichts und in der mündlichen Verhandlung – vom Rat unwidersprochen – behauptet hat, am politischen Leben in der Ukraine beteiligt war und dies gegenwärtig ist. Daher vermag seine durch die Aufnahme seines Namens in die Liste erfolgte öffentliche Bezeichnung als Person, die in der Ukraine Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung im Zusammenhang mit der Veruntreuung von Geldern ist, insbesondere seinen Ruf als Politiker zu schädigen.
32 Im Ergebnis ist folglich darauf zu schließen, dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers trotz der bezüglich seiner Person erfolgten Aufhebung der streitigen restriktiven Maßnahmen fortbesteht.
Zur Begründetheit
33 Der Kläger stützt seine Klage auf fünf Klagegründe. Mit dem ersten rügt er eine Verletzung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Mit dem zweiten wird ein Verstoß gegen die Begründungspflicht geltend gemacht. Mit dem dritten wird die Nichteinhaltung der im angefochtenen Beschluss und in der angefochtenen Verordnung festgelegten Kriterien für die Benennung der von den restriktiven Maßnahmen erfassten Personen gerügt. Mit dem vierten wird das Vorliegen eines Tatsachenirrtums und mit dem fünften ein Eingriff in das Eigentumsrecht geltend gemacht.
34 Das Gericht hält es für angebracht, zunächst den dritten Klagegrund zu prüfen.
35 Zur Stützung des dritten Klagegrundes macht der Kläger sinngemäß geltend, der Erlass restriktiver Maßnahmen gegen ihn entspreche nicht den in den angefochtenen Rechtsakten festgelegten Kriterien für die Benennung der von diesen Maßnahmen erfassten Personen. Zum einen sei nicht erwiesen, dass er für eine Veruntreuung öffentlicher Gelder verantwortlich und deswegen Gegenstand eines Strafverfahrens oder strafrechtlicher Ermittlungen gewesen sei. Zum anderen erfülle der illegale Transfer veruntreuter Gelder ins Ausland einen anderen Straftatbestand als den der Veruntreuung öffentlicher Gelder, der in den angefochtenen Rechtsakten genannt sei.
36 Mit diesem Vorbringen stellt der Kläger im Wesentlichen die sachliche Richtigkeit der Aufnahme seines Namens in die Liste in Frage.
37 Der Rat macht geltend, Art. 1 des angefochtenen Beschlusses könne nicht dahin ausgelegt werden, dass er nur Personen erfasse, deren Strafbarkeit wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder durch gerichtliche Entscheidung festgestellt worden sei. Außerdem könne ein Transfer veruntreuter öffentlicher Gelder ins Ausland als Teilnahme am Delikt der Veruntreuung selbst gewertet werden.
38 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Rat zwar in Bezug auf die allgemeinen Kriterien, die zum Zweck des Erlasses restriktiver Maßnahmen anzuwenden sind, über ein weites Ermessen verfügt. Doch erfordert die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle, dass sich der Unionsrichter, wenn er die Rechtmäßigkeit der Begründung prüft, die der Entscheidung, den Namen einer bestimmten Person in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen aufzunehmen oder darin zu belassen, zugrunde liegt, vergewissert, dass diese Entscheidung, die eine individuelle Betroffenheit dieser Person begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der Tatsachen voraus, die in der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Begründung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um diese Entscheidung zu stützen – hinreichend genau und konkret untermauert sind (vgl. Urteil vom 21. April 2015, Anbouba/Rat, C‑605/13 P, Slg, EU:C:2015:248, Rn. 41 und 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall lautet das Kriterium in Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses, dass restriktive Maßnahmen gegen „Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden“, ergehen.
40 Der Name des Klägers wurde mit der Begründung in die Liste aufgenommen, dass er eine „Person [sei, die] in der Ukraine Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung zur Untersuchung von Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland [sei]“. Daraus geht hervor, dass der Rat davon ausgegangen ist, dass gegen den Kläger zumindest eine Voruntersuchung oder ein Ermittlungsverfahren geführt worden sei, die bzw. das nicht (oder noch nicht) zu einer förmlichen Anklage geführt habe.
41 Für die Begründung der Aufnahme des Klägers in die Liste beruft sich der Rat auf das Schreiben vom 3. März 2014, wonach „[d]ie ukrainischen Strafverfolgungsbehörden eine Reihe von Strafverfahren eingeleitet [haben], um wegen Straftaten zu ermitteln, die durch ehemalige hohe Beamte begangen wurden“, unter denen der Kläger aufgeführt wird. Das Schreiben führt anschließend sehr allgemein aus, diese Ermittlungen hätten es „ermöglicht, die Veruntreuung hoher Summen öffentlicher Gelder und den später erfolgten illegalen Transfer in das Ausland zu belegen“.
42 Unter Berücksichtigung der Akte der Rechtssache ist unter den vom Rat im vorliegenden Verfahren vorgelegten Beweisstücken das Schreiben vom 3. März 2014 das einzige Beweisstück aus der Zeit vor dem angefochtenen Beschluss und der angefochtenen Verordnung. Demzufolge ist die Rechtmäßigkeit dieser Rechtsakte nur anhand dieses Beweisstücks zu beurteilen.
43 Folglich ist zu prüfen, ob das Schreiben vom 3. März 2014 einen hinreichenden Beweis dafür darstellt, dass der Kläger im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses „als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich“ identifiziert worden ist.
44 Das Schreiben vom 3. März 2014 stammt zwar, wie der Rat hervorhebt, von einer hohen Justizbehörde eines Drittlands, nämlich der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine; es enthält jedoch lediglich eine allgemeine Behauptung, wonach gegen den Kläger, wie auch gegen andere ehemalige hohe Beamte, ein Ermittlungsverfahren wegen nicht genauer angegebener Veruntreuungen öffentlicher Gelder geführt worden sein soll, das den illegalen Transfer dieser Gelder ins Ausland betreffe. Das Schreiben geht weder auf diese Taten noch auf die Verantwortlichkeit des Klägers für sie näher ein.
45 Zu dem Vorbringen des Rates vor dem Gericht, dass die Einleitung eines den Kläger betreffenden Ermittlungsverfahrens notwendigerweise auf Informationen beruht habe, die durch vor der Einleitung geführte, nicht näher bezeichnete Untersuchungen erlangt worden seien, ist festzustellen, dass es sich um bloße Vermutungen handelt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ein Beschluss über den Erlass restriktiver Maßnahmen im Sinne von Art. 29 EUV nicht auf Antrag der Behörden des betreffenden Drittlands ergeht, sondern eine eigenständige Maßnahme zur Verwirklichung der Ziele der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union darstellt. Im Streitfall ist es Sache der für diese Politik zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person angeführten Begründung nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person, den Negativbeweis der fehlenden Stichhaltigkeit dieser Begründung zu erbringen (Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, Slg, EU:C:2013:518, Rn. 120 und 121, und vom 28. November 2013, Rat/Fulmen und Mahmoudian, C‑280/12 P, Slg, EU:C:2013:775, Rn. 65 und 66).
46 Zwar hat, wie der Rat geltend macht, der Unionsrichter im Zusammenhang mit der Anwendung restriktiver Maßnahmen festgestellt, dass die Identifizierung einer Person als für ein Delikt verantwortlich nicht zwingend eine Verurteilung wegen dieses Deliktes voraussetzt (Urteile vom 5. März 2015, Ezz u. a./Rat, C‑220/14 P, Slg, EU:C:2015:147, Rn. 72, und vom 27. Februar 2014, Ezz u. a./Rat, T‑256/11, Slg, EU:T:2014:93, Rn. 57 bis 61).
47 Im Kontext der Rechtssachen, in denen die in der vorstehenden Randnummer angeführten Urteile ergangen sind, war jedoch vom Generalstaatsanwalt des betroffenen Drittlands gegenüber allen Klägern zumindest die Sicherstellung ihrer Vermögenswerte angeordnet worden, die von einem Strafgericht gebilligt worden war (Urteil Ezz u. a./Rat, oben in Rn. 46 angeführt, EU:T:2014:93, Rn. 132). Folglich war die Anwendung der restriktiven Maßnahmen gegen die Kläger in diesen Rechtssachen auf konkrete Tatsachen gegründet, von denen der Rat Kenntnis genommen hatte.
48 Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass der Rat über keine Informationen zum Sachverhalt oder zu dem von den ukrainischen Behörden konkret vorgeworfenen Verhalten des Klägers verfügte, und zum anderen, dass das Schreiben vom 3. März 2014, auf das sich der Rat beruft, selbst wenn es nicht isoliert, sondern in seinem Kontext betrachtet wird, keine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage im Sinne der oben in Rn. 38 angeführten Rechtsprechung darstellt, um den Namen des Klägers mit der Begründung in die Liste aufzunehmen, dass er „als verantwortlich“ für die Veruntreuung öffentlicher Gelder identifiziert worden sei.
49 Überdies belegen die vom Rat beigebrachten zusätzlichen Beweisstücke aus der Zeit nach den angefochtenen Rechtsakten, dass gegen den Kläger nach dem Erlass der Rechtsakte ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist, und zwar am Tag der Veröffentlichung der Rechtsakte. Es ist daher noch nicht einmal erwiesen, dass gegen den Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Rechtsakte ein richtiges „strafrechtliches Verfahren“, und sei es auch nur in der Phase einer Voruntersuchung, geführt wurde. Daraus folgt, dass die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste als Person, die „Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung“ ist, unrichtig ist. Außerdem hat der Rat in der mündlichen Verhandlung auf die Frage nach der Rücknahme der den Kläger betreffenden restriktiven Maßnahmen keine Rechtfertigung für diese Rücknahme geliefert.
50 Nach alledem erfüllt die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste nicht die im angefochtenen Beschluss festgelegten Kriterien für die Benennung der von den in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen erfassten Personen.
51 Infolgedessen ist dem dritten Klagegrund stattzugeben, so dass der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären ist, soweit er den Kläger betrifft.
52 Aus denselben Gründen ist die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie den Kläger betrifft.
53 Da der dritte Klagegrund begründet ist, ist der Klage stattzugeben, ohne dass über die übrigen Klagegründe entschieden zu werden braucht.
54 Da infolge des Beschlusses 2015/364 und der Durchführungsverordnung 2015/357 der Name des Klägers nicht mehr in der Liste der von den restriktiven Maßnahmen erfassten Personen enthalten ist, ist über die Frage der Aufrechterhaltung der Wirkungen des angefochtenen Beschlusses, soweit er den Kläger betrifft, nicht zu befinden.
Kosten
55 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
56 Da der Rat unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Klägers die Kosten aufzuerlegen.
57 Außerdem tragen nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Kommission trägt daher ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss 2014/119/GASP des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine und die Verordnung (EU) Nr. 208/2014 des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine werden für nichtig erklärt, soweit sie Herrn Andriy Portnov betreffen.
2. Der Rat der Europäischen Union trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten von Herrn Portnov.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Berardis
Czúcz
Popescu
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Oktober 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Beschluss des Präsidenten der Vierten Kammer des Gerichts vom 15. Oktober 2015.#Ahrend Furniture gegen Europäische Kommission.#Vorläufiger Rechtsschutz – Öffentliche Aufträge – Ausschreibungsverfahren – Beschaffung von Möbeln – Ablehnung des Angebots eines Bieters und Auftragsvergabe an einen anderen Bieter – Antrag auf einstweilige Anordnungen – Kein fumus boni iuris.#Rechtssache T-482/15 R.
|
62015TO0482(01)
|
ECLI:EU:T:2015:782
| 2015-10-15T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TO0482(01) - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. Oktober 2015.#East Sussex County Council gegen Information Commissioner.#Vorabentscheidungsersuchen des First-tier Tribunal.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Übereinkommen von Århus – Richtlinie 2003/4/EG – Art. 5 und 6 – Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen – Gebühr für die Bereitstellung von Umweltinformationen – Begriff ‚angemessene Höhe‘ – Kosten für die Führung einer Datenbank und Gemeinkosten – Zugang zu den Gerichten – Überprüfung der Entscheidung, eine Gebühr zu erheben, durch die Verwaltung und die Gerichte.#Rechtssache C-71/14.
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62014CJ0071
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ECLI:EU:C:2015:656
| 2015-10-06T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0071
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
6. Oktober 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Übereinkommen von Århus — Richtlinie 2003/4/EG — Art. 5 und 6 — Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen — Gebühr für die Bereitstellung von Umweltinformationen — Begriff ‚angemessene Höhe‘ — Kosten für die Führung einer Datenbank und Gemeinkosten — Zugang zu den Gerichten — Überprüfung der Entscheidung, eine Gebühr zu erheben, durch die Verwaltung und die Gerichte“
In der Rechtssache C‑71/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom First-tier Tribunal (General Regulatory Chamber, Information Rights) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 4. Februar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2014, in dem Verfahren
East Sussex County Council
gegen
Information Commissioner,
Beteiligte:
Property Search Group,
Local Government Association,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter C. Vajda, A. Rosas, E. Juhász und D. Šváby,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
des East Sussex County Council, vertreten durch R. Cobb und C. Brannigan, Solicitors, sowie durch N. Pleming, QC,
—
des Information Commissioner, vertreten durch R. Bailey, Solicitor, und A. Proops, Barrister,
—
der Property Search Group, vertreten durch N. Clayton,
—
der Local Government Association, vertreten durch R. Cobb, Solicitor,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von J. Maurici und S. Blackmore, Barristers,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. Wolff als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin, L. Armati und J. Norris-Usher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. April 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 5 und 6 der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (ABl. L 41, S. 26).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem East Sussex County Council (Rat der Grafschaft East Sussex) und dem Information Commissioner (Informationsbeauftragter) wegen dessen Entscheidung, eine vom East Sussex County Council erhobene Gebühr für die Bereitstellung von Umweltinformationen an die PSG Eastbourne, ein Unternehmen für Grundstücksrecherchen, für unrechtmäßig zu erklären.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
3 Das Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten wurde am 25. Juni 1998 in Århus unterzeichnet und durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt (ABl. L 124, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen von Århus).
4 Art. 4 („Zugang zu Informationen über die Umwelt“) dieses Übereinkommens sieht in seinem Abs. 1 unter einer Reihe von Vorbehalten und Bedingungen vor, dass jede Vertragspartei dieses Übereinkommens sicherzustellen hat, dass die Behörden im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Öffentlichkeit Informationen über die Umwelt auf Antrag zur Verfügung stellen.
5 Art. 4 Abs. 8 des Übereinkommens von Århus lautet:
„Jede Vertragspartei kann ihren Behörden gestatten, für die Bereitstellung von Informationen eine Gebühr zu erheben, die jedoch eine angemessene Höhe nicht übersteigen darf. Behörden, die beabsichtigen, eine derartige Gebühr für die Bereitstellung von Informationen zu erheben, stellen den Antragstellern eine Übersicht über die Gebühren, die erhoben werden können, zur Verfügung, aus der hervorgeht, unter welchen Umständen sie erhoben oder erlassen werden können und wann die Bereitstellung von Informationen von einer Vorauszahlung dieser Gebühr abhängig ist.“
6 Art. 9 („Zugang zu Gerichten“) Abs. 1 dieses Übereinkommens bestimmt:
„Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass jede Person, die der Ansicht ist, dass ihr nach Artikel 4 gestellter Antrag auf Informationen nicht beachtet, fälschlicherweise ganz oder teilweise abgelehnt, unzulänglich beantwortet oder auf andere Weise nicht in Übereinstimmung mit dem genannten Artikel bearbeitet worden ist, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle hat.
Für den Fall, dass eine Vertragspartei eine derartige Überprüfung durch ein Gericht vorsieht, stellt sie sicher, dass die betreffende Person auch Zugang zu einem schnellen, gesetzlich festgelegten sowie gebührenfreien oder nicht kostenaufwendigen Überprüfungsverfahren durch eine Behörde oder Zugang zu einer Überprüfung durch eine unabhängige und unparteiische Stelle, die kein Gericht ist, hat.
…“
Unionsrecht
Richtlinie 90/313/EWG
7 Art. 5 der Richtlinie 90/313/EWG des Rates vom 7. Juni 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt (ABl. L 158, S. 56) sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können für die Übermittlung der Informationen eine Gebühr erheben, die jedoch eine angemessene Höhe nicht überschreiten darf.“
Richtlinie 2003/4
8 Die Erwägungsgründe 2 und 18 der Richtlinie 2003/4 lauten:
„(2)
… Die vorliegende Richtlinie erweitert den bisher aufgrund der Richtlinie 90/313/EWG gewährten Zugang.
…
(18) Die Behörden sollten für die Übermittlung von Umweltinformationen eine Gebühr erheben können, die jedoch angemessen sein sollte. Dies beinhaltet, dass die Gebühr grundsätzlich die tatsächlichen Kosten der Anfertigung des betreffenden Materials nicht übersteigen darf. …“
9 Art. 1 Buchst. a dieser Richtlinie bestimmt:
„Mit dieser Richtlinie werden folgende Ziele verfolgt:
a)
die Gewährleistung des Rechts auf Zugang zu Umweltinformationen, die bei Behörden vorhanden sind oder für sie bereitgehalten werden, und die Festlegung der grundlegenden Voraussetzungen und praktischer Vorkehrungen für die Ausübung dieses Rechts …“
10 Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Behörden gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie verpflichtet sind, die bei ihnen vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen Umweltinformationen allen Antragstellern auf Antrag zugänglich zu machen, ohne dass diese ein Interesse geltend zu machen brauchen.“
11 Art. 3 Abs. 5 dieser Richtlinie bestimmt:
„Zur Durchführung dieses Artikels tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass
…
c)
die praktischen Vorkehrungen festgelegt werden, um sicherzustellen, dass das Recht auf Zugang zu Umweltinformationen wirksam ausgeübt werden kann, wie:
—
Benennung von Auskunftsbeamten,
—
Aufbau und Unterhaltung von Einrichtungen zur Einsichtnahme in die gewünschten Informationen,
—
Verzeichnisse oder Listen betreffend Umweltinformationen im Besitz von Behörden oder Informationsstellen mit klaren Angaben, wo solche Informationen zu finden sind.
…“
12 Art. 5 („Gebühren“) der Richtlinie 2003/4 sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Der Zugang zu öffentlichen Verzeichnissen oder Listen, die gemäß Artikel 3 Absatz 5 eingerichtet und geführt werden, und die Einsichtnahme in die beantragten Informationen an Ort und Stelle sind gebührenfrei.
(2) Die Behörden können für die Bereitstellung von Umweltinformationen eine Gebühr erheben, die jedoch eine angemessene Höhe nicht überschreiten darf.“
13 Art. 6 („Zugang zu den Gerichten“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Antragsteller, der der Ansicht ist, sein Antrag auf Zugang zu Informationen sei von einer Behörde nicht beachtet, fälschlicherweise (ganz oder teilweise) abgelehnt, unzulänglich beantwortet oder auf andere Weise nicht in Übereinstimmung mit den Artikeln 3, 4 oder 5 bearbeitet worden, Zugang zu einem Verfahren hat, in dessen Rahmen die Handlungen oder Unterlassungen der betreffenden Behörde von dieser oder einer anderen Behörde geprüft oder von einer auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle auf dem Verwaltungsweg überprüft werden können. Dieses Verfahren muss zügig verlaufen und darf keine oder nur geringe Kosten verursachen.
(2) Ferner stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der Antragsteller neben dem Überprüfungsverfahren nach Absatz 1 auch Zugang zu einem Überprüfungsverfahren, in dessen Rahmen die Handlungen oder Unterlassungen der Behörde überprüft werden können, und zwar vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle hat, deren Entscheidungen endgültig sein können. Die Mitgliedstaaten können des Weiteren vorsehen, dass Dritte, die durch die Offenlegung von Informationen belastet werden, ebenfalls Rechtsbehelfe einlegen können.“
Recht des Vereinigten Königreichs
14 Die Umweltinformationsverordnung von 2004 (Environmental Information Regulations 2004, im Folgenden: EIR 2004) dient der Umsetzung der Richtlinie 2003/4 in das innerstaatliche Recht.
15 Regulation 8 (1) bis (3) der EIR 2004 bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Abs. 2 bis 8 kann eine Behörde, wenn sie Umweltinformationen zur Verfügung stellt … vom Antragsteller für die Bereitstellung Gebühren erheben.
(2) Eine Behörde erhebt keine Gebühren, wenn sie dem Antragsteller gestattet:
a)
auf öffentliche Register oder Verzeichnisse der Behörde betreffend Umweltinformationen zuzugreifen; oder
b)
erbetene Informationen an dem Ort einzusehen, den die Behörde für die Einsichtnahme zur Verfügung stellt.
(3) Eine Gebühr nach Abs. 1 darf nicht einen Betrag überschreiten, der nach Überzeugung der Behörde angemessen ist.“
16 Nach Section 50 (1) des Informationsfreiheitsgesetzes von 2000 in der durch Regulation 18 der EIR 2004 geänderten Fassung kann jeder Betroffene beim Information Commissioner eine Entscheidung darüber beantragen, ob die angerufene Behörde seinen Antrag auf Informationen gemäß den Bestimmungen der EIR 2004 beschieden hat.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
17 Im Rahmen eines Grundstücksgeschäfts stellte die PSG Eastbourne, ein Unternehmen für Grundstücksrecherchen, beim East Sussex County Council einen Antrag auf Zugang zu Umweltinformationen, mit dem Ziel, die erlangte Information zu kommerziellen Zwecken den an diesem Geschäft beteiligten Personen zu übermitteln. Der East Sussex County Council, der häufig mit solchen Anträgen („Grundstücksrecherchen“) befasst ist, gab die gewünschten Antworten und erhob auf der Grundlage eines Verzeichnisses von Einheitsgebühren mehrere Gebühren in einer Gesamthöhe von 17 Britischen Pfund (GBP) (etwa 23 Euro). Wie sich aus Anhang C der Vorlageentscheidung ergibt, beträgt die Höhe der einzelnen Gebühren jeweils zwischen einem und 4,50 GBP (etwa zwischen einem und sechs Euro).
18 Ein Großteil der für die Beantwortung dieser Grundstücksrecherchen verwendeten Daten wird vom Information Team des East Sussex County Council in einer Datenbank, die Daten in computergestützter oder in Papierform enthält, geführt und verwaltet. Diese Datenbank wird auch von anderen Teilen des East Sussex County Council bei der Erfüllung verschiedener Aufgaben genutzt.
19 Das vom East Sussex County Council verwendete Gebührenverzeichnis ordnet jeder Art von beantragter Information einen Pauschalbetrag zu, der einheitlich und unabhängig davon angewendet wird, um welchen Antragsteller es sich handelt. Diese Kosten wurden vom East Sussex County Council auf der Grundlage eines Stundensatzes unter Berücksichtigung der vom gesamten „Information Team“ für die Führung der Datenbank und für die Beantwortung individueller Anfragen aufgewendeten Zeit berechnet. Entsprechend der Praxis des East Sussex County Council sind die im vorliegenden Fall erhobenen Gebühren dazu bestimmt, die dieser Behörde für die Erfüllung dieser beiden Aufgaben entstandenen Kosten zur Gänze zu decken, ohne ihr zu einem Gewinn zu verhelfen. Der für die Feststellung der Höhe dieser Gebühren herangezogene Stundensatz umfasst nicht nur das Gehalt der Bediensteten, sondern auch einen Anteil an den Gemeinkosten. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts steht die Einbeziehung der Gemeinkosten in die Berechnung dieser Gebühren im Einklang mit den allgemeinen Buchführungsgrundsätzen.
20 Auf eine Beschwerde der PSG Eastbourne gegen die Erhebung der vom East Sussex County Council verlangten Gebühren entschied der Information Commissioner, dass diese Gebühren nicht im Einklang mit Regulation 8 (3) der EIR 2004 stünden, da sie andere Kosten als Post- oder Fotokopiergebühren oder als sonstige, mit der Bereitstellung der beantragten Informationen zusammenhängende Auslagen enthielten.
21 Der East Sussex County Council, unterstützt von der Local Government Association (Verband lokaler Gebietskörperschaften, im Folgenden: LGA), focht diese Entscheidung vor dem vorlegenden Gericht an und machte geltend, dass die in seinem Gebührenverzeichnis enthaltenen Gebühren rechtmäßig seien und eine angemessene Höhe nicht überschritten. Der Information Commissioner, unterstützt von der Property Search Group (PSG), meint hingegen, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 einer Berücksichtigung der mit der Führung der Datenbank in Zusammenhang stehenden Kosten oder Gemeinkosten bei der Berechnung dieser Gebühren entgegenstehe. Angesichts der Vorarbeiten zum Erlass der Richtlinie 2003/4 räumte der Information Commissioner jedoch ein, dass die nach diesem Artikel zu entrichtenden Gebühren nicht auf die tatsächlich entstanden Auslagen beschränkt seien, sondern auch die Kosten einschließen könnten, die mit der Arbeitszeit der Bediensteten für die Beantwortung einzelner Anträge auf Informationen verknüpft seien.
22 Das vorlegende Gericht schließt sich dem an und hält es für unwahrscheinlich, dass die in dem vom East Sussex County Council verwendeten Verzeichnis festgelegten Gebühren im spezifischen Zusammenhang mit Grundstücksrecherchen in Anbetracht des Wertes der in Rede stehenden Geschäfte Einzelne von der Einholung von Umweltinformationen abhielten.
23 Außerdem sei die vom East Sussex County Council vorgenommene Berechnung der Gebühren insoweit fehlerhaft, als sie die gesamten mit der Führung seiner Datenbank verbundenen jährlichen Personalkosten einbeziehe, obwohl bestimmte Teile dieser Datenbank auch zu anderen Zwecken als zur Beantwortung einzelner Anträge auf Informationen unterhalten würden. Daher hätte höchstens ein Teil der mit der Führung dieser Datenbank zusammenhängenden Kosten in die Berechnung der Gebühren einbezogen werden dürfen.
24 Dessen ungeachtet möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Teil der mit der Führung der Datenbank des East Sussex County Council zusammenhängenden Kosten und die auf die Arbeitszeit seiner Bediensteten für die Führung dieser Datenbank und für die Beantwortung einzelner Anträge auf Informationen entfallenden Gemeinkosten gemäß Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 in die Berechnung der Gebühren einbezogen werden könne.
25 Außerdem stellt sich das vorlegende Gericht die Frage nach dem notwendigen Umfang der in Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/4 vorgesehenen administrativen und gerichtlichen Kontrolle in Bezug auf die angemessene Höhe einer Gebühr, meint jedoch, dass die praktischen Auswirkungen dieser Frage auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits ungewiss seien. In diesem Zusammenhang weist es darauf hin, dass Regulation 8 (3) der EIR 2004, ausgelegt im Licht der Grundsätze des englischen Verwaltungsrechts, den Umfang der Überprüfung der von der betreffenden Behörde erlassenen Entscheidung auf die Frage beschränke, ob die in Rede stehende Entscheidung selbst unangemessen, d. h. vernunftwidrig, rechtswidrig oder unbillig sei, und dass nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit bestehe, die von dieser Behörde gezogenen maßgeblichen tatsächlichen Schlussfolgerungen zu überprüfen.
26 Unter diesen Umständen hat das First-tier Tribunal (General Regulatory Chamber, Information Rights) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Welche Bedeutung hat Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4, und kann insbesondere eine Gebühr in angemessener Höhe für die Bereitstellung einer bestimmten Art von Umweltinformationen
a)
einen Anteil an den Kosten für die Führung einer Datenbank, die von der Behörde genutzt wird, um Anträge auf Informationen dieser Art zu beantworten,
b)
auf die Arbeitszeit der Bediensteten entfallende, bei der Festsetzung der Gebühr ordnungsgemäß berücksichtigte Gemeinkosten
umfassen?
2. Ist es mit Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2003/4 vereinbar, dass ein Mitgliedstaat in seinen Rechtsvorschriften vorsieht, dass eine Behörde eine Gebühr für die Bereitstellung von Umweltinformationen erheben kann, die „… nicht einen Betrag überschreite[t], der nach Überzeugung der Behörde angemessen ist“, wenn die Entscheidung der Behörde, was ein „angemessener Betrag“ ist, einer Überprüfung durch die Verwaltung und die Gerichte wie im englischen Recht unterliegt?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 dahin auszulegen ist, dass die Gebühr, die für die Bereitstellung einer bestimmten Art von Umweltinformationen erhoben wird, einen Anteil an den Kosten für die Führung einer Datenbank wie der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden, die von der Behörde zu diesem Zweck genutzt wird, sowie die auf die Arbeitszeit der Bediensteten dieser Behörde zum einen für die Führung dieser Datenbank und zum anderen für die Beantwortung einzelner Anträge auf Informationen entfallenden Gemeinkosten enthalten kann, die bei der Festsetzung der Gebühr in angemessener Weise zu berücksichtigen sind.
28 Gemäß Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 können die Behörden für die Bereitstellung von Umweltinformationen eine Gebühr erheben, die jedoch eine angemessene Höhe nicht überschreiten darf.
29 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 44 und 46 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, erlaubt diese Bestimmung die Erhebung einer Gebühr unter zwei Voraussetzungen. Zum einen müssen alle Kostenbestandteile, auf deren Grundlage die Höhe der Gebühr berechnet wird, die „Bereitstellung“ der beantragten Umweltinformationen betreffen. Zum anderen darf, wenn diese erste Voraussetzung erfüllt ist, die Gesamthöhe der Gebühr eine „angemessene Höhe“ nicht überschreiten.
30 Zunächst ist also zu prüfen, ob die Kosten, die durch die Führung einer Datenbank wie der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden, die zum Zweck der Bereitstellung von Umweltinformationen genutzt wird, entstanden sind, sowie die auf die Arbeitszeit der Bediensteten der betreffenden Behörde zum einen für die Führung dieser Datenbank und zum anderen für die Beantwortung individueller Anträge auf Informationen entfallenden Gemeinkosten Bestandteile sind, die die „Bereitstellung“ von Umweltinformationen betreffen.
31 Bei der Feststellung, was eine „Bereitstellung“ von Umweltinformationen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 darstellt, ist dem Verhältnis zwischen dieser Bestimmung und Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie Rechnung zu tragen.
32 Insoweit unterscheidet die Richtlinie 2003/4 zum einen zwischen der „Bereitstellung“ von Umweltinformationen, für die die Behörden gemäß Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie eine Gebühr erheben können, und zum anderen dem „Zugang“ zu öffentlichen Verzeichnissen oder Listen, die gemäß Art. 3 Abs. 5 dieser Richtlinie eingerichtet und geführt werden, sowie der „Einsichtnahme in die beantragten Informationen an Ort und Stelle“, die gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie gebührenfrei sind.
33 Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/4 nimmt nämlich auf deren Art. 3 Abs. 5 Bezug. Gemäß Art. 3 Abs. 5 Buchst. c dieser Richtlinie tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass die praktischen Vorkehrungen festgelegt werden, um sicherzustellen, dass das in diesem Artikel vorgesehene Recht auf Zugang zu Umweltinformationen wirksam ausgeübt werden kann. Hierzu werden u. a. „Aufbau und Unterhaltung von Einrichtungen zur Einsichtnahme in die gewünschten Informationen“ sowie „Verzeichnisse oder Listen betreffend Umweltinformationen im Besitz von Behörden oder Informationsstellen mit klaren Angaben, wo solche Informationen zu finden sind“, genannt.
34 Wie sich aus Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/4 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 5 Buchst. c ergibt, sind die Mitgliedstaaten nicht nur dazu verpflichtet, Verzeichnisse oder Listen betreffend Umweltinformationen im Besitz von Behörden einzurichten und zu führen oder Informationsstellen sowie Einrichtungen zur Einsichtnahme in diese Informationen aufzubauen und zu unterhalten, sondern auch dazu, gebührenfrei Zugang zu diesen Verzeichnissen, Listen und Einrichtungen zur Einsichtnahme zu gewähren.
35 Die in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/4 vorgesehene Unentgeltlichkeit des Zugangs zu diesen Verzeichnissen, Listen und Einrichtungen zur Einsichtnahme soll dazu dienen, den Begriff „Bereitstellung“ von Umweltinformationen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie abzugrenzen, für die ihrerseits eine Gebühr erhoben werden kann.
36 Daraus folgt, dass grundsätzlich nur die Kosten, die sich nicht aus der Einrichtung und der Führung dieser Verzeichnisse und Listen sowie dem Aufbau und der Unterhaltung von Einrichtungen zur Einsichtnahme ergeben, der „Bereitstellung“ von Umweltinformationen zuzurechnen sind, für die die nationalen Behörden auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 eine Gebühr erheben können.
37 Daher können die Kosten für die Führung einer Datenbank, die von einer Behörde für die Beantwortung von Anträgen auf Umweltinformationen genutzt wird, bei der Berechnung einer Gebühr für die „Bereitstellung“ von Umweltinformationen nicht berücksichtigt werden.
38 Im Licht des zwischen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/4 und deren Art. 5 Abs. 2 bestehenden Zusammenhangs, der in den Rn. 31 bis 35 des vorliegenden Urteils dargestellt worden ist, sind solche Aufwendungen mit der Einrichtung und der Führung der Verzeichnisse und Listen sowie mit dem Aufbau und der Unterhaltung von Einrichtungen für die Einsichtnahme verknüpft, deren Kosten gemäß Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 5 Buchst. c nicht erstattungsfähig sind. Es wäre aber widersprüchlich, wenn die Behörden solche Aufwendungen auf die Personen abwälzen könnten, die auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 Anträge auf Informationen gestellt haben, während die Einsichtnahme in die in der Datenbank enthaltenen Informationen an Ort und Stelle gemäß Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie gebührenfrei ist.
39 Hingegen umfassen die mit der „Bereitstellung“ von Umweltinformationen in Zusammenhang stehenden Kosten, die auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 erhoben werden können, nicht nur Post- und Fotokopiergebühren, sondern auch die Kosten, die auf die Arbeitszeit der Bediensteten der betroffenen Behörde für die Beantwortung eines einzelnen Antrags auf Informationen entfallen, was u. a die Zeit für die Suche und Erstellung der Informationen in dem gewünschten Format umfasst. Diese Kosten entstehen nämlich nicht durch die Einrichtung und die Führung der Verzeichnisse und Listen der bereitgehaltenen Umweltinformationen sowie durch den Aufbau und die Unterhaltung der Einrichtungen zur Einsichtnahme in diese Informationen. Diese Schlussfolgerung findet ihre Bestätigung auch im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, wonach die Gebühren grundsätzlich die „tatsächlichen Kosten“ der Anfertigung des betroffenen Materials nicht übersteigen dürfen.
40 Im Hinblick auf die Verwendung des Begriffs „tatsächliche Kosten“ in diesem Erwägungsgrund ist festzustellen, dass ordnungsgemäß berücksichtigte Gemeinkosten in die Berechnung der in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 vorgesehenen Gebühr grundsätzlich einbezogen werden können. Wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, entspricht die Einbeziehung der Gemeinkosten in die Berechnung dieser Gebühr nämlich den allgemeinen Buchführungsgrundsätzen. Allerdings können diese Kosten nur soweit in die Berechnung dieser Gebühr einbezogen werden, als sie sich auf einen Kostenbestandteil beziehen, der mit der „Bereitstellung“ von Umweltinformationen in Zusammenhang steht.
41 Im Hinblick darauf, dass die Arbeitszeit, die die Bediensteten der betreffenden Behörde für die Beantwortung einzelner Anträge auf Informationen aufwenden, wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, unter den Begriff „Bereitstellung“ von Umweltinformationen fällt, kann der Anteil der auf diese Zeit entfallenden Gemeinkosten ebenfalls in die Berechnung der in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 vorgesehenen Gebühr einbezogen werden. Dies gilt hingegen nicht für den Anteil der Gemeinkosten, der auf die Zeit entfällt, die von den Bediensteten für die Einrichtung und die Führung einer von der Behörde zur Beantwortung von Anträgen auf Informationen genutzten Datenbank aufgewendet wurde.
42 Was sodann die zweite in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 festgelegte Voraussetzung angeht, nach der die Gesamthöhe der in dieser Bestimmung vorgesehenen Gebühr einen angemessenen Betrag nicht überschreiten darf, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 5 der Richtlinie 90/313, die für die Zwecke der Anwendung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 weiterhin relevant ist, dass die Auslegung des Begriffs „angemessene Höhe“ Einzelne, die Informationen erhalten möchten, hiervon nicht abhalten oder ihr Recht auf Zugang zu diesen Informationen nicht beschränken darf (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Deutschland, C‑217/97, EU:C:1999:395, Rn. 47).
43 Bei der Beurteilung der Frage, ob eine gemäß Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 erhobene Gebühr abschreckende Wirkung hat, ist sowohl die wirtschaftliche Situation desjenigen, der die Information beantragt, als auch das mit dem Umweltschutz verbundene Allgemeininteresse zu berücksichtigen. Diese Beurteilung darf also nicht nur anhand der wirtschaftlichen Situation des Betroffenen vorgenommen werden, sondern muss auch auf einer objektiven Bewertung der Höhe dieser Gebühr beruhen. Diese Gebühr darf daher weder die finanzielle Leistungsfähigkeit des Betroffenen übersteigen noch in irgendeiner Weise objektiv unangemessen erscheinen.
44 Da das vorlegende Gericht in Anbetracht des Werts der in Rede stehenden Geschäfte der Auffassung ist, dass die vom East Sussex County Council erhobenen Gebühren im spezifischen Zusammenhang mit Grundstücksrecherchen nicht abschreckend erschienen, ist festzustellen, dass der bloße Umstand, dass diese Gebühren im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation der an Immobiliengeschäften beteiligten Personen nicht abschreckend sind, die Behörde nicht ihrer Verpflichtung enthebt, sicherzustellen, dass diese Gebühren unter Berücksichtigung des mit dem Umweltschutz verbundenen Allgemeininteresses auch der Öffentlichkeit nicht unangemessen erscheinen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist allerdings nicht davon auszugehen, dass Gebühren wie die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden, die in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannt wurden und die im Übrigen herabgesetzt werden müssen, um die mit der Einrichtung und dem Führen der Datenbank zusammenhängenden Kosten auszuschließen, eine angemessene Höhe überschreiten.
45 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 dahin auszulegen ist, dass eine Gebühr, die für die Bereitstellung einer bestimmten Art von Umweltinformationen erhoben wird, keinen Anteil an den Kosten für die Führung einer Datenbank wie der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden, die zu diesem Zweck von der Behörde genutzt wird, enthalten darf, wohl aber auf die Arbeitszeit der Bediensteten dieser Behörde für die Beantwortung einzelner Anträge entfallende, bei der Festsetzung der Gebühr ordnungsgemäß berücksichtigte Gemeinkosten umfassen kann, sofern die Gesamthöhe dieser Gebühr eine angemessene Höhe nicht überschreitet.
Zur zweiten Frage
46 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 der Richtlinie 2003/4 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen die Angemessenheit der für die Bereitstellung einer bestimmten Art von Umweltinformationen erhobenen Gebühr, wie im englischen Recht, nur einer beschränkten Überprüfung durch die Verwaltung und die Gerichte unterliegt.
Zur Zulässigkeit
47 Die Europäische Kommission und die Regierung des Vereinigten Königreichs hegen Zweifel an der Zulässigkeit der zweiten Frage, da das vorlegende Gericht der Ansicht sei, dass die praktische Auswirkung dieser Frage auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits ungewiss sei.
48 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, durch das eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zur Auslegung des Unionsrechts spricht, die das nationale Gericht in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853, Rn. 29 und 30).
49 Allein die Tatsache der fehlenden Gewissheit beim vorlegenden Gericht hinsichtlich der Frage, ob der Umfang der Überprüfung der Angemessenheit der für die Bereitstellung von Umweltinformationen erhobenen Gebühr durch die Verwaltung und die Gerichte praktische Auswirkungen auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits hat, kann nicht genügen, um den auf der Hand liegenden Schluss ziehen zu können, dass die mit der zweiten Frage erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder ein hypothetisches Problem betrifft. Diese Frage ist daher zulässig.
Zur Frage
50 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2003/4 sieht im Wesentlichen vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass jeder, der einen Antrag auf Zugang zu Informationen stellt, Zugang zu einem Verfahren hat, in dessen Rahmen die Handlungen oder Unterlassungen der betreffenden Behörde von dieser oder einer anderen Behörde geprüft oder von einer auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle auf dem Verwaltungsweg überprüft werden können.
51 Nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der Antragsteller Zugang zu einem Überprüfungsverfahren, in dessen Rahmen die Handlungen oder Unterlassungen der Behörde überprüft werden können, und zwar vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle hat, deren Entscheidungen endgültig sein können.
52 Nach ständiger Rechtsprechung dürfen, wenn es mangels unionsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich Aufgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten der Rechtsbehelfe zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die entsprechender innerstaatlicher Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil Gruber, C‑570/13, EU:C:2015:231, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Was den Effektivitätsgrundsatz angeht, ist auch darauf hinzuweisen, dass in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht auf effektiven Rechtsschutz vor einem unparteiischen Gericht verankert ist (vgl. hierzu Urteil Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 In der Richtlinie 2003/4 legen die Begriffe „überprüft werden“ und „auf dem Verwaltungsweg überprüft werden“ in Art. 6 Abs. 1 sowie der Begriff „überprüft“ in Art. 6 Abs. 2 nicht den Umfang der von dieser Richtlinie geforderten Überprüfung durch die Verwaltung und die Gerichte fest. Da es im Unionsrecht an einer Klarstellung fehlt, ist die Festlegung dieses Umfangs, vorbehaltlich der Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, Sache der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.
54 Was den Äquivalenzgrundsatz angeht, ist festzustellen, dass die dem Gerichtshof übermittelten Akten keinen Anhaltspunkt enthalten, der den Schluss ermöglichte, dass die im englischen Recht vorgesehenen Verfahrensmodalitäten für Rechtsbehelfe, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, weniger günstig ausgestaltet sind als die entsprechender Rechtsbehelfe, die den Schutz der auf nationale Bestimmungen gestützten Rechte der Bürger gewährleisten sollen.
55 Der Effektivitätsgrundsatz erfordert im vorliegenden Fall, dass der Schutz der Rechte, die die Zugang zu Informationen Beantragenden aus der Richtlinie 2003/4 ableiten, nicht Bedingungen unterliegt, die die Ausübung dieser Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
56 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Richtlinie 2003/4 die Vereinbarkeit des Unionsrechts mit dem Übereinkommen von Århus durch eine allgemeine Regelung sicherstellen wollte, die gewährleistet, dass jede natürliche oder juristische Person eines Mitgliedstaats ein Recht auf Zugang zu bei Behörden vorhandenen oder für diese bereitgehaltenen Umweltinformationen hat, ohne hierfür ein Interesse geltend machen zu müssen (Urteil Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Bestehen einer effektiven Überprüfung der Erhebung einer Gebühr für die Bereitstellung solcher Informationen durch die Verwaltung und die Gerichte ist untrennbar mit der Erreichung dieses Ziels verbunden. Außerdem muss sich diese Kontrolle zwangsläufig auf die Frage erstrecken, ob die Behörde die beiden in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie eingehalten hat.
57 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Regulation 8 (3) der EIR 2004, ausgelegt im Licht der Grundsätze des englischen Verwaltungsrechts, den Umfang der Überprüfung durch die Verwaltung und die Gerichte auf die Frage beschränke, ob die von der betreffenden Behörde getroffene Entscheidung vernunftwidrig, rechtswidrig oder unbillig sei, und dass nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit bestehe, die von dieser Behörde gezogenen maßgeblichen tatsächlichen Schlussfolgerungen zu überprüfen.
58 Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Ausübung der von der Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht allein dadurch, dass das Verfahren der gerichtlichen Nachprüfung verwaltungsbehördlicher Entscheidungen keine umfassende Nachprüfung dieser Entscheidungen ermöglicht, praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Jedoch muss nach dieser Rechtsprechung jedes nationale Verfahren der gerichtlichen Nachprüfung dem mit einer Anfechtungsklage gegen eine solche Entscheidung befassten Gericht ermöglichen, im Rahmen der Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung die maßgebenden Grundsätze und Vorschriften des Unionsrechts tatsächlich anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteile Upjohn, C‑120/97, EU:C:1999:14, Rn. 30, 35 und 36, sowie HLH Warenvertrieb und Orthica, C‑211/03, C‑299/03 und C‑316/03 bis C‑318/03, EU:C:2005:370, Rn. 75 bis 77). Folglich steht eine beschränkte gerichtliche Kontrolle der Beurteilung bestimmter tatsächlicher Fragen im Einklang mit dem Unionsrecht, sofern sie dem mit einer Anfechtungsklage gegen eine solche Entscheidung befassten Gericht ermöglicht, im Rahmen der Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit die maßgebenden Grundsätze und Vorschriften des Unionsrechts tatsächlich anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil HLH Warenvertrieb und Orthica, C‑211/03, C‑299/03 und C‑316/03 bis C‑318/03, EU:C:2005:370, Rn. 79).
59 In jedem Fall ist klarzustellen, dass sowohl die Frage, ob ein Kostenbestandteil die „Bereitstellung“ der beantragten Information betrifft und daher als solcher bei der Berechnung einer erhobenen Gebühr berücksichtigt werden kann, als auch die Frage, ob die Gesamthöhe der Gebühr angemessen ist, Fragen des Unionsrechts sind. Sie müssen daher einer Überprüfung durch die Verwaltung und die Gerichte unterliegen, die anhand objektiver Kriterien vorzunehmen und geeignet ist, die uneingeschränkte Wahrung der sich aus Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 ergebenden Voraussetzungen sicherzustellen.
60 Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die oben genannten Voraussetzungen im Ausgangsrechtsstreit erfüllt sind, und gegebenenfalls das nationale Recht im Einklang mit diesen Voraussetzungen auszulegen.
61 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 der Richtlinie 2003/4 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, nach denen die Angemessenheit der Gebühr, die für die Bereitstellung einer bestimmten Art von Umweltinformationen erhoben wird, wie im englischen Recht, nur einer beschränkten Überprüfung durch die Verwaltung und die Gerichte unterliegt, sofern diese Überprüfung anhand objektiver Kriterien vorgenommen wird und gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität die Frage umfasst, ob die Behörde, die diese Gebühr erhebt, die in Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen eingehalten hat, was zu beurteilen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist.
Kosten
62 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates ist dahin auszulegen, dass eine Gebühr, die für die Bereitstellung einer bestimmten Art von Umweltinformationen erhoben wird, keinen Anteil an den Kosten für die Führung einer Datenbank wie der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden, die zu diesem Zweck von der Behörde genutzt wird, enthalten darf, wohl aber auf die Arbeitszeit der Bediensteten dieser Behörde für die Beantwortung einzelner Anträge entfallende, bei der Festsetzung der Gebühr ordnungsgemäß berücksichtigte Gemeinkosten umfassen kann, sofern die Gesamthöhe dieser Gebühr eine angemessene Höhe nicht überschreitet.
2. Art. 6 der Richtlinie 2003/4 ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, nach denen die Angemessenheit der Gebühr, die für die Bereitstellung einer bestimmten Art von Umweltinformationen erhoben wird, wie im englischen Recht, nur einer beschränkten Überprüfung durch die Verwaltung und die Gerichte unterliegt, sofern diese Überprüfung anhand objektiver Kriterien vorgenommen wird und gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität die Frage umfasst, ob die Behörde, die diese Gebühr erhebt, die in Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen eingehalten hat, was zu beurteilen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. Oktober 2015.#Orizzonte Salute – Studio Infermieristico Associato gegen Azienda Pubblica di Servizi alla persona San Valentino – Città di Levico Terme u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale regionale di giustizia amministrativa di Trento.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 89/665/EWG – Öffentliche Aufträge – Nationale Rechtsvorschriften – Gebühren für den Zugang zu den Verwaltungsgerichten auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Gebühren mit abschreckender Wirkung – Gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten – Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz – Praktische Wirksamkeit.#Rechtssache C-61/14.
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62014CJ0061
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ECLI:EU:C:2015:655
| 2015-10-06T00:00:00 |
Jääskinen, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0061
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
6. Oktober 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 89/665/EWG — Öffentliche Aufträge — Nationale Rechtsvorschriften — Gebühren für den Zugang zu den Verwaltungsgerichten auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge — Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf — Gebühren mit abschreckender Wirkung — Gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten — Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz — Praktische Wirksamkeit“
In der Rechtssache C‑61/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale regionale di giustizia amministrativa di Trento (Regionales Verwaltungsgericht Trient, Italien) mit Entscheidung vom 21. November 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Februar 2014, in dem Verfahren
Orizzonte Salute – Studio Infermieristico Associato
gegen
Azienda Pubblica di Servizi alla persona San Valentino – Città di Levico Terme,
Ministero della Giustizia,
Ministero dell’Economia e delle Finanze,
Presidenza del Consiglio dei Ministri,
Segretario Generale del Tribunale regionale di giustizia amministrativa di Trento,
Beteiligte:
Associazione Infermieristica D & F Care,
Camera degli Avvocati Amministrativisti,
Camera Amministrativa Romana,
Associazione dei Consumatori Cittadini Europei,
Coordinamento delle associazioni e dei comitati di tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e dei consumatori (Codacons),
Associazione dei giovani amministrativisti (AGAmm),
Ordine degli Avvocati di Roma,
Società italiana degli avvocati amministrativisti (SIAA),
Ordine degli Avvocati di Trento,
Consiglio dell’ordine degli Avvocati di Firenze,
Medical Systems SpA,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter C. Vajda, A. Rosas, E. Juhász (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Februar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Orizzonte Salute – Studio Infermieristico Associato, vertreten durch M. Carlin, M. Napoli, M. Zoppolato und M. Boifava, avvocati,
—
der Azienda Pubblica di Servizi alla persona San Valentino – Città di Levico Terme, vertreten durch R. De Pretis, avvocata,
—
der Camera degli Avvocati Amministrativisti, vertreten durch A. Grappelli, M. Ida Leonardo, M. Rossi Tafuri, F. Marascio, M. Martinelli, E. Papponetti und M. Togna, avvocati,
—
der Camera Amministrativa Romana, vertreten durch F. Tedeschini, C. Malinconico, P. Leozappa, F. Lattanzi und A. M. Valorzi, avvocati,
—
der Associazione dei Consumatori Cittadini europei, vertreten durch C. Giurdanella, P. Menchetti, S. Raimondi und E. Barbarossa, avvocati,
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des Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons), vertreten durch C. Rienzi, G. Giuliano, V. Graziussi und G. Ursini, avvocati,
—
der Associazione dei Giovani Amministrativisti (AGAmm), vertreten durch G. Leccisi und J. D’Auria, avvocati,
—
der Ordine degli Avvocati di Roma, vertreten durch S. Orestano, S. Dore und P. Ziotti, avvocati,
—
der Società Italiana degli Avvocati Amministrativisti (SIAA), vertreten durch F. Lubrano, E. Lubrano, P. De Caterini, A. Guerino, A. Lorang, B. Nascimbene, E. Picozza, F. G. Scocca und F. Sorrentino, avvocati,
—
der Medical Systems SpA, vertreten durch R. Damonte, M. Carlin und E. Boglione, avvocati,
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der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und V. Stroumpouli als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Fruhmann als Bevollmächtigten,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro und A. Tokár als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Mai 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 (ABl. L 335, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Orizzonte Salute – Studio Infermieristico Associato (im Folgenden: Orizzonte Salute) auf der einen Seite und der Azienda Pubblica di Servizi alla persona San Valentino – Città di Levico Terme (Staatliche Gesellschaft für personenbezogene Dienstleistungen „San Valentino“ der Stadt Levico Terme, im Folgenden: Azienda) und dem Ministero della Giustizia (Ministerium der Justiz), dem Ministero dell’Economia e delle Finanze (Ministerium für Wirtschaft und Finanzen), der Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats) und dem Segretario Generale del Tribunale regionale di giustizia amministrativa di Trento (Generalsekretär des Regionalen Verwaltungsgerichts Trient) auf der anderen Seite wegen der Verlängerung eines Auftrags über Krankenpflegedienste, eines in der Folge eingeleiteten Vergabeverfahrens und der Gerichtsgebühren für die Einlegung von Rechtsbehelfen im Bereich öffentlicher Aufträge bei den Verwaltungsgerichten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Nach dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 89/665 setzt die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens für den unionsweiten Wettbewerb eine beträchtliche Verstärkung der Garantien im Bereich der Transparenz und der Nichtdiskriminierung voraus; damit diese Öffnung konkret umgesetzt werden kann, müssen für den Fall von Verstößen gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die in Umsetzung dieses Rechts ergangen sind, Möglichkeiten einer wirksamen und raschen Nachprüfung bestehen.
4 Art. 1 („Anwendungsbereich und Zugang zu Nachprüfungsverfahren“) der Richtlinie 89/665 sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Aufträge im Sinne der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge [ABl. L 134, S. 114], sofern diese Aufträge nicht gemäß den Artikeln 10 bis 18 der genannten Richtlinie ausgeschlossen sind.
Aufträge im Sinne der vorliegenden Richtlinie umfassen öffentliche Aufträge, Rahmenvereinbarungen, öffentliche Baukonzessionen und dynamische Beschaffungssysteme.
Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18/EG fallenden Aufträge die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 2 bis 2f der vorliegenden Richtlinie auf Verstöße gegen das [Unionsrecht] im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die in dieser Richtlinie getroffene Unterscheidung zwischen einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung des [Unionsrechts] und den übrigen innerstaatlichen Bestimmungen nicht zu Diskriminierungen zwischen Unternehmen führt, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags einen Schaden geltend machen könnten.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.
…“
5 Art. 7 („Schwellenwerte für öffentliche Aufträge“) der Richtlinie 2004/18 legt die Schwellenwerte fest, ab denen die Vergabe eines Auftrags gemäß den Regeln dieser Richtlinie zu erfolgen hat.
6 Diese Schwellenwerte werden in regelmäßigen Abständen durch Verordnungen der Europäischen Kommission geändert und den wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst. Zu dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt war der Schwellenwert für öffentliche Lieferaufträge, die von anderen öffentlichen Auftraggebern als den zentralen Regierungsbehörden vergeben werden, durch die Verordnung (EG) Nr. 1177/2009 der Kommission vom 30. November 2009 zur Änderung der Richtlinien 2004/17/EG, 2004/18/EG und 2009/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Schwellenwerte für Auftragsvergabeverfahren (ABl. L 314, S. 64) auf 193000 Euro festgesetzt.
Italienisches Recht
7 Mit Art. 13 Abs. 1 des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 115 vom 30. Mai 2002 in der durch das Gesetz Nr. 228 vom 24. Dezember 2012 geänderten Fassung (im Folgenden: Dekret) wurde ein neues System für Gerichtsgebühren eingeführt, das auf einer Einheitsgebühr beruht, die sich nach dem Streitwert des Verfahrens richtet.
8 Anders als für Zivilverfahren wird die Einheitsgebühr für Verwaltungsverfahren in Art. 13 Abs. 6bis des Dekrets streitwertunabhängig festgesetzt.
9 Nach diesem Artikel beträgt die Einheitsgebühr für Rechtsbehelfe, die bei den regionalen Verwaltungsgerichten und dem Consiglio di Stato (Staatsrat) eingelegt werden, in der Regel 650 Euro. Für besondere Sachbereiche sind in dieser Bestimmung andere Beträge festgelegt, die ermäßigt oder erhöht werden können.
10 Nach Art. 13 Abs. 6bis Buchst. d des Dekrets beträgt die Gebühr im Bereich öffentlicher Aufträge:
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2000 Euro, wenn der Wert des Auftrags 200000 Euro oder weniger beträgt;
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4000 Euro für Streitigkeiten, deren Wert zwischen 200000 und 1000000 Euro liegt, und
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6000 Euro für Streitigkeiten mit einem Wert von über 1000000 Euro.
11 Nach Art. 13 Abs. 1bis des Dekrets erhöhen sich diese Beträge für Rechtsmittelverfahren im Bereich öffentlicher Aufträge um 50 %.
12 Nach Art. 13 Abs. 1quater des Dekrets muss die Partei, die ein Rechtsmittel einlegt, wenn dieses Rechtsmittel, das auch ein Anschlussrechtsmittel sein kann, insgesamt zurückgewiesen, für unzulässig oder verfristet erklärt wird, eine zusätzliche Einheitsgebühr in gleicher Höhe wie die Gebühr für die Einlegung dieses Rechtsmittels oder Anschlussrechtsmittels entrichten.
13 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass die Einheitsgebühr nach der anwendbaren Regelung nicht nur bei der Eintragung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks in das Register entrichtet wird, sondern auch für einen Anschlussrechtsbehelf und die Geltendmachung zusätzlicher Gründe, mit denen neue Anträge gestellt werden.
14 Aus Art. 14 Abs. 3 des Dekrets ergibt sich, dass der Streitwert nicht der Verdienstmarge aus der Durchführung des von den öffentlichen Auftraggebern vergebenen Auftrags entspricht, sondern dem als Richtwert festgelegten Auftragspreis.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
15 Orizzonte Salute ist eine Vereinigung, die Krankenpflegedienste für öffentliche und private Einrichtungen erbringt. Mit ihrer mehrfach durch zusätzliche Gründe erweiterten Klage wendet sie sich vor dem vorlegenden Gericht gegen die wiederholte Vergabe der Krankenpflegedienste an die Associazione infermieristica D & F Care durch die Azienda und weitere Entscheidungen der Azienda.
16 Die Krankenpflegedienste wurden zunächst durch die Verlängerung des für einen vorhergehenden Zeitraum mit der Associazione infermieristica D & F Care geschlossenen Vertrags und später im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung vergeben, bei der ausschließlich bestimmte Vereinigungen zur Abgabe eines Angebots aufgefordert wurden, die durch den Berufsverband der Infermieri Professionali Assistenti Sanitari Vigilatrici d’Infanzia (IPASVI) (Professionelle Krankenpfleger, Pflegehelfer und Kinderkrankenpfleger) – bei dem Orizzonte Salute nicht Mitglied war – akkreditiert waren.
17 Orizzonte Salute entrichtete als Gerichtsgebühren eine Einheitsgebühr von 650 Euro für die Einleitung eines allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.
18 Mit Entscheidung vom 5. Juni 2013 forderte der Segretario Generale del Tribunale regionale di giustizia amministrativa di Trento Orizzonte Salute auf, die zuvor erfolgte Zahlung um den Fehlbetrag zur Einheitsgebühr für Streitigkeiten im Bereich öffentlicher Aufträge, die 2000 Euro betrage, zu ergänzen, da der Rechtsstreit aufgrund der Geltendmachung zusätzlicher Klagegründe nunmehr die Vergabe öffentlicher Aufträge betreffe.
19 Gegen diese Entscheidung legte Orizzonte Salute am 2. Juli 2013 einen weiteren Rechtsbehelf ein, mit dem sie einen Verstoß gegen Art. 13 Abs. 6bis des Dekrets sowie zudem die Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung geltend machte.
20 Vor dem Hintergrund dieses Rechtsbehelfs ließen sich die staatlichen Behörden zur Sache ein und rügten die fehlende Zuständigkeit des angerufenen Verwaltungsgerichts mit der Begründung, dass die Einheitsgebühr eine Abgabe darstelle, deren Beanstandung in die Zuständigkeit der Finanzgerichte falle. Außerdem sei die Klage unbegründet.
21 Das vorlegende Gericht räumt ein, dass die Einheitsgebühr Abgabencharakter habe. Doch gehe es in der bei ihm anhängigen Rechtssache um einen Rechtsakt seines Segretario Generale, der den Charakter einer Verwaltungsentscheidung habe. Daher unterliege die Entscheidung vom 5. Juni 2013 verwaltungsgerichtlicher Kontrolle. Zudem habe Orizzonte Salute ein Interesse an der Aufhebung der Aufforderung zur Zahlung der erhöhten Gerichtsgebühren.
22 Es weist darauf hin, dass sich die Einheitsgebühr in Verwaltungsverfahren – anders als in Zivilverfahren – nicht am Streitwert orientiere, sondern für bestimmte verwaltungsrechtliche Sachbereiche spezifische Beträge festgesetzt seien.
23 Auf dem Gebiet der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge sei die Einheitsgebühr wesentlich höher als in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten, die dem allgemeinen Verfahren unterlägen.
24 Die Gebühren für die Rechtsverfolgung bei den Verwaltungsgerichten könnten insbesondere im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge Unternehmen davon abhalten, vor Gericht zu gehen, und seien daher im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den Kriterien und Grundsätzen der Unionsrechtsordnung problematisch. Der Gewinn eines Unternehmens belaufe sich im Allgemeinen auf etwa 10 % des Auftragswerts, und die Zahlung einer diesen Betrag übersteigenden Einheitsgebühr im Voraus könne die Unternehmen davon abhalten, bestimmte Verfahren in Anspruch zu nehmen.
25 Damit schränke die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung das Recht auf Anrufung der Gerichte und die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle ein, diskriminiere finanzschwache Wirtschaftsteilnehmer gegenüber finanzstarken und benachteilige sie gegenüber denjenigen, die sich im Rahmen ihrer Tätigkeit an die Zivil- und Handelsgerichte wendeten. Die Aufwendungen des Staates für das Funktionieren der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bereich öffentlicher Aufträge seien nicht wesentlich anders, spezifisch oder höher als bei Verfahren in anderen Rechtsstreitigkeiten.
26 Das Schrifttum vertrete die Auffassung, dass der nationale Gesetzgeber sicherlich die Belastung durch unerledigte Rechtsstreitigkeiten habe verringern und sowohl die Durchführung öffentlicher Projekte als auch den öffentlichen Erwerb von Lieferungen und Leistungen habe erleichtern wollen. Tatsächlich habe es seit 2012 wesentlich weniger Rechtsstreitigkeiten im Bereich öffentlicher Aufträge gegeben.
27 Der Gesamtwert des öffentlichen Auftrags übersteige den Grenzwert der Richtlinie 2004/18. Daher seien die Grundsätze der Wirksamkeit, der Beschleunigung, der Nichtdiskriminierung und der Zugänglichkeit, wie sie in Art. 1 der Richtlinie 89/665 niedergelegt seien, im Ausgangsverfahren anwendbar. Folge man seinem Ansatz, verletze die in Rede stehende nationale Regelung diese Grundsätze und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bekräftigt werde.
28 Das Tribunale regionale di giustizia amministrativa di Trento hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen die Grundsätze, die von der Richtlinie 89/665 aufgestellt worden sind, einer nationalen Regelung entgegen, die hohe Einheitsgebühren für den Zugang zu den Verwaltungsgerichten im Bereich öffentlicher Aufträge festsetzt?
Zur Zulässigkeit der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen der Streithelfer des Ausgangsverfahrens
29 Folgende Vereinigungen und Einrichtungen sind dem Ausgangsrechtsstreit als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge von Orizzonte Salute beigetreten und haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht: Coordinamento delle associazioni e dei comitati di tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e dei consumatori (Codacons) (Koordinierungsstelle der Vereinigungen und Komitees zum Schutz der Umwelt und der Rechte von Nutzern und Verbrauchern), Camera Amministrativa Romana (Verwaltungskammer Rom), Associazione dei Consumatori Cittadini Europei (Vereinigung der Europäischen Verbraucher), Ordine degli Avvocati di Roma (Rechtsanwaltskammer Rom), Associazione dei giovani amministrativisti (Vereinigung der jungen Verwaltungsrechtler), Società italiana degli avvocati amministrativisti (Italienische Gesellschaft der Anwälte für Verwaltungsrecht) (im Folgenden gemeinsam: Streithelfer des Ausgangsverfahrens).
30 Nach Ansicht der italienischen Regierung sind die schriftlichen Erklärungen der Parteien, die nach Verkündung der Vorlageentscheidung und Aussetzung des Ausgangsverfahrens dem Rechtsstreit beigetreten seien, unzulässig. Diese Unzulässigkeit folge aus Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, und der nationale Richter sei nach der Aussetzung des Verfahrens nicht befugt, die Zulässigkeit einer Streithilfe zu beurteilen, die nach der Vorlage beim Gerichtshof erfolgt sei. Die schriftlichen Erklärungen anderer natürlicher und juristischer Personen als derjenigen, die zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens beteiligt gewesen seien, seien aus den Akten zu entfernen, um zu verhindern, dass das Verfahren zu einer Popularklage werde.
31 Insoweit ist zur Beteiligung am Vorabentscheidungsverfahren darauf hinzuweisen, dass nach Art. 96 Abs. 1 der Verfahrensordnung in Verbindung mit Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs die Parteien des Ausgangsrechtsstreits, die Mitgliedstaaten, die Kommission und gegebenenfalls das Organ, die Einrichtung oder die sonstige Stelle der Europäischen Union, von dem oder der die Handlung, deren Gültigkeit oder Auslegung streitig ist, ausgegangen ist, die Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, die nicht Mitgliedstaaten sind, die EFTA-Überwachungsbehörde und betroffene Drittstaaten vor dem Gerichtshof Erklärungen abgeben können. Da die Aufzählung abschließend ist, kann dieses Recht nicht auf natürliche und juristische Personen ausgedehnt werden, die nicht ausdrücklich genannt sind.
32 Die „Parteien des Ausgangsrechtsstreits“ werden nach Art. 97 Abs. 1 der Verfahrensordnung vom vorlegenden Gericht gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften als solche bezeichnet. Es ist somit Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der nationalen Verfahrensvorschriften die Parteien des vor ihm anhängigen Rechtsstreits zu bestimmen.
33 Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, nachzuprüfen, ob eine Entscheidung des vorlegenden Gerichts, mit der es eine Streithilfe im bei ihm anhängigen Rechtsstreit zulässt, diesen Vorschriften entspricht. Der Gerichtshof hat sich an eine solche Entscheidung zu halten, solange sie nicht aufgrund eines im nationalen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist (vgl. entsprechend Urteile Radlberger Getränkegesellschaft und S. Spitz, C‑309/02, EU:C:2004:799, Rn. 26, und Burtscher, C‑213/04, EU:C:2005:731, Rn. 32).
34 Im vorliegenden Fall wird nicht vorgetragen, dass die Entscheidung über die Zulassung von Streithelfern im Ausgangsverfahren nicht den Vorschriften für das beim vorlegenden Gericht anhängige Verfahren entsprochen hätte oder dass gegen diese Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt worden wäre.
35 Einer Person kann die Eigenschaft einer „Partei des Ausgangsverfahrens“ im Sinne von Art. 96 Abs. 1 der Verfahrensordnung in Verbindung mit Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs nicht zuerkannt werden und diese kann in einem Verfahren vor dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV nicht zugelassen werden, wenn sie ihren Antrag auf Zulassung als Streithelfer bei einem nationalen Gericht nicht stellt, um aktiv in den weiteren Verlauf des Verfahrens vor dem nationalen Gericht einzugreifen, sondern nur, um am Verfahren vor dem Gerichtshof teilzunehmen (vgl. in diesem Sinne Beschluss Football Association Premier League u. a., C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2009:789, Rn. 9).
36 Es ist jedoch festzustellen, dass den Akten kein Hinweis darauf zu entnehmen ist, dass die Streithelfer des Ausgangsverfahrens nicht die Absicht hätten, sich aktiv am Verfahren vor dem vorlegenden Gericht zu beteiligen, und sich nur im Verfahren vor dem Gerichtshof äußern wollten.
37 Schließlich widerspräche es auch dem Grundsatz der geordneten Rechtspflege und dem Erfordernis der Erledigung von Vorabentscheidungsverfahren innerhalb angemessener Frist, wenn das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof wegen wiederholter Zulassungen als Streithelfer und aufgrund der Frist des Art. 23 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs von zwei Monaten für die Abgabe schriftlicher Erklärungen dieser Streithelfer nicht abgeschlossen werden könnte oder neu eröffnet werden müsste.
38 Unter solchen Bedingungen muss nach Art. 97 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, wenn ein nationales Gericht den Gerichtshof von der Zulassung einer neuen Partei im Ausgangsrechtsstreit unterrichtet, während das Verfahren vor dem Gerichtshof bereits anhängig ist, diese Partei das Verfahren in der Lage annehmen, in der es sich zum Zeitpunkt der Unterrichtung befindet.
39 Der Gerichtshof kann sich somit veranlasst sehen, einem im Ausgangsrechtsstreit zugelassenen Streithelfer die Abgabe schriftlicher Erklärungen nur innerhalb der Frist zu gestatten, die den Beteiligten im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs, denen das Vorabentscheidungsersuchen zunächst zugestellt worden war, dafür zusteht.
40 Im Rahmen des vorliegenden Verfahrens hat die Abgabe von schriftlichen Erklärungen der vom vorlegenden Gericht im Ausgangsrechtsstreit zugelassenen Streithelfer weder eine geordnete Rechtspflege noch die Erledigung der Rechtssache innerhalb angemessener Frist gefährdet. Der Gerichtshof sah daher keine Veranlassung, von der in der vorstehenden Randnummer angeführten Möglichkeit Gebrauch zu machen.
41 Nach alledem ist das Vorbringen der italienischen Regierung, das auf die Unzulässigkeitserklärung der schriftlichen Erklärungen der Streithelfer des Ausgangsverfahrens gerichtet ist, zurückzuweisen. Diese beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen sind zulässig.
Zur Vorlagefrage
42 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 der Richtlinie 89/665 und die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, wonach bei der Einlegung von Rechtsbehelfen in verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Bereich öffentlicher Aufträge höhere Gerichtsgebühren zu entrichten sind als in anderen Bereichen.
43 Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 89/665 verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass gegen Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, wirksam und möglichst rasch vorgegangen werden kann und dass jede Person, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht, umfassenden Zugang zu Nachprüfungen hat.
44 Diese Richtlinie belässt den Mitgliedstaaten ein Ermessen hinsichtlich der Wahl der in ihr vorgesehenen Verfahrensgarantien und der zugehörigen Formalitäten (vgl. Urteil Combinatie Spijker Infrabouw-De Jonge Konstruktie u. a., C‑568/08, EU:C:2010:751, Rn. 57).
45 Insbesondere weist die Richtlinie 89/665 keine Bestimmung auf, die sich speziell auf Gerichtsgebühren bezieht, die der Einzelne zu entrichten hat, wenn er gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie eine Nachprüfung anstrengt, die auf die Aufhebung einer seiner Meinung nach rechtswidrigen Entscheidung im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags gerichtet ist.
46 Nach ständiger Rechtsprechung ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, die Modalitäten für das Verwaltungsverfahren und das Gerichtsverfahren zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Diese Verfahrensmodalitäten dürfen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Rechtsbehelfe (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteile Club Hotel Loutraki u. a., C‑145/08 und C‑149/08, EU:C:2010:247, Rn. 74 sowie eVigilo, C‑538/13, EU:C:2015:166, Rn. 39).
47 Da zudem solche Gerichtsgebühren Modalitäten gerichtlicher Verfahren zum Schutz der Rechte darstellen, die das Unionsrecht den durch Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber geschädigten Bewerbern und Bietern einräumt, dürfen sie die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 89/665 nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile Universale-Bau u. a., C‑470/99, EU:C:2002:746, Rn. 72, und eVigilo, C‑538/13, EU:C:2015:166, Rn. 40).
48 Zum Grundsatz der Effektivität hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass er das vom nationalen Gericht zu wahrende, in Art. 47 der Charta verankerte Erfordernis eines gerichtlichen Schutzes impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil Sánchez Morcillo und Abril García, C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Daher ist Art. 1 der Richtlinie 89/665 notwendig im Licht der in der Charta verankerten Grundrechte auszulegen, insbesondere im Licht des Rechts aus Art. 47 auf Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs bei einem Gericht (vgl. in diesem Sinne Urteil Ryneš, C‑212/13, EU:C:2014:2428, Rn. 29).
50 Es ist daher zu prüfen, ob eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende als mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität sowie mit der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 89/665 vereinbar anzusehen ist.
51 Die beiden Teile dieser Prüfung betreffen erstens die Höhe der Einheitsgebühr für die Einlegung eines Rechtsbehelfs in verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Bereich öffentlicher Aufträge und zweitens die Fälle der Kumulierung solcher Gebühren im Rahmen desselben verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Bereich öffentlicher Aufträge.
Zur Einheitsgebühr für die Einlegung eines Rechtsbehelfs in verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Bereich öffentlicher Aufträge
52 Zunächst ist in Übereinstimmung mit der österreichischen Regierung darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 89/665 nach ihrem Art. 1 Abs. 1 für Aufträge im Sinne der Richtlinie 2004/18 gilt, sofern diese Aufträge nicht gemäß den Art. 10 bis 18 der letztgenannten Richtlinie ausgeschlossen sind.
53 Nach Art. 7 in Kapitel II („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2004/18 erfasst diese Richtlinie nur öffentliche Aufträge, deren geschätzter Wert netto ohne Mehrwertsteuer die in dieser Bestimmung festgelegten Schwellenwerte erreicht oder überschreitet.
54 Somit werden öffentliche Dienstleistungsaufträge, die von anderen öffentlichen Auftraggebern als zentralen Regierungsbehörden vergeben werden und deren Wert unter 193000 Euro liegt, nicht von der Richtlinie 2004/18 und damit auch nicht von der Richtlinie 89/665 erfasst.
55 Zum Grundsatz der Effektivität ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung der Gerichtsgebühren drei Festbeträge für die Einheitsgebühr in Höhe von 2000, 4000 und 6000 Euro für die drei Kategorien öffentlicher Aufträge vorsieht, und zwar für solche mit einem Wert von 200000 Euro oder weniger, für solche, deren Wert zwischen 200000 und 1000000 Euro beträgt, und solche mit einem Wert von über 1000000 Euro.
56 Den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ist zu entnehmen, dass das System festgesetzter Beträge für die Einheitsgebühr proportional zum Wert der in diese drei unterschiedlichen Kategorien fallenden öffentlichen Aufträge ist und insgesamt degressiven Charakter hat.
57 Die in Prozentsätzen der „Grenzwerte“ der drei Kategorien öffentlicher Aufträge ausgedrückte Einheitsgebühr variiert nämlich von 1,0 % bis 1,036 % des Auftragswerts, wenn dieser zwischen 193000 und 200000 Euro liegt, von 0,4 bis 2,0 %, wenn er zwischen 200000 und 1000000 Euro beträgt, und entspricht 0,6 % oder weniger des Auftragswerts, wenn dieser 1000000 Euro übersteigt.
58 Gerichtsgebühren für die Einlegung eines Rechtsbehelfs in verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Bereich öffentlicher Aufträge, die 2 % des Auftragswerts nicht übersteigen, können die Ausübung der von der Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte im Bereich öffentlicher Aufträge nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
59 Weder das vorlegende Gericht noch die Beteiligten, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, haben etwas vorgetragen, was diese Feststellung in Frage stellt.
60 Insbesondere ist zur Festsetzung der Einheitsgebühr nach dem Wert des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags und nicht nach dem Gewinn, den das am Vergabeverfahren teilnehmende Unternehmen von diesem Auftrag erwarten darf, zum einen darauf hinzuweisen, dass mehrere Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen, die zu entrichtenden Verfahrenskosten nach dem Wert des Streitgegenstands zu berechnen.
61 Zum anderen wäre, wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine Regelung im Bereich öffentlicher Aufträge, die für jedes Vergabeverfahren und jedes Unternehmen spezielle Berechnungen erfordern würde, deren Ergebnis angefochten werden könnte, kompliziert und ihr Ergebnis nicht vorhersehbar.
62 Zur Anwendung der italienischen Einheitsgebühr zulasten finanzschwacher Wirtschaftsteilnehmer ist in Übereinstimmung mit der Kommission festzustellen, dass diese Gebühr hinsichtlich Art und Höhe unterschiedslos jedem auferlegt wird, der einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung eines öffentlichen Auftraggebers einlegen möchte.
63 Ein solches System führt nicht zu einer Diskriminierung zwischen Wirtschaftsteilnehmern, die im gleichen Sektor tätig sind.
64 Ferner ergibt sich aus den Bestimmungen der Richtlinien der Union im Bereich des öffentlichen Auftragswesens, wie z. B. Art. 47 der Richtlinie 2004/18, dass die Beteiligung eines Unternehmens an einem öffentlichen Vergabeverfahren eine entsprechende wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit voraussetzt.
65 Schließlich hat zwar die rechtssuchende Partei die Pflicht, die Einheitsgebühr bei der Einlegung ihres gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung im Bereich öffentlicher Aufträge vorab zu entrichten, doch ist die unterliegende Partei grundsätzlich gehalten, den von der obsiegenden Partei gezahlten Gebührenvorschuss zu erstatten.
66 Was den Grundsatz der Äquivalenz anbelangt, kann der Umstand, dass die im Rahmen von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu entrichtende Einheitsgebühr höher ist als in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten, die dem allgemeinen Verfahren unterliegen, und zudem höher als die Gerichtsgebühren in Zivilverfahren, für sich allein noch keine Verletzung dieses Grundsatzes belegen.
67 Der Grundsatz der Äquivalenz, wie er in Rn. 46 des vorliegenden Urteils beschrieben wurde, verlangt nämlich eine Gleichbehandlung von Rechtsbehelfen, mit denen ein Verstoß gegen nationales Recht gerügt wird, und ähnlichen Rechtsbehelfen, mit denen ein Verstoß gegen Unionsrecht gerügt wird, und betrifft nicht die Äquivalenz nationaler Verfahrensvorschriften, die für Rechtsstreitigkeiten unterschiedlicher Art wie zivilrechtliche auf der einen Seite und verwaltungsrechtliche auf der anderen Seite oder Streitigkeiten mit Bezug zu zwei unterschiedlichen Rechtsgebieten gelten (vgl. Urteil ÖBB Personenverkehr, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 74).
68 Im vorliegenden Fall ist dem Gerichtshof nichts vorgetragen worden, was die Annahme stützen könnte, dass das System der italienischen Einheitsgebühr auf Rechtsbehelfe, die auf die dem Einzelnen aus dem Recht der Union über öffentliche Aufträge erwachsenden Rechte gestützt sind, anders angewandt würde als auf Rechtsbehelfe, mit denen ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht auf diesem Gebiet gerügt wird.
69 Daraus lässt sich schließen, dass Gerichtsgebühren wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einheitsgebühr, die bei Einlegung eines Rechtsbehelfs in verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Bereich öffentlicher Aufträge zu entrichten sind, weder die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 89/665 noch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beeinträchtigen.
Zur Kumulierung von Einheitsgebühren im Rahmen desselben verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Bereich öffentlicher Aufträge
70 Nach der nationalen Regelung ist die Einheitsgebühr nicht nur bei der Eintragung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks für einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung eines öffentlichen Auftraggebers im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge in das Register zu entrichten, sondern es muss der gleiche Betrag auch für Anschlussrechtsbehelfe und die Geltendmachung zusätzlicher Gründe, mit denen im Laufe des Verfahrens neue Anträge gestellt werden, entrichtet werden.
71 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass nach einem Rundschreiben des Segretario Generale della Giustizia Amministrativa vom 18. Oktober 2001 nur die Einreichung von Verfahrensschriftstücken, die vom verfahrenseinleitenden Schriftstück unabhängig und auf eine erhebliche Erweiterung des Streitgegenstands gerichtet sind, zu einer weiteren Gebührenerhebung führt.
72 Die Erhebung mehrfacher und kumulativer Gerichtsgebühren im Rahmen desselben verwaltungsgerichtlichen Verfahrens verstößt grundsätzlich weder gegen Art. 1 der Richtlinie 89/665 in Verbindung mit Art. 47 der Charta noch gegen die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität.
73 Eine solche Gebührenerhebung trägt nämlich grundsätzlich zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Gerichtssystems bei, da sie eine Finanzierungsquelle für die gerichtliche Tätigkeit der Mitgliedstaaten darstellt und von der Einreichung von Anträgen abschreckt, die offensichtlich unbegründet sind oder nur der Verfahrensverzögerung dienen.
74 Diese Ziele können eine gehäufte Anwendung von Gerichtsgebühren wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nur dann rechtfertigen, wenn der Gegenstand der zusätzlichen Rechtsbehelfe oder Gründe tatsächlich ein anderer ist und eine erhebliche Erweiterung des bereits anhängigen Streitgegenstands darstellt.
75 Ist das hingegen nicht der Fall, ist eine Pflicht zur Entrichtung solcher zusätzlicher Gerichtsgebühren wegen der Einlegung solcher Rechtsbehelfe oder der Geltendmachung solcher Gründe nicht mit dem von der Richtlinie 89/665 gewährleisteten Zugang zu Rechtsbehelfen und dem Grundsatz der Effektivität vereinbar.
76 Legt eine Person mehrere gerichtliche Rechtsbehelfe ein oder trägt sie im Rahmen desselben Gerichtsverfahrens mehrere zusätzliche Gründe vor, bedeutet der Umstand allein, dass das Endziel dieser Person der Zuschlag für einen bestimmten Auftrag ist, nicht zwangsläufig, dass der Gegenstand dieser Rechtsbehelfe oder Gründe identisch ist.
77 Im Fall der Beanstandung durch eine betroffene Partei ist es Sache des nationalen Richters, den Gegenstand der von einem Einzelnen eingelegten Rechtsbehelfe oder der im Rahmen desselben Verfahrens von ihm vorgetragenen Gründe zu prüfen. Stellt der nationale Richter fest, dass der Gegenstand tatsächlich kein anderer oder keine erhebliche Erweiterung des bereits anhängigen Streitgegenstands ist, hat er diesen Einzelnen von der Verpflichtung zur Entrichtung kumulativer Gerichtsgebühren freizustellen.
78 Dem Gerichtshof ist ferner nichts vorgetragen worden, was die Vereinbarkeit der Kumulierung der Einheitsgebühren mit dem Grundsatz der Äquivalenz in Frage stellen könnte.
79 Nach alledem ist die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:
—
Art. 1 der Richtlinie 89/665 und die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach bei der Einlegung eines Rechtsbehelfs im Bereich öffentlicher Aufträge bei den Verwaltungsgerichten Gerichtsgebühren wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einheitsgebühr zu entrichten sind.
—
Art. 1 der Richtlinie 89/665 und die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität stehen weder der mehrmaligen Erhebung von Gerichtsgebühren bei einem Einzelnen, der im Zusammenhang mit derselben Vergabe eines öffentlichen Auftrags mehrere gerichtliche Rechtsbehelfe einlegt, noch der Verpflichtung dieses Einzelnen entgegen, zusätzliche Gerichtsgebühren zu entrichten, um im Zusammenhang mit derselben Vergabe eines öffentlichen Auftrags in einem laufenden Gerichtsverfahren ergänzende Gründe vorbringen zu können. Jedoch ist es im Fall der Beanstandung durch eine betroffene Partei Sache des nationalen Richters, den Gegenstand der von einem Einzelnen eingelegten Rechtsbehelfe oder der im Rahmen desselben Verfahrens von ihm vorgetragenen Gründe zu prüfen. Stellt der nationale Richter fest, dass der Gegenstand tatsächlich kein anderer oder keine erhebliche Erweiterung des bereits anhängigen Streitgegenstands ist, hat er diesen Einzelnen von der Verpflichtung zur Entrichtung kumulativer Gerichtsgebühren freizustellen.
Kosten
80 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 1 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 geänderten Fassung und die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach bei der Einlegung eines Rechtsbehelfs im Bereich öffentlicher Aufträge bei den Verwaltungsgerichten Gerichtsgebühren wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einheitsgebühr zu entrichten sind.
2. Art. 1 der Richtlinie 89/665 in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung und die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität stehen weder der mehrmaligen Erhebung von Gerichtsgebühren bei einem Einzelnen, der im Zusammenhang mit derselben Vergabe eines öffentlichen Auftrags mehrere gerichtliche Rechtsbehelfe einlegt, noch der Verpflichtung dieses Einzelnen entgegen, zusätzliche Gerichtsgebühren zu entrichten, um im Zusammenhang mit derselben Vergabe eines öffentlichen Auftrags in einem laufenden Gerichtsverfahren ergänzende Gründe vorbringen zu können. Jedoch ist es im Fall der Beanstandung durch eine betroffene Partei Sache des nationalen Richters, den Gegenstand der von einem Einzelnen eingelegten Rechtsbehelfe oder der im Rahmen desselben Verfahrens von ihm vorgetragenen Gründe zu prüfen. Stellt der nationale Richter fest, dass der Gegenstand tatsächlich kein anderer oder keine erhebliche Erweiterung des bereits anhängigen Streitgegenstands ist, hat er diesen Einzelnen von der Verpflichtung zur Entrichtung kumulativer Gerichtsgebühren freizustellen.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 30. September 2015.#Tilda Riceland Private Ltd gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle).#Gemeinschaftsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Gemeinschaftsbildmarke BASmALI – Ältere nicht eingetragene Marke oder älteres Zeichen BASMATI – Relatives Eintragungshindernis – Art. 8 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009.#Rechtssache T-136/14.
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62014TJ0136
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ECLI:EU:T:2015:734
| 2015-09-30T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TJ0136
URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)
30. September 2015 (*1)
„Gemeinschaftsmarke — Widerspruchsverfahren — Anmeldung der Gemeinschaftsbildmarke BASmALI — Ältere nicht eingetragene Marke oder älteres Zeichen BASMATI — Relatives Eintragungshindernis — Art. 8 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009“
In der Rechtssache T‑136/14
Tilda Riceland Private Ltd mit Sitz in Gurgaon (Indien), Prozessbevollmächtigte: S. Malynicz, Barrister, N. Urwin und D. Sills, Solicitors,
Klägerin,
gegen
Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM), vertreten durch P. Geroulakos und P. Bullock als Bevollmächtigte,
Beklagter,
andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des HABM:
Siam Grains Co. Ltd mit Sitz in Bangkok (Thailand),
betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Vierten Beschwerdekammer des HABM vom 18. Dezember 2013 (Sache R 1086/2012‑4) zu einem Widerspruchsverfahren zwischen der Tilda Riceland Private Ltd und der Siam Grains Co. Ltd
erlässt
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen sowie der Richter F. Dehousse (Berichterstatter) und A. M. Collins,
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund der am 24. Februar 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,
aufgrund der am 23. Juli 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung,
auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2015
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Am 4. November 2003 meldete die Siam Grains Co. Ltd gemäß der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1994, L 11, S. 1) in geänderter Fassung (ersetzt durch die Verordnung [EG] Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke [ABl. L 78, S. 1]) beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) eine Gemeinschaftsmarke an.
2 Bei der angemeldeten Marke handelt es sich um das folgende Bildzeichen:
3 Die Marke wurde für „Langkornreis“ in Klasse 30 des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung angemeldet.
4 Die Anmeldung wurde im Blatt für Gemeinschaftsmarken Nr. 37/2004 vom 13. September 2004 veröffentlicht.
5 Am 10. Dezember 2004 erhob die United Riceland Private Ltd, jetzt Tilda Riceland Private Ltd, die Klägerin, gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 41 der Verordnung Nr. 207/2009) Widerspruch gegen die Eintragung der angemeldeten Marke für die oben in Rn. 3 aufgeführte Ware.
6 Der Widerspruch war gestützt auf die ältere nicht eingetragene Marke oder das ältere Zeichen BASMATI, die oder das im geschäftlichen Verkehr für Reis verwendet würde.
7 Als Widerspruchsgrund wurde der in Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009) genannte Grund geltend gemacht. Die Klägerin machte insbesondere geltend, sie könne nach den im Vereinigten Königreich geltenden Rechtsvorschriften die Benutzung der Anmeldemarke mittels einer Klage wegen Kennzeichenverletzung (action for passing off) unterbinden.
8 Mit Entscheidung vom 28. Januar 2008 wies die Widerspruchsabteilung den Widerspruch in vollem Umfang zurück. Sie stellte insbesondere fest, dass die Klägerin keine Unterlagen vorgelegt habe, in denen beschrieben werde, wie der von ihr in das Vereinigte Königreich ausgeführte Reis vermarktet werde. Demnach habe die Klägerin nicht nachgewiesen, dass sie den nach den im Vereinigten Königreich geltenden Rechtsvorschriften über die Kennzeichenverletzung für eine erfolgreiche Klage erforderlichen „Goodwill“ erworben habe.
9 Am 20. März 2008 legte die Klägerin gegen die Entscheidung der Widerspruchsabteilung gemäß den Art. 57 bis 62 der Verordnung Nr. 40/94 (jetzt Art. 58 bis 64 der Verordnung Nr. 207/2009) beim HABM Beschwerde ein.
10 Mit Entscheidung vom 19. März 2009 wies die Erste Beschwerdekammer des HABM die Beschwerde zurück. Sie war im Wesentlichen der Auffassung, dass nach Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 40/94 die Widersprechende hätte nachweisen müssen, dass sie Inhaberin des Rechts sei, auf das der Widerspruch gestützt sei. Im vorliegenden Fall habe die Klägerin indessen nicht nachgewiesen, dass sie Inhaberin des geltend gemachten Rechts sei. Überdies sei der Ausdruck „Basmati“ keine Marke oder kein Zeichen, an denen gewerbliche Schutzrechte bestünden, sondern lediglich die geläufige Bezeichnung einer Reissorte. „Basmati“ sei eine Gattungsbezeichnung. Im Übrigen beziehe sich der mit der Klage wegen Kennzeichenverletzung geschützte Besitzstand nicht auf das in Rede stehende Kennzeichenrecht, sondern auf den „Goodwill“. Die Beschwerdekammer gelangte so zu dem Ergebnis, dass die Klägerin ihre Inhaberschaft an dem Ausdruck „Basmati“ nicht nachgewiesen habe und dass der Widerspruch daher nicht die in der Verordnung Nr. 40/94 vorgesehene Voraussetzung des Vorliegens eines Inhaberrechts erfülle.
11 Mit Urteil vom 18. Januar 2012, Tilda Riceland Private/HABM – Siam Grains (BASmALI) (T‑304/09, Slg, EU:T:2012:13), hob das Gericht die Entscheidung der Beschwerdekammer vom 19. März 2009 auf. Das Gericht war der Auffassung, dass die Beschwerdekammer zu Unrecht den Widerspruch mit der Begründung zurückgewiesen habe, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass sie die Inhaberin des in Rede stehenden Kennzeichens sei, ohne im Einzelnen zu überprüfen, ob die Klägerin nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs Rechte an diesem Kennzeichen erworben hatte (Rn. 29 des Urteils).
12 Infolge des Urteils BASmALI (oben in Rn. 11 angeführt, EU:T:2012:13), wurde die Sache an die Vierte Beschwerdekammer des HABM zurückverwiesen.
13 Mit Entscheidung vom 18. Dezember 2013 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Vierte Beschwerdekammer des HABM die Beschwerde zurück. Sie war im Wesentlichen der Auffassung, dass die Klägerin die Verwendung des Ausdrucks „Basmati“ als unterscheidendes Zeichen im geschäftlichen Verkehr nicht bewiesen habe. Die Beschwerdekammer hat somit nicht geprüft, ob die Klägerin nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs Rechte an diesem Zeichen erworben hatte.
Anträge der Beteiligten
14 Die Klägerin beantragt,
—
die angefochtene Entscheidung aufzuheben;
—
dem HABM die Kosten aufzuerlegen.
15 Das HABM beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
16 Die Klägerin macht als einzigen Klagegrund einen Verstoß gegen Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 geltend.
17 Sie führt erstens aus, dass das Zeichen BASMATI insoweit unterscheidend sei, als es eine besondere Reisart bezeichne, die aufgrund ihrer Qualität, ihres Dufts und anderer Eigenschaften Bekanntheit erlangt habe. Die Klägerin habe dem HABM entsprechende Beweise vorgelegt. Die Beschwerdekammer scheine ein weiteres Kriterium aufzustellen, nach dem eine ausschließliche Inhaberschaft an dem Zeichen bestehen müsse. In diesem Zusammenhang unterscheide sich das Zeichen BASMATI nicht von den Zeichen CHAMPAGNE oder SWISS CHOCOLATE und könne durch eine Klage wegen Kennzeichenverletzung ebenso geschützt werden. In Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falls führt die Klägerin aus, dass das Zeichen BASMATI sämtliche Kriterien erfülle, um nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs Schutz zu genießen. Zweitens ist die Klägerin der Auffassung, dass sie als ausländische Erzeugerin und Exporteurin der in Rede stehenden Ware Inhaberin des „Goodwill“ am Zeichen BASMATI sei (zusammen mit anderen Wirtschaftsteilnehmern), auch wenn eine andere Gesellschaft die Ware im Vereinigten Königreich tatsächlich vermarkte. Die Beschwerdekammer habe die von der Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Gesichtspunkte vernachlässigt. Drittens beeinträchtige der Umstand, dass mehrere Wirtschaftsteilnehmer ihre eigenen unterscheidungskräftigen Marken in Verbindung mit dem Zeichen BASMATI verwendeten, nicht den unterscheidenden Charakter dieses Zeichens.
18 Das HABM gesteht zu, dass der von der Beschwerdekammer verfolgte Ansatz, auch wenn er mit dem nach dem Recht der Europäischen Union anzuwendenden Begriff der Unterscheidungskraft im Einklang stehe, schwer mit den spezifischen Besonderheiten der sogenannten „erweiterten“ Form der Kennzeichenverletzung sowie den von den Gerichten des Vereinigten Königreichs erlassenen Entscheidungen zu vereinbaren sei. Gleichwohl würden die von der Klägerin zur Akte gereichten Schriftstücke nicht zeigen, dass Basmatireis in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich wegen seiner besonderen Eigenschaften – ein Kriterium, das sich aus der Rechtsprechung des Vereinigten Königreichs ergebe – ein „offensichtliches Ansehen“ genieße. Das HABM räumt ein, dass die Beschwerdekammer hierauf nicht ausdrücklich Bezug genommen habe. Jedoch gehe aus der Prüfung der Beschwerdekammer hervor, dass sie, wenn sie ausdrücklich auf diese Frage eingegangen wäre, entschieden hätte, dass die Beweisstücke in der Akte es nicht erlaubten, das Zeichen BASMATI mit einem „offensichtlichen Ansehen“ in Verbindung zu bringen. Schließlich trägt das HABM der Vollständigkeit halber vor, die Klägerin habe weder dargelegt, dass sie Inhaberin eines „Goodwill“ sei, noch dass ihr insoweit ein Schaden entstehe. Das HABM kommt daher zu dem Ergebnis, dass, selbst wenn die Auffassung der Beschwerdekammer bezüglich der Frage, ob der herkömmliche Begriff der Unterscheidungskraft als Element, das es ermöglicht, die betriebliche Herkunft der Waren zu identifizieren, auch auf einen Fall der sogenannten „erweiterten“ Form der Kennzeichenverletzung anzuwenden ist, unzutreffend sein sollte, die zur Akte gereichten Beweise nicht ausreichten, um nachzuweisen, dass das Zeichen BASMATI nach der Wahrnehmung der maßgeblichen Verkehrskreise im Vereinigten Königreich „offensichtliches Ansehen“ genießt.
19 Es ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 der Inhaber einer nicht eingetragenen Marke oder eines sonstigen im geschäftlichen Verkehr benutzten Kennzeichenrechts von mehr als lediglich örtlicher Bedeutung gegen die Anmeldung einer Gemeinschaftsmarke Widerspruch erheben kann, wenn und soweit nach dem für den Schutz des Kennzeichens maßgeblichen Recht der Gemeinschaft oder des Mitgliedstaats zum einen Rechte an diesem Kennzeichen vor dem Tag der Anmeldung der Gemeinschaftsmarke oder gegebenenfalls vor dem Tag der für die Anmeldung der Gemeinschaftsmarke in Anspruch genommenen Priorität erworben worden sind und zum anderen dieses Kennzeichen seinem Inhaber das Recht verleiht, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen.
20 Soweit die Klägerin ihren Widerspruch auf die nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs vorgesehene Klage wegen Kennzeichenverletzung stützt, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die im vorliegenden Fall geltende rechtliche Regelung des Mitgliedstaats der Trade Marks Act 1994 (Markengesetz 1994 des Vereinigten Königreichs) ist, dessen Section 5 (4) u. a. bestimmt:
„Eine Marke ist von der Eintragung ausgeschlossen, wenn oder soweit ihre Benutzung im Vereinigten Königreich untersagt werden kann
a)
gemäß einer Rechtsregel (insbesondere den Rechtsregeln der Kennzeichenverletzung [law of passing off]) zum Schutz einer nicht eingetragenen Marke oder eines sonstigen im geschäftlichen Verkehr benutzten Kennzeichenrechts“.
21 Aus dieser Bestimmung in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte ergibt sich, dass der Widersprechende gemäß den Rechtsregeln, die für die im Recht des Vereinigten Königreichs vorgesehene Klage wegen Kennzeichenverletzung gelten, nachweisen muss, dass drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich erstens der erworbene „Goodwill“ (d. h. die Anziehungskraft auf Kunden) der nicht eingetragenen Marke oder des betreffenden Kennzeichenrechts, zweitens die irreführende Präsentationsweise durch den Inhaber der jüngeren Marke und drittens der an dem „Goodwill“ verursachte Schaden (vgl. Urteil BASmALI, oben in Rn. 11 angeführt, EU:T:2012:13, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Im Übrigen kann nach der Rechtsprechung des Vereinigten Königreichs ein Zeichen für Waren oder Dienstleistungen ein Ansehen auf dem Markt im Sinne der für die Kennzeichenverletzung geltenden Rechtsvorschriften erworben haben, obgleich es von mehreren Wirtschaftsteilnehmern im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit benutzt wird (Chocosuisse Union des fabricants suisses de chocolat & Ors v Cadbury Ltd. [1999] EWCA Civ 856). Infolge dieser in der Rechtsprechung des Vereinigten Königreichs anerkannten sogenannten „erweiterten“ Form der Kennzeichenverletzung können somit mehrere Wirtschaftsteilnehmer über Rechte an einem Kennzeichen verfügen, das ein Ansehen auf dem Markt besitzt (Urteil BASmALI, oben in Rn. 11 angeführt, EU:T:2012:13, Rn. 28).
23 Die Beschwerdekammer hat ausgeführt, dass die Voraussetzungen hinsichtlich der Benutzung des Namens „Basmati“ im geschäftlichen Verkehr und der Bedeutung des Zeichens im Licht der einheitlichen Maßstäbe des Unionsrechts auszulegen seien. Sie hat hierzu erklärt, dass, um die Anforderung der Benutzung im geschäftlichen Verkehr zu erfüllen, eine nicht eingetragene Marke oder ein Zeichen als unterscheidendes Element in dem Sinn benutzt werden müsse, dass es dazu dienen müsse, eine von seinem Inhaber ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit zu identifizieren. Im vorliegenden Fall kam die Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass die zur Akte gereichten Schriftstücke nicht die Feststellung zuließen, dass die Klägerin den Namen „Basmati“ im geschäftlichen Verkehr als unterscheidendes Zeichen verwendet habe, und dass somit eine der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 nicht erfüllt sei.
24 Auch wenn die angefochtene Entscheidung nicht eindeutig ist, geht daraus hervor, dass die Beschwerdekammer der Ansicht war, dass die mögliche Unterscheidungskraft des Zeichens BASMATI es der Klägerin ermöglichen müsse, ihre Ware von der Ware anderer Unternehmen zu unterscheiden, auch von solchen, die ebenfalls Basmatireis vermarkteten. Dies ergibt sich insbesondere aus Rn. 33 der angefochtenen Entscheidung, in der die Beschwerdekammer klar ausführt, dass der Umstand, dass Basmatireis unter verschiedenen Marken vermarktet werde, „die Möglichkeit ausschließt“, dass der Ausdruck „Basmati“ als solcher als ein Element wahrgenommen werden könne, „das den Reis eines Unternehmens von dem anderer Unternehmen unterscheidet“. Außerdem hat die Beschwerdekammer in den Rn. 25 und 31 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt, dass der von der Klägerin in das Vereinigte Königreich exportierte Basmatireis nicht von der Klägerin, sondern von einem anderen Unternehmen vermarktet werde. In Rn. 27 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer ferner erklärt, dass der Name eines landwirtschaftlichen Erzeugnisses, dessen Import in Anwendung der gemeinsamen Agrarpolitik der Union bestimmten Regelungen unterliege, als Bezeichnung für Eigenschaften der Ware „und nicht … seiner betrieblichen Herkunft“ verstanden werde. In den Rn. 29 und 32 der angefochtenen Entscheidung hat sie auch Bezug auf die „betriebliche Herkunft“ der fraglichen Ware genommen. In Rn. 31 der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdekammer ferner festgestellt, dass die zur „Kennzeichnung“ des von der Klägerin produzierten Reises „benutzte Marke“ TILDA und nicht der Ausdruck „Basmati“ sei. Zur Stützung ihrer Ansicht hat die Beschwerdekammer ausgeführt, dass das in das Verfahren eingebrachte Vorbringen belege, dass der Ausdruck „Basmati“ in Verbindung mit Marken oder Namen von Gesellschaften verwendet worden sei.
25 Die Beschwerdekammer war mit anderen Worten der Auffassung, dass sich die Unterscheidungskraft des fraglichen Zeichens aus seiner Funktion ergeben müsse, die betriebliche Herkunft der Waren zu identifizieren. Das HABM hat diese Lesart der angefochtenen Entscheidung in der mündlichen Verhandlung bestätigt.
26 Der von der Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung verfolgte Ansatz läuft insoweit jedoch Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 zuwider.
27 Zwar trifft es zu, wie die Beschwerdekammer festgestellt hat, dass das fragliche Zeichen im Rahmen von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 als unterscheidendes Element in dem Sinne benutzt werden muss, dass es dazu dienen muss, eine von seinem Inhaber ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit zu identifizieren (Urteil vom 29. März 2011, Anheuser-Busch/Budějovický Budvar, C‑96/09 P, Slg, EU:C:2011:189, Rn. 149).
28 Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass die Funktion der Benutzung eines Zeichens im Rahmen von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 ausschließlich auf die Identifizierung der betrieblichen Herkunft der betreffenden Waren oder Dienstleistungen abzielen muss. Mit diesem Ergebnis hat die Beschwerdekammer eine Bedingung aufgestellt, die in Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 nicht vorgesehen ist, wie die Klägerin in ihren Schriftsätzen im Wesentlichen vorträgt.
29 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 auf nicht eingetragene Marken und sämtliche „sonstige[n]“ im geschäftlichen Verkehr benutzten „Kennzeichenrecht[e]“ bezieht. In diesem Rahmen und mangels anderer Angaben kann die Funktion der Benutzung des fraglichen Zeichens nach Maßgabe der Art des Zeichens nicht nur in der Identifizierung der betrieblichen Herkunft der betreffenden Ware durch die maßgeblichen Verkehrskreise liegen, sondern u. a. auch in der Identifizierung ihrer geografischen Herkunft und ihrer spezifischen Eigenschaften (vgl. in diesem Sinne Urteil Anheuser‑Busch/Budějovický Budvar, oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2011:189, Rn. 147) oder der Merkmale, die ihr Ansehen begründen, was das HABM im Übrigen in seinen Schriftsätzen ausführt. Das betreffende Zeichen kann nach Maßgabe seiner Art somit als unterscheidendes Element eingestuft werden, wenn es dazu dient, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens gegenüber denen eines anderen Unternehmens zu kennzeichnen, aber auch, insbesondere, wenn es dazu dient, bestimmte Waren oder Dienstleistungen gegenüber anderen Waren oder ähnlichen Dienstleistungen zu kennzeichnen. Der von der Beschwerdekammer gewählte Ansatz läuft somit darauf hinaus, Zeichen, die von mehreren Wirtschaftsteilnehmern oder in Verbindung mit Marken benutzt werden, von der Anwendung des Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 auszuschließen, obwohl diese Bestimmung einen solchen Ausschluss nicht vorsieht. Dies ist beispielsweise der Fall bei geografischen Angaben, die nicht in der Union eingetragen sind und auf die Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 Anwendung finden kann. Dies ist auch der Fall bei Zeichen, die, obwohl sie nicht eingetragen sind, durch eine Klage wegen Kennzeichenverletzung geschützt werden können. Die Beschwerdekammer hat im Übrigen selbst festgestellt, dass sich Klagen wegen Kennzeichenverletzung auf Zeichen bezögen, die es ermöglichten, eine Warenkategorie von „anderen ähnlichen Waren“ zu unterscheiden (Rn. 19 der angefochtenen Entscheidung). Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass infolge der in der Rechtsprechung des Vereinigten Königreichs anerkannten sogenannten „erweiterten“ Form der Kennzeichenverletzung mehrere Wirtschaftsteilnehmer über Rechte an einem Kennzeichen verfügen können, das ein Ansehen auf dem Markt erworben hat.
30 In diesem Zusammenhang können bestimmte Zeichen, obwohl sie von mehreren Wirtschaftsteilnehmern oder in Verbindung mit Marken benutzt werden, unterscheidende Elemente sein, sofern sie die Identifizierung der wirtschaftlichen Tätigkeit ihrer Inhaber ermöglichen. Im Übrigen ist insoweit festzustellen, dass die Beschwerdekammer das Oxford English Dictionary zitierend ausgeführt hat, dass Basmatireis „eine hochwertige Sorte von indischem Reis [ist], der sich in gekochter Form durch seine Weiße und seinen Duft auszeichnet“.
31 Es ist hinzuzufügen, dass auch wenn die Waren der Klägerin unter der Marke TILDA vermarktet wurden, wie die Beschwerdekammer in Rn. 25 der angefochtenen Entscheidung festgestellt hat, aus der Akte des HABM hervorgeht, dass auch der Ausdruck „Basmati“ sehr deutlich auf den Verpackungen dieser Waren erscheint. Insoweit ist unstreitig, wie die Beschwerdekammer in Rn. 25 der angefochtenen Entscheidung feststellt, dass die Klägerin einem anderen Unternehmen „indischen Basmatireis“ verkauft hat. In diesem Zusammenhang ist es im Übrigen aus den oben angeführten Gründen unerheblich, dass die in das Vereinigte Königreich exportierten Waren der Klägerin dort von diesem anderen Unternehmen vermarktet wurden und nicht von der Klägerin selbst, denn die Benutzung des fraglichen Zeichens hat nicht unbedingt die Funktion der Identifizierung der betrieblichen Herkunft der betreffenden Ware. Außerdem gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Widersprechende im Rahmen von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 darlegen müsste, dass er selbst die Waren in dem betreffenden Gebiet vermarktet hat.
32 Die von der Beschwerdekammer zur Begründung der Zurückweisung des Widerspruchs angeführten Gesichtspunkte lassen nicht die Annahme zu, dass das fragliche Zeichen nicht als ein unterscheidendes Element zur Identifizierung einer von der Klägerin ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit benutzt wurde.
33 Die übrigen Argumente des HABM stellen dieses Ergebnis nicht in Frage. Insbesondere hinsichtlich der Behauptung des HABM in seinen Schriftsätzen, dass das in das Verfahren eingebrachte Vorbringen es der Beschwerdekammer jedenfalls nicht ermöglicht habe, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass das Zeichen BASMATI in dem betreffenden Gebiet ein „offensichtliches Ansehen“ erworben habe oder dass die Klägerin Inhaberin eines „Goodwill“ sei oder dass ihr insoweit ein Schaden entstanden sei, ist unstreitig, dass die Beschwerdekammer diese Fragen nicht geprüft hat. Gemäß Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 führt das Gericht jedoch eine Rechtmäßigkeitskontrolle der Entscheidungen des HABM durch (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2011, Edwin/HABM, C‑263/09 P, Slg, EU:C:2011:452, Rn. 52). Wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass eine mit einer vor ihm erhobenen Klage angefochtene Entscheidung rechtswidrig ist, hat es diese aufzuheben. Es kann jedoch nicht die Klage abweisen und die von der zuständigen Instanz des HABM, des Urhebers der angefochtenen Handlung, gegebene Begründung durch seine eigene ersetzen (Urteile vom 25. März 2009, Kaul/HABM – Bayer [ARCOL], T‑402/07, Slg, EU:T:2009:85, Rn. 49, und vom 9. September 2010, Axis/HABM – Etra Investigación y Desarrollo [ETRAX], T‑70/08, Slg, EU:T:2010:375, Rn. 29). Die vom HABM in seinen Schriftsätzen vorgebrachten Argumente können folglich nicht zur Abweisung der Klage führen.
34 Angesichts all dieser Umstände ist dem einzigen Klagegrund der Klägerin stattzugeben und die angefochtene Entscheidung demnach aufzuheben.
Kosten
35 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
36 Da das HABM insofern unterlegen ist, als die angefochtene Entscheidung aufgehoben wird, sind ihm gemäß dem Antrag der Klägerin seine eigenen Kosten und die Kosten der Klägerin aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Entscheidung der Vierten Beschwerdekammer des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) vom 18. Dezember 2013 (Sache R 1086/2012-4) wird aufgehoben.
2. Das HABM trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Tilda Riceland Private Ltd.
Frimodt Nielsen
Dehousse
Collins
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. September 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 17. September 2015. # Alcogroup SA und Alcodis SA gegen Europäische Kommission. # Rechtssache C-386/15 P(R).
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62015CO0386
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ECLI:EU:C:2015:623
| 2015-09-17T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CO0386
BESCHLUSS DES VIZEPRÄSIDENTEN DES GERICHTSHOFS
17. September 2015 (*1)
„Rechtsmittel — Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes — Wettbewerb — Kartelle — Anordnung zur Duldung einer Nachprüfung — Verletzung des Berufsgeheimnisses — Weigerung, die Untersuchungsmaßnahmen auszusetzen — Notwendigkeit des Erlasses einstweiliger Anordnungen — Fehlen — Unzulässigkeit“
In der Rechtssache C‑386/15 P(R)
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 57 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 17. Juli 2015,
Alcogroup SA mit Sitz in Brüssel (Belgien),
Alcodis SA mit Sitz in Brüssel,
Prozessbevollmächtigte: P. de Bandt, J. Dewispelaere und J. Probst, avocats,
Rechtsmittelführerinnen,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch C. Giolito, T. Christoforou, V. Bottka und F. Jimeno Fernández als Bevollmächtigte,
Antragsgegnerin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER VIZEPRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS
nach Anhörung des Ersten Generalanwalts M. Wathelet
folgenden
Beschluss
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Alcogroup SA (im Folgenden: Alcogroup) und die Alcodis SA (im Folgenden: Alcodis) die Aufhebung des Beschlusses des Präsidenten des Gerichts der Europäischen Union vom 16. Juni 2015, Alcogroup und Alcodis/Kommission (T‑274/15 R, EU:T:2015:389, im Folgenden: angefochtener Beschluss), mit dem der Präsident ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückgewiesen hat, der zum einen auf die Aussetzung des Vollzugs des Beschlusses C (2015) 1769 final der Kommission vom 12. März 2015 (im Folgenden: erster streitiger Beschluss), gerichtet an Alcogroup sowie an alle von ihr unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Unternehmen, darunter Alcodis, in einem Verfahren nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. L 1, S. 1) sowie des Beschlusses der Kommission vom 8. Mai 2015 (im Folgenden: zweiter streitiger Beschluss), gerichtet an Alcogroup im Rahmen der Untersuchungen AT.40244 – Bioethanol (vormals „AQUA VIT“) – und AT.40054 – Oil and Biofuel Markets –, und zum anderen darauf abzielt, der Europäischen Kommission aufzugeben, alle die Unternehmen betreffenden Untersuchungs- oder sonstigen Handlungen im Rahmen der Verfahren AT.40054 und AT.40244 auszusetzen.
2 Zunächst ist klarzustellen, dass der Präsident des Gerichts den angefochtenen Beschluss erlassen hatte, bevor die Kommission Erklärungen zum Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz eingereicht hatte, und zu einem Zeitpunkt, zu dem die Frist für die Einreichung derartiger Erklärungen noch nicht abgelaufen war. Daher stützt sich – worauf die Kommission vor dem Gerichtshof zutreffend hingewiesen hat – der angefochtene Beschluss ausschließlich auf den im Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz dargestellten Sachverhalt. Wenn die Kommission diesen Sachverhalt zum Teil bestreitet, erfolgt dies nur hilfsweise und für den Fall, dass der angefochtene Beschluss aufgehoben wird. Dementsprechend geht der vorliegende Beschluss für die Prüfung des Rechtsmittels von der Annahme aus, dass der im angefochtenen Beschluss festgestellte Sachverhalt erwiesen ist, ohne seine Richtigkeit zu bestätigen oder zu entkräften.
Im angefochtenen Beschluss festgestellte Vorgeschichte des Rechtsstreits
3 Alcogroup und Alcodis sind in der Herstellung, Verarbeitung und Vermarktung von Ethanol tätig. Infolge einer im März 2013 eingelegten Beschwerde führte die Kommission im Mai 2013 Nachprüfungen in den Räumlichkeiten eines Unternehmens, das eine Methode zur Bewertung der Ethanolpreise entwickelt hatte und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte, sowie in den Räumlichkeiten mehrerer anderer Unternehmen durch, die in den Bereichen Rohöl, raffinierte Erdölerzeugnisse und Biokraftstoffe tätig sind. Diese unter dem Aktenzeichen AT.40054 (Oil and Biofuel Markets) registrierte Untersuchung betraf sowohl die Funktionsweise dieser Methode als auch etwaige auf die Manipulation dieser Methode gerichtete Kollusionen zwischen Unternehmen.
4 Im Rahmen dieser Untersuchung richtete die Kommission am 23. Mai 2014 nach Art. 18 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ein Auskunftsverlangen an Alcodis. Alcodis kam diesem Verlangen am 14. Juni 2014 nach.
5 Am 29. September 2014 gab die Kommission Alcogroup und Alcodis auf, eine Nachprüfung nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zu dulden. Die Nachprüfung fand vom 7. bis 10. Oktober 2014 in deren Räumlichkeiten statt. Während und nach dieser Nachprüfung ersuchten Alcogroup und Alcodis zur Sicherstellung ihrer Verteidigung um den Beistand ihrer Anwälte. In diesem Zusammenhang wurden zahlreiche Unterlagen erstellt und zwischen ihnen und ihren Anwälten ausgetauscht. Es wurde klargestellt, dass die ausgetauschten Unterlagen und deren Anhänge vom Berufsgeheimnis der Rechtsanwälte erfasst seien, wobei jede Unterlage in englischer Sprache den Vermerk „legally privileged“ trug oder in einem mit diesem Vermerk versehenen Ordner enthalten war.
6 Parallel zur Untersuchung AT.40054 leitete die Kommission die Untersuchung AT.40244 ein. Diese betraf mögliche Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen betreffend die Koordinierung des Verhaltens der im Bereich der Vermarktung von Bioethanol tätigen Unternehmen, die Markt- und Kundenaufteilung sowie den Informationsaustausch. Im Rahmen dieser Untersuchung gab die Kommission mit dem ersten streitigen Beschluss Alcogroup und Alcodis auf, eine Nachprüfung zu dulden, die vom 24. bis 27. März 2015 stattfand. Zu Beginn der Nachprüfung ersuchten die Anwälte der beiden Unternehmen die Inspektoren der Kommission, von der Untersuchung jene Unterlagen auszunehmen, die ihrer Verteidigung dienten und nach der vom 7. bis 10. Oktober 2014 durchgeführten Nachprüfung erstellt worden waren. Es wurde vereinbart, dass jede mit dem englischsprachigen Vermerk „legally privileged“ versehene Unterlage sofort – ohne Einsichtnahme durch die Inspektoren – ausgesondert und gemeinsam mit den Anwälten von Alcogroup und Alcodis geprüft wird.
7 In der Folge stellte sich jedoch laut Alcogroup und Alcodis heraus, dass die Inspektoren der Kommission die betreffenden Unterlagen analysiert hatten, um zu bestimmen, ob sie für die Untersuchung relevant sind, und dass sie verschiedene der Verteidigung dienende und mit dem englischsprachigen Vermerk „legally privileged“ versehene Unterlagen zur Beschlagnahme ausgewählt hatten. Nachdem die Anwälte von Alcogroup und Alcodis dagegen protestiert hatten, wurden diese Unterlagen aus der Liste der zu beschlagnahmenden Unterlagen gestrichen und stimmten die Inspektoren zu, die mit dem Vermerk „legally privileged“ versehenen Unterlagen in einen gesonderten Ordner zu geben und nur in Anwesenheit eines Anwalts von Alcogroup und Alcodis zu prüfen. Nach Angaben dieser beiden Unternehmen hatten die Inspektoren jedoch bereits Unterlagen eingesehen, die nach der ersten, im Rahmen der Untersuchung AT.40054 durchgeführten Nachprüfung zur Verteidigung der beiden Unternehmen erstellt worden waren.
8 Am 21. April 2015 sandten Alcogroup und Alcodis ein Schreiben an die Kommission, in dem sie die sofortige Aussetzung aller sie betreffenden Untersuchungshandlungen im Rahmen der Verfahren AT.40054 und AT.40244 einschließlich der Einsichtnahme in beschlagnahmte Unterlagen oder deren Prüfung beantragten. Am 8. Mai 2015 wurde dieser Antrag mit dem zweiten streitigen Beschluss abgelehnt.
Verfahren vor dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter und angefochtener Beschluss
9 Mit am 29. Mai 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift erhoben Alcogroup und Alcodis eine Klage auf Aufhebung des ersten und des zweiten streitigen Beschlusses.
10 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts einging, stellten Alcogroup und Alcodis einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, mit dem sie beim Präsidenten des Gerichts im Wesentlichen beantragten,
—
den Vollzug des ersten und des zweiten streitigen Beschlusses gemäß Art. 105 § 2 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichts (jetzt Art. 157 Abs. 2 dieser Verfahrensordnung) bis zum Abschluss des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes und auf jeden Fall bis zur Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache auszusetzen;
—
der Kommission aufzugeben, alle sie betreffenden Untersuchungs- oder sonstigen Handlungen im Rahmen der Verfahren AT.40054 und AT.40244 auszusetzen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
11 Mit dem angefochtenen Beschluss hat der Präsident des Gerichts diesen Antrag als unzulässig zurückgewiesen, bevor die Frist für den Eingang der Stellungnahme der Kommission abgelaufen war.
12 In Bezug auf den ersten Antrag von Alcogroup und Alcodis hat der Präsident des Gerichts im Wesentlichen entschieden, dass der Antrag auf Aussetzung des Vollzugs des ersten streitigen Beschlusses unzulässig sei, weil seine Aussetzung keinen Sinn hätte, da dieser Beschluss bereits vollständig vollzogen worden sei. Zum Antrag auf Aussetzung des Vollzugs des zweiten streitigen Beschlusses wies er darauf hin, dass ein solcher ablehnender Beschluss, durch den einem im Verwaltungsweg gestellten Antrag nicht stattgegeben werde, grundsätzlich nicht Gegenstand einer solchen Aussetzung sein könne. Was den zweiten Antrag von Alcogroup und Alcodis betrifft, hat der Präsident des Gerichts im Wesentlichen festgestellt, dass dieser Antrag, der darauf gerichtet war, der Kommission aufzugeben, alle die Unternehmen betreffenden Untersuchungs- oder sonstigen Handlungen auszusetzen, über den Gegenstand der im Verfahren zur Hauptsache erhobenen Klage hinausgehe, da die beantragte Anordnung – so sie denn erginge – den Maßnahmen vorgriffe, die die Kommission im Anschluss an ein etwaiges Urteil über die Nichtigerklärung des ersten und des zweiten streitigen Beschlusses erlassen könnte. Außerdem sei nicht nachgewiesen worden, dass ein solcher Vorgriff notwendig sei, um die volle Wirksamkeit eines Nichtigkeitsurteils im vorliegenden Fall zu gewährleisten, da es hierfür im Fall der Aufhebung dieser streitigen Beschlüsse ausreichen würde, alle unrechtmäßig verwendeten Bestandteile aus der Untersuchungsakte zu entfernen.
Anträge der Parteien
13 Alcogroup und Alcodis beantragen,
—
den angefochtenen Beschluss aufzuheben;
—
die von ihnen beim Gericht beantragten einstweiligen Anordnungen zu erlassen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
14 Die Kommission beantragt,
—
das Rechtsmittel zurückzuweisen,
—
hilfsweise, den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückzuweisen;
—
Alcogroup und Alcodis die Kosten einschließlich der im Verfahren vor dem Gericht entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
15 Alcogroup und Alcodis stützen ihr Rechtsmittel auf drei Gründe. Ihr erster Rechtsmittelgrund, mit dem sie einen Rechtsfehler bei der Beurteilung der Zulässigkeit ihrer im Rahmen des im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrags erhobenen Forderungen rügen, gliedert sich in drei Teile, mit denen sie Folgendes geltend machen:
—
eine Verfälschung ihres Antrags auf Erlass einstweiliger Anordnungen;
—
einen Fehler bei der Beurteilung der Notwendigkeit der im ersten Rechtszug mit ihrem zweiten Antrag beantragten einstweiligen Anordnungen für die Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des zu erlassenden Urteils;
—
eine Beeinträchtigung des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.
16 Mit ihrem zweiten und ihrem dritten Rechtsmittelgrund werfen Alcogroup und Alcodis dem Präsidenten des Gerichts einen Rechtsfehler bei der Beurteilung der Zulässigkeit ihres Antrags auf Aussetzung des Vollzugs des ersten bzw. des zweiten streitigen Beschlusses vor.
17 Im Übrigen legen Alcogroup und Alcodis die Gründe dar, aus denen die beim Gericht beantragten einstweiligen Anordnungen zu erlassen seien.
18 Die Kommission ersucht den Gerichtshof, das Rechtsmittel in vollem Umfang zurückzuweisen. Jedenfalls sei der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückzuweisen, und der Präsident des Gerichts habe zu Recht entsprechend entschieden.
Erster Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler bei der Beurteilung der Zulässigkeit des im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrags
19 Mit dem ersten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes beanstanden Alcogroup und Alcodis, dass der Präsident des Gerichts in Rn. 21 Satz 1 des angefochtenen Beschlusses festgestellt habe, dass ihr im ersten Rechtszug gestellter zweiter Antrag „de facto darauf gerichtet ist, der Kommission zu untersagen, ihre Untersuchungen AT.40054 und AT.40244 fortzuführen und in diesem Zusammenhang von den vertraulichen Informationen, die sie auf rechtswidrige Weise erhalten habe, Gebrauch zu machen …“, wo doch ihr Antrag weniger weit gegangen sei. In Wahrheit hätten sie lediglich beantragt, alle Untersuchungshandlungen im Rahmen der in Rede stehenden Verfahren bis zum Erlass eines Urteils in der Hauptsache auszusetzen, und zwar nur, soweit sie davon betroffen seien.
20 Insoweit ergibt sich aus einer Gesamtschau des angefochtenen Beschlusses, dass der Präsident des Gerichts den begrenzten Umfang des im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrags sehr wohl berücksichtigt hat. Zu dieser Feststellung gelangt man insbesondere dann, wenn man Rn. 21 Satz 1 des angefochtenen Beschlusses im Licht erstens seiner Rn. 12, in der dieser Antrag wortgetreu wiedergegeben wird, und zweitens seiner Rn. 20 betrachtet, in der auf die zeitliche Begrenzung der beantragten Aussetzung und den akzessorischen Charakter des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes gegenüber dem Verfahren zur Hauptsache, mit dem es verknüpft ist, hingewiesen wird.
21 Alcogroup und Alcodis haben des Weiteren sowohl in ihren beim Gericht eingereichten Schriftsätzen als auch in dem Teil ihrer Rechtsmittelschrift, der den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnungen betrifft, ausgeführt, dass jede auf der Grundlage der rechtswidrig erlangten Informationen ihnen gegenüber beschlossene Untersuchungshandlung den Schaden vergrößerte. Daraus folgt, dass das Ziel ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz, und insbesondere des im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrags, – wie der Präsident des Gerichts in Rn. 21 Satz 1 des angefochtenen Beschlusses zutreffend festgestellt hat – tatsächlich darin bestand, der Entstehung eines solchen Schadens dadurch vorzubeugen, dass die Kommission vorübergehend daran gehindert wird, die Untersuchungen AT.40054 und AT.40244 hinsichtlich der möglichen Beteiligung von Alcogroup und Alcodis an den untersuchten Zuwiderhandlungen fortzuführen.
22 Nach alledem ist der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen.
23 Mit dem zweiten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes machen Alcogroup und Alcodis im Wesentlichen geltend, der Präsident des Gerichts habe insbesondere in Rn. 23 des angefochtenen Beschlusses dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass er die im Beschluss Kommission/Akzo und Akcros (C‑7/04 P[R], EU:C:2004:566) dargelegte Begründung im vorliegenden Fall bei der Beurteilung entsprechend angewandt habe, ob die beantragten einstweiligen Anordnungen notwendig seien, um die volle Wirksamkeit des zu erlassenden Urteils zu gewährleisten. Die vorliegende Rechtssache unterscheide sich nämlich von jener, in der jener Beschluss ergangen sei. In der Rechtssache Kommission/Akzo und Akcros sei es nur um den Status einer begrenzten Zahl von Schriftstücken gegangen, so dass die Rechte der betroffenen Gesellschaften dadurch hinreichend gewahrt gewesen seien, dass es für die Kommission unmöglich gewesen sei, diese Schriftstücke im Fall der Nichtigerklärung des eine Nachprüfung anordnenden Beschlusses zu verwenden. Im vorliegenden Fall dagegen hätten die Inspektoren der Kommission bewusst alle der Verteidigung von Alcogroup und Alcodis dienenden Unterlagen in die Nachprüfung einbezogen und von ihnen Kenntnis genommen. Es sei für Alcogroup und Alcodis unmöglich, im Nachhinein und mit hinreichender Sicherheit nachzuweisen, dass zwischen dieser Kenntnisnahme der rechtswidrig erlangten Informationen und etwaigen von der Kommission im weiteren Verlauf der Untersuchung erlassenen Maßnahmen ein Zusammenhang bestehe.
24 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es in der Rechtssache, in der der Beschluss Kommission/Akzo und Akcros (C‑7/04 P[R], EU:C:2004:566) ergangen ist, zwar nur um eine begrenzte Zahl von Schriftstücken ging, dass sich aber die in jenem Beschluss dargelegte Begründung nicht auf diesen Umstand als solchen stützte. Der Gerichtshof hat in den Rn. 41 und 42 jenes Beschlusses nämlich im Wesentlichen entschieden, dass die bloße Tatsache, dass die Kommission von den in den angeblich unter das Berufsgeheimnis fallenden Schriftstücken enthaltenen Informationen Kenntnis genommen hatte, nicht ausreichte, um die Notwendigkeit des Erlasses einstweiliger Anordnungen nachzuweisen, da diese Informationen nicht Dritten bekannt gegeben und nicht in einem Verfahren wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Europäischen Union verwendet wurden. Zudem führte der Gerichtshof in Rn. 43 jenes Beschlusses aus, dass die Möglichkeit einer gründlicheren Kenntnisnahme der betreffenden Schriftstücke durch die Kommission nicht geeignet war, das Vorliegen eines schweren und nicht wieder gutzumachenden Schadens der betroffenen Gesellschaften nachzuweisen.
25 Daher ist erst recht festzustellen, dass das Vorbringen von Alcogroup und Alcodis – dass nämlich Beamte der Kommission während der Nachprüfung von unter das Berufsgeheimnis fallenden Unterlagen Kenntnis genommen hätten, die Kommission diese Unterlagen im Anschluss an diese Nachprüfung aber nicht aufbewahrt habe – für sich genommen nicht als Beleg dafür ausreichten, dass ein Erlass der beantragten einstweiligen Anordnungen notwendig sei, um die volle Wirksamkeit des zu erlassenden Urteils zu gewährleisten. Es ist nämlich keinesfalls möglich, dass diese Unterlagen, über die die Kommission nicht mehr verfügt, von dieser Dritten bekannt gegeben oder als solche herangezogen werden, um das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln zu beweisen.
26 Im Übrigen sind die Argumente zurückzuweisen, mit denen Alcogroup und Alcodis im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels vorbringen, dass es ihnen im Fall der Verwendung rechtswidrig erlangter Informationen durch die Kommission anders als in der Rechtssache, in der der Beschluss Kommission/Akzo und Akcros (C‑7/04 P[R], EU:C:2004:566) ergangen sei, unmöglich sei, das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen dieser Verwendung und den etwaigen danach erlassenen Untersuchungsmaßnahmen nachzuweisen. Wie der Präsident des Gerichts in Rn. 24 des angefochtenen Beschlusses nämlich rechtsfehlerfrei entschieden hat, haben Alcogroup und Alcodis vor dem Gericht das Vorliegen einer solchen Unmöglichkeit nicht nachgewiesen. Er ist auf dieser Grundlage daher zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die hiermit angesprochene Gefahr als rein hypothetisch anzusehen sei.
27 Darüber hinaus hat der Präsident des Gerichts hierzu in Rn. 21 des angefochtenen Beschlusses in allgemeinerer Form auch zutreffend darauf hingewiesen, dass Alcogroup und Alcodis ihn in Wahrheit darum ersucht hätten, seine Befugnisse durch Vorwegnahme der Konsequenzen zu überschreiten, die die Kommission zöge, falls der erste und der zweite streitige Beschluss vom Gericht für nichtig erklärt würden. Unbeschadet der Entscheidungen, die später der Unionsrichter im Verfahren zur Hauptsache und die Kommission im Verwaltungsweg erlassen werden, kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass in Zukunft erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen, u. a. in Form der Entfernung bestimmter Unterlagen aus der Akte der Kommission, ergriffen werden, um einer etwaigen Verletzung der Verteidigungsrechte von Alcogroup und Alcodis abzuhelfen. Ebenso wenig kann im gegenwärtigen Stadium des Verfahrens ausgeschlossen werden, dass die Kommission beschließt, aus ihren Untersuchungen AT.40054 und AT.40244 hinsichtlich Alcogroup und Alcodis keinerlei Konsequenzen zu ziehen.
28 Unter diesen Umständen kann das Vorbringen von Alcogroup und Alcodis, der Präsident des Gerichts habe hinsichtlich der Notwendigkeit des Erlasses der beantragten einstweiligen Anordnungen für die Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des zu erlassenden Urteils einen Rechtsfehler begangen, nicht durchgreifen. Folglich ist der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen.
29 Mit dem dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes machen Alcogroup und Alcodis geltend, die vom Präsidenten des Gerichts vorgenommene übermäßig strenge Auslegung der Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz beeinträchtigten den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Ein solcher Schutz hätte unter den Umständen des vorliegenden Falles allein dadurch gewährleistet werden können, dass die Aussetzung der Untersuchungshandlungen angeordnet worden wäre, die die Kommission im Anschluss an die rechtswidrige Nachprüfung habe vornehmen können und noch immer vornehmen könne, da ein etwaiges künftiges, ihrer Klage im Verfahren zur Hauptsache stattgebendes Urteil nicht rückwirkend den Schaden beseitigen könne, der sich aus solchen Untersuchungshandlungen ergeben habe. Daher habe der Präsident des Gerichts einen Rechtsfehler begangen, als er ihren zweiten Antrag als unzulässig zurückgewiesen habe.
30 Wie in den Rn. 24 bis 28 des vorliegenden Beschlusses entschieden worden ist, haben Alcogroup und Alcodis jedoch weder nachgewiesen, dass ihnen durch das Ausbleiben der mit ihrem im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrag beantragten einstweiligen Anordnungen ein Schaden entstanden sei, der rückwirkend nicht beseitigt werden könne, noch, dass der Erlass dieser Anordnungen notwendig gewesen wäre, um die volle Wirksamkeit des zu erlassenden Urteils zu gewährleisten. Daher reicht ihr Vorbringen nicht zum Nachweis dessen aus, dass der Präsident des Gerichts den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verletzt hat, indem er den Erlass solcher Anordnungen im vorliegenden Fall nicht für notwendig erachtete.
31 Demnach kann der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes nicht durchgreifen.
32 Der erste Rechtsmittelgrund ist deshalb insgesamt zurückzuweisen.
Zweiter Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Antrags auf Aussetzung des Vollzugs des ersten streitigen Beschlusses
33 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund beanstanden Alcogroup und Alcodis, dass der Präsident des Gerichts davon ausgegangen sei, dass der erste streitige Beschluss mit der Durchführung der Nachprüfung vom 24. bis 27. März 2015 bereits vollständig vollzogen worden sei und somit der von ihnen geltend gemachte Schaden zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz bereits eingetreten gewesen sei. Die schädigende Wirkung dieses Beschlusses habe nicht damit geendet, dass die Inspektoren der Kommission die Räumlichkeiten der Rechtsmittelführerinnen verlassen hätten, da der Beschluss der Kommission das Recht verliehen habe, die im Zuge der Nachprüfung beschlagnahmten Unterlagen aufzubewahren und zu analysieren, und die Kommission somit die Möglichkeit gehabt habe, für ihre Analyse Informationen zu berücksichtigen, die sie durch die rechtswidrige Einsichtnahme in die der Verteidigung von Alcogroup und Alcodis dienenden Unterlagen erlangt habe.
34 Hierzu genügt die Feststellung, dass der Schaden, den Alcogroup und Alcodis geltend machten, um beim Präsidenten des Gerichts die Aussetzung des Vollzugs des ersten streitigen Beschlusses zu beantragen, daraus resultiert, dass die Kommission im Rahmen der Nachprüfung vom 24. bis 27. März 2015 in der Verteidigung von Alcogroup und Alcodis dienende Unterlagen Einsicht genommen hat. Wie der Präsident des Gerichts in den Rn. 16 und 17 des angefochtenen Beschlusses zutreffend festgestellt hat, ist dieser Schaden aber in dem Moment eingetreten, in dem dieser Beschluss vollzogen wurde, d. h. im Zuge der Nachprüfung.
35 Zwar könnte Alcogroup und Alcodis dadurch ein zusätzlicher Schaden entstehen, dass bei der Nachprüfung vom 24. bis 27. März 2015 beschlagnahmte, im Licht rechtswidrig erlangter Informationen gelesene Unterlagen später eventuell dazu verwendet werden, um eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln festzustellen. Doch würde, selbst wenn der Präsident des Gerichts die Aussetzung des Vollzugs des ersten streitigen Beschlusses, der bereits mit der Durchführung der Nachprüfung vollzogen war, angeordnet hätte, diese Aussetzung die Entstehung dieses neuen Schadens nicht verhindern, da die Aussetzung des Vollzugs weder darauf gerichtet wäre noch bewirkte, der Kommission die Analyse der bereits beschlagnahmten Unterlagen zu untersagen.
36 Daraus folgt, dass der zweite Rechtsmittelgrund zurückzuweisen ist.
Dritter Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Antrags auf Aussetzung des Vollzugs des zweiten streitigen Beschlusses
37 Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund machen Alcogroup und Alcodis geltend, dass der angefochtene Beschluss insofern mit einem Rechtsfehler behaftet sei, als der Präsident des Gerichts davon ausgegangen sei, dass die Vollstreckung des zweiten streitigen Beschlusses nicht ausgesetzt werden könne, da es sich um eine ablehnende Entscheidung handle. Nach Ansicht von Alcogroup und Alcodis war eine solche Aussetzung notwendig, um den Erlass der anderen beantragten einstweiligen Anordnungen, insbesondere die mit ihrem im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrag angesprochene Aussetzung aller Untersuchungshandlungen im Rahmen der Verfahren AT.40054 und AT.40244, zu ermöglichen.
38 Festzustellen ist, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gegen eine ablehnende Entscheidung wie den zweiten streitigen Beschluss ein Antrag auf Aussetzung des Vollzugs grundsätzlich nicht gegeben ist, weil die Anordnung einer Aussetzung keine Änderung der Lage des Antragstellers herbeiführen könnte (Beschlüsse des Präsidenten der Zweiten Kammer des Gerichtshofs, S./Kommission, 206/89 R, EU:C:1989:333, Rn. 14, und des Präsidenten des Gerichtshofs, Moccia Irme/Kommission, C‑89/97 P[R], EU:C:1997:226, Rn. 45). Der Antrag auf Aussetzung des Vollzugs des zweiten streitigen Beschlusses musste daher als unzulässig zurückgewiesen werden, wie es der Präsident des Gerichts in den Rn. 18 und 19 des angefochtenen Beschlusses getan hat. Etwas anderes könnte nur in dem Fall gelten, in dem die Anordnung einer solchen Aussetzung für den Erlass einer oder mehrerer der übrigen beantragten einstweiligen Anordnungen notwendig sein könnte, falls der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter sie für zulässig und begründet gehalten hätte.
39 Da die Kommission mit dem zweiten streitigen Beschluss einen von Alcogroup und Alcodis im Verwaltungsweg gestellten Antrag abgelehnt hatte, der im Wesentlichen auf Erlass derselben einstweiligen Anordnungen wie jener gerichtet war, die diese Gesellschaften anschließend mit ihrem im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrag beantragten, hätte in Bezug auf diesen Antrag eine solche Notwendigkeit bestehen können, wenn dieser für zulässig und begründet gehalten worden wäre. Es genügt aber festzustellen, dass das gesamte Vorbringen von Alcogroup und Alcodis gegen die Zurückweisung des im ersten Rechtszug gestellten zweiten Antrags als unzulässig im angefochtenen Beschluss in den Rn. 19 bis 32 des vorliegenden Beschlusses ebenfalls zurückgewiesen worden ist.
40 Daher hat der Präsident des Gerichts im angefochtenen Beschluss den Antrag auf Aussetzung des Vollzugs des zweiten streitigen Beschlusses zu Recht als unzulässig zurückgewiesen. Daraus folgt, dass der dritte Rechtsmittelgrund keinen Erfolg haben kann.
41 Somit ist das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen, ohne dass das Vorbringen von Alcogroup und Alcodis zu den Gründen geprüft zu werden braucht, aus denen ihrer Meinung nach der Erlass der von ihnen beim Gericht beantragten einstweiligen Anordnungen angezeigt ist.
Kosten
42 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung von Alcogroup und Alcodis beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen die im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens angefallenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Vizepräsident des Gerichtshofs beschlossen:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Alcogroup SA und die Alcodis SA tragen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 17. September 2015.#C. van der Lans gegen Koninklijke Luchtvaart Maatschappij NV.#Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Fluggastrechte bei Verspätung oder Annullierung von Flügen – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Nichtbeförderung und Annullierung eines Fluges – Große Verspätung eines Fluges – Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste – Außergewöhnliche Umstände.#Rechtssache C-257/14.
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62014CJ0257
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ECLI:EU:C:2015:618
| 2015-09-17T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0257
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
17. September 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Luftverkehr — Fluggastrechte bei Verspätung oder Annullierung von Flügen — Verordnung (EG) Nr. 261/2004 — Art. 5 Abs. 3 — Nichtbeförderung und Annullierung eines Fluges — Große Verspätung eines Fluges — Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste — Außergewöhnliche Umstände“
In der Rechtssache C‑257/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Niederlande) mit Entscheidung vom 29. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Mai 2014, in dem Verfahren
Corina van der Lans
gegen
Koninklijke Luchtvaart Maatschappij NV
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter J. Malenovský (Berichterstatter) und M. Safjan,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Mai 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Koninklijke Luchtvaart Maatschappij NV, vertreten durch P. Eijsvoogel, P. Huizing, R. Pessers und M. Lustenhouwer, advocaten,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas, R. Coesme und M. Hours als Bevollmächtigte,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Colelli, avvocato dello Stato,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von J. Holmes, Barrister,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Wilman und N. Yerrell als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau van der Lans und der Fluggesellschaft Koninklijke Luchtvaart Maatschappij NV (im Folgenden: KLM) über deren Weigerung, der Klägerin des Ausgangsverfahrens, deren Flug verspätet war, einen Ausgleich zu leisten.
Rechtlicher Rahmen
3 Die Verordnung Nr. 261/2004 enthält u. a. folgende Erwägungsgründe:
„(1)
Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.
…
(14) Wie nach dem Übereinkommen von Montreal sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.
(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“
4 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Diese Verordnung gilt
…
b)
sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, antreten, es sei denn, sie haben in diesem Drittstaat Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.“
5 In Art. 5 dieser Verordnung heißt es:
„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen
…
c)
vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …
…
(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
…“
6 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) dieser Verordnung lautet:
„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
a)
250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,
b)
400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km,
c)
600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.
Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.
(2) Wird Fluggästen gemäß Artikel 8 eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten, dessen Ankunftszeit
a)
bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger nicht später als zwei Stunden oder
b)
bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 und 3500 km nicht später als drei Stunden oder
c)
bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen nicht später als vier Stunden
nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 um 50 % kürzen.
(3) Die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 erfolgen durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen.
(4) Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Entfernungen werden nach der Methode der Großkreisentfernung ermittelt.“
7 Art. 13 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:
„In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Frau van der Lans hatte ein Flugticket für einen von KLM durchgeführten Flug gebucht. Dieser Flug nach Amsterdam (Niederlande) sollte am 13. August 2009 um 9.15 Uhr Ortszeit von Quito (Ecuador) abfliegen. Jedoch fand der Abflug erst am darauffolgenden Tag um 19.30 Uhr Ortszeit statt. Das für diesen Flug benutzte Flugzeug landete in Amsterdam mit einer Verspätung von 29 Stunden.
9 Nach Angaben von KLM beruht diese Verspätung darauf, dass sich am Flughafen Guayaquil (Ecuador), von dem dieses Flugzeug hätte starten sollen, um über Quito und Bonaire (Niederländische Antillen) Amsterdam zu erreichen, während des „push back“-Vorgangs, der darin besteht, das Flugzeug am Boden mit Hilfe eines Fahrzeugs nach hinten zu schieben, eines der Triebwerke des Flugzeugs wegen mangelnder Kraftstoffzufuhr nicht starten ließ.
10 Aus dem Technischen Bordbuch gehe hervor, dass eine Kombination von Mängeln aufgetreten sei. Zwei Teile seien defekt gewesen, nämlich die Kraftstoffpumpe und die hydromechanische Einheit. Diese Teile, die in Guayaquil nicht verfügbar gewesen seien, hätten per Flugzeug aus Amsterdam geliefert werden müssen, um sodann in das betreffende Flugzeug eingebaut zu werden, das mit der in Rn. 8 des vorliegenden Urteils genannten Verspätung in Quito startete.
11 Die betreffenden Teile seien nicht näher auf die Ursache ihres Versagens hin untersucht worden, da eine solche Untersuchung nur von ihrem Hersteller durchgeführt werden könne.
12 Frau van der Lans erhob bei der Rechtbank Amsterdam Klage auf Zuerkennung einer Ausgleichszahlung von 600 Euro wegen dieser Verspätung.
13 KLM tritt diesem Klageantrag entgegen und beruft sich auf die Ausnahmeregelung, die in Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 für „außergewöhnliche Umstände …, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären“, vorgesehen ist.
14 Bei den defekten Teilen sei die durchschnittliche Lebensdauer nicht überschritten gewesen. Auch habe deren Hersteller keinen spezifischen Hinweis gegeben, der darauf hindeutete, dass bei diesen Teilen ab einem bestimmten Alter Mängel auftreten könnten. Die betreffenden Teile seien nicht vor dem Start beim allgemeinen Check vor dem Abflug (Pre-flight-Check) kontrolliert worden, sondern beim letzten A-Check, der etwa einen Monat vor dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Flug durchgeführt worden sei.
15 Frau van der Lans ist der Ansicht, dass sich KLM im vorliegenden Fall nicht auf außergewöhnliche Umstände berufen könne. Die Verspätung dieses Fluges sei nämlich durch ein technisches Problem verursacht worden. Der Gerichtshof habe jedoch im Urteil Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) festgestellt, dass die Behebung technischer Mängel Teil der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sei und nicht als außergewöhnliche Umstände eingestuft werden könne.
16 Der Ausgangsrechtsstreit betrifft die Frage, ob die Ausnahmeregelung des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden von KLM geltend gemacht werden kann.
17 In diesem Zusammenhang ersucht das vorlegende Gericht um Erläuterung, wie die in dieser Bestimmung enthaltenen Begriffe „außergewöhnliche Umstände“ und „alle zumutbaren Maßnahmen“ auszulegen sind, insbesondere wenn hierbei der 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs, namentlich das Urteil Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771), berücksichtigt werden.
18 Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Wie ist der Begriff „Vorkommnis“ im 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 auszulegen?
2. Außergewöhnliche Umstände im Sinne des 14. Erwägungsgrundes fallen in Anbetracht von Rn. 22 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) nicht mit den als Beispiel angeführten Vorfällen der Aufzählung in Satz 2 des 14. Erwägungsgrundes zusammen, die vom Gerichtshof in dieser Rn. 22 als „Vorkommnisse“ angeführt werden. Trifft es zu, dass die Vorkommnisse im Sinne dieser Rn. 22 nicht die gleichen sind wie das „Vorkommnis“ im 14. Erwägungsgrund der Verordnung?
3. Woran ist beim Begriff „außergewöhnliche Umstände“ zu denken, die nach Rn. 23 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) mit dem Vorkommnis „unerwartete Flugsicherheitsmängel“ im Sinne des vorerwähnten 14. Erwägungsgrundes einhergehen, wenn unerwartete Flugsicherheitsmängel in Anbetracht von Rn. 22 dieses Urteils keine außergewöhnlichen Umstände darstellen können, sondern lediglich zu solchen Umständen führen können?
4. Nach Rn. 23 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) kann ein technisches Problem zu den „unerwarteten Flugsicherheitsmängeln“ gezählt werden und ist damit ein „Vorkommnis“ im Sinne von Rn. 22 dieses Urteils. Die Umstände im Zusammenhang mit diesem Vorkommnis können nach Rn. 23 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) nichtsdestoweniger als „außergewöhnlich“ qualifiziert werden, wenn sie ein Vorkommnis betreffen, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist und aufgrund seiner Natur oder Ursache von diesem tatsächlich nicht zu beherrschen war. Nach Rn. 24 ist die Behebung eines technischen Problems, das auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen ist, Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens. Daher können solche technischen Probleme nach Rn. 25 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) keine außergewöhnlichen Umstände darstellen. Aus diesen Erwägungen scheint sich zu ergeben, dass ein technisches Problem, das zu den „unerwarteten Flugsicherheitsmängeln“ gehört, gleichzeitig ein Vorkommnis darstellt, das mit außergewöhnlichen Umständen einhergehen und selbst einen außergewöhnlichen Umstand darstellen kann. Wie sind die Rn. 22 bis 25 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) auszulegen, damit dieser scheinbare Widerspruch beseitigt wird?
5. Die Wendung „Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens“ wird in der untergerichtlichen Rechtsprechung regelmäßig als „mit der normalen Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens zusammenhängend“ ausgelegt – wobei es sich im Übrigen um eine Auslegung handelt, die mit dem niederländischen Wort „inherent“ („Teil der“) (nicht authentische Fassung des Urteils) vereinbar ist –, so dass beispielsweise auch Zusammenstöße mit Vögeln oder Aschewolken nicht als „Vorkommnisse“ im Sinne von Rn. 23 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) betrachtet werden. Eine andere Rechtsprechung hebt die ebenfalls in Rn. 23 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) enthaltene Wendung „und aufgrund [der] Natur oder Ursache [des Vorkommnisses] von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen [war]“ hervor. Ist der Ausdruck „Teil der“ dahin auszulegen, dass nur vom Luftfahrtunternehmen tatsächlich zu beherrschende Vorkommnisse unter diesen Begriff fallen?
6. In welchem Sinne ist Rn. 26 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) auszulegen, bzw. wie ist diese Randnummer im Licht der Antwort des Gerichtshofs auf die vierte und fünfte Frage auszulegen?
7. a)
Sofern die sechste Frage in dem Sinne beantwortet wird, dass zu den unerwarteten Flugsicherheitsmängeln zu zählende technische Probleme außergewöhnliche Umstände darstellen, die dazu führen können, dass eine Berufung auf Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 Erfolg hat, wenn sich diese Probleme aus einem Vorkommnis ergeben, das nicht Teil der Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist, und von diesem tatsächlich nicht zu beherrschen sind: Bedeutet dies dann, dass ein technisches Problem, das spontan auftrat und weder auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen noch während einer regulären Wartung („Checks A bis D“ und „tägliche Kontrolle“) festgestellt worden ist, einen außergewöhnlichen Umstand darstellen oder gerade nicht darstellen kann – sofern es sich während dieser regulären Wartungsintervalle nicht feststellen ließ –, weil dann nämlich kein Vorkommnis im Sinne von Rn. 26 dieses Urteils ausgemacht werden kann und sich daher auch nicht feststellen lässt, ob dieses Vorkommnis Teil der Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist und also von diesem nicht zu beherrschen ist?
b)
Sofern die sechste Frage in dem Sinne beantwortet wird, dass zu den unerwarteten Flugsicherheitsmängeln zu zählende technische Probleme Vorkommnisse im Sinne von Rn. 22 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) sind, und das technische Problem spontan auftrat und weder auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen noch während einer regulären Wartung („Checks A bis D“ und „tägliche Kontrolle“) festgestellt worden ist: Ist dieses technische Problem dann (nicht) Teil der Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und im Sinne von Rn. 26 dieses Urteils von dem Unternehmen zu beherrschen oder gerade nicht zu beherrschen?
c)
Sofern die sechste Frage in dem Sinne beantwortet wird, dass zu den unerwarteten Flugsicherheitsmängeln zu zählende technische Probleme Vorkommnisse im Sinne von Rn. 22 des Urteils Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771) sind, und das technische Problem spontan auftrat und weder auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen noch während einer regulären Wartung („Checks A bis D“ und „tägliche Kontrolle“) festgestellt worden ist: Welche Umstände müssen dann mit diesem technischen Problem einhergehen, und wann sind diese Umstände als außergewöhnlich zu qualifizieren, so dass sie im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 geltend gemacht werden können?
8. Ein Luftfahrtunternehmen kann sich nur dann auf außergewöhnliche Umstände berufen, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung oder Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Ist die Schlussfolgerung zutreffend, dass mit dem Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen die Vermeidung des Auftretens außergewöhnlicher Umstände gemeint ist und nicht das Ergreifen von Maßnahmen, die darauf abzielen, die Verspätung innerhalb der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit den Rn. 57 bis 61 des Urteils Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716) genannten Zeitspanne von drei Stunden zu halten?
9. Grundsätzlich sind zwei Arten von Maßnahmen in Betracht zu ziehen, um Verspätungen infolge technischer Probleme auf höchstens drei Stunden zu begrenzen: einerseits das Vorhalten eines Ersatzteillagerbestands an mehreren Orten in der Welt, also nicht nur am Heimatflughafen des Luftfahrtunternehmens, und andererseits die Umbuchung der Fluggäste des verspäteten Fluges. Dürfen Luftfahrtunternehmen bei der Frage, in welchem Umfang sie den Lagerbestand vorhalten und an welchen Orten in der Welt sie dies tun, auf das abstellen, was in der Luftfahrtwelt üblich ist, auch bei den Unternehmen, die nur teilweise unter die Verordnung Nr. 261/2004 fallen?
10. Hat das Gericht bei der Beantwortung der Frage, ob alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden sind, um die Verspätung zu begrenzen, die infolge technischer Probleme eingetreten ist, die sich auf die Flugsicherheit auswirken, Umstände zu berücksichtigen, die die Auswirkungen einer Verspätung vergrößern, wie den Umstand, dass das von den technischen Problemen betroffene Flugzeug, bevor es zu seiner Heimatbasis zurückkehrt, mehrere Flughäfen anfliegen muss, wodurch noch mehr Zeit verloren gehen kann?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
19 Die französische Regierung bezweifelt die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung, dass die Verordnung Nr. 261/2004 nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. b auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar sei, weil das ecuadorianische Recht bereits eine Regelung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für von einer Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung eines Fluges betroffene Fluggäste vorsehe, die Frau van der Lans in Anspruch nehmen könne.
20 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur dann abgelehnt werden, wenn die Vorschrift des Unionsrechts, um deren Auslegung der Gerichtshof ersucht wird, offensichtlich nicht angewandt werden kann (Urteil Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid, C‑484/08, EU:C:2010:309, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Insoweit ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004, dass diese für Fluggäste gilt, die von einem Drittstaat in einen Mitgliedstaat reisen, vorausgesetzt das ausführende Luftfahrtunternehmen, das den Flug durchführt, ist ein Luftfahrtunternehmen der Europäischen Union und die betreffenden Fluggäste haben in diesem Drittstaat keine Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.
22 Hinsichtlich der ersten Voraussetzung ist unstreitig, dass KLM ein Luftfahrtunternehmen der Union ist.
23 Bezüglich der zweiten Voraussetzung ist festzustellen, dass zwischen den verschiedenen Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 eine Abweichung besteht. Bestimmte Fassungen, insbesondere in tschechischer, deutscher, englischer, italienischer und niederländischer Sprache verwenden nämlich die Worte „obdrželi“, „erhalten haben“, „received“, „ricevuto“ bzw. „ontvangen“. Sie könnten daher dahin verstanden werden, dass sie die Anwendung dieser Verordnung nur dann ausschließen, wenn die betreffenden Fluggäste tatsächlich Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen in diesem Drittstaat erhalten haben.
24 Hingegen legen andere Sprachfassungen, wie insbesondere in spanischer („disfruten de“), französischer („bénéficient“) und rumänischer („beneficiat de“) Sprache eher nahe, dass die Anwendung der Verordnung Nr. 261/2004 von vornherein ausscheidet, wenn die betreffenden Fluggäste einen Anspruch auf Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen in diesem Drittstaat haben, unabhängig davon, ob sie diese Leistungen tatsächlich erhalten haben.
25 Da eine Vorschrift des Unionsrechts aber einheitlich ausgelegt werden muss, ist die betreffende Vorschrift bei Abweichungen zwischen ihren Sprachfassungen nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung auszulegen, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile DR und TV2 Danmark, C‑510/10, EU:C:2012:244, Rn. 45, sowie Bark, C‑89/12, EU:C:2013:276, Rn. 40).
26 In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis, dass die Verordnung Nr. 261/2004, wie sich klar aus ihren Erwägungsgründen 1 und 2 ergibt, darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen (vgl. Urteile IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 69, sowie Emirates Airlines, C‑173/07, EU:C:2008:400, Rn. 35).
27 Zwar verpflichtet Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 in der Zusammenschau mit diesem Ziel nicht zum Nachweis, dass der betreffende Fluggast tatsächlich Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen in einem Drittstaat erhalten hat, jedoch kann die bloße Möglichkeit, diese zu erhalten, für sich genommen nicht rechtfertigen, dass die Verordnung für diesen Fluggast nicht gilt.
28 Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass ein Fluggast den durch die Verordnung Nr. 261/2004 gewährten Schutz schon dann verlieren kann, wenn er eine bestimmte Ausgleichsleistung in einem Drittstaat erhalten kann, ohne dass festgestellt wurde, dass diese dem Zweck der durch die Verordnung garantierten Ausgleichsleistung entspricht und dass die Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme sowie die verschiedenen Modalitäten ihrer Durchführung denen der Verordnung gleichkommen.
29 Aufgrund der dem Gerichtshof vorliegenden Akten kann weder festgestellt werden, ob der Zweck der im Recht des betreffenden Drittstaats vorgesehenen Ausgleichsleistungen dem Zweck der von der Verordnung Nr. 261/2004 garantierten Ausgleichsleistung entspricht, noch, ob die Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme sowie die verschiedenen Modalitäten ihrer Durchführung denen der Verordnung gleichkommen. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
30 Unter diesen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass die Vorschrift, um deren Auslegung ersucht wird, im vorliegenden Fall Anwendung findet.
31 Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.
Zur Begründetheit
32 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. u. a. Urteil Le Rayon d’Or, C‑151/13, EU:C:2014:185, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 In Anbetracht dieser Rechtsprechung sind die zehn vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen sinngemäß dahin zu verstehen, dass mit ihnen Aufschluss darüber begehrt wird, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein technisches Problem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das unerwartet auftrat, das nicht auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen und auch nicht während einer regulären Wartung festgestellt worden ist, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Vorschrift fällt, und, falls ja, welche zumutbaren Maßnahmen zu deren Bewältigung vom Luftfahrtunternehmen zu ergreifen sind.
34 In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet ist, Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
35 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass dieser Art. 5 Abs. 3, da er eine Ausnahme dazu darstellt, dass Fluggäste grundsätzlich Anspruch auf Ausgleichsleistungen haben, eng auszulegen ist (Urteil Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 20).
36 Was schließlich insbesondere technische Probleme eines Flugzeugs betrifft, so geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass solche Probleme zu den unerwarteten Flugsicherheitsmängeln gezählt werden können und zu diesen Umständen gehören können. Die Umstände im Zusammenhang mit dem Auftreten dieser Probleme können jedoch nur dann als „außergewöhnlich“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 qualifiziert werden, wenn sie ein Vorkommnis betreffen, das wie die im 14. Erwägungsgrund dieser Verordnung aufgezählten nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens ist und aufgrund seiner Natur oder Ursache von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 23).
37 Da jedoch der Betrieb von Flugzeugen unausweichlich technische Probleme mit sich bringt, sehen sich Luftfahrtunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeit gewöhnlich solchen Problemen gegenüber. Im Hinblick hierauf können technische Probleme, die sich bei der Wartung von Flugzeugen zeigen oder infolge einer unterbliebenen Wartung auftreten, als solche keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 24 und 25).
38 Dennoch können bestimmte technische Probleme zu diesen außergewöhnlichen Umständen zählen. So verhielte es sich u. a. dann, wenn der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde entdeckte, dass diese bereits in Betrieb genommenen Maschinen einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt. Gleiches würde bei durch Sabotageakte oder terroristische Handlungen verursachten Schäden an den Flugzeugen gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 26).
39 Im vorliegenden Fall führt KLM aus, dass – was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist – das fragliche technische Problem im Ausgangsverfahren aus dem Ausfall eines Triebwerks der betreffenden Maschine bestehe, der darauf zurückzuführen sei, dass bestimmte Teile der Maschine defekt gewesen seien, die ihre durchschnittliche Lebensdauer nicht überschritten gehabt hätten und für die der Hersteller keinen Hinweis darauf gegeben habe, dass bei ihnen ab einem bestimmten Alter Mängel auftreten könnten.
40 In diesem Zusammenhang ist zunächst, wie aus der vorstehenden Randnummer hervorgeht, ersichtlich, dass dieses Problem lediglich ein bestimmtes Flugzeug betrifft. Auch ist aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht ersichtlich, dass der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde entdeckt hätten, dass nicht nur dieses bestimmte Flugzeug, sondern auch andere Flugzeuge dieser Flotte mit einem versteckten Fabrikationsfehler behaftet seien, der die Flugsicherheit beeinträchtige, was jedenfalls vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. Wenn dem so wäre, könnte die in Rn. 38 des vorliegenden Urteils genannte Rechtsprechung nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden.
41 Sodann ist zum einen festzustellen, dass ein Ausfall wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, der durch das vorzeitige Auftreten von Mängeln an bestimmten Teilen eines Flugzeugs hervorgerufen wurde, zwar ein unerwartetes Vorkommnis darstellt. Dennoch bleibt ein solcher Ausfall untrennbar mit dem sehr komplexen System zum Betrieb des Flugzeugs verbunden, das vom Luftfahrtunternehmen oft unter schwierigen oder gar extremen Bedingungen, insbesondere Wetterbedingungen, betrieben wird, wobei kein Teil eines Flugzeugs eine unbegrenzte Lebensdauer hat.
42 Daher ist davon auszugehen, dass dieses unerwartete Vorkommnis im Rahmen der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens Teil der normalen Ausübung seiner Tätigkeit ist und sich das Luftfahrtunternehmen dieser Art von unvorhergesehenen technischen Problemen gewöhnlich gegenübersieht.
43 Zum anderen ist die Vorbeugung eines solchen Ausfalls oder der dadurch hervorgerufenen Reparatur, einschließlich des Austauschs eines vorzeitig defekten Teils, vom betroffenen Luftfahrtunternehmen zu beherrschen, da es seine Aufgabe ist, die Wartung und den reibungslosen Betrieb der Flugzeuge, die es zum Zweck seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten betreibt, sicherzustellen.
44 Infolgedessen kann ein technisches Problem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 fallen.
45 Schließlich ist außerdem klarzustellen, dass, selbst wenn ein Luftfahrtunternehmen je nach den Umständen der Ansicht ist, sich auf ein Fehlverhalten des Herstellers bestimmter defekter Teile berufen zu können, der Hauptzweck der Verordnung Nr. 261/2004, der darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, sowie die gebotene enge Auslegung von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung es ausschließen, dass das Luftfahrtunternehmen seine eventuelle Verweigerung von Ausgleichsleistungen für die Fluggäste, denen große Unannehmlichkeiten entstanden sind, unter Berufung auf das Vorliegen eines „außergewöhnlichen Umstands“ rechtfertigen könnte.
46 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Verpflichtungen gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 unbeschadet des Rechts des Luftfahrtunternehmens zu erfüllen sind, bei anderen Schadensverursachern, auch Dritten, Regress zu nehmen, wie es Art. 13 der Verordnung vorsieht. Ein solcher Regress kann daher die finanzielle Belastung dieses Beförderungsunternehmens aus diesen Verpflichtungen mildern oder sogar beseitigen (Urteil Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass Art. 13 der Verordnung Nr. 261/2004 gegenüber einem Hersteller, dem ein Fehlverhalten anzulasten ist, geltend gemacht und angewendet werden kann, um die finanzielle Belastung eines Luftfahrtunternehmens aufgrund seiner Verpflichtungen aus der Verordnung zu mildern oder sogar zu beseitigen.
48 Da ein technisches Problem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fällt, ist nicht aufgrund von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 über die zumutbaren Maßnahmen zu befinden, die das Luftfahrtunternehmen hätte ergreifen müssen, um diese Umstände zu bewältigen.
49 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein technisches Problem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das unerwartet auftrat, das nicht auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen und auch nicht während einer regulären Wartung festgestellt worden ist, nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.
Kosten
50 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass ein technisches Problem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das unerwartet auftrat, das nicht auf eine fehlerhafte Wartung zurückzuführen und auch nicht während einer regulären Wartung festgestellt worden ist, nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 9. September 2015.#Ana Pérez Gutiérrez gegen Europäische Kommission.#Außervertragliche Haftung – Öffentliche Gesundheit – Richtlinie 2001/37/EG – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Von der Kommission als gesundheitsbezogene Warnhinweise auf Verpackungen von Tabakerzeugnissen vorgeschlagene Farbfotografien – Entscheidung 2003/641/EG – Unbefugte Verwendung des Bildnisses einer verstorbenen Person – Persönlicher Schaden der Witwe der verstorbenen Person.#Rechtssache T-168/14.
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62014TJ0168
|
ECLI:EU:T:2015:607
| 2015-09-09T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TJ0168 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 10. September 2015.#Hellenische Republik gegen Europäische Kommission.#EAGFL – Abteilung Garantie – EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums – Landwirtschaftliche Umwelt – Zweckmäßigkeit der Kontrollen – Pauschale finanzielle Berichtigungen.#Rechtssache T-346/13.
|
62013TJ0346
|
ECLI:EU:T:2015:630
| 2015-09-10T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0346 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 15. September 2015. # Ungarn gegen Europäische Kommission. # Rechtssache T-346/12.
|
62012TJ0346
|
ECLI:EU:T:2015:638
| 2015-09-15T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
15. September 2015 (*1)
„Landwirtschaft — Gemeinsame Marktorganisation — Sektor Obst und Gemüse — Einzelstaatliche finanzielle Beihilfe für Erzeugerorganisationen — Durchführungsbeschluss der Kommission über die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe, die Ungarn seinen Erzeugerorganisationen gewährt hat, durch die Union — Art. 103e der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 — Art. 97 der Verordnung (EG) Nr. 1580/2007“
In der Rechtssache T‑346/12
Ungarn, vertreten zunächst durch M. Fehér und K. Szíjjártó, dann durch M. Fehér als Bevollmächtigte,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch B. Béres, N. Donnelly und B. Schima als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses C (2012) 3324 final der Kommission vom 25. Mai 2012 über die den Erzeugerorganisationen gewährte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise (Berichterstatter),
Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. November 2014
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
Verordnung über die einheitliche GMO
1 Die Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates vom 22. Oktober 2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABl. L 299, S. 1) legt die allgemeinen Grundsätze für die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe sowohl hinsichtlich ihrer Gewährung als auch ihrer Erstattung durch die Europäische Kommission fest.
2 Art. 103b der Verordnung über die einheitliche GMO ermächtigt die Erzeugerorganisationen, Betriebsfonds einzurichten:
„(1) Die Erzeugerorganisationen im Sektor Obst und Gemüse können einen Betriebsfonds einrichten. Diese Fonds werden wie folgt finanziert:
a)
Finanzbeiträge der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation selbst,
b)
finanzielle Beihilfe der [Europäischen Union], die Erzeugerorganisationen gewährt werden kann.
…“
3 Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO regelt die „finanzielle Beihilfe der [Union]“ und bestimmt:
„(1) Die finanzielle Beihilfe der Gemeinschaft ist gleich der Höhe der tatsächlich entrichteten Finanzbeiträge gemäß Artikel 103b Absatz 1 Buchstabe a, beträgt aber höchstens 50 % des Betrages der tatsächlichen Ausgaben.
(2) Für die finanzielle Beihilfe der Gemeinschaft gilt jedoch eine Obergrenze von 4,1 % des Werts der vermarkteten Erzeugung jeder Erzeugerorganisation.
Dieser Prozentsatz kann jedoch auf 4,6 % des Werts der vermarkteten Erzeugung erhöht werden, sofern der den Satz von 4,1 % des Werts der vermarkteten Erzeugung übersteigende Betrag ausschließlich für Krisenpräventions- und ‑managementmaßnahmen verwendet wird.
…“
4 Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO regelt die „einzelstaatliche finanzielle Beihilfe“, die allein Gegenstand des Rechtsstreits ist.
5 Vor seiner Änderung durch Art. 4 Nr. 29 der Verordnung (EG) Nr. 72/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 zur Anpassung der gemeinsamen Agrarpolitik durch Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 247/2006, (EG) Nr. 320/2006, (EG) Nr. 1405/2006, (EG) Nr. 1234/2007, (EG) Nr. 3/2008 und (EG) Nr. 479/2008 und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1883/78, (EWG) Nr. 1254/89, (EWG) Nr. 2247/89, (EWG) Nr. 2055/93, (EG) Nr. 1868/94, (EG) Nr. 2596/97, (EG) Nr. 1182/2005 und (EG) Nr. 315/2007 (ABl. L 30, S. 1) sah Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO in der durch die Verordnung (EG) Nr. 361/2008 des Rates vom 14. April 2008 (ABl. L 121, S. 1) geänderten Fassung vor:
„(1) In Regionen der Mitgliedstaaten, in denen der Organisationsgrad der Erzeuger im Sektor Obst und Gemüse besonders niedrig ist, können die Mitgliedstaaten auf hinreichend begründeten Antrag von der Kommission ermächtigt werden, den Erzeugerorganisationen eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe zu zahlen, die höchstens 80 % der Finanzbeiträge gemäß Artikel 103b Absatz 1 Buchstabe a entspricht. Diese Beihilfe kommt zum Betriebsfonds hinzu. In Regionen von Mitgliedstaaten, in denen weniger als 15 % des Werts der Obst- und Gemüseproduktion von Erzeugerorganisationen vermarktet wird und deren Obst- und Gemüseproduktion mindestens 15 % der gesamten landwirtschaftlichen Produktion ausmacht, kann die Beihilfe im Sinne des Unterabsatzes 1 von der Gemeinschaft auf Antrag des betreffenden Mitgliedstaats erstattet werden.
(2) Abweichend von Artikel 180 dieser Verordnung finden die Artikel 87, 88 und 89 des Vertrags keine Anwendung auf die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, wenn sie gemäß Absatz 1 erlaubt wird.“
6 In der Verordnung Nr. 72/2009 ist der vorstehende Abs. 2 über die Anwendbarkeit der Art. 87 EG, 88 EG und 89 EG in einen neuen Art. 180 übertragen worden, der folgenden Wortlaut hat:
„Die Artikel 87, 88 und 89 des Vertrags finden Anwendung auf die Herstellung und Vermarktung der Erzeugnisse gemäß Artikel 1 Absatz 1 Buchstaben a bis k und m bis u sowie Absatz 3 dieser Verordnung.
Die Artikel 87, 88 und 89 des Vertrags finden jedoch keine Anwendung auf Zahlungen, die von den Mitgliedstaaten nach den Artikeln 44, 45, 46, 47, 48, 102, 102a, 103, 103a, 103b, 103e, 103ga, 104, 105 und 182 dieser Verordnung entsprechend den Bestimmungen dieser Verordnung getätigt werden.“
7 Der 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 72/2009 rechtfertigt dieses Vorgehen wie folgt:
„Im Interesse der Rechtssicherheit und ‑vereinfachung sind die Bestimmungen über eine Ausnahme von den Artikeln 87, 88 und 89 des Vertrags für Zahlungen der Mitgliedstaaten entsprechend der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 … klarer zu fassen und zu harmonisieren. In diesem Rahmen sollten die Bestimmungen der vorgenannten Verordnungen, die unter bestimmten Umständen unter den Begriff der staatlichen Beihilfen im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 des Vertrags fallen oder fallen könnten, von der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen ausgenommen werden. Die betreffenden Bestimmungen enthalten geeignete Bedingungen für die Beihilfegewährung, mit denen unzulässige Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden.“
8 Art. 103g der Verordnung über die einheitliche GMO enthält die Bestimmungen über die Genehmigung der operationellen Programme:
„(1) Der Entwurf des operationellen Programms wird den zuständigen nationalen Behörden vorgelegt, die es nach Maßgabe dieses Unterabschnitts genehmigen, ablehnen oder seine Änderung veranlassen.
(2) Die Erzeugerorganisationen teilen dem Mitgliedstaat den voraussichtlichen Betrag des Betriebsfonds für jedes Jahr mit und fügen dazu geeignete Nachweise bei, die sich auf die Voranschläge des operationellen Programms stützen; ferner teilen sie die Ausgaben des laufenden Jahres und möglichst auch die Ausgaben der vorausgegangenen Jahre sowie erforderlichenfalls die erwarteten Produktionsmengen des kommenden Jahres mit.
(3) Der Mitgliedstaat teilt den Erzeugerorganisationen oder den Vereinigungen von Erzeugerorganisationen den voraussichtlichen Betrag der finanziellen Beihilfe der Gemeinschaft im Rahmen der in Artikel 103d festgesetzten Grenzen mit.
…“
9 Art. 103h der Verordnung über die einheitliche GMO bestimmt:
„Die Kommission legt die Durchführungsbestimmungen zu diesem Abschnitt und insbesondere Folgendes fest:
…
b)
den Anteil der Erstattung für die in Artikel 103e Absatz 1 genannten Maßnahmen und die diesbezüglichen Vorschriften;
…“
Verordnung Nr. 1580/2007
10 Die Verordnung (EG) Nr. 1580/2007 der Kommission vom 21. Dezember 2007 mit Durchführungsbestimmungen zu den Verordnungen (EG) Nr. 2200/96, (EG) Nr. 2201/96 und (EG) Nr. 1182/2007 des Rates im Sektor Obst und Gemüse (ABl. L 350, S. 1) legt die Durchführungsbestimmungen für die Verordnung über die einheitliche GMO im Sektor Obst und Gemüse fest und sieht insbesondere die Modalitäten der Teilerstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Kommission vor.
11 Art. 56 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Mitteilung der Schätzung der Höhe des Betriebsfonds durch die Erzeugerorganisationen an den betreffenden Mitgliedstaat:
„Die Erzeugerorganisationen teilen den Mitgliedstaaten jährlich bis spätestens 15. September zusammen mit den operationellen Programmen oder den diesbezüglichen Änderungsanträgen die voraussichtliche Höhe der [Unions]beteiligung sowie des Beitrags ihrer Mitglieder und der Erzeugerorganisation selbst zum Betriebsfonds für das folgende Jahr mit.
Die Mitgliedstaaten können für die Mitteilung einen späteren Termin festsetzen.
Die voraussichtliche Höhe des Betriebsfonds berechnet sich auf der Grundlage der operationellen Programme und des Werts der vermarkteten Erzeugung. Die Berechnung wird zwischen den Ausgaben für Krisenprävention und ‑management und den Ausgaben für andere Maßnahmen aufgeschlüsselt.“
12 Art. 64 der Verordnung Nr. 1580/2007 sieht die Vorlage der operationellen Programme vor und bestimmt:
„Die operationellen Programme werden von der Erzeugerorganisation bis spätestens 15. September des Jahres, das dem Jahr ihrer Durchführung vorhergeht, der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dem die Erzeugerorganisation ihren Sitz hat, zur Genehmigung vorgelegt.
Die Mitgliedstaaten können jedoch einen späteren Zeitpunkt festsetzen.“
13 Art. 65 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Genehmigung der operationellen Programme durch die einzelstaatlichen Behörden:
„(1) Die zuständige einzelstaatliche Behörde trifft eine der folgenden Entscheidungen:
a)
sie genehmigt die Fondsbeträge und das Programm, wenn sie die Voraussetzungen der Verordnung (EG) Nr. 1182/2007 und dieses Kapitels erfüllen;
b)
sie genehmigt das Programm, sofern die Erzeugerorganisation bestimmte Änderungen akzeptiert;
c)
sie lehnt das Programm oder Teile des Programms ab.
(2) Die zuständige einzelstaatliche Behörde trifft bis spätestens 15. Dezember des Jahres der Vorlage eine Entscheidung über die Programme und Betriebsfonds.
Die Mitgliedstaaten teilen den Erzeugerorganisationen die Entscheidungen bis spätestens 15. Dezember mit.
In hinreichend begründeten Fällen kann die zuständige einzelstaatliche Behörde jedoch die Entscheidung über die operationellen Programme und die Betriebsfonds bis spätestens 20. Januar nach der Antragstellung treffen. In der Genehmigungsentscheidung kann die Beihilfefähigkeit der Ausgaben ab dem 1. Januar des Jahres nach der Antragsstellung vorgesehen werden.“
14 Art. 1 Nr. 8 der Verordnung (EG) Nr. 1327/2008 der Kommission vom 19. Dezember 2008 zur Änderung der Verordnung Nr. 1580/2007 (ABl. L 345, S. 24) führt jedoch für das Jahr 2009 besondere Bestimmungen ein. Sie lauten wie folgt:
„8. Dem Artikel 152 werden folgende Absätze angefügt:
‚(9) Abweichend von Artikel 65 Absatz 2 Unterabsatz 3 dieser Verordnung können die Mitgliedstaaten in hinreichend begründeten Fällen die Entscheidung über die operationellen Programme und die Betriebsfonds für 2009 bis spätestens 1. März 2009 treffen. In der Genehmigungsentscheidung kann die Beihilfefähigkeit der Ausgaben ab dem 1. Januar 2009 vorgesehen werden.‘
…“
15 Art. 99 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Mitteilung der im Zusammenhang mit den operationellen Programmen von den Mitgliedstaaten geforderten Daten. Abs. 2 dieser Bestimmung sieht vor: „Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission bis spätestens 31. Januar die Gesamthöhe des im jeweiligen Jahr genehmigten Betriebsfonds für alle operationellen Programme mit. Neben dem Gesamtbetrag des Betriebsfonds ist in der Mitteilung auch die Gesamthöhe der Gemeinschaftsbeihilfe zu dem Betriebsfonds anzugeben. Die Angaben sind ferner nach den Beträgen für Krisenpräventions- und ‑managementmaßnahmen und andere Maßnahmen aufzuschlüsseln.“
16 Art. 67 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Änderungen der operationellen Programme innerhalb des Jahres:
„(1) Die Mitgliedstaaten können unter von ihnen festzulegenden Bedingungen Änderungen der operationellen Programme innerhalb des Jahres gestatten.
(2) Die zuständige einzelstaatliche Behörde kann den Erzeugerorganisationen gestatten, innerhalb des Jahres:
a)
ihr operationelles Programm nur teilweise durchzuführen;
b)
den Inhalt des operationellen Programms zu ändern, gegebenenfalls einschließlich der Verlängerung des Programms auf eine Gesamtdauer von bis zu fünf Jahren;
c)
die Höhe des Betriebsfonds um bis zu 25 % des ursprünglich gebilligten Betrags anzuheben oder um einen von den Mitgliedstaaten festzusetzenden Prozentsatz zu senken, sofern die allgemeinen Ziele des operationellen Programms erhalten bleiben. Bei Zusammenschlüssen von Erzeugerorganisation[en] gemäß Artikel 31 Absatz 1 sowie bei Anwendung von Artikel 94a können die Mitgliedstaaten diesen Prozentsatz erhöhen.
(3) Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen Änderungen der operationellen Programme innerhalb des Jahres ohne vorherige Genehmigung der zuständigen einzelstaatlichen Behörden vorgenommen werden können.
Diese Änderungen kommen für eine Beihilfe nur in Betracht, wenn die Erzeugerorganisationen sie umgehend der zuständigen Behörde melden.“
17 Titel III Kapitel IV der Verordnung Nr. 1580/2007 enthält insbesondere die nachfolgenden besonderen Bestimmungen zur einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe.
18 Art. 93 der Verordnung Nr. 1580/2007 präzisiert die in Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO aufgestellte Voraussetzung eines „besonders niedrigen“ Organisationsgrads der Erzeuger in einem bestimmten Gebiet, der die Gewährung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe rechtfertigt:
„Der Organisationsgrad der Erzeuger in einem Gebiet eines Mitgliedstaats gilt als besonders niedrig im Sinne von [Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO], wenn dort weniger als 20 % des Durchschnittswerts der Obst- und Gemüseerzeugung in den letzten drei Jahren, für die entsprechende Daten vorliegen, von Erzeugerorganisationen, Vereinigungen von Erzeugerorganisationen und Erzeugergruppierungen vermarktet wurden.“
19 Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 590/2008 der Kommission vom 23. Juni 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1580/2007 und zur Abweichung von dieser Verordnung (ABl. L 163, S. 24) geänderten Fassung regelt die Voraussetzungen für die Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Kommission:
„(1) Die Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nach Artikel 11 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1182/2007 für in einem Kalenderjahr durchzuführende operationelle Programme ist von den Mitgliedstaaten bei der Kommission jeweils bis zum 31. Januar des betreffenden Jahres zu beantragen.
Dem Antrag sind neben dem Nachweis, dass der Organisationsgrad der Erzeuger in dem betreffenden Gebiet im Sinne von Artikel 93 der vorliegenden Verordnung besonders niedrig ist, genaue Angaben über die betreffenden Erzeugerorganisationen, die Höhe der Beihilfe und den Prozentsatz der Finanzbeiträge nach Artikel [103b Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung über die einheitliche GMO] beizufügen.
(2) Die Kommission entscheidet innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags. Wenn die Kommission innerhalb dieser Frist nicht antwortet, gilt der Antrag als genehmigt.“
20 Art. 94a der Verordnung Nr. 1580/2007, eingefügt durch die Verordnung Nr. 590/2008, bestimmt:
„Eine Erzeugerorganisation, die eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe beantragen möchte, ändert ihr operationelles Programm erforderlichenfalls gemäß Artikel 67.“
21 Art. 96 der Verordnung Nr. 1580/2007 legt den Höchstsatz für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Europäische Union fest:
„Die an die Erzeugerorganisationen gezahlte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe wird von der [Union] bis zu höchstens 60 % erstattet.“
22 Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 in der durch die Verordnung Nr. 590/2008 geänderten Fassung regelt das Verfahren der Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und sieht vor:
„(1) Die Erstattung der genehmigten und tatsächlich an die Erzeugerorganisationen gezahlten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe von den Mitgliedstaaten ist bei der Kommission bis zum 1. Januar des zweiten auf die jährliche Durchführung der operationellen Programme folgenden Jahres zu beantragen.
Dem Antrag sind neben dem Nachweis, dass die Voraussetzungen nach Artikel 11 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1182/2007 in drei der vergangenen vier Jahre erfüllt waren, genaue Angaben über die betreffenden Erzeugerorganisationen, die Höhe der tatsächlich gezahlten Beihilfe und eine Beschreibung des Betriebsfonds, aufgegliedert nach Gesamtbetrag und Beiträgen der [Union], des Mitgliedstaats (einzelstaatliche finanzielle Beihilfe), der Erzeugerorganisationen und der Mitglieder, beizufügen.
(2) Die Kommission entscheidet über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags.
(3) Wenn die Erstattung der Beihilfe durch die [Union] genehmigt wurde, sind der Kommission die beihilfefähigen Ausgaben nach dem Verfahren des Artikels 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2006 der Kommission zu melden.“
Durchführungsverordnung Nr. 543/2011
23 Am 7. Juni 2011 erließ die Kommission die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 543/2011 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die einheitliche GMO für die Sektoren Obst und Gemüse und Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse (ABl. L 157, S. 1).
24 Diese Verordnung hebt die Verordnung Nr. 1580/2007 auf. Sie legt anstelle der Verordnung Nr. 1580/2007 die Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die einheitliche GMO in den Sektoren Obst und Gemüse fest.
25 Nach der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 ist wie nach der Verordnung Nr. 1580/2007 die Berechnungsgrundlage für die Erstattung durch die Union die „genehmigt[e] und tatsächlich … gezahlt[e] … Beihilfe“ (Art. 95 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 und Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007). Gemäß Art. 95 Abs. 2 dieser Verordnung wird „[d]er Antrag [auf Erstattung] … abgelehnt, wenn der antragstellende Mitgliedstaat die Vorschriften über die Genehmigung und Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nicht eingehalten … hat“.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
26 Am 15. September 2008 beantragten die Erzeugerorganisationen, die die ungarische Finanzbeihilfe in Anspruch nehmen wollten, beim Vidékfejletési Minisztérium (ungarisches Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung, im Folgenden: VM) die Genehmigung ihrer operationellen Programme.
27 Am 15. November 2008 teilten sie ihre Schätzungen der zur Finanzierung der operationellen Programme bestimmten Betriebsfonds mit. Diese Programme und diese Schätzungen wurden zwischen Mitte Januar und Anfang März 2009 auf nationaler Ebene genehmigt.
28 Mit Schreiben vom 30. Januar 2009 beantragte das VM gemäß Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 bei der Kommission die Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe an 29 Erzeugerorganisationen, die im Jahr 2009 genehmigte operationelle Programme durchgeführt hatten. Das VM gab an, dass sich der voraussichtliche Höchstbetrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe auf insgesamt 3487518 Euro belaufen sollte.
29 Mit Schreiben vom 11. März 2009 korrigierte das VM sein früheres Schreiben vom 30. Januar 2009. Das VM führte dabei aus, es habe zum 30. Januar 2009 nur über Schätzungen betreffend die Betriebsfonds verfügt, während ihm nunmehr Daten vorlägen, die auf der Grundlage der inzwischen genehmigten Programme und Betriebsfonds abschließend bestätigt worden seien. Das VM nahm in diesem Brief bezüglich der beihilfebegünstigten Regionen Änderungen vor und benannte die Regionen Ost und West als neue Empfängerregionen hinsichtlich der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe. Das VM wies darauf hin, dass es an 27 Erzeugerorganisationen in der Region Ost und an drei Erzeugerorganisationen in der Region West eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe zahlen wolle. Wie in seinem vorangegangenen Schreiben wies es darauf hin, dass der voraussichtliche Höchstbetrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nicht den Betrag von insgesamt 3487518 Euro übersteigen dürfte. Seinem Schreiben fügte das VM als Anlage eine Aufschlüsselung dieser Daten bei, aus der zum einen der genehmigte Betrag der Finanzbeiträge der Mitglieder der Erzeugerorganisation und zum anderen der genehmigte Betrag des Betriebsfonds hervorgingen. Diese Zahlen wurden in dem Schreiben wie folgt erläutert: „Im Anhang führen wir die detaillierten Daten der Betriebsfonds auf. Wir haben die Beträge genehmigt, deren Finanzierung ausgehend von einer möglichen einzelstaatlichen Finanzhilfe im Rahmen des Finanzbeitrags der Erzeugerorganisationen vorgesehen war.“
30 Nach Erhalt dieses Schreibens vom 11. März 2009 nahm die Kommission mit den ungarischen Behörden telefonischen Kontakt auf, um genauere Daten über den mitgeteilten Betrag der einzelstaatlichen Finanzhilfe zu erhalten, wobei sie um eine Aufschlüsselung der Beihilfe nach Erzeugerorganisation ersuchte.
31 Mit E-Mail vom 12. März 2009 übermittelte das VM diese Daten (im Folgenden: mitgeteilte Beihilfebeträge). Das VM gab dabei an, es handle sich nur um Schätzungen der zu gewährenden einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe, die auf der Annahme beruhten, dass im staatlichen Haushalt zur Finanzierung dieser Maßnahmen 3,5 Mio. Euro zur Verfügung stünden. Insoweit stellte das VM klar, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Entscheidung über die staatlichen Mittel getroffen worden sei, die für die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe verfügbar seien.
32 Mit Schreiben vom 3. April 2009 (im Folgenden: Ermächtigungsschreiben) teilte die Kommission dem VM mit, dass in den betreffenden Regionen (Region West und Region Ost) der Organisationsgrad der Erzeuger als besonders niedrig anzusehen sei, dass die beabsichtigte staatliche Beihilfe nicht höher sei als 80 % des in dem Antrag auf Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe angegebenen Beitrags der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation und dass die Kommission keine weiteren Bemerkungen habe, da der Antrag auf Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe an die betreffenden Erzeugerorganisationen hinreichend begründet sei.
33 Mit Schreiben vom 7. Dezember 2010 reichte das VM bei der Kommission einen Antrag auf Teilerstattung der im Jahr 2009 in der Region Ost tatsächlich gezahlten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Union ein. In seinem Antrag gab das VM an, es habe im Jahr 2009 eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe von 891847925 ungarische Forint (HUF) (umgerechnet 3,2 Mio. Euro) an die Erzeuger in der Region Ost gezahlt, und beantragte die Erstattung von 60 % dieses Betrags durch die Union (nämlich 535108755 HUF oder 1,9 Mio. Euro).
34 Mit Schreiben vom 27. Juni 2011 ersuchte die Kommission das VM um die Übermittlung zusätzlicher Daten; dem Schreiben waren sechs Tabellen beigefügt, in die insbesondere nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselte Daten einzutragen waren, aus denen die Unterschiede zwischen den der Kommission in dem Antrag auf Ermächtigung mitgeteilten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und den tatsächlich gezahlten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe hervorgingen.
35 Mit E-Mail vom 30. Juni 2011 übermittelte das VM die angeforderten Daten.
36 Mit E-Mail vom 21. November 2011 fragte die Kommission das VM nach dem Grund für die hinsichtlich einer Reihe von Erzeugerorganisationen bestehende Diskrepanz zwischen dem im Ermächtigungsantrag von 2009 angegebenen Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und dem tatsächlich gezahlten Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe, die darin bestehe, dass der erstgenannte Betrag geringer sei als der tatsächlich gezahlte Betrag.
37 Mit E-Mail vom 29. November 2011 antwortete das VM hierauf, dass der Unterschied zwischen den mitgeteilten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und den Beträgen der tatsächlich gezahlten staatlichen finanziellen Beihilfe darauf zurückzuführen sei, dass die Angaben in dem Ermächtigungsantrag auf Schätzungen der Erzeugerorganisationen vom November 2008 beruhten. Die Erzeugerorganisationen hätten die Möglichkeit, im Laufe des Jahres Änderungen an ihren operationellen Programmen vorzunehmen, insbesondere wenn die tatsächlichen Einnahmen die Schätzungen überstiegen. In den meisten Fällen entspreche die Höhe des Beitrags der Mitglieder zu den Betriebsfonds einem bestimmten Prozentsatz der Einnahmen, so dass die tatsächlichen Beiträge der Mitglieder von den geschätzten Beiträgen abweichen könnten, die dem VM von den Erzeugergenossenschaften im Jahr davor mitgeteilt worden seien. Die Genehmigung und die Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe erfolgten demnach unter Berücksichtigung dieses tatsächlichen Beitrags bis zur Grenze von 80 %, die jedoch in allen Fällen zu beachten sei.
38 Mit Schreiben vom 9. März 2012 teilte die Kommission mit, dass sie eine Teilerstattung des pro Erzeugerorganisation als einzelstaatliche finanzielle Beihilfe gezahlten Betrags bis zur Höhe der Beträge beabsichtige, die Ungarn in seinem mit Schreiben vom 3. April 2009 genehmigten Antrag auf Ermächtigung mitgeteilt habe. Die über diese Beträge hinaus gewährte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe falle nicht unter die Ausnahme von der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 180 der Verordnung über die einheitliche GMO. Die an die Erzeugerorganisationen über die für jede Erzeugergenossenschaft mitgeteilten und von der Kommission genehmigten Beträge hinaus gezahlten Beträge könnten als rechtswidrige Beihilfen angesehen werden, deren Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt im Licht der Art. 107 AEUV und 108 AEUV zu prüfen sein könnte. Die Kommission könne die Rückzahlung rechtswidriger Beihilfen anordnen.
39 Mit Schreiben vom 16. April 2012 wandte sich das VM gegen die Entscheidung der Kommission über die Festlegung der Höhe der erstattungsfähigen Beihilfe auf der Grundlage der in dem Ermächtigungsantrag mitgeteilten Beträge der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe. Die Erzeugerorganisationen hätten die Möglichkeit, für das laufende Jahr Änderungen an dem operationellen Programm sowie an den Beträgen der Beiträge der Mitglieder vorzunehmen. Aufgrund dieses Umstands könne der tatsächliche Betrag der Finanzbeiträge von dem Betrag abweichen, den der Mitgliedstaat der Kommission auf der Grundlage der Schätzungen der Erzeugerorganisationen in dem Ermächtigungsantrag mitgeteilt habe. Die Verordnung über die einheitliche GMO knüpfe die Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nicht an den Betrag der Beihilfe, der auf der Grundlage der von den Erzeugerorganisationen übermittelten Daten mitgeteilt worden sei, sondern orientiere sich an der Obergrenze von 80 % des Finanzbeitrags der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation. In Anbetracht des Inhalts des Ermächtigungsschreibens, das zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe als solcher und nicht eines bestimmten Betrags einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe (ein Beihilfebetrag sei in dieser Entscheidung im Übrigen auch nicht angegeben) ermächtigt habe, sei diese Grenze aber nicht überschritten worden. Das VM ersuchte die Kommission, sie möge ihre Rechtsposition revidieren und zum einen ihrem Antrag auf Teilerstattung der über die mitgeteilte Beihilfe hinaus tatsächlich gezahlten Beihilfe stattgeben und zum anderen nicht deren Vereinbarkeit anhand der im Bereich der staatlichen Beihilfe geltenden Regeln prüfen.
40 Am 20. April 2012 führte die Kommission in Brüssel (Belgien) eine Anhörung von Sachverständigen durch.
41 Am 25. Mai 2012 erließ die Kommission entsprechend der Stellungnahme des Verwaltungsausschusses für die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte den Beschluss C (2012) 3324 über die den Erzeugerorganisationen gewährte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
42 Die Kommission führte in dem angefochtenen Beschluss, in dessen Bezugsvermerken sie insbesondere auf Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO verwies, aus:
—
„Der Antrag nach Art. 95 Abs. 2 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 ist zurückzuweisen, da die Rechtsvorschriften, die für die Ermächtigung zur einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und für deren Erstattung gelten, nicht beachtet worden sind“ (13. Erwägungsgrund).
—
„Die von Ungarn an bestimmte Erzeugerorganisationen gezahlten Beträge der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe für die im Jahr 2009 durchgeführten operationellen Programme überstiegen die in dem Ermächtigungsantrag angegebenen und von der Kommission genehmigten Beträge. Diese Beträge sind, soweit sie die von der Kommission genehmigten Beträge übersteigen, nicht erstattungsfähig. Dagegen ist in Bezug auf die an die Erzeugerorganisationen bis zu der im Ermächtigungsantrag erklärten Höhe gezahlten Beträge der Antrag auf Erstattung als zulässig anzusehen“ (14. Erwägungsgrund).
—
„Daher ist die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, die Ungarn seinen Erzeugerorganisationen gewährt hat, teilweise bis zur Höhe von 60 % der im Ermächtigungsantrag für jedes im Jahr 2009 durchgeführte operationelle Programm mitgeteilten Beträge zu erstatten“ (15. Erwägungsgrund).
43 Die Kommission stellte in Art. 1 des angefochtenen Beschlusses fest:
„Die Union erstattet die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, die Ungarn an seine Erzeugerorganisationen für die im Jahr 2009 durchgeführten operationellen Programme tatsächlich gezahlt hat, gemäß Art. 103e Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 in Höhe von 1190927 Euro.“
44 Der Beschluss ging der Ständigen Vertretung Ungarns bei der Europäischen Union am 29. Mai 2012 zu.
Verfahren und Anträge der Parteien
45 Ungarn hat mit Klageschrift, die am 1. August 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
46 Ungarn beantragt,
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den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
47 Die Kommission beantragt,
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die Klage abzuweisen;
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Ungarn die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
48 Ungarn bringt im Wesentlichen zwei Klagegründe vor, mit denen es erstens eine Anwendung ultra vires von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 und zweitens einen Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 rügt.
Zum ersten Klagegrund: Anwendung ultra vires von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007
49 Der erste Klagegrund umfasst zwei Teile.
50 Ungarn macht im ersten Teil geltend, die Kommission könne nicht ohne eine sie hierzu ermächtigende Rechtsgrundlage eine Obergrenze für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe festsetzen, die den für jede Erzeugungsorganisation mitgeteilten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe entspreche.
51 Ungarn fügt in einem zweiten Teil hinzu, die Kommission habe, indem sie die von ihr zu gewährende Erstattung auf die mitgeteilten Beträge der Beihilfe begrenzt habe, gegen die Bestimmungen verstoßen, die für die Erstattung durch die Union die Berücksichtigung der Entwicklung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe im laufenden Wirtschaftsjahr erlaubten.
Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: Fehlen einer Rechtsgrundlage, die es der Kommission erlaubt, die Erstattung durch die Union auf die mitgeteilten Beträge der Beihilfe zu begrenzen
52 Ungarn macht in erster Linie geltend, dass es für den Beschluss der Kommission, den Betrag der von ihr zu gewährenden Erstattung an die mitgeteilten Beträge der Beihilfe zu binden, keine Rechtsgrundlage gebe.
53 Erstens beruft sich Ungarn auf Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO. Zum einen sehe diese Vorschrift als einzige Obergrenze für den Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe vor, dass dieser 80 % der von den Mitgliedern oder der Erzeugerorganisation selbst in den Betriebsfonds gezahlten Finanzbeiträge nicht überschreiten dürfe. Dieser Artikel sehe also im Rahmen des Verfahrens der Ermächtigung zur Gewährung einer Beihilfe innerhalb der 80%-Grenze keine an die mitgeteilten Beträge der Beihilfe gebundene Obergrenze vor.
54 Zum anderen müsse sich die Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Kommission nach Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO auf die Prüfung beschränken, ob die Voraussetzungen dieses Art. 103e erfüllt seien, insbesondere, ob erstens in der betreffenden Region der Organisationsgrad der Erzeuger besonders niedrig sei und ob zweitens die beantragte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe nicht höher sei als 80 % der Finanzbeiträge der Mitglieder oder der Erzeugerorganisationen selbst zum Betriebsfonds. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, müsse die Kommission die Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe erteilen. Diese Ermächtigung enthalte jedoch keine Festsetzung eines oder mehrerer bestimmter Beträge, sondern sei nur auf die Gewährung der Beihilfe als solcher gerichtet.
55 Zweitens fügt Ungarn hinzu, diese Auslegung werde von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 bestätigt, wonach die Kommission nur die Möglichkeit habe, „über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags“ auf Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe zu entscheiden, ohne dass es dieser Artikel ihr erlaube, eine als Betrag angegebene Obergrenze festzusetzen. Nach Abs. 1 dieses Artikels beantragten die Mitgliedstaaten die Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und nicht eine auf einen bestimmten Betrag einer Beihilfe gerichtete Ermächtigung.
56 Drittens folgert Ungarn daraus, die Erstattung durch die Union könne sich nicht nach den mitgeteilten Beihilfebeträgen richten. Es obliege der Kommission, wenn eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe einmal gewährt worden sei, die im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 „tatsächlich … gezahlten“ Beträge bis zur Grenze von 60 % der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe zu erstatten.
57 Viertens fügt Ungarn in der Erwiderung, hilfsweise, hinzu, Art. 94 der zum Zeitpunkt des Erstattungsantrags in Kraft befindlichen ungarischen Fassung der Verordnung Nr. 1580/2007 schreibe die Mitteilung des Anteils der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe (im Verhältnis zur Obergrenze von 80 %), aber nicht ihres Betrags vor, wodurch bestätigt werde, dass sich die Erstattung durch die Union an der Obergrenze von 80 % und nicht am erklärten Betrag der beabsichtigten Beihilfe orientieren müsse.
58 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. Urteile vom 7. Juni 2005, VEMW u. a., C‑17/03, Slg, EU:C:2005:362, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 26. Oktober 2010, Deutschland/Kommission, T‑236/07, Slg, EU:T:2010:451, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Demzufolge ist die Zielsetzung der Unionsvorschriften zu berücksichtigen, um ihnen eine Auslegung zu geben, die ihre volle praktische Wirksamkeit sichert (Urteil vom 13. Juli 2004, Kommission/Rat, C‑27/04, Slg, EU:C:2004:436, Rn. 74).
59 Infolgedessen ist zur Beantwortung des Vorbringen Ungarns, es gebe für den angefochtenen Beschluss keine Rechtsgrundlage, gemäß der in Rn. 58 angeführten Rechtsprechung zum einen zu prüfen, ob der Wortlaut von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und der Art. 94 und 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 der Kommission das Recht verleihen konnten, die von ihr zu gewährende Erstattung auf die mitgeteilten Beihilfebeträge zu begrenzen, und zum anderen, ob die von Ungarn vorgenommene Auslegung dieser Vorschriften mit ihrem Zweck und den mit ihnen verfolgten Zielen vereinbar ist.
60 Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO räumt der Kommission bei der Ermächtigung der Mitgliedstaaten zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe an die Erzeugerorganisationen einen Beurteilungsspielraum ein. Er bestimmt insoweit, dass „die Mitgliedstaaten auf hinreichend begründeten Antrag von der Kommission ermächtigt werden [können], den Erzeugerorganisationen eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe zu zahlen“.
61 Dieser Beurteilungsspielraum bei der Gewährung der Beihilfe, der durch die Verwendung des Worts „können“ gekennzeichnet ist, besteht auch im Stadium der Erstattung durch die Union, die Gegenstand der vorliegenden Rechtssache ist. Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO bestimmt insoweit, dass „die Beihilfe … von der [Union] auf Antrag des betreffenden Mitgliedstaats erstattet werden [kann]“.
62 Hinsichtlich der Durchführung der Erstattung durch die Union ermächtigt der Rat der Europäischen Union die Kommission gemäß Art. 103h der Verordnung über die einheitliche GMO, „die diesbezüglichen Vorschriften“ zu erlassen.
63 Für den Sektor Obst und Gemüse hat die Kommission diese Durchführung im Rahmen der Verordnung Nr. 1580/2007 geregelt, nach deren Art. 97 Abs. 1 „[d]ie Erstattung der genehmigten und tatsächlich … gezahlten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe von den Mitgliedstaaten … bei der Kommission … zu beantragen [ist]“.
64 Der Inhalt der „genehmigten … Beihilfe“ im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 wird von Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Verordnung festgelegt, der die „Ermächtigung zur Zahlung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe“ regelt. Dieser Artikel bestimmt, dass „[d]em Antrag … genaue Angaben [u. a.] über … die Höhe der Beihilfe … beizufügen [sind]“.
65 Somit folgt aus dem Wortlaut von Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 und insbesondere aus der Verwendung des Begriffs „Höhe“, dass die „genehmigte … Beihilfe“ zwingend den Betrag der erklärten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe einschließt.
66 Entgegen dem Vorbringen Ungarns hat die Genehmigung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe die für jede von dieser Beihilfe begünstigte Erzeugerorganisation mitgeteilten Beträge und nicht den Gesamtbetrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe (alle Erzeugerorganisationen zusammengenommen) zum Gegenstand. Denn nach Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO darf die Beihilfe 80% der Finanzbeiträge der betreffenden Erzeugerorganisation nicht übersteigen, was bedeutet, dass gemäß Art. 94 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 der Betrag der Beihilfe und die Beachtung der 80%-Grenze für jede einzelne Erzeugerorganisation zu prüfen sind und dass sich daher die Ermächtigung der Kommission auf die nach Erzeugerorganisationen aufgeschlüsselte Beihilfe bezieht.
67 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Kommission über eine Rechtsgrundlage für die Begrenzung der Erstattung durch die Union auf die im Rahmen des Ermächtigungsverfahrens von Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 mitgeteilten Beträge der Beihilfe verfügte, und zwar sowohl auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO als auch auf der Grundlage von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007.
68 Das Vorbringen Ungarns kann diese Schlussfolgerung, die auf einer auf den Wortlaut abstellenden Auslegung der Bestimmungen beruht, nicht entkräften.
69 Erstens kann Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO nicht dahin ausgelegt werden, dass die Kommission letztlich verpflichtet wäre, jede Beihilfe zu erstatten, die unabhängig von ihrer Höhe unter der Schwelle von 80 % der Beiträge der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation selbst liegt, sobald der Organisationsgrad der Erzeuger in dem in Rede stehenden Gebiet „besonders niedrig“ ist.
70 Die von Ungarn vorgeschlagene Auslegung, wonach ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO berechtigt sein soll, ex post einen höheren als den ex ante mitgeteilten Betrag zu zahlen und in der Folge eine Erstattung des nicht mitgeteilten Betrags zu erhalten, nähme dem Verfahren der Ermächtigung zur Gewährung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe seine praktische Wirksamkeit (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2001, Italien/Kommission, C‑403/99, Slg, EU:C:2001:507, Rn. 28) und ließe es ins Leere gehen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. April 2014, Maatschap T. van Oosterom en A. van Oosterom-Boelhouwer, C‑485/12, Slg, EU:C:2014:250, Rn. 61). Insoweit ist mit der Kommission festzustellen, dass der europäische Gesetzgeber, wenn er die Mitgliedstaaten von einem formellen Verfahren der Ermächtigung zur Gewährung einer Beihilfe, das zwingend die Beurteilung der mitgeteilten Beträge beinhaltet, hätte befreien wollen, ein ähnliches Verfahren wie das des Art. 182 Abs. 6 der Verordnung über die einheitliche GMO hätte vorsehen können, das vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Vorbedingungen die Mitgliedstaaten ermächtigt, staatliche Beihilfen an Erzeuger zu zahlen, die keiner anerkannten Organisation angeschlossen sind.
71 Zudem stünde diese Auslegung im Widerspruch zum Ziel der Prüfung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe anhand des Rechts der staatlichen Beihilfen, da sie dazu führen würde, dass die Kommission zur Erstattung von Beträgen verpflichtet sein könnte, die, soweit sie über die mitgeteilten Beträgen hinaus gezahlt worden waren, nicht genehmigt werden konnten und damit nicht von der auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 erteilten Ermächtigung erfasst sein konnten. Es ist zu beachten, dass die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe im Sinne von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO nach deren Art. 180 als eine Ausnahme von den Vertragsvorschriften über die staatlichen Beihilfen zu sehen ist, die im Kontext des 20. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 72/2009 nur zum Tragen kommt, soweit „[d]ie betreffenden Bestimmungen … geeignete Bedingungen für die Beihilfegewährung [enthalten], mit denen unzulässige Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden“, was eine enge Auslegung der Möglichkeit zur Gewährung dieser Beihilfen rechtfertigt (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 1985, Italien/Kommission, 56/83, Slg, EU:C:1985:85, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Folglich nähme die von Ungarn vertretene Auslegung, wonach die Kommission verpflichtet sein soll, jede Beihilfe zu erstatten, die unabhängig von ihrem Betrag die Obergrenze von 80 % unterschritte, ohne dass sie im Rahmen der Ermächtigung von dem ihr nach Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO eingeräumten Beurteilungsspielraum Gebrauch machen könnte, auch Art. 180 der Verordnung über die einheitliche GMO, im Licht des 20. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr.72/2009 gesehen, und den mit ihm im Bereich der Wettbewerbspolitik und insbesondere der Kontrolle der staatlichen Beihilfen verfolgten Zielen die praktische Wirksamkeit.
73 Zweitens ist, soweit sich Ungarn in seiner Erwiderung auf die zum Zeitpunkt seines Antrags auf Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe bestehenden ungarischen Sprachfassung von Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 für die von ihm vertretene Auslegung beruft, wonach die Erstattung durch die Union an die Beachtung der Obergrenze von 80 % und nicht an den erklärten Betrag der beabsichtigten Beihilfe gebunden sei, darauf hinzuweisen, dass nach der von der Kommission in ihren Schriftsätzen angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs wenn die verschiedenen Sprachfassungen eines unionsrechtlichen Textes voneinander abweichen, die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden muss, zu der sie gehört (vgl. Urteile vom 19. April 2007, Profisa, C‑63/06, Slg, EU:C:2007:233, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 15. Dezember 2011, Møller, C‑585/10, Slg, EU:C:2011:847, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Aus der Rechtsprechung ergibt sich auch, dass die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts eine isolierte Betrachtung nur einer Sprachfassung einer Vorschrift ausschließt; sie gebietet vielmehr, im Zweifelsfall die Vorschrift im Licht der Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen und anzuwenden (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1996, Lubella, C‑64/95, Slg, EU:C:1996:388, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 31. Januar 2008, Federación de Cooperativas Agrarias de la Comunidad Valenciana/OCVV – Nador Cott Protection [Nadorcott], T‑95/06, Slg, EU:T:2008:25, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Ungarn macht aber im vorliegenden Fall nicht geltend, dass die Fassungen in den anderen Amtssprachen die Verpflichtung, die Beträge der beabsichtigten Beihilfe mitzuteilen, nicht erwähnten, was im Übrigen auch tatsächlich nicht der Fall ist.
76 Insoweit ist mit der Kommission festzustellen, dass Ungarn in seiner gesamten Korrespondenz mit der Kommission im Stadium der Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe den Betrag der beabsichtigten Beihilfe mitgeteilt hat.
77 Der Betrag der beabsichtigten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe wurde zunächst in einem Gesamtbetrag mit Schreiben vom 30. Januar 2009 und vom 11. März 2009 mitgeteilt, bevor er am 12. März 2009 auf ausdrückliches Ersuchen der Kommission nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselt übermittelt wurde.
78 Ungarn kann also vernünftigerweise nicht geltend machen, Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 in seiner Fassung in ungarischer Sprache zum Zeitpunkt des Antrags auf Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe könne nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Mitteilung des Betrags der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe vorschreibe.
79 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass der ungarische Begriff „összeg“ („Betrag“) am 28. Mai 2009 im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Verordnung (EG) Nr. 441/2009 der Kommission vom 27. Mai 2009 zur Änderung der Verordnung Nr. 1580/2007 (ABl. L 129; S. 10) nach dem Ermächtigungsschreiben in die ungarische Fassung der Verordnung Nr. 1580/2007 eingefügt wurde.
80 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen war die Kommission daher zu Recht der Auffassung, dass sie sich auf eine Rechtsgrundlage dafür stützen könne, den Betrag der Erstattung durch die Union von den Beträgen der Beihilfe abhängig zu machen, die im Zuge des Verfahrens der Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe mitgeteilt worden seien.
81 Schließlich ist festzustellen, dass die Kommission in ihren Schriftsätzen auf die Verordnung Nr. 1580/2007 und nicht auf die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 verweist, während sie im angefochtenen Beschluss auf die letztgenannte Verordnung Bezug nimmt.
82 Die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 enthält, insbesondere in ihrem Art. 95, materielle Regelungen für den Bereich der Erstattung, die nicht rückwirkend auf eine zum Zeitpunkt des Erstattungsantrags bestehende Rechtslage angewendet werden können (vgl. entsprechend Urteil vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u. a., 212/80 bis 217/80, Slg, EU:C:1981:270, Rn. 9).
83 Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 für die aus der Zeit der Geltung der früheren Verordnung stammenden Erstattungsanträge keine rückwirkende Anwendung ihrer Vorschriften vorsieht (vgl. entsprechend Urteile vom 29. Januar 1985, Gesamthochschule Duisburg, 234/83, Slg, EU:C:1985:30, Rn. 20, vom 15. Juli 1993, GruSa Fleisch, C‑34/92, Slg, EU:C:1993:317, Rn. 22, und vom 24. September 2002, Falck und Acciaierie di Bolzano/Kommission, C‑74/00 P und C‑75/00 P, Slg, EU:C:2002:524, Rn. 119).
84 Unter diesen Umständen haben die Parteien in ihren Schriftsätzen zu Recht auf die Verordnung Nr. 1580/2007 Bezug genommen.
85 Insoweit ist festzustellen, dass, da die beiden Verordnungen identische Ziele verfolgen und hinsichtlich der Berechnungsgrundlage für die Erstattung durch die Union identische Regelungen treffen (siehe oben, Rn. 25), der Umstand, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss anstelle der Verordnung Nr. 1580/2007 die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 anführte, keinen Einfluss auf dessen Rechtmäßigkeit hat, da das Ergebnis dasselbe ist, unabhängig davon, welche Verordnung berücksichtigt wird (vgl. entsprechend Urteile vom 5. Juni 1996, Günzler Aluminium/Kommission, T‑75/95, Slg, EU:T:1996:74, Rn. 55, und vom 27. Februar 1997, FFSA u. a./Kommission, T‑106/95, Slg, EU:T:1997:23, Rn. 199).
86 Der erste Teil des ersten Klagegrundes, der darauf gestützt ist, dass die Kommission nicht über eine Rechtsgrundlage dafür verfüge, die von ihr zu gewährende Erstattung von den im Laufe des Ermächtigungsverfahrens mitgeteilten Beträgen abhängig zu machen, ist daher zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: Verletzung der Vorschriften, die die Berücksichtigung der Entwicklung des Betrags der einzelstaatlichen Beihilfe während des Wirtschaftsjahres erlauben
– Zur Verletzung der Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007
87 Ungarn macht geltend, die Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 eröffne den Erzeugerorganisationen die Möglichkeit, den Betrag der Betriebsfonds im Laufe des Jahres zu ändern. Die Kommission könne daher für die von ihr zu gewährende Erstattung, die an die während des Ermächtigungsverfahrens mitgeteilten Beträge gebunden sei, keine endgültige Grenze festsetzen, ohne gegen die Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 zu verstoßen.
88 Was zunächst Art. 67 der Verordnung Nr. 1580/2007 anbelangt, der insbesondere den Erzeugerorganisationen die Möglichkeit eröffnet, „die Höhe des Betriebsfonds um bis zu 25 % des ursprünglich gebilligten Betrags anzuheben“, ist festzustellen, dass diese Bestimmung auf die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe im Sinne von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO nicht anwendbar ist.
89 Wie die Kommission geltend gemacht hat, bestimmt nämlich Art. 103e der Verordnung über die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, dass die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe „zum Betriebsfonds hinzu[kommt]“, was bedeutet, dass eine spätere Erhöhung des Betriebsfonds im Sinne von Art. 67 der Verordnung Nr. 1580/2007 nicht zu einer korrespondierenden Erhöhung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe führen soll.
90 Dieser Unterschied zwischen den beiden Beihilferegelungen spiegelt sich im Aufbau der Verordnung Nr. 1580/2007 wider.
91 Titel III der Verordnung Nr. 1580/2007 umfasst insbesondere zum einen ein Kapitel II mit der Überschrift „Betriebsfonds und operationelle Programme“, zu dem Art. 67 gehört und das Bestimmungen zur finanziellen Beihilfe der Union enthält, und zum anderen ein Kapitel IV mit der Überschrift „Einzelstaatliche finanzielle Beihilfe“, zu dem die Art. 96 und 97 über die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe gehören.
92 Was sodann den von Ungarn geltend gemachten Art. 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 anbelangt, wonach „[e]ine Erzeugerorganisation, die eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe beantragen möchte, … ihr operationelles Programm erforderlichenfalls gemäß Artikel 67 [ändert]“, ist festzustellen, dass diese Bestimmung auf den vorliegenden Fall ebenfalls nicht anwendbar ist.
93 Aus dem Wortlaut von Art. 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 folgt nämlich, dass dieser nicht den vorliegenden Fall eines von der Kommission genehmigten und später erhöhten Betrags einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe betrifft, sondern den Inhalt eines operationellen Programms, das vor seiner Billigung durch die nationale Behörde geändert wird.
94 Daher ist das Vorbringen Ungarns, mit dem ein Verstoß gegen die Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
– Zum Verstoß gegen Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO und die Art. 53 und 99 der Verordnung Nr. 1580/2007
95 Ungarn macht geltend, die Bestimmungen über die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe müssten im Licht der Bestimmungen zur finanziellen Beihilfe der Union (insbesondere Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO und Art. 99 der Verordnung Nr. 1580/2007) ausgelegt werden, die eine Anpassung der Beihilfe je nach dem Wert der vermarkteten Erzeugung erlauben.
96 Zum einen sieht jedoch Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO im Unterschied zu deren Art. 103e kein Verfahren der Ermächtigung zur Gewährung der finanziellen Beihilfe der Union vor der Kommission vor.
97 Zum anderen bestimmt Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO, dass die finanzielle Beihilfe der Union gleich der Höhe der „tatsächlich entrichteten“ Finanzbeiträge ist, während Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 die Erstattung durch die Union auf die „genehmigt[e] und tatsächlich … gezahlt[e]“ einzelstaatliche finanzielle Beihilfe stützt.
98 Daher ist das Vorbringen Ungarns zurückzuweisen.
99 Als Ergebnis der vorstehenden Ausführungen ist festzustellen, dass die genannten Artikel, die sich auf die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe oder die finanzielle Beihilfe der Union beziehen, es der Kommission nicht verwehrten, die von Ungarn beantragte Erstattung nur bis zur Höhe der mitgeteilten und tatsächlich an die Erzeugerorganisationen gezahlten Beträge zu genehmigen.
100 Daher ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes, mit dem die Verletzung von Vorschriften geltend gemacht wird, die die Berücksichtigung der Entwicklung des Betrags der Beihilfe während des Wirtschaftsjahres erlauben, und damit der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007
101 Ungarn macht geltend, auch wenn die Kommission die von ihr zu gewährende Erstattung nach Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 auf die mitgeteilten Beihilfebeträge hätte beschränken können, hätte sie dies nur nach vorheriger Genehmigung dieser Beträge in dem Ermächtigungsschreiben tun können, was sie aber im vorliegenden Fall nicht getan habe.
102 Zur Stützung dieses Klagegrundes trägt Ungarn erstens vor, dass die Kommission, anders als in ihren späteren Beschlüssen hinsichtlich der Wirtschaftsjahre 2010 und 2011, in deren Rahmen sie auf den Gesamtbetrag der genehmigten Beihilfe abgestellt hatte, in ihrem Ermächtigungsschreiben nicht ausdrücklich einen Beihilfebetrag angegeben habe.
103 Zweitens trägt Ungarn vor, das Ermächtigungsschreiben habe nicht die Form einer stillschweigenden Genehmigungsentscheidung im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 gehabt, die allein, im Umkehrschluss, eine stillschweigende Genehmigung der mitgeteilten Beihilfebeträge erlaubt hätte.
104 Drittens spricht Ungarn der Kommission die Berechtigung ab, Beihilfebeträge auf der Grundlage von Daten zu genehmigen, die als bloße Schätzungen vorgelegt worden seien.
105 Viertens vertritt Ungarn die Ansicht, wenn die Kommission für die Erstattung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe auf der Grundlage von Beihilfebeträgen, die nicht in der Ermächtigungsentscheidung genannt seien, eine Obergrenze festlegen könnte, würde dies „Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit begründen“.
106 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 14. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass „[d]ie von Ungarn an bestimmte Erzeugerorganisationen gezahlten Beträge der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe für die im Jahr 2009 durchgeführten operationellen Programme … die in dem Ermächtigungsantrag angegebenen und von der Kommission genehmigten Beträge [überstiegen]“. Sie kam zu dem Ergebnis, dass „[d]iese Beträge …, soweit sie die von der Kommission genehmigten Beträge übersteigen, nicht erstattungsfähig [sind]“, anders als die Beträge, die an die Erzeugerorganisationen bis zu der in dem Ermächtigungsantrag erklärten Höhe gezahlt worden seien. Auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO beschloss die Kommission, die Erstattung auf diese letztgenannten Beträge zu beschränken.
107 Somit folgt aus dem angefochtenen Beschluss, dass die Kommission die erstattungsfähigen Beträge auf die im Laufe des Ermächtigungsverfahrens mitgeteilten Beträge beschränkte, da sie der Ansicht war, dass die über die mitgeteilten Beihilfebeträge hinaus gezahlten Beträge keine „genehmigten“ Beträge im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 darstellten.
108 Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die Kommission die erstattungsfähigen Beträge beschränken durfte, weil sie der Auffassung war, dass die über die mitgeteilten Beihilfebeträge hinaus gezahlten Beträge in dem Ermächtigungsschreiben nicht im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 genehmigt worden seien, wobei zu beachten ist, dass in diesem Schreiben die mitgeteilten Beihilfebeträge nicht ausdrücklich angegeben waren und zumindest nicht ausdrücklich auf deren „Genehmigung“ Bezug genommen wurde.
109 Hierzu ist erstens festzustellen, dass keine Bestimmung in der Verordnung über die einheitliche GMO oder in der Verordnung Nr. 1580/2007 die Kommission verpflichtet, den mitgeteilten Betrag der Beihilfe in ihrer Ermächtigungsentscheidung besonders anzugeben. Im Übrigen folgt aus Art. 103h der Verordnung über die einheitliche GMO, dass die Kommission uneingeschränkt befugt ist, die „Durchführungsbestimmungen“ für die Erstattung festzulegen. Da eine entsprechende Vorschrift fehlt, war sie folglich nach keiner Bestimmung ausdrücklich verpflichtet, die mitgeteilten Beihilfebeträge in dem Ermächtigungsschreiben anzugeben.
110 Zweitens ergibt sich, wie oben in den Rn. 63 bis 66 ausgeführt worden ist, aus Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007, dass die Berechnungsgrundlage für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Union die „genehmigt[e] und tatsächlich … gezahlt[e] einzelstaatlich[e] finanziell[e] Beihilfe“ ist. Der Begriff der „genehmigten“ einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe beinhaltet zwingend, dass deren zum Zweck der Ermächtigung zur Gewährung der Beihilfe nach Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 mitgeteilter Betrag nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselt ist. Das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die mitgeteilten Beträge der Beihilfe in der Ermächtigungsentscheidung kann daher nicht zur Folge haben, dass es keine Begrenzung der Beihilfebeträge gäbe, deren Zahlung bis zur Obergrenze von 80 % zulässig ist, da die Ermächtigung zur Zahlung der Beihilfe nach Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 auf der Berücksichtigung dieser Beträge beruht.
111 Drittens ist festzustellen, dass die Kommission ihre Zustimmung zu der mitgeteilten Beihilfe erst erteilte, nachdem sie um die Mitteilung des nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselten Betrags der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe ersucht hatte und ihr dieser mit E-Mail vom 12. März 2009 mitgeteilt worden war (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Dezember 2010, Kahla Thüringen Porzellan/Kommission, C‑537/08 P, Slg, EU:C:2010:769, Rn. 45). Der nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselte Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe, auf den sich die Kommission bei der Festlegung der Erstattung stützte, wurde durch diese also im Rahmen des Ermächtigungsverfahrens unter Berücksichtigung des Inhalts der Mitteilung Ungarns genehmigt (vgl. entsprechend Beschluss vom 22. März 2012, Italien/Kommission, C‑200/11 P, EU:C:2012:165, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
112 Viertens wird in dem Ermächtigungsschreiben ausdrücklich der „Betrag der betreffenden Beihilfe“ als einer der Gesichtspunkte nach Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 erwähnt, auf die das Schreiben gestützt ist, und es wird darauf hingewiesen, dass die Beihilfe „hinreichend begründet“ ist. Ungarn konnte daher vernünftigerweise nicht in Unkenntnis darüber sein, dass die mitgeteilten Beträge der Beihilfe Gegenstand einer Genehmigung der Kommission im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 waren und als Grundlage für die Erstattung dienten.
113 Unter diesen Umständen und aus den vorstehend dargelegten Gründen, die insbesondere den Aufbau von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007, den Inhalt der von Ungarn übersandten Mitteilung und den Inhalt des Ermächtigungsschreibens betreffen, kann der Kommission kein Beurteilungsfehler angelastet werden, der zu einer Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen kann. Denn aus den oben in den Rn. 109 bis 112 dargestellten Gründen ist davon auszugehen, dass durch das Ermächtigungsschreiben die mitgeteilten Beihilfebeträge genehmigt wurden, d. h. der nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselte Betrag, um den die Kommission ersucht hatte und der ihr mit E-Mail vom 12. März 2009 mitgeteilt wurde, und keine darüber hinaus gezahlten Beträge.
114 Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen Ungarns nicht entkräftet.
115 Erstens ist es unerheblich, dass die Kommission in ihren späteren Ermächtigungsentscheidungen ihr Vorgehen dahin gehend geändert hat, dass sie den Gesamtbetrag der mitgeteilten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe spezifizierte. Hierzu ist zu beachten, dass der als erstattungsfähig berücksichtigte Betrag der nach Organisation der begünstigten Erzeuger aufgeschlüsselte Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe war (siehe oben, Rn. 66).
116 Zweitens genügt als Antwort auf das Vorbringen Ungarns, das Ermächtigungsschreiben habe nicht die Form einer stillschweigenden Genehmigungsentscheidung im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 gehabt, die allein, im Umkehrschluss, eine stillschweigende Genehmigung der mitgeteilten Beihilfebeträge erlaubt hätte, die Feststellung, dass, wenn in dem Schweigen der Kommission die stillschweigende Genehmigung der Beihilfebeträge im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 zu sehen wäre, a fortiori das Gleiche für ein Ermächtigungsschreiben gilt, in dem ausdrücklich auf den „betreffenden Betrag der Beihilfe“ und darauf Bezug genommen wird, dass der Antrag „hinreichend begründet“ sei. Im Übrigen ist festzustellen, dass der von Ungarn geltend gemachte Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 bestimmt, dass „[d]ie Kommission … über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags [entscheidet]“, was darauf hinweist, dass sich die Genehmigung der Beihilfe zwingend und damit stillschweigend auf den Inhalt des Antrags erstreckt, der notwendigerweise den beantragten und in Abs. 1 dieses Artikels genannten „Betrag der Beihilfe“ enthält.
117 Drittens ist zu dem Vortrag, dass die von Ungarn vorgelegten Beträge auf Schätzungen beruht hätten und somit von der Kommission nicht hätten genehmigt werden können, festzustellen, dass die Mitteilung von Schätzungen in der Natur des Ermächtigungsverfahrens selbst liegt, da die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe von dem Beitrag der Mitglieder zum Betriebsfonds abhängt. Dieser Beitrag ist wiederum abhängig von deren landwirtschaftlicher Produktion, die erst am Ende des Wirtschaftsjahres bekannt ist. Daher steht die Tatsache, dass es sich bei den mitgeteilten Beträgen um Schätzungen handelte, der Weigerung der Kommission, die über die mitgeteilten Beträge hinaus gezahlten Beträge zu erstatten, nicht entgegen, zumal diese Schätzungen gemäß Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO hinreichend begründet werden müssen. Die Mitteilung der geschätzten Beträge hindert die Kommission also nicht daran, diese Beträge als Grundlage für die Ermächtigung zur Gewährung der mitgeteilten Beihilfe und als konstitutives Element für ihre Zustimmung zu dieser Ermächtigung zu betrachten.
118 Viertens wird das Vorbringen Ungarns, es würde „Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit begründen“, wenn die Kommission auf der Grundlage von Beihilfebeträgen, die nicht in dem Ermächtigungsschreiben angegeben waren, eine Obergrenze für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe festlegen könnte, durch keinerlei sachliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt.
119 Insbesondere legt Ungarn nicht dar, wer Opfer des geltend gemachten Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit sein soll (der Mitgliedstaat oder die von der Beihilfe begünstigten Erzeugerorganisationen).
120 In Ermangelung einer entsprechenden Klarstellung ist davon auszugehen, dass in erster Linie Ungarn als Partei des vorliegenden Rechtsstreits von dem geltend gemachten Verstoß betroffen wäre.
121 Da, wie die Kommission hervorhebt, die ungarischen Behörden die von der Kommission in dem Ermächtigungsschreiben berücksichtigten Beträge selbst mitgeteilt hatten, konnte der Grundsatz der Rechtssicherheit durch den Umstand, dass diese Beträge die Grundlage für die Ermächtigung zur einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und danach die Berechnungsgrundlage für die Erstattung darstellten, in keiner Weise beeinträchtigt werden. Denn Ungarn konnte vernünftigerweise nicht in Unkenntnis darüber sein, dass die auf ausdrückliches Ersuchen der Kommission mitgeteilten nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselten Beträge die Grundlage für die Ermächtigung bilden würden (siehe oben, Rn. 112).
122 Daher kann das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die von Ungarn mitgeteilten Höchstbeträge in dem Ermächtigungsschreiben nicht als ein Verzicht der Kommission gedeutet werden, die von ihr erteilte Ermächtigung und von ihr gewährte Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe auf die mitgeteilten Beihilfebeträge zu beziehen.
123 Unter diesen Umständen ist der zweite Klagegrund, mit dem ein Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
124 Da keiner der beiden Klagegründe durchgreift, ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
125 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Kommission aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Ungarn trägt seine eigenen Kosten und die Kosten, die der Europäischen Kommission entstanden sind.
Martins Ribeiro
Gervasoni
Madise
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. September 2015.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Rechtlicher Rahmen
Verordnung über die einheitliche GMO
Verordnung Nr. 1580/2007
Durchführungsverordnung Nr. 543/2011
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Zum ersten Klagegrund: Anwendung ultra vires von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007
Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: Fehlen einer Rechtsgrundlage, die es der Kommission erlaubt, die Erstattung durch die Union auf die mitgeteilten Beträge der Beihilfe zu begrenzen
Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: Verletzung der Vorschriften, die die Berücksichtigung der Entwicklung des Betrags der einzelstaatlichen Beihilfe während des Wirtschaftsjahres erlauben
– Zur Verletzung der Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007
– Zum Verstoß gegen Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO und die Art. 53 und 99 der Verordnung Nr. 1580/2007
Zum zweiten Klagegrund: Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑346/12
Ungarn, vertreten zunächst durch M. Fehér und K. Szíjjártó, dann durch M. Fehér als Bevollmächtigte,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch B. Béres, N. Donnelly und B. Schima als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses C (2012) 3324 final der Kommission vom 25. Mai 2012 über die den Erzeugerorganisationen gewährte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise (Berichterstatter),
Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. November 2014
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rechtlicher Rahmen
Verordnung über die einheitliche GMO
1. Die Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates vom 22. Oktober 2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABl. L 299, S. 1) legt die allgemeinen Grundsätze für die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe sowohl hinsichtlich ihrer Gewährung als auch ihrer Erstattung durch die Europäische Kommission fest.
2. Art. 103b der Verordnung über die einheitliche GMO ermächtigt die Erzeugerorganisationen, Betriebsfonds einzurichten:
„(1) Die Erzeugerorganisationen im Sektor Obst und Gemüse können einen Betriebsfonds einrichten. Diese Fonds werden wie folgt finanziert:
a) Finanzbeiträge der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation selbst,
b) finanzielle Beihilfe der [Europäischen Union], die Erzeugerorganisationen gewährt werden kann.
…“
3. Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO regelt die „finanzielle Beihilfe der [Union]“ und bestimmt:
„(1) Die finanzielle Beihilfe der Gemeinschaft ist gleich der Höhe der tatsächlich entrichteten Finanzbeiträge gemäß Artikel 103b Absatz 1 Buchstabe a, beträgt aber höchstens 50 % des Betrages der tatsächlichen Ausgaben.
(2) Für die finanzielle Beihilfe der Gemeinschaft gilt jedoch eine Obergrenze von 4,1 % des Werts der vermarkteten Erzeugung jeder Erzeugerorganisation.
Dieser Prozentsatz kann jedoch auf 4,6 % des Werts der vermarkteten Erzeugung erhöht werden, sofern der den Satz von 4,1 % des Werts der vermarkteten Erzeugung übersteigende Betrag ausschließlich für Krisenpräventions- und ‑managementmaßnahmen verwendet wird.
…“
4. Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO regelt die „einzelstaatliche finanzielle Beihilfe“, die allein Gegenstand des Rechtsstreits ist.
5. Vor seiner Änderung durch Art. 4 Nr. 29 der Verordnung (EG) Nr. 72/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 zur Anpassung der gemeinsamen Agrarpolitik durch Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 247/2006, (EG) Nr. 320/2006, (EG) Nr. 1405/2006, (EG) Nr. 1234/2007, (EG) Nr. 3/2008 und (EG) Nr. 479/2008 und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1883/78, (EWG) Nr. 1254/89, (EWG) Nr. 2247/89, (EWG) Nr. 2055/93, (EG) Nr. 1868/94, (EG) Nr. 2596/97, (EG) Nr. 1182/2005 und (EG) Nr. 315/2007 (ABl. L 30, S. 1) sah Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO in der durch die Verordnung (EG) Nr. 361/2008 des Rates vom 14. April 2008 (ABl. L 121, S. 1) geänderten Fassung vor:
„(1) In Regionen der Mitgliedstaaten, in denen der Organisationsgrad der Erzeuger im Sektor Obst und Gemüse besonders niedrig ist, können die Mitgliedstaaten auf hinreichend begründeten Antrag von der Kommission ermächtigt werden, den Erzeugerorganisationen eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe zu zahlen, die höchstens 80 % der Finanzbeiträge gemäß Artikel 103b Absatz 1 Buchstabe a entspricht. Diese Beihilfe kommt zum Betriebsfonds hinzu. In Regionen von Mitgliedstaaten, in denen weniger als 15 % des Werts der Obst- und Gemüseproduktion von Erzeugerorganisationen vermarktet wird und deren Obst- und Gemüseproduktion mindestens 15 % der gesamten landwirtschaftlichen Produktion ausmacht, kann die Beihilfe im Sinne des Unterabsatzes 1 von der Gemeinschaft auf Antrag des betreffenden Mitgliedstaats erstattet werden.
(2) Abweichend von Artikel 180 dieser Verordnung finden die Artikel 87, 88 und 89 des Vertrags keine Anwendung auf die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, wenn sie gemäß Absatz 1 erlaubt wird.“
6. In der Verordnung Nr. 72/2009 ist der vorstehende Abs. 2 über die Anwendbarkeit der Art. 87 EG, 88 EG und 89 EG in einen neuen Art. 180 übertragen worden, der folgenden Wortlaut hat:
„Die Artikel 87, 88 und 89 des Vertrags finden Anwendung auf die Herstellung und Vermarktung der Erzeugnisse gemäß Artikel 1 Absatz 1 Buchstaben a bis k und m bis u sowie Absatz 3 dieser Verordnung.
Die Artikel 87, 88 und 89 des Vertrags finden jedoch keine Anwendung auf Zahlungen, die von den Mitgliedstaaten nach den Artikeln 44, 45, 46, 47, 48, 102, 102a, 103, 103a, 103b, 103e, 103ga, 104, 105 und 182 dieser Verordnung entsprechend den Bestimmungen dieser Verordnung getätigt werden.“
7. Der 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 72/2009 rechtfertigt dieses Vorgehen wie folgt:
„Im Interesse der Rechtssicherheit und ‑vereinfachung sind die Bestimmungen über eine Ausnahme von den Artikeln 87, 88 und 89 des Vertrags für Zahlungen der Mitgliedstaaten entsprechend der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 … klarer zu fassen und zu harmonisieren. In diesem Rahmen sollten die Bestimmungen der vorgenannten Verordnungen, die unter bestimmten Umständen unter den Begriff der staatlichen Beihilfen im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 des Vertrags fallen oder fallen könnten, von der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen ausgenommen werden. Die betreffenden Bestimmungen enthalten geeignete Bedingungen für die Beihilfegewährung, mit denen unzulässige Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden.“
8. Art. 103g der Verordnung über die einheitliche GMO enthält die Bestimmungen über die Genehmigung der operationellen Programme:
„(1) Der Entwurf des operationellen Programms wird den zuständigen nationalen Behörden vorgelegt, die es nach Maßgabe dieses Unterabschnitts genehmigen, ablehnen oder seine Änderung veranlassen.
(2) Die Erzeugerorganisationen teilen dem Mitgliedstaat den voraussichtlichen Betrag des Betriebsfonds für jedes Jahr mit und fügen dazu geeignete Nachweise bei, die sich auf die Voranschläge des operationellen Programms stützen; ferner teilen sie die Ausgaben des laufenden Jahres und möglichst auch die Ausgaben der vorausgegangenen Jahre sowie erforderlichenfalls die erwarteten Produktionsmengen des kommenden Jahres mit.
(3) Der Mitgliedstaat teilt den Erzeugerorganisationen oder den Vereinigungen von Erzeugerorganisationen den voraussichtlichen Betrag der finanziellen Beihilfe der Gemeinschaft im Rahmen der in Artikel 103d festgesetzten Grenzen mit.
…“
9. Art. 103h der Verordnung über die einheitliche GMO bestimmt:
„Die Kommission legt die Durchführungsbestimmungen zu diesem Abschnitt und insbesondere Folgendes fest:
…
b) den Anteil der Erstattung für die in Artikel 103e Absatz 1 genannten Maßnahmen und die diesbezüglichen Vorschriften;
…“
Verordnung Nr. 1580/2007
10. Die Verordnung (EG) Nr. 1580/2007 der Kommission vom 21. Dezember 2007 mit Durchführungsbestimmungen zu den Verordnungen (EG) Nr. 2200/96, (EG) Nr. 2201/96 und (EG) Nr. 1182/2007 des Rates im Sektor Obst und Gemüse (ABl. L 350, S. 1) legt die Durchführungsbestimmungen für die Verordnung über die einheitliche GMO im Sektor Obst und Gemüse fest und sieht insbesondere die Modalitäten der Teilerstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Kommission vor.
11. Art. 56 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Mitteilung der Schätzung der Höhe des Betriebsfonds durch die Erzeugerorganisationen an den betreffenden Mitgliedstaat:
„Die Erzeugerorganisationen teilen den Mitgliedstaaten jährlich bis spätestens 15. September zusammen mit den operationellen Programmen oder den diesbezüglichen Änderungsanträgen die voraussichtliche Höhe der [Unions]beteiligung sowie des Beitrags ihrer Mitglieder und der Erzeugerorganisation selbst zum Betriebsfonds für das folgende Jahr mit.
Die Mitgliedstaaten können für die Mitteilung einen späteren Termin festsetzen.
Die voraussichtliche Höhe des Betriebsfonds berechnet sich auf der Grundlage der operationellen Programme und des Werts der vermarkteten Erzeugung. Die Berechnung wird zwischen den Ausgaben für Krisenprävention und ‑management und den Ausgaben für andere Maßnahmen aufgeschlüsselt.“
12. Art. 64 der Verordnung Nr. 1580/2007 sieht die Vorlage der operationellen Programme vor und bestimmt:
„Die operationellen Programme werden von der Erzeugerorganisation bis spätestens 15. September des Jahres, das dem Jahr ihrer Durchführung vorhergeht, der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dem die Erzeugerorganisation ihren Sitz hat, zur Genehmigung vorgelegt.
Die Mitgliedstaaten können jedoch einen späteren Zeitpunkt festsetzen.“
13. Art. 65 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Genehmigung der operationellen Programme durch die einzelstaatlichen Behörden:
„(1) Die zuständige einzelstaatliche Behörde trifft eine der folgenden Entscheidungen:
a) sie genehmigt die Fondsbeträge und das Programm, wenn sie die Voraussetzungen der Verordnung (EG) Nr. 1182/2007 und dieses Kapitels erfüllen;
b) sie genehmigt das Programm, sofern die Erzeugerorganisation bestimmte Änderungen akzeptiert;
c) sie lehnt das Programm oder Teile des Programms ab.
(2) Die zuständige einzelstaatliche Behörde trifft bis spätestens 15. Dezember des Jahres der Vorlage eine Entscheidung über die Programme und Betriebsfonds.
Die Mitgliedstaaten teilen den Erzeugerorganisationen die Entscheidungen bis spätestens 15. Dezember mit.
In hinreichend begründeten Fällen kann die zuständige einzelstaatliche Behörde jedoch die Entscheidung über die operationellen Programme und die Betriebsfonds bis spätestens 20. Januar nach der Antragstellung treffen. In der Genehmigungsentscheidung kann die Beihilfefähigkeit der Ausgaben ab dem 1. Januar des Jahres nach der Antragsstellung vorgesehen werden.“
14. Art. 1 Nr. 8 der Verordnung (EG) Nr. 1327/2008 der Kommission vom 19. Dezember 2008 zur Änderung der Verordnung Nr. 1580/2007 (ABl. L 345, S. 24) führt jedoch für das Jahr 2009 besondere Bestimmungen ein. Sie lauten wie folgt:
„8. Dem Artikel 152 werden folgende Absätze angefügt:
‚(9) Abweichend von Artikel 65 Absatz 2 Unterabsatz 3 dieser Verordnung können die Mitgliedstaaten in hinreichend begründeten Fällen die Entscheidung über die operationellen Programme und die Betriebsfonds für 2009 bis spätestens 1. März 2009 treffen. In der Genehmigungsentscheidung kann die Beihilfefähigkeit der Ausgaben ab dem 1. Januar 2009 vorgesehen werden.‘
…“
15. Art. 99 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Mitteilung der im Zusammenhang mit den operationellen Programmen von den Mitgliedstaaten geforderten Daten. Abs. 2 dieser Bestimmung sieht vor: „Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission bis spätestens 31. Januar die Gesamthöhe des im jeweiligen Jahr genehmigten Betriebsfonds für alle operationellen Programme mit. Neben dem Gesamtbetrag des Betriebsfonds ist in der Mitteilung auch die Gesamthöhe der Gemeinschaftsbeihilfe zu dem Betriebsfonds anzugeben. Die Angaben sind ferner nach den Beträgen für Krisenpräventions- und ‑managementmaßnahmen und andere Maßnahmen aufzuschlüsseln.“
16. Art. 67 der Verordnung Nr. 1580/2007 regelt die Änderungen der operationellen Programme innerhalb des Jahres:
„(1) Die Mitgliedstaaten können unter von ihnen festzulegenden Bedingungen Änderungen der operationellen Programme innerhalb des Jahres gestatten.
(2) Die zuständige einzelstaatliche Behörde kann den Erzeugerorganisationen gestatten, innerhalb des Jahres:
a) ihr operationelles Programm nur teilweise durchzuführen;
b) den Inhalt des operationellen Programms zu ändern, gegebenenfalls einschließlich der Verlängerung des Programms auf eine Gesamtdauer von bis zu fünf Jahren;
c) die Höhe des Betriebsfonds um bis zu 25 % des ursprünglich gebilligten Betrags anzuheben oder um einen von den Mitgliedstaaten festzusetzenden Prozentsatz zu senken, sofern die allgemeinen Ziele des operationellen Programms erhalten bleiben. Bei Zusammenschlüssen von Erzeugerorganisation[en] gemäß Artikel 31 Absatz 1 sowie bei Anwendung von Artikel 94a können die Mitgliedstaaten diesen Prozentsatz erhöhen.
(3) Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen Änderungen der operationellen Programme innerhalb des Jahres ohne vorherige Genehmigung der zuständigen einzelstaatlichen Behörden vorgenommen werden können.
Diese Änderungen kommen für eine Beihilfe nur in Betracht, wenn die Erzeugerorganisationen sie umgehend der zuständigen Behörde melden.“
17. Titel III Kapitel IV der Verordnung Nr. 1580/2007 enthält insbesondere die nachfolgenden besonderen Bestimmungen zur einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe.
18. Art. 93 der Verordnung Nr. 1580/2007 präzisiert die in Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO aufgestellte Voraussetzung eines „besonders niedrigen“ Organisationsgrads der Erzeuger in einem bestimmten Gebiet, der die Gewährung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe rechtfertigt:
„Der Organisationsgrad der Erzeuger in einem Gebiet eines Mitgliedstaats gilt als besonders niedrig im Sinne von [Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO], wenn dort weniger als 20 % des Durchschnittswerts der Obst- und Gemüseerzeugung in den letzten drei Jahren, für die entsprechende Daten vorliegen, von Erzeugerorganisationen, Vereinigungen von Erzeugerorganisationen und Erzeugergruppierungen vermarktet wurden.“
19. Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 590/2008 der Kommission vom 23. Juni 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1580/2007 und zur Abweichung von dieser Verordnung (ABl. L 163, S. 24) geänderten Fassung regelt die Voraussetzungen für die Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Kommission:
„(1) Die Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nach Artikel 11 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1182/2007 für in einem Kalenderjahr durchzuführende operationelle Programme ist von den Mitgliedstaaten bei der Kommission jeweils bis zum 31. Januar des betreffenden Jahres zu beantragen.
Dem Antrag sind neben dem Nachweis, dass der Organisationsgrad der Erzeuger in dem betreffenden Gebiet im Sinne von Artikel 93 der vorliegende n Verordnung besonders niedrig ist, genaue Angaben über die betreffenden Erzeugerorganisationen, die Höhe der Beihilfe und den Prozentsatz der Finanzbeiträge nach Artikel [103b Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung über die einheitliche GMO] beizufügen.
(2) Die Kommission entscheidet innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags. Wenn die Kommission innerhalb dieser Frist nicht antwortet, gilt der Antrag als genehmigt.“
20. Art. 94a der Verordnung Nr. 1580/2007, eingefügt durch die Verordnung Nr. 590/2008, bestimmt:
„Eine Erzeugerorganisation, die eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe beantragen möchte, ändert ihr operationelles Programm erforderlichenfalls gemäß Artikel 67.“
21. Art. 96 der Verordnung Nr. 1580/2007 legt den Höchstsatz für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Europäische Union fest:
„Die an die Erzeugerorganisationen gezahlte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe wird von der [Union] bis zu höchstens 60 % erstattet.“
22. Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 in der durch die Verordnung Nr. 590/2008 geänderten Fassung regelt das Verfahren der Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und sieht vor:
„(1) Die Erstattung der genehmigten und tatsächlich an die Erzeugerorganisationen gezahlten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe von den Mitgliedstaaten ist bei der Kommission bis zum 1. Januar des zweiten auf die jährliche Durchführung der operationellen Programme folgenden Jahres zu beantragen.
Dem Antrag sind neben dem Nachweis, dass die Voraussetzungen nach Artikel 11 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1182/2007 in drei der vergangenen vier Jahre erfüllt waren, genaue Angaben über die betreffenden Erzeugerorganisationen, die Höhe der tatsächlich gezahlten Beihilfe und eine Beschreibung des Betriebsfonds, aufgegliedert nach Gesamtbetrag und Beiträgen der [Union], des Mitgliedstaats (einzelstaatliche finanzielle Beihilfe), der Erzeugerorganisationen und der Mitglieder, beizufügen.
(2) Die Kommission entscheidet über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags.
(3) Wenn die Erstattung der Beihilfe durch die [Union] genehmigt wurde, sind der Kommission die beihilfefähigen Ausgaben nach dem Verfahren des Artikels 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2006 der Kommission zu melden.“
Durchführungsverordnung Nr. 543/2011
23. Am 7. Juni 2011 erließ die Kommission die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 543/2011 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die einheitliche GMO für die Sektoren Obst und Gemüse und Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse (ABl. L 157, S. 1).
24. Diese Verordnung hebt die Verordnung Nr. 1580/2007 auf. Sie legt anstelle der Verordnung Nr. 1580/2007 die Durchführungsbestimmungen zur Verordnung über die einheitliche GMO in den Sektoren Obst und Gemüse fest.
25. Nach der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 ist wie nach der Verordnung Nr. 1580/2007 die Berechnungsgrundlage für die Erstattung durch die Union die „genehmigt[e] und tatsächlich … gezahlt[e] … Beihilfe“ (Art. 95 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 und Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007). Gemäß Art. 95 Abs. 2 dieser Verordnung wird „[d]er Antrag [auf Erstattung] … abgelehnt, wenn der antragstellende Mitgliedstaat die Vorschriften über die Genehmigung und Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nicht eingehalten … hat“.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
26. Am 15. September 2008 beantragten die Erzeugerorganisationen, die die ungarische Finanzbeihilfe in Anspruch nehmen wollten, beim Vidékfejletési Minisztérium (ungarisches Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung, im Folgenden: VM) die Genehmigung ihrer operationellen Programme.
27. Am 15. November 2008 teilten sie ihre Schätzungen der zur Finanzierung der operationellen Programme bestimmten Betriebsfonds mit. Diese Programme und diese Schätzungen wurden zwischen Mitte Januar und Anfang März 2009 auf nationaler Ebene genehmigt.
28. Mit Schreiben vom 30. Januar 2009 beantragte das VM gemäß Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 bei der Kommission die Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe an 29 Erzeugerorganisationen, die im Jahr 2009 genehmigte operationelle Programme durchgeführt hatten. Das VM gab an, dass sich der voraussichtliche Höchstbetrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe auf insgesamt 3 487 518 Euro belaufen sollte.
29. Mit Schreiben vom 11. März 2009 korrigierte das VM sein früheres Schreiben vom 30. Januar 2009. Das VM führte dabei aus, es habe zum 30. Januar 2009 nur über Schätzungen betreffend die Betriebsfonds verfügt, während ihm nunmehr Daten vorlägen, die auf der Grundlage der inzwischen genehmigten Programme und Betriebsfonds abschließend bestätigt worden seien. Das VM nahm in diesem Brief bezüglich der beihilfebegünstigten Regionen Änderungen vor und benannte die Regionen Ost und West als neue Empfängerregionen hinsichtlich der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe. Das VM wies darauf hin, dass es an 27 Erzeugerorganisationen in der Region Ost und an drei Erzeugerorganisationen in der Region West eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe zahlen wolle. Wie in seinem vorangegangenen Schreiben wies es darauf hin, dass der voraussichtliche Höchstbetrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nicht den Betrag von insgesamt 3 487 518 Euro übersteigen dürfte. Seinem Schreiben fügte das VM als Anlage eine Aufschlüsselung dieser Daten bei, aus der zum einen der genehmigte Betrag der Finanzbeiträge der Mitglieder der Erzeugerorganisation und zum anderen der genehmigte Betrag des Betriebsfonds hervorgingen. Diese Zahlen wurden in dem Schreiben wie folgt erläutert: „Im Anhang führen wir die detaillierten Daten der Betriebsfonds auf. Wir haben die Beträge genehmigt, deren Finanzierung ausgehend von einer möglichen einzelstaatlichen Finanzhilfe im Rahmen des Finanzbeitrags der Erzeugerorganisationen vorgesehen war.“
30. Nach Erhalt dieses Schreibens vom 11. März 2009 nahm die Kommission mit den ungarischen Behörden telefonischen Kontakt auf, um genauere Daten über den mitgeteilten Betrag der einzelstaatlichen Finanzhilfe zu erhalten, wobei sie um eine Aufschlüsselung der Beihilfe nach Erzeugerorganisation ersuchte.
31. Mit E-Mail vom 12. März 2009 übermittelte das VM diese Daten (im Folgenden: mitgeteilte Beihilfebeträge). Das VM gab dabei an, es handle sich nur um Schätzungen der zu gewährenden einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe, die auf der Annahme beruhten, dass im staatlichen Haushalt zur Finanzierung dieser Maßnahmen 3,5 Mio. Euro zur Verfügung stünden. Insoweit stellte das VM klar, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Entscheidung über die staatlichen Mittel getroffen worden sei, die für die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe verfügbar seien.
32. Mit Schreiben vom 3. April 2009 (im Folgenden: Ermächtigungsschreiben) teilte die Kommission dem VM mit, dass in den betreffenden Regionen (Region West und Region Ost) der Organisationsgrad der Erzeuger als besonders niedrig anzusehen sei, dass die beabsichtigte staatliche Beihilfe nicht höher sei als 80 % des in dem Antrag auf Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe angegebenen Beitrags der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation und dass die Kommission keine weiteren Bemerkungen habe, da der Antrag auf Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe an die betreffenden Erzeugerorganisationen hinreichend begründet sei.
33. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2010 reichte das VM bei der Kommission einen Antrag auf Teilerstattung der im Jahr 2009 in der Region Ost tatsächlich gezahlten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Union ein. In seinem Antrag gab das VM an, es habe im Jahr 2009 eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe von 891 847 925 ungarische Forint (HUF) (umgerechnet 3,2 Mio. Euro) an die Erzeuger in der Region Ost gezahlt, und beantragte die Erstattung von 60 % dieses Betrags durch die Union (nämlich 535 108 755 HUF oder 1,9 Mio. Euro).
34. Mit Schreiben vom 27. Juni 2011 ersuchte die Kommission das VM um die Übermittlung zusätzlicher Daten; dem Schreiben waren sechs Tabellen beigefügt, in die insbesondere nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselte Daten einzutragen waren, aus denen die Unterschiede zwischen den der Kommission in dem Antrag auf Ermächtigung mitgeteilten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und den tatsächlich gezahlten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe hervorgingen.
35. Mit E-Mail vom 30. Juni 2011 übermittelte das VM die angeforderten Daten.
36. Mit E-Mail vom 21. November 2011 fragte die Kommission das VM nach dem Grund für die hinsichtlich einer Reihe von Erzeugerorganisationen bestehende Diskrepanz zwischen dem im Ermächtigungsantrag von 2009 angegebenen Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und dem tatsächlich gezahlten Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe, die darin bestehe, dass der erstgenannte Betrag geringer sei als der tatsächlich gezahlte Betrag.
37. Mit E-Mail vom 29. November 2011 antwortete das VM hierauf, dass der Unterschied zwischen den mitgeteilten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und den Beträgen der tatsächlich gezahlten staatlichen finanziellen Beihilfe darauf zurückzuführen sei, dass die Angaben in dem Ermächtigungsantrag auf Schätzungen der Erzeugerorganisationen vom November 2008 beruhten. Die Erzeugerorganisationen hätten die Möglichkeit, im Laufe des Jahres Änderungen an ihren operationellen Programmen vorzunehmen, insbesondere wenn die tatsächlichen Einnahmen die Schätzungen überstiegen. In den meisten Fällen entspreche die Höhe des Beitrags der Mitglieder zu den Betriebsfonds einem bestimmten Prozentsatz der Einnahmen, so dass die tatsächlichen Beiträge der Mitglieder von den geschätzten Beiträgen abweichen könnten, die dem VM von den Erzeugergenossenschaften im Jahr davor mitgeteilt worden seien. Die Genehmigung und die Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe erfolgten demnach unter Berücksichtigung dieses tatsächlichen Beitrags bis zur Grenze von 80 %, die jedoch in allen Fällen zu beachten sei.
38. Mit Schreiben vom 9. März 2012 teilte die Kommission mit, dass sie eine Teilerstattung des pro Erzeugerorganisation als einzelstaatliche finanzielle Beihilfe gezahlten Betrags bis zur Höhe der Beträge beabsichtige, die Ungarn in seinem mit Schreiben vom 3. April 2009 genehmigten Antrag auf Ermächtigung mitgeteilt habe. Die über diese Beträge hinaus gewährte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe falle nicht unter die Ausnahme von der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 180 der Verordnung über die einheitliche GMO. Die an die Erzeugerorganisationen über die für jede Erzeugergenossenschaft mitgeteilten und von der Kommission genehmigten Beträge hinaus gezahlten Beträge könnten als rechtswidrige Beihilfen angesehen werden, deren Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt im Licht der Art. 107 AEUV und 108 AEUV zu prüfen sein könnte. Die Kommission könne die Rückzahlung rechtswidriger Beihilfen anordnen.
39. Mit Schreiben vom 16. April 2012 wandte sich das VM gegen die Entscheidung der Kommission über die Festlegung der Höhe der erstattungsfähigen Beihilfe auf der Grundlage der in dem Ermächtigungsantrag mitgeteilten Beträge der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe. Die Erzeugerorganisationen hätten die Möglichkeit, für das laufende Jahr Änderungen an dem operationellen Programm sowie an den Beträgen der Beiträge der Mitglieder vorzunehmen. Aufgrund dieses Umstands könne der tatsächliche Betrag der Finanzbeiträge von dem Betrag abweichen, den der Mitgliedstaat der Kommission auf der Grundlage der Schätzungen der Erzeugerorganisationen in dem Ermächtigungsantrag mitgeteilt habe. Die Verordnung über die einheitliche GMO knüpfe die Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe nicht an den Betrag der Beihilfe, der auf der Grundlage der von den Erzeugerorganisationen übermittelten Daten mitgeteilt worden sei, sondern orientiere sich an der Obergrenze von 80 % des Finanzbeitrags der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation. In Anbetracht des Inhalts des Ermächtigungsschreibens, das zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe als solcher und nicht eines bestimmten Betrags einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe (ein Beihilfebetrag sei in dieser Entscheidung im Übrigen auch nicht angegeben) ermächtigt habe, sei diese Grenze aber nicht überschritten worden. Das VM ersuchte die Kommission, sie möge ihre Rechtsposition revidieren und zum einen ihrem Antrag auf Teilerstattung der über die mitgeteilte Beihilfe hinaus tatsächlich gezahlten Beihilfe stattgeben und zum anderen nicht deren Vereinbarkeit anhand der im Bereich der staatlichen Beihilfe geltenden Regeln prüfen.
40. Am 20. April 2012 führte die Kommission in Brüssel (Belgien) eine Anhörung von Sachverständigen durch.
41. Am 25. Mai 2012 erließ die Kommission entsprechend der Stellungnahme des Verwaltungsausschusses für die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte den Beschluss C (2012) 3324 über die den Erzeugerorganisationen gewährte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
42. Die Kommission führte in dem angefochtenen Beschluss, in dessen Bezugsvermerken sie insbesondere auf Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO verwies, aus:
– „Der Antrag nach Art. 95 Abs. 2 der Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 ist zurückzuweisen, da die Rechtsvorschriften, die für die Ermächtigung zur einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und für deren Erstattung gelten, nicht beachtet worden sind“ (13. Erwägungsgrund).
– „Die von Ungarn an bestimmte Erzeugerorganisationen gezahlten Beträge der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe für die im Jahr 2009 durchgeführten operationellen Programme überstiegen die in dem Ermächtigungsantrag angegebenen und von der Kommission genehmigten Beträge. Diese Beträge sind, soweit sie die von der Kommission genehmigten Beträge übersteigen, nicht erstattungsfähig. Dagegen ist in Bezug auf die an die Erzeugerorganisationen bis zu der im Ermächtigungsantrag erklärten Höhe gezahlten Beträge der Antrag auf Erstattung als zulässig anzusehen“ (14. Erwägungsgrund).
– „Daher ist die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, die Ungarn seinen Erzeugerorganisationen gewährt hat, teilweise bis zur Höhe von 60 % der im Ermächtigungsantrag für jedes im Jahr 2009 durchgeführte operationelle Programm mitgeteilten Beträge zu erstatten“ (15. Erwägungsgrund).
43. Die Kommission stellte in Art. 1 des angefochtenen Beschlusses fest:
„Die Union erstattet die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, die Ungarn an seine Erzeugerorganisationen für die im Jahr 2009 durchgeführten operationellen Programme tatsächlich gezahlt hat, gemäß Art. 103e Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 in Höhe von 1 190 927 Euro.“
44. Der Beschluss ging der Ständigen Vertretung Ungarns bei der Europäischen Union am 29. Mai 2012 zu.
Verfahren und Anträge der Parteien
45. Ungarn hat mit Klageschrift, die am 1. August 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
46. Ungarn beantragt,
– den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
47. Die Kommission beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– Ungarn die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
48. Ungarn bringt im Wesentlichen zwei Klagegründe vor, mit denen es erstens eine Anwendung ultra vires von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 und zweitens einen Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 rügt.
Zum ersten Klagegrund: Anwendung ultra vires von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007
49. Der erste Klagegrund umfasst zwei Teile.
50. Ungarn macht im ersten Teil geltend, die Kommission könne nicht ohne eine sie hierzu ermächtigende Rechtsgrundlage eine Obergrenze für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe festsetzen, die den für jede Erzeugungsorganisation mitgeteilten Beträgen der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe entspreche.
51. Ungarn fügt in einem zweiten Teil hinzu, die Kommission habe, indem sie die von ihr zu gewährende Erstattung auf die mitgeteilten Beträge der Beihilfe begrenzt habe, gegen die Bestimmungen verstoßen, die für die Erstattung durch die Union die Berücksichtigung der Entwicklung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe im laufenden Wirtschaftsjahr erlaubten.
Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: Fehlen einer Rechtsgrundlage, die es der Kommission erlaubt, die Erstattung durch die Union auf die mitgeteilten Beträge der Beihilfe zu begrenzen
52. Ungarn macht in erster Linie geltend, dass es für den Beschluss der Kommission, den Betrag der von ihr zu gewährenden Erstattung an die mitgeteilten Beträge der Beihilfe zu binden, keine Rechtsgrundlage gebe.
53. Erstens beruft sich Ungarn auf Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO. Zum einen sehe diese Vorschrift als einzige Obergrenze für den Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe vor, dass dieser 80 % der von den Mitgliedern oder der Erzeugerorganisation selbst in den Betriebsfonds gezahlten Finanzbeiträge nicht überschreiten dürfe. Dieser Artikel sehe also im Rahmen des Verfahrens der Ermächtigung zur Gewährung einer Beihilfe innerhalb der 80%-Grenze keine an die mitgeteilten Beträge der Beihilfe gebundene Obergrenze vor.
54. Zum anderen müsse sich die Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Kommission nach Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO auf die Prüfung beschränke n, ob die Voraussetzungen dieses Art. 103e erfüllt seien, insbesondere, ob erstens in der betreffenden Region der Organisationsgrad der Erzeuger besonders niedrig sei und ob zweitens die beantragte einzelstaatliche finanzielle Beihilfe nicht höher sei als 80 % der Finanzbeiträge der Mitglieder oder der Erzeugerorganisationen selbst zum Betriebsfonds. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, müsse die Kommission die Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe erteilen. Diese Ermächtigung enthalte jedoch keine Festsetzung eines oder mehrerer bestimmter Beträge, sondern sei nur auf die Gewährung der Beihilfe als solcher gerichtet.
55. Zweitens fügt Ungarn hinzu, diese Auslegung werde von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 bestätigt, wonach die Kommission nur die Möglichkeit habe, „über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags“ auf Ermächtigung zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe zu entscheiden, ohne dass es dieser Artikel ihr erlaube, eine als Betrag angegebene Obergrenze festzusetzen. Nach Abs. 1 dieses Artikels beantragten die Mitgliedstaaten die Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und nicht eine auf einen bestimmten Betrag einer Beihilfe gerichtete Ermächtigung.
56. Drittens folgert Ungarn daraus, die Erstattung durch die Union könne sich nicht nach den mitgeteilten Beihilfebeträgen richten. Es obliege der Kommission, wenn eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe einmal gewährt worden sei, die im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 „tatsächlich … gezahlten“ Beträge bis zur Grenze von 60 % der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe zu erstatten.
57. Viertens fügt Ungarn in der Erwiderung, hilfsweise, hinzu, Art. 94 der zum Zeitpunkt des Erstattungsantrags in Kraft befindlichen ungarischen Fassung der Verordnung Nr. 1580/2007 schreibe die Mitteilung des Anteils der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe (im Verhältnis zur Obergrenze von 80 %), aber nicht ihres Betrags vor, wodurch bestätigt werde, dass sich die Erstattung durch die Union an der Obergrenze von 80 % und nicht am erklärten Betrag der beabsichtigten Beihilfe orientieren müsse.
58. Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. Urteile vom 7. Juni 2005, VEMW u. a., C‑17/03, Slg, EU:C:2005:362, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 26. Oktober 2010, Deutschland/Kommission, T‑236/07, Slg, EU:T:2010:451, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Demzufolge ist die Zielsetzung der Unionsvorschriften zu berücksichtigen, um ihnen eine Auslegung zu geben, die ihre volle praktische Wirksamkeit sichert (Urteil vom 13. Juli 2004, Kommission/Rat, C‑27/04, Slg, EU:C:2004:436, Rn. 74).
59. Infolgedessen ist zur Beantwortung des Vorbringen Ungarns, es gebe für den angefochtenen Beschluss keine Rechtsgrundlage, gemäß der in Rn. 58 angeführten Rechtsprechung zum einen zu prüfen, ob der Wortlaut von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und der Art. 94 und 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 der Kommission das Recht verleihen konnten, die von ihr zu gewährende Erstattung auf die mitgeteilten Beihilfebeträge zu begrenzen, und zum anderen, ob die von Ungarn vorgenommene Auslegung dieser Vorschriften mit ihrem Zweck und den mit ihnen verfolgten Zielen vereinbar ist.
60. Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO räumt der Kommission bei der Ermächtigung der Mitgliedstaaten zur Zahlung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe an die Erzeugerorganisationen einen Beurteilungsspielraum ein. Er bestimmt insoweit, dass „die Mitgliedstaaten auf hinreichend begründeten Antrag von der Kommission ermächtigt werden [können], den Erzeugerorganisationen eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe zu zahlen“.
61. Dieser Beurteilungsspielraum bei der Gewährung der Beihilfe, der durch die Verwendung des Worts „können“ gekennzeichnet ist, besteht auch im Stadium der Erstattung durch die Union, die Gegenstand der vorliegenden Rechtssache ist. Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO bestimmt insoweit, dass „die Beihilfe … von der [Union] auf Antrag des betreffenden Mitgliedstaats erstattet werden [kann]“.
62. Hinsichtlich der Durchführung der Erstattung durch die Union ermächtigt der Rat der Europäischen Union die Kommission gemäß Art. 103h der Verordnung über die einheitliche GMO, „die diesbezüglichen Vorschriften“ zu erlassen.
63. Für den Sektor Obst und Gemüse hat die Kommission diese Durchführung im Rahmen der Verordnung Nr. 1580/2007 geregelt, nach deren Art. 97 Abs. 1 „[d]ie Erstattung der genehmigten und tatsächlich … gezahlten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe von den Mitgliedstaaten … bei der Kommission … zu beantragen [ist]“.
64. Der Inhalt der „genehmigten … Beihilfe“ im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 wird von Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Verordnung festgelegt, der die „Ermächtigung zur Zahlung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe“ regelt. Dieser Artikel bestimmt, dass „[d]em Antrag … genaue Angaben [u. a.] über … die Höhe der Beihilfe … beizufügen [sind]“.
65. Somit folgt aus dem Wortlaut von Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 und insbesondere aus der Verwendung des Begriffs „Höhe“, dass die „genehmigte … Beihilfe“ zwingend den Betrag der erklärten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe einschließt.
66. Entgegen dem Vorbringen Ungarns hat die Genehmigung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe die für jede von dieser Beihilfe begünstigte Erzeugerorganisation mitgeteilten Beträge und nicht den Gesamtbetrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe (alle Erzeugerorganisationen zusammengenommen) zum Gegenstand. Denn nach Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO darf die Beihilfe 80% der Finanzbeiträge der betreffenden Erzeugerorganisation nicht übersteigen, was bedeutet, dass gemäß Art. 94 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 der Betrag der Beihilfe und die Beachtung der 80%-Grenze für jede einzelne Erzeugerorganisation zu prüfen sind und dass sich daher die Ermächtigung der Kommission auf die nach Erzeugerorganisationen aufgeschlüsselte Beihilfe bezieht.
67. Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Kommission über eine Rechtsgrundlage für die Begrenzung der Erstattung durch die Union auf die im Rahmen des Ermächtigungsverfahrens von Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 mitgeteilten Beträge der Beihilfe verfügte, und zwar sowohl auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO als auch auf der Grundlage von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007.
68. Das Vorbringen Ungarns kann diese Schlussfolgerung, die auf einer auf den Wortlaut abstellenden Auslegung der Bestimmungen beruht, nicht entkräften.
69. Erstens kann Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO nicht dahin ausgelegt werden, dass die Kommission letztlich verpflichtet wäre, jede Beihilfe zu erstatten, die unabhängig von ihrer Höhe unter der Schwelle von 80 % der Beiträge der Mitglieder oder der Erzeugerorganisation selbst liegt, sobald der Organisationsgrad der Erzeuger in dem in Rede stehenden Gebiet „besonders niedrig“ ist.
70. Die von Ungarn vorgeschlagene Auslegung, wonach ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO berechtigt sein soll, ex post einen höheren als den ex ante mitgeteilten Betrag zu zahlen und in der Folge eine Erstattung des nicht mitgeteilten Betrags zu erhalten, nähme dem Verfahren der Ermächtigung zur Gewährung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe seine praktische Wirksamkeit (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2001, Italien/Kommission, C‑403/99, Slg, EU:C:2001:507, Rn. 28) und ließe es ins Leere gehen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. April 2014, Maatschap T. van Oosterom en A. van Oosterom-Boelhouwer, C‑485/12, Slg, EU:C:2014:250, Rn. 61). Insoweit ist mit der Kommission festzustellen, dass der europäische Gesetzgeber, wenn er die Mitgliedstaaten von einem formellen Verfahren der Ermächtigung zur Gewährung einer Beihilfe, das zwingend die Beurteilung der mitgeteilten Beträge beinhaltet, hätte befreien wollen, ein ähnliches Verfahren wie das des Art. 182 Abs. 6 der Verordnung über die einheitliche GMO hätte vorsehen können, das vorbehaltlich der Erfüllung bestimmter Vorbedingungen die Mitgliedstaaten ermächtigt, staatliche Beihilfen an Erzeuger zu zahlen, die keiner anerkannten Organisation angeschlossen sind.
71. Zudem stünde diese Auslegung im Widerspruch zum Ziel der Prüfung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe anhand des Rechts der staatlichen Beihilfen, da sie dazu führen würde, dass die Kommission zur Erstattung von Beträgen verpflichtet sein könnte, die, soweit sie über die mitgeteilten Beträgen hinaus gezahlt worden waren, nicht genehmigt werden konnten und damit nicht von der auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO und Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 erteilten Ermächtigung erfasst sein konnten. Es ist zu beachten, dass die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe im Sinne von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO nach deren Art. 180 als eine Ausnahme von den Vertragsvorschriften über die staatlichen Beihilfen zu sehen ist, die im Kontext des 20. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 72/2009 nur zum Tragen kommt, soweit „[d]ie betreffenden Bestimmungen … geeignete Bedingungen für die Beihilfegewährung [enthalten], mit denen unzulässige Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden“, was eine enge Auslegung der Möglichkeit zur Gewährung dieser Beihilfen rechtfertigt (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 1985, Italien/Kommission, 56/83, Slg, EU:C:1985:85, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72. Folglich nähme die von Ungarn vertretene Auslegung, wonach die Kommission verpflichtet sein soll, jede Beihilfe zu erstatten, die unabhängig von ihrem Betrag die Obergrenze von 80 % unterschritte, ohne dass sie im Rahmen der Ermächtigung von dem ihr nach Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO eingeräumten Beurteilungsspielraum Gebrauch machen könnte, auch Art. 180 der Verordnung über die einheitliche GMO, im Licht des 20. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr.72/2009 gesehen, und den mit ihm im Bereich der Wettbewerbspolitik und insbesondere der Kontrolle der staatlichen Beihilfen verfolgten Zielen die praktische Wirksamkeit.
73. Zweitens ist, soweit sich Ungarn in seiner Erwiderung auf die zum Zeitpunkt seines Antrags auf Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe bestehenden ungarischen Sprachfassung von Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 für die von ihm vertretene Auslegung beruft, wonach die Erstattung durch die Union an die Beachtung der Obergrenze von 80 % und nicht an den erklärten Betrag der beabsichtigten Beihilfe gebunden sei, darauf hinzuweisen, dass nach der von der Kommission in ihren Schriftsätzen angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs wenn die verschiedenen Sprachfassungen eines unionsrechtlichen Textes voneinander abweichen, die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden muss, zu der sie gehört (vgl. Urteile vom 19. April 2007, Profisa, C‑63/06, Slg, EU:C:2007:233, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 15. Dezember 2011, Møller, C‑585/10, Slg, EU:C:2011:847, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74. Aus der Rechtsprechung ergibt sich auch, dass die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts eine isolierte Betrachtung nur einer Sprachfassung einer Vorschrift ausschließt; sie gebietet vielmehr, im Zweifelsfall die Vorschrift im Licht der Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen und anzuwenden (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1996, Lubella, C‑64/95, Slg, EU:C:1996:388, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 31. Januar 2008, Federación de Cooperativas Agrarias de la Comunidad Valenciana/OCVV – Nador Cott Protection [Nadorcott], T‑95/06, Slg, EU:T:2008:25, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75. Ungarn macht aber im vorliegenden Fall nicht geltend, dass die Fassungen in den anderen Amtssprachen die Verpflichtung, die Beträge der beabsichtigten Beihilfe mitzuteilen, nicht erwähnten, was im Übrigen auch tatsächlich nicht der Fall ist.
76. Insoweit ist mit der Kommission festzustellen, dass Ungarn in seiner gesamten Korrespondenz mit der Kommission im Stadium der Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe den Betrag der beabsichtigten Beihilfe mitgeteilt hat.
77. Der Betrag der beabsichtigten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe wurde zunächst in einem Gesamtbetrag mit Schreiben vom 30. Januar 2009 und vom 11. März 2009 mitgeteilt, bevor er am 12. März 2009 auf ausdrückliches Ersuchen der Kommission nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselt übermittelt wurde.
78. Ungarn kann also vernünftigerweise nicht geltend machen, Art. 94 der Verordnung Nr. 1580/2007 in seiner Fassung in ungarischer Sprache zum Zeitpunkt des Antrags auf Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe könne nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Mitteilung des Betrags der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe vorschreibe.
79. Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass der ungarische Begriff „összeg“ („Betrag“) am 28. Mai 2009 im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Verordnung (EG) Nr. 441/2009 der Kommission vom 27. Mai 2009 zur Änderung der Verordnung Nr. 1580/2007 (ABl. L 129; S. 10) nach dem Ermächtigungsschreiben in die ungarische Fassung der Verordnung Nr. 1580/2007 eingefügt wurde.
80. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen war die Kommission daher zu Recht der Auffassung, dass sie sich auf eine Rechtsgrundlage dafür stützen könne, den Betrag der Erstattung durch die Union von den Beträgen der Beihilfe abhängig zu machen, die im Zuge des Verfahrens der Ermächtigung zur Gewährung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe mitgeteilt worden seien.
81. Schließlich ist festzustellen, dass die Kommission in ihren Schriftsätzen auf die Verordnung Nr. 1580/2007 und nicht auf die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 verweist, während sie im angefochtenen Beschluss auf die letztgenannte Verordnung Bezug nimmt.
82. Die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 enthält, insbesondere in ihrem Art. 95, materielle Regelungen für den Bereich der Erstattung, die nicht rückwirkend auf eine zum Zeitpunkt des Erstattungsantrags bestehende Rechtslage angewendet werden können (vgl. entsprechend Urteil vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u. a., 212/80 bis 217/80, Slg, EU:C:1981:270, Rn. 9).
83. Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 für die aus der Zeit der Geltung der früheren Verordnung stammenden Erstattungsanträge keine rückwirkende Anwendung ihrer Vorschriften vorsieht (vgl. entsprechend Urteile vom 29. Januar 1985, Gesamthochschule Duisburg, 234/83, Slg, EU:C:1985:30, Rn. 20, vom 15. Juli 1993, GruSa Fleisch, C‑34/92, Slg, EU:C:1993:317, Rn. 22, und vom 24. September 2002, Falck und Acciaierie di Bolzano/Kommission, C‑74/00 P und C‑75/00 P, Slg, EU:C:2002:524, Rn. 119).
84. Unter diesen Umständen haben die Parteien in ihren Schriftsätzen zu Recht auf die Verordnung Nr. 1580/2007 Bezug genommen.
85. Insoweit ist festzustellen, dass, da die beiden Verordnungen identische Ziele verfolgen und hinsichtlich der Berechnungsgrundlage für die Erstattung durch die Union identische Regelungen treffen (siehe oben, Rn. 25), der Umstand, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss anstelle der Verordnung Nr. 1580/2007 die Durchführungsverordnung Nr. 543/2011 anführte, keinen Einfluss auf dessen Rechtmäßigkeit hat, da das Ergebnis dasselbe ist, unabhängig davon, welche Verordnung berücksichtigt wird (vgl. entsprechend Urteile vom 5. Juni 1996, Günzler Aluminium/Kommission, T‑75/95, Slg, EU:T:1996:74, Rn. 55, und vom 27. Februar 1997, FFSA u. a./Kommission, T‑106/95, Slg, EU:T:1997:23, Rn. 199).
86. Der erste Teil des ersten Klagegrundes, der darauf gestützt ist, dass die Kommission nicht über eine Rechtsgrundlage dafür verfüge, die von ihr zu gewährende Erstattung von den im Laufe des Ermächtigungsverfahrens mitgeteilten Beträgen abhängig zu machen, ist daher zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: Verletzung der Vorschriften, die die Berücksichtigung der Entwicklung des Betrags der einzelstaatlichen Beihilfe während des Wirtschaftsjahres erlauben
– Zur Verletzung der Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007
87. Ungarn macht geltend, die Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 eröffne den Erzeugerorganisationen die Möglichkeit, den Betrag der Betriebsfonds im Laufe des Jahres zu ändern. Die Kommission könne daher für die von ihr zu gewährende Erstattung, die an die während des Ermächtigungsverfahrens mitgeteilten Beträge gebunden sei, keine endgültige Grenze festsetzen, ohne gegen die Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 zu verstoßen.
88. Was zunächst Art. 67 der Verordnung Nr. 1580/2007 anbelangt, der insbesondere den Erzeugerorganisationen die Möglichkeit eröffnet, „die Höhe des Betriebsfonds um bis zu 25 % des ursprünglich gebilligten Betrags anzuheben“, ist festzustellen, dass diese Bestimmung auf die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe im Sinne von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO nicht anwendbar ist.
89. Wie die Kommission geltend gemacht hat, bestimmt nämlich Art. 103e der Verordnung über die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe, dass die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe „zum Betriebsfonds hinzu[kommt]“, was bedeutet, dass eine spätere Erhöhung des Betriebsfonds im Sinne von Art. 67 der Verordnung Nr. 1580/2007 nicht zu einer korrespondierenden Erhöhung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe führen soll.
90. Dieser Unterschied zwischen den beiden Beihilferegelungen spiegelt sich im Aufbau der Verordnung Nr. 1580/2007 wider.
91. Titel III der Verordnung Nr. 1580/2007 umfasst insbesondere zum einen ein Kapitel II mit der Überschrift „Betriebsfonds und operationelle Programme“, zu dem Art. 67 gehört und das Bestimmungen zur finanziellen Beihilfe der Union enthält, und zum anderen ein Kapitel IV mit der Überschrift „Einzelstaatliche finanzielle Beihilfe“, zu dem die Art. 96 und 97 über die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe gehören.
92. Was sodann den von Ungarn geltend gemachten Art. 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 anbelangt, wonach „[e]ine Erzeugerorganisation, die eine einzelstaatliche finanzielle Beihilfe beantragen möchte, … ihr operationelles Programm erforderlichenfalls gemäß Artikel 67 [ändert]“, ist festzustellen, dass diese Bestimmung auf den vorliegenden Fall ebenfalls nicht anwendbar ist.
93. Aus dem Wortlaut von Art. 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 folgt nämlich, dass dieser nicht den vorliegenden Fall eines von der Kommission genehmigten und später erhöhten Betrags einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe betrifft, sondern den Inhalt eines operationellen Programms, das vor seiner Billigung durch die nationale Behörde geändert wird.
94. Daher ist das Vorbringen Ungarns, mit dem ein Verstoß gegen die Art. 67 und 94a der Verordnung Nr. 1580/2007 geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
– Zum Verstoß gegen Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO und die Art. 53 und 99 der Verordnung Nr. 1580/2007
95. Ungarn macht geltend, die Bestimmungen über die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe müssten im Licht der Bestimmungen zur finanziellen Beihilfe der Union (insbesondere Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO und Art. 99 der Verordnung Nr. 1580/2007) ausgelegt werden, die eine Anpassung der Beihilfe je nach dem Wert der vermarkteten Erzeugung erlauben.
96. Zum einen sieht jedoch Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO im Unterschied zu deren Art. 103e kein Verfahren der Ermächtigung zur Gewährung der finanziellen Beihilfe der Union vor der Kommission vor.
97. Zum anderen bestimmt Art. 103d der Verordnung über die einheitliche GMO, dass die finanzielle Beihilfe der Union gleich der Höhe der „tatsächlich entrichteten“ Finanzbeiträge ist, während Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 die Erstattung durch die Union auf die „genehmigt[e] und tatsächlich … gezahlt[e]“ einzelstaatliche finanzielle Beihilfe stützt.
98. Daher ist das Vorbringen Ungarns zurückzuweisen.
99. Als Ergebnis der vorstehenden Ausführungen ist festzustellen, dass die genannten Artikel, die sich auf die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe oder die finanzielle Beihilfe der Union beziehen, es der Kommission nicht verwehrten, die von Ungarn beantragte Erstattung nur bis zur Höhe der mitgeteilten und tatsächlich an die Erzeugerorganisationen gezahlten Beträge zu genehmigen.
100. Daher ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes, mit dem die Verletzung von Vorschriften geltend gemacht wird, die die Berücksichtigung der Entwicklung des Betrags der Beihilfe während des Wirtschaftsjahres erlauben, und damit der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007
101. Ungarn macht geltend, auch wenn die Kommission die von ihr zu gewährende Erstattung nach Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 auf die mitgeteilten Beihilfebeträge hätte beschränken können, hätte sie dies nur nach vorheriger Genehmigung dieser Beträge in dem Ermächtigungsschreiben tun können, was sie aber im vorliegenden Fall nicht getan habe.
102. Zur Stützung dieses Klagegrundes trägt Ungarn erstens vor, dass die Kommission, anders als in ihren späteren Beschlüssen hinsichtlich der Wirtschaftsjahre 2010 und 2011, in deren Rahmen sie auf den Gesamtbetrag der genehmigten Beihilfe abgestellt hatte, in ihrem Ermächtigungsschreiben nicht ausdrücklich einen Beihilfebetrag angegeben habe.
103. Zweitens trägt Ungarn vor, das Ermächtigungsschreiben habe nicht die Form einer stillschweigenden Genehmigungsentscheidung im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 gehabt, die allein, im Umkehrschluss, eine stillschweigende Genehmigung der mitgeteilten Beihilfebeträge erlaubt hätte.
104. Drittens spricht Ungarn der Kommission die Berechtigung ab, Beihilfebeträge auf der Grundlage von Daten zu genehmigen, die als bloße Schätzungen vorgelegt worden seien.
105. Viertens vertritt Ungarn die Ansicht, wenn die Kommission für die Erstattung einer einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe auf der Grundlage von Beihilfebeträgen, die nicht in der Ermächtigungsentscheidung genannt seien, eine Obergrenze festlegen könnte, würde dies „Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit begründen“.
106. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 14. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass „[d]ie von Ungarn an bestimmte Erzeugerorganisationen gezahlten Beträge der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe für die im Jahr 2009 durchgeführten operationellen Programme … die in dem Ermächtigungsantrag angegebenen und von der Kommission genehmigten Beträge [überstiegen]“. Sie kam zu dem Ergebnis, dass „[d]iese Beträge …, soweit sie die von der Kommission genehmigten Beträge übersteigen, nicht erstattungsfähig [sind]“, anders als die Beträge, die an die Erzeugerorganisationen bis zu der in dem Ermächtigungsantrag erklärten Höhe gezahlt worden seien. Auf der Grundlage von Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO beschloss die Kommission, die Erstattung auf diese letztgenannten Beträge zu beschränken.
107. Somit folgt aus dem angefochtenen Beschluss, dass die Kommission die erstattungsfähigen Beträge auf die im Laufe des Ermächtigungsverfahrens mitgeteilten Beträge beschränkte, da sie der Ansicht war, dass die über die mitgeteilten Beihilfebeträge hinaus gezahlten Beträge keine „genehmigten“ Beträge im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 darstellten.
108. Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die Kommission die erstattungsfähigen Beträge beschränken durfte, weil sie der Auffassung war, dass die über die mitgeteilten Beihilfebeträge hinaus gezahlten Beträge in dem Ermächtigungsschreiben nicht im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 genehmigt worden seien, wobei zu beachten ist, dass in diesem Schreiben die mitgeteilten Beihilfebeträge nicht ausdrücklich angegeben waren und zumindest nicht ausdrücklich auf deren „Genehmigung“ Bezug genommen wurde.
109. Hierzu ist erstens festzustellen, dass keine Bestimmung in der Verordnung über die einheitliche GMO oder in der Verordnung Nr. 1580/2007 die Kommission verpflichtet, den mitgeteilten Betrag der Beihilfe in ihrer Ermächtigungsentscheidung besonders anzugeben. Im Übrigen folgt aus Art. 103h der Verordnung über die einheitliche GMO, dass die Kommission uneingeschränkt befugt ist, die „Durchführungsbestimmungen“ für die Erstattung festzulegen. Da eine entsprechende Vorschrift fehlt, war sie folglich nach keiner Bestimmung ausdrücklich verpflichtet, die mitgeteilten Beihilfebeträge in dem Ermächtigungsschreiben anzugeben.
110. Zweitens ergibt sich, wie oben in den Rn. 63 bis 66 ausgeführt worden ist, aus Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007, dass die Berechnungsgrundlage für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe durch die Union die „genehmigt[e] und tatsächlich … gezahlt[e] einzelstaatlich[e] finanziell[e] Beihilfe“ ist. Der Begriff der „genehmigten“ einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe beinhaltet zwingend, dass deren zum Zweck der Ermächtigung zur Gewährung der Beihilfe nach Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 mitgeteilter Betrag nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselt ist. Das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die mitgeteilten Beträge der Beihilfe in der Ermächtigungsentscheidung kann daher nicht zur Folge haben, dass es keine Begrenzung der Beihilfebeträge gäbe, deren Zahlung bis zur Obergrenze von 80 % zulässig ist, da die Ermächtigung zur Zahlung der Beihilfe nach Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 auf der Berücksichtigung dieser Beträge beruht.
111. Drittens ist festzustellen, dass die Kommission ihre Zustimmung zu der mitgeteilten Beihilfe erst erteilte, nachdem sie um die Mitteilung des nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselten Betrags der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe ersucht hatte und ihr dieser mit E-Mail vom 12. März 2009 mitgeteilt worden war (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Dezember 2010, Kahla Thüringen Porzellan/Kommission, C‑537/08 P, Slg, EU:C:2010:769, Rn. 45). Der nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselte Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe, auf den sich die Kommission bei der Festlegung der Erstattung stützte, wurde durch diese also im Rahmen des Ermächtigungsverfahrens unter Berücksichtigung des Inhalts der Mitteilung Ungarns genehmigt (vgl. entsprechend Beschluss vom 22. März 2012, Italien/Kommission, C‑200/11 P, EU:C:2012:165, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
112. Viertens wird in dem Ermächtigungsschreiben ausdrücklich der „Betrag der betreffenden Beihilfe“ als einer der Gesichtspunkte nach Art. 94 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 erwähnt, auf die das Schreiben gestützt ist, und es wird darauf hingewiesen, dass die Beihilfe „hinreichend begründet“ ist. Ungarn konnte daher vernünftigerweise nicht in Unkenntnis darüber sein, dass die mitgeteilten Beträge der Beihilfe Gegenstand einer Genehmigung der Kommission im Sinne von Art. 97 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1580/2007 waren und als Grundlage für die Erstattung dienten.
113. Unter diesen Umständen und aus den vorstehend dargelegten Gründen, die insbesondere den Aufbau von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007, den Inhalt der von Ungarn übersandten Mitteilung und den Inhalt des Ermächtigungsschreibens betreffen, kann der Kommission kein Beurteilungsfehler angelastet werden, der zu einer Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen kann. Denn aus den oben in den Rn. 109 bis 112 dargestellten Gründen ist davon auszugehen, dass durch das Ermächtigungsschreiben die mitgeteilten Beihilfebeträge genehmigt wurden, d. h. der nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselte Betrag, um den die Kommission ersucht hatte und der ihr mit E-Mail vom 12. März 2009 mitgeteilt wurde, und keine darüber hinaus gezahlten Beträge.
114. Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen Ungarns nicht entkräftet.
115. Erstens ist es unerheblich, dass die Kommission in ihren späteren Ermächtigungsentscheidungen ihr Vorgehen dahin gehend geändert hat, dass sie den Gesamtbetrag der mitgeteilten einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe spezifizierte. Hierzu ist zu beachten, dass der als erstattungsfähig berücksichtigte Betrag der nach Organisation der begünstigten Erzeuger aufgeschlüsselte Betrag der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe war (siehe oben, Rn. 66).
116. Zweitens genügt als Antwort auf das Vorbringen Ungarns, das Ermächtigungsschreiben habe nicht die Form einer stillschweigenden Genehmigungsentscheidung im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 gehabt, die allein, im Umkehrschluss, eine stillschweigende Genehmigung der mitgeteilten Beihilfebeträge erlaubt hätte, die Feststellung, dass, wenn in dem Schweigen der Kommission die stillschweigende Genehmigung der Beihilfebeträge im Sinne von Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 zu sehen wäre, a fortiori das Gleiche für ein Ermächtigungsschreiben gilt, in dem ausdrücklich auf den „betreffenden Betrag der Beihilfe“ und darauf Bezug genommen wird, dass der Antrag „hinreichend begründet“ sei. Im Übrigen ist festzustellen, dass der von Ungarn geltend gemachte Art. 94 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1580/2007 bestimmt, dass „[d]ie Kommission … über die Genehmigung oder Ablehnung des Antrags [entscheidet]“, was darauf hinweist, dass sich die Genehmigung der Beihilfe zwingend und damit stillschweigend auf den Inhalt des Antrags erstreckt, der notwendigerweise den beantragten und in Abs. 1 dieses Artikels genannten „Betrag der Beihilfe“ enthält.
117. Drittens ist zu dem Vortrag, dass die von Ungarn vorgelegten Beträge auf Schätzungen beruht hätten und somit von der Kommission nicht hätten genehmigt werden können, festzustellen, dass die Mitteilung von Schätzungen in der Natur des Ermächtigungsverfahrens selbst liegt, da die einzelstaatliche finanzielle Beihilfe von dem Beitrag der Mitglieder zum Betriebsfonds abhängt. Dieser Beitrag ist wiederum abhängig von deren landwirtschaftlicher Produktion, die erst am Ende des Wirtschaftsjahres bekannt ist. Daher steht die Tatsache, dass es sich bei den mitgeteilten Beträgen um Schätzungen handelte, der Weigerung der Kommission, die über die mitgeteilten Beträge hinaus gezahlten Beträge zu erstatten, nicht entgegen, zumal diese Schätzungen gemäß Art. 103e der Verordnung über die einheitliche GMO hinreichend begründet werden müssen. Die Mitteilung der geschätzten Beträge hindert die Kommission also nicht daran, diese Beträge als Grundlage für die Ermächtigung zur Gewährung der mitgeteilten Beihilfe und als konstitutives Element für ihre Zustimmung zu dieser Ermächtigung zu betrachten.
118. Viertens wird das Vorbringen Ungarns, es würde „Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit begründen“, wenn die Kommission auf der Grundlage von Beihilfebeträgen, die nicht in dem Ermächtigungsschreiben angegeben waren, eine Obergrenze für die Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe festlegen könnte, durch keinerlei sachliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt.
119. Insbesondere legt Ungarn nicht dar, wer Opfer des geltend gemachten Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit sein soll (der Mitgliedstaat oder die von der Beihilfe begünstigten Erzeugerorganisationen).
120. In Ermangelung einer entsprechenden Klarstellung ist davon auszugehen, dass in erster Linie Ungarn als Partei des vorliegenden Rechtsstreits von dem geltend gemachten Verstoß betroffen wäre.
121. Da, wie die Kommission hervorhebt, die ungarischen Behörden die von der Kommission in dem Ermächtigungsschreiben berücksichtigten Beträge selbst mitgeteilt hatten, konnte der Grundsatz der Rechtssicherheit durch den Umstand, dass diese Beträge die Grundlage für die Ermächtigung zur einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe und danach die Berechnungsgrundlage für die Erstattung darstellten, in keiner Weise beeinträchtigt werden. Denn Ungarn konnte vernünftigerweise nicht in Unkenntnis darüber sein, dass die auf ausdrückliches Ersuchen der Kommission mitgeteilten nach Erzeugerorganisation aufgeschlüsselten Beträge die Grundlage für die Ermächtigung bilden würden (siehe oben, Rn. 112).
122. Daher kann das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die von Ungarn mitgeteilten Höchstbeträge in dem Ermächtigungsschreiben nicht als ein Verzicht der Kommission gedeutet werden, die von ihr erteilte Ermächtigung und von ihr gewährte Erstattung der einzelstaatlichen finanziellen Beihilfe auf die mitgeteilten Beihilfebeträge zu beziehen.
123. Unter diesen Umständen ist der zweite Klagegrund, mit dem ein Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 97 der Verordnung Nr. 1580/2007 geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
124. Da keiner der beiden Klagegründe durchgreift, ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
125. Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Kommission aufzuerlegen.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Ungarn trägt seine eigenen Kosten und die Kosten, die der Europäischen Kommission entstanden sind.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. September 2015.#Jobcenter Berlin Neukölln gegen Nazifa Alimanovic u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundessozialgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Unionsbürgerschaft – Gleichbehandlung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 24 Abs. 2 – Sozialhilfe – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 4 und 70 – Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen – Arbeitsuchende Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten – Ausschluss – Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft.#Rechtssache C-67/14.
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62014CJ0067
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ECLI:EU:C:2015:597
| 2015-09-15T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0067
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
15. September 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Freizügigkeit — Unionsbürgerschaft — Gleichbehandlung — Richtlinie 2004/38/EG — Art. 24 Abs. 2 — Sozialhilfe — Verordnung (EG) Nr. 883/2004 — Art. 4 und 70 — Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen — Arbeitsuchende Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die sich im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten — Ausschluss — Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft“
In der Rechtssache C‑67/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundessozialgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2014, in dem Verfahren
Jobcenter Berlin Neukölln
gegen
Nazifa Alimanovic,
Sonita Alimanovic,
Valentina Alimanovic,
Valentino Alimanovic
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Ó Caoimh, J.‑C. Bonichot und C. Vajda, der Richter E. Levits und A. Arabadjiev, der Richterinnen C. Toader und M. Berger (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Februar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Nazifa Alimanovic, Sonita Alimanovic, Valentina Alimanovic und Valentino Alimanovic, vertreten durch Rechtsanwalt D. Mende und Rechtsanwältin E. Steffen,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch M. Wolff als Bevollmächtigte,
—
von Irland, vertreten durch E. Creedon, A. Joyce und E. McPhillips als Bevollmächtigte im Beistand von G. Gilmore, BL,
—
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und R. Coesme als Bevollmächtigte,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Varrone, avvocato dello Stato,
—
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, K. Sparrman, C. Meyer-Seitz, U. Persson, N. Otte Widgren, L. Swedenborg, E. Karlsson und F. Sjövall als Bevollmächtigte,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von J. Coppel, QC,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. März 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV und Art. 45 Abs. 2 AEUV, der Art. 4 und 70 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 (ABl. L 338, S. 35) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) sowie von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Jobcenter Berlin Neukölln (im Folgenden: Jobcenter) auf der einen und Nazifa Alimanovic und ihren drei Kindern Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic (im Folgenden zusammen: Familie Alimanovic) auf der anderen Seite wegen der Aufhebung der Bewilligung von in den deutschen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen der Grundsicherung durch das Jobcenter.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
3 Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens, das von den Mitgliedern des Europarats am 11. Dezember 1953 in Paris unterzeichnet wurde und in der Bundesrepublik Deutschland seit 1956 gilt (im Folgenden: Fürsorgeabkommen), stellt ein Gleichbehandlungsgebot mit folgendem Wortlaut auf:
„Jeder der Vertragschließenden verpflichtet sich, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge … zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.“
4 Nach Art. 16 Buchst. b des Fürsorgeabkommens hat „[j]eder Vertragschließende … dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen“. Der von der deutschen Regierung am 19. Dezember 2011 gemäß dieser Vorschrift erklärte Vorbehalt hat folgenden Wortlaut:
„Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende [im Folgenden: SGB II] – in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden.“
5 Dieser Vorbehalt wurde den übrigen vertragschließenden Parteien des Fürsorgeabkommens gemäß dessen Art. 16 Buchst. c zur Kenntnis gebracht.
Unionsrecht
Die Verordnung Nr. 883/2004
6 Art. 4 („Gleichbehandlung“) der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“
7 Art. 70 („Allgemeine Vorschrift“) der Verordnung Nr. 883/2004 steht in Kapitel 9 („Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“) des Titels III dieser Verordnung. Er sieht vor:
„(1) Dieser Artikel gilt für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.
(2) Für die Zwecke dieses Kapitels bezeichnet der Ausdruck ‚besondere beitragsunabhängige Geldleistungen‘ die Leistungen:
a)
die dazu bestimmt sind:
i)
einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, und den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht,
oder
ii)
allein dem besonderen Schutz des Behinderten zu dienen, der eng mit dem sozialen Umfeld dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat verknüpft ist,
und
b)
deren Finanzierung ausschließlich durch obligatorische Steuern zur Deckung der allgemeinen öffentlichen Ausgaben erfolgt und deren Gewährung und Berechnung nicht von Beiträgen hinsichtlich der Leistungsempfänger abhängen. Jedoch sind Leistungen, die zusätzlich zu einer beitragsabhängigen Leistung gewährt werden, nicht allein aus diesem Grund als beitragsabhängige Leistungen zu betrachten,
und
c)
die in Anhang X aufgeführt sind.
(3) Artikel 7 und die anderen Kapitel dieses Titels gelten nicht für die in Absatz 2 des vorliegenden Artikels genannten Leistungen.
(4) Die in Absatz 2 genannten Leistungen werden ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt. Die Leistungen werden vom Träger des Wohnorts und zu seinen Lasten gewährt.“
8 In Anhang X („Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“) der Verordnung Nr. 883/2004 sind für die Bundesrepublik Deutschland folgende Leistungen aufgeführt:
„…
b)
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitssuchende, soweit für diese Leistungen nicht dem Grunde nach die Voraussetzungen für den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld (§ 24 Absatz 1 [SGB II]) erfüllt sind.“
Die Richtlinie 2004/38
9 In den Erwägungsgründen 10, 16 und 21 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(10)
Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen.
…
(16) Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, sollte keine Ausweisung erfolgen. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sollte daher nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. Der Aufnahmemitgliedstaat sollte prüfen, ob es sich bei dem betreffenden Fall um vorübergehende Schwierigkeiten handelt, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und den gewährten Sozialhilfebetrag berücksichtigen, um zu beurteilen, ob der Leistungsempfänger die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen hat, und in diesem Fall seine Ausweisung zu veranlassen. In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmaßnahme gegen Arbeitnehmer, Selbstständige oder Arbeitssuchende in dem vom Gerichtshof definierten Sinne erlassen werden, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit.
…
(21) Allerdings sollte es dem Aufnahmemitgliedstaat überlassen bleiben, zu bestimmen, ob er anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, die diesen Status beibehalten, und ihren Familienangehörigen Sozialhilfe während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder im Falle von Arbeitssuchenden für einen längeren Zeitraum gewährt oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Unterhaltsbeihilfen für die Zwecke des Studiums, einschließlich einer Berufsausbildung, gewährt.“
10 Art. 7 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b)
für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen …
…
(3) Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a) bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:
a)
Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;
b)
er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;
c)
er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;
d)
er beginnt eine Berufsausbildung; die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.“
11 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) der Richtlinie 2004/38 lautet:
„(1) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.
(2) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen der Artikel 7, 12 und 13 erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung wird nicht systematisch durchgeführt.
(3) Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.
(4) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn
a)
die Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder
b)
die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“
12 Art. 24 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2004/38 sieht vor:
„(1) Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.
(2) Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.“
Deutsches Recht
Das Sozialgesetzbuch
13 § 19a Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch sieht folgende zwei Hauptarten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vor:
„Nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende können in Anspruch genommen werden
1. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit,
2. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.“
14 § 1 („Aufgabe und Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende“) SGB II bestimmt in den Abs. 1 und 3:
„(1) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.
…
(3) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende umfasst Leistungen
1. zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit und
2. zur Sicherung des Lebensunterhalts.“
15 In § 7 („Leistungsberechtigte“) SGB II heißt es:
„(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2. erwerbsfähig sind,
3. hilfebedürftig sind und
4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
(erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Ausgenommen sind
1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des [Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern, im Folgenden: FreizügG/EU] freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,
…
Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.
…“
16 § 8 („Erwerbsfähigkeit“) Abs. 1 SGB II lautet:
„Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.“
17 § 9 Abs. 1 SGB II bestimmt:
„Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.“
18 § 20 SGB II enthält ergänzende Bestimmungen über den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts. § 21 SGB II regelt die Mehrbedarfe und § 22 SGB II die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Die §§ 28 bis 30 SGB II schließlich regeln die Leistungen für Bildung und Teilhabe.
19 In § 1 des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (im Folgenden: SGB XII) heißt es:
„Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. …“
20 § 21 SGB XII bestimmt:
„Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt …“
Das FreizügG/EU
21 Der Anwendungsbereich des FreizügG/EU in seiner zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung war in dessen § 1 geregelt:
„Dieses Gesetz regelt die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen.“
22 § 2 FreizügG/EU sah hinsichtlich des Rechts auf Einreise und Aufenthalt Folgendes vor:
„(1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.
(2) Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind:
1. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,
…
5. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
6. Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4,
…
(3) Das Recht nach Absatz 1 bleibt für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei
1. vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall,
2. unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit,
3. Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht; der Zusammenhang ist nicht erforderlich, wenn der Unionsbürger seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren hat.
Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt.
…“
23 § 3 („Familienangehörige“) FreizügG/EU bestimmte:
„(1) Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Unionsbürger haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 genannten Unionsbürger gilt dies nach Maßgabe des § 4.
(2) Familienangehörige sind
1. der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, die noch nicht 21 Jahre alt sind,
2. die Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihre Ehegatten Unterhalt gewähren.
…“
24 § 5 FreizügG/EU sah in Bezug auf Aufenthaltskarten und die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht vor:
„(1) Freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wird von Amts wegen unverzüglich eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht ausgestellt.
…
(3) Die zuständige Ausländerbehörde kann verlangen, dass die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 drei Monate nach der Einreise glaubhaft gemacht werden. Für die Glaubhaftmachung erforderliche Angaben und Nachweise können von der zuständigen Meldebehörde bei der meldebehördlichen Anmeldung entgegengenommen werden. Diese leitet die Angaben und Nachweise an die zuständige Ausländerbehörde weiter …
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
25 Nazifa Alimanovic, die 1966 geboren wurde, und ihre 1994, 1998 und 1999 geborenen Kinder, Sonita, Valentina und Valentino, besitzen alle die schwedische Staatsangehörigkeit. Frau Alimanovic kam in Bosnien zur Welt, alle ihre Kinder wurden in Deutschland geboren.
26 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen, das allerdings weder das genaue Ausreisedatum noch den Ausreisegrund nennt, geht hervor, dass die Familie Alimanovic Deutschland 1999 verließ, um nach Schweden zu gehen, und im Juni 2010 nach Deutschland zurückkehrte.
27 Am 1. Juli 2010 wurde den Mitgliedern der Familie Alimanovic eine unbefristete Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt. Nach ihrer Ankunft in Deutschland waren Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita, die im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften erwerbsfähig waren, zwischen Juni 2010 und Mai 2011 weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten tätig.
28 Für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis zum 31. Mai 2012 wurden Frau Alimanovic Kindergeld für ihre Kinder Valentina und Valentino sowie, ebenso wie ihrer Tochter Sonita, Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, nämlich Arbeitslosengeld II genannte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Langzeitarbeitslose, bewilligt; außerdem wurde ihr Sozialgeld für nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte zugunsten der beiden anderen Kinder, Valentina und Valentino, bewilligt (im Folgenden zusammen: streitige Leistungen).
29 Bei der Gewährung der streitigen Leistungen für diesen Zeitraum ging das Jobcenter davon aus, dass die in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorgesehene Ausschlussregelung für arbeitsuchende Unionsbürger auf die Familie Alimanovic nicht anwendbar sei, da diese Ausschlussregelung wegen des in Art. 1 des Fürsorgeabkommens vorgesehenen Gleichbehandlungsgebots auf die Mitglieder dieser Familie als schwedische Staatsangehörige nicht angewandt werden dürfe. Mit Urteil vom 19. Oktober 2010 hatte das Bundessozialgericht nämlich entschieden, dass die sich aus dieser Vorschrift ergebende Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil ihres Gebiets erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie ihren eigenen Staatsangehörigen Fürsorgeleistungen zu gewähren, auch die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff. SGB II einschließt.
30 Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch ist ein Verwaltungsakt jedoch mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Hinsichtlich der Gewährung von Leistungen auf der Grundlage von Art. 1 des Fürsorgeabkommens ist im Mai 2012 infolge des von der deutschen Regierung am 19. Dezember 2011 in Bezug auf dieses Abkommen erklärten Vorbehalts eine Änderung eingetreten. Aufgrund dessen hob das Jobcenter die Entscheidung über die Gewährung der streitigen Leistungen für Mai 2012 in vollem Umfang auf.
31 Auf eine Klage der Familie Alimanovic hin hob das Sozialgericht Berlin diese Entscheidung auf und entschied insbesondere, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita Anspruch auf die sie betreffenden streitigen Leistungen hätten; dieser Anspruch ergebe sich u. a. aus Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, der jede Diskriminierung von Unionsbürgern gegenüber den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats verbiete, in Verbindung mit Art. 70 dieser Verordnung, der besondere beitragsunabhängige Geldleistungen wie die betreffe, um die es in der bei ihm anhängig gemachten Klage gehe.
32 Mit seinem bei dem vorlegenden Gericht eingelegten Rechtsmittel macht das Jobcenter insbesondere geltend, bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handele es sich um Leistungen der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, so dass Arbeitsuchende vom Anspruch auf diese Leistungen ausgeschlossen werden könnten.
33 Das vorlegende Gericht weist u. a. darauf hin, dass sich Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita – nach den für das vorlegende Gericht bindenden Feststellungen des Sozialgerichts Berlin – nicht mehr auf ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerinnen nach § 2 FreizügG/EU hätten berufen können. Seit Juni 2010 seien sie nämlich nur in kürzeren Beschäftigungen oder im Rahmen von ihnen zugewiesenen Arbeitsgelegenheiten für weniger als ein Jahr und seit Mai 2011 überhaupt nicht mehr abhängig oder selbständig tätig gewesen.
34 Unter Hinweis auf das Urteil Vatsouras und Koupatantze (C‑22/08 und C‑23/08, EU:C:2009:344) vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, aus § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU ergebe sich bei einer Auslegung unter Berücksichtigung von Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita keine Arbeitnehmerinnen oder Selbständige mehr seien und daher als arbeitsuchend im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU angesehen werden müssten.
35 Dementsprechend seien insbesondere Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – der Personen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von dem Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz ausnimmt – von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Langzeitarbeitslose ausgeschlossen worden.
36 Das vorlegende Gericht wirft infolgedessen zum einen die Frage auf, ob diese Bestimmung des SGB II gegen das in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Gleichbehandlungsgebot verstößt.
37 Zum anderen fragt es sich, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als zulässige Umsetzung von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 in das innerstaatliche Recht angesehen werden kann oder ob, falls diese Vorschrift des Unionsrechts nicht anwendbar sein sollte, der genannten Bestimmung des SGB II Art. 45 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 18 AEUV entgegensteht.
38 Unter diesen Umständen hat das Bundessozialgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Gilt das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 – mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 – auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004?
2. Falls Frage 1 bejaht wird: Sind – gegebenenfalls in welchem Umfang – Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 durch Bestimmungen in nationalen Rechtsvorschriften in Umsetzung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 möglich, nach denen der Zugang zu diesen Leistungen ausnahmslos nicht besteht, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt?
3. Steht Art. 45 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 18 AEUV einer nationalen Bestimmung entgegen, die Unionsbürgern, die sich als Arbeitsuchende auf die Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts berufen können, eine Sozialleistung, die der Existenzsicherung dient und gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, ausnahmslos für die Zeit eines Aufenthaltsrechts nur zur Arbeitsuche und unabhängig von der Verbindung mit dem Aufnahmestaat verweigert?
39 Mit Schreiben vom 26. November 2014 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht das Urteil Dano (C‑333/13, EU:C:2014:2358) übermittelt und um Mitteilung ersucht, ob es angesichts der Nr. 1 des Tenors dieses Urteils die erste Vorlagefrage aufrechterhalten wolle. Mit Beschluss vom 11. Februar 2015, der bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 19. Februar 2015 eingegangen ist, hat das Bundessozialgericht die erste Vorlagefrage für erledigt erklärt.
Zu den Vorlagefragen
Zur Einstufung der streitigen Leistungen
40 Ausweislich der dem Gerichtshof übermittelten Akten geht das vorlegende Gericht davon aus, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchende haben und dass es durch die diesbezüglichen Tatsachenfeststellungen des Tatsachengerichts gebunden ist.
41 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob eine nationale Regelung, die arbeitsuchende Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter Leistungen ausschließt, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, mit Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sowie mit Art. 18 AEUV und Art. 45 Abs. 2 AEUV vereinbar ist.
42 Anhand welcher Regel die entsprechende Vereinbarkeit zu beurteilen ist, hängt davon ab, ob sie als Leistungen der Sozialhilfe oder als Maßnahmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, einzustufen sind; daher ist ihre Einstufung erforderlich.
43 Insoweit genügt jedoch die Feststellung, dass das vorlegende Gericht selbst die im Ausgangsverfahren streitigen Leistungen als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 eingestuft hat. Es führt insoweit aus, dass diese Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts von Personen dienten, die ihn nicht selbst bestreiten könnten, und beitragsunabhängig durch Steuermittel finanziert würden. Da die betreffenden Leistungen auch in Anhang X der Verordnung Nr. 883/2004 erwähnt werden, erfüllen sie die Voraussetzungen von Art. 70 Abs. 2 dieser Verordnung, selbst wenn sie Teil eines Systems sind, das außerdem Leistungen zur Erleichterung der Arbeitsuche vorsieht.
44 Unbeschadet dessen ist darauf hinzuweisen, dass solche Leistungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch unter den Begriff „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 fallen. Dieser Begriff bezieht sich nämlich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (Urteil Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 63).
45 Im vorliegenden Fall ist im Übrigen festzustellen, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht, das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.
46 Aus diesen Erwägungen ergibt sich somit, dass die betreffenden Leistungen nicht als finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen, eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Vatsouras und Koupatantze, C‑22/08 und C‑23/08, EU:C:2009:344, Rn. 45), sondern als „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 anzusehen sind, wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 bis 71 seiner Schlussanträge festgestellt hat.
47 Daher ist die dritte Vorlagefrage nicht zu beantworten.
Zur zweiten Frage
48 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats Arbeit suchen, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
49 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt (Urteil Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 69).
50 Ließe man nämlich zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem im zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern (Urteil Dano, C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 74).
51 Um feststellen zu können, ob Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen auf der Grundlage der Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 verweigert werden dürfen, muss daher vorab geprüft werden, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie anwendbar ist, und damit, ob sich der betreffende Unionsbürger rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält.
52 Nur zwei Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 kommen in Betracht, Arbeitsuchenden in der Situation von Frau Alimanovic und ihrer Tochter Sonita möglicherweise ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat nach dieser Richtlinie zu verleihen, nämlich ihr Art. 7 Abs. 3 Buchst. c und ihr Art. 14 Abs. 4 Buchst. b.
53 Nach Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 bleibt einem Erwerbstätigen, wenn er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt, seine Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate aufrechterhalten. Während dieses Zeitraums behält der betreffende Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat sein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 dieser Richtlinie und kann sich folglich auf das in ihrem Art. 24 Abs. 1 verankerte Gleichbehandlungsgebot berufen.
54 Dementsprechend hat der Gerichtshof im Urteil Vatsouras und Koupatantze (C‑22/08 und C‑23/08, EU:C:2009:344, Rn. 32) entschieden, dass Unionsbürger, die die Erwerbstätigeneigenschaft gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 behalten haben, während des genannten Zeitraums von mindestens sechs Monaten Anspruch auf Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen haben.
55 Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge darlegt, ist indessen unbestritten, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita, denen die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate nach dem Ende ihrer letzten Beschäftigung erhalten blieb, diese Eigenschaft zu dem Zeitpunkt, zu dem ihnen die Gewährung der streitigen Leistungen versagt wurde, nicht mehr besaßen.
56 Hinsichtlich der Frage, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 für Unionsbürger, die sich in der Situation von Frau Alimanovic und ihrer Tochter Sonita befinden, ein Aufenthaltsrecht nach dieser Richtlinie begründen kann, ist dieser Vorschrift zu entnehmen, dass ein Unionsbürger, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, um Arbeit zu suchen, nicht ausgewiesen werden darf, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.
57 Zwar können Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita dem vorlegenden Gericht zufolge aus dieser Vorschrift auch nach Ablauf des in Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums für die Dauer des von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie abgedeckten Zeitraums ein Aufenthaltsrecht ableiten, das ihnen einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen verschafft; der Aufnahmemitgliedstaat kann sich in diesem Fall aber auf die Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie berufen, um dem betreffenden Unionsbürger die beantragte Sozialhilfe nicht zu gewähren.
58 Aus der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgenommenen Verweisung auf deren Art. 14 Abs. 4 Buchst. b ergibt sich nämlich ausdrücklich, dass der Aufnahmemitgliedstaat einem Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund der letztgenannten Vorschrift zusteht, jegliche Sozialhilfeleistung verweigern darf.
59 Zwar hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Mitgliedstaat die persönlichen Umstände des Betreffenden berücksichtigen muss, wenn er eine Ausweisung veranlassen oder feststellen will, dass diese Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursacht (Urteil Brey, C‑140/12, EU:C:2013:565, Rn. 64, 69 und 78); eine solche individuelle Prüfung ist aber bei einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens nicht erforderlich.
60 Die Richtlinie 2004/38, die ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft schafft, das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern soll, berücksichtigt nämlich selbst verschiedene Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit.
61 Das Kriterium, auf das sowohl § 7 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 2 Abs. 3 FreizügG/EU als auch Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 abstellen, nämlich ein Zeitraum von sechs Monaten nach Beendigung einer Erwerbstätigkeit, in dem der Anspruch auf Sozialhilfe aufrechterhalten bleibt, ermöglicht es den Betroffenen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erfassen; folglich ist es geeignet, bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen im Rahmen der Grundsicherung ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz zu gewährleisten, und steht zugleich im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
62 Was zudem die individuelle Prüfung angeht, mit der eine umfassende Beurteilung der Frage vorgenommen werden soll, welche Belastung die Gewährung einer Leistung konkret für das gesamte im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, ist festzustellen, dass die einem einzigen Antragsteller gewährte Hilfe schwerlich als „unangemessene Inanspruchnahme“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 eingestuft werden kann; eine solche Inanspruchnahme kann nämlich den betreffenden Mitgliedstaat nicht infolge eines einzelnen Antrags, sondern nur nach Aufsummierung sämtlicher bei ihm gestellten Einzelanträge belasten.
63 Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter„besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Kosten
64 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG und Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. September 2015.#João Filipe Ferreira da Silva e Brito u. a. gegen Estado português.#Vorabentscheidungsersuchen der Varas Cíveis de Lisboa.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen – Begriff des Betriebsübergangs – Pflicht, ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu stellen – Behaupteter Verstoß gegen das Unionsrecht durch ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können – Nationale Rechtsvorschriften, die den Anspruch auf Ersatz des Schadens, der durch einen solchen Verstoß entstanden ist, davon abhängig machen, dass die Entscheidung, die den Schaden verursacht hat, zuvor aufgehoben wurde.#Rechtssache C-160/14.
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62014CJ0160
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ECLI:EU:C:2015:565
| 2015-09-09T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0160
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
9. September 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Rechtsangleichung — Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen — Begriff des Betriebsübergangs — Pflicht, ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu stellen — Behaupteter Verstoß gegen das Unionsrecht durch ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können — Nationale Rechtsvorschriften, die den Anspruch auf Ersatz des Schadens, der durch einen solchen Verstoß entstanden ist, davon abhängig machen, dass die Entscheidung, die den Schaden verursacht hat, zuvor aufgehoben wurde“
In der Rechtssache C‑160/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von den Varas Cíveis de Lisboa (Portugal) mit Entscheidung vom 31. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 4. April 2014, in dem Verfahren
João Filipe Ferreira da Silva e Brito u. a.
gegen
Estado português
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und C. Lycourgos,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Februar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von J. F. Ferreira da Silva e Brito u. a., vertreten durch C. Góis Coelho, S. Estima Martins und R. Oliveira, advogados,
—
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und A. Fonseca Santos als Bevollmächtigte,
—
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und F.-X. Bréchot als Bevollmächtigte,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Varrone, avvocato dello Stato,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Enegren, M. França, M. Konstantinidis und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juni 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82, S. 16), von Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie von allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen J. F. Ferreira da Silva e Brito sowie 96 weiteren Personen einerseits und dem Estado português (Portugiesischer Staat) andererseits wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Unionsrecht, der dem Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof) zuzurechnen sei.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Richtlinie 2001/23 kodifiziert die Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26) in der durch die Richtlinie 98/50/EG des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. L 201, S. 88) geänderten Fassung.
4 Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/23 lautet:
„Aus Gründen der Rechtssicherheit und Transparenz war es erforderlich, den juristischen Begriff des Übergangs unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu klären. Durch diese Klärung wurde der Anwendungsbereich der Richtlinie 77/187/EWG gemäß der Auslegung durch den Gerichtshof nicht geändert.“
5 Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23 bestimmt:
„a)
Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar.
b)
Vorbehaltlich Buchstabe a) und der nachstehenden Bestimmungen dieses Artikels gilt als Übergang im Sinne dieser Richtlinie der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit.“
6 Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.“
Portugiesisches Recht
7 Art. 13 des Gesetzes Nr. 67/2007 vom 31. Dezember 2007 zur Regelung der außervertraglichen zivilrechtlichen Haftung des Staates und der sonstigen öffentlichen Körperschaften (Lei no 67/2007 – Aprova o Regime da Responsabilidade Civil Extracontratual do Estado e Demais Entidades Públicas) (Diário da República, Serie I, Nr. 251 vom 31. Dezember 2007, S. 91117) in der durch das Gesetz Nr. 31/2008 vom 17. Juli 2008 (Diário da República, Serie I, Nr. 137 vom 17. Juli 2008, S. 4454) geänderten Fassung (im Folgenden: RRCEE) sieht vor:
„1. Unbeschadet der Fälle unrichtiger strafrechtlicher Verurteilung und ungerechtfertigter Freiheitsberaubung haftet der Staat zivilrechtlich für die Schäden, die sich aus offensichtlich verfassungswidrigen oder rechtswidrigen oder aufgrund offenkundig fehlerhafter Beurteilung der tatsächlichen Umstände ungerechtfertigten gerichtlichen Entscheidungen ergeben.
2. Der Schadensersatzanspruch muss auf die vorherige Aufhebung der schädigenden Entscheidung durch das zuständige Gericht gestützt sein.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Am 19. Februar 1993 wurde die 1985 gegründete und im Bereich des Gelegenheitsflugverkehrs (Charterflüge) tätige Gesellschaft Air Atlantis SA (im Folgenden: AIA) aufgelöst. Dabei wurde den Klägern des Ausgangsverfahrens im Rahmen einer Massenentlassung gekündigt.
9 Ab dem 1. Mai 1993 begann die Gesellschaft TAP, die Hauptaktionärin von AIA war, einen Teil der Flüge auszuführen, zu deren Durchführung sich AIA für die Zeit vom 1. Mai bis zum 31. Oktober 1993 verpflichtet hatte. TAP führte auch eine Reihe von Charterflügen durch. Auf diesem Markt war sie bis dahin nicht tätig gewesen, da die betreffenden Routen zuvor von AIA bedient worden waren. Zu diesem Zweck verwendete TAP einen Teil der Betriebsausstattung, die AIA für ihre Tätigkeit verwendet hatte, insbesondere vier Flugzeuge. TAP trug auch die Zahlung der Raten, die nach den Leasingverträgen für diese Flugzeuge zu leisten waren, und übernahm die Büroausstattung von AIA, die diese in ihren Geschäftsräumen in Lissabon (Portugal) und Faro (Portugal) verwendete, sowie weitere bewegliche Gegenstände. Darüber hinaus stellte TAP eine Reihe ehemaliger Arbeitnehmer von AIA ein.
10 In der weiteren Folge fochten die Kläger des Ausgangsverfahrens mit einer Klage beim Tribunal do Trabalho de Lisboa (Arbeitsgericht Lissabon) die Massenentlassung, von der sie betroffen waren, an und beantragten Wiedereinstellung bei TAP sowie Zahlung ihrer Arbeitsvergütungen.
11 Mit Urteil vom 6. Februar 2007 gab das Tribunal do Trabalho de Lisboa der Klage bezüglich der Massenentlassung teilweise statt und ordnete die Wiedereinstellung der Kläger des Ausgangsverfahrens in die entsprechenden Kategorien sowie die Zahlung von Entschädigungen an. Es stellte im Ergebnis fest, dass zumindest teilweise ein Betriebsübergang vorliege, da die Identität des Betriebs bewahrt und seine Tätigkeiten fortgesetzt worden seien, wobei TAP in den Arbeitsverträgen an die Stelle des früheren Arbeitgebers getreten sei.
12 Auf die dagegen eingelegte Berufung hob das Tribunal da Relação de Lisboa (Berufungsgericht Lissabon) mit Urteil vom 16. Januar 2008 das erstinstanzliche Urteil, soweit TAP darin verurteilt worden war, die Kläger des Ausgangsverfahrens wieder einzustellen und ihnen Entschädigungen zu zahlen, mit der Begründung auf, dass das Recht, gegen die betreffende Massenentlassung zu klagen, erloschen sei.
13 Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten daraufhin Kassationsbeschwerde beim Supremo Tribunal de Justiça ein, das mit Urteil vom 25. Februar 2009 die Rechtswidrigkeit der Massenentlassung verneinte. Für den Übergang eines Betriebs genüge es nicht, wenn eine Geschäftstätigkeit „lediglich fortgesetzt“ werde, da es außerdem erforderlich sei, dass die Identität des Betriebs bewahrt werde. Im vorliegenden Fall habe sich TAP aber, als sie die in Rede stehenden Flüge im Sommer 1993 durchgeführt habe, nicht einer „Einheit“ bedient, die dieselbe Identität gehabt habe wie die früher zur AIA gehörende „Einheit“. Da zwischen diesen beiden „Einheiten“ keine Identität bestanden habe, könne nicht auf einen Betriebsübergang geschlossen werden.
14 Außerdem habe es keinen Übergang der Kundschaft von AIA auf TAP gegeben. Darüber hinaus sei AIA Inhaberin eines Betriebs gewesen, der an ein konkretes Gut gebunden gewesen sei, nämlich an eine Lizenz, die nicht übertragbar gewesen sei, so dass ein Betriebsübergang ausgeschlossen gewesen sei, da nur die einzelnen Gegenstände, nicht aber der Betrieb selbst hätten erworben werden können.
15 Bezüglich der Anwendung des Unionsrechts führte das Supremo Tribunal de Justiça aus, der Gerichtshof habe zu Fällen, in denen ein Unternehmen Tätigkeiten fortgesetzt habe, die bis dahin von einer anderen Gesellschaft ausgeübt worden seien, entschieden, dass dieser „bloße Umstand“ nicht den Schluss erlaube, dass der Übergang einer wirtschaftlichen Einheit vorliege, da „eine Einheit … nicht als bloße Tätigkeit verstanden werden [dürfe]“.
16 Auf Antrag mehrerer Kläger des Ausgangsverfahrens, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, stellte das Supremo Tribunal de Justiça fest, dass „die Verpflichtung der einzelstaatlichen Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Einholung einer Vorabentscheidung nur besteht, wenn diese Gerichte der Auffassung sind, dass die Anwendung des Unionsrechts zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits erforderlich ist und sich darüber hinaus eine Frage nach der Auslegung dieses Rechts stellt“. Außerdem gebe es unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Unionsvorschriften über den Betriebsübergang keinen „relevanten Auslegungszweifel“, der „ein Vorabentscheidungsersuchen gebieten würde“.
17 Nach Ansicht des Supremo Tribunal de Justiça hat der „Gerichtshof selbst … ausdrücklich festgestellt, dass die richtige Anwendung des [Unionsrechts] derart offenkundig sein kann, dass kein Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Antwort auf die aufgeworfene Frage bleibt, so dass auch in diesem Fall keine Verpflichtung zur Einholung einer Vorabentscheidung besteht. In Anbetracht des Inhalts der von den [Klägern des Ausgangsverfahrens] angeführten [unionsrechtlichen Bestimmungen], ihrer Auslegung durch den Gerichtshof und der berücksichtigten Umstände des … Falles gibt es keinen relevanten Auslegungszweifel, der ein Vorabentscheidungsersuchen gebieten würde.“
18 Im Übrigen habe „der Gerichtshof bereits eine umfassende und gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung von [Unions]vorschriften über den ‚Betriebsübergang‘ begründet. Dies geht so weit, dass in der Richtlinie 2001/23 bereits die Konsolidierung der Begriffe zum Ausdruck kommt, die infolge dieser Rechtsprechung in ihr verwendet werden. Diese Begriffe sind im Hinblick auf ihre Auslegung durch die Rechtsprechung (der Gemeinschafts- und auch der nationalen Gerichte) nunmehr so klar formuliert, dass im vorliegenden Fall ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof unnötig ist …“
19 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben sodann gegen den portugiesischen Staat Klage aus außervertraglicher Haftung auf Ersatz von ihnen entstandenen Vermögensschäden. Zur Begründung trugen sie vor, dass das Urteil des Supremo Tribunal de Justiça offensichtlich rechtswidrig sei, da der Begriff „Betriebsübergang“ im Sinne der Richtlinie 2001/23 falsch ausgelegt werde und das Supremo Tribunal de Justiça seiner Pflicht, dem Gerichtshof die entscheidungserheblichen Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, nicht nachgekommen sei.
20 Der portugiesische Staat machte geltend, gemäß Art. 13 Abs. 2 des RRCEE müsse die Schadensersatzklage auf die vorherige Aufhebung der schädigenden Entscheidung durch das zuständige Gericht gestützt sein. Da das Urteil des Supremo Tribunal de Justiça nicht aufgehoben worden sei, sei der beantragte Schadensersatz nicht zu leisten.
21 Das vorlegende Gericht führt aus, es müsse geklärt werden, ob das vom Supremo Tribunal de Justiça erlassene Urteil offensichtlich rechtswidrig sei und ob dieses Gericht den Begriff „Betriebsübergang“ im Licht der Richtlinie 2001/23 und in Anbetracht der ihm vorliegenden Sachverhaltselemente unzutreffend ausgelegt habe. Außerdem stelle sich noch die Frage, ob das Supremo Tribunal de Justiça verpflichtet gewesen sei, das beantragte Vorabentscheidungsersuchen zu stellen.
22 Unter diesen Umständen haben die Varas Cíveis de Lisboa (Zivilkammern von Lissabon) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Richtlinie 2001/23, insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1, dahin auszulegen, dass der Begriff „Betriebsübergang“ einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein auf dem Charterflugmarkt tätiges Unternehmen aufgrund einer Entscheidung seines Mehrheitsaktionärs, der ebenfalls ein im Luftverkehrssektor tätiges Unternehmen ist, aufgelöst wird, und bei dem das Mutterunternehmen im Kontext der Liquidation:
—
an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft in den Mietverträgen über Flugzeuge und den bestehenden Charterflugverträgen mit Reiseveranstaltern tritt;
—
zuvor von der aufgelösten Gesellschaft ausgeübte Tätigkeiten wahrnimmt;
—
einige der bis dahin an die aufgelöste Gesellschaft abgestellten Arbeitnehmer reintegriert und sie für identische Aufgaben einsetzt;
—
kleinere Ausrüstungsgegenstände der aufgelösten Gesellschaft übernimmt?
2. Ist Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass das Supremo Tribunal de Justiça in Anbetracht des in der ersten Frage geschilderten Sachverhalts und des Umstands, dass die nationalen Instanzgerichte, die mit der Sache befasst waren, sich widersprechende Entscheidungen erlassen haben, verpflichtet war, dem Gerichtshof eine Frage nach der zutreffenden Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 zur Vorabentscheidung vorzulegen?
3. Verstößt es gegen das Unionsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof im Urteil Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513) entwickelten Grundsätze zur Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts gegen das Unionsrecht entstanden sind, wenn eine nationale Bestimmung angewendet wird, nach der es für die Begründung eines Schadensersatzanspruchs gegen den Staat erforderlich ist, dass die schädigende Entscheidung zuvor aufgehoben wurde?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
23 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Betriebsübergang“ einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein auf dem Charterflugmarkt tätiges Unternehmen durch seinen Mehrheitsaktionär, der ebenfalls ein im Luftverkehrssektor tätiges Luftfahrtunternehmen ist, aufgelöst wird und im Anschluss daran der Mehrheitsaktionär an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft tritt und in die Mietverträge über Flugzeuge und die bestehenden Charterflugverträge eintritt sowie zuvor vom aufgelösten Unternehmen ausgeübte Tätigkeiten wahrnimmt, einige der bis dahin an dieses Unternehmen abgestellten Arbeitnehmer reintegriert und für Tätigkeiten einsetzt, die mit ihren vorherigen Aufgaben übereinstimmen, und kleinere Ausrüstungsgegenstände dieses Unternehmens übernimmt.
24 Für die Beantwortung dieser Frage ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die durch die Richtlinie 2001/23 kodifizierte Richtlinie 77/187 in allen Fällen anwendbar war, in denen die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche natürliche oder juristische Person, die die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten des Unternehmens eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt (vgl. Urteile Merckx und Neuhuys, C‑171/94 und C‑172/94, EU:C:1996:87, Rn. 28, Hernández Vidal u. a., C‑127/96, C‑229/96 und C‑74/97, EU:C:1998:594, Rn. 23, sowie Amatori u. a., C‑458/12, EU:C:2014:124, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Nach ständiger Rechtsprechung soll die Richtlinie 2001/23 die Kontinuität der im Rahmen einer wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse unabhängig von einem Inhaberwechsel gewährleisten. Entscheidend für einen Übergang im Sinne der Richtlinie ist daher, dass die betreffende Einheit ihre Identität bewahrt, was namentlich dann zu bejahen ist, wenn der Betrieb tatsächlich weitergeführt oder wieder aufgenommen wird (vgl. Urteile Spijkers, 24/85, EU:C:1986:127, Rn. 11 und 12, Güney-Görres und Demir, C‑232/04 und C‑233/04, EU:C:2005:778, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Amatori u. a., C‑458/12, EU:C:2014:124, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Für die Feststellung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs, der Übergang oder Nichtübergang der materiellen Aktiva wie Gebäude und bewegliche Güter, der Wert der immateriellen Aktiva zum Zeitpunkt des Übergangs, die Übernahme oder Nichtübernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, der Übergang oder Nichtübergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und der nach dem Übergang verrichteten Tätigkeit und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit. Diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und können deshalb nicht isoliert beurteilt werden (vgl. Urteile Spijkers, 24/85, EU:C:1986:127, Rn. 13, Redmond Stichting, C‑29/91, EU:C:1992:220, Rn. 24, Süzen, C‑13/95, EU:C:1997:141, Rn. 14, sowie Abler u. a., C‑340/01, EU:C:2003:629, Rn. 33).
27 Der Gerichtshof hat insbesondere darauf hingewiesen, dass den verschiedenen Kriterien notwendigerweise je nach der ausgeübten Tätigkeit und selbst nach den Produktions- oder Betriebsmethoden, die in dem betreffenden Unternehmen, Betrieb oder Betriebsteil angewendet werden, unterschiedliches Gewicht zukommt (vgl. Urteile Süzen, C‑13/95, EU:C:1997:141, Rn. 18, Hernández Vidal u. a., C‑127/96, C‑229/96 und C‑74/97, EU:C:1998:594, Rn. 31, Hidalgo u. a., C‑173/96 und C‑247/96, EU:C:1998:595, Rn. 31, sowie in diesem Sinne UGT‑FSP, C‑151/09, EU:C:2010:452, Rn. 28).
28 Die erste Vorlagefrage ist im Licht dieser sich aus der Rechtsprechung ergebenden Vorgaben sowie unter Berücksichtigung der vom nationalen Gericht in der Vorlageentscheidung genannten wesentlichen tatsächlichen Gesichtspunkte und insbesondere des Wortlauts dieser ersten Frage zu beurteilen.
29 Zunächst ist hervorzuheben, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, der den Luftverkehrssektor betrifft, der Übergang von Material als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Vorliegens eines Betriebsübergangs im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Liikenne, C‑172/99, EU:C:2001:59, Rn. 39).
30 Insoweit ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass TAP in den Mietverträgen über Flugzeuge an die Stelle von AIA getreten ist und diese Flugzeuge tatsächlich genutzt hat, was die Übernahme von Teilen belegt, die für die Fortsetzung der zuvor von AIA ausgeübten Tätigkeit unerlässlich waren. Darüber hinaus wurde eine Reihe weiterer Ausrüstungsgegenstände übernommen.
31 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 48, 51, 53, 56 und 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sprechen weitere Gesichtspunkte im Hinblick auf die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien dafür, dass es sich im Ausgangsverfahren um einen Betriebsübergang im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 handelt. Das Gleiche gilt für den Eintritt von TAP anstelle von AIA in die bestehenden Charterflugverträge mit Reiseveranstaltern, der zum Ausdruck bringt, dass die Kundschaft von AIA durch TAP übernommen wurde, dass TAP Charterflüge auf Routen ausgeweitet hat, die zuvor von AIA bedient wurden, was die Fortsetzung der zuvor von AIA ausgeübten Tätigkeit durch TAP widerspiegelt, dass zuvor zu AIA abgestellte Arbeitnehmer bei TAP reintegriert wurden, um sie für Tätigkeiten einzusetzen, die mit ihren vorherigen Aufgaben bei AIA übereinstimmen, was die Übernahme eines Teils des Personals, das für AIA tätig war, durch TAP zeigt, und schließlich dass TAP bereits am 1. Mai 1993 einen Teil der von AIA bis zu ihrer Auflösung im Februar 1993 durchgeführten Charterflugtätigkeiten übernommen hat, was belegt, dass die übertragenen Tätigkeiten praktisch nicht unterbrochen worden sind.
32 Unter diesen Umständen ist es für die Anwendung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 nicht relevant, dass die Einheit, von der Material und ein Teil des Personals übernommen wurden, ohne Beibehaltung ihrer eigenständigen Organisationsstruktur in die Struktur von TAP eingegliedert wurde, da eine Verbindung zwischen dem auf TAP übergegangenen Material und Personal einerseits und der Fortführung der zuvor von der aufgelösten Gesellschaft ausgeübten Tätigkeiten andererseits besteht. Bei dieser Sachlage ist es unerheblich, dass das betreffende Material für die Durchführung sowohl von Linienflügen als auch von Charterflügen verwendet wurde, da es sich jedenfalls um Lufttransporte handelte und TAP die vertraglichen Verpflichtungen von AIA bezüglich dieser Charterflüge erfüllt hat.
33 Aus den Rn. 46 und 47 des Urteils Klarenberg (C‑466/07, EU:C:2009:85) geht nämlich hervor, dass nicht die Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität des übertragenen Unternehmens darstellt.
34 So erlaubt es die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen (vgl. Urteil Klarenberg, C‑466/07, EU:C:2009:85, Rn. 48).
35 Aus diesen Erwägungen folgt, dass auf die erste Frage zu antworten ist, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Betriebsübergang“ einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein auf dem Charterflugmarkt tätiges Unternehmen durch seinen Mehrheitsaktionär, der ebenfalls ein im Luftverkehrssektor tätiges Luftfahrtunternehmen ist, aufgelöst wird und im Anschluss daran der Mehrheitsaktionär an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft tritt und in die Mietverträge über Flugzeuge und die bestehenden Charterflugverträge eintritt sowie zuvor vom aufgelösten Unternehmen ausgeübte Tätigkeiten wahrnimmt, einige der bis dahin an dieses Unternehmen abgestellten Arbeitnehmer reintegriert und für Tätigkeiten einsetzt, die mit ihren vorherigen Aufgaben übereinstimmen, und kleinere Ausrüstungsgegenstände dieses Unternehmens übernimmt.
Zur zweiten Frage
36 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob unter Berücksichtigung von Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens und insbesondere aufgrund des Umstands, dass die Vorinstanzen gegensätzliche Entscheidungen zur Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 erlassen haben, Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, grundsätzlich verpflichtet ist, den Gerichtshof um Auslegung dieses Begriffs zu ersuchen.
37 Auch wenn das Verfahren nach Art. 267 AEUV ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen, so ist doch ein einzelstaatliches Gericht, sofern gegen seine Entscheidung kein Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben ist, grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts stellt (vgl. Urteil Consiglio nazionale dei geologi und Autorità garante della concorrenza e del mercato, C‑136/12, EU:C:2013:489, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Zum Umfang dieser Pflicht ergibt sich aus der seit der Verkündung des Urteils Cilfit u. a. (283/81, EU:C:1982:335) gefestigten Rechtsprechung, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Vorlagepflicht nachkommen muss, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine unionsrechtliche Frage stellt, es sei denn, es hat festgestellt, dass die aufgeworfene Frage nicht relevant ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits vom Gerichtshof ausgelegt wurde oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt.
39 Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist danach unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen (Urteil Intermodal Transports, C‑495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33).
40 Zwar bleibt es allein dem nationalen Gericht überlassen, zu beurteilen, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, und demgemäß davon abzusehen, dem Gerichtshof eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen (vgl. Urteil Intermodal Transports, C‑495/03, EU:C:2005:552, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Insoweit kann das bloße Vorliegen sich widersprechender Entscheidungen anderer einzelstaatlicher Gerichte kein ausschlaggebendes Kriterium für das Bestehen der in Art. 267 Abs. 3 AEUV genannten Pflicht darstellen.
42 Das letztinstanzliche Gericht kann nämlich in Bezug auf eine unionsrechtliche Bestimmung der Ansicht sein, dass ungeachtet einer bestimmten Auslegung, zu der Instanzgerichte gelangt sind, die davon verschiedene Auslegung, die es vorzunehmen beabsichtigt, ohne jeden vernünftigen Zweifel geboten ist.
43 Es ist jedoch hervorzuheben, dass, hinsichtlich des im vorliegenden Fall betrachteten Bereichs, wie sich aus den Rn. 24 bis 27 des vorliegenden Urteils ergibt, die Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ zu zahlreichen Fragen einer Vielzahl nationaler Gerichte geführt hat, die sich gezwungen sahen, den Gerichtshof anzurufen. Diese Fragen belegen nicht nur das Vorhandensein von Auslegungsschwierigkeiten, sondern auch, dass auf Unionsebene die Gefahr von Divergenzen in der Rechtsprechung besteht.
44 Daraus folgt, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, die sowohl durch sich widersprechende Strömungen in der Rechtsprechung zum Begriff „Betriebsübergang“ im Sinne der Richtlinie 2001/23 auf nationaler Ebene als auch durch immer wieder auftretende Schwierigkeiten bei der Auslegung dieses Begriffs in den verschiedenen Mitgliedstaaten gekennzeichnet sind, ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs nachkommen muss, um die Gefahr einer fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts auszuschließen.
45 Aus diesen Erwägungen folgt, dass auf die zweite Frage zu antworten ist, dass Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, die sowohl durch gegensätzliche Entscheidungen der Vorinstanzen in Bezug auf die Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 als auch durch immer wieder auftretende Schwierigkeiten bei seiner Auslegung in den verschiedenen Mitgliedstaaten gekennzeichnet sind, verpflichtet ist, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Begriffs zu ersuchen.
Zur dritten Frage
46 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze im Bereich der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, die ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, begangen hat, dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils dieses Gerichts verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist.
47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Anbetracht der entscheidenden Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert wäre, wenn der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen dann keine Entschädigung erlangen könnte, wenn seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verletzt werden, der einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats zuzurechnen ist (vgl. Urteil Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 33).
48 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob Art. 13 Abs. 2 des RRCEE, wonach der Schadensersatzanspruch auf die vorherige Aufhebung der schädigenden Entscheidung durch das zuständige Gericht „gestützt sein [muss]“, mit diesen Grundsätzen vereinbar ist.
49 Aus dieser Bestimmung folgt, dass jede Staatshaftungsklage wegen Verletzung der in Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Pflicht unzulässig ist, solange die schädigende Entscheidung nicht aufgehoben ist.
50 Sind die Voraussetzungen für die Haftung des Staates erfüllt, was festzustellen Sache der nationalen Gerichte ist, hat der Staat die Folgen des entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Rechts zu beheben, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen weder weniger günstig sein dürfen als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), noch so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. Urteil Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Eine nationalrechtliche Bestimmung wie Art. 13 Abs. 2 des RRCEE kann die Erlangung von Schadensersatz wegen Verletzung des in Rede stehenden Unionsrechts aber übermäßig erschweren.
52 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten sowie den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung ergibt sich nämlich, dass Entscheidungen des Supremo Tribunal de Justiça nur in äußerst beschränkten Fällen überprüft werden können.
53 Die portugiesische Regierung macht insoweit geltend, dass die betreffende Bestimmung des nationalen Rechts den Anliegen Rechnung trage, die dem Grundsatz der Rechtskraft und dem Grundsatz der Rechtssicherheit zugrunde lägen. Insbesondere sei in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fall eine Überprüfung der Beurteilung, die ein letztinstanzliches Rechtsprechungsorgan vorgenommen habe, nicht vereinbar mit dessen Funktion, da der Zweck, der mit seinen Entscheidungen verfolgt werde, darin bestehe, den Rechtsstreit endgültig beizulegen. Andernfalls hieße dies, dass durch Schwächung der hierarchischen Gliederung der Judikative der Vorrang des Rechts und die Beachtung gerichtlicher Entscheidungen in Frage gestellt würden.
54 Es trifft zu, dass der Gerichtshof die Bedeutung, die der Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen hat, hervorgehoben und dabei klargestellt hat, dass, da hierzu unionsrechtliche Vorschriften fehlen, es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung dieser Staaten ist, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 22 und 24).
55 Zu den Auswirkungen des Grundsatzes der Rechtskraft auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fall genügt der Hinweis darauf, dass die Anerkennung des Grundsatzes der Staatshaftung für Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte die mit einer solchen Entscheidung verknüpfte Rechtskraft nicht in Frage stellt. Ein Verfahren zur Feststellung der Haftung des Staates hat nicht denselben Gegenstand und nicht zwangsläufig dieselben Parteien wie das Verfahren, das zu der rechtskräftigen Entscheidung geführt hat. Obsiegt nämlich der Kläger mit einer gegen den Staat gerichteten Haftungsklage, so erlangt er dessen Verurteilung zum Ersatz des entstandenen Schadens, aber er erlangt nicht zwangsläufig die Aufhebung der Rechtskraft dieser Gerichtsentscheidung, die den Schaden verursacht hat. Jedenfalls verlangt der der Unionsrechtsordnung innewohnende Grundsatz der Staatshaftung eine solche Entschädigung, nicht aber die Abänderung der schadensbegründenden Gerichtsentscheidung (vgl. Urteil Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 39).
56 Zum Argument der Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz, selbst wenn er in einer rechtlichen Konstellation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu berücksichtigen wäre, den Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, keineswegs außer Kraft setzen kann.
57 Eine Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit hätte nämlich zur Folge, dass, wenn eine Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts auf einer offensichtlich fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts beruht, der Einzelne daran gehindert wäre, die Rechte, die sich für ihn aus der Unionsrechtsordnung ergeben, und insbesondere diejenigen, die aus dem Grundsatz der Staatshaftung folgen, geltend zu machen.
58 Der Grundsatz der Staatshaftung wohnt aber dem System der Verträge inne, auf denen die Union beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Daher kann ein beträchtliches Hindernis – wie dasjenige, das sich aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalrechtlichen Bestimmung ergibt – für die wirksame Anwendung des Unionsrechts und insbesondere eines so tragenden Grundsatzes wie dem der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Unionsrecht weder durch den Grundsatz der Rechtskraft noch durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt sein.
60 Aus diesen Erwägungen folgt, dass auf die dritte Frage zu antworten ist, dass das Unionsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze im Bereich der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, die ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, begangen hat, dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils dieses Gerichts verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist.
Kosten
61 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Betriebsübergang“ einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein auf dem Charterflugmarkt tätiges Unternehmen durch seinen Mehrheitsaktionär, der ebenfalls ein im Luftverkehrssektor tätiges Luftfahrtunternehmen ist, aufgelöst wird und im Anschluss daran der Mehrheitsaktionär an die Stelle der aufgelösten Gesellschaft tritt und in die Mietverträge über Flugzeuge und die bestehenden Charterflugverträge eintritt sowie zuvor vom aufgelösten Unternehmen ausgeübte Tätigkeiten wahrnimmt, einige der bis dahin an dieses Unternehmen abgestellten Arbeitnehmer reintegriert und für Tätigkeiten einsetzt, die mit ihren vorherigen Aufgaben übereinstimmen, und kleinere Ausrüstungsgegenstände dieses Unternehmens übernimmt.
2. Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, die sowohl durch gegensätzliche Entscheidungen der Vorinstanzen in Bezug auf die Auslegung des Begriffs „Betriebsübergang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 als auch durch immer wieder auftretende Schwierigkeiten bei seiner Auslegung in den verschiedenen Mitgliedstaaten gekennzeichnet sind, verpflichtet ist, den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Begriffs zu ersuchen.
3. Das Unionsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze im Bereich der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, die ein Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, begangen hat, sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die als Vorbedingung eine Aufhebung des schädigenden Urteils dieses Gerichts verlangen, obwohl eine solche Aufhebung in der Praxis ausgeschlossen ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Portugiesisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. September 2015.#Daniel Unland gegen Land Berlin.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Berlin.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst c und Art. 6 Abs. 1 – Unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters – Grundgehalt der Richter – Überleitungsregelung – Überleitung und weiterer Aufstieg – Perpetuierung des Gehaltsunterschieds – Rechtfertigungsgründe.#Rechtssache C-20/13.
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62013CJ0020
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ECLI:EU:C:2015:561
| 2015-09-09T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0020
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
9. September 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Richtlinie 2000/78/EG — Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf — Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst c und Art. 6 Abs. 1 — Unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters — Grundgehalt der Richter — Überleitungsregelung — Überleitung und weiterer Aufstieg — Perpetuierung des Gehaltsunterschieds — Rechtfertigungsgründe“
In der Rechtssache C‑20/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Dezember 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Januar 2013, in dem Verfahren
Daniel Unland
gegen
Land Berlin
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter), J. L. da Cruz Vilaça und C. Lycourgos,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. April 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Unland, vertreten durch Rechtsanwalt M. Quaas,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Maxian Rusche, D. Martin und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen und seine Ergänzung betreffen die Auslegung von Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16).
2 Das Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Unland und dem Land Berlin wegen der Modalitäten der Überleitung und des Aufstiegs der Berliner Landesrichter in der für sie geltenden neuen Besoldungsordnung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Gemäß Art. 1 der Richtlinie 2000/78 ist „Zweck dieser Richtlinie … die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“.
4 Art. 2 der Richtlinie sieht vor:
(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a)
liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
…“
5 Nach Abs. 1 Buchst. c ihres Art. 3 („Geltungsbereich“) gilt die Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, u. a. in Bezug auf „die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts“.
6 In Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:
„Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:
a)
die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;
b)
die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;
…“
7 Nach Art. 16 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwiderlaufen, aufgehoben werden.
Deutsches Recht
Altes Bundesbesoldungsgesetz
8 Das Bundesbesoldungsgesetz in der am 31. August 2006 geltenden Fassung (im Folgenden: BBesG a. F.) galt für Bundesbeamte und Bundesrichter bis zum 30. Juni 2011 sowie in der Überleitungsfassung für Berlin (im Folgenden: BBesG Bln a. F.) für die Beamten und Richter des Landes Berlin bis zum 31. Juli 2011.
9 § 38 („Bemessung des Grundgehalts“) BBesG a. F. bestimmte:
„(1) Das Grundgehalt wird, soweit die Besoldungsordnung nicht feste Gehälter vorsieht, nach Lebensaltersstufen bemessen. Der in der Lebensaltersstufe ausgewiesene Grundgehaltssatz steht vom Ersten des Monats an zu, in dem das maßgebende Lebensjahr vollendet wird.
(2) Wird der Richter oder Staatsanwalt nach Vollendung des 35. Lebensjahres eingestellt, wird für die Berechnung des Grundgehaltes ein Lebensalter zugrunde gelegt, das um die Hälfte der vollen Lebensjahre vermindert ist, die der Richter oder Staatsanwalt seit Vollendung des 35. Lebensjahres bis zu dem bei der Einstellung vollendeten Lebensjahr zurückgelegt hat. …
(3) Richter und Staatsanwälte, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erhalten das Anfangsgrundgehalt ihrer Besoldungsgruppe so lange, bis sie das für das Aufsteigen in den Lebensaltersstufen vorgesehene Lebensalter vollendet haben.
(4) Das Lebensalter wird, vorbehaltlich des Absatzes 2 Satz 2 und 3, um die Hälfte der Zeit nach Vollendung des 35. Lebensjahres, in der kein Anspruch auf Besoldung bestand, hinausgeschoben. …“
Neues Besoldungsgesetz für die Beamten des Landes Berlin
10 Gemäß dem Gesetz zur Besoldungsneuregelung für das Land Berlin (Berliner Besoldungsneuregelungsgesetz – BerlBesNG) vom 29. Juni 2011 gelten für die Richter dieses Landes, die am 1. August 2011 bereits ernannt waren (im Folgenden: Bestandsrichter), und für die Richter, die nach diesem Zeitpunkt in den Dienst dieses Landes getreten sind (im Folgenden: Neurichter), unterschiedliche Vorschriften.
– Besoldungsregelung für Neurichter auf Landesebene
11 Mit Art. I § 1 BerlBesNG wurde das BBesG Bln a. F. geändert. Für die Besoldung der Neurichter gilt dieses Gesetz also in seiner neuen Fassung (im Folgenden: BBesG Bln n. F.). Seine maßgeblichen Vorschriften lauten wie folgt:
„§ 38 Bemessung des Grundgehalts
(1) Das Grundgehalt der Richter und Staatsanwälte wird, soweit die Besoldungsordnung nicht feste Gehälter vorsieht, nach Stufen bemessen. Der Aufstieg in eine nächsthöhere Stufe erfolgt nach Erfahrungszeiten.
(2) Mit der ersten Ernennung mit Anspruch auf Dienstbezüge im Anwendungsbereich dieses Gesetzes wird grundsätzlich ein Grundgehalt der Stufe 1 festgesetzt, soweit nicht nach § 38a Absatz 1 Zeiten anerkannt werden. Die Stufe wird durch schriftlichen Verwaltungsakt mit Wirkung vom ersten Tag des Monats festgesetzt, in dem die Ernennung wirksam wird.
(3) Das Grundgehalt steigt nach Erfahrungszeiten von drei Jahren in der Stufe 1, von jeweils zwei Jahren in den Stufen 2 bis 4 und von jeweils drei Jahren in den Stufen 5 bis 7. Zeiten ohne Anspruch auf Dienstbezüge verzögern den Aufstieg um diese Zeiten, soweit in § 38a Absatz 2 nicht etwas anderes bestimmt ist. …
…“
– Besoldungsregelung für die Bestandsrichter
12 Gemäß Art. II § 1 BerlBesNG regelt das Berliner Besoldungsüberleitungsgesetz (BerlBesÜG) vom 29. Juni 2011 die Modalitäten der Überleitung der Bestandsrichter in das neue System sowie die für diese Richter geltenden Übergangsmaßnahmen.
13 § 2 („Zuordnung zu den Stufen und Überleitungsstufen des Grundgehaltes in den Besoldungsgruppen der Besoldungsordnungen A“) BerlBesÜG bestimmt:
„(1) Beamtinnen und Beamte werden am 1. August 2011 auf der Grundlage des am 31. Juli 2011 maßgeblichen Amtes mit dem Grundgehalt, das ihnen gemäß dem Gesetz zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung für Berlin 2010/2011 vom 8. Juli 2010 (GVBl. S. 362, 2011 S. 158) am 1. August 2011 zustehen würde, nach Maßgabe der folgenden Absätze den Stufen oder Überleitungsstufen des Grundgehaltes der Anlage 3 des [BerlBesNG] zugeordnet. Satz 1 gilt entsprechend für Beurlaubte ohne Anspruch auf Dienstbezüge; bei ihnen ist für die Zuordnung das Amt mit dem Grundgehalt zugrunde zu legen, das bei einer Beendigung der Beurlaubung am 31. Juli 2011 maßgebend wäre.
(2) Die Zuordnung erfolgt nach Maßgabe des Absatzes 1 zu der Stufe oder Überleitungsstufe, die dem auf den vollen Euro-Betrag aufgerundeten Grundgehalt entspricht. Ist eine Zuordnung nach Satz 1 nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu der Stufe oder Überleitungsstufe … mit dem nächsthöheren Betrag.“
14 § 5 („Zuordnung zu den Stufen und Überleitungsstufen des Grundgehaltes in den Besoldungsgruppen R 1 und R 2“) BerlBesÜG bestimmt:
„Empfängerinnen und Empfänger von Dienstbezügen nach der Besoldungsgruppe R 1 oder R 2 werden auf der Grundlage des am 31. Juli 2011 maßgebenden Amtes mit dem Grundgehalt, das ihnen gemäß dem Gesetz zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung für Berlin 2010/2011 am 1. August 2011 zustehen würde, den Stufen oder Überleitungsstufen des Grundgehaltes der Anlage 4 des [BerlBesNG] zugeordnet. § 2 Absatz 1 Satz 2 sowie die Absätze 2 bis 4 gelten entsprechend.“
15 § 6 BerlBesÜG, der den weiteren Aufstieg betrifft, bestimmt:
„(1) Bei der Zuordnung zu einer Stufe des Grundgehaltes der Anlage 4 des [BerlBesNG] auf der Grundlage des Grundgehaltes ab der Lebensaltersstufe 3 der Besoldungsgruppen R 1 und R 2, das gemäß dem Gesetz zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung für Berlin 2010/2011 am 1. August 2011 zustehen würde, wird die nächsthöhere, bei der Zuordnung zu einer Überleitungsstufe des Grundgehaltes der Anlage 4 wird die dazugehörige Stufe zu dem Zeitpunkt erreicht, zu dem die nächsthöhere Lebensaltersstufe nach § 38 Absatz 1 [BBesG Bln a. F.] erreicht worden wäre. Mit diesem Aufstieg beginnt die maßgebende Erfahrungszeit nach § 38 Absatz 1 Satz 2 [BBesG Bln n. F.].
(2) Abweichend von Absatz 1 beginnt die maßgebende Erfahrungszeit nach § 38 Absatz 1 Satz 2 [BBesG Bln n. F.] bei der Zuordnung auf der Grundlage des Grundgehaltes nach den Lebensaltersstufen 1 und 2 der Besoldungsgruppe R 1, das gemäß dem Gesetz zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung für Berlin 2010/2011 am 1. August 2011 zustehen würde, mit der Zuordnung zur Stufe 1 des Grundgehaltes der Anlage 4 des [BerlBesNG].
(3) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 werden bei der Zuordnung zur Überleitungsstufe zu Stufe 4 oder bei der Zuordnung zu den der Überleitungsstufe zu Stufe 4 folgenden Stufen oder Überleitungsstufen die Erfahrungszeiten ab der Stufe 5 um je ein Jahr verkürzt.
(4) Abweichend von Absatz 1 wird bei der Zuordnung zur Stufe 1 der Anlage 4 des [BerlBesNG] in den in Absatz 2 geregelten Fällen sowie bei der Zuordnung zur Stufe 2 der Anlage 4 des [BerlBesNG] auf der Grundlage des Grundgehaltes der Lebensaltersstufe 4 der Besoldungsgruppe R 1, das gemäß dem Gesetz zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung für Berlin 2010/2011 am 1. August 2011 zustehen würde, die Erfahrungszeit in der Stufe 4 um ein Jahr verlängert.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16 Herr Unland, geboren am 19. Februar 1976, ist Richter im Dienst des Landes Berlin. Er wurde mit 29 Jahren unter der Geltung des BBesG a. F. eingestellt und am 1. August 2011 nach den Bestimmungen des BerlBesÜG in das neue Besoldungssystem übergeleitet.
17 Mit Schreiben vom 17. Dezember 2009 beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens beim Land Berlin, ihn rückwirkend für die noch nicht verjährte Zeit aus der höchsten Stufe seiner Besoldungsgruppe zu besolden. Dies lehnte die Zentrale Besoldungs- und Vergütungsstelle der Justiz mit Bescheid vom 12. Januar 2010 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers des Ausgangsverfahrens wies die Präsidentin des Kammergerichts anschließend mit Widerspruchsbescheid vom 7. Mai 2010 ebenfalls zurück.
18 Sodann erhob der Kläger am 5. Juni 2010 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland), mit der er geltend machte, durch die Besoldungsregelung, bei der das Lebensalter Berücksichtigung finde, wegen des Alters diskriminiert zu werden. Er ist u. a. der Auffassung, dass nicht nur das BBesG a. F., sondern auch die Modalitäten der Überleitung in das neue Besoldungssystem gegen das Unionsrecht verstießen, und beantragt daher, ihn nach der höchsten Stufe seiner Besoldungsgruppe zu besolden. Er beantragt diese Besoldung für die Zukunft und als Nachzahlung für die Zeit bis mindestens 2009 auch rückwirkend.
19 Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelungen mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der Richtlinie 2000/78, vereinbar sind, da sie zu einer nach dieser Richtlinie verbotenen Diskriminierung wegen des Alters führen könnten.
20 Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Berlin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist europäisches Primär- und/oder Sekundärrecht, hier insbesondere die Richtlinie 2000/78, im Sinne eines umfassenden Verbots ungerechtfertigter Diskriminierung wegen des Alters so auszulegen, dass es auch nationale Normen über die Besoldung der Landesrichter erfasst?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird: Ergibt die Auslegung dieses europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts, dass eine nationale Vorschrift, nach der die Höhe des Grundgehalts eines Richters bei Begründung des Richterverhältnisses und der spätere Anstieg dieses Grundgehalts von seinem Lebensalter abhängt, eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen des Alters darstellt?
3. Falls auch die Frage 2 bejaht wird: Steht die Auslegung dieses europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts der Rechtfertigung einer solchen nationalen Vorschrift mit dem gesetzgeberischen Ziel entgegen, die Berufserfahrung und/oder die soziale Kompetenz zu honorieren?
4. Falls auch die Frage 3 bejaht wird: Lässt die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts, solange keine Implementierung eines diskriminierungsfreien Besoldungsrechts erfolgt ist, eine andere Rechtsfolge zu, als die Diskriminierten rückwirkend gemäß der höchsten Besoldungsstufe ihrer Besoldungsgruppe zu besolden?
Ergibt sich die Rechtsfolge des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot dabei aus dem europäischen Primär- und/oder Sekundärrecht, hier insbesondere aus der Richtlinie 2000/78, selbst, oder folgt der Anspruch nur aus dem Gesichtspunkt mangelhafter Umsetzung europarechtlicher Vorgaben nach dem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch?
5. Steht die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts einer nationalen Maßnahme entgegen, den (Nach‑)Zahlungs- oder Schadensersatzanspruch davon abhängig zu machen, dass die Richter ihn zeitnah geltend gemacht haben?
6. Falls die Fragen 1 bis 3 bejaht werden: Ergibt die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts, dass ein Überleitungsgesetz, mit dem die Bestandsrichter allein nach dem Betrag ihres gemäß dem alten (diskriminierenden) Besoldungsrecht zum Überleitungsstichtag erworbenen Grundgehalts einer Stufe des neuen Systems zugeordnet werden und nach welchem sich der weitere Aufstieg in höhere Stufen sodann unabhängig von der absoluten Erfahrungszeit des Richters im Wesentlichen nach den seit Inkrafttreten des Überleitungsgesetzes hinzugewonnenen Erfahrungszeiten bemisst, eine – bis zum jeweiligen Erreichen der höchsten Besoldungsstufe fortdauernde – Perpetuierung der bestehenden Altersdiskriminierung darstellt?
7. Falls auch die Frage 6 bejaht wird: Steht die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts einer Rechtfertigung dieser unbegrenzt fortdauernden Ungleichbehandlung mit dem gesetzgeberischen Ziel entgegen, nach welchem mit dem Überleitungsgesetz nicht (nur) der zum Überleitungsstichtag bestehende Besitzstand der Bestandsrichter, sondern (auch) die Erwartung des ihnen nach dem alten Besoldungsrecht prognostisch zugewendeten Lebenseinkommens in der jeweiligen Besoldungsgruppe geschützt und Neurichter besser als Bestandsrichter besoldet werden sollen?
Lässt sich die fortdauernde Diskriminierung der Bestandsrichter dadurch rechtfertigen, dass die Regelungsalternative (individuelle Einstufung auch der Bestandsrichter nach Erfahrungszeiten) mit einem erhöhten Verwaltungsaufwand verbunden wäre?
8. Falls in Frage 7 eine Rechtfertigung verneint wird: Lässt die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts, solange keine Implementierung eines diskriminierungsfreien Besoldungsrechts auch für die Bestandsrichter erfolgt ist, eine andere Rechtsfolge zu, als die Bestandsrichter rückwirkend und fortlaufend gemäß der höchsten Besoldungsstufe ihrer Besoldungsgruppe zu besolden?
9. Falls die Fragen 1 bis 3 bejaht werden und die Frage 6 verneint wird: Ergibt die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts, dass eine Regelung in einem Überleitungsgesetz, die Bestandsrichtern, welche zum Zeitpunkt der Überleitung ein bestimmtes Lebensalter erreicht hatten, ab einer bestimmten Gehaltsstufe einen schnelleren Gehaltsanstieg verschafft als den zum Überleitungsstichtag jüngeren Bestandsrichtern, eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen des Alters darstellt?
10. Falls die Frage 9 bejaht wird: Steht die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts einer Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung mit dem gesetzgeberischen Ziel entgegen, nach welchem nicht der zum Überleitungsstichtag bestehende Besitzstand, sondern ausschließlich die Erwartung des nach dem alten Besoldungsrecht prognostisch zugewendeten Lebenseinkommens in der jeweiligen Besoldungsgruppe geschützt werden soll?
11. Falls in Frage 10 eine Rechtfertigung verneint wird: Lässt die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts, solange keine Implementierung eines diskriminierungsfreien Besoldungsrechts auch für die Bestandsrichter erfolgt ist, eine andere Rechtsfolge zu, als allen Bestandsrichtern rückwirkend und fortlaufend denselben Gehaltsanstieg zu verschaffen wie den in Frage 9 genannten privilegierten Richtern?
21 Mit Schreiben vom 25. Juni 2014 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht eine Kopie des Urteils Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005) übermittelt und es gebeten, anzugeben, ob es im Licht dieses Urteils seine Vorlagefragen aufrechterhalte.
22 Mit Beschluss vom 19. Dezember 2014, der am 29. Dezember 2014 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht mitgeteilt, dass es seine Fragen aufrechterhalte, und die dritte Frage wie folgt umformuliert:
Falls auch die Frage 2 bejaht wird: Steht die Auslegung des europäischen Primär- und/oder Sekundärrechts der Rechtfertigung einer solchen nationalen Vorschrift entgegen?
23 Der Gerichtshof hat daher auf alle ursprünglich gestellten Fragen, darunter die dritte, umformulierte Frage, zu antworten.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
24 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Richterbesoldung in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.
25 Diese Frage bezieht sich auf den sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78.
26 Was den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie betrifft, fragt das vorlegende Gericht nach dem Zusammenhang zwischen Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie, wonach sie im Rahmen der auf die Europäische Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen gilt, wobei dieser Ausdruck u. a. die Entlassungsbedingungen und das Arbeitsentgelt umfasst, und Art. 153 Abs. 5 AEUV, der eine Ausnahme von der Zuständigkeit der Union im Bereich der Sozialpolitik vorsieht, die darin besteht, dass die Union nicht ermächtigt ist, im Bereich des Arbeitsentgelts tätig zu werden.
27 Wie der Gerichtshof im Urteil Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 34 und 35) festgestellt hat, ist der Begriff „Arbeitsentgelt“ im Sinne von Art. 153 Abs. 5 AEUV anders zu verstehen als der Begriff „Arbeitsentgelt“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78, da der letztgenannte Begriff zu den Beschäftigungsbedingungen gehört und nicht unmittelbar die Festlegung der Höhe des Arbeitsentgelts betrifft. Daher dürfen die nationalen Regeln für die Modalitäten der Zuordnung zu den Besoldungsgruppen und Besoldungsstufen nicht dem sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78 entzogen werden.
28 Was den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78 betrifft, genügt der Hinweis auf ihren Art. 3 Abs. 1 Buchst. c, der ausdrücklich vorsieht, dass sie u. a. für alle Personen in öffentlichen Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, gilt. Ferner steht fest, dass das Richteramt zum öffentlichen Bereich gehört.
29 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Besoldungsbedingungen der Richter in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
Zur zweiten und zur dritten Frage
30 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen sich die Grundgehaltsstufe eines Richters innerhalb der jeweiligen Besoldungsgruppe bei seiner Einstellung nach seinem Lebensalter richtet.
31 Neben § 38 Abs. 1 BBesG a. F., nach dem das Grundgehalt nach Lebensaltersstufen bemessen wird, ergibt sich aus Abs. 2 dieser Vorschrift, dass dann, wenn der Richter oder Staatsanwalt nach Vollendung des 35. Lebensjahrs eingestellt wird, für die Berechnung des Grundgehalts ein Lebensalter zugrunde gelegt wird, das um die Hälfte der vollen Lebensjahre vermindert ist, die der Richter oder Staatsanwalt seit Vollendung des 35. Lebensjahrs bis zu dem bei der Einstellung vollendeten Lebensjahr zurückgelegt hat. Zudem sah Abs. 3 dieser Vorschrift vor, dass Richter und Staatsanwälte, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, das Anfangsgrundgehalt ihrer Besoldungsgruppe so lange erhalten, bis sie das für das Aufsteigen in den Lebensaltersstufen vorgesehene Lebensalter vollendet haben.
32 Das Grundgehalt der Richter wurde daher bei ihrer Einstellung ausschließlich nach ihrer Lebensaltersstufe bemessen.
33 Der Gerichtshof hatte in seinem Urteil Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005) bereits Fragen zu prüfen, die der zweiten und der dritten Vorlagefrage in der vorliegenden Rechtssache entsprachen. Die Antwort des Gerichtshofs in diesem Urteil ist somit auf die Fragen des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache des Ausgangsverfahrens in vollem Umfang übertragbar.
34 Der Gerichtshof hat nämlich in den Rn. 39 bis 51 dieses Urteils geprüft, ob das BBesG a. F. eine Diskriminierung im Sinne der Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 enthält, und dies deshalb bejaht, weil die bei der Einstellung der Beamten erfolgende Einstufung in eine Grundgehaltsstufe nach ihrem Lebensalter über das hinausgeht, was zur Erreichung des von diesem Gesetz verfolgten legitimen Ziels erforderlich ist.
35 Der Umstand, dass mit den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen die Berufserfahrung und/oder die soziale Kompetenz der Richter honoriert werden sollte, ist dabei ohne Bedeutung.
36 Unter diesen Umständen ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen sich das Grundgehalt eines Richters bei seiner Einstellung ausschließlich nach seinem Lebensalter richtet.
Zur sechsten und zur siebten Frage
37 Mit seiner sechsten und seiner siebten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die die Modalitäten der Überleitung von Bestandsrichtern in ein neues Besoldungssystem festlegen und vorsehen, dass die Besoldungsstufe, der sie nunmehr zugeordnet werden, allein auf der Grundlage des nach dem alten Besoldungssystem erworbenen Grundgehalts ermittelt wird, obgleich dieses alte System auf einer Diskriminierung wegen des Alters des Richters beruhte. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob die mit diesen Rechtsvorschriften verbundene Ungleichbehandlung durch das Ziel gerechtfertigt sein kann, den Besitzstand zu schützen.
38 Aus § 5 BerlBesÜG ergibt sich, dass bei der Überleitung der Bestandsrichter in eine Stufe oder eine Überleitungsstufe des neuen Systems nur das frühere Grundgehalt berücksichtigt wird. Die Überleitung der Bestandsrichter in das neue Besoldungssystem erfolgt ausschließlich nach Maßgabe der in dem alten System erworbenen Lebensaltersstufe.
39 Es ist festzustellen, dass diese Vorschrift die Ungleichbehandlung der Richter wegen des Alters in dem neuen Besoldungssystem perpetuieren kann.
40 Die durch eine Vorschrift wie § 5 BerlBesÜG eingeführten Überleitungsmaßnahmen, nach denen die Überleitung auf der Grundlage der früheren, ihrerseits auf dem Lebensalter beruhenden Besoldung der Bestandsbeamten erfolgt, perpetuieren nämlich eine diskriminierende Situation, in der Richter allein wegen ihres Einstellungsalters eine geringere Besoldung beziehen als andere Richter, obwohl sie sich in einer vergleichbaren Situation befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 56 bis 58).
41 Somit ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung wegen des Alters gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt sein kann.
42 Was zum einen das vom vorlegenden Gericht geltend gemachte Ziel der Wahrung des Besitzstands betrifft, ist festzustellen, dass die Wahrung des Besitzstands einer Personengruppe ein zwingender Grund des Allgemeininteresses ist (Urteil Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Zum anderen hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass ein Gesetz wie das BerlBesÜG als zur Erreichung des verfolgten Ziels, das darin besteht, die Beibehaltung des Besitzstands zu gewährleisten, geeignet erscheint (Urteil Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 65 bis 68). Er hat weiter festgestellt, dass der nationale Gesetzgeber durch den Erlass abweichender Überleitungsmaßnahmen im BerlBesÜG nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgegangen ist (Urteil Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 69 bis 85).
44 Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt sich nichts, was diese Feststellungen in Frage stellen könnte.
45 Wie sich den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen entnehmen lässt, unterscheidet sich die Überleitung der Richter im Hinblick auf die angewandte Methode und das verfolgte Ziel nicht von der für die Beamten des Landes Berlin vorgenommenen Überleitung. Das BerlBesÜG hat nämlich für Richter, Staatsanwälte und Beamte einheitlich anwendbare Vorschriften für ihre Überleitung eingeführt.
46 Mit dem Erlass des BerlBesÜG hat der nationale Gesetzgeber somit eine Reform des Besoldungssystems der Beamten und der Richter des Landes Berlin durchgeführt. Dieses Gesetz sieht für Bestandsrichter zur Wahrung ihres Besitzstands eine Übergangsregelung vor, nach der sie unmittelbar einer Stufe oder Überleitungsstufe zugeordnet wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 72 und 73).
47 Da darüber hinaus § 38 BBesG a. F. für jeden Richter des Landes Berlin bei seiner Einstellung galt, betrafen die sich daraus ergebenden diskriminierenden Aspekte potenziell alle diese Richter (vgl. in diesem Sinne Urteil Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 96). Daraus folgt, dass im BBesG a. F. ein gültiges Bezugssystem fehlt und es, anders als vom Kläger des Ausgangsverfahrens vorgetragen, weder eine von diesem Gesetz und dem BerlBesÜG benachteiligte Gruppe „junger Richter“ noch eine von diesen Gesetzen bevorzugte Gruppe „älterer Richter“ gibt.
48 Darüber hinaus müssen die Modalitäten einer solchen Überleitung als mit der sich aus Art. 16 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 ergebenden Verpflichtung des Mitgliedstaats vereinbar angesehen werden, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwiderlaufen, aufgehoben werden.
49 Daher ist auf die sechste und die siebte Frage zu antworten, dass die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die die Modalitäten der Überleitung von Bestandsrichtern in ein neues Besoldungssystem festlegen und vorsehen, dass die Besoldungsstufe, der sie nunmehr zugeordnet werden, allein auf der Grundlage des nach dem alten Besoldungssystem erworbenen Grundgehalts ermittelt wird, nicht entgegenstehen, obgleich dieses alte System auf einer Diskriminierung wegen des Alters des Richters beruhte, weil die mit diesen Rechtsvorschriften verbundene Ungleichbehandlung durch das Ziel gerechtfertigt sein kann, den Besitzstand zu schützen.
Zur neunten und zur zehnten Frage
50 Mit seiner neunten und seiner zehnten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die die Modalitäten des Aufstiegs der Bestandsrichter in einem neuen Besoldungssystem festlegen und vorsehen, dass den Richtern, die zum Zeitpunkt der Überleitung in das neue System bereits ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben, ab einer bestimmten Gehaltsstufe ein schnellerer Gehaltsanstieg verschafft wird als den zum Überleitungsstichtag jüngeren Richtern. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob die mit diesen Rechtsvorschriften verbundene Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein kann.
51 Es ist festzustellen, dass der deutsche Gesetzgeber mit § 6 BerlBesÜG eine Differenzierung nach Maßgabe der zum Überleitungsstichtag erreichten Lebensaltersstufe eingeführt hat, und zwar sowohl hinsichtlich des Zeitpunkts für den Aufstieg in die nächsthöhere Stufe als auch bei der Bemessung der weiteren Erfahrungszeiten.
52 Hinsichtlich des erstmaligen Aufstiegs innerhalb des neuen Besoldungssystems ergibt sich nämlich aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass nach § 6 Abs. 1 und 2 BerlBesÜG die Erfahrungszeit der Richter, die im alten System zum Überleitungsstichtag der Lebensaltersstufe 1 oder 2 zuzuordnen waren, d. h. der unter 31 Jahre alten Richter, zum Überleitungsstichtag neu zu laufen beginnt. Dagegen erfolgt für die Richter, die mindestens auf der Grundlage des Grundgehalts der Lebensaltersstufe 3 übergeleitet wurden, d. h. die Richter, die das 31. Lebensjahr bereits vollendet hatten, der nächste Aufstieg zu dem Zeitpunkt, zu dem in dem alten Besoldungssystem die nächsthöhere Lebensaltersstufe erreicht worden wäre.
53 Was den weiteren Aufstieg in dem neuen Besoldungssystem betrifft, sieht § 6 Abs. 3 und 4 BerlBesÜG ab der Stufe 5 eine Verkürzung der Erfahrungszeiten für die Beförderung in die folgende Stufe vor, soweit die Bestandsrichter ursprünglich mindestens in die Überleitungsstufe 4 des neuen Besoldungssystems übergeleitet worden sind.
54 Da – wie sich aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ergibt – diese Verkürzung der Zeiten für das Fortschreiten in den Gehaltsstufen nur den Richtern, die zum Überleitungsstichtag mindestens 39 Jahre alt waren, zugutekommen kann, während die Richter, die dieses Alter bei der Überleitung nicht erreicht haben, vom Anwendungsbereich dieser Vorschrift ausgenommen sind und zudem noch ein Jahr länger warten müssen, um die entsprechende höhere Gehaltsstufe zu erreichen, ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 enthält.
55 Somit ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt sein kann.
56 Insoweit ergibt sich aus den Erklärungen der deutschen Regierung, dass § 6 BerlBesÜG die Besoldungsentwicklung der Richter an die der Beamten, die bereits 1997 reformiert wurde, anpassen und letztlich die Attraktivität des Richteramts erhöhen sollte, indem die Vorschrift vor allem eine schnellere Gehaltssteigerung zu Beginn der Richterlaufbahn gewährleistete. Darüber hinaus musste zum einen sichergestellt werden, dass Bestandsrichter keinen plötzlichen oder sich auf die Gesamtlaufbahn auswirkenden Gehaltsverlust erleiden, und zum anderen, dass alle Richter im Alter von 49 Jahren die Endgehaltsstufe erreicht haben.
57 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten und gegebenenfalls die Sozialpartner auf nationaler Ebene beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht nur bei der Entscheidung, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Erreichung über einen weiten Ermessensspielraum verfügen (vgl insbesondere Urteil Palacios de la Villa, C‑411/05, EU:C:2007:604, Rn. 68).
58 Ziele wie diejenigen, die mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung verfolgt werden, können grundsätzlich eine – wie in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 verlangt – „im Rahmen des nationalen Rechts“„objektiv[e] und angemessen[e]“ Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung wegen des Alters sein.
59 Weiter ist zu prüfen, ob die Mittel, die zur Verwirklichung dieser Ziele eingesetzt werden, gemäß dem Wortlaut dieser Vorschrift „angemessen und erforderlich“ sind.
60 Die deutsche Regierung hat in ihren Erklärungen und mit ihren Klarstellungen in der mündlichen Verhandlung die Gründe für den Erlass von § 6 BerlBesÜG ausführlich dargelegt.
61 Sie hat insbesondere geltend gemacht, dass der Gesamtzeitraum, auf den sich die Besoldungsentwicklung erstrecke, für Richter und Staatsanwälte kürzer sei als für Beamte, da er der im Allgemeinen längeren Ausbildung und dem späteren Berufseintritt Rechnung trage. Das neue Beförderungssystem enthalte weniger Stufen, nämlich acht „Erfahrungsstufen“, so dass der einzelne Richter schneller in die betraglich höheren Besoldungsstufen aufrücke. Da jedoch aus haushaltsrechtlichen Gründen das Lebenseinkommen der Richter nicht erheblich steigen könne, werde dieser Gehaltsaufstieg in den mittleren Jahren wieder verlangsamt. So brauche ein Richter ab der Besoldungsstufe 5 jeweils ein Jahr länger, um in die nächste Stufe aufzusteigen.
62 Nach Auffassung der deutschen Regierung ist diese Umstellung, die Richter zwischen 31 und 39 Jahren begünstige, als eine Honorierung des Umstands anzusehen, dass in den ersten Berufsjahren der Erfahrungszuwachs besonders hoch sei, aber auch als ein Mittel, um einem in dieser Lebenszeit gewöhnlich besonders hohen Bedarf der Richter Rechnung zu tragen. Darüber hinaus werde der Aufstieg für die Bestandsrichter, die in höherem Lebensalter, nämlich ab der Besoldungsstufe 7 nach dem alten System, übergeleitet würden, durch die Anwendung der neuen Beförderungsregelung verlangsamt. Um diesen Effekt zu kompensieren, seien die Stufenlaufzeiten für diese Gruppe um jeweils ein Jahr gekürzt worden. Die deutsche Regierung hat auf ein Ersuchen des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung um nähere Erläuterungen hin darauf hingewiesen, dass die Komplexität dieses Systems sich aus der Sorge des Gesetzgebers ergebe, dass keine Gruppe von Richtern durch die Überleitung in das neue Besoldungssystem bevorzugt werde oder übermäßige Nachteile erleide.
63 Es ist festzustellen, dass die Prüfung der dem Gerichtshof vorgelegten Akten nichts ergeben hat, was diese Darlegungen der deutschen Regierung in Frage stellen könnte. Auch ist vor dem Gerichtshof nichts vorgetragen worden, um die Angemessenheit und Erforderlichkeit des neuen Aufstiegssystems in Frage zu stellen.
64 Darüber hinaus ist das Argument, dass § 6 BerlBesÜG eine „Verschlechterung“ der Situation der „jungen Richter“ enthalte, die bereits durch das BBesG a. F. benachteiligt worden seien, zurückzuweisen, da es, wie in Rn. 47 des vorliegenden Urteils festgestellt, solche Gruppen nicht gibt.
65 Aufgrund dieser Überlegungen ist davon auszugehen, dass angesichts des weiten Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten nicht nur bei der Entscheidung, welches konkrete Ziel sie im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Verwirklichung der Erlass von § 6 BerlBesÜG im Hinblick auf den von dem nationalen Gesetzgeber verfolgten Zweck nicht unangemessen erscheint.
66 Nach alledem ist auf die neunte und die zehnte Frage zu antworten, dass die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die die Modalitäten des Aufstiegs der Bestandsrichter in einem neuen Besoldungssystem festlegen und vorsehen, dass den Richtern, die zum Zeitpunkt der Überleitung in das neue System bereits ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben, ab einer bestimmten Gehaltsstufe ein schnellerer Gehaltsanstieg verschafft wird als den zum Überleitungsstichtag jüngeren Richtern, nicht entgegenstehen, weil die mit diesen Rechtsvorschriften verbundene Ungleichbehandlung nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie gerechtfertigt sein kann.
Zur vierten Frage
67 Mit seiner vierten Frage befragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof nach den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters durch das BBesG a. F. Es möchte wissen, ob sich diese Folgen aus der Richtlinie 2000/78 oder aus der auf das Urteil Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428) zurückgehenden Rechtsprechung ergeben und ob im letztgenannten Fall die Voraussetzungen für eine Haftung der Bundesrepublik Deutschland erfüllt sind.
68 Der Gerichtshof hatte über diese Frage bereits im Urteil Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005) zu entscheiden, und seine dort gefundene Antwort ist auf die vorliegende Rechtssache in vollem Umfang übertragbar.
69 Unter diesen Umständen ist aus den gleichen Gründen, wie sie in den Rn. 88 bis 107 des Urteils Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005) dargelegt sind, auf die vierte Frage wie folgt zu antworten:
—
Das Unionsrecht schreibt unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht vor, den diskriminierten Richtern rückwirkend einen Betrag in Höhe des Unterschieds zwischen ihrer tatsächlichen Besoldung und der Besoldung nach der höchsten Stufe ihrer Besoldungsgruppe zu zahlen.
—
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob alle vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen für eine unionsrechtliche Haftung der Bundesrepublik Deutschland erfüllt sind.
Zur fünften Frage
70 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Vorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der ein nationaler Richter Ansprüche auf Geldleistungen, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, zeitnah, nämlich vor dem Ende des laufenden Haushaltsjahrs, geltend machen muss.
71 Der Gerichtshof hatte über diese Frage bereits im Urteil Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005) zu entscheiden, und seine dort gefundene Antwort ist auf die vorliegende Rechtssache in vollem Umfang übertragbar.
72 Unter diesen Umständen ist aus den gleichen Gründen, wie sie in den Rn. 111 bis 114 des Urteils Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005) dargelegt sind, auf die fünfte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Vorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der ein nationaler Richter Ansprüche auf Geldleistungen, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, zeitnah, nämlich vor dem Ende des laufenden Haushaltsjahrs, geltend machen muss, nicht entgegensteht, wenn diese Vorschrift weder gegen den Äquivalenzgrundsatz noch gegen den Effektivitätsgrundsatz verstößt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind.
Zur achten und zur elften Frage
73 In Anbetracht der Antworten auf die sechste, die siebte, die neunte und die zehnte Frage sind die achte und die elfte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
74 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass die Besoldungsbedingungen der Richter in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
2. Die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen sich das Grundgehalt eines Richters bei seiner Einstellung ausschließlich nach seinem Lebensalter richtet.
3. Die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die die Modalitäten der Überleitung von Richtern, die bereits vor dem Inkrafttreten dieser Rechtsvorschriften ernannt worden sind, in ein neues Besoldungssystem festlegen und vorsehen, dass die Besoldungsstufe, der sie nunmehr zugeordnet werden, allein auf der Grundlage des nach dem alten Besoldungssystem erworbenen Grundgehalts ermittelt wird, nicht entgegenstehen, obgleich dieses alte System auf einer Diskriminierung wegen des Alters des Richters beruhte, weil die mit diesen Rechtsvorschriften verbundene Ungleichbehandlung durch das Ziel gerechtfertigt sein kann, den Besitzstand zu schützen.
4. Die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die die Modalitäten des Aufstiegs der Richter, die bereits vor dem Inkrafttreten dieser Rechtsvorschriften ernannt worden sind, in einem neuen Besoldungssystem festlegen und vorsehen, dass den Richtern, die zum Zeitpunkt der Überleitung in das neue System bereits ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben, ab einer bestimmten Gehaltsstufe ein schnellerer Gehaltsanstieg verschafft wird als den zum Überleitungsstichtag jüngeren Richtern, nicht entgegenstehen, weil die mit diesen Rechtsvorschriften verbundene Ungleichbehandlung nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie gerechtfertigt sein kann.
5. Das Unionsrecht schreibt unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht vor, den diskriminierten Richtern rückwirkend einen Betrag in Höhe des Unterschieds zwischen ihrer tatsächlichen Besoldung und der Besoldung nach der höchsten Stufe ihrer Besoldungsgruppe zu zahlen.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob alle vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen für eine unionsrechtliche Haftung der Bundesrepublik Deutschland erfüllt sind.
6. Das Unionsrecht steht einer nationalen Vorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegen, nach der ein nationaler Richter Ansprüche auf Geldleistungen, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, zeitnah, nämlich vor dem Ende des laufenden Haushaltsjahrs, geltend machen muss, wenn diese Vorschrift weder gegen den Äquivalenzgrundsatz noch gegen den Effektivitätsgrundsatz verstößt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. September 2015.#Königreich Spanien gegen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 – Überschreitung der Außengrenzen – Eurosur-System – Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands – Beteiligung – Zusammenarbeit mit Irland und dem Vereinigten Königreich – Gültigkeit.#Rechtssache C-44/14.
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62014CJ0044
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ECLI:EU:C:2015:554
| 2015-09-08T00:00:00 |
Gerichtshof, Wahl
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0044
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
8. September 2015 (*1)
„Nichtigkeitsklage — Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 — Überschreitung der Außengrenzen — Eurosur-System — Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands — Beteiligung — Zusammenarbeit mit Irland und dem Vereinigten Königreich — Gültigkeit“
In der Rechtssache C‑44/14
betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 27. Januar 2014,
Königreich Spanien, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
Kläger,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch D. Moore, S. Alonso de Leon und A. Pospíšilová Padowska als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Chavrier, F. Florindo Gijón, M.-M. Joséphidès und P. Plaza García als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Irland, vertreten durch E. Creedon, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von G. Gilmore, Barrister,
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von J. Holmes, Barrister,
Europäische Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und G. Wils als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelfer,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen (Berichterstatter), A. Ó Caoimh, C. Vajda und S. Rodin, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits, J. L. da Cruz Vilaça und F. Biltgen,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2015,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Mai 2015
folgendes
Urteil
1 Das Königreich Spanien begehrt mit seiner Klage die Nichtigerklärung von Art. 19 der Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Errichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR) (ABl. L 295, S. 11, im Folgenden: Eurosur-Verordnung).
Rechtlicher Rahmen
Beschluss 2000/365/EG
2 Gestützt auf Art. 4 des Protokolls (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (im Folgenden: Schengen-Protokoll) erließ der Rat der Europäischen Union am 29. Mai 2000 den Beschluss 2000/365/EG zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf es anzuwenden (ABl. L 131, S. 43).
3 In Art. 1 dieses Beschlusses sind die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands aufgeführt, die auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland Anwendung finden. Die Bestimmungen dieses Besitzstands über das Überschreiten der Außengrenzen gehören nicht zu den aufgeführten Bestimmungen.
Beschluss 2002/192/EG
4 Gestützt auf Art. 4 des Schengen-Protokolls erließ der Rat am 28. Februar 2002 den Beschluss 2002/192/EG zum Antrag Irlands auf Anwendung einzelner Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf Irland (ABl. L 64, S. 20).
5 In Art. 1 dieses Beschlusses sind die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands aufgeführt, die auf Irland Anwendung finden. Die Bestimmungen dieses Besitzstands über das Überschreiten der Außengrenzen gehören nicht zu den aufgeführten Bestimmungen.
Eurosur-Verordnung
6 Die Erwägungsgründe 16, 20 und 21 der Eurosur-Verordnung lauten:
„(16)
Diese Verordnung umfasst Bestimmungen über die Möglichkeit einer engen Zusammenarbeit mit Irland und dem Vereinigten Königreich, die zur besseren Erreichung der Ziele von EUROSUR beitragen können.
…
(20) Diese Verordnung stellt eine Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands dar, an denen sich das Vereinigte Königreich gemäß dem [Beschluss 2000/365] nicht beteiligt; das Vereinigte Königreich beteiligt sich daher nicht an der Annahme dieser Verordnung und ist weder durch diese Verordnung gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.
(21) Diese Verordnung stellt eine Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands dar, an denen sich Irland gemäß dem [Beschluss 2002/192] nicht beteiligt; Irland beteiligt sich daher nicht an der Annahme dieser Verordnung und ist weder durch diese Verordnung gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.“
7 Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Mit dieser Verordnung wird ein gemeinsamer Rahmen für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der [Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (im Folgenden ‚Agentur‘)] eingerichtet, um das Lagebewusstsein und die Reaktionsfähigkeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union … im Hinblick auf die Aufdeckung, Prävention und Bekämpfung von illegaler Einwanderung und grenzüberschreitender Kriminalität zu verbessern und einen Beitrag zur Gewährleistung des Schutzes und der Rettung des Lebens von Migranten zu leisten (im Folgenden ‚EUROSUR‘).“
8 Art. 4 („EUROSUR-Rahmen“) der Verordnung sieht in den Abs. 1 bis 3 vor:
„(1) Für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit im Bereich der Grenzüberwachung nutzen die Mitgliedstaaten und die Agentur unter Berücksichtigung der bestehenden Mechanismen für Informationsaustausch und Zusammenarbeit den EUROSUR-Rahmen, der folgende Komponenten umfasst:
a)
nationale Koordinierungszentren[;]
b)
nationale Lagebilder;
c)
ein Kommunikationsnetz;
d)
ein europäisches Lagebild;
e)
ein gemeinsames Informationsbild des Grenzvorbereichs;
f)
eine gemeinsame Anwendung von Überwachungsinstrumenten.
…
(3) Die Agentur gewährt den nationalen Koordinierungszentren über das Kommunikationsnetz uneingeschränkten Zugang zum europäischen Lagebild und zum gemeinsamen Informationsbild des Grenzvorbereichs.“
9 Art. 9 Abs. 9 und 10 der Verordnung bestimmt:
„(9) Die nationalen Koordinierungszentren benachbarter Mitgliedstaaten tauschen direkt und echtzeitnah Informationen aus ihren Lagebildern der benachbarten Außengrenzabschnitte zu folgenden Aspekten untereinander aus:
a)
zu Vorfällen und zu sonstigen wichtigen in der Ereignisschicht enthaltenen Vorkommnissen;
b)
zu den in der Analyseschicht enthaltenen taktischen Risikoanalysen.
(10) Die nationalen Koordinierungszentren benachbarter Mitgliedstaaten können untereinander direkt und echtzeitnah Informationen aus ihren Lagebildern der benachbarten Außengrenzabschnitte betreffend Standorte, Status und Art der in den benachbarten Außengrenzabschnitten eingesetzten eigenen Kräfte, die in der Einsatzschicht enthalten sind, austauschen.“
10 Die Art. 14 bis 16 der Eurosur-Verordnung enthalten die Vorschriften über die Reaktionsfähigkeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten.
11 Art. 19 („Zusammenarbeit mit Irland und dem Vereinigten Königreich“) dieser Verordnung lautet:
„(1) Für die Zwecke dieser Verordnung können der Informationsaustausch und die Zusammenarbeit mit Irland und dem Vereinigten Königreich auf der Grundlage bilateraler oder multilateraler Übereinkünfte zwischen Irland oder dem Vereinigten Königreich und einem oder mehreren benachbarten Mitgliedstaaten oder über regionale Netze, die sich auf diese Übereinkünfte stützen, erfolgen. Die nationalen Koordinierungszentren der Mitgliedstaaten dienen als Kontaktstellen für den Informationsaustausch mit den entsprechenden Behörden Irlands und des Vereinigten Königreichs innerhalb von EUROSUR. Der Abschluss einer solchen Übereinkunft wird der Kommission mitgeteilt.
(2) Die Übereinkünfte nach Absatz 1 beschränken sich auf den folgenden Austausch von Informationen zwischen dem nationalen Koordinierungszentrum eines Mitgliedstaats und der entsprechenden Behörde Irlands oder des Vereinigten Königreichs:
a)
Informationen, die im nationalen Lagebild eines Mitgliedstaats enthalten sind, soweit sie der Agentur für die Zwecke des europäischen Lagebilds und des gemeinsamen Informationsbilds des Grenzvorbereichs übermittelt worden sind,
b)
Informationen, die von Irland und dem Vereinigten Königreich zusammengestellt wurden und für die Zwecke des europäischen Lagebilds und des gemeinsamen Informationsbilds des Grenzvorbereichs von Belang sind,
c)
Informationen gemäß Artikel 9 Absatz 9.
(3) Informationen, die die Agentur oder ein Mitgliedstaat, der keine Partei einer Übereinkunft gemäß Absatz 1 ist, im Rahmen von EUROSUR bereitgestellt hat, werden nicht ohne vorherige Genehmigung der Agentur bzw. dieses Mitgliedstaats an Irland oder das Vereinigte Königreich weitergegeben. Die Verweigerung der Genehmigung, diese Informationen an Irland bzw. das Vereinigte Königreich weiterzugeben, ist für die Mitgliedstaaten und für die Agentur bindend.
(4) Die Weitergabe oder sonstige Bekanntgabe der nach diesem Artikel ausgetauschten Informationen an Drittländer oder sonstige Dritte ist untersagt.
(5) Die Vereinbarungen nach Absatz 1 umfassen Vorschriften bezüglich der finanziellen Kosten, die sich aus der Teilnahme Irlands und des Vereinigten Königreichs an der Durchführung dieser Übereinkünfte ergeben.“
Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
12 Das Königreich Spanien beantragt,
—
Art. 19 der Eurosur-Verordnung für nichtig zu erklären und
—
dem Parlament und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
13 Das Parlament und der Rat beantragen jeweils,
—
die Klage als unbegründet abzuweisen und
—
dem Königreich Spanien die Kosten aufzuerlegen.
14 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Mai 2014 sind Irland, das Vereinigte Königreich und die Kommission als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Parlaments und des Rates zugelassen worden.
Zur Klage
Vorbringen der Parteien
15 Das Königreich Spanien macht als einzigen Klagegrund einen Verstoß gegen Art. 4 in Verbindung mit Art. 5 des Schengen-Protokolls geltend.
16 Hierzu trägt es vor, Art. 19 der Eurosur-Verordnung stehe im Widerspruch zu diesen Vorschriften, soweit er neben Art. 4 dieses Protokolls ein Ad-hoc-Verfahren zur Beteiligung Irlands und des Vereinigten Königreichs an dieser Verordnung mittels Kooperationsabkommen einführe.
17 Die in Art. 19 der Eurosur-Verordnung vorgesehene Assoziierung Irlands und des Vereinigten Königreichs mit dem Eurosur-System sei eine Form der Beteiligung im Sinne des Schengen-Protokolls. Die Mitwirkung dieser Mitgliedstaaten an dem System stelle eine Beteiligung an der Durchführung der Eurosur-Verordnung dar, und die Einbeziehung dieser Mitgliedstaaten in einen Informationsaustausch füge sie in den gemeinsamen Rahmen für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit ein, der mit dieser Verordnung gemäß ihrem Art. 1 eingerichtet werden solle. Jede Unterscheidung zwischen dieser Assoziierung Irlands und des Vereinigten Königreichs mit dem Eurosur-System und einer Beteiligung im Sinne des Schengen-Protokolls sei daher wirklichkeitsfremd.
18 Würde die Einführung eines Ad-hoc-Beteiligungsverfahrens als rechtmäßig anerkannt, würde darüber hinaus Art. 4 des Schengen-Protokolls seine praktische Wirksamkeit genommen, da sich ein Mitgliedstaat, dem die Genehmigung, sich an der Annahme einer Maßnahme zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands zu beteiligen, verweigert werde, mittels dieses Ad-hoc-Verfahrens ungeachtet der Verweigerung an dieser Maßnahme beteiligen könne. Diese Regelung sei daher unvereinbar mit der Lösung, zu denen der Gerichtshof in den Urteilen Vereinigtes Königreich/Rat (C‑77/05, EU:C:2007:803) und Vereinigtes Königreich/Rat (C‑137/05, EU:C:2007:805) gelangt sei.
19 Der Gerichtshof habe im Urteil Vereinigtes Königreich/Rat (C‑482/08, EU:C:2010:631) festgestellt, dass die Mitgliedstaaten, die sich am Schengen-Besitzstand beteiligten, nicht verpflichtet seien, spezielle Anpassungsmaßnahmen für die anderen Mitgliedstaaten vorzusehen.
20 Zudem verstoße Art. 19 der Eurosur-Verordnung aus folgenden Gründen in besonders schwerer Weise gegen Art. 4 des Schengen-Protokolls: Irland und das Vereinigte Königreich würden wie Drittländer behandelt, beide Mitgliedstaaten würden besser gestellt als die anderen Mitgliedstaaten, die in Art. 19 genannten Übereinkünfte enthielten Vorschriften bezüglich der sich aus ihrer Durchführung ergebenden finanziellen Kosten und das System, das sich aus diesen Übereinkünften ergebe, führe zu einer Fragmentierung der Leitung des Überschreitens der Außengrenzen. Der Unionsgesetzgeber habe somit rechtswidrig eine besondere Situation geschaffen, die das Primärrecht nicht vorsehe und die dem mit Art. 4 des Schengen-Protokolls verfolgten Ziel zuwiderlaufe.
21 Das Parlament, der Rat, Irland und das Vereinigte Königreich weisen darauf hin, dass der Begriff „Beteiligung“ im Schengen-Protokoll sowohl zur Bezeichnung der Beteiligung an der Annahme von Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands als auch zur Bezeichnung der Beteiligung an der Anwendung von bereits angenommenen und zu diesem Besitzstand gehörenden Bestimmungen verwendet werde. Wie in den Erwägungsgründen 20 und 21 dieser Verordnung angegeben, hätten sich Irland und das Vereinigte Königreich aber nicht an der Annahme der Eurosur-Verordnung beteiligt und beteiligten sich auch nicht an der Anwendung dieser Verordnung.
22 Nach Auffassung des Parlaments, des Rates, Irlands, des Vereinigten Königreichs und der Kommission sieht Art. 19 dieser Verordnung tatsächlich nur eine Form der begrenzten Zusammenarbeit zur besseren Erreichung der Ziele von Eurosur vor, ohne dass Irland oder das Vereinigte Königreich den Staaten gleichgestellt würden, auf die die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands über das Überschreiten der Außengrenzen Anwendung fänden. Denn die verschiedenen Begrenzungen der Tragweite der in Art. 19 genannten Übereinkünfte bewirkten, dass diese nicht dazu führen könnten, Irland und das Vereinigte Königreich in den durch diese Verordnung geschaffenen gemeinsamen Rahmen einzufügen.
23 Darüber hinaus machen das Parlament und die Kommission geltend, dass die Art. 4 und 5 des Schengen-Protokolls nur die Fälle regeln sollten, in denen Irland oder das Vereinigte Königreich seine Beteiligung an einem Bereich des Schengen-Besitzstands beantragten, nicht aber den diesen Mitgliedstaaten vorbehaltenen Status, wenn sie keine entsprechenden Schritte unternommen hätten.
24 Ferner würde nach Ansicht des Parlaments und des Vereinigten Königreichs die vom Königreich Spanien vorgeschlagene Lösung dazu führen, dass Irland und das Vereinigte Königreich mit größerem Misstrauen behandelt würden als Drittländer.
25 Der Rat, das Vereinigte Königreich und die Kommission bestreiten schließlich die vom Königreich Spanien behaupteten fatalen Folgen, die Art. 19 der Eurosur-Verordnung haben solle. Insbesondere beeinträchtige die Komplexität, die sich aus dem Abschluss von Kooperationsabkommen ergeben könne, nicht die Ziele des Schengen-Protokolls. Sie sei Bestandteil der tatsächlichen verstärkten Zusammenarbeit im Schengen-Raum und der wünschenswerten eingeschränkteren Zusammenarbeit mit den benachbarten Drittländern und den nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten.
Würdigung durch den Gerichtshof
26 Art. 1 des Schengen-Protokolls ermächtigt 25 Mitgliedstaaten, zu denen weder Irland noch das Vereinigte Königreich gehören, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen des Schengen-Besitzstands zu begründen.
27 Da sich das Vereinigte Königreich und Irland nicht an allen Bestimmungen des Schengen-Besitzstands beteiligen, befinden sich diese beiden Mitgliedstaaten in einer besonderen Situation, der das Schengen-Protokoll in doppelter Hinsicht Rechnung getragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, C‑77/05, EU:C:2007:803, Rn. 57).
28 Zum einen können die beiden Mitgliedstaaten nach Art. 4 des Protokolls jederzeit beantragen, dass alle oder ein Teil der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung auch auf sie Anwendung finden sollen. Zum anderen dürfen sie nach Art. 5 des Protokolls, der die Annahme von Vorschlägen und Initiativen auf der Grundlage des Besitzstands regelt, wählen, ob sie sich an der Annahme einer Maßnahme dieser Art beteiligen möchten, wobei diese Wahl ihnen nur eingeräumt wird, wenn die Maßnahme zu einem Bereich des Schengen-Besitzstands gehört, durch den der betreffende Mitgliedstaat nach Art. 4 des Protokolls gebunden ist, oder wenn die Maßnahme eine Weiterentwicklung eines solchen Bereichs darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile Vereinigtes Königreich/Rat, C‑77/05, EU:C:2007:803, Rn. 58, 62 und 65, sowie Vereinigtes Königreich/Rat, C‑482/08, EU:C:2010:631, Rn. 61).
29 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass feststeht, dass sich Irland und das Vereinigte Königreich zwar nach Art. 4 des Schengen-Protokolls und den Beschlüssen 2000/365 und 2002/192 an einzelnen Bestimmungen des Schengen-Besitzstands beteiligen, diese Beteiligung aber nicht diejenigen Bestimmungen des Besitzstands erfasst, die sich auf die Überschreitung der Außengrenzen beziehen.
30 Irland oder das Vereinigte Königreich können sich daher an den geltenden Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in diesem Bereich oder an der Annahme von Vorschlägen und Initiativen auf der Grundlage des Besitzstands in diesem Bereich erst beteiligen, wenn sie einen entsprechenden Antrag gestellt haben und dieser sodann vom Rat nach dem Verfahren des Art. 4 des Schengen-Protokolls durch Beschluss angenommen worden ist.
31 Um die Beteiligung Irlands oder des Vereinigten Königreichs an solchen Bestimmungen oder an der Annahme solcher Vorschläge und Initiativen zuzulassen, kann der Unionsgesetzgeber daher weder im Sinne einer Verschärfung noch im Sinne einer Erleichterung ein anderes Verfahren als das nach Art. 4 dieses Protokolls einführen (vgl. in diesem Sinne Urteil Parlament/Rat, C‑133/06, EU:C:2008:257, Rn. 56).
32 Der Unionsgesetzgeber kann auch nicht vorsehen, dass die Mitgliedstaaten die Freiheit haben, untereinander Vereinbarungen zu treffen, die eine solche Wirkung haben.
33 Im vorliegenden Fall sieht Art. 19 der Eurosur-Verordnung, der eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands im Bereich der Überschreitung der Außengrenzen darstellt, vor, dass auf der Grundlage bilateraler oder multilateraler Übereinkünfte zwischen Irland oder dem Vereinigten Königreich und einem oder mehreren benachbarten Mitgliedstaaten eine Zusammenarbeit beim Informationsaustausch begründet werden kann, ohne dass zuvor ein Beschluss des Rates nach Art. 4 des Schengen-Protokolls zur Genehmigung dieser Zusammenarbeit erforderlich wäre.
34 In Anbetracht des Gegenstands dieser Übereinkünfte gestattet Art. 19 der Eurosur-Verordnung Irland oder dem Vereinigten Königreich nicht, sich im Bereich der Überschreitung der Außengrenzen an der Annahme eines Vorschlags oder einer Initiative auf der Grundlage des Schengen-Besitzstands zu beteiligen.
35 Da diese Übereinkünfte jedoch zum Ziel haben, eine Zusammenarbeit zwischen Irland oder dem Vereinigten Königreich und einem oder mehreren benachbarten Mitgliedstaaten einzuführen, ist es zur Prüfung der Begründetheit des einzigen vom Königreich Spanien vorgetragenen Klagegrundes dagegen erforderlich, festzustellen, ob diese Zusammenarbeit als „Beteiligung“ an den Bestimmungen der Eurosur-Verordnung im Sinne von Art. 4 des Schengen-Protokolls eingestuft werden kann.
36 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich zum einen den Erwägungsgründen 20 und 21 der Eurosur-Verordnung entnehmen lässt, dass Irland und das Vereinigte Königreich durch diese Verordnung weder gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet sind, und dass zum anderen Art. 19 dieser Verordnung nicht vorsieht, dass die in dieser Vorschrift genannten Übereinkünfte daran etwas ändern sollen.
37 Sodann geht aus den Art. 1 und 4 der Eurosur-Verordnung hervor, dass mit dieser ein gemeinsamer Rahmen für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Agentur eingerichtet wird, der sechs in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung aufgeführte Komponenten umfasst. Die in Art. 19 der Verordnung genannten Übereinkünfte betreffen jedoch gemäß Art. 19 Abs. 2 nur zwei dieser sechs Komponenten, da sie einen Informationsaustausch nur mit den nationalen Koordinierungszentren derjenigen Mitgliedstaaten gestatten, die eine solche Übereinkunft über die in ihren nationalen Lagebildern enthaltenen Informationen geschlossen haben.
38 Diese Beschränkung des Gegenstands der in Art. 19 der Eurosur-Verordnung genannten Übereinkünfte bewirkt, wie der Generalanwalt in den Nrn. 27 und 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, vor allem, dass diese Übereinkünfte keine Beziehungen zwischen Irland oder dem Vereinigten Königreich und der Agentur begründen können und dass auch jeder unmittelbare Zugang zum Kommunikationsnetz, zum europäischen Lagebild und zum gemeinsamen Informationsbild, auf die die anderen Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung unbegrenzt zugreifen können und die den Kern des mit dieser Verordnung geschaffenen gemeinsamen Rahmens bilden, ausgeschlossen ist.
39 Ferner dürfen sich die in Art. 19 der Eurosur-Verordnung genannten Übereinkünfte nicht auf den operativen Teil dieser Verordnung, nämlich die Reaktionsfähigkeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten, beziehen, die in den Art. 14 bis 16 der Verordnung geregelt ist.
40 Schließlich sind in Art. 19 Abs. 2 und 3 der Eurosur-Verordnung die Informationen, die aufgrund der in diesem Artikel genannten Übereinkünfte an Irland und das Vereinigte Königreich übermittelt werden können, genau bezeichnet. Insbesondere können weder die in Art. 9 Abs. 10 der Verordnung genannten Informationen noch die Informationen, die die Agentur oder ein Mitgliedstaat, der nicht Partei einer solchen Übereinkunft ist, im Eurosur-Rahmen bereitgestellt hat, ohne vorherige Genehmigung der Agentur oder dieses Mitgliedstaats an Irland oder das Vereinigte Königreich weitergegeben werden.
41 Es ist daher offensichtlich, dass sich die nach Art. 19 der Eurosur-Verordnung zulässige Zusammenarbeit nur auf einen begrenzten Teil der in dieser Verordnung geregelten Bereiche beziehen kann und dass in diesen Bereichen die in Art. 19 genannten Übereinkünfte keinen – auch nur indirekten – Zugriff auf die Informationen ermöglichen, die in dem mit der Verordnung eingerichteten gemeinsamen Rahmen ausgetauscht worden sind, ohne dass die Mitgliedstaaten, die diese Informationen bereitgestellt haben, dies zuvor genehmigt haben.
42 Daraus ergibt sich, dass die in Art. 19 der Eurosur-Verordnung genannten Übereinkünfte eine begrenzte Form der Zusammenarbeit zwischen Irland oder dem Vereinigten Königreich und einem oder mehreren benachbarten Mitgliedstaaten zulassen, dass sie aber nicht dazu führen können, Irland oder das Vereinigte Königreich in die gleiche Lage zu versetzen wie die anderen Mitgliedstaaten, da sie für diese beiden Mitgliedstaaten nicht rechtsgültig Rechte oder Pflichten begründen können, die denen der anderen Mitgliedstaaten im Rahmen des Eurosur-Systems oder eines Kernbereichs dieses Systems vergleichbar sind.
43 Das Königreich Spanien ist jedoch im Gegensatz zu Parlament und Rat der Ansicht, dass auch eine begrenzte Form der Zusammenarbeit eine Beteiligung im Sinne von Art. 4 des Schengen-Protokolls darstelle, so dass Art. 19 der Eurosur-Verordnung trotz der darin vorgesehenen Begrenzung der Zusammenarbeit mit dem Protokoll nicht zu vereinbaren sei.
44 Insoweit ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts sowohl der Wortlaut als auch der Kontext und die Ziele dieser Vorschrift zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Vereinigtes Königreich/Rat, C‑77/05, EU:C:2007:803, Rn. 55, sowie van der Helder und Farrington, C‑321/12, EU:C:2013:648, Rn. 36).
45 Was erstens den Wortlaut von Art. 4 des Schengen-Protokolls anbelangt, ist festzustellen, dass Irland und das Vereinigte Königreich beantragen können, dass einzelne oder alle Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auch auf sie Anwendung finden sollen. Dagegen ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 nicht, dass der Rat unter Heranziehung des in dieser Vorschrift vorgesehenen Verfahrens die Intensität der Beteiligung am Schengen-Besitzstand regulieren kann, indem er gegenüber diesen beiden Mitgliedstaaten eine eingeschränkte oder angepasste Anwendung der Bestimmungen, an denen sie sich beteiligen dürfen, vorsieht, wie sie in Art. 19 der Eurosur-Verordnung geregelt ist.
46 Zweitens ist bezüglich des Kontexts von Art. 4 des Schengen-Protokolls zunächst hervorzuheben, dass die Präambel des Protokolls klarstellt, dass Irland und das Vereinigte Königreich nach diesem Protokoll die Möglichkeit haben, Bestimmungen des Schengen-Besitzstands „anzunehmen“, und somit darauf schließen lässt, dass das Verfahren nach Art. 4 des Protokolls auf eine Beteiligung dieser Mitgliedstaaten als vollberechtigte Teilnehmer an den geltenden Bestimmungen dieses Besitzstands abzielt und keine begrenzten Mechanismen der Zusammenarbeit in den Bereichen des Besitzstands schaffen soll, denen diese Mitgliedstaaten nicht beigetreten sind. Bestätigt wird dies dadurch, dass der dem Begriff „annehmen“ entsprechende französische Begriff in der französischen Sprachfassung des Protokolls auch in Art. 7 in Bezug auf die neuen Mitgliedstaaten der Union verwendet wird.
47 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass sich sowohl aus der Präambel als auch aus Art. 1 des Schengen-Protokolls ergibt, dass die Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union auf den Vertragsbestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit beruht.
48 Aus Titel III des Sechsten Teils des AEU-Vertrags und insbesondere aus Art. 327 AEUV folgt jedoch, dass bei der Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den daran beteiligten Staaten, für die die in diesem Rahmen erlassenen Maßnahmen bindend sind, und den nicht daran beteiligten Staaten, für die sie nicht bindend sind, unterschieden wird. Der Übergang vom Status eines nicht beteiligten Mitgliedstaats zu dem eines beteiligten Mitgliedstaats bestimmt sich allgemein nach Art. 331 AEUV und ist, wie sich aus diesem ergibt, damit verbunden, dass der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, die im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit bereits erlassenen Rechtsakte anzuwenden.
49 Art. 4 des Schengen-Protokolls, der im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit in den Bereichen des Schengen-Besitzstands anstelle von Art. 331 AEUV gilt, ist daher so zu verstehen, dass er Irland und dem Vereinigten Königreich ermöglichen soll, bezüglich einzelner in Kraft befindlicher Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in die gleiche Lage versetzt zu werden wie die am Besitzstand beteiligten Mitgliedstaaten, nicht aber die Rechte und Pflichten dieser beiden Mitgliedstaaten regeln soll, wenn diese sich dafür entscheiden, der verstärkten Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen fernzubleiben.
50 Drittens ist festzustellen, dass das Argument des Königreichs Spanien, das mit Art. 4 des Schengen-Protokolls verfolgte Ziel stehe der Anerkennung der Rechtmäßigkeit begrenzter Formen der Zusammenarbeit mit Irland oder dem Vereinigten Königreich entgegen, zurückzuweisen ist.
51 Zum einen ergibt sich nämlich sowohl aus der Systematik des Schengen-Protokolls als auch aus der Erklärung Nr. 45 zu Artikel 4 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Union und dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass der durch die Art. 4 und 5 des Schengen-Protokolls geschaffene Mechanismus nicht dahin verstanden werden kann, dass er Irland und dem Vereinigten Königreich eine Beteiligung an dem vollständigen Schengen-Besitzstand vorschreiben soll, unter Ausschluss jeder Form der begrenzten Zusammenarbeit mit diesen Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, C‑77/05, EU:C:2007:803, Rn. 66).
52 Zum anderen wird die praktische Wirksamkeit von Art. 4 des Schengen-Protokolls durch eine Auslegung in dem Sinn, dass er auf begrenzte Formen der Zusammenarbeit nicht anwendbar ist, nicht in Frage gestellt, da diese Auslegung es weder zulässt, dass Irland und das Vereinigte Königreich Rechte erlangen können, die denen der anderen Mitgliedstaaten in Bezug auf die geltenden Bestimmungen des Schengen-Besitzstands vergleichbar sind, noch, dass sie sich an der Annahme von Vorschlägen und Initiativen auf der Grundlage der Bestimmungen dieses Besitzstands beteiligen, ohne zuvor durch einstimmigen Beschluss des Rates nach dieser Vorschrift zur Beteiligung an den fraglichen Bestimmungen ermächtigt worden zu sein.
53 Der Umstand, dass die am Schengen-Besitzstand beteiligten Mitgliedstaaten, wenn sie die verstärkte Zusammenarbeit, zu deren Einführung sie nach Art. 1 des Schengen-Protokolls ermächtigt wurden, entwickeln und vertiefen, nicht verpflichtet sind, spezielle Anpassungsmaßnahmen für die anderen Mitgliedstaaten vorzusehen (Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, C‑482/08, EU:C:2010:631, Rn. 49), bedeutet ebenso wenig, dass es dem Unionsgesetzgeber untersagt wäre, solche Maßnahmen anzuordnen, insbesondere indem er bestimmte begrenzte Formen der Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedstaaten zulässt, wenn er dies für angebracht hält.
54 Andernfalls könnte zudem die vollständige Verwirklichung der Ziele des Schengen-Besitzstands dadurch behindert werden, dass beispielsweise die Wirksamkeit der Überwachung der Außengrenzen in den benachbarten geografischen Zonen des Hoheitsgebiets der Staaten, die sich im Bereich der Überschreitung dieser Grenzen nicht am Schengen-Besitzstand beteiligen, eingeschränkt würde.
55 Dass die Einführung begrenzter Formen der Zusammenarbeit zu einer Fragmentierung der in diesem Bereich geltenden Vorschriften führen könnte, ist – unterstellt, dies wäre erwiesen – nicht geeignet, dieses Ergebnis in Frage zu stellen, da die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit unvermeidlich zu einer gewissen Fragmentierung der für die Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften in dem betreffenden Bereich führt.
56 In diesem Kontext kann es daher nicht als erheblich angesehen werden, dass Irland oder das Vereinigte Königreich im Hinblick auf den mit der Eurosur-Verordnung geschaffenen gemeinsamen Rahmen in eine andere Lage als die anderen Mitgliedstaaten versetzt wird, die zu einem gewissen Grad mit der Lage eines Drittlands verglichen werden könnte.
57 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass Art. 19 der Eurosur-Verordnung zu einer Verminderung dieser Fragmentierung beitragen kann, indem er die Übereinkünfte, die die Mitgliedstaaten mit Irland und dem Vereinigten Königreich im Bereich des Informationsaustauschs in Bezug auf die Überschreitung der Außengrenzen schließen können, inhaltlich beschränkt.
58 Aus alledem ergibt sich, dass begrenzte Formen der Zusammenarbeit keine Form der Beteiligung im Sinne von Art. 4 des Schengen-Protokolls darstellen.
59 Aufgrund der Feststellungen in Rn. 42 des vorliegenden Urteils kann Art. 19 der Eurosur-Verordnung demnach nicht dahin verstanden werden, dass diese Vorschrift es den Mitgliedstaaten ermöglicht, Übereinkünfte zu schließen, die Irland oder dem Vereinigten Königreich ermöglichen, sich an geltenden Bestimmungen des Schengen-Besitzstands im Bereich der Überschreitung der Außengrenzen zu beteiligen.
60 Infolgedessen ist der einzige Klagegrund, auf den das Königreich Spanien seine Klage stützt, in vollem Umfang zurückzuweisen und die Klage daher abzuweisen.
Kosten
61 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament und der Rat die Verurteilung des Königreichs Spanien beantragt haben und dieses mit seinem einzigen Klagegrund unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
62 Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen Irland, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Kommission ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Königreich Spanien trägt die Kosten.
3. Irland, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 4. September 2015.#Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland gegen Europäische Kommission.#EAGFL – Abteilung Garantie – EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Einheitliche Betriebsprämien – Schlüsselkontrollen – Zusatzkontrollen – Art. 51, 53, 73 und 73a der Verordnung (EG) Nr. 796/2004.#Rechtssache T-245/13.
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62013TJ0245
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ECLI:EU:T:2015:595
| 2015-09-04T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
4. September 2015 (*1)
„EAGFL — Abteilung Garantie — EGFL und ELER — Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben — Einheitliche Betriebsprämien — Schlüsselkontrollen — Zusatzkontrollen — Art. 51, 53, 73 und 73a der Verordnung (EG) Nr. 796/2004“
In der Rechtssache T‑245/13
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten zunächst durch C. Murrell, M. Holt und E. Jenkinson, dann durch M. Holt als Bevollmächtigte im Beistand von D. Wyatt, QC, und V. Wakefield, Barrister,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch P. Rossi und K. Skelly als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen teilweiser Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses 2013/123/EU der Kommission vom 26. Februar 2013 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 67, S. 20), soweit dieser Beschluss einen in seinem Anhang 1 aufgeführten Eintrag von 16513582,57 Euro über eine hochgerechnete Berichtigung von in Nordirland (Vereinigtes Königreich) im Laufe des Haushaltsjahrs 2010 getätigten Ausgaben um 5,19 % betrifft,
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro (Berichterstatterin) sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise,
Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Dezember 2014
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
Regelung der Union über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik
Verordnung (EG) Nr. 1290/2005
1 Die Grundregelung zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik ist hinsichtlich der von den Mitgliedstaaten ab dem 16. Oktober 2006 getätigten Ausgaben und hinsichtlich der von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften ab dem 1. Januar 2007 getätigten Ausgaben die Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates vom 21. Juni 2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 209, S. 1).
2 Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1290/2005 werden aus dem Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) in einer zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union geteilten Mittelverwaltung die im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik vorgesehenen Direktzahlungen an die Landwirte gemäß dem Unionsrecht finanziert.
3 Art. 31 („Konformitätsabschluss“) der Verordnung Nr. 1290/2005 bestimmt in seinen Abs. 1 bis 3:
„(1) Die Kommission entscheidet nach dem in Artikel 41 Absatz 3 genannten Verfahren, welche Beträge von der … Finanzierung [durch die Union] auszuschließen sind, wenn sie feststellt, dass Ausgaben nach Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 4 nicht in Übereinstimmung mit den [Union]svorschriften getätigt worden sind.
(2) Die Kommission bemisst die auszuschließenden Beträge insbesondere unter Berücksichtigung des Umfangs der festgestellten Nichtübereinstimmung. Sie trägt dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der [Union] entstandenen finanziellen Schaden Rechnung.
(3) Vor jeder Entscheidung über eine Ablehnung der Finanzierung werden die Ergebnisse der Überprüfungen der Kommission sowie die Antworten des betreffenden Mitgliedstaats jeweils schriftlich übermittelt; danach bemühen sich beide Parteien um eine Einigung über das weitere Vorgehen.
Gelingt dies nicht, so kann der Mitgliedstaat die Einleitung eines Verfahrens beantragen, in dem versucht wird, innerhalb von vier Monaten eine Einigung herbeizuführen; die Ergebnisse dieses Verfahrens werden in einem Bericht erfasst, der an die Kommission übermittelt und von dieser geprüft wird, bevor sie entscheidet, ob sie die Finanzierung ablehnt.“
Verordnung (EG) Nr. 885/2006
4 Die Einzelheiten des Konformitätsabschlussverfahrens sind in Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 885/2006 der Kommission vom 21. Juni 2006 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1290/2005 hinsichtlich der Zulassung der Zahlstellen und anderen Einrichtungen sowie des Rechnungsabschlusses für den EGFL und den ELER (ABl. L 171, S. 90) festgelegt. Außerdem legt Art. 16 dieser Verordnung die Einzelheiten des Schlichtungsverfahrens fest.
Verordnungen (EG) Nrn. 1782/2003 und 73/2009
5 Im Rahmen der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik erließ der Rat die Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 vom 29. September 2003 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 2019/93, (EG) Nr. 1452/2001, (EG) Nr. 1453/2001, (EG) Nr. 1454/2001, (EG) Nr. 1868/94, (EG) Nr. 1251/1999, (EG) Nr. 1254/1999, (EG) Nr. 1673/2000, (EWG) Nr. 2358/71 und (EG) Nr. 2529/2001 (ABl. L 270, S. 1). Diese Verordnung führte u. a. eine von der Produktion abgekoppelte Einkommensstützungsregelung für Landwirte ein. Diese in Art. 1 zweiter Gedankenstrich dieser Verordnung als „Betriebsprämienregelung“ bezeichnete Regelung fasst eine Reihe von Direktzahlungen an Landwirte gemäß verschiedenen bis dahin bestehenden Beihilferegelungen zusammen.
6 Die Betriebsprämienregelung ist Gegenstand von Titel III der Verordnung Nr. 1782/2003, der, in fünf Kapitel gegliedert, die Art. 33 bis 71m umfasst.
7 Titel III Kapitel 2 der Verordnung Nr. 1782/2003 legt die Vorschriften für die Bestimmung des Beihilfebetrags fest. Dieser Betrag wird nach Art. 37 Abs. 1 dieser Verordnung wie folgt berechnet:
„Der Referenzbetrag entspricht dem Dreijahresdurchschnitt der Gesamtbeträge der Zahlungen, die ein Betriebsinhaber im Rahmen der Stützungsregelungen nach Anhang VI in jedem Kalenderjahr des Bezugszeitraums nach Artikel 38 bezogen hat und der gemäß Anhang VII berechnet und angepasst wurde.“
8 Der Bezugszeitraum umfasst, wie in Art. 38 der Verordnung Nr. 1782/2003 definiert, die Kalenderjahre 2000, 2001 und 2002.
9 Titel III Kapitel 3 der Verordnung Nr. 1782/2003 betrifft die Zahlungsansprüche. Insoweit bestimmt Art. 43 („Bestimmung der Zahlungsansprüche“) dieser Verordnung u. a.:
„(1) [E]in Betriebsinhaber [erhält] einen Zahlungsanspruch je Hektar Fläche, der sich in der Weise berechnet, dass der Referenzbetrag durch den Dreijahresdurchschnitt der Hektarzahl aller Flächen geteilt wird, für die im Bezugszeitraum ein Anspruch auf Direktzahlungen nach Anhang VI bestand.
Die Gesamtzahl der Zahlungsansprüche ist gleich der genannten durchschnittlichen Hektarzahl.
…“
10 Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1782/2003 in ihrer ursprünglichen Fassung definiert den Begriff „beihilfefähige Fläche“ insbesondere als „jede landwirtschaftliche Fläche des Betriebs, die als Ackerland oder Dauergrünland genutzt wird, ausgenommen die für Dauerkulturen, Wälder oder nicht landwirtschaftliche Tätigkeiten genutzten Flächen“.
11 Titel III Kapitel 5 Abschnitt 1 der Verordnung Nr. 1782/2003 gestattete den Mitgliedstaaten u. a., sich für eine regionale Durchführung der Betriebsprämienregelung zu entscheiden. Art. 58 dieser Verordnung bestimmt insoweit:
„(1) Die Mitgliedstaaten können bis spätestens 1. August 2004 beschließen, die Betriebsprämienregelung gemäß den Kapiteln 1 bis 4 nach den Bestimmungen dieses Abschnitts auf regionaler Ebene anzuwenden.
(2) Die Mitgliedstaaten legen die Regionen nach objektiven Kriterien fest.
Mitgliedstaaten mit einer beihilfefähigen Fläche von weniger als drei Millionen Hektar können als eine einzige Region angesehen werden.
(3) Die Mitgliedstaaten teilen die Obergrenze gemäß Artikel 41 nach objektiven Kriterien auf die Regionen auf.“
12 Art. 59 der Verordnung Nr. 1782/2003 legt die Vorschriften über die regionale Anwendung der Betriebsprämienregelung wie folgt fest:
„(1) In hinreichend begründeten Fällen können die Mitgliedstaaten den Gesamtbetrag der gemäß Artikel 58 festgelegten regionalen Obergrenze nach objektiven Kriterien ganz oder teilweise auf alle Betriebsinhaber aufteilen, deren Betriebe in der betreffenden Region gelegen sind, einschließlich der Betriebsinhaber, die das Beihilfekriterium gemäß Artikel 33 nicht erfüllen.
(2) Wird der Gesamtbetrag der regionalen Obergrenze aufgeteilt, so wird der Wert pro Einheit der den Betriebsinhabern zustehenden Ansprüche berechnet, indem die gemäß Artikel 58 festgelegte regionale Obergrenze durch die auf regionaler Ebene bestimmte beihilfefähige Hektarzahl im Sinne von Artikel 44 Absatz 2 geteilt wird.
(3) Wird der Gesamtbetrag der regionalen Obergrenze teilweise aufgeteilt, so wird der Wert pro Einheit der den Betriebsinhabern zustehenden Ansprüche berechnet, indem der entsprechende Teil der gemäß Artikel 58 festgelegten regionalen Obergrenze durch die auf regionaler Ebene bestimmte beihilfefähige Hektarzahl im Sinne von Artikel 44 Absatz 2 geteilt wird.
Stehen dem Betriebsinhaber auch Ansprüche aus dem übrigen Teil der regionalen Obergrenze zu, so wird der regionale Wert pro Einheit jedes seiner Ansprüche mit Ausnahme von Zahlungsansprüchen bei Flächenstilllegungen um einen Betrag erhöht, der dem Referenzbetrag, geteilt durch die Anzahl seiner Ansprüche gemäß Absatz 4, entspricht.
Die Artikel 48 und 49 gelten entsprechend.
(4) Die Anzahl der Ansprüche je Betriebsinhaber entspricht der Hektarzahl, die er gemäß Artikel 44 Absatz 2 im ersten Jahr der Anwendung der Betriebsprämienregelung angemeldet hat, außer im Fall höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände im Sinne des Artikels 40 Absatz 4.“
13 Die Verordnung Nr. 1782/2003 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005, (EG) Nr. 247/2006 und (EG) Nr. 378/2007 (ABl. L 30, S. 16) mit Wirkung vom 1. Januar 2009 aufgehoben und ersetzt.
14 Art. 34 („Aktivierung von Zahlungsansprüchen je beihilfefähige Hektarfläche“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 lautet:
„Eine Stützung im Rahmen der Betriebsprämienregelung wird den Betriebsinhabern bei Aktivierung eines Zahlungsanspruchs je beihilfefähige Hektarfläche gewährt. Bei aktivierten Zahlungsansprüchen besteht Anspruch auf die Zahlung der darin festgesetzten Beträge.“
15 Art. 36 („Änderung von Zahlungsansprüchen“) Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 hat folgenden Wortlaut:
„Sofern in der vorliegenden Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, werden die Zahlungsansprüche pro Hektar nicht geändert.“
Verordnungen (EG) Nrn. 796/2004 und 1122/2009
16 Nach den Erwägungsgründen 29 und 55 der Verordnung (EG) Nr. 796/2004 der Kommission vom 21. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, zur Modulation und zum Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem nach der Verordnung Nr. 1782/2003 (ABl. L 141, S. 18) ist Folgendes vorgesehen:
„(29)
Die Einhaltung der Bestimmungen der im Rahmen des integrierten Systems verwalteten Beihilferegelungen sollte wirksam überwacht werden. …
(55) Um die finanziellen Interessen der [Union] wirksam zu schützen, sind geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug zu treffen. Für die Behandlung festgestellter Unregelmäßigkeiten in Bezug auf die Beihilfevoraussetzungen sollten dabei gesonderte Vorschriften bei den unterschiedlichen Beihilferegelungen gelten.“
17 Art. 2 Nr. 22 der Verordnung Nr. 796/2004 definiert die „ermittelte Fläche“ wie folgt:
„… Fläche, die allen in den Vorschriften für die Beihilfegewährung festgelegten Voraussetzungen genügt; im Rahmen der Betriebsprämienregelung ist die beantragte Fläche nur zusammen mit der entsprechenden Zahl von Zahlungsansprüchen als ermittelte Fläche zu betrachten“.
18 Art. 50 („Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen“) Abs. 1 bis 3 der Verordnung Nr. 796/2004 in geänderter Fassung sieht Folgendes vor:
„(1) Liegt im Fall von Beihilfeanträgen im Rahmen der flächenbezogenen Beihilferegelungen, ausgenommen die Beihilfen für Stärkekartoffeln, Saatgut und Tabak gemäß Titel IV Kapitel 6, 9 bzw. 10c der Verordnung … Nr. 1782/2003, die ermittelte Fläche einer Kulturgruppe über der im Beihilfeantrag angegebenen Fläche, so wird bei der Berechnung des Beihilfebetrags die angegebene Fläche berücksichtigt.
(2) Ergibt sich bei einem Beihilfeantrag im Rahmen der Betriebsprämienregelung eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche, so wird für die Berechnung der Zahlung die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt.
(3) Liegt im Fall von Beihilfeanträgen im Rahmen der flächenbezogenen Beihilferegelungen, ausgenommen die Beihilfen für Stärkekartoffeln, Saatgut und Tabak gemäß Titel IV Kapitel 6, 9 bzw. 10c der Verordnung … Nr. 1782/2003, die im Sammelantrag angegebene Fläche über der ermittelten Fläche derselben Kulturgruppe, so wird die Beihilfe, unbeschadet der gemäß den Artikeln 51 und 53 vorzunehmenden Kürzungen und Ausschlüsse, auf der Grundlage der für diese Kulturgruppe ermittelten Fläche berechnet.
Unbeschadet von Artikel 29 der Verordnung … Nr. 1782/2003 wird jedoch im Falle, dass die Differenz zwischen der ermittelten Gesamtfläche und der für Zahlungen im Rahmen von Beihilferegelungen gemäß den Titeln III, IV und IVa der Verordnung … Nr. 1782/2003 angemeldeten Gesamtfläche 0,1 ha oder weniger beträgt, die ermittelte Fläche mit der angemeldeten Fläche gleichgesetzt. Für diese Berechnung werden nur Übererklärungen auf Kulturgruppenebene berücksichtigt.
Die Bestimmung von Unterabsatz 2 gilt nicht, wenn diese Differenz mehr als 20 % der für Zahlungen angemeldeten Gesamtfläche beträgt.“
19 Art. 50 Abs. 5 der Verordnung Nr. 796/2004 enthält Regeln für die Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen hinsichtlich der angemeldeten Fläche für die spezifische Qualitätsprämie für Hartweizen gemäß Art. 72 der Verordnung Nr. 1782/2003 und für den Hartweizenzuschlag und die Sonderbeihilfe gemäß Art. 105 derselben Verordnung.
20 Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 380/2009 der Kommission vom 8. Mai 2009 (ABl. L 116, S. 9) geänderten Fassung regelt die „Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen in Bezug auf die Fläche durch die Betriebsinhaber“ wie folgt:
„(1) Liegt bei einer Kulturgruppe die angemeldete Fläche für die Zwecke der flächenbezogenen Beihilferegelungen, ausgenommen die Regelungen für Stärkekartoffeln, Saatgut und Tabak gemäß Titel IV Kapitel 1 Abschnitte 2 und 5 der Verordnung … Nr. 73/2009 sowie Titel IV Kapitel 10c der Verordnung … Nr. 1782/2003, über der gemäß Artikel 50 Absätze 3 und 5 der vorliegenden Verordnung ermittelten Fläche, so wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, berechnet, wenn die Differenz über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht.
Liegt die Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird für die betreffende Kulturgruppe keine flächenbezogene Beihilfe gewährt.
Beläuft sich die Differenz auf mehr als 50 %, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe des Betrags, der der Differenz zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Artikel 50 Absätze 3 und 5 der vorliegenden Verordnung ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen. Dieser Betrag wird gemäß Artikel 5b der Verordnung … Nr. 885/2006 der Kommission verrechnet. Kann der Betrag im Verlauf der drei Kalenderjahre, die auf das Kalenderjahr der Feststellung folgen, nicht vollständig gemäß dem genannten Artikel verrechnet werden, wird der Restbetrag annulliert.
(2a) Hat ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet und erfüllt die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen, so finden die in Absatz 1 genannten Kürzungen und Ausschlüsse keine Anwendung.
Hat ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet und erfüllt die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen nicht, so ist die in Absatz 1 genannte Differenz die Differenz zwischen der Fläche, die alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, und dem Betrag der gemeldeten Zahlungsverpflichtungen.
…“
21 Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 659/2006 der Kommission vom 27. April 2006 zur Änderung der Verordnung Nr. 796/2004 (ABl. L 116, S. 20) eingefügt. Der zwölfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/2006 lautet:
„Falls ein Betriebsinhaber mehr Fläche angemeldet hat, als er Zahlungsansprüche besitzt, schreibt Artikel 50 Absatz 2 der Verordnung … Nr. 796/2004 vor, dass für die Berechnung der Beihilfe die Fläche in Hektar zugrunde gelegt wird, für die Zahlungsansprüche gelten. Falls die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfefähigkeitsvoraussetzungen erfüllt, ist es nicht nötig, Kürzungen oder Ausschlüsse gemäß Artikel 51 oder 53 derselben Verordnung anzuwenden. Diese Bestimmungen sind daher dahin gehend genauer zu fassen.“
22 Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 betrifft die vorsätzliche Übererklärung. Er sieht in seinem Unterabs. 1 vor, dass, wenn festgestellte Differenzen zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung ermittelten Fläche auf vorsätzlich begangenen Unregelmäßigkeiten beruhen, im laufenden Kalenderjahr keine Beihilfe im Rahmen der betreffenden Beihilferegelung, auf die der Betriebsinhaber gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung Anspruch gehabt hätte, gewährt wird, sofern die Differenz mehr als 0,5 % der ermittelten Fläche oder mehr als einen Hektar beträgt. Nach Art. 53 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 ist außerdem, wenn sich die Differenz auf mehr als 20 % der ermittelten Fläche beläuft, der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe eines Betrags, der der Differenz zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen.
23 Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 legt die Regeln für die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge fest. Die Abs. 1 und 4 dieser Bestimmung lauten:
„(1) Bei zu Unrecht gezahlten Beträgen ist der Betriebsinhaber zur Rückzahlung dieser Beträge zuzüglich der gemäß Absatz 3 berechneten Zinsen verpflichtet.
…
(4) Die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Absatz 1 gilt nicht, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde oder einer anderen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte.
Bezieht sich der Irrtum auf Tatsachen, die für die Berechnung der betreffenden Zahlung relevant sind, so gilt Unterabsatz 1 nur, wenn der Rückforderungsbescheid nicht innerhalb von zwölf Monaten nach der Zahlung übermittelt worden ist.“
24 Art. 73a („Wiedereinziehung zu Unrecht zugewiesener Ansprüche“) der Verordnung Nr. 796/2004 in geänderter Fassung sieht u. a. vor:
„(1) Wird, nachdem Betriebsinhabern gemäß der Verordnung (EG) Nr. 795/2004 Zahlungsansprüche zugewiesen worden sind, festgestellt, dass bestimmte Zahlungsansprüche zu Unrecht zugewiesen wurden, so muss der betreffende Betriebsinhaber die zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche an die in Artikel 42 der Verordnung … Nr. 1782/2003 genannte nationale Reserve zurückgeben.
…
Die zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche gelten als von Anfang an nicht zugewiesen.
(2) Wird, nachdem Betriebsinhabern gemäß der Verordnung … Nr. 795/2004 der Kommission Zahlungsansprüche zugewiesen worden sind, festgestellt, dass der Wert der Zahlungsansprüche zu hoch ist, so wird der Wert entsprechend angepasst. … Der Wert der Verringerung wird der in Artikel 42 der Verordnung … Nr. 1782/2003 genannten nationalen Reserve zugeschlagen.
Die Zahlungsansprüche gelten als von Anfang an zu dem sich aus der Anpassung ergebenden Wert zugewiesen.
(2a) Wird für die Zwecke der Anwendung der Absätze 1 und 2 festgestellt, dass die Zahl der einem Betriebsinhaber gemäß der Verordnung … Nr. 795/2004 zugewiesenen Zahlungsansprüche nicht korrekt ist, wobei sich die zu Unrecht erfolgte Zuweisung nicht auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche auswirkt, die der Betriebsinhaber erhalten hat, so berechnet der Mitgliedstaat die Zahlungsansprüche neu und berichtigt gegebenenfalls die Art der dem Betriebsinhaber zugewiesenen Ansprüche. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Fehler von den Betriebsinhabern nach billigem Ermessen hätten festgestellt werden können.
…
(4) Zu Unrecht gezahlte Beträge werden gemäß Artikel 73 zurückgefordert.“
25 Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 239/2005 der Kommission vom 11. Februar 2005 zur Änderung und Berichtigung der Verordnung Nr. 796/2004 (ABl. L 42, S. 3) eingefügt, deren 15. Erwägungsgrund wie folgt lautet:
„Es sollten Vorschriften für den Fall festgelegt werden, dass ein Betriebsinhaber eine unzulässige Anzahl von Zahlungsansprüchen erhalten hat oder dass der Wert jedes der Zahlungsansprüche gemäß den verschiedenen Modellen im Rahmen der Betriebsbeihilferegelung in unzulässiger Höhe festgesetzt wurde. …“
26 Art. 73 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 972/2007 der Kommission vom 20. August 2007 zur Änderung der Verordnung Nr. 796/2004 (ABl. L 216, S. 3) eingefügt, die am 21. August 2007 in Kraft getreten ist und für Beihilfeanträge gilt, die sich auf Jahre oder Prämienzeiträume ab 1. Januar 2008 beziehen; ihr 19. Erwägungsgrund lautet wie folgt:
„In bestimmten Fällen betrafen zu Unrecht erfolgte Zuweisungen von Zahlungsansprüchen nicht den Gesamtwert, sondern nur die Anzahl der Ansprüche des Betriebsinhabers. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten die Zuweisung oder gegebenenfalls die Art der Ansprüche berichtigen, ohne deren Wert zu verringern. Diese Bestimmung sollte nur gelten, wenn der Betriebsinhaber den Fehler nicht hätten feststellen können.“
27 Die Verordnung Nr. 796/2004 wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2010 aufgehoben und ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 73/2009 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor (ABl. L 316, S. 65).
28 Der 78. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1122/2009 hat folgenden Wortlaut:
„Die Zahlung der Stützung im Rahmen der Betriebsbeihilferegelung erfordert dieselbe Anzahl von Zahlungsansprüchen und beihilfefähigen Hektar. Für den Zweck dieser Regelung ist daher vorzuschreiben, dass für die Berechnung der Zahlung im Falle von Abweichungen zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt wird. Um eine Berechnung auf der Grundlage nicht vorhandener Ansprüche zu vermeiden, ist vorzusehen, dass die bei der Berechnung zugrunde gelegte Anzahl von Zahlungsansprüchen die dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehende Anzahl von Zahlungsansprüchen nicht überschreiten darf.“
29 Art. 57 („Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen“) der Verordnung Nr. 1122/2009 sieht in seinem Abs. 2 vor:
„Bei einem Beihilfeantrag im Rahmen der Betriebsprämienregelung gilt Folgendes:
—
ergibt sich eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche, so wird für die Berechnung der Zahlung die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt;
—
liegt die Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche über der Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche, so werden die angemeldeten Zahlungsansprüche auf die Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche gesenkt.“
30 Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 regelt die „Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von zu viel angemeldeten Flächen“. Er entspricht im Wesentlichen Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004.
31 Nach Art. 87 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 gilt diese Verordnung für Beihilfeanträge, die sich auf ab dem 1. Januar 2010 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen.
Dokument Nr. VI/5330/97
32 Die Leitlinien der Kommission zu finanziellen Berichtigungen sind im Dokument Nr. VI/5330/97 der Kommission vom 23. Dezember 1997 („Berechnung der finanziellen Auswirkungen im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung über den Rechnungsabschluss des EAGFL – Garantie“, im Folgenden: Dokument Nr. VI/5330/97) definiert.
33 In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97, in dem es um die finanziellen Auswirkungen von Mängeln der mitgliedstaatlichen Kontrollen im Rahmen des Rechnungsabschlusses des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, geht, heißt es im Abschnitt „Einleitung“:
„Stellt die Kommission fest, dass sich eine bestimmte Zahlung auf einen Antrag bezieht, der nicht mit den Gemeinschaftsvorschriften übereinstimmt, so sind die finanziellen Auswirkungen eindeutig: ausgenommen den Fall, dass die zu Unrecht erfolgte Zahlung bereits von den nationalen Kontrollbehörden entdeckt wurden und diese geeignete Abhilfemaßnahmen getroffen und die Wiedereinziehung in die Wege geleitet haben (siehe Anhang 4), muss die Kommission die Finanzierung aus dem Gemeinschaftshaushalt ablehnen. Stützen sich die finanziellen Auswirkungen auf die Überprüfung der Ausgaben für eine große Zahl von Vorgängen, so wird, wenn immer möglich, der abzulehnende Betrag auf Basis einer Extrapolation der Ergebnisse der Überprüfung einer repräsentativen Stichprobe von Vorgängen berechnet. Die Extrapolation sollte für alle Mitgliedstaaten nach der gleichen Methode vorgenommen werden, einschließlich der gleichen Signifikanzschwelle und des gleichen Konfidenzniveaus, der gleichen Schichtung der Gesamtstichprobe, der Stichprobengröße und der Bewertung der Fehler innerhalb der Stichprobe bezogen auf die finanziellen Auswirkungen insgesamt.
Wenn sich ein Mitgliedstaat nicht an die Gemeinschaftsverordnungen bezüglich der Überprüfung der Beihilfefähigkeit der Anträge hält, dann bedeutet dieses Versäumnis, dass die Zahlungen gegen die Gemeinschaftsvorschriften für die betreffende Maßnahme und gegen das in Artikel 8 der Verordnung … Nr. 729/70 genannte allgemeine Erfordernis verstoßen, wonach die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, um Unregelmäßigkeiten zu verfolgen und zu verhindern. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass alle Anträge vorschriftswidrig waren, aber es bedeutet, dass die Gefahr, dass dem [EAGFL] unregelmäßige Zahlungen belastet werden, größer ist. Während die Kommission in bestimmten flagranten Fällen unter Umständen berechtigt ist, die Ausgaben in voller Höhe abzulehnen, wenn die in einer Verordnung vorgeschriebenen Kontrollen nicht vorgenommen wurden, würde der abgelehnte Betrag in vielen anderen Fällen aller Wahrscheinlichkeit nach höher sein, als der der Gemeinschaft entstandene finanzielle Schaden. Daher ist vor jeder Festsetzung einer finanziellen Berichtigung eine Beurteilung des finanziellen Verlusts vorzunehmen.
…“
34 In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 heißt es im Abschnitt „Bewertung auf Basis von Irrtümern in einzelnen Vorgängen“:
„Auf Basis der Verfahren in den bisherigen internen Leitlinien wird die finanzielle Berichtigung nach einer der folgenden Methoden berechnet:
a)
Ablehnung eines einzelnen Antrags, für den die erforderlichen Kontrollen nicht durchgeführt wurden;
b)
Ablehnung eines Betrags, den man durch Hochrechnung der Ergebnisse der Überprüfung einer repräsentativen Stichprobe von Fällen auf die Gesamtheit der Fälle erhält, aus denen die Stichprobe gebildet wurde, der aber auf den Verwaltungsbereich beschränkt bleibt, in dem der betreffende Mangel nach vernünftigem Ermessen auftreten kann. Dabei wird dem Mitgliedstaat Gelegenheit geboten, nachzuweisen, dass sich das Ergebnis der Extrapolation von dem unterscheidet, das man bei Prüfung aller Fälle in der Stichprobe erhalten würde.
…“
35 In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 heißt es im Abschnitt „Beurteilung auf Basis des Risikos eines finanziellen Schadens: Pauschale Berichtigungen“:
„Mit der immer häufigeren Durchführung von Systemprüfungen haben die Kommissionsdienststellen auch immer häufiger eine Beurteilung des Risikos vorgenommen, das sich aus einem Systemfehler ergibt. In den Fällen, in denen sich die tatsächliche Höhe der unregelmäßigen Zahlungen und somit die Höhe des der Gemeinschaft entstandenen finanziellen Schadens nicht bestimmen lässt, hat die Kommission seit dem Rechnungsabschluss für das Rechnungsjahr 1990 abhängig von der Höhe des Risikos pauschale Berichtigungen in Höhe von 2 %, 5 % oder 10 % der erklärten Ausgaben vorgenommen. In Ausnahmefällen können auch höhere Berichtigungen bis hin zu einer 100%igen Ablehnung beschlossen werden. Das Recht der Kommission, derartige Berichtigungen vorzunehmen, ist vom Gerichtshof in mehreren Urteilen bei Klagen gegen … jährliche Rechnungsabschlussentscheidungen bekräftigt worden (z. B. Urteil in der Rechtssache C‑50/94).
…“
36 In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 heißt es im Abschnitt „Leitlinien für die Anwendung pauschaler Berichtigungen“:
„Pauschale Berichtigungen kommen in Frage, wenn es dem Prüfer anhand der aus einer Untersuchung resultierenden Informationen nicht möglich ist, den tatsächlichen Verlust durch eine Extrapolation der festgestellten Verluste, auf statistischem Wege oder durch Bezugnahme auf andere überprüfbare Daten zu bewerten, er aber andererseits feststellen kann, dass der Mitgliedstaat es versäumt hat, die Förderfähigkeit der abgerechneten Anträge adäquat zu überprüfen.
… Die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat seine Kontrollverfahren nicht verbessert, fällt schwerer ins Gewicht, wenn die Kommission ihm bereits mitgeteilt hat, welche Verbesserungen sie für notwendig hält, um den Gemeinschaftshaushalt gegen Betrug und Unregelmäßigkeiten zu schützen.
…
Wurden zwar alle Schlüsselkontrollen vorgenommen, jedoch nicht in der nach den Verordnungen vorgeschriebenen Zahl, Häufigkeit oder Intensität, so ist eine Berichtigung in Höhe von 5 % gerechtfertigt, weil in diesem Fall der Schluss zulässig ist, dass die Kontrollen nach vernünftigem Ermessen keine ausreichende Gewähr für die Ordnungsmäßigkeit der Anträge bieten und dass die Gefahr eines hohen Verlusts zum Nachteil des Fonds bestand.
…“
Regelung der Union über den Schutz ihrer finanziellen Interessen
37 Im neunten Erwägungsgrund der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1), die einen allen Bereichen der Unionspolitik gemeinsamen rechtlicher Rahmen festlegt, heißt es:
„Die … Maßnahmen und Sanktionen [der Union] zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik sind Bestandteil der Beihilferegelungen. Sie haben einen eigenen Zweck, der die strafrechtliche Bewertung des Verhaltens der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten unberührt lässt. Ihre Effizienz ist durch die unmittelbare Wirksamkeit der [Union]snorm und die uneingeschränkte Anwendbarkeit aller [Union]smaßnahmen sicherzustellen, sofern mit vorsorglichen Maßnahmen dieses Ziel nicht erreicht werden konnte. …“
38 Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:
„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen [Union] wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das [Union]srecht getroffen.
(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine [Union]sbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Union] oder die Haushalte, die von [der Union] verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der [Union] erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“
39 Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:
„Eine verwaltungsrechtliche Sanktion kann nur verhängt werden, wenn sie in einem Rechtsakt der [Union] vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde. Bei späterer Änderung der in einer [Union]sregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen gelten die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend.“
40 Art. 5 der Verordnung Nr. 2988/95 sieht in seinem Abs. 1 Buchst. c und d Folgendes vor:
„Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen:
…
c)
vollständiger oder teilweiser Entzug eines nach [Union]srecht gewährten Vorteils auch dann, wenn der Wirtschaftsteilnehmer nur einen Teil dieses Vorteils rechtswidrig erlangt hat;
d)
Ausschluss von einem Vorteil oder Entzug eines Vorteils für einen Zeitraum, der nach dem Zeitraum der Unregelmäßigkeit liegt;
…“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
41 Vom 9. bis zum 13. November 2009 führten die Dienststellen der Kommission eine Untersuchung im Vereinigten Königreich betreffend die ordnungsgemäße Anwendung der Vorschriften über die Finanzierung von getätigten Ausgaben im Rahmen der Betriebsprämienregelung in Nordirland (Vereinigtes Königreich) im Jahr 2010 für das Antragsjahr 2009 durch (Untersuchung AA/2009/24).
42 Mit Schreiben vom 8. Januar 2010 (im Folgenden: erste Mitteilung vom 8. Januar 2010), das gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 885/2006 übersandt wurde, teilte die Kommission den Behörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland das Ergebnis dieser Untersuchung mit. Diesem Schreiben war ein Anhang mit der Überschrift „Bemerkungen und Auskunftsverlangen“, der die Ergebnisse der Untersuchung enthielt, beigefügt.
43 Dieser ersten Mitteilung vom 8. Januar 2010 zufolge vertrat die Kommission u. a. die Auffassung, die Behörden des Vereinigten Königreichs hätten die Anforderungen des Unionsrechts nicht in vollem Umfang erfüllt, weshalb Abhilfemaßnahmen erforderlich seien, die künftig die Beachtung dieser Anforderungen sicherstellen sollten. Die Kommission bat um Unterrichtung über die bereits erlassenen und die geplanten Abhilfemaßnahmen sowie den für ihre Anwendung vorgesehenen Zeitplan. Im Übrigen wies die Kommission darauf hin, dass sie die durch den EGFL (im Folgenden: Fonds) und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) finanzierten Ausgaben nach Art. 31 der Verordnung Nr. 1290/2005 teilweise von der Finanzierung durch die Union ausschließen könne. Die festgestellten Mängel würden außerdem als Grundlage für die Berechnung der finanziellen Berichtigungen betreffend die bis zur Anwendung geeigneter Abhilfemaßnahmen getätigten Ausgaben dienen.
44 In den Bemerkungen und Empfehlungen im Anhang der ersten Mitteilung vom 8. Januar 2010 wies die Kommission zunächst insbesondere auf Mängel des Systems zur Identifizierung der landwirtschaftlich genutzten Parzellen (LPIS) und des geografischen Informationssystems (GIS) (im Folgenden zusammen: LPIS-GIS) hin, da die darin enthaltenen Informationen nicht hinreichend genau seien, um die Aussagekraft der zur Kontrolle der Beihilfefähigkeit der angegebenen Flächen durchgeführten Verwaltungskontrollen und Kontrollen vor Ort zu gewährleisten, sodann auf Mängel bei den Kontrollen vor Ort und schließlich auf Mängel bei der Anwendung von Sanktionen, der rückwirkenden Berichtigung nicht beihilfefähiger Anträge, der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge und der Anwendung von Kürzungen bei vorsätzlichen Verstößen. Aus diesem Anhang geht außerdem hervor, dass die Kommission zwar Verbesserungen gegenüber früheren Untersuchungen (Untersuchungen AA/2006/07 und AA/2008/18) feststelle, sie jedoch auch der Auffassung sei, dass die bei diesen Untersuchungen dargelegten Mängel weiter vorlägen.
45 Mit Schreiben vom 20. Mai 2010 wurden die Behörden des Vereinigten Königreichs von der Kommission aufgefordert, zu den streitigen Aspekten im Hinblick auf eine für den 1. Juli 2010 vorgesehene bilaterale Besprechung Stellung zu nehmen.
46 Die bilaterale Besprechung zwischen den Dienststellen der Kommission und den Behörden des Vereinigten Königreichs fand am 1. Juli 2010 in Brüssel (Belgien) statt. Das Protokoll dieser Besprechung wurde diesen Behörden am 4. August 2010 übermittelt.
47 Aus dem Protokoll der bilateralen Besprechung vom 1. Juli 2010 geht hervor, dass die Kommission nach diesem Treffen ihre in der ersten Mitteilung vom 8. Januar 2010 enthaltenen Schlussfolgerungen im Wesentlichen aufrechterhielt. Sie bestätigte ihre Schlussfolgerungen zur Feststellung von Mängeln u. a. betreffend die im LPIS-GIS enthaltenen Informationen, die Kontrollen vor Ort sowie die Anwendung von Sanktionen, die rückwirkende Berichtigung der nicht beihilfefähigen Anträge, die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge und die Anwendung von Kürzungen bei vorsätzlichen Verstößen. Außerdem wies sie darauf hin, dass diese Mängel Schlüsselkontrollen und Zusatzkontrollen im Sinne des Dokuments Nr. VI/5330/97 beträfen, und machte die Behörden des Vereinigten Königreichs darauf aufmerksam, dass sie die Möglichkeit hätten, nachzuweisen, dass das finanzielle Risiko geringer sei als die pauschalen Berichtigungen, die nach diesem Dokument angewandt werden könnten. Überdies sei das wiederholte Auftreten der dargelegten Mängel zu berücksichtigen, wobei insoweit auf das Arbeitsdokument der Kommission AGRI/60637/2006 („Mitteilung der Kommission über die Behandlung durch die Kommission im Rahmen des Rechnungsabschlusses des EAGFL, Abteilung Garantie, von Fällen eines wiederholten Auftretens derselben Mängel in Kontrollsystemen“) verwiesen werde.
48 Im Anschluss an die bilaterale Besprechung vom 1. Juli 2010 leiteten die Behörden des Vereinigten Königreichs eine Untersuchung zur Beurteilung des Risikos ein. Mit Schreiben vom 25. Oktober 2010 teilten sie der Kommission mit, dass sie nicht in der Lage seien, diese Untersuchung zum vorgesehenen Zeitpunkt abzuschließen.
49 Mit Schreiben vom 29. März 2011 übermittelten die Behörden des Vereinigten Königreichs der Kommission einen Bericht über die Beurteilung des Risikos für die Betriebsprämienregelung in Nordirland für das Antragsjahr 2009 (im Folgenden: Bericht über die Beurteilung des Risikos), der sich auf eine Stichprobe von 394 im Jahr 2009 gestellten Anträgen gründet. Aus dem Bericht über die Beurteilung des Risikos geht zunächst hervor, dass im Jahr 2009 die von den Antragstellern aktivierten nicht beihilfefähigen Flächen 2,72 % der aktivierten Zahlungsansprüche entsprochen hätten. Sodann habe das finanzielle Risiko, verstanden als Unterschied zwischen dem gezahlten Betrag und einer revidierten Zahlung, die gegebenenfalls die zu verhängenden Sanktionen umfasse, bezogen auf den Durchschnitt der Stichprobe 2,05 % vor der Anwendung der Sanktionen und 5,19 % nach der Anwendung der Sanktionen entsprochen. Schließlich geht hinsichtlich der Sanktionen aus diesem Bericht hervor, dass die Zahlungen und die Sanktionen nach den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 796/2004 in ihrer Auslegung durch die Kommission berechnet worden seien. In Anhang 1 dieses Berichts, auf den dieser ausdrücklich Bezug nimmt, wiesen die Behörden des Vereinigten Königreichs jedoch darauf hin, dass das Risiko für den Fonds nach ihrer eigenen Auslegung dieser Bestimmungen ungefähr 0,59 % vor der Anwendung der Sanktionen und ungefähr 0,86 % nach der Anwendung der Sanktionen betrage.
50 Mit Schreiben vom 3. Februar 2012 richtete die Kommission an die Behörden des Vereinigten Königreichs eine förmliche Mitteilung nach Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 885/2006, in der sie ihren Standpunkt zu den angeführten Mängeln bezüglich der im Jahr 2010 für das Antragsjahr 2009 getätigten Ausgaben aufrechterhielt. Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen erkannte die Kommission zum einen die von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgeschlagene Risikobeurteilung an, da sie der Ansicht war, dass nach vernünftigem Ermessen die Höhe des finanziellen Schadens anhand dieser Beurteilung bestimmt werden könne. Daher nahm die Kommission auf der Grundlage des Dokuments Nr. VI/5330/97 wegen der drei Arten von dargelegten Mängeln eine auf die in Nordirland im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 getätigten Ausgaben anwendbare punktuelle Berichtigung von 5,19 % an. Zum anderen wandte die Kommission hinsichtlich der Ausgaben für die Entwicklung des ländlichen Raums in Ermangelung einer von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgeschlagenen Beurteilung eine pauschale Berichtigung von 5 % wegen der Mängel einer Schlüsselkontrolle an.
51 Die Kommission schlug daher vor, den Betrag von 17687303,16 Euro für die im Jahr 2010 getätigten Ausgaben, davon 16513582,57 Euro für die Ausgaben für die Betriebsprämienregelung und 1173720,59 Euro für die Ausgaben für die Entwicklung des ländlichen Raums, von der Finanzierung durch die Union auszuschließen.
52 Die Behörden des Vereinigten Königreichs stellten keinen Antrag auf Schlichtung an die Schlichtungsstelle nach Art. 16 der Verordnung Nr. 885/2006.
53 Am 15. Oktober 2012 legte die Kommission dem Vereinigten Königreich einen zusammenfassenden Bericht über die Ergebnisse der Untersuchung AA/2009/24 vor.
54 Unter diesen Umständen erließ die Kommission am 26. Februar 2013 den Durchführungsbeschluss 2013/123/EU über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des EAGFL, Abteilung Garantie, des EGFL und des ELER getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 67, S. 20, im Folgenden: angefochtener Beschluss), darunter die vom Vereinigten Königreich im Jahr 2010 in Nordirland getätigten Ausgaben, die Gegenstand der vorliegenden Rechtssache sind.
Verfahren und Anträge der Parteien
55 Das Vereinigte Königreich hat mit Klageschrift, die am 2. Mai 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
56 Mit Schriftsatz, der am 19. Juli 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat das Vereinigte Königreich beantragt, die vorliegende Rechtssache mit der Rechtssache T‑503/12, Vereinigtes Königreich/Kommission, zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und gemeinsamem Urteil zu verbinden. Die Kommission hat mit am 29. Juli 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz zu diesem Antrag Stellung genommen.
57 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist die Berichterstatterin der Zweiten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb zugewiesen worden ist.
58 Das Gericht (Zweite Kammer) hat auf Bericht der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 seiner Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Kommission eine schriftliche Frage gestellt. Diese hat darauf innerhalb der gesetzten Frist geantwortet.
59 In der Sitzung vom 3. Dezember 2014 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
60 Das Vereinigte Königreich beantragt,
—
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er einen in seinem Anhang 1 aufgeführten Eintrag über hochgerechnete Berichtigungen von in Nordirland getätigten Ausgaben um 5,19 % betrifft, und zwar für das Haushaltsjahr 2010 (um 16513582,57 Euro);
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
61 Die Kommission beantragt,
—
die Klage als unbegründet abzuweisen;
—
dem Vereinigten Königreich die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
62 Zur Stützung seiner Nichtigkeitsklage macht das Vereinigte Königreich zwei Klagegründe geltend, wobei der erste im Wesentlichen Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bei der Bestimmung des Umfangs der tatsächlichen Verluste für den Fonds und der zweite dem Ergebnis der Kommission anhaftende Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in Bezug auf die Mängel der Zusatzkontrollen und insbesondere auf die Methoden für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen betrifft.
63 Wie sich aus den Schriftsätzen der Parteien und den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung ergibt, rügt das Vereinigte Königreich mit seinen beiden zur Stützung der vorliegenden Klage geltend gemachten Klagegründen im Wesentlichen zum einen die Berechnungsgrundlage, nämlich alle Ausgaben, auf die die Kommission die finanzielle Berichtigung von 5,19 % angewandt habe (erster Klagegrund), und zum anderen insbesondere die Methode für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen, die für die Risikobeurteilung angewandt worden und Gegenstand der Feststellungen der Kommission betreffend die Mängel bei den Zusatzkontrollen seien (zweiter Klagegrund).
Vorbemerkungen
64 Als Erstes ist zunächst vorab darauf hinzuweisen, dass der Fonds nur die nach Unionsrechtsvorschriften vorgenommenen Interventionen im Rahmen der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte finanziert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Januar 2003, Griechenland/Kommission, C‑157/00, Slg, EU:C:2003:5, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung; vom 24. Februar 2005, Griechenland/Kommission, C‑300/02, Slg, EU:C:2005:103, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. September 2009, Österreich/Kommission, T‑368/05, EU:T:2009:305, Rn. 70).
65 Sodann ist es nach ständiger Rechtsprechung Sache der Kommission, das Vorliegen einer Verletzung der Regeln der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte nachzuweisen. Folglich muss die Kommission ihre Entscheidung rechtfertigen, mit der sie feststellt, dass der betroffene Mitgliedstaat keine oder mangelhafte Kontrollen durchgeführt hat. Die Kommission ist jedoch nicht verpflichtet, die Unzulänglichkeit der von den nationalen Verwaltungen durchgeführten Kontrollen oder die Fehlerhaftigkeit der von diesen übermittelten Zahlen umfassend darzulegen, sondern braucht nur glaubhaft zu machen, dass an diesen Kontrollen oder diesen Zahlen berechtigte Zweifel bestehen. Der betroffene Mitgliedstaat kann die Feststellungen der Kommission nur dadurch erschüttern, dass er seine Behauptungen auf Umstände stützt, mit denen das Vorhandensein eines zuverlässigen und funktionierenden Kontrollsystems nachgewiesen wird. Gelingt dem Mitgliedstaat der Nachweis, dass die Feststellungen der Kommission unzutreffend sind, nicht, so können diese Feststellungen ernsthafte Zweifel daran begründen, ob ein angemessenes und wirksames System von Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle eingeführt worden ist. Diese Erleichterung der Beweislast der Kommission beruht darauf, dass der Mitgliedstaat am besten in der Lage ist, die für den Rechnungsabschluss des Fonds erforderlichen Angaben beizubringen und nachzuprüfen, so dass es ihm obliegt, die Richtigkeit seiner Kontrollen oder seiner Zahlen eingehend und vollständig nachzuweisen und so gegebenenfalls die Fehlerhaftigkeit der Feststellungen der Kommission darzutun (vgl. in diesem Sinne Urteile Griechenland/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:C:2005:103, Rn. 33 bis 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 6. März 2001, Niederlande/Kommission, C‑278/98, Slg, EU:C:2001:124, Rn. 39 bis 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Österreich/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2009:305, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Nach ständiger Rechtsprechung ist es schließlich zwar Sache der Kommission, einen Verstoß gegen die Unionsvorschriften nachzuweisen. Ist dieser Nachweis aber erbracht, muss der Mitgliedstaat gegebenenfalls nachweisen, dass der Kommission hinsichtlich der hieraus zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. April 2008, Belgien/Kommission, C‑418/06 P, Slg, EU:C:2008:247, Rn. 135, und Österreich/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2009:305, Rn. 181).
67 Die Verwaltung der Fonds-Finanzierung ist nämlich in erster Linie Sache der nationalen Behörden, die für die strikte Einhaltung der Unionsvorschriften zu sorgen haben, und beruht auf dem Vertrauen zwischen den nationalen und den Unionsbehörden. Nur der Mitgliedstaat kann die für die Aufstellung der Fonds-Rechnungen nötigen Angaben kennen und genau bestimmen, da die Kommission nicht über die erforderliche Nähe zu den Wirtschaftsteilnehmern verfügt, um von ihnen die benötigten Auskünfte zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2004, Spanien/Kommission, C‑153/01, Slg, EU:C:2004:589, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Österreich/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2009:305, Rn. 182 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Als Zweites ist im Hinblick auf das Vorbringen der Parteien im Rahmen der beiden vom Vereinigten Königreich geltend gemachten Klagegründe das im Jahr 2005 von diesem angewandte Verfahren der Zuweisung der Zahlungsansprüche für die Durchführung der von der Verordnung Nr. 1782/2003 eingeführten Betriebsprämienregelung darzulegen.
69 Insoweit ergibt sich aus den Akten, dass sich das Vereinigte Königreich für eine regionale Durchführung der Betriebsprämienregelung gemäß Titel III Kapitel 5 der Verordnung Nr. 1782/2003 entschieden hat.
70 Die Zahlungsansprüche wurden in Nordirland auf der Grundlage des „hybrid-statischen“ Modells bestimmt. In diesem Modell besteht jeder Zahlungsanspruch aus einem „historischen“ Element (im Folgenden: historisches Element) und einem flächenbezogenen pauschalen Element (im Folgenden: pauschales Element), wobei die Summe der Werte dieser Elemente dem Wert pro Einheit des Zahlungsanspruchs entspricht. Zum einen wird, um den Wert des historischen Elements zu bestimmen, ein auf der Grundlage der Zahlungen an die Landwirte während des Bezugszeitraums (2000 bis 2002) bestimmter Referenzbetrag durch die von den Landwirten angemeldete beihilfefähige Hektarzahl geteilt, wobei diese Zahl dann die Zahl der zugewiesenen Zahlungsansprüche darstellt. Daraus folgt, dass, wenn die Summe der historischen Elemente einen festen Betrag darstellt, der auf der Grundlage der Zahlungen während des Bezugszeitraums bestimmt wird, der Wert pro Einheit jedes historischen Elements dieser Zahlungsansprüche von der Anzahl der im Jahr 2005 zugewiesenen Ansprüche und daher von der angemeldeten beihilfefähigen Hektarzahl dieses Jahres abhängt. Zum anderen ist das pauschale Element unveränderlich, im vorliegenden Fall 78,33 Euro.
71 Im Licht dieser Erwägungen und Hinweise ist die Begründetheit der vorliegenden Klage zu prüfen, wobei mit der Prüfung des zweiten Klagegrundes des Vereinigten Königreichs zu beginnen ist.
Zum zweiten Klagegrund: Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht betreffend die Mängel der Zusatzkontrollen und insbesondere die Methoden für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen
72 Mit dem zweiten Nichtigkeitsgrund, der Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in Bezug auf die Feststellung von Mängeln der Zusatzkontrollen betrifft, rügt das Vereinigte Königreich insbesondere die Methode für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen der Fläche, die die Kommission angewandt hatte und die im Bericht über die Beurteilung des Risikos verwendet worden war. Dieser Klagegrund ist in fünf Rügen unterteilt, wobei die erste die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche, die zweite die Berücksichtigung der sich auf die Tierprämien auswirkenden Flächenabweichungen bei der Neuberechnung der Zahlungsansprüche, die dritte die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge, die vierte die Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen der Fläche und die fünfte die vorsätzliche Übererklärung betrifft.
73 Da die erste, die dritte und die vierte Rüge sich anders als die zweite und die fünfte Rüge speziell auf die Methode für die Berechnung der Überzahlungen und der Sanktionen beziehen, auf deren Grundlage das finanzielle Risiko des Fonds im vorliegenden Fall im Bericht über die Beurteilung des Risikos beurteilt wurde, sind zuerst diese drei Rügen zu prüfen, bevor auf die zweite und die fünfte Rüge eingegangen wird.
Zur ersten, zur dritten und zur vierten Rüge betreffend die Methode zur Beurteilung des finanziellen Risikos des Fonds
74 Mit der ersten, der dritten und der vierten zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes erhobenen Rüge beanstandet das Vereinigte Königreich gleichzeitig Mängelfeststellungen der Kommission zu bestimmten Zusatzkontrollen und die von Letzterer befürwortete und im Bericht über die Beurteilung des Risikos verwendete Berechnungsmethode der zurückzufordernden zu Unrecht gezahlten Beträge und der Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen.
75 Diese drei Rügen betreffen die Auslegung mehrerer Bestimmungen der Verordnung Nr. 796/2004 in einem Fall, in dem auf der Grundlage bestimmter zu Unrecht zugewiesener Zahlungsansprüche für eine Hektarzahl nicht beihilfefähiger Flächen Zahlungen erfolgten. Insbesondere ist die im Rahmen dieser Rügen fragliche Situation darauf zurückzuführen, dass bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche für die Betriebsprämienregelung Fehler hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche begangen wurden. Daher wurde bestimmten Landwirten eine zu hohe Anzahl Zahlungsansprüche zugewiesen. In Anbetracht der vom Vereinigten Königreich gewählten Methode für die Zuteilung der Zahlungsansprüche (vgl. oben, Rn. 70) bewirkte diese zu Unrecht erfolgte Zuweisung zum einen, dass der Wert pro Einheit für jeden Zahlungsanspruch der betreffenden Landwirte und insbesondere ihr historisches Element unterbewertet wurde. Zum anderen bewirkte sie eine Überbewertung des Gesamtwerts der Summe dieser Zahlungsansprüche aufgrund des pauschalen Elements. Die Fehler betreffend die beihilfefähigen Flächen wurden in den darauffolgenden Jahren bis zu ihrer Aufdeckung bei den Kontrollen wiederholt, so dass die Zahlungen auf der Grundlage von nicht beihilfefähigen Hektarflächen gewährt wurden.
76 Unter diesen Umständen macht das Vereinigte Königreich im Wesentlichen geltend, dass in einem solchen Fall der Wert pro Einheit der Zahlungsansprüche gleichzeitig mit der Herabsetzung ihrer Anzahl nach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 retrospektiv neu nach oben zu bewerten sei (erste Rüge), bevor Art. 73 dieser Verordnung betreffend die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge (dritte Rüge) und Art. 51 dieser Verordnung betreffend die Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen (vierte Rüge) angewandt würden.
– Zur ersten Rüge betreffend die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche
77 Das Vereinigte Königreich trägt vor, dass Art. 73a Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 796/2004, entgegen der Auffassung der Kommission im Konformitätsabschlussverfahren, die Anpassung des Werts der Zahlungsansprüche im Fall der ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche vorschreibe, ohne dass berücksichtigt werde, ob sie dem Landwirt bekannt gewesen seien. Die Kenntnis des Landwirts wirke sich nur im Kontext des Abs. 2a dieser Bestimmung aus, der jedoch im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Außerdem passe die Kommission selbst systematisch auf der Grundlage von Art. 73a Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 796/2004 den Wert der Zahlungsansprüche für die Zukunft an, wobei Art. 73a dieser Verordnung keine Unterscheidung zwischen der retrospektiven Neubewertung und der Neubewertung für die Zukunft treffe und eine systematische neue Berechnung für die Zukunft diesen Bestimmungen sogar widerspreche. In Erwiderung auf die Argumente der Kommission macht das Vereinigte Königreich geltend, dass der Verweis in Art. 73a Abs. 4 der Verordnung Nr. 796/2004 auf Art. 73 dieser Verordnung seine Auslegung von Art. 73a dieser Verordnung nicht in Frage stelle.
78 Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet.
79 Im Rahmen der vorliegenden Rüge streiten die Parteien im Wesentlichen über die Frage, ob im Fall der Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche aufgrund von im Jahr 2005 begangenen Fehlern hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche, die in der Folge wiederholt wurden und zu einer Unterbewertung ihres Werts pro Einheit und einer Überbewertung ihres Gesamtwerts führten, Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 vor der Anwendung der Bestimmungen betreffend die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge und die Sanktionen in Fällen von Übererklärungen, die in der dritten und der vierten Rüge des vorliegenden Klagegrundes in Rede stehen, die retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche vorschreibt.
80 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 36 der Verordnung Nr. 73/2009, sofern in dieser Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, die Zahlungsansprüche pro Hektar nicht geändert werden (Urteil vom 5. Juni 2014, Vonk Noordegraaf, C‑105/13, Slg, EU:C:2014:1126, Rn. 37).
81 Da nämlich nach Art. 34 Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 jeder aktivierte Zahlungsanspruch einen Anspruch auf Zahlung des festgesetzten Betrags verschafft, hätte eine Änderung dieses Betrags eine Verminderung oder eine Erhöhung des an den betreffenden Betriebsinhaber gezahlten Beihilfebetrags zur Folge. Wie sich jedoch aus dem 29. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1782/2003 ergibt, besteht eines der Ziele der Betriebsprämienregelung darin, es jedem Betriebsinhaber zu ermöglichen, weiterhin eine Beihilfe in derselben Höhe wie im Bezugszeitraum zu beziehen (Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 38).
82 Allerdings ist festzustellen, dass keine Bestimmung der Verordnung Nr. 73/2009 ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, die Zahlungsansprüche eines Betriebsinhabers, der eine zu hohe Anzahl Zahlungsansprüche bei der ursprünglichen Zuweisung erhalten hat, zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 40).
83 Dagegen sieht Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 Regeln betreffend die Wiedereinziehung der zu Unrecht zugewiesenen Ansprüche vor, aus denen sich ergibt, dass unter den von ihnen erfassten Umständen die Zahlungsansprüche neu berechnet werden können. Diese Bestimmung basiert, wie sich aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 239/2005, durch die sie in die Verordnung Nr. 796/2004 eingefügt wurde, ergibt, auf dem Willen, Vorschriften für den Fall festzulegen, dass ein Betriebsinhaber eine unzulässige Anzahl von Zahlungsansprüchen erhalten hat oder dass der Wert jedes der Zahlungsansprüche in unzulässiger Höhe festgesetzt wurde.
84 Da das Vereinigte Königreich das Vorbringen, wonach im Fall der zu Unrecht erfolgten Zuweisung von bestimmten Zahlungsansprüchen ihre retrospektive Kürzung und Neubewertung vorzunehmen sei, auf Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, gegebenenfalls in Verbindung mit Abs. 2 dieser Bestimmung, stützt, ist Art. 73a dieser Verordnung auszulegen.
85 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 17. November 1983, Merck, 292/82, Slg, EU:C:1983:335, Rn. 12).
86 Erstens ist auf die maßgebenden Bestimmungen von Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 zu verweisen. Insoweit sieht zunächst Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 in seinem Abs. 1 vor, dass, wenn bestimmte Zahlungsansprüche zu Unrecht zugewiesen wurden, der Betriebsinhaber sie an die nationale Reserve zurückgeben muss, und dass diese Zahlungsansprüche als von Anfang an nicht zugewiesen gelten. Sodann ergibt sich aus Art. 73a Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 dass, wenn der Wert der Zahlungsansprüche zu hoch ist, der Wert entsprechend angepasst wird, wobei die Zahlungsansprüche als von Anfang an dem sich aus der Anpassung ergebenden Wert zugewiesen gelten. Schließlich sieht Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, der durch die Verordnung Nr. 972/2007 eingefügt wurde, vor, dass, wenn für die Zwecke der Anwendung der Abs. 1 und 2 dieses Artikels festgestellt wird, dass Zahlungsansprüche, die einem Betriebsinhaber zu Unrecht zugewiesen wurden, ohne dass sich diese Zuweisung auf den Gesamtwert der Ansprüche auswirkt, die er erhalten hat, neu zu berechnen sind, sofern die Fehler von dem Betriebsinhaber nicht nach billigem Ermessen hätten festgestellt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 41). Außerdem werden nach Art. 73a Abs. 4 der Verordnung Nr. 796/2004 zu Unrecht gezahlte Beträge gemäß Art. 73 dieser Verordnung, der die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge betrifft, zurückgefordert.
87 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass sich die Parteien im vorliegenden Fall darüber einig sind, dass Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 nicht anwendbar ist, da die zu Unrecht erfolgte Zuweisung zwar zu einer Unterbewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche führte, sich jedoch aufgrund des pauschalen Elements auch auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche auswirkte.
88 Drittens ist zur Auslegung von Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 festzustellen, dass der Wortlaut dieser Bestimmung eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche infolge der Wiedereinziehung der zu Unrecht zugewiesenen Ansprüche weder ausdrücklich vorsieht noch ausschließt.
89 Die Parteien bringen jedoch vor, dass die Klarstellung in Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004, wonach die zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche als von Anfang an nicht zugewiesen gelten, in dem Sinn verstanden werden könne, dass, wenn sich eine zu Unrecht erfolgte Zuweisung von Zahlungsansprüchen auf den Wert pro Einheit der zugewiesenen Ansprüche ausgewirkt habe, eine Neubewertung des Werts pro Einheit der fortbestehenden Ansprüche vorzunehmen sei.
90 Diese Auslegung von Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 hält indessen einer systematischen Prüfung dieser Bestimmung nicht stand.
91 Eine solche Auslegung von Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 nähme nämlich der Einfügung von Abs. 2a dieser Bestimmung durch die Verordnung Nr. 972/2007 zumindest teilweise den Sinn. Im Rahmen von Art. 73a Abs. 2a dieser Verordnung ist für die Zwecke der Anwendung der Abs. 1 und 2 dieses Artikels die Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche im Fall einer zu Unrecht erfolgten Zuweisung auf die Situation – die sich, wie die Parteien übereinstimmend vortragen, von der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden unterscheidet – beschränkt, in der diese zu Unrecht erfolgte Zuweisung keine Auswirkung auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche hatte, sofern der Landwirt die Fehler nach billigem Ermessen nicht hätte feststellen können. Wenn jedoch Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 in dem Sinn auszulegen wäre, dass er selbst die Verpflichtung umfasst, eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche vorzunehmen – ohne Berücksichtigung der Auswirkung einer solchen Neubewertung auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche, und das gegebenenfalls selbst dann, wenn der Landwirt die Fehler nach billigem Ermessen hätte feststellen können –, wäre diese Klarstellung in Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 nutzlos und ohne Belang.
92 Diese Auslegung wird außerdem durch die Gründe bestätigt, mit denen die Einfügung von Abs. 2a in Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 durch die Verordnung Nr. 972/2007 gerechtfertigt wurde. Wie sich nämlich aus dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 972/2007 ergibt, berichtigen die Mitgliedstaaten nur in den Fällen, in denen zu Unrecht erfolgte Zuweisungen von Zahlungsansprüchen nicht den Gesamtwert, sondern nur die Anzahl der Ansprüche des Betriebsinhabers betreffen, die Zuweisung oder gegebenenfalls die Art der Ansprüche, ohne deren Wert zu verringern, gemäß der letzteren Bestimmung, wenn der Betriebsinhaber die Fehler nach billigem Ermessen nicht hätte feststellen können.
93 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Klarstellung in Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004, wonach „[d]ie zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche … als von Anfang an nicht zugewiesen [gelten]“, nicht in dem Sinn ausgelegt werden kann, dass sie vorschreibt, den Wert pro Einheit der Zahlungsansprüche retrospektiv neu zu bewerten. Vielmehr ist diese Klarstellung in Verbindung mit Art. 73a Abs. 4 dieser Verordnung zu lesen, wonach „[z]u Unrecht gezahlte Beträge … gemäß Artikel 73 [dieser Verordnung] zurückgefordert [werden]“. Daraus folgt, dass die angeführte Klarstellung in Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004 dahin auszulegen ist, dass sie nur darauf hinweisen soll, dass auf die gegebenenfalls aufgrund von zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüchen gewährten Beihilfen selbst kein Anspruch besteht, so dass sie nach Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 zurückzuzahlen sind.
94 Im Übrigen ist festzustellen, dass diese Auslegung den Zielen der Betriebsprämienregelung nicht widerspricht. Nach der Rechtsprechung ergibt sich, wie in oben Rn. 81 dargelegt, aus dem 29. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1782/2003, dass eines der Ziele der Betriebsprämienregelung darin besteht, es jedem Betriebsinhaber zu ermöglichen, „weiterhin eine Beihilfe in [entsprechender] Höhe wie im Bezugszeitraum zu beziehen“ (Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 38). Wie aus der Verwendung des Adjektivs „entsprechend“ hervorgeht, gewährleistet diese Regelung keine strikte Identität der Beihilfenhöhe.
95 Viertens ist zum auf Art. 73a Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 gestützten Vorbringen des Vereinigten Königreichs festzustellen, dass diese Bestimmung nur eine Neubewertung der Zahlungsansprüche nach unten vorsieht. Hingegen lässt sich dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht entnehmen, dass sie eine Neubewertung nach oben gestattet, wenn aufgrund einer ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche der Wert der Letzteren zu gering beurteilt wurde.
96 Außerdem ist festzustellen, dass entgegen dem Vortrag des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung Art. 73a Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 nicht in dem Sinn ausgelegt werden kann, dass er eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche nach oben vorschreibt, wenn im Fall einer zu Unrecht erfolgten Zuweisung bestimmter Zahlungsansprüche und der Unterbewertung des Werts pro Einheit der zugewiesenen Ansprüche der Gesamtwert der einem Landwirt zugewiesenen Ansprüche zu hoch angesetzt wurde. Die vom Vereinigten Königreich vorgeschlagene Auslegung ist nämlich, abgesehen davon, dass im Kontext von Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 die Verwendung des Begriffs „Wert“ in Abs. 2 dieser Bestimmung mangels Klarstellung, dass es sich um den Gesamtwert handelt, als Wert pro Einheit der einzelnen Zahlungsansprüche zu verstehen ist, jedenfalls aus den entsprechend oben in den Rn. 91 und 92 dargelegten Gründen zurückzuweisen.
97 Daraus folgt, dass entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 von Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 nicht die Annahme zulässt, dass im Fall einer ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche, die zu einer Unterbewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche geführt und sich gleichzeitig auf den Gesamtwert dieser Ansprüche ausgewirkt hat, bei der Feststellung des Fehlers eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche nach der Herabsetzung ihrer Anzahl vorzunehmen ist.
98 Soweit das Vereinigte Königreich in seiner Erwiderung geltend macht, die Kommission habe den Fehler in ihrer Beurteilung anerkannt, da sie eingeräumt habe, dass Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, der nur auf die Kenntnis des Landwirts Bezug nehme, nicht anwendbar sei, genügt außerdem der Hinweis, dass sich den Akten nicht entnehmen lässt, dass die Kommission ihren Vorwurf der systematischen Neubewertung der Zahlungsansprüche auf Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 stützen wollte.
99 Folglich ist, ohne dass das Vorbringen der Kommission zu Art. 73 Abs. 4 der Verordnung Nr. 796/2004 und zur Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge, das die dritte Rüge des vorliegenden Klagegrundes betrifft, zu prüfen wäre, die vorliegende Rüge zurückzuweisen.
– Zur dritten Rüge betreffend die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge
100 Das Vereinigte Königreich beanstandet die Erwägungen der Kommission hinsichtlich der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge nach Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004. Es ist im Wesentlichen der Ansicht, dass im Fall einer ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche die Zahlungsansprüche nach Art. 73a dieser Verordnung vor der Festlegung der zurückzufordernden rechtsgrundlos erhaltenen Beträge neu zu berechnen seien. Daraus folge, dass in einem solchen Fall die das historische Element der Beihilfe betreffenden Beträge nicht zurückzuzahlen seien. Der Ansatz der Kommission, der die zurückzufordernden Beträge auf der Grundlage des ursprünglichen Werts der nicht vorhandenen Zahlungsansprüche festlege, sei mit den Art. 73 und 73a der Verordnung Nr. 796/2004 unvereinbar, da die Kommission zum einen keine rückwirkende Anpassung des Werts der Ansprüche vornehme und zum anderen die Landwirte verpflichte, höhere Beträge als die tatsächlichen Verluste für den Fonds und die zu Unrecht gezahlten Beträge zurückzuzahlen. Insoweit führe der Ansatz der Kommission zu einer Sanktion für die Landwirte.
101 Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet.
102 Erstens ist auf den Wortlaut von Art. 34 Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 hinzuweisen:
„Eine Stützung im Rahmen der Betriebsprämienregelung wird den Betriebsinhabern bei Aktivierung eines Zahlungsanspruchs je beihilfefähige Hektarfläche gewährt. Bei aktivierten Zahlungsansprüchen besteht Anspruch auf die Zahlung der darin festgesetzten Beträge.“
103 Zweitens ist nach Art. 73 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 bei zu Unrecht gezahlten Beträgen der Betriebsinhaber zur Rückzahlung dieser Beträge zuzüglich der gemäß Abs. 3 dieser Bestimmung berechneten Zinsen verpflichtet.
104 Gemäß Art. 73 Abs. 4 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 gilt die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Art. 73 Abs. 1 dieser Verordnung nicht, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde oder einer anderen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte. Außerdem ergibt sich aus Art. 73 Abs. 4 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, dass, wenn sich der Irrtum auf Tatsachen bezieht, die für die Berechnung der betreffenden Zahlung relevant sind, Unterabs. 1 dieser Bestimmung nur gilt, wenn der Rückforderungsbescheid nicht innerhalb von zwölf Monaten nach der Zahlung übermittelt worden ist.
105 Drittens stellt nach der Rechtsprechung in den Fällen, in denen der Unionsgesetzgeber Voraussetzungen für die Gewährung einer Beihilfe festlegt, der Ausschluss, den die Nichtbeachtung einer dieser Voraussetzungen mit sich bringt, keine Sanktion, sondern die bloße Folge der Nichtbeachtung der gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen dar (Urteile vom 24. Mai 2007, Maatschap Schonewille-Prins, C‑45/05, Slg, EU:C:2007:296, Rn. 47, und vom 24. Mai 2012, Hehenberger, C‑188/11, Slg, EU:C:2012:312, Rn. 37).
106 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass das Vorbringen des Vereinigten Königreichs auf der Prämisse beruht, dass im Fall der zu Unrecht erfolgten Zuweisung von Zahlungsansprüchen, die sich gleichzeitig auf den Wert pro Einheit und den Gesamtwert der Ansprüche ausgewirkt hat, nach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche nach der Herabsetzung ihrer Anzahl, noch vor der Anwendung von Art. 73 dieser Verordnung hinsichtlich der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge, vorzunehmen sei.
107 Dieser Prämisse kann jedoch nicht gefolgt werden.
108 In Anbetracht der oben in Rn. 97 ausgeführten Erwägungen kann sich nämlich eine solche Neubewertung entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs nicht auf Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 gründen, wenn im Fall von Fehlern hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche, die auf das Jahr der Zuweisung der Zahlungsansprüche zurückgehen, deren Gesamtwert von diesen Fehlern betroffen war.
109 Daraus folgt, dass dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, wonach eine retrospektive Neubewertung der Zahlungsansprüche vor der Anwendung von Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 vorzunehmen sei, nicht gefolgt werden kann.
110 Dieses Ergebnis wird durch die anderen Argumente des Vereinigten Königreichs, wonach die Anwendung von Art. 73 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, ohne dass eine vorherige Neubewertung der Zahlungsansprüche erfolge, zu Rückforderungen von Beträgen führe, die das tatsächliche Risiko für den Fonds überstiegen, und daher eine Sanktion für die Landwirte darstelle, nicht in Frage gestellt.
111 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 34 Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 die Beihilfe für die aktivierten Zahlungsansprüche, d. h. auf der Grundlage der Zahlungsansprüche für eine entsprechende Hektarzahl beihilfefähiger Flächen, gewährt wird. Folglich wirkt sich ein Fehler bei der beihilfefähigen Fläche jedenfalls, wie die Kommission zu Recht vorbringt, auf den gesamten gezahlten Beihilfebetrag aus.
112 Zum anderen ergibt sich aus den Erwägungen oben in Rn. 93, dass eine aufgrund zu Unrecht zugewiesener Zahlungsansprüche gewährte Beihilfe im Hinblick auf Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004 in Verbindung mit Art. 73a Abs. 4 dieser Verordnung eine zu Unrecht gewährte Beihilfe darstellt, die nach Art. 73 dieser Verordnung zurückzufordern ist.
113 Der Ansatz des Vereinigten Königreichs, der darin besteht, vor der Anwendung von Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 die retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit jedes Zahlungsanspruchs vorzunehmen und auf der Grundlage einer richtigen Anzahl so neubewerteter Zahlungsansprüche den Gesamtbetrag der Beihilfe, die dem Landwirt ohne den im Jahr 2005 begangenen Fehler gezahlt hätte werden müssen, neu zu berechnen, verhindert die richtige und effektive Rückforderung der zu Unrecht gewährten Beihilfen, wie die Kommission zu Recht in Bezug auf die erste sowie auf die dritte Rüge des vorliegenden Klagegrundes vorbringt.
114 Statt die aufgrund eines zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs für eine insgesamt nicht beihilfefähige Fläche gewährte Beihilfe als zu Unrecht gewährt anzusehen, bewirkt somit der Ansatz des Vereinigten Königreichs, den zu Unrecht gezahlten Betrag auf die Differenz zwischen der gewährten Zahlung und einer revidierten Zahlung auf der Grundlage der nach oben neu bewerteten Zahlungsansprüche und der als beihilfefähig bestimmten Hektarzahl herabzusetzen, die dem Betrag des pauschalen Elements des zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs entspricht.
115 Es ist jedoch festzustellen, dass in Ermangelung von Bestimmungen, die im Fall zu Unrecht erfolgter Zuweisungen bestimmter Zahlungsansprüche, die sich auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche ausgewirkt haben, die retrospektive Neubewertung ihres Werts pro Einheit nach oben vorsehen, eine solche Auslegung mit dem Erfordernis einer engen Auslegung der Bedingungen für die Übernahme der Kosten unvereinbar ist, das der Gerichtshof im Rahmen der Verordnung (EWG) Nr. 729/70 des Rates vom 21. April 1970 über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 94, S. 13), ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 1258/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 160, S. 103), ihrerseits ersetzt durch die Verordnung Nr. 1290/2005, aufgestellt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2014, Niederlande/Kommission, C‑610/13 P, EU:C:2014:2349, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
116 Sodann ist, soweit das Vereinigte Königreich in der Erwiderung geltend macht, dass ein Ansatz, nach dem die Überzahlung auf der Grundlage der ursprünglich zugewiesenen Zahlungsansprüche bewertet werde, der richtigen Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge entgegenstehe, da er je nach Fall dazu führe, dass Überzahlungen niemals oder übermäßig zurückgefordert würden, zum einen hinsichtlich der übermäßigen Rückforderungen darauf hinzuweisen, dass dieses Vorbringen im Hinblick auf die oben in den Rn. 113 und 114 dargelegten Erwägungen zurückzuweisen ist.
117 Zum anderen ist zum Vorbringen, wonach dieser Ansatz der Kommission bewirken könne, dass durch eine Berechnung der Beihilfe auf der Grundlage von nicht vorhandenen Zahlungsansprüchen die Rückforderung von Überzahlungen verhindert werde, festzustellen, dass dieses Vorbringen, das in der Klageschrift nur im Zusammenhang mit der vierten Rüge geltend gemacht und im Hinblick auf Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 ausgeführt wurde, zum ersten Mal in der Erwiderung im Kontext der Bestimmung der Überzahlung geltend gemacht wird und dort in keiner Weise, nicht einmal durch Verweisung auf die Ausführungen in der Klageschrift zur vierten Rüge, untermauert wird. Jedenfalls besteht, wie sich aus der vorstehenden Rn. 93 ergibt, auf eine aufgrund eines zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs gewährte Beihilfe selbst kein Anspruch. Wenn das Vereinigte Königreich vorträgt, der Ansatz der Kommission bewirke unter bestimmten Umständen, eine solche Zahlung nicht als zu Unrecht erfolgt anzusehen, da diese die Überzahlung auf der Grundlage der Zahlungsansprüche berechne, wie sie angemeldet worden seien, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Kommission in ihren Schriftsätzen zum ersten Klagegrund des Vereinigten Königreichs ausdrücklich geltend macht, dass ein Landwirt keine Zahlung aufgrund eines zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs erhalten könne. Überdies ergibt sich aus den Akten nicht, dass das Vereinigte Königreich im Rahmen des Berichts über die Beurteilung des Risikos veranlasst gewesen wäre, aus der Berechnung der Überzahlungen bestimmte auf der Grundlage von zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüchen gewährte Beträge auszuschließen.
118 Schließlich stellt nach der oben in Rn. 105 angeführten Rechtsprechung entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs die Rückforderung keine Sanktion, sondern die bloße Folge der Nichtbeachtung der Voraussetzungen für die Gewährung dar.
119 Außerdem sieht Art. 73 Abs. 4 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 jedenfalls vor, dass die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Abs. 1 dieser Bestimmung nicht gilt, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde oder einer anderen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte. Daraus folgt, dass der gutgläubige Landwirt vor der Rückforderung der zu Unrecht gewährten Beihilfe geschützt ist, wenn der Fehler, der sich auf die beihilfefähige Fläche oder die Zuweisung von Zahlungsansprüchen ausgewirkt hat, den Behörden anzulasten ist und er ihn billigerweise nicht erkannt haben konnte.
120 Somit ist die vorliegende Rüge zurückzuweisen.
– Zur vierten Rüge betreffend Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen in Bezug auf die Fläche
121 Das Vereinigte Königreich tritt der Annahme entgegen, es habe Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 fehlerhaft angewandt. Erstens könnten, wenn Fehler bei der ursprünglichen Zuweisung der Ansprüche begangen worden seien, die von diesem Artikel vorgesehenen Sanktionen nur angewandt werden, nachdem der Wert der Zahlungsansprüche nach Art. 73a dieser Verordnung neu berechnet worden sei. Zweitens müssten zwar Sanktionen für jedes Antragsjahr verhängt werden können, wenn der Landwirt eine nicht beihilfefähige Fläche anmelde, um einen Zahlungsanspruch zu aktivieren, über den er tatsächlich verfüge, jedoch nehme die Kommission zu Unrecht an, dass im Fall von Fehlern, die bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche begangen und in den folgenden Antragsjahren wiederholt worden seien, Sanktionen nicht nur für das Jahr 2005, sondern auch für die späteren Jahre anzuwenden seien, obwohl der Landwirt eine hinreichende beihilfefähige Hektarzahl anmelde, um die Zahlungsansprüche zu aktivieren, über die er tatsächlich verfüge. Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 unterscheide zwischen Übererklärungen in Bezug auf die Fläche, die zur Aktivierung von Zahlungsansprüchen, die einem Landwirt tatsächlich zur Verfügung stünden, führten, und Übererklärungen, die einen Fehler bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche begründeten. Es ergebe sich nämlich sowohl aus der Systematik von Art. 51 Abs. 1 und 2a der Verordnung Nr. 796/2004, die von Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009 bestätigt werde, sowie hilfsweise aus dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der weniger strengen Sanktion, im vorliegenden Fall Art. 57 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser letzteren Verordnung, dass für die späteren Jahre keine Sanktion zu verhängen sei.
122 Die Kommission hält das Vorbringen des Vereinigten Königreichs für unbegründet.
123 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zur Stützung der vorliegenden Rüge auf die Prämisse gründet, wonach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 in der Auslegung des Vereinigten Königreichs vor der Anwendung der Kürzungen und Ausschlüsse nach Art. 51 dieser Verordnung anzuwenden sei.
124 Insoweit genügt die Feststellung, dass diese Prämisse ‐ wie sich aus den vorstehenden Rn. 97 und 108 ergibt ‐ falsch ist.
125 Wie oben in den Rn. 97 und 108 bereits ausgeführt, kann nämlich Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 nicht in dem Sinn ausgelegt werden, dass er unter Umständen wie den in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden eine retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche vorsieht.
126 Daraus folgt auch, dass, da Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 unter Umständen wie denen der vorliegenden Rechtssache die retrospektive Neuberechnung der Zahlungsansprüche nicht erlaubt, das Vereinigte Königreich der Kommission nicht vorwerfen kann, sie behandle die angemeldete Fläche und die angemeldeten Zahlungsansprüche unterschiedlich, indem sie Erstere anpasse, die Letzteren jedoch nicht.
127 Sodann ist das Vereinigte Königreich zum einen der Ansicht, dass hinsichtlich des Antragsjahrs 2005 nach Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 eine Sanktion wegen Übererklärungen anzuwenden sei, wobei diese Sanktion auf der Grundlage der Zahlungsansprüche, wie sie retrospektiv korrigiert worden seien, zu berechnen sei. Zum anderen bewirke hinsichtlich der späteren Antragsjahre, in denen derselbe Fehler wiederholt worden sei, die Anwendung von Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2a von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 den Ausschluss jeder Sanktion für diese Jahre. Diese Erwägung gründe sich auf die Systematik dieser Bestimmungen in dem Sinne, dass, wenn der Landwirt eine beihilfefähige Fläche anmelde, die hinreiche, um die Zahlungsansprüche zu aktivieren, über die er tatsächlich verfüge (d. h. gegebenenfalls nach Herabsetzung ihrer Anzahl und Neubewertung ihres Werts), es nicht der Sache diene, gegen ihn nach Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 eine Sanktion zu verhängen.
128 Zur Prüfung der Begründetheit dieses Vorbringens ist zum einen zu untersuchen, ob Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 trotz des Wortlauts von Art. 73a dieser Verordnung vorschreibt, die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche vorzunehmen, und zum anderen, ob sich aus Art. 51 Abs. 2a dieser Verordnung ergibt, dass, wie das Vereinigte Königreich vorträgt, keine Sanktion anzuwenden ist, sofern der Landwirt eine hinreichende Fläche erklärt, um die Zahl der Zahlungsansprüche, über die er tatsächlich verfügt, zu aktivieren.
129 Vorab ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach den Erwägungsgründen 29 und 55 der Verordnung Nr. 796/2004 diese Verordnung und insbesondere ihr Art. 51 dafür sorgen soll, dass die Einhaltung der Bestimmungen der im Rahmen des integrierten Systems verwalteten Beihilferegelungen wirksam überwacht und geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug getroffen werden, um die finanziellen Interessen der Union wirksam zu schützen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. November 2002, Agrargenossenschaft Pretzsch, C‑417/00, Slg, EU:C:2002:715, Rn. 33).
130 Sodann sieht Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 für den Fall, dass die in einem Beihilfeantrag angegebene Fläche über der bei einer Kontrolle ermittelten Fläche liegt, je nach Schwere der Unregelmäßigkeit gestaffelte Sanktionen vor (vgl. entsprechend Urteil Agrargenossenschaft Pretzsch, oben in Rn. 129 angeführt, EU:C:2002:715, Rn. 35). Wenn erstens die Differenz zwischen der angemeldeten Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung ermittelten Fläche über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht, so wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, berechnet. Liegt zweitens diese Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird keine Beihilfe gewährt. Beläuft sich drittens die Differenz auf mehr als 50 %, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe des Betrags, der der Differenz zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 der Verordnung Nr. 796/2004 ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen.
131 Dagegen sieht zum einen Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 in seinem Unterabs. 1 vor, dass diese Kürzungen und Ausschlüsse keine Anwendung finden, wenn ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet hat und die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt. Zum anderen ist nach Unterabs. 2 dieser Bestimmung, wenn ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet hat und die gemeldete Fläche nicht alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die in Art. 51 Abs. 1 dieser Verordnung genannte Differenz die Differenz zwischen der Fläche, die alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, und dem Betrag der gemeldeten Zahlungsverpflichtungen.
132 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung, wenn die zuständige Behörde entdeckt, dass in einem Beihilfeantrag ein zur Angabe einer zu großen beihilfefähigen Fläche führender Fehler begangen wurde, der nicht auf Vorsatz beruhte, und dass der gleiche Fehler auch in den Jahren vor seiner Entdeckung begangen wurde, so dass in jedem dieser Jahre eine zu große beihilfefähige Fläche angegeben wurde, sie vorbehaltlich der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehenen Verjährungsfristen verpflichtet ist, die tatsächlich ermittelte Fläche zum Zweck der Berechnung der für alle betroffenen Jahre geschuldeten Beihilfe zu kürzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2002, Strawson und Gagg & Sons, C‑304/00, Slg, EU:C:2002:695, Rn. 64, und vom 25. Juli 2006, Belgien/Kommission, T‑221/04, EU:T:2006:223, Rn. 88).
133 Im Licht dieser Erwägungen sind die beiden oben in Rn. 128 aufgeworfenen Fragen nacheinander zu prüfen.
134 Erstens ist zur Frage, ob die von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehenen Kürzungen und Ausschlüsse auf der Grundlage eines neu berechneten Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche zu bestimmen sind, festzustellen, dass sich entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs weder aus dem Wortlaut dieses Artikels, der nach Ansicht dieses Mitgliedstaats „auf Ansprüche abstellt“, noch aus seiner Auslegung im Licht der Definition des Begriffs „ermittelte Fläche“ in Art. 2 Nr. 22 dieser Verordnung ergibt, dass die in diesem Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehene Sanktion auf der Grundlage der retrospektiv neu berechneten Zahlungsansprüche zu bestimmen ist.
135 Nach dem Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 sind nämlich die vorgesehenen Kürzungen und Ausschlüsse anzuwenden, wenn die vom Landwirt gemeldete Fläche über der u. a. gemäß Art. 50 Abs. 3 dieser Verordnung ermittelten Fläche liegt und die Differenz zwischen den beiden Flächen über den von dieser Bestimmung genannten Grenzen liegt.
136 Zwar ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass eine Übererklärung unter den dort genannten Voraussetzungen durch die Kürzung der ermittelten Fläche, auf deren Grundlage die Beihilfe berechnet wird, mit einer Sanktion belegt wird, jedoch ist festzustellen, dass im Hinblick auf den Wortlaut dieser Bestimmung ihre Anwendung in keiner Weise von einer vorherigen Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche im Fall zu Unrecht erfolgter Zuweisung dieser Ansprüche abhängt.
137 Im Übrigen ist, soweit sich das Vereinigte Königreich auf Art. 2 Nr. 22 der Verordnung Nr. 796/2004 bezieht, darauf hinzuweisen, dass nach der letzteren Bestimmung eine Fläche nur eine ermittelte Fläche ist, wenn sie allen in den Vorschriften für die Beihilfegewährung festgelegten Voraussetzungen genügt, wobei im Rahmen der Betriebsprämienregelung die beantragte Fläche nur zusammen mit der entsprechenden Zahl von Zahlungsansprüchen als ermittelte Fläche zu betrachten ist.
138 Selbst unterstellt, dass ‐ wie das Vereinigte Königreich geltend macht ‐ dieser Art. 2 Nr. 22 der Verordnung Nr. 796/2004 auf diese Weise die ermittelte Fläche unter Bezugnahme auf die Fläche zusammen mit der entsprechenden Zahl von Zahlungsansprüchen, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, definiert und dass diese Definition im Kontext von Art. 51 dieser Verordnung einschlägig ist, kann diese Definition jedoch nicht die Berechnung der anwendbaren Sanktion nach Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 auf der Grundlage eines neu berechneten Werts der Zahlungsansprüche vorschreiben. Art. 2 Nr. 22 dieser Verordnung enthält nämlich keinen Hinweis auf den Wert der Zahlungsansprüche, der gegebenenfalls zu berücksichtigen wäre.
139 Diese Auslegung von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 wird zum einen durch Art. 50 dieser Verordnung und insbesondere durch seinen Abs. 2 bekräftigt. Nach Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, der die Berechnungsgrundlage für die Beihilfe definiert, wird, wenn sich eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche ergibt, für die Berechnung der Beihilfe die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt. Mit anderen Worten ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass mangels einer gegenteiligen Angabe die Berechnung der Beihilfe auf der Grundlage der vom Landwirt angemeldeten Zahlungsansprüche erfolgt, ohne dass eine etwaige Neubewertung ihres Werts pro Einheit nach oben zu berücksichtigen wäre.
140 Zum anderen steht diese Auslegung von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 mit der im Rahmen der ersten zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes erhobenen Rüge vertretenen Auslegung von Art. 73a dieser Verordnung im Einklang in dem Sinne, dass, wie oben in Rn. 125 dargelegt, der Letztere unter Umständen wie den in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden keine retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche vorsieht.
141 Folglich kann das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zu Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 in seiner Auslegung im Licht von Art. 2 Nr. 22 dieser Verordnung nicht belegen, dass die Kürzungen und Ausschlüsse auf der Grundlage der retrospektiv neu bewerteten Zahlungsansprüche zu bestimmen sind.
142 Zweitens ist zur Frage, ob im Fall der Wiederholung eines Fehlers hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche wie dem ursprünglich im Jahr 2005 begangenen Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 die Anwendung einer Kürzung oder eines Ausschlusses gemäß Abs. 1 dieser Bestimmung ausschließt, sofern der Landwirt eine hinreichende Fläche erklärt, um die Zahl der Zahlungsansprüche, über die er tatsächlich verfügt, zu aktivieren, darauf hinzuweisen, dass nach Art. 51 Abs. 2a dieser Verordnung, wenn ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet hat und die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die in Abs. 1 dieser Bestimmung genannten Kürzungen und Ausschlüsse keine Anwendung finden, wobei klargestellt wird, dass, wenn in einem solchen Fall die gemeldete Fläche nicht alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die in diesem Art. 51 Abs. 1 genannte Differenz die Differenz zwischen der Fläche, die alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, und dem Betrag der gemeldeten Zahlungsverpflichtungen ist.
143 Zunächst ergibt sich daher aus Unterabs. 1 in Verbindung mit Unterabs. 2 von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, dass, abgesehen davon, dass diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut keinen Vorbehalt hinsichtlich des Falls der Wiederholung einer Übererklärung vorsieht, die ursprünglich zur Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche geführt hat, und nicht zwischen einer Übererklärung zum Zeitpunkt der ursprünglichen Zuweisung der Ansprüche, die in der Folge wiederholt wurde, und einer Übererklärung nach dieser Zuweisung unterscheidet, diese Bestimmung, wie im Übrigen die Kommission darlegt, anzuwenden ist, wenn die vom Landwirt angemeldete Fläche über der Anzahl der von ihm angemeldeten Zahlungsansprüche liegt, ohne dass die Anzahl der Ansprüche, über die er tatsächlich verfügt, Berücksichtigung findet. Zwar definiert Unterabs. 1 dieser Bestimmung die dort genannten Zahlungsansprüche nicht als diejenigen, die angemeldet wurden, doch erfolgt diese Einstufung ausdrücklich nach dem Wortlaut von Unterabs. 2 dieser Bestimmung.
144 Daher finden nach Art. 51 Abs. 2a Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 nur in dem Fall, dass die angemeldete Fläche über der Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche liegt und diese Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die Kürzungen und Ausschlüsse nach Abs. 1 dieser Bestimmung keine Anwendung.
145 Dagegen erfolgt entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs der Vergleich zwischen der angemeldeten Fläche und den angemeldeten Zahlungsansprüchen im Rahmen von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 ohne Berücksichtigung der Anzahl der Zahlungsansprüche, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, gegebenenfalls nach Wiedereinziehung zu Unrecht zugewiesener Ansprüche nach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004.
146 Sodann wird diese wörtliche Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 auch durch eine systematische und teleologische Auslegung dieser Bestimmung bestätigt.
147 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, wenn sich bei einem Beihilfeantrag im Rahmen der Betriebsprämienregelung eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche ergibt, für die Berechnung der Beihilfe die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt wird. Diese Bestimmung definiert daher die Berechnungsgrundlage für die Beihilfe.
148 Zum anderen dient, wie bereits oben in Rn. 129 dargelegt, Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 im Wesentlichen dem Ziel, die finanziellen Interessen der Union durch die Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug wirksam zu schützen. Dafür sieht Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, wenn die angemeldete Fläche über der ermittelten Fläche liegt, gestaffelte Sanktionen vor (vgl. oben, Rn. 130).
149 Solche Sanktionen werden allerdings, wie sich aus dem 12. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/2006, durch die Abs. 2a in Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 eingefügt wurde, als unnötig angesehen, falls, wenn der Betriebsinhaber mehr Fläche angemeldet hat, als er Zahlungsansprüche besitzt, die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfefähigkeitsvoraussetzungen erfüllt. In einem solchen Fall schreibt nämlich laut demselben Erwägungsgrund Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 vor, dass für die Berechnung der Beihilfe die Fläche in Hektar zugrunde gelegt wird, für die Zahlungsansprüche gelten.
150 Daher bestätigt zum einen die im 12. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/2006 hergestellte Verbindung zwischen Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, einer Bestimmung, die sich ausdrücklich auf einen Vergleich zwischen der angemeldeten Fläche und den angemeldeten Zahlungsansprüchen gründet, und Art. 51 Abs. 2a der letzteren Verordnung das Ergebnis, wonach der nach Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 anzustellende Vergleich zwischen einerseits der angemeldeten Fläche und andererseits den angemeldeten Zahlungsansprüchen und nicht den Zahlungsansprüchen, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, gegebenenfalls nach Wiedereinziehung zu Unrecht zugewiesener Ansprüche gemäß Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004, zu erfolgen hat.
151 Zum anderen gründet sich im Hinblick auf die Systematik von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004, der im Kontext der Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug steht, die Einfügung von Abs. 2a in diese Bestimmung auf die Erwägung, dass, wenn sich eine Abweichung zwischen der angemeldeten Fläche und den angemeldeten Zahlungsansprüchen ergibt, grundsätzlich keine Gefahr der Unregelmäßigkeit oder des Betrugs besteht, falls die angemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt. Wenn sich nämlich eine solche Abweichung zwischen der angemeldeten Fläche und der Anzahl der angemeldeten Ansprüche ergibt, wird jedenfalls nach Art. 50 Abs. 2 dieser Verordnung für die Bestimmung der Beihilfe die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt, so dass jedenfalls ausgeschlossen ist, dass eine Beihilfe auf der Grundlage einer nicht ermittelten Fläche gezahlt wird. Daraus folgt, dass grundsätzlich in einem solchen Fall keine Gefahr einer zu Unrecht erfolgten Zahlung besteht, die auf der Grundlage einer nicht ermittelten Fläche gewährt wird.
152 Schließlich trifft es zu, dass, wie das Vereinigte Königreich ausgeführt hat, diese Auslegung von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 und insbesondere von seinem Abs. 2a nicht ausschließt, dass ausnahmsweise eine Sanktion auf der Grundlage von nicht vorhandenen Zahlungsansprüchen berechnet wird, wenn der Landwirt eine Anzahl der Ansprüche anmeldet, die über der Anzahl Zahlungsansprüche liegt, über die er tatsächlich verfügt.
153 Es ist jedoch festzustellen, dass, ohne dass zu bestimmen wäre, ob ‐ wie das Vereinigte Königreich geltend macht ‐ der Verweis auf die ermittelte Fläche in Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 als Verweis auf die beihilfefähige Fläche für eine entsprechende Zahl von angemeldeten Zahlungsansprüchen oder von angemeldeten Zahlungsansprüchen, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, zu verstehen ist, der oben in Rn. 152 angeführte Umstand entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung nicht geeignet ist, die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses zu bewirken.
154 Abgesehen davon, dass das Vereinigte Königreich die Rechtmäßigkeit von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 nicht in Zweifel gezogen hat, ist nämlich festzustellen, dass dieser Umstand, so bedauerlich er auch sein mag, an der oben dargelegten Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, die in Anbetracht einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Analyse geboten ist, nichts ändern kann.
155 Insoweit ist außerdem hinzuzufügen, dass die Verordnung Nr. 1122/2009, die die Verordnung Nr. 796/2004 mit Wirkung zum 1. Januar 2010 aufgehoben und ersetzt hat, nunmehr ausdrücklich in ihrem Art. 57 („Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen“) Abs. 2 zweiter Gedankenstrich vorsieht, dass, „[wenn] die Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche über der Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche [liegt], … die angemeldeten Zahlungsansprüche auf die Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche gesenkt [werden]“.
156 Diese neue Bestimmung gründet sich, wie aus dem 78. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1122/2009 hervorgeht, auf folgende Erwägung:
„Die Zahlung der Stützung im Rahmen der Betriebsbeihilferegelung erfordert dieselbe Anzahl von Zahlungsansprüchen und beihilfefähigen Hektar. Für den Zweck dieser Regelung ist daher vorzuschreiben, dass für die Berechnung der Zahlung im Falle von Abweichungen zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt wird. Um eine Berechnung auf der Grundlage nicht vorhandener Ansprüche zu vermeiden, ist vorzusehen, dass die bei der Berechnung zugrunde gelegte Anzahl von Zahlungsansprüchen die dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehende Anzahl von Zahlungsansprüchen nicht überschreiten darf.“
157 Jedoch ist, entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, wonach seine Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 durch Art. 57 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 bestätigt werde, darauf hinzuweisen, dass der Erlass der letzteren Verordnung und die Änderungen, die sie mit sich bringt, an der oben vorgenommenen Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 nichts ändern und keine Auslegung der letzteren Bestimmung rechtfertigen können, die nicht nur ihrem Wortlaut, sondern auch den Gründen, die ihrer Einfügung in diese Verordnung zugrunde liegen, zuwiderliefe (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 16. September 2013, Niederlande/Kommission, T‑343/11, EU:T:2013:468, Rn. 91).
158 Abgesehen davon, dass Art. 57 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 nach seiner Überschrift einen anderen Gegenstand als Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 hat, da letztere Bestimmung Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen betrifft, ist ‐ auch ohne dass Art. 57 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 einer Auslegung bedürfte ‐ festzustellen, dass die letztere Verordnung zum Zeitpunkt der Kontrollen, bei denen die auf die Übererklärungen zurückgehenden Fehler aufgedeckt wurden, nicht anwendbar war, da sie nach ihrem Art. 87 Unterabs. 2 erst für Beihilfeanträge gilt, die sich auf ab dem 1. Januar 2010 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen.
159 Drittens ist, soweit das Vereinigte Königreich sein Vorbringen zur Auslegung von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 durch Beispiele für die Berechnung von Sanktionen nach diesen Bestimmungen belegen will, hinzuzufügen, dass solche rein illustrativen Beispiele nicht nachweisen können, dass die Kommission dem Vereinigten Königreich zu Unrecht vorgeworfen hat, die Sanktionen nach diesen Bestimmungen fehlerhaft berechnet zu haben, und dass die bei der Beurteilung des finanziellen Risikos des Fonds angewandte Berechnungsmethode hinsichtlich der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen falsch ist.
160 Schließlich beruft sich das Vereinigte Königreich hilfsweise auf den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktion. Insoweit vertritt es im Wesentlichen die Ansicht, dass Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009 eine neue Vorschrift über die Anwendung der Kürzungen und Ausschlüsse darstelle und dass diese Vorschrift, da sie weniger streng sei als Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 in seiner Auslegung durch die Kommission, rückwirkend anzuwenden sei. Diese neue Vorschrift schließe Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen aus, wenn der Landwirt eine beihilfefähige Fläche anmelde, die mindestens der Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche entspreche, wobei diese Anzahl die ihm zur Verfügung stehende Anzahl von Zahlungsansprüchen nicht übersteigen könne.
161 Wie insoweit bereits oben in Rn. 158 festgestellt, gilt nach Art. 87 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 diese erst für Beihilfeanträge, die sich auf ab dem 1. Januar 2010 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen, so dass die Verordnung Nr. 796/2004 auf die Beihilfeanträge für das Jahr 2009 grundsätzlich anwendbar war. Allerdings gelten nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 bei späterer Änderung der in einer Unionsregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend.
162 Nach der Rechtsprechung stellen die Kürzungen und Ausschlüsse der Beihilfen, wie die nach Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehenen, eine verwaltungsrechtliche Sanktion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 1997, National Farmers’ Union u. a., C‑354/95, Slg, EU:C:1997:379, Rn. 40 und 41, Strawson und Gagg & Sons, oben in Rn. 132 angeführt, EU:C:2002:695, Rn. 46, sowie vom 4. Mai 2006, Haug, C‑286/05, Slg, EU:C:2006:296, Rn. 21).
163 Hingegen ist der Rechtsprechung auch zu entnehmen, dass die Bestimmungen über die Definition einer Berechnungsgrundlage keine verwaltungsrechtliche Sanktion darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil Haug, oben in Rn. 162 angeführt, EU:C:2006:296, Rn. 24).
164 Genau dies ist aber bei Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009, auf den sich das Vereinigte Königreich stützt, der Fall.
165 Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009, nach dem, „[wenn] die Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche über der Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche [liegt], … die angemeldeten Zahlungsansprüche auf die Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche gesenkt [werden]“, gehört nämlich, wie sich aus seiner Überschrift ergibt und wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, zur Definition der Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen.
166 Außerdem ändert Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009 in keiner Weise die Vorschriften über die Kürzungen und Ausschlüsse, wie sie sich aus Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 ergeben. Der letztere Artikel übernimmt im Übrigen die Vorschriften von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, wobei jedoch Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, der eine Ausnahme von den Kürzungen und Ausschlüssen nach Art. 51 Abs. 1 dieser Verordnung darstellte, nicht in Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 übernommen wurde.
167 Daraus folgt, dass das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zur rückwirkenden Anwendung einer milderen Sanktion nicht durchgreifen kann.
168 Folglich ist die vierte Rüge in vollem Umfang zurückzuweisen.
Zur zweiten Rüge betreffend die Berücksichtigung der sich auf die Tierprämien auswirkenden Flächenabweichungen bei der Neuberechnung der Zahlungsansprüche
169 Das Vereinigte Königreich macht im Wesentlichen geltend, die Kommission habe zu Unrecht angenommen, dass sich Fehler bei der Bestimmung der die Tierprämien betreffenden Flächen auf das historische Element auswirken könnten. Aus dem Beschluss 2010/399/EU der Kommission vom 15. Juli 2010 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des EAGFL, Abteilung Garantie, des EGFL und des ELER getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 184, S. 6) gehe nämlich hervor, dass die Kommission hinsichtlich des Antragsjahrs 2004 nur eine pauschale Berichtigung von 2 % auf die getätigten Ausgaben im Rahmen der Extensivierungsprämienregelung angewandt habe. Dasselbe – äußerst niedrige – Risiko bestehe jedoch angesichts der großen Ähnlichkeit der Regelungen und der damit verbundenen Bedingungen während des Bezugszeitraums.
170 Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet.
171 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass die Kommission im Konformitätsabschlussverfahren der Ansicht war, die vom Vereinigten Königreich vorgenommene Neuberechnung der Zahlungsansprüche berücksichtige nur das pauschale Element, während keine Kontrolle erfolgt sei, um zu bestimmen, ob sich die Flächenabweichungen auch auf die Tierprämien, die im Bezugszeitraum von 2000 bis 2002 gezahlt worden seien, und daher auf das historische Element der Zahlungsansprüche ausgewirkt hätten.
172 Selbst wenn jedoch angenommen würde, dass, wie das Vereinigte Königreich vorträgt, das Risiko aufgrund der fehlenden Überprüfung der Auswirkung von Fehlern bei der Bestimmung der die Tierprämien betreffenden Flächen sehr gering war, ist dennoch festzustellen, dass das Vereinigte Königreich in keiner Weise die Feststellung in Frage gestellt hat, dass es eine solche Überprüfung nicht vorgenommen hat. Es bestreitet nämlich das Bestehen von Flächenabweichungen, die sich auf die Tierprämien ausgewirkt haben könnten, nicht. Außerdem hat es in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts bestätigt, dass es keine Überprüfung der etwaigen Auswirkung solcher Abweichungen auf das historische Element der Zahlungsansprüche vorgenommen hat, was im Protokoll der mündlichen Verhandlung vermerkt wurde.
173 Daraus folgt, dass es vor dem Hintergrund der oben in Rn. 65 angeführten Rechtsprechung, nach der es zwar Sache der Kommission ist, glaubhaft zu machen, dass an den von den nationalen Verwaltungen durchgeführten Kontrollen oder den von diesen übermittelten Zahlen berechtigte Zweifel bestehen, es jedoch Sache des betreffenden Mitgliedstaats ist, den Nachweis zu erbringen, dass die Feststellungen der Kommission unzutreffend sind, dem Vereinigten Königreich nicht gelungen ist, die oben in Rn. 171 im Wesentlichen zusammengefassten Feststellungen der Kommission zu entkräften.
174 Überdies ist, soweit das Vereinigte Königreich geltend macht, das Risiko aufgrund der fehlenden Überprüfungen in Bezug auf die Tierprämien sei äußerst gering, festzustellen, dass die im vorliegenden Fall angewandte Höhe der finanziellen Berichtigung durch eine Gesamtheit von durch die Kommission bei den Schlüsselkontrollen und Zusatzkontrollen festgestellten Mängeln gerechtfertigt war und sich aus einer vom Vereinigten Königreich selbst vorgenommenen Beurteilung des Risikos ergibt. Abgesehen davon, dass das Letztere nicht erläutert hat, inwieweit der Satz von 5,19 % gegebenenfalls dadurch beeinflusst war, dass das Fehlen dieser Überprüfungen berücksichtigt wurde, genügt der Hinweis, dass, selbst wenn dieses Fehlen ein vernachlässigbares Risiko für den Fonds geschaffen hätte, diese Erwägung nicht geeignet wäre, die Anwendung der punktuellen Berichtigung von 5,19 % im vorliegenden Fall in Frage zu stellen.
175 Folglich ist die vorliegende Rüge zurückzuweisen.
Zur fünften Rüge betreffend die vorsätzliche Übererklärung
176 Das Vereinigte Königreich beanstandet die Feststellung von Mängeln der Zusatzkontrollen betreffend die vorsätzliche Übererklärung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004. Es macht im Wesentlichen geltend, die vorsätzliche Übererklärung stelle einen Betrug dar, der mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht sei und im Recht Nordirlands eine Straftat darstelle. Daher schaffe Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 zwar eine Sanktion verwaltungsrechtlicher und nicht strafrechtlicher Natur, jedoch könne das nordirische Regionalministerium für Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums (Northern Ireland Department of Agriculture and Rural Development, DARD) nur feststellen, dass ein Landwirt einen betrügerischen Antrag gestellt habe, wenn dies in einem ordentlichen Strafverfahren nachgewiesen worden sei. Ebenso wenig könne die Kommission dem Vereinigten Königreich vorwerfen, dass das DARD Fälle, die ihrer Ansicht nach an seinen zentralen Untersuchungsdienst (Central Investigation Service, CIS) hätten verwiesen werden sollen, nicht an diesen verwiesen habe, dies umso mehr, als keine derartige Verweisungspflicht bestehe, wenn die Beweise jedenfalls unzureichend seien. Außerdem seien betrügerische Anträge äußerst selten, so dass der Teil der Ausgaben, der aufgrund der vorsätzlichen Übererklärung in Nordirland der Gefahr ausgesetzt sei, wahrscheinlich äußerst gering sei.
177 Die Kommission hält das Vorbringen des Vereinigten Königreichs für unbegründet.
178 Erstens ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich auf eine Frage des Gerichts im Anschluss an das Urteil vom 27. Februar 2013, Polen/Kommission (T‑241/10, EU:T:2013:96), in der mündlichen Verhandlung sein Vorbringen fallen gelassen hat, wonach im Wesentlichen die Kommission ihm zu Unrecht vorgeworfen habe, die Sanktion bei vorsätzlicher Übererklärung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 von einem vorherigen Strafverfahren abhängig gemacht zu haben, was im Protokoll der mündlichen Verhandlung vermerkt wurde.
179 Zweitens ist, soweit das Vereinigte Königreich sein Vorbringen, wonach die Kommission ihm nicht vorwerfen könne, dass das DARD gewisse Fälle nicht an das CIS verwiesen habe, nicht ausdrücklich zurückgenommen hat, darauf hinzuweisen, dass allein die – unstreitige, wie sich aus der vorstehenden Rn. 178 ergibt – Tatsache, dass das Vereinigte Königreich die Anwendung der verwaltungsrechtlichen Sanktionen von einem vorherigen Strafverfahren abhängig gemacht hat, hinreicht, um auf das Vorliegen von Mängeln zu schließen, die das System der Anwendung der von Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 geschaffenen verwaltungsrechtlichen Sanktionen im Vereinigten Königreich betreffen, ohne dass auf die Frage nach der Erheblichkeit dieses Vorbringens einzugehen ist. Folglich braucht nicht geprüft zu werden, ob dieses System überdies insoweit mit Mängeln behaftet war, als gewisse Fälle von Übererklärung, die nach Ansicht der Kommission an das CIS hätten verwiesen werden müssen, ihm jedoch nicht vorgelegt worden seien.
180 Jedenfalls hat das Vereinigte Königreich die Fehlerhaftigkeit der Feststellungen der Kommission zur fehlenden Übermittlung von Fällen an das CIS nicht nachgewiesen. Das Vereinigte Königreich hat sich nämlich auf allgemeine Behauptungen beschränkt, wonach die Vorlage an eine mit der Verfolgung von Zuwiderhandlungen betraute Behörde nicht verpflichtend sei, wenn offensichtlich sei, dass die Beweise nicht hinreichten, um das Vorliegen eines vorsätzlichen Verstoßes feststellen zu können. Eine solche Behauptung ist jedoch im Hinblick auf die oben in Rn. 65 angeführte Rechtsprechung nicht hinreichend, um die berechtigten Zweifel der Kommission zu entkräften.
181 Drittens ist zum Vorbringen des Vereinigten Königreichs, das finanzielle Risiko des Fonds aufgrund der vorsätzlichen Übererklärung in Nordirland sei jedenfalls „wahrscheinlich äußerst gering“, darauf hinzuweisen, dass ein solches Vorbringen nicht ausreicht, um die von der Kommission getroffene Feststellung eines Versäumnisses bei der Anwendung der von Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Sanktionen in Frage zu stellen, ohne dass geprüft werden müsste, ob dieses Vorbringen erheblich ist, da nach den Angaben des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung die von ihm vorgenommene Beurteilung des Risikos die vorsätzlichen Übererklärungen nicht berücksichtigt.
182 Selbst wenn man unterstellt, dass das Vereinigte Königreich mit diesem Vorbringen den von der Kommission angewandten Berichtigungssatz beanstanden will, war außerdem dieser Satz, wie bereits oben in Rn. 174 ausgeführt, durch eine Gesamtheit von durch die Kommission bei den Schlüsselkontrollen und Zusatzkontrollen festgestellten Mängeln gerechtfertigt und ergibt sich aus einer vom Vereinigten Königreich vorgenommenen Beurteilung des Risikos. Daraus folgt, dass, selbst wenn die Mängel des Verwaltungssanktionsverfahrens nach Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 ein vernachlässigbares Risiko für den Fonds geschaffen hätten, diese Erwägung nicht geeignet wäre, die Anwendung der punktuellen Berichtigung von 5,19 % im vorliegenden Fall in Frage zu stellen.
183 Jedenfalls hat sich das Vereinigte Königreich, entgegen der oben in Rn. 66 angeführten Rechtsprechung, nach der es Sache des Mitgliedstaats ist, nachzuweisen, dass der Kommission hinsichtlich der aus den von ihr festgestellten Unregelmäßigkeiten zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist, auf hypothetische und vage Behauptungen beschränkt, die sich zwar auf den Jahresbericht der Kommission 2009 über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und die Betrugsbekämpfung gründen, jedoch nicht durch substantiierte Anhaltspunkte gestützt werden, um zu beweisen, dass der von der Kommission angewandte Berichtigungssatz im vorliegenden Fall falsch war.
184 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist die fünfte Rüge des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
185 Folglich ist der zweite Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum ersten Klagegrund: Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bei der Bestimmung des Umfangs der tatsächlichen Verluste für den Fonds
186 Im Rahmen des ersten Nichtigkeitsgrundes rügt das Vereinigte Königreich, dass die Kommission, indem sie eine pauschale Berichtigung von 5,19 % auf alle für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben angewandt habe, Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in Bezug auf den Umfang der Gefahr eines Verlusts für den Fonds begangen habe. Die Kommission habe nicht berücksichtigt, dass zum einen ungefähr 80 % der Fehler betreffend das Antragsjahr 2009 hinsichtlich der beihilfefähigen Flächen auf Übererklärungen dieser Flächen im Jahr 2005 bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche zurückgingen und dass zum anderen der im Jahr 2005 auf der Grundlage des hybrid-statischen Modells bestimmte Wert pro Einheit der Zahlungsansprüche aus einem historischen Element, das aus der Teilung des Referenzbetrags durch die Gesamtzahl der Zahlungsansprüche hervorgehe, und einem pauschalen Element, das 78,33 Euro pro Zahlungsanspruch entspreche, bestehe. Jedoch sei der Fonds hinsichtlich 80 % der Ausgaben nur bei den das pauschale Element betreffenden Ausgaben, die ungefähr 22 % aller getätigten Ausgaben entsprächen, einem Risiko ausgesetzt. Daraus folge, dass bei Anwendung einer punktuellen Berichtigung von 5,19 % auf den der Gefahr ausgesetzten Teil der Ausgaben die finanzielle Berichtigung nicht höher als 1,95 % hätte sein können.
187 Die Kommission hält das Vorbringen des Vereinigten Königreichs für unbegründet.
188 Zunächst ist festzustellen, dass ‐ was die finanziellen Berichtigungen angeht ‐ diese nach Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 vorgenommen werden, wenn die Kommission zu der Überzeugung gelangt, dass die betreffenden Ausgaben nicht in Übereinstimmung mit den Unionsvorschriften getätigt wurden. Dieses Dokument sieht auch vor, dass, ausgenommen der Fall, dass die zu Unrecht erfolgte Zahlung bereits von den nationalen Kontrollbehörden entdeckt wurde und diese geeignete Abhilfemaßnahmen getroffen und die Wiedereinziehung in die Wege geleitet haben, die Kommission die Finanzierung aus dem Unionshaushalt ablehnen muss. Für die Fälle, in denen sich die tatsächliche Höhe der unregelmäßigen Zahlungen und somit die Höhe des der Union entstandenen finanziellen Schadens bestimmen lässt, sieht das Dokument Nr. VI/5330/97 vor, dass u. a. ein Betrag abgelehnt wird, den man durch Hochrechnung der Ergebnisse der Überprüfung einer repräsentativen Stichprobe von Fällen auf die Gesamtheit der Fälle erhält, aus denen die Stichprobe gebildet wurde, der aber auf den Verwaltungsbereich beschränkt bleibt, in dem der betreffende Mangel nach vernünftigem Ermessen auftreten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2013, Portugal/Kommission, T‑2/11, Slg, EU:T:2013:307, Rn. 120). Dagegen werden in den Fällen, in denen sich die tatsächliche Höhe der unregelmäßigen Zahlungen nicht bestimmen lässt, pauschale Berichtigungen vorgenommen (Urteile vom 18. September 2003, Vereinigtes Königreich/Kommission, C‑346/00, Slg, EU:C:2003:474, Rn. 53, und vom 24. April 2008, Belgien/Kommission, C‑418/06 P, Slg, EU:C:2008:247, Rn. 136; vgl. auch Urteil Portugal/Kommission, EU:T:2013:307, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
189 Insoweit wurde das Dokument Nr. VI/5330/97 von der Kommission zwar im Kontext des EAGFL angenommen und enthält laut seinem Titel Leitlinien zur Berechnung der finanziellen Auswirkungen im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung über den Rechnungsabschluss des EAGFL, Abteilung Garantie, jedoch ist es der Kommission nicht verwehrt, dieses Dokument auch bei der Ausübung der Befugnisse anzuwenden, die ihr Art. 31 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 im Rahmen des Rechnungsabschlusses des Fonds überträgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2013, Bulgarien/Kommission, T‑335/11, EU:T:2013:262, Rn. 86), was das Vereinigte Königreich im Übrigen nicht in Abrede stellt.
190 Im Licht dieser Erwägungen ist die Begründetheit des vorliegenden Klagegrundes zu prüfen.
191 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass die Kommission eine punktuelle Berichtigung von 5,19 % auf alle im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben anwandte. Der auf diese Weise angewandte Berichtigungssatz ist aus einer von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgenommenen Beurteilung des Risikos hervorgegangen, die die Kommission anerkannte, da diese Beurteilung ihrer Ansicht nach erlaubte, die Höhe des der Union entstandenen finanziellen Schadens angemessen zu bestimmen. In Anbetracht dieser von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgenommenen Beurteilung wurde das finanzielle Risiko dahin definiert, dass es dem Unterschied zwischen den gezahlten Beträgen und einer revidierten Zahlung entspricht, die gegebenenfalls die zu verhängenden Sanktionen umfasst, wobei die zu Unrecht gezahlten Beträge und die Sanktionen vom Vereinigten Königreich nach der von der Kommission befürworteten Methode bestimmt wurden. Die Beurteilung des Risikos gründete sich auf eine Extrapolation auf der Grundlage einer Stichprobe von 394 im Jahr 2009 im Rahmen der Betriebsprämienregelung gestellten Anträgen.
192 Aus den Akten ergibt sich somit, dass die von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgenommene Beurteilung des finanziellen Risikos darin bestand, den der Union tatsächlich entstandenen finanziellen Schaden auf der Grundlage einer Stichprobe und durch Hochrechnung zu bestimmen. Dieser finanzielle Schaden und damit das finanzielle Risiko entsprechen, wie sowohl aus dem Bericht über die Beurteilung des Risikos als auch den Schriftsätzen des Vereinigten Königreichs hervorgeht, der Summe der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen, die nach der von der Kommission befürworteten Methode bestimmt wurden. Das so beurteilte finanzielle Risiko wurde im Bericht über die Beurteilung des Risikos in Prozent aller betroffenen Zahlungen ausgedrückt. Aus dem Bericht über die Beurteilung des Risikos ergibt sich nämlich eindeutig, dass das finanzielle Risiko 5,19 % aller im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben entspricht, was außerdem das Vereinigte Königreich in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts bestätigt hat.
193 Daraus folgt, dass die Kommission, da sie auf der Grundlage einer von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgeschlagenen und von ihr anerkannten Beurteilung des Risikos die unregelmäßigen Zahlungen und daher die Höhe des der Union entstandenen finanziellen Schadens bestimmen konnte, zu Recht nach den im Dokument Nr. VI/5330/97 enthaltenen Leitlinien, wie sie u. a. in der vorstehenden Rn. 188 dargelegt wurden, die Ablehnung des der Höhe des Schadens entsprechenden Betrags beschloss.
194 Daraus folgt auch, dass die Kommission, da die Höhe des so beurteilten Schadens, wie oben in Rn. 192 dargelegt, in Prozent aller im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben ausgedrückt wurde, die punktuelle Berichtigung von 5,19 % zu Recht auf alle diese Ausgaben angewandt hat.
195 Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen des Vereinigten Königreichs im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes nicht in Frage gestellt, wonach im Wesentlichen die punktuelle Berichtigung von 5,19 % nur auf den Teil der betreffend das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben anzuwenden sei, der von den Unregelmäßigkeiten betroffen sei, so dass das tatsächliche finanzielle Risiko maximal 1,95 % betrage. Insoweit rührten 80 % der Fehler aus dem Jahr 2009 aus Fehlern bei der ursprünglichen Zuweisung und Berechnung der Zahlungsansprüche hinsichtlich der beihilfefähigen Flächen her. Daher sei im Wesentlichen bei 80 % der im betreffenden Zeitraum in Nordirland getätigten Ausgaben aufgrund der aus einem historischen Element und einem pauschalen Element bestehenden Methode für die Berechnung dieser Zahlungsansprüche (vgl. oben, Rn. 70) die Tatsache zu berücksichtigen, dass nur das letztere Element und nicht die gesamte Zahlung von dem Risiko für den Fonds betroffen sei. Das pauschale Element stelle jedoch nur ungefähr 22 % der gesamten in Nordirland getätigten Zahlungen dar.
196 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall die finanzielle Berichtigung auf der Grundlage einer vom Vereinigten Königreich selbst im Konformitätsabschlussverfahren vorgelegten Beurteilung des Risikos bestimmt wurde.
197 Zunächst hat das Vereinigte Königreich für diese Beurteilung des Risikos das finanzielle Risiko dahin definiert, dass es dem Unterschied zwischen den gezahlten Beträgen und einer revidierten Zahlung entspreche, die gegebenenfalls die zu verhängenden Sanktionen umfasse, wobei die zu Unrecht gezahlten Beträge und die Sanktionen vom Vereinigten Königreich nach der von der Kommission befürworteten Methode bestimmt wurden.
198 Abgesehen davon, dass das Vorbringen des Vereinigten Königreichs im Rahmen des zweiten Klagegrundes zur Beanstandung dieser Methode für die Berechnung bereits oben zurückgewiesen wurde, rügt dieser Mitgliedstaat im vorliegenden Fall jedoch keineswegs die Tatsache, dass das finanzielle Risiko des Fonds in der Summe der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen besteht.
199 Sodann hat das Vereinigte Königreich selbst für die der Kommission vorgeschlagene Beurteilung des finanziellen Risikos alle für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben als Berechnungsgrundlage verwendet, wie es in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat (vgl. oben, Rn. 192). Außerdem ergibt sich aus den Akten nicht, dass das Vereinigte Königreich, als es im Konformitätsabschlussverfahren seine Beurteilung des Risikos vorlegte, irgendwelche Bedenken hinsichtlich dieser Berechnungsgrundlage geäußert hat.
200 Indem das Vereinigte Königreich im vorliegenden Verfahren jedoch geltend macht, die finanzielle Berichtigung von 5,19 %, die im Bericht über die Beurteilung des Risikos im Verhältnis zu allen diesen Ausgaben bestimmt wurde, sei nur auf den – kleineren – Teil der Zahlungen anzuwenden, der seiner Ansicht nach wirklich vom Risiko betroffen sei, stellt es in Wahrheit gleichzeitig die Grundlage seiner eigenen Beurteilung des finanziellen Risikos in Frage.
201 Schließlich ist das Vorbringen des Vereinigten Königreichs geeignet, die Berechnungen in Frage zu stellen, die im Bericht über die Beurteilung des Risikos zum Satz von 5,19 % führten. Soweit dieser Satz den Teil aller Ausgaben widerspiegelt, der der Summe der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen (und somit dem finanziellen Risiko in Zahlen) entspricht, verliert er somit seine Bedeutung, wenn er auf eine andere Berechnungsgrundlage angewandt wird. Die Auswechslung der ursprünglich herangezogenen Berechnungsgrundlage (alle Zahlungen), die dem angewandten Berichtigungssatz seine Bedeutung gab, durch eine herabgesetzte Berechnungsgrundlage (den Teil der Zahlungen, der nach Ansicht des Vereinigten Königreichs wirklich vom Risiko betroffen ist) bei der Bestimmung des finanziellen Risikos durchbricht den Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Berechnungsgrundlage und dem festgelegten Satz.
202 Daraus folgt, dass das Vereinigte Königreich, indem es geltend macht, die finanzielle Berichtigung von 5,19 %, die auf der Grundlage aller im Jahr 2010 in Nordirland getätigten Ausgaben bestimmt wurde, sei nur auf einen Teil dieser Ausgaben anzuwenden, die Basis der im Konformitätsabschlussverfahren durchgeführten Beurteilung grundsätzlich in Frage stellt. Indem das Vereinigte Königreich eine finanzielle Berichtigung, die dem tatsächlichen Risiko für den Fonds entspricht und in Prozent aller dieser Ausgaben ausgedrückt wurde, auf nur einen Teil dieser Ausgaben anwenden will, stellt es überdies die Richtigkeit der Analyse des Risikos und des Satzes von 5,19 % selbst in Frage, obwohl es diese Analyse selbst durchgeführt und diesen Satz auf der Grundlage einer von ihm nicht bestrittenen Definition des Risikos bestimmt hat.
203 Soweit das Vereinigte Königreich außerdem auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, der im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes vorgebrachte Satz von 1,95 % sei durch die im zweiten Klagegrund in Rede stehende Methode für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen zu erklären, genügt der Hinweis, dass sein Vorbringen zu dieser Methode im Rahmen der vorstehenden Prüfung des zweiten Klagegrundes zurückgewiesen wurde.
204 Folglich kann dieses Vorbringen des Vereinigten Königreichs, dem es gemäß den oben in Rn. 66 angeführten Anforderungen obliegt, nachzuweisen, dass der Kommission hinsichtlich der aus dem Verstoß gegen die Unionsvorschriften betreffend die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist, nicht den Nachweis erbringen, dass der Kommission hinsichtlich der aus den von ihr festgestellten Unregelmäßigkeiten zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist.
205 Daher ist festzustellen, dass die Kommission keinen Fehler begangen hat, indem sie die punktuelle Berichtigung von 5,19 % auf alle im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben angewandt hat.
206 Der erste Klagegrund ist deshalb zurückzuweisen.
207 Nach alledem ist die vorliegende Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
208 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Vereinigte Königreich unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.
Martins Ribeiro
Gervasoni
Madise
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 4. September 2015.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Rechtlicher Rahmen
Regelung der Union über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik
Verordnung (EG) Nr. 1290/2005
Verordnung (EG) Nr. 885/2006
Verordnungen (EG) Nrn. 1782/2003 und 73/2009
Verordnungen (EG) Nrn. 796/2004 und 1122/2009
Dokument Nr. VI/5330/97
Regelung der Union über den Schutz ihrer finanziellen Interessen
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Vorbemerkungen
Zum zweiten Klagegrund: Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht betreffend die Mängel der Zusatzkontrollen und insbesondere die Methoden für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen
Zur ersten, zur dritten und zur vierten Rüge betreffend die Methode zur Beurteilung des finanziellen Risikos des Fonds
– Zur ersten Rüge betreffend die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche
– Zur dritten Rüge betreffend die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge
– Zur vierten Rüge betreffend Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen in Bezug auf die Fläche
Zur zweiten Rüge betreffend die Berücksichtigung der sich auf die Tierprämien auswirkenden Flächenabweichungen bei der Neuberechnung der Zahlungsansprüche
Zur fünften Rüge betreffend die vorsätzliche Übererklärung
Zum ersten Klagegrund: Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bei der Bestimmung des Umfangs der tatsächlichen Verluste für den Fonds
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑245/13
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten zunächst durch C. Murrell, M. Holt und E. Jenkinson, dann durch M. Holt als Bevollmächtigte im Beistand von D. Wyatt, QC, und V. Wakefield, Barrister,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch P. Rossi und K. Skelly als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen teilweiser Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses 2013/123/EU der Kommission vom 26. Februar 2013 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 67, S. 20), soweit dieser Beschluss einen in seinem Anhang 1 aufgeführten Eintrag von 16 513 582,57 Euro über eine hochgerechnete Berichtigung von in Nordirland (Vereinigtes Königreich) im Laufe des Haushaltsjahrs 2010 getätigten Ausgaben um 5,19 % betrifft,
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro (Berichterstatterin) sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise,
Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Dezember 2014
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rechtlicher Rahmen
Regelung der Union über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik
Verordnung (EG) Nr. 1290/2005
1. Die Grundregelung zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik ist hinsichtlich der von den Mitgliedstaaten ab dem 16. Oktober 2006 getätigten Ausgaben und hinsichtlich der von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften ab dem 1. Januar 2007 getätigten Ausgaben die Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates vom 21. Juni 2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 209, S. 1).
2. Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1290/2005 werden aus dem Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) in einer zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union geteilten Mittelverwaltung die im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik vorgesehenen Direktzahlungen an die Landwirte gemäß dem Unionsrecht finanziert.
3. Art. 31 („Konformitätsabschluss“) der Verordnung Nr. 1290/2005 bestimmt in seinen Abs. 1 bis 3:
„(1) Die Kommission entscheidet nach dem in Artikel 41 Absatz 3 genannten Verfahren, welche Beträge von der … Finanzierung [durch die Union] auszuschließen sind, wenn sie feststellt, dass Ausgaben nach Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 4 nicht in Übereinstimmung mit den [Union]svorschriften getätigt worden sind.
(2) Die Kommission bemisst die auszuschließenden Beträge insbesondere unter Berücksichtigung des Umfangs der festgestellten Nichtübereinstimmung. Sie trägt dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der [Union] entstandenen finanziellen Schaden Rechnung.
(3) Vor jeder Entscheidung über eine Ablehnung der Finanzierung werden die Ergebnisse der Überprüfungen der Kommission sowie die Antworten des betreffenden Mitgliedstaats jeweils schriftlich übermittelt; danach bemühen sich beide Parteien um eine Einigung über das weitere Vorgehen.
Gelingt dies nicht, so kann der Mitgliedstaat die Einleitung eines Verfahrens beantragen, in dem versucht wird, innerhalb von vier Monaten eine Einigung herbeizuführen; die Ergebnisse dieses Verfahrens werden in einem Bericht erfasst, der an die Kommission übermittelt und von dieser geprüft wird, bevor sie entscheidet, ob sie die Finanzierung ablehnt.“
Verordnung (EG) Nr. 885/2006
4. Die Einzelheiten des Konformitätsabschlussverfahrens sind in Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 885/2006 der Kommission vom 21. Juni 2006 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1290/2005 hinsichtlich der Zulassung der Zahlstellen und anderen Einrichtungen sowie des Rechnungsabschlusses für den EGFL und den ELER (ABl. L 171, S. 90) festgelegt. Außerdem legt Art. 16 dieser Verordnung die Einzelheiten des Schlichtungsverfahrens fest.
Verordnungen (EG) Nrn. 1782/2003 und 73/2009
5. Im Rahmen der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik erließ der Rat die Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 vom 29. September 2003 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 2019/93, (EG) Nr. 1452/2001, (EG) Nr. 1453/2001, (EG) Nr. 1454/2001, (EG) Nr. 1868/94, (EG) Nr. 1251/1999, (EG) Nr. 1254/1999, (EG) Nr. 1673/2000, (EWG) Nr. 2358/71 und (EG) Nr. 2529/2001 (ABl. L 270, S. 1). Diese Verordnung führte u. a. eine von der Produktion abgekoppelte Einkommensstützungsregelung für Landwirte ein. Diese in Art. 1 zweiter Gedankenstrich dieser Verordnung als „Betriebsprämienregelung“ bezeichnete Regelung fasst eine Reihe von Direktzahlungen an Landwirte gemäß verschiedenen bis dahin bestehenden Beihilferegelungen zusammen.
6. Die Betriebsprämienregelung ist Gegenstand von Titel III der Verordnung Nr. 1782/2003, der, in fünf Kapitel gegliedert, die Art. 33 bis 71m umfasst.
7. Titel III Kapitel 2 der Verordnung Nr. 1782/2003 legt die Vorschriften für die Bestimmung des Beihilfebetrags fest. Dieser Betrag wird nach Art. 37 Abs. 1 dieser Verordnung wie folgt berechnet:
„Der Referenzbetrag entspricht dem Dreijahresdurchschnitt der Gesamtbeträge der Zahlungen, die ein Betriebsinhaber im Rahmen der Stützungsregelungen nach Anhang VI in jedem Kalenderjahr des Bezugszeitraums nach Artikel 38 bezogen hat und der gemäß Anhang VII berechnet und angepasst wurde.“
8. Der Bezugszeitraum umfasst, wie in Art. 38 der Verordnung Nr. 1782/2003 definiert, die Kalenderjahre 2000, 2001 und 2002.
9. Titel III Kapitel 3 der Verordnung Nr. 1782/2003 betrifft die Zahlungsansprüche. Insoweit bestimmt Art. 43 („Bestimmung der Zahlungsansprüche“) dieser Verordnung u. a.:
„(1) [E]in Betriebsinhaber [erhält] einen Zahlungsanspruch je Hektar Fläche, der sich in der Weise berechnet, dass der Referenzbetrag durch den Dreijahresdurchschnitt der Hektarzahl aller Flächen geteilt wird, für die im Bezugszeitraum ein Anspruch auf Direktzahlungen nach Anhang VI bestand.
Die Gesamtzahl der Zahlungsansprüche ist gleich der genannten durchschnittlichen Hektarzahl.
…“
10. Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1782/2003 in ihrer ursprünglichen Fassung definiert den Begriff „beihilfefähige Fläche“ insbesondere als „jede landwirtschaftliche Fläche des Betriebs, die als Ackerland oder Dauergrünland genutzt wird, ausgenommen die für Dauerkulturen, Wälder oder nicht landwirtschaftliche Tätigkeiten genutzten Flächen“.
11. Titel III Kapitel 5 Abschnitt 1 der Verordnung Nr. 1782/2003 gestattete den Mitgliedstaaten u. a., sich für eine regionale Durchführung der Betriebsprämienregelung zu entscheiden. Art. 58 dieser Verordnung bestimmt insoweit:
„(1) Die Mitgliedstaaten können bis spätestens 1. August 2004 beschließen, die Betriebsprämienregelung gemäß den Kapiteln 1 bis 4 nach den Bestimmungen dieses Abschnitts auf regionaler Ebene anzuwenden.
(2) Die Mitgliedstaaten legen die Regionen nach objektiven Kriterien fest.
Mitgliedstaaten mit einer beihilfefähigen Fläche von weniger als drei Millionen Hektar können als eine einzige Region angesehen werden.
(3) Die Mitgliedstaaten teilen die Obergrenze gemäß Artikel 41 nach objektiven Kriterien auf die Regionen auf.“
12. Art. 59 der Verordnung Nr. 1782/2003 legt die Vorschriften über die regionale Anwendung der Betriebsprämienregelung wie folgt fest:
„(1) In hinreichend begründeten Fällen können die Mitgliedstaaten den Gesamtbetrag der gemäß Artikel 58 festgelegten regionalen Obergrenze nach objektiven Kriterien ganz oder teilweise auf alle Betriebsinhaber aufteilen, deren Betriebe in der betreffenden Region gelegen sind, einschließlich der Betriebsinhaber, die das Beihilfekriterium gemäß Artikel 33 nicht erfüllen.
(2) Wird der Gesamtbetrag der regionalen Obergrenze aufgeteilt, so wird der Wert pro Einheit der den Betriebsinhabern zustehenden Ansprüche berechnet, indem die gemäß Artikel 58 festgelegte regionale Obergrenze durch die auf regionaler Ebene bestimmte beihilfefähige Hektarzahl im Sinne von Artikel 44 Absatz 2 geteilt wird.
(3) Wird der Gesamtbetrag der regionalen Obergrenze teilweise aufgeteilt, so wird der Wert pro Einheit der den Betriebsinhabern zustehenden Ansprüche berechnet, indem der entsprechende Teil der gemäß Artikel 58 festgelegten regionalen Obergrenze durch die auf regionaler Ebene bestimmte beihilfefähige Hektarzahl im Sinne von Artikel 44 Absatz 2 geteilt wird.
Stehen dem Betriebsinhaber auch Ansprüche aus dem übrigen Teil der regionalen Obergrenze zu, so wird der regionale Wert pro Einheit jedes seiner Ansprüche mit Ausnahme von Zahlungsansprüchen bei Flächenstilllegungen um einen Betrag erhöht, der dem Referenzbetrag, geteilt durch die Anzahl seiner Ansprüche gemäß Absatz 4, entspricht.
Die Artikel 48 und 49 gelten entsprechend.
(4) Die Anzahl der Ansprüche je Betriebsinhaber entspricht der Hektarzahl, die er gemäß Artikel 44 Absatz 2 im ersten Jahr der Anwendung der Betriebsprämienregelung angemeldet hat, außer im Fall höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände im Sinne des Artikels 40 Absatz 4.“
13. Die Verordnung Nr. 1782/2003 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005, (EG) Nr. 247/2006 und (EG) Nr. 378/2007 (ABl. L 30, S. 16) mit Wirkung vom 1. Januar 2009 aufgehoben und ersetzt.
14. Art. 34 („Aktivierung von Zahlungsansprüchen je beihilfefähige Hektarfläche“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 lautet:
„Eine Stützung im Rahmen der Betriebsprämienregelung wird den Betriebsinhabern bei Aktivierung eines Zahlungsanspruchs je beihilfefähige Hektarfläche gewährt. Bei aktivierten Zahlungsansprüchen besteht Anspruch auf die Zahlung der darin festgesetzten Beträge.“
15. Art. 36 („Änderung von Zahlungsansprüchen“) Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 hat folgenden Wortlaut:
„Sofern in der vorliegenden Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, werden die Zahlungsansprüche pro Hektar nicht geändert.“
Verordnungen (EG) Nrn. 796/2004 und 1122/2009
16. Nach den Erwägungsgründen 29 und 55 der Verordnung (EG) Nr. 796/2004 der Kommission vom 21. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, zur Modulation und zum Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem nach der Verordnung Nr. 1782/2003 (ABl. L 141, S. 18) ist Folgendes vorgesehen:
„(29) Die Einhaltung der Bestimmungen der im Rahmen des integrierten Systems verwalteten Beihilferegelungen sollte wirksam überwacht werden. …
(55) Um die finanziellen Interessen der [Union] wirksam zu schützen, sind geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug zu treffen. Für die Behandlung festgestellter Unregelmäßigkeiten in Bezug auf die Beihilfevoraussetzungen sollten dabei gesonderte Vorschriften bei den unterschiedlichen Beihilferegelungen gelten.“
17. Art. 2 Nr. 22 der Verordnung Nr. 796/2004 definiert die „ermittelte Fläche“ wie folgt:
„… Fläche, die allen in den Vorschriften für die Beihilfegewährung festgelegten Voraussetzungen genügt; im Rahmen der Betriebsprämienregelung ist die beantragte Fläche nur zusammen mit der entsprechenden Zahl von Zahlungsansprüchen als ermittelte Fläche zu betrachten“.
18. Art. 50 („Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen“) Abs. 1 bis 3 der Verordnung Nr. 796/2004 in geänderter Fassung sieht Folgendes vor:
„(1) Liegt im Fall von Beihilfeanträgen im Rahmen der flächenbezogenen Beihilferegelungen, ausgenommen die Beihilfen für Stärkekartoffeln, Saatgut und Tabak gemäß Titel IV Kapitel 6, 9 bzw. 10c der Verordnung … Nr. 1782/2003, die ermittelte Fläche einer Kulturgruppe über der im Beihilfeantrag angegebenen Fläche, so wird bei der Berechnung des Beihilfebetrags die angegebene Fläche berücksichtigt.
(2) Ergibt sich bei einem Beihilfeantrag im Rahmen der Betriebsprämienregelung eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche, so wird für die Berechnung der Zahlung die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt.
(3) Liegt im Fall von Beihilfeanträgen im Rahmen der flächenbezogenen Beihilferegelungen, ausgenommen die Beihilfen für Stärkekartoffeln, Saatgut und Tabak gemäß Titel IV Kapitel 6, 9 bzw. 10c der Verordnung … Nr. 1782/2003, die im Sammelantrag angegebene Fläche über der ermittelten Fläche derselben Kulturgruppe, so wird die Beihilfe, unbeschadet der gemäß den Artikeln 51 und 53 vorzunehmenden Kürzungen und Ausschlüsse, auf der Grundlage der für diese Kulturgruppe ermittelten Fläche berechnet.
Unbeschadet von Artikel 29 der Verordnung … Nr. 1782/2003 wird jedoch im Falle, dass die Differenz zwischen der ermittelten Gesamtfläche und der für Zahlungen im Rahmen von Beihilferegelungen gemäß den Titeln III, IV und IVa der Verordnung … Nr. 1782/2003 angemeldeten Gesamtfläche 0,1 ha oder weniger beträgt, die ermittelte Fläche mit der angemeldeten Fläche gleichgesetzt. Für diese Berechnung werden nur Übererklärungen auf Kulturgruppenebene berücksichtigt.
Die Bestimmung von Unterabsatz 2 gilt nicht, wenn diese Differenz mehr als 20 % der für Zahlungen angemeldeten Gesamtfläche beträgt.“
19. Art. 50 Abs. 5 der Verordnung Nr. 796/2004 enthält Regeln für die Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen hinsichtlich der angemeldeten Fläche für die spezifische Qualitätsprämie für Hartweizen gemäß Art. 72 der Verordnung Nr. 1782/2003 und für den Hartweizenzuschlag und die Sonderbeihilfe gemäß Art. 105 derselben Verordnung.
20. Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 380/2009 der Kommission vom 8. Mai 2009 (ABl. L 116, S. 9) geänderten Fassung regelt die „Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen in Bezug auf die Fläche durch die Betriebsinhaber“ wie folgt:
„(1) Liegt bei einer Kulturgruppe die angemeldete Fläche für die Zwecke der flächenbezogenen Beihilferegelungen, ausgenommen die Regelungen für Stärkekartoffeln, Saatgut und Tabak gemäß Titel IV Kapitel 1 Abschnitte 2 und 5 der Verordnung … Nr. 73/2009 sowie Titel IV Kapitel 10c der Verordnung … Nr. 1782/2003, über der gemäß Artikel 50 Absätze 3 und 5 der vorliegenden Verordnung ermittelten Fläche, so wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, berechnet, wenn die Differenz über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht.
Liegt die Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird für die betreffende Kulturgruppe keine flächenbezogene Beihilfe gewährt.
Beläuft sich die Differenz auf mehr als 50 %, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe des Betrags, der der Differenz zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Artikel 50 Absätze 3 und 5 der vorliegenden Verordnung ermittelten Fläche entspricht, vo n der Beihilfegewährung auszuschließen. Dieser Betrag wird gemäß Artikel 5b der Verordnung … Nr. 885/2006 der Kommission verrechnet. Kann der Betrag im Verlauf der drei Kalenderjahre, die auf das Kalenderjahr der Feststellung folgen, nicht vollständig gemäß dem genannten Artikel verrechnet werden, wird der Restbetrag annulliert.
(2a) Hat ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet und erfüllt die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen, so finden die in Absatz 1 genannten Kürzungen und Ausschlüsse keine Anwendung.
Hat ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet und erfüllt die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen nicht, so ist die in Absatz 1 genannte Differenz die Differenz zwischen der Fläche, die alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, und dem Betrag der gemeldeten Zahlungsverpflichtungen.
…“
21. Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 659/2006 der Kommission vom 27. April 2006 zur Änderung der Verordnung Nr. 796/2004 (ABl. L 116, S. 20) eingefügt. Der zwölfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/2006 lautet:
„Falls ein Betriebsinhaber mehr Fläche angemeldet hat, als er Zahlungsansprüche besitzt, schreibt Artikel 50 Absatz 2 der Verordnung … Nr. 796/2004 vor, dass für die Berechnung der Beihilfe die Fläche in Hektar zugrunde gelegt wird, für die Zahlungsansprüche gelten. Falls die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfefähigkeitsvoraussetzungen erfüllt, ist es nicht nötig, Kürzungen oder Ausschlüsse gemäß Artikel 51 oder 53 derselben Verordnung anzuwenden. Diese Bestimmungen sind daher dahin gehend genauer zu fassen.“
22. Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 betrifft die vorsätzliche Übererklärung. Er sieht in seinem Unterabs. 1 vor, dass, wenn festgestellte Differenzen zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung ermittelten Fläche auf vorsätzlich begangenen Unregelmäßigkeiten beruhen, im laufenden Kalenderjahr keine Beihilfe im Rahmen der betreffenden Beihilferegelung, auf die der Betriebsinhaber gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung Anspruch gehabt hätte, gewährt wird, sofern die Differenz mehr als 0,5 % der ermittelten Fläche oder mehr als einen Hektar beträgt. Nach Art. 53 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 ist außerdem, wenn sich die Differenz auf mehr als 20 % der ermittelten Fläche beläuft, der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe eines Betrags, der der Differenz zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen.
23. Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 legt die Regeln für die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge fest. Die Abs. 1 und 4 dieser Bestimmung lauten:
„(1) Bei zu Unrecht gezahlten Beträgen ist der Betriebsinhaber zur Rückzahlung dieser Beträge zuzüglich der gemäß Absatz 3 berechneten Zinsen verpflichtet.
…
(4) Die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Absatz 1 gilt nicht, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde oder einer anderen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte.
Bezieht sich der Irrtum auf Tatsachen, die für die Berechnung der betreffenden Zahlung relevant sind, so gilt Unterabsatz 1 nur, wenn der Rückforderungsbescheid nicht innerhalb von zwölf Monaten nach der Zahlung übermittelt worden ist.“
24. Art. 73a („Wiedereinziehung zu Unrecht zugewiesener Ansprüche“) der Verordnung Nr. 796/2004 in geänderter Fassung sieht u. a. vor:
„(1) Wird, nachdem Betriebsinhabern gemäß der Verordnung (EG) Nr. 795/2004 Zahlungsansprüche zugewiesen worden sind, festgestellt, dass bestimmte Zahlungsansprüche zu Unrecht zugewiesen wurden, so muss der betreffende Betriebsinhaber die zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche an die in Artikel 42 der Verordnung … Nr. 1782/2003 genannte nationale Reserve zurückgeben.
…
Die zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche gelten als von Anfang an nicht zugewiesen.
(2) Wird, nachdem Betriebsinhabern gemäß der Verordnung … Nr. 795/2004 der Kommission Zahlungsansprüche zugewiesen worden sind, festgestellt, dass der Wert der Zahlungsansprüche zu hoch ist, so wird der Wert entsprechend angepasst. … Der Wert der Verringerung wird der in Artikel 42 der Verordnung … Nr. 1782/2003 genannten nationalen Reserve zugeschlagen.
Die Zahlungsansprüche gelten als von Anfang an zu dem sich aus der Anpassung ergebenden Wert zugewiesen.
(2a) Wird für die Zwecke der Anwendung der Absätze 1 und 2 festgestellt, dass die Zahl der einem Betriebsinhaber gemäß der Verordnung … Nr. 795/2004 zugewiesenen Zahlungsansprüche nicht korrekt ist, wobei sich die zu Unrecht erfolgte Zuweisung nicht auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche auswirkt, die der Betriebsinhaber erhalten hat, so berechnet der Mitgliedstaat die Zahlungsansprüche neu und berichtigt gegebenenfalls die Art der dem Betriebsinhaber zugewiesenen Ansprüche. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Fehler von den Betriebsinhabern nach billigem Ermessen hätten festgestellt werden können.
…
(4) Zu Unrecht gezahlte Beträge werden gemäß Artikel 73 zurückgefordert.“
25. Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 239/2005 der Kommission vom 11. Februar 2005 zur Änderung und Berichtigung der Verordnung Nr. 796/2004 (ABl. L 42, S. 3) eingefügt, deren 15. Erwägungsgrund wie folgt lautet:
„Es sollten Vorschriften für den Fall festgelegt werden, dass ein Betriebsinhaber eine unzulässige Anzahl von Zahlungsansprüchen erhalten hat oder dass der Wert jedes der Zahlungsansprüche gemäß den verschiedenen Modellen im Rahmen der Betriebsbeihilferegelung in unzulässiger Höhe festgesetzt wurde. …“
26. Art. 73 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 972/2007 der Kommission vom 20. August 2007 zur Änderung der Verordnung Nr. 796/2004 (ABl. L 216, S. 3) eingefügt, die am 21. August 2007 in Kraft getreten ist und für Beihilfeanträge gilt, die sich auf Jahre oder Prämienzeiträume ab 1. Januar 2008 beziehen; ihr 19. Erwägungsgrund lautet wie folgt:
„In bestimmten Fällen betrafen zu Unrecht erfolgte Zuweisungen von Zahlungsansprüchen nicht den Gesamtwert, sondern nur die Anzahl der Ansprüche des Betriebsinhabers. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten die Zuweisung oder gegebenenfalls die Art der Ansprüche berichtigen, ohne deren Wert zu verringern. Diese Bestimmung sollte nur gelten, wenn der Betriebsinhaber den Fehler nicht hätten feststellen können.“
27. Die Verordnung Nr. 796/2004 wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2010 aufgehoben und ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 73/2009 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor (ABl. L 316, S. 65).
28. Der 78. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1122/2009 hat folgenden Wortlaut:
„Die Zahlung der Stützung im Rahmen der Betriebsbeihilferegelung erfordert dieselbe Anzahl von Zahlungsansprüchen und beihilfefähigen Hektar. Für den Zweck dieser Regelung ist daher vorzuschreiben, dass für die Berechnung der Zahlung im Falle von Abweichungen zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt wird. Um eine Berechnung auf der Grundlage nicht vorhandener Ansprüche zu vermeiden, ist vorzusehen, dass die bei der Berechnung zugrunde gelegte Anzahl von Zahlungsansprüchen die dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehende Anzahl von Zahlungsansprüchen nicht überschreiten darf.“
29. Art. 57 („Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen“) der Verordnung Nr. 1122/2009 sieht in seinem Abs. 2 vor:
„Bei einem Beihilfeantrag im Rahmen der Betriebsprämienregelung gilt Folgendes:
– ergibt sich eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche, so wird für die Berechnung der Zahlung die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt;
– liegt die Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche über der Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche, so werden die angemeldeten Zahlungsansprüche auf die Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche gesenkt.“
30. Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 regelt die „Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von zu viel angemeldeten Flächen“. Er entspricht im Wesentlichen Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004.
31. Nach Art. 87 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 gilt diese Verordnung für Beihilfeanträge, die sich auf ab dem 1. Januar 2010 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen.
Dokument Nr. VI/5330/97
32. Die Leitlinien der Kommission zu finanziellen Berichtigungen sind im Dokument Nr. VI/5330/97 der Kommission vom 23. Dezember 1997 („Berechnung der finanziellen Auswirkungen im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung über den Rechnungsabschluss des EAGFL – Garantie“, im Folgenden: Dokument Nr. VI/5330/97) definiert.
33. In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97, in dem es um die finanziellen Auswirkungen von Mängeln der mitgliedstaatlichen Kontrollen im Rahmen des Rechnungsabschlusses des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, geht, heißt es im Abschnitt „Einleitung“:
„Stellt die Kommission fest, dass sich eine bestimmte Zahlung auf einen Antrag bezieht, der nicht mit den Gemeinschaftsvorschriften übereinstimmt, so sind die finanziellen Auswirkungen eindeutig: ausgenommen den Fall, dass die zu Unrecht erfolgte Zahlung bereits von den nationalen Kontrollbehörden entdeckt wurden und diese geeignete Abhilfemaßnahmen getroffen und die Wiedereinziehung in die Wege geleitet haben (siehe Anhang 4), muss die Kommission die Finanzierung aus dem Gemeinschaftshaushalt ablehnen. Stützen sich die finanziellen Auswirkungen auf die Überprüfung der Ausgaben für eine große Zahl von Vorgängen, so wird, wenn immer möglich, der abzulehnende Betrag auf Basis einer Extrapolation der Ergebnisse der Überprüfung einer repräsentativen Stichprobe von Vorgängen berechnet. Die Extrapolation sollte für alle Mitgliedstaaten nach der gleichen Methode vorgenommen werden, einschließlich der gleichen Signifikanzschwelle und des gleichen Konfidenzniveaus, der gleichen Schichtung der Gesamtstichprobe, der Stichprobengröße und der Bewertung der Fehler innerhalb der Stichprobe bezogen auf die finanziellen Auswirkungen insgesamt.
Wenn sich ein Mitgliedstaat nicht an die Gemeinschaftsverordnungen bezüglich der Überprüfung der Beihilfefähigkeit der Anträge hält, dann bedeutet dieses Versäumnis, dass die Zahlungen gegen die Gemeinschaftsvorschriften für die betreffende Maßnahme und gegen das in Artikel 8 der Verordnung … Nr. 729/70 genannte allgemeine Erfordernis verstoßen, wonach die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, um Unregelmäßigkeiten zu verfolgen und zu verhindern. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass alle Anträge vorschriftswidrig waren, aber es bedeutet, dass die Gefahr, dass dem [EAGFL] unregelmäßige Zahlungen belastet werden, größer ist. Während die Kommission in bestimmten flagranten Fällen unter Umständen berechtigt ist, die Ausgaben in voller Höhe abzulehnen, wenn die in einer Verordnung vorgeschriebenen Kontrollen nicht vorgenommen wurden, würde der abgelehnte Betrag in vielen anderen Fällen aller Wahrscheinlichkeit nach höher sein, als der der Gemeinschaft entstandene finanzielle Schaden. Daher ist vor jeder Festsetzung einer finanziellen Berichtigung eine Beurteilung des finanziellen Verlusts vorzunehmen.
…“
34. In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 heißt es im Abschnitt „Bewertung auf Basis von Irrtümern in einzelnen Vorgängen“:
„Auf Basis der Verfahren in den bisherigen internen Leitlinien wird die finanzielle Berichtigung nach einer der folgenden Methoden berechnet:
a) Ablehnung eines einzelnen Antrags, für den die erforderlichen Kontrollen nicht durchgeführt wurden;
b) Ablehnung eines Betrags, den man durch Hochrechnung der Ergebnisse der Überprüfung einer repräsentativen Stichprobe von Fällen auf die Gesamtheit der Fälle erhält, aus denen die Stichprobe gebildet wurde, der aber auf den Verwaltungsbereich beschränkt bleibt, in dem der betreffende Mangel nach vernünftigem Ermessen auftreten kann. Dabei wird dem Mitgliedstaat Gelegenheit geboten, nachzuweisen, dass sich das Ergebnis der Extrapolation von dem unterscheidet, das man bei Prüfung aller Fälle in der Stichprobe erhalten würde.
…“
35. In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 heißt es im Abschnitt „Beurteilung auf Basis des Risikos eines finanziellen Schadens: Pauschale Berichtigungen“:
„Mit der immer häufigeren Durchführung von Systemprüfungen haben die Kommissionsdienststellen auch immer häufiger eine Beurteilung des Risikos vorgenommen, das sich aus einem Systemfehler ergibt. In den Fällen, in denen sich die tatsächliche Höhe der unregelmäßigen Zahlungen und somit die Höhe des der Gemeinschaft entstandenen finanziellen Schadens nicht bestimmen lässt, hat die Kommission seit dem Rechnungsabschluss für das Rechnungsjahr 1990 abhängig von der Höhe des Risikos pauschale Berichtigungen in Höhe von 2 %, 5 % oder 10 % der erklärten Ausgaben vorgenommen. In Ausnahmefällen können auch höhere Berichtigungen bis hin zu einer 100%igen Ablehnung beschlossen werden. Das Recht der Kommission, derartige Berichtigungen vorzunehmen, ist vom Gerichtshof in mehreren Urteilen bei Klagen gegen … jährliche Rechnungsabschlussentscheidungen bekräftigt worden (z. B. Urteil in der Rechtssache C‑50/94).
…“
36. In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 heißt es im Abschnitt „Leitlinien für die Anwendung pauschaler Berichtigungen“:
„Pauschale Berichtigungen kommen in Frage, wenn es dem Prüfer anhand der aus einer Untersuchung resultierenden Informationen nicht möglich ist, den tatsächlichen Verlust durch eine Extrapolation der festgestellten Verluste, auf statistischem Wege oder durch Bezugnahme auf andere überprüfbare Daten zu bewerten, er aber andererseits feststellen kann, dass der Mitgliedstaat es versäumt hat, die Förderfähigkeit der abgerechneten Anträge adäquat zu überprüfen.
… Die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat seine Kontrollverfahren nicht verbessert, fällt schwerer ins Gewicht, wenn die Kommission ihm bereits mitgeteilt hat, welche Verbesserungen sie für notwendig hält, um den Gemeinschaftshaushalt gegen Betrug und Unregelmäßigkeiten zu schützen.
…
Wurden zwar alle Schlüsselkontrollen vorgenommen, jedoch nicht in der nach den Verordnungen vorgeschriebenen Zahl, Häufigkeit oder Intensität, so ist eine Berichtigung in Höhe von 5 % gerechtfertigt, weil in diesem Fall der Schluss zulässig ist, dass die Kontrollen nach vernünftigem Ermessen keine ausreichende Gewähr für die Ordnungsmäßigkeit der Anträge bieten und dass die Gefahr eines hohen Verlusts zum Nachteil des Fonds bestand.
…“
Regelung der Union über den Schutz ihrer finanziellen Interessen
37. Im neunten Erwägungsgrund der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1), die einen allen Bereichen der Unionspolitik gemeinsamen rechtlicher Rahmen festlegt, heißt es:
„Die … Maßnahmen und Sanktionen [der Union] zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik sind Bestandteil der Beihilferegelungen. Sie haben einen eigenen Zweck, der die strafrechtliche Bewertung des Verhaltens der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten unberührt lässt. Ihre Effizienz ist durch die unmittelbare Wirksamkeit der [Union]snorm und die uneingeschränkte Anwendbarkeit aller [Union]smaßnahmen sicherzustellen, sofern mit vorsorglichen Maßnahmen dieses Ziel nicht erreicht werden konnte. …“
38. Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:
„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen [Union] wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das [Union]srecht getroffen.
(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine [Union]sbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Union] oder die Haushalte, die von [der Union] verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der [Union] erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“
39. Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:
„Eine verwaltungsrechtliche Sanktion kann nur verhängt werden, wenn sie in einem Rechtsakt der [Union] vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde. Bei späterer Änderung der in einer [Union]sregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen gelten die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend.“
40. Art. 5 der Verordnung Nr. 2988/95 sieht in seinem Abs. 1 Buchst. c und d Folgendes vor:
„Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen:
…
c) vollständiger oder teilweiser Entzug eines nach [Union]srecht gewährten Vorteils auch dann, wenn der Wirtschaftsteilnehmer nur einen Teil dieses Vorteils rechtswidrig erlangt hat;
d) Ausschluss von einem Vorteil oder Entzug eines Vorteils für einen Zeitraum, der nach dem Zeitraum der Unregelmäßigkeit liegt;
…“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
41. Vom 9. bis zum 13. November 2009 führten die Dienststellen der Kommission eine Untersuchung im Vereinigten Königreich betreffend die ordnungsgemäße Anwendung der Vorschriften über die Finanzierung von getätigten Ausgaben im Rahmen der Betriebsprämienregelung in Nordirland (Vereinigtes Königreich) im Jahr 2010 für das Antragsjahr 2009 durch (Untersuchung AA/2009/24).
42. Mit Schreiben vom 8. Januar 2010 (im Folgenden: erste Mitteilung vom 8. Januar 2010), das gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 885/2006 übersandt wurde, teilte die Kommission den Behörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland das Ergebnis dieser Untersuchung mit. Diesem Schreiben war ein Anhang mit der Überschrift „Bemerkungen und Auskunftsverlangen“, der die Ergebnisse der Untersuchung enthielt, beigefügt.
43. Dieser ersten Mitteilung vom 8. Januar 2010 zufolge vertrat die Kommission u. a. die Auffassung, die Behörden des Vereinigten Königreichs hätten die Anforderungen des Unionsrechts nicht in vollem Umfang erfüllt, weshalb Abhilfemaßnahmen erforderlich seien, die künftig die Beachtung dieser Anforderungen sicherstellen sollten. Die Kommission bat um Unterrichtung über die bereits erlassenen und die geplanten Abhilfemaßnahmen sowie den für ihre Anwendung vorgesehenen Zeitplan. Im Übrigen wies die Kommission darauf hin, dass sie die durch den EGFL (im Folgenden: Fonds) und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) finanzierten Ausgaben nach Art. 31 der Verordnung Nr. 1290/2005 teilweise von der Finanzierung durch die Union ausschließen könne. Die festgestellten Mängel würden außerdem als Grundlage für die Berechnung der finanziellen Berichtigungen betreffend die bis zur Anwendung geeigneter Abhilfemaßnahmen getätigten Ausgaben dienen.
44. In den Bemerkungen und Empfehlungen im Anhang der ersten Mitteilung vom 8. Januar 2010 wies die Kommission zunächst insbesondere auf Mängel des Systems zur Identifizierung der landwirtschaftlich genutzten Parzellen (LPIS) und des geografischen Informationssystems (GIS) (im Folgenden zusammen: LPIS-GIS) hin, da die darin enthaltenen Informationen nicht hinreichend genau seien, um die Aussagekraft der zur Kontrolle der Beihilfefähigkeit der angegebenen Flächen durchgeführten Verwaltungskontrollen und Kontrollen vor Ort zu gewährleisten, sodann auf Mängel bei den Kontrollen vor Ort und schließlich auf Mängel bei der Anwendung von Sanktionen, der rückwirkenden Berichtigung nicht beihilfefähiger Anträge, der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge und der Anwendung von Kürzungen bei vorsätzlichen Verstößen. Aus diesem Anhang geht außerdem hervor, dass die Kommission zwar Verbesserungen gegenüber früheren Untersuchungen (Untersuchungen AA/2006/07 und AA/2008/18) feststelle, sie jedoch auch der Auffassung sei, dass die bei diesen Untersuchungen dargelegten Mängel weiter vorlägen.
45. Mit Schreiben vom 20. Mai 2010 wurden die Behörden des Vereinigten Königreichs von der Kommission aufgefordert, zu den streitigen Aspekten im Hinblick auf eine für den 1. Juli 2010 vorgesehene bilaterale Besprechung Stellung zu nehmen.
46. Die bilaterale Besprechung zwischen den Dienststellen der Kommission und den Behörden des Vereinigten Königreichs fand am 1. Juli 2010 in Brüssel (Belgien) statt. Das Protokoll dieser Besprechung wurde diesen Behörden am 4. August 2010 übermittelt.
47. Aus dem Protokoll der bilateralen Besprechung vom 1. Juli 2010 geht hervor, dass die Kommission nach diesem Treffen ihre in der ersten Mitteilung vom 8. Januar 2010 enthaltenen Schlussfolgerungen im Wesentlichen aufrechterhielt. Sie bestätigte ihre Schlussfolgerungen zur Feststellung von Mängeln u. a. betreffend die im LPIS-GIS enthaltenen Informationen, die Kontrollen vor Ort sowie die Anwendung von Sanktionen, die rückwirkende Berichtigung der nicht beihilfefähigen Anträge, die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge und die Anwendung von Kürzungen bei vorsätzlichen Verstößen. Außerdem wies sie darauf hin, dass diese Mängel Schlüsselkontrollen und Zusatzkontrollen im Sinne des Dokuments Nr. VI/5330/97 beträfen, und machte die Behörden des Vereinigten Königreichs darauf aufmerksam, dass sie die Möglichkeit hätten, nachzuweisen, dass das finanzielle Risiko geringer sei als die pauschalen Berichtigungen, die nach diesem Dokument angewandt werden könnten. Überdies sei das wiederholte Auftreten der dargelegten Mängel zu berücksichtigen, wobei insoweit auf das Arbeitsdokument der Kommission AGRI/60637/2006 („Mitteilung der Kommission über die Behandlung durch die Kommission im Rahmen des Rechnungsabschlusses des EAGFL, Abteilung Garantie, von Fällen eines wiederholten Auftretens derselben Mängel in Kontrollsystemen“) verwiesen werde.
48. Im Anschluss an die bilaterale Besprechung vom 1. Juli 2010 leiteten die Behörden des Vereinigten Königreichs eine Untersuchung zur Beurteilung des Risikos ein. Mit Schreiben vom 25. Oktober 2010 teilten sie der Kommission mit, dass sie nicht in der Lage seien, diese Untersuchung zum vorgesehenen Zeitpunkt abzuschließen.
49. Mit Schreiben vom 29. März 2011 übermittelten die Behörden des Vereinigten Königreichs der Kommission einen Bericht über die Beurteilung des Risikos für die Betriebsprämienregelung in Nordirland für das Antragsjahr 2009 (im Folgenden: Bericht über die Beurteilung des Risikos), der sich auf eine Stichprobe von 394 im Jahr 2009 gestellten Anträgen gründet. Aus dem Bericht über die Beurteilung des Risikos geht zunächst hervor, dass im Jahr 2009 die von den Antragstellern aktivierten nicht beihilfefähigen Flächen 2,72 % der aktivierten Zahlungsansprüche entsprochen hätten. Sodann habe das finanzielle Risiko, verstanden als Unterschied zwischen dem gezahlten Betrag und einer revidierten Zahlung, die gegebenenfalls die zu verhängenden Sanktionen umfasse, bezogen auf den Durchschnitt der Stichprobe 2,05 % vor der Anwendung der Sanktionen und 5,19 % nach der Anwendung der Sanktionen entsprochen. Schließlich geht hinsichtlich der Sanktionen aus diesem Bericht hervor, dass die Zahlungen und die Sanktionen nach den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 796/2004 in ihrer Auslegung durch die Kommission berechnet worden seien. In Anhang 1 dieses Berichts, auf den dieser ausdrücklich Bezug nimmt, wiesen die Behörden des Vereinigten Königreichs jedoch darauf hin, dass das Risiko für den Fonds nach ihrer eigenen Auslegung dieser Bestimmungen ungefähr 0,59 % vor der Anwendung der Sanktionen und ungefähr 0,86 % nach der Anwendung der Sanktionen betrage.
50. Mit Schreiben vom 3. Februar 2012 richtete die Kommission an die Behörden des Vereinigten Königreichs eine förmliche Mitteilung nach Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 885/2006, in der sie ihren Standpunkt zu den angeführten Mängeln bezüglich der im Jahr 2010 für das Antragsjahr 2009 getätigten Ausgaben aufrechterhielt. Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen erkannte die Kommission zum einen die von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgeschlagene Risikobeurteilung an, da sie der Ansicht war, dass nach vernünftigem Ermessen die Höhe des finanziellen Schadens anhand dieser Beurteilung bestimmt werden könne. Daher nahm die Kommission auf der Grundlage des Dokuments Nr. VI/5330/97 wegen der drei Arten von dargelegten Mängeln eine auf die in Nordirland im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 getätigten Ausgaben anwendbare punktuelle Berichtigung von 5,19 % an. Zum anderen wandte die Kommission hinsichtlich der Ausgaben für die Entwicklung des ländlichen Raums in Ermangelung einer von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgeschlagenen Beurteilung eine pauschale Berichtigung von 5 % wegen der Mängel einer Schlüsselkontrolle an.
51. Die Kommission schlug daher vor, den Betrag von 17 687 303,16 Euro für die im Jahr 2010 getätigten Ausgaben, davon 16 513 582,57 Euro für die Ausgaben für die Betriebsprämienregelung und 1 173 720,59 Euro für die Ausgaben für die Entwicklung des ländlichen Raums, von der Finanzierung durch die Union auszuschließen.
52. Die Behörden des Vereinigten Königreichs stellten keinen Antrag auf Schlichtung an die Schlichtungsstelle nach Art. 16 der Verordnung Nr. 885/2006.
53. Am 15. Oktober 2012 legte die Kommission dem Vereinigten Königreich einen zusammenfassenden Bericht über die Ergebnisse der Untersuchung AA/2009/24 vor.
54. Unter diesen Umständen erließ die Kommission am 26. Februar 2013 den Durchführungsbeschluss 2013/123/EU über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des EAGFL, Abteilung Garantie, des EGFL und des ELER getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 67, S. 20, im Folgenden: angefochtener Beschluss), darunter die vom Vereinigten Königreich im Jahr 2010 in Nordirland getätigten Ausgaben, die Gegenstand der vorliegenden Rechtssache sind.
Verfahren und Anträge der Parteien
55. Das Vereinigte Königreich hat mit Klageschrift, die am 2. Mai 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
56. Mit Schriftsatz, der am 19. Juli 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat das Vereinigte Königreich beantragt, die vorliegende Rechtssache mit der Rechtssache T‑503/12, Vereinigtes Königreich/Kommission, zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und gemeinsamem Urteil zu verbinden. Die Kommission hat mit am 29. Juli 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz zu diesem Antrag Stellung genommen.
57. Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist die Berichterstatterin der Zweiten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb zugewiesen worden ist.
58. Das Gericht (Zweite Kammer) hat auf Bericht der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 seiner Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Kommission eine schriftliche Frage gestellt. Diese hat darauf innerhalb der gesetzten Frist geantwortet.
59. In der Sitzung vom 3. Dezember 2014 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
60. Das Vereinigte Königreich beantragt,
– den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er einen in seinem Anhang 1 aufgeführten Eintrag über hochgerechnete Berichtigungen von in Nordirland getätigten Ausgaben um 5,19 % betrifft, und zwar für das Haushaltsjahr 2010 (um 16 513 582,57 Euro);
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
61. Die Kommission beantragt,
– die Klage als unbegründet abzuweisen;
– dem Vereinigten Königreich die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
62. Zur Stützung seiner Nichtigkeitsklage macht das Vereinigte Königreich zwei Klagegründe geltend, wobei der erste im Wesentlichen Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bei der Bestimmung des Umfangs der tatsächlichen Verluste für den Fonds und der zweite dem Ergebnis der Kommission anhaftende Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in Bezug auf die Mängel der Zusatzkontrollen und insbesondere auf die Methoden für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen betrifft.
63. Wie sich aus den Schriftsätzen der Parteien und den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung ergibt, rügt das Vereinigte Königreich mit seinen beiden zur Stützung der vorliegenden Klage geltend gemachten Klagegründen im Wesentlichen zum einen die Berechnungsgrundlage, nämlich alle Ausgaben, auf die die Kommission die finanzielle Berichtigung von 5,19 % angewandt habe (erster Klagegrund), und zum anderen insbesondere die Methode für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen, die für die Risikobeurteilung angewandt worden und Gegenstand der Feststellungen der Kommission betreffend die Mängel bei den Zusatzkontrollen seien (zweiter Klagegrund).
Vorbemerkungen
64. Als Erstes ist zunächst vorab darauf hinzuweisen, dass der Fonds nur die nach Unionsrechtsvorschriften vorgenommenen Interventionen im Rahmen der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte finanziert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Januar 2003, Griechenland/Kommission, C‑157/00, Slg, EU:C:2003:5, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung; vom 24. Februar 2005, Griechenland/Kommission, C‑300/02, Slg, EU:C:2005:103, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. September 2009, Österreich/Kommission, T‑368/05, EU:T:2009:305, Rn. 70).
65. Sodann ist es nach ständiger Rechtsprechung Sache der Kommission, das Vorliegen einer Verletzung der Regeln der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte nachzuweisen. Folglich muss die Kommission ihre Entscheidung rechtfertigen, mit der sie feststellt, dass der betroffene Mitgliedstaat keine oder mangelhafte Kontrollen durchgeführt hat. Die Kommission ist jedoch nicht verpflichtet, die Unzulänglichkeit der von den nationalen Verwaltungen durchgeführten Kontrollen oder die Fehlerhaftigkeit der von diesen übermittelten Zahlen umfassend darzulegen, sondern braucht nur glaubhaft zu machen, dass an diesen Kontrollen oder diesen Zahlen berechtigte Zweifel bestehen. Der betroffene Mitgliedstaat kann die Feststellungen der Kommission nur dadurch erschüttern, dass er seine Behauptungen auf Umstände stützt, mit denen das Vorhandensein eines zuverlässigen und funktionierenden Kontrollsystems nachgewiesen wird. Gelingt dem Mitgliedstaat der Nachweis, dass die Feststellungen der Kommission unzutreffend sind, nicht, so können diese Feststellungen ernsthafte Zweifel daran begründen, ob ein angemessenes und wirksames System von Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle eingeführt worden ist. Diese Erleichterung der Beweislast der Kommission beruht darauf, dass der Mitgliedstaat am besten in der Lage ist, die für den Rechnungsabschluss des Fonds erforderlichen Angaben beizubringen und nachzuprüfen, so dass es ihm obliegt, die Richtigkeit seiner Kontrollen oder seiner Zahlen eingehend und vollständig nachzuweisen und so gegebenenfalls die Fehlerhaftigkeit der Feststellungen der Kommission darzutun (vgl. in diesem Sinne Urteile Griechenland/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:C:2005:103, Rn. 33 bis 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 6. März 2001, Niederlande/Kommission, C‑278/98, Slg, EU:C:2001:124, Rn. 39 bis 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Österreich/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2009:305, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66. Nach ständiger Rechtsprechung ist es schließlich zwar Sache der Kommission, einen Verstoß gegen die Unionsvorschriften nachzuweisen. Ist dieser Nachweis aber erbracht, muss der Mitgliedstaat gegebenenfalls nachweisen, dass der Kommission hinsichtlich der hieraus zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. April 2008, Belgien/Kommission, C‑418/06 P, Slg, EU:C:2008:247, Rn. 135, und Österreich/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2009:305, Rn. 181).
67. Die Verwaltung der Fonds-Finanzierung ist nämlich in erster Linie Sache der nationalen Behörden, die für die strikte Einhaltung der Unionsvorschriften zu sorgen haben, und beruht auf dem Vertrauen zwischen den nationalen und den Unionsbehörden. Nur der Mitgliedstaat kann die für die Aufstellung der Fonds-Rechnungen nötigen Angaben kennen und genau bestimmen, da die Kommission nicht über die erforderliche Nähe zu den Wirtschaftsteilnehmern verfügt, um von ihnen die benötigten Auskünfte zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2004, Spanien/Kommission, C‑153/01, Slg, EU:C:2004:589, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Österreich/Kommission, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2009:305, Rn. 182 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68. Als Zweites ist im Hinblick auf das Vorbringen der Parteien im Rahmen der beiden vom Vereinigten Königreich geltend gemachten Klagegründe das im Jahr 2005 von diesem angewandte Verfahren der Zuweisung der Zahlungsansprüche für die Durchführung der von der Verordnung Nr. 1782/2003 eingeführten Betriebsprämienregelung darzulegen.
69. Insoweit ergibt sich aus den Akten, dass sich das Vereinigte Königreich für eine regionale Durchführung der Betriebsprämienregelung gemäß Titel III Kapitel 5 der Verordnung Nr. 1782/2003 entschieden hat.
70. Die Zahlungsansprüche wurden in Nordirland auf der Grundlage des „hybrid-statischen“ Modells bestimmt. In diesem Modell besteht jeder Zahlungsanspruch aus einem „historischen“ Element (im Folgenden: historisches Element) und einem flächenbezogenen pauschalen Element (im Folgenden: pauschales Element), wobei die Summe der Werte dieser Elemente dem Wert pro Einheit des Zahlungsanspruchs entspricht. Zum einen wird, um den Wert des historischen Elements zu bestimmen, ein auf der Grundlage der Zahlungen an die Landwirte während des Bezugszeitraums (2000 bis 2002) bestimmter Referenzbetrag durch die von den Landwirten angemeldete beihilfefähige Hektarzahl geteilt, wobei diese Zahl dann die Zahl der zugewiesenen Zahlungsansprüche darstellt. Daraus folgt, dass, wenn die Summe der historischen Elemente einen festen Betrag darstellt, der auf der Grundlage der Zahlungen während des Bezugszeitraums bestimmt wird, der Wert pro Einheit jedes historischen Elements dieser Zahlungsansprüche von der Anzahl der im Jahr 2005 zugewiesenen Ansprüche und daher von der angemeldeten beihilfefähigen Hektarzahl dieses Jahres abhängt. Zum anderen ist das pauschale Element unveränderlich, im vorliegenden Fall 78,33 Euro.
71. Im Licht dieser Erwägungen und Hinweise ist die Begründetheit der vorliegenden Klage zu prüfen, wobei mit der Prüfung des zweiten Klagegrundes des Vereinigten Königreichs zu beginnen ist.
Zum zweiten Klagegrund: Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht betreffend die Mängel der Zusatzkontrollen und insbesondere die Methoden für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen
72. Mit dem zweiten Nichtigkeitsgrund, der Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in Bezug auf die Feststellung von Mängeln der Zusatzkontrollen betrifft, rügt das Vereinigte Königreich insbesondere die Methode für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen der Fläche, die die Kommission angewandt hatte und die im Bericht über die Beurteilung des Risikos verwendet worden war. Dieser Klagegrund ist in fünf Rügen unterteilt, wobei die erste die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche, die zweite die Berücksichtigung der sich auf die Tierprämien auswirkenden Flächenabweichungen bei der Neuberechnung der Zahlungsansprüche, die dritte die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge, die vierte die Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen der Fläche und die fünfte die vorsätzliche Übererklärung betrifft.
73. Da die erste, die dritte und die vierte Rüge sich anders als die zweite und die fünfte Rüge speziell auf die Methode für die Berechnung der Überzahlungen und der Sanktionen beziehen, auf deren Grundlage das finanzielle Risiko des Fonds im vorliegenden Fall im Bericht über die Beurteilung des Risikos beurteilt wurde, sind zuerst diese drei Rügen zu prüfen, bevor auf die zweite und die fünfte Rüge eingegangen wird.
Zur ersten, zur dritten und zur vierten Rüge betreffend die Methode zur Beurteilung des finanziellen Risikos des Fonds
74. Mit der ersten, der dritten und der vierten zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes erhobenen Rüge beanstandet das Vereinigte Königreich gleichzeitig Mängelfeststellungen der Kommission zu bestimmten Zusatzkontrollen und die von Letzterer befürwortete und im Bericht über die Beurteilung des Risikos verwendete Berechnungsmethode der zurückzufordernden zu Unrecht gezahlten Beträge und der Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen.
75. Diese drei Rügen betreffen die Auslegung mehrerer Bestimmungen der Verordnung Nr. 796/2004 in einem Fall, in dem auf der Grundlage bestimmter zu Unrecht zugewiesener Zahlungsansprüche für eine Hektarzahl nicht beihilfefähiger Flächen Zahlungen erfolgten. Insbesondere ist die im Rahmen dieser Rügen fragliche Situation darauf zurückzuführen, dass bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche für die Betriebsprämienregelung Fehler hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche begangen wurden. Daher wurde bestimmten Landwirten eine zu hohe Anzahl Zahlungsansprüche zugewiesen. In Anbetracht der vom Vereinigten Königreich gewählten Methode für die Zuteilung der Zahlungsansprüche (vgl. oben, Rn. 70) bewirkte diese zu Unrecht erfolgte Zuweisung zum einen, dass der Wert pro Einheit für jeden Zahlungsanspruch der betreffenden Landwirte und insbesondere ihr historisches Element unterbewertet wurde. Zum anderen bewirkte sie eine Überbewertung des Gesamtwerts der Summe dieser Zahlungsansprüche aufgrund des pauschalen Elements. Die Fehler betreffend die beihilfefähigen Flächen wurden in den darauffolgenden Jahren bis zu ihrer Aufdeckung bei den Kontrollen wiederholt, so dass die Zahlungen auf der Grundlage von nicht beihilfefähigen Hektarflächen gewährt wurden.
76. Unter diesen Umständen macht das Vereinigte Königreich im Wesentlichen geltend, dass in einem solchen Fall der Wert pro Einheit der Zahlungsansprüche gleichzeitig mit der Herabsetzung ihrer Anzahl nach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 retrospektiv neu nach oben zu bewerten sei (erste Rüge), bevor Art. 73 dieser Verordnung betreffend die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge (dritte Rüge) und Art. 51 dieser Verordnung betreffend die Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen (vierte Rüge) angewandt würden.
– Zur ersten Rüge betreffend die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche
77. Das Vereinigte Königreich trägt vor, dass Art. 73a Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 796/2004, entgege n der Auffassung der Kommission im Konformitätsabschlussverfahren, die Anpassung des Werts der Zahlungsansprüche im Fall der ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche vorschreibe, ohne dass berücksichtigt werde, ob sie dem Landwirt bekannt gewesen seien. Die Kenntnis des Landwirts wirke sich nur im Kontext des Abs. 2a dieser Bestimmung aus, der jedoch im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Außerdem passe die Kommission selbst systematisch auf der Grundlage von Art. 73a Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 796/2004 den Wert der Zahlungsansprüche für die Zukunft an, wobei Art. 73a dieser Verordnung keine Unterscheidung zwischen der retrospektiven Neubewertung und der Neubewertung für die Zukunft treffe und eine systematische neue Berechnung für die Zukunft diesen Bestimmungen sogar widerspreche. In Erwiderung auf die Argumente der Kommission macht das Vereinigte Königreich geltend, dass der Verweis in Art. 73a Abs. 4 der Verordnung Nr. 796/2004 auf Art. 73 dieser Verordnung seine Auslegung von Art. 73a dieser Verordnung nicht in Frage stelle.
78. Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet.
79. Im Rahmen der vorliegenden Rüge streiten die Parteien im Wesentlichen über die Frage, ob im Fall der Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche aufgrund von im Jahr 2005 begangenen Fehlern hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche, die in der Folge wiederholt wurden und zu einer Unterbewertung ihres Werts pro Einheit und einer Überbewertung ihres Gesamtwerts führten, Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 vor der Anwendung der Bestimmungen betreffend die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge und die Sanktionen in Fällen von Übererklärungen, die in der dritten und der vierten Rüge des vorliegenden Klagegrundes in Rede stehen, die retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche vorschreibt.
80. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 36 der Verordnung Nr. 73/2009, sofern in dieser Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, die Zahlungsansprüche pro Hektar nicht geändert werden (Urteil vom 5. Juni 2014, Vonk Noordegraaf, C‑105/13, Slg, EU:C:2014:1126, Rn. 37).
81. Da nämlich nach Art. 34 Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 jeder aktivierte Zahlungsanspruch einen Anspruch auf Zahlung des festgesetzten Betrags verschafft, hätte eine Änderung dieses Betrags eine Verminderung oder eine Erhöhung des an den betreffenden Betriebsinhaber gezahlten Beihilfebetrags zur Folge. Wie sich jedoch aus dem 29. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1782/2003 ergibt, besteht eines der Ziele der Betriebsprämienregelung darin, es jedem Betriebsinhaber zu ermöglichen, weiterhin eine Beihilfe in derselben Höhe wie im Bezugszeitraum zu beziehen (Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 38).
82. Allerdings ist festzustellen, dass keine Bestimmung der Verordnung Nr. 73/2009 ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, die Zahlungsansprüche eines Betriebsinhabers, der eine zu hohe Anzahl Zahlungsansprüche bei der ursprünglichen Zuweisung erhalten hat, zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 40).
83. Dagegen sieht Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 Regeln betreffend die Wiedereinziehung der zu Unrecht zugewiesenen Ansprüche vor, aus denen sich ergibt, dass unter den von ihnen erfassten Umständen die Zahlungsansprüche neu berechnet werden können. Diese Bestimmung basiert, wie sich aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 239/2005, durch die sie in die Verordnung Nr. 796/2004 eingefügt wurde, ergibt, auf dem Willen, Vorschriften für den Fall festzulegen, dass ein Betriebsinhaber eine unzulässige Anzahl von Zahlungsansprüchen erhalten hat oder dass der Wert jedes der Zahlungsansprüche in unzulässiger Höhe festgesetzt wurde.
84. Da das Vereinigte Königreich das Vorbringen, wonach im Fall der zu Unrecht erfolgten Zuweisung von bestimmten Zahlungsansprüchen ihre retrospektive Kürzung und Neubewertung vorzunehmen sei, auf Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, gegebenenfalls in Verbindung mit Abs. 2 dieser Bestimmung, stützt, ist Art. 73a dieser Verordnung auszulegen.
85. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 17. November 1983, Merck, 292/82, Slg, EU:C:1983:335, Rn. 12).
86. Erstens ist auf die maßgebenden Bestimmungen von Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 zu verweisen. Insoweit sieht zunächst Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 in seinem Abs. 1 vor, dass, wenn bestimmte Zahlungsansprüche zu Unrecht zugewiesen wurden, der Betriebsinhaber sie an die nationale Reserve zurückgeben muss, und dass diese Zahlungsansprüche als von Anfang an nicht zugewiesen gelten. Sodann ergibt sich aus Art. 73a Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 dass, wenn der Wert der Zahlungsansprüche zu hoch ist, der Wert entsprechend angepasst wird, wobei die Zahlungsansprüche als von Anfang an dem sich aus der Anpassung ergebenden Wert zugewiesen gelten. Schließlich sieht Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, der durch die Verordnung Nr. 972/2007 eingefügt wurde, vor, dass, wenn für die Zwecke der Anwendung der Abs. 1 und 2 dieses Artikels festgestellt wird, dass Zahlungsansprüche, die einem Betriebsinhaber zu Unrecht zugewiesen wurden, ohne dass sich diese Zuweisung auf den Gesamtwert der Ansprüche auswirkt, die er erhalten hat, neu zu berechnen sind, sofern die Fehler von dem Betriebsinhaber nicht nach billigem Ermessen hätten festgestellt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 41). Außerdem werden nach Art. 73a Abs. 4 der Verordnung Nr. 796/2004 zu Unrecht gezahlte Beträge gemäß Art. 73 dieser Verordnung, der die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge betrifft, zurückgefordert.
87. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass sich die Parteien im vorliegenden Fall darüber einig sind, dass Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 nicht anwendbar ist, da die zu Unrecht erfolgte Zuweisung zwar zu einer Unterbewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche führte, sich jedoch aufgrund des pauschalen Elements auch auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche auswirkte.
88. Drittens ist zur Auslegung von Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 festzustellen, dass der Wortlaut dieser Bestimmung eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche infolge der Wiedereinziehung der zu Unrecht zugewiesenen Ansprüche weder ausdrücklich vorsieht noch ausschließt.
89. Die Parteien bringen jedoch vor, dass die Klarstellung in Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004, wonach die zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche als von Anfang an nicht zugewiesen gelten, in dem Sinn verstanden werden könne, dass, wenn sich eine zu Unrecht erfolgte Zuweisung von Zahlungsansprüchen auf den Wert pro Einheit der zugewiesenen Ansprüche ausgewirkt habe, eine Neubewertung des Werts pro Einheit der fortbestehenden Ansprüche vorzunehmen sei.
90. Diese Auslegung von Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 hält indessen einer systematischen Prüfung dieser Bestimmung nicht stand.
91. Eine solche Auslegung von Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 nähme nämlich der Einfügung von Abs. 2a dieser Bestimmung durch die Verordnung Nr. 972/2007 zumindest teilweise den Sinn. Im Rahmen von Art. 73a Abs. 2a dieser Verordnung ist für die Zwecke der Anwendung der Abs. 1 und 2 dieses Artikels die Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche im Fall einer zu Unrecht erfolgten Zuweisung auf die Situation – die sich, wie die Parteien übereinstimmend vortragen, von der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden unterscheidet – beschränkt, in der diese zu Unrecht erfolgte Zuweisung keine Auswirkung auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche hatte, sofern der Landwirt die Fehler nach billigem Ermessen nicht hätte feststellen können. Wenn jedoch Art. 73a Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 in dem Sinn auszulegen wäre, dass er selbst die Verpflichtung umfasst, eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche vorzunehmen – ohne Berücksichtigung der Auswirkung einer solchen Neubewertung auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche, und das gegebenenfalls selbst dann, wenn der Landwirt die Fehler nach billigem Ermessen hätte feststellen können –, wäre diese Klarstellung in Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 nutzlos und ohne Belang.
92. Diese Auslegung wird außerdem durch die Gründe bestätigt, mit denen die Einfügung von Abs. 2a in Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 durch die Verordnung Nr. 972/2007 gerechtfertigt wurde. Wie sich nämlich aus dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 972/2007 ergibt, berichtigen die Mitgliedstaaten nur in den Fällen, in denen zu Unrecht erfolgte Zuweisungen von Zahlungsansprüchen nicht den Gesamtwert, sondern nur die Anzahl der Ansprüche des Betriebsinhabers betreffen, die Zuweisung oder gegebenenfalls die Art der Ansprüche, ohne deren Wert zu verringern, gemäß der letzteren Bestimmung, wenn der Betriebsinhaber die Fehler nach billigem Ermessen nicht hätte feststellen können.
93. Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Klarstellung in Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004, wonach „[d]ie zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüche … als von Anfang an nicht zugewiesen [gelten]“, nicht in dem Sinn ausgelegt werden kann, dass sie vorschreibt, den Wert pro Einheit der Zahlungsansprüche retrospektiv neu zu bewerten. Vielmehr ist diese Klarstellung in Verbindung mit Art. 73a Abs. 4 dieser Verordnung zu lesen, wonach „[z]u Unrecht gezahlte Beträge … gemäß Artikel 73 [dieser Verordnung] zurückgefordert [werden]“. Daraus folgt, dass die angeführte Klarstellung in Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004 dahin auszulegen ist, dass sie nur darauf hinweisen soll, dass auf die gegebenenfalls aufgrund von zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüchen gewährten Beihilfen selbst kein Anspruch besteht, so dass sie nach Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 zurückzuzahlen sind.
94. Im Übrigen ist festzustellen, dass diese Auslegung den Zielen der Betriebsprämienregelung nicht widerspricht. Nach der Rechtsprechung ergibt sich, wie in oben Rn. 81 dargelegt, aus dem 29. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1782/2003, dass eines der Ziele der Betriebsprämienregelung darin besteht, es jedem Betriebsinhaber zu ermöglichen, „weiterhin eine Beihilfe in [entsprechender] Höhe wie im Bezugszeitraum zu beziehen“ (Urteil Vonk Noordegraaf, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2014:1126, Rn. 38). Wie aus der Verwendung des Adjektivs „entsprechend“ hervorgeht, gewährleistet diese Regelung keine strikte Identität der Beihilfenhöhe.
95. Viertens ist zum auf Art. 73a Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 gestützten Vorbringen des Vereinigten Königreichs festzustellen, dass diese Bestimmung nur eine Neubewertung der Zahlungsansprüche nach unten vorsieht. Hingegen lässt sich dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht entnehmen, dass sie eine Neubewertung nach oben gestattet, wenn aufgrund einer ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche der Wert der Letzteren zu gering beurteilt wurde.
96. Außerdem ist festzustellen, dass entgegen dem Vortrag des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung Art. 73a Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 nicht in dem Sinn ausgelegt werden kann, dass er eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche nach oben vorschreibt, wenn im Fall einer zu Unrecht erfolgten Zuweisung bestimmter Zahlungsansprüche und der Unterbewertung des Werts pro Einheit der zugewiesenen Ansprüche der Gesamtwert der einem Landwirt zugewiesenen Ansprüche zu hoch angesetzt wurde. Die vom Vereinigten Königreich vorgeschlagene Auslegung ist nämlich, abgesehen davon, dass im Kontext von Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 die Verwendung des Begriffs „Wert“ in Abs. 2 dieser Bestimmung mangels Klarstellung, dass es sich um den Gesamtwert handelt, als Wert pro Einheit der einzelnen Zahlungsansprüche zu verstehen ist, jedenfalls aus den entsprechend oben in den Rn. 91 und 92 dargelegten Gründen zurückzuweisen.
97. Daraus folgt, dass entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 von Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 nicht die Annahme zulässt, dass im Fall einer ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche, die zu einer Unterbewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche geführt und sich gleichzeitig auf den Gesamtwert dieser Ansprüche ausgewirkt hat, bei der Feststellung des Fehlers eine retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche nach der Herabsetzung ihrer Anzahl vorzunehmen ist.
98. Soweit das Vereinigte Königreich in seiner Erwiderung geltend macht, die Kommission habe den Fehler in ihrer Beurteilung anerkannt, da sie eingeräumt habe, dass Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, der nur auf die Kenntnis des Landwirts Bezug nehme, nicht anwendbar sei, genügt außerdem der Hinweis, dass sich den Akten nicht entnehmen lässt, dass die Kommission ihren Vorwurf der systematischen Neubewertung der Zahlungsansprüche auf Art. 73a Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 stützen wollte.
99. Folglich ist, ohne dass das Vorbringen der Kommission zu Art. 73 Abs. 4 der Verordnung Nr. 796/2004 und zur Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge, das die dritte Rüge des vorliegenden Klagegrundes betrifft, zu prüfen wäre, die vorliegende Rüge zurückzuweisen.
– Zur dritten Rüge betreffend die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge
100. Das Vereinigte Königreich beanstandet die Erwägungen der Kommission hinsichtlich der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge nach Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004. Es ist im Wesentlichen der Ansicht, dass im Fall einer ursprünglichen Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche die Zahlungsansprüche nach Art. 73a dieser Verordnung vor der Festlegung der zurückzufordernden rechtsgrundlos erhaltenen Beträge neu zu berechnen seien. Daraus folge, dass in einem solchen Fall die das historische Element der Beihilfe betreffenden Beträge nicht zurückzuzahlen seien. Der Ansatz der Kommission, der die zurückzufordernden Beträge auf der Grundlage des ursprünglichen Werts der nicht vorhandenen Zahlungsansprüche festlege, sei mit den Art. 73 und 73a der Verordnung Nr. 796/2004 unvereinbar, da die Kommission zum einen keine rückwirkende Anpassung des Werts der Ansprüche vornehme und zum anderen die Landwirte verpflichte, höhere Beträge als die tatsächlichen Verluste für den Fonds und die zu Unrecht gezahlten Beträge zurückzuzahlen. Insoweit führe der Ansatz der Kommission zu einer Sanktion für die Landwirte.
101. Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet.
102. Erstens ist auf den Wortlaut von Art. 34 Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 hinzuweisen:
„Eine Stützung im Rahmen der Betriebsprämienregelung wird den Betriebsinhabern bei Aktivierung eines Zahlungsanspruchs je beihilfefähige Hektarfläche gewährt. Bei aktivierten Zahlungsansprüchen besteht Anspruch auf die Zahlung der darin festgesetzten Beträge.“
103. Zweitens ist nach Art. 73 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 bei zu Unrecht gezahlten Beträgen der Betriebsinhaber zur Rückzahlung dieser Beträge zuzüglich der gemäß Abs. 3 dieser Bestimmung berechneten Zinsen verpflichtet.
104. Gemäß Art. 73 Abs. 4 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 gilt die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Art. 73 Abs. 1 dieser Verordnung nicht, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde oder einer anderen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte. Außerdem ergibt sich aus Art. 73 Abs. 4 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, dass, wenn sich der Irrtum auf Tatsachen bezieht, die für die Berechnung der betreffenden Zahlung relevant sind, Unterabs. 1 dieser Bestimmung nur gilt, wenn der Rückforderungsbescheid nicht innerhalb von zwölf Monaten nach der Zahlung übermittelt worden ist.
105. Drittens stellt nach der Rechtsprechung in den Fällen, in denen der Unionsgesetzgeber Voraussetzungen für die Gewährung einer Beihilfe festlegt, der Ausschluss, den die Nichtbeachtung einer dieser Voraussetzungen mit sich bringt, keine Sanktion, sondern die bloße Folge der Nichtbeachtung der gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen dar (Urteile vom 24. Mai 2007, Maatschap Schonewille-Prins, C‑45/05, Slg, EU:C:2007:296, Rn. 47, und vom 24. Mai 2012, Hehenberger, C‑188/11, Slg, EU:C:2012:312, Rn. 37).
106. Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass das Vorbringen des Vereinigten Königreichs auf der Prämisse beruht, dass im Fall der zu Unrecht erfolgten Zuweisung von Zahlungsansprüchen, die sich gleichzeitig auf den Wert pro Einheit und den Gesamtwert der Ansprüche ausgewirkt hat, nach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche nach der Herabsetzung ihrer Anzahl, noch vor der Anwendung von Art. 73 dieser Verordnung hinsichtlich der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge, vorzunehmen sei.
107. Dieser Prämisse kann jedoch nicht gefolgt werden.
108. In Anbetracht der oben in Rn. 97 ausgeführten Erwägungen kann sich nämlich eine solche Neubewertung entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs nicht auf Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 gründen, wenn im Fall von Fehlern hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche, die auf das Jahr der Zuweisung der Zahlungsansprüche zurückgehen, deren Gesamtwert von diesen Fehlern betroffen war.
109. Daraus folgt, dass dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, wonach eine retrospektive Neubewertung der Zahlungsansprüche vor der Anwendung von Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 vorzunehmen sei, nicht gefolgt werden kann.
110. Dieses Ergebnis wird durch die anderen Argumente des Vereinigten Königreichs, wonach die Anwendung von Art. 73 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, ohne dass eine vorherige Neubewertung der Zahlungsansprüche erfolge, zu Rückforderungen von Beträgen führe, die das tatsächliche Risiko für den Fonds überstiegen, und daher eine Sanktion für die Landwirte darstelle, nicht in Frage gestellt.
111. Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 34 Abs. 1 der Verordnung Nr. 73/2009 die Beihilfe für die aktivierten Zahlungsansprüche, d. h. auf der Grundlage der Zahlungsansprüche für eine entsprechende Hektarzahl beihilfefähiger Flächen, gewährt wird. Folglich wirkt sich ein Fehler bei der beihilfefähigen Fläche jedenfalls, wie die Kommission zu Recht vorbringt, auf den gesamten gezahlten Beihilfebetrag aus.
112. Zum anderen ergibt sich aus den Erwägungen oben in Rn. 93, dass eine aufgrund zu Unrecht zugewiesener Zahlungsansprüche gewährte Beihilfe im Hinblick auf Art. 73a Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 796/2004 in Verbindung mit Art. 73a Abs. 4 dieser Verordnung eine zu Unrecht gewährte Beihilfe darstellt, die nach Art. 73 dieser Verordnung zurückzufordern ist.
113. Der Ansatz des Vereinigten Königreichs, der darin besteht, vor der Anwendung von Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 die retrospektive Neubewertung des Werts pro Einheit jedes Zahlungsanspruchs vorzunehmen und auf der Grundlage einer richtigen Anzahl so neubewerteter Zahlungsansprüche den Gesamtbetrag der Beihilfe, die dem Landwirt ohne den im Jahr 2005 begangenen Fehler gezahlt hätte werden müssen, neu zu berechnen, verhindert die richtige und effektive Rückforderung der zu Unrecht gewährten Beihilfen, wie die Kommission zu Recht in Bezug auf die erste sowie auf die dritte Rüge des vorliegenden Klagegrundes vorbringt.
114. Statt die aufgrund eines zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs für eine insgesamt nicht beihilfefähige Fläche gewährte Beihilfe als zu Unrecht gewährt anzusehen, bewirkt somit der Ansatz des Vereinigten Königreichs, den zu Unrecht gezahlten Betrag auf die Differenz zwischen der gewährten Zahlung und einer revidierten Zahlung auf der Grundlage der nach oben neu bewerteten Zahlungsansprüche und der als beihilfefähig bestimmten Hektarzahl herabzusetzen, die dem Betrag des pauschalen Elements des zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs entspricht.
115. Es ist jedoch festzustellen, dass in Ermangelung von Bestimmungen, die im Fall zu Unrecht erfolgter Zuweisungen bestimmter Zahlungsansprüche, die sich auf den Gesamtwert der Zahlungsansprüche ausgewirkt haben, die retrospektive Neubewertung ihres Werts pro Einheit nach oben vorsehen, eine solche Auslegung mit dem Erfordernis einer engen Auslegung der Bedingungen für die Übernahme der Kosten unvereinbar ist, das der Gerichtshof im Rahmen der Verordnung (EWG) Nr. 729/70 des Rates vom 21. April 1970 über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 94, S. 13), ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 1258/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 160, S. 103), ihrerseits ersetzt durch die Verordnung Nr. 1290/2005, aufgestellt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2014, Niederlande/Kommission, C‑610/13 P, EU:C:2014:2349, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
116. Sodann ist, soweit das Vereinigte Königreich in der Erwiderung geltend macht, dass ein Ansatz, nach dem die Überzahlung auf der Grundlage der ursprünglich zugewiesenen Zahlungsansprüche bewertet werde, der richtigen Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge entgegenstehe, da er je nach Fall dazu führe, dass Überzahlungen niemals oder übermäßig zurückgefordert würden, zum einen hinsichtlich der übermäßigen Rückforderungen darauf hinzuweisen, dass dieses Vorbringen im Hinblick auf die oben in den Rn. 113 und 114 dargelegten Erwägungen zurückzuweisen ist.
117. Zum anderen ist zum Vorbringen, wonach dieser Ansatz der Kommission bewirken könne, dass durch eine Berechnung der Beihilfe auf der Grundlage von nicht vorhandenen Zahlungsansprüchen die Rückforderung von Überzahlungen verhindert werde, festzustellen, dass dieses Vorbringen, das in der Klageschrift nur im Zusammenhang mit der vierten Rüge geltend gemacht und im Hinblick auf Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 ausgeführt wurde, zum ersten Mal in der Erwiderung im Kontext der Bestimmung der Überzahlung geltend gemacht wird und dort in keiner Weise, nicht einmal durch Verweisung auf die Ausführungen in der Klageschrift zur vierten Rüge, untermauert wird. Jedenfalls besteht, wie sich aus der vorstehenden Rn. 93 ergibt, auf eine aufgrund eines zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs gewährte Beihilfe selbst kein Anspruch. Wenn das Vereinigte Königreich vorträgt, der Ansatz der Kommission bewirke unter bestimmten Umständen, eine solche Zahlung nicht als zu Unrecht erfolgt anzusehen, da diese die Überzahlung auf der Grundlage der Zahlungsansprüche berechne, wie sie angemeldet worden seien, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Kommission in ihren Schriftsätzen zum ersten Klagegrund des Vereinigten Königreichs ausdrücklich geltend macht, dass ein Landwirt keine Zahlung aufgrund eines zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsanspruchs erhalten könne. Überdies ergibt sich aus den Akten nicht, dass das Vereinigte Königreich im Rahmen des Berichts über die Beurteilung des Risikos veranlasst gewesen wäre, aus der Berechnung der Überzahlungen bestimmte auf der Grundlage von zu Unrecht zugewiesenen Zahlungsansprüchen gewährte Beträge auszuschließen.
118. Schließlich stellt nach der oben in Rn. 105 angeführten Rechtsprechung entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs die Rückforderung keine Sanktion, sondern die bloße Folge der Nichtbeachtung der Voraussetzungen für die Gewährung dar.
119. Außerdem sieht Art. 73 Abs. 4 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 jedenfalls vor, dass die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Abs. 1 dieser Bestimmung nicht gilt, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde oder einer anderen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte. Daraus folgt, dass der gutgläubige Landwirt vor der Rückforderung der zu Unrecht gewährten Beihilfe geschützt ist, wenn der Fehler, der sich auf die beihilfefähige Fläche oder die Zuweisung von Zahlungsansprüchen ausgewirkt hat, den Behörden anzulasten ist und er ihn billigerweise nicht erkannt haben konnte.
120. Somit ist die vorliegende Rüge zurückzuweisen.
– Zur vierten Rüge betreffend Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen in Bezug auf die Fläche
121. Das Vereinigte Königreich tritt der Annahme entgegen, es habe Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 fehlerhaft angewandt. Erstens könnten, wenn Fehler bei der ursprünglichen Zuweisung der Ansprüche begangen worden seien, die von diesem Artikel vorgesehenen Sanktionen nur angewandt werden, nachdem der Wert der Zahlungsansprüche nach Art. 73a dieser Verordnung neu berechnet worden sei. Zweitens müssten zwar Sanktionen für jedes Antragsjahr verhängt werden können, wenn der Landwirt eine nicht beihilfefähige Fläche anmelde, um einen Zahlungsanspruch zu aktivieren, über den er tatsächlich verfüge, jedoch nehme die Kommission zu Unrecht an, dass im Fall von Fehlern, die bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche begangen und in den folgenden Antragsjahren wiederholt worden seien, Sanktionen nicht nur für das Jahr 2005, sondern auch für die späteren Jahre anzuwenden seien, obwohl der Landwirt eine hinreichende beihilfefähige Hektarzahl anmelde, um die Zahlungsansprüche zu aktivieren, über die er tatsächlich verfüge. Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 unterscheide zwischen Übererklärungen in Bezug auf die Fläche, die zur Aktivierung von Zahlungsansprüchen, die einem Landwirt tatsächlich zur Verfügung stünden, führten, und Übererklärungen, die einen Fehler bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche begründeten. Es ergebe sich nämlich sowohl aus der Systematik von Art. 51 Abs. 1 und 2a der Verordnung Nr. 796/2004, die von Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009 bestätigt werde, sowie hilfsweise aus dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der weniger strengen Sanktion, im vorliegenden Fall Art. 57 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser letzteren Verordnung, dass für die späteren Jahre keine Sanktion zu verhängen sei.
122. Die Kommission hält das Vorbringen des Vereinigten Königreichs für unbegründet.
123. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zur Stützung der vorliegenden Rüge auf die Prämisse gründet, wonach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 in der Auslegung des Vereinigten Königreichs vor der Anwendung der Kürzungen und Ausschlüsse nach Art. 51 dieser Verordnung anzuwenden sei.
124. Insoweit genügt die Feststellung, dass diese Prämisse ‐ wie sich aus den vorstehenden Rn. 97 und 108 ergibt ‐ falsch ist.
125. Wie oben in den Rn. 97 und 108 bereits ausgeführt, kann nämlich Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 nicht in dem Sinn ausgelegt werden, dass er unter Umständen wie den in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden eine retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche vorsieht.
126. Daraus folgt auch, dass, da Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004 unter Umständen wie denen der vorliegenden Rechtssache die retrospektive Neuberechnung der Zahlungsansprüche nicht erlaubt, das Vereinigte Königreich der Kommission nicht vorwerfen kann, sie behandle die angemeldete Fläche und die angemeldeten Zahlungsansprüche unterschiedlich, indem sie Erstere anpasse, die Letzteren jedoch nicht.
127. Sodann ist das Vereinigte Königreich zum einen der Ansicht, dass hinsichtlich des Antragsjahrs 2005 nach Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 eine Sanktion wegen Übererklärungen anzuwenden sei, wobei diese Sanktion auf der Grundlage der Zahlungsansprüche, wie sie retrospektiv korrigiert worden seien, zu berechnen sei. Zum anderen bewirke hinsichtlich der späteren Antragsjahre, in denen derselbe Fehler wiederholt worden sei, die Anwendung von Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2a von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 den Ausschluss jeder Sanktion für diese Jahre. Diese Erwägung gründe sich auf die Systematik dieser Bestimmungen in dem Sinne, dass, wenn der Landwirt eine beihilfefähige Fläche anmelde, die hinreiche, um die Zahlungsansprüche zu aktivieren, über die er tatsächlich verfüge (d. h. gegebenenfalls nach Herabsetzung ihrer Anzahl und Neubewertung ihres Werts), es nicht der Sache diene, gegen ihn nach Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 eine Sanktion zu verhängen.
128. Zur Prüfung der Begründetheit dieses Vorbringens ist zum einen zu untersuchen, ob Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 trotz des Wortlauts von Art. 73a dieser Verordnung vorschreibt, die retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche vorzunehmen, und zum anderen, ob sich aus Art. 51 Abs. 2a dieser Verordnung ergibt, dass, wie das Vereinigte Königreich vorträgt, keine Sanktion anzuwenden ist, sofern der Landwirt eine hinreichende Fläche erklärt, um die Zahl der Zahlungsansprüche, über die er tatsächlich verfügt, zu aktivieren.
129. Vorab ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach den Erwägungsgründen 29 und 55 der Verordnung Nr. 796/2004 diese Verordnung und insbesondere ihr Art. 51 dafür sorgen soll, dass die Einhaltung der Bestimmungen der im Rahmen des integrierten Systems verwalteten Beihilferegelungen wirksam überwacht und geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug getroffen werden, um die finanziellen Interessen der Union wirksam zu schützen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. November 2002, Agrargenossenschaft Pretzsch, C‑417/00, Slg, EU:C:2002:715, Rn. 33).
130. Sodann sieht Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 für den Fall, dass die in einem Beihilfeantrag angegebene Fläche über der bei einer Kontrolle ermittelten Fläche liegt, je nach Schwere der Unregelmäßigkeit gestaffelte Sanktionen vor (vgl. entsprechend Urteil Agrargenossenschaft Pretzsch, oben in Rn. 129 angeführt, EU:C:2002:715, Rn. 35). Wenn erstens die Differenz zwischen der angemeldeten Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung ermittelten Fläche über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht, so wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, berechnet. Liegt zweitens diese Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird keine Beihilfe gewährt. Beläuft sich drittens die Differenz auf mehr als 50 %, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe des Betrags, der der Differenz zwischen der angegebenen Fläche und der gemäß Art. 50 Abs. 3 und 5 der Verordnung Nr. 796/2004 ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen.
131. Dagegen sieht zum einen Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 in seinem Unterabs. 1 vor, dass diese Kürzungen und Ausschlüsse keine Anwendung finden, wenn ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet hat und die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt. Zum anderen ist nach Unterabs. 2 dieser Bestimmung, wenn ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet hat und die gemeldete Fläche nicht alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die in Art. 51 Abs. 1 dieser Verordnung genannte Differenz die Differenz zwischen der Fläche, die alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, und dem Betrag der gemeldeten Zahlungsverpflichtungen.
132. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung, wenn die zuständige Behörde entdeckt, dass in einem Beihilfeantrag ein zur Angabe einer zu großen beihilfefähigen Fläche führender Fehler begangen wurde, der nicht auf Vorsatz beruhte, und dass der gleiche Fehler auch in den Jahren vor seiner Entdeckung begangen wurde, so dass in jedem dieser Jahre eine zu große beihilfefähige Fläche angegeben wurde, sie vorbehaltlich der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehenen Verjährungsfristen verpflichtet ist, die tatsächlich ermittelte Fläche zum Zweck der Berechnung der für alle betroffenen Jahre geschuldeten Beihilfe zu kürzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2002, Strawson und Gagg & Sons, C‑304/00, Slg, EU:C:2002:695, Rn. 64, und vom 25. Juli 2006, Belgien/Kommission, T‑221/04, EU:T:2006:223, Rn. 88).
133. Im Licht dieser Erwägungen sind die beiden oben in Rn. 128 aufgeworfenen Fragen nacheinander zu prüfen.
134. Erstens ist zur Frage, ob die von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehenen Kürzungen und Ausschlüsse auf der Grundlage eines neu berechneten Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche zu bestimmen sind, festzustellen, dass sich entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs weder aus dem Wortlaut dieses Artikels, der nach Ansicht dieses Mitgliedstaats „auf Ansprüche abstellt“, noch aus seiner Auslegung im Licht der Definition des Begriffs „ermittelte Fläche“ in Art. 2 Nr. 22 dieser Verordnung ergibt, dass die in diesem Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehene Sanktion auf der Grundlage der retrospektiv neu berechneten Zahlungsansprüche zu bestimmen ist.
135. Nach dem Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 sind nämlich die vorgesehenen Kürzungen und Ausschlüsse anzuwenden, wenn die vom Landwirt gemeldete Fläche über der u. a. gemäß Art. 50 Abs. 3 dieser Verordnung ermittelten Fläche liegt und die Differenz zwischen den beiden Flächen über den von dieser Bestimmung genannten Grenzen liegt.
136. Zwar ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass eine Übererklärung unter den dort genannten Voraussetzungen durch die Kürzung der ermittelten Fläche, auf deren Grundlage die Beihilfe berechnet wird, mit einer Sanktion belegt wird, jedoch ist festzustellen, dass im Hinblick auf den Wortlaut dieser Bestimmung ihre Anwendung in keiner Weise von einer vorherigen Neubewertung des Werts pro Einheit der Zahlungsansprüche im Fall zu Unrecht erfolgter Zuweisung dieser Ansprüche abhängt.
137. Im Übrigen ist, soweit sich das Vereinigte Königreich auf Art. 2 Nr. 22 der Verordnung Nr. 796/2004 bezieht, darauf hinzuweisen, dass nach der letzteren Bestimmung eine Fläche nur eine ermittelte Fläche ist, wenn sie allen in den Vorschriften für die Beihilfegewährung festgelegten Voraussetzungen genügt, wobei im Rahmen der Betriebsprämienregelung die beantragte Fläche nur zusammen mit der entsprechenden Zahl von Zahlungsansprüchen als ermittelte Fläche zu betrachten ist.
138. Selbst unterstellt, dass ‐ wie das Vereinigte Königreich geltend macht ‐ dieser Art. 2 Nr. 22 der Verordnung Nr. 796/2004 auf diese Weise die ermittelte Fläche unter Bezugnahme auf die Fläche zusammen mit der entsprechenden Zahl von Zahlungsansprüchen, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, definiert und dass diese Definition im Kontext von Art. 51 dieser Verordnung einschlägig ist, kann diese Definition jedoch nicht die Berechnung der anwendbaren Sanktion nach Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 auf der Grundlage eines neu berechneten Werts der Zahlungsansprüche vorschreiben. Art. 2 Nr. 22 dieser Verordnung enthält nämlich keinen Hinweis auf den Wert der Zahlungsansprüche, der gegebenenfalls zu berücksichtigen wäre.
139. Diese Auslegung von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 wird zum einen durch Art. 50 dieser Verordnung und insbesondere durch seinen Abs. 2 bekräftigt. Nach Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, der die Berechnungsgrundlage für die Beihilfe definiert, wird, wenn sich eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche ergibt, für die Berechnung der Beihilfe die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt. Mit anderen Worten ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass mangels einer gegenteiligen Angabe die Berechnung der Beihilfe auf der Grundlage der vom Landwirt angemeldeten Zahlungsansprüche erfolgt, ohne dass eine etwaige Neubewertung ihres Werts pro Einheit nach oben zu berücksichtigen wäre.
140. Zum anderen steht diese Auslegung von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 mit der im Rahmen der ersten zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes erhobenen Rüge vertretenen Auslegung von Art. 73a dieser Verordnung im Einklang in dem Sinne, dass, wie oben in Rn. 125 dargelegt, der Letztere unter Umständen wie den in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden keine retrospektive Neubewertung des Werts der Zahlungsansprüche vorsieht.
141. Folglich kann das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zu Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 in seiner Auslegung im Licht von Art. 2 Nr. 22 dieser Verordnung nicht belegen, dass die Kürzungen und Ausschlüsse auf der Grundlage der retrospektiv neu bewerteten Zahlungsansprüche zu bestimmen sind.
142. Zweitens ist zur Frage, ob im Fall der Wiederholung eines Fehlers hinsichtlich der beihilfefähigen Fläche wie dem ursprünglich im Jahr 2005 begangenen Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 die Anwendung einer Kürzung oder eines Ausschlusses gemäß Abs. 1 dieser Bestimmung ausschließt, sofern der Landwirt eine hinreichende Fläche erklärt, um die Zahl der Zahlungsansprüche, über die er tatsächlich verfügt, zu aktivieren, darauf hinzuweisen, dass nach Art. 51 Abs. 2a dieser Verordnung, wenn ein Betriebsinhaber mehr Fläche als Zahlungsansprüche gemeldet hat und die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die in Abs. 1 dieser Bestimmung genannten Kürzungen und Ausschlüsse keine Anwendung finden, wobei klargestellt wird, dass, wenn in einem solchen Fall die gemeldete Fläche nicht alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die in diesem Art. 51 Abs. 1 genannte Differenz die Differenz zwischen der Fläche, die alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, und dem Betrag der gemeldeten Zahlungsverpflichtungen ist.
143. Zunächst ergibt sich daher aus Unterabs. 1 in Verbindung mit Unterabs. 2 von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, dass, abgesehen davon, dass diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut keinen Vorbehalt hinsichtlich des Falls der Wiederholung einer Übererklärung vorsieht, die ursprünglich zur Zuweisung einer zu hohen Anzahl Zahlungsansprüche geführt hat, und nicht zwischen einer Übererklärung zum Zeitpunkt der ursprünglichen Zuweisung der Ansprüche, die in der Folge wiederholt wurde, und einer Übererklärung nach dieser Zuweisung unterscheidet, diese Bestimmung, wie im Übrigen die Kommission darlegt, anzuwenden ist, wenn die vom Landwirt angemeldete Fläche über der Anzahl der von ihm angemeldeten Zahlungsansprüche liegt, ohne dass die Anzahl der Ansprüche, über die er tatsächlich verfügt, Berücksichtigung findet. Zwar definiert Unterabs. 1 dieser Bestimmung die dort genannten Zahlungsansprüche nicht als diejenigen, die angemeldet wurden, doch erfolgt diese Einstufung ausdrücklich nach dem Wortlaut von Unterabs. 2 dieser Bestimmung.
144. Daher finden nach Art. 51 Abs. 2a Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 nur in dem Fall, dass die angemeldete Fläche über der Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche liegt und diese Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt, die Kürzungen und Ausschlüsse nach Abs. 1 dieser Bestimmung keine Anwendung.
145. Dagegen erfolgt entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs der Vergleich zwischen der angemeldeten Fläche und den angemeldeten Zahlungsansprüchen im Rahmen von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 ohne Berücksichtigung der Anzahl der Zahlungsansprüche, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, gegebenenfalls nach Wiedereinziehung zu Unrecht zugewiesener Ansprüche nach Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004.
146. Sodann wird diese wörtliche Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 auch durch eine systematische und teleologische Auslegung dieser Bestimmung bestätigt.
147. Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, wenn sich bei einem Beihilfeantrag im Rahmen der Betriebsprämienregelung eine Abweichung zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche ergibt, für die Berechnung der Beihilfe die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt wird. Diese Bestimmung definiert daher die Berechnungsgrundlage für die Beihilfe.
148. Zum anderen dient, wie bereits oben in Rn. 129 dargelegt, Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 im Wesentlichen dem Ziel, die finanziellen Interessen der Union durch die Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug wirksam zu schützen. Dafür sieht Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, wenn die angemeldete Fläche über der ermittelten Fläche liegt, gestaffelte Sanktionen vor (vgl. oben, Rn. 130).
149. Solche Sanktionen werden allerdings, wie sich aus dem 12. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/2006, durch die Abs. 2a in Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 eingefügt wurde, als unnötig angesehen, falls, wenn der Betriebsinhaber mehr Fläche angemeldet hat, als er Zahlungsansprüche besitzt, die gemeldete Fläche alle anderen Beihilfefähigkeitsvoraussetzungen erfüllt. In einem solchen Fall schreibt nämlich laut demselben Erwägungsgrund Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004 vor, dass für die Berechnung der Beihilfe die Fläche in Hektar zugrunde gelegt wird, für die Zahlungsansprüche gelten.
150. Daher bestätigt zum einen die im 12. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/2006 hergestellte Verbindung zwischen Art. 50 Abs. 2 der Verordnung Nr. 796/2004, einer Bestimmung, die sich ausdrücklich auf einen Vergleich zwischen der angemeldeten Fläche und den angemeldeten Zahlungsansprüchen gründet, und Art. 51 Abs. 2a der letzteren Verordnung das Ergebnis, wonach der nach Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 anzustellende Vergleich zwischen einerseits der angemeldeten Fläche und andererseits den angemeldeten Zahlungsansprüchen und nicht den Zahlungsansprüchen, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, gegebenenfalls nach Wiedereinziehung zu Unrecht zugewiesener Ansprüche gemäß Art. 73a der Verordnung Nr. 796/2004, zu erfolgen hat.
151. Zum anderen gründet sich im Hinblick auf die Systematik von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004, der im Kontext der Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten und Betrug steht, die Einfügung von Abs. 2a in diese Bestimmung auf die Erwägung, dass, wenn sich eine Abweichung zwischen der angemeldeten Fläche und den angemeldeten Zahlungsansprüchen ergibt, grundsätzlich keine Gefahr der Unregelmäßigkeit oder des Betrugs besteht, falls die angemeldete Fläche alle anderen Beihilfebedingungen erfüllt. Wenn sich nämlich eine solche Abweichung zwischen der angemeldeten Fläche und der Anzahl der angemeldeten Ansprüche ergibt, wird jedenfalls nach Art. 50 Abs. 2 dieser Verordnung für die Bestimmung der Beihilfe die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt, so dass jedenfalls ausgeschlossen ist, dass eine Beihilfe auf der Grundlage einer nicht ermittelten Fläche gezahlt wird. Daraus folgt, dass grundsätzlich in einem solchen Fall keine Gefahr einer zu Unrecht erfolgten Zahlung besteht, die auf der Grundlage einer nicht ermittelten Fläche gewährt wird.
152. Schließlich trifft es zu, dass, wie das Vereinigte Königreich ausgeführt hat, diese Auslegung von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 und insbesondere von seinem Abs. 2a nicht ausschließt, dass ausnahmsweise eine Sanktion auf der Grundlage von nicht vorhandenen Zahlungsansprüchen berechnet wird, wenn der Landwirt eine Anzahl der Ansprüche anmeldet, die über der Anzahl Zahlungsansprüche liegt, über die er tatsächlich verfügt.
153. Es ist jedoch festzustellen, dass, ohne dass zu bestimmen wäre, ob ‐ wie das Vereinigte Königreich geltend macht ‐ der Verweis auf die ermittelte Fläche in Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004 als Verweis auf die beihilfefähige Fläche für eine entsprechende Zahl von angemeldeten Zahlungsansprüchen oder von angemeldeten Zahlungsansprüchen, über die der Landwirt tatsächlich verfügt, zu verstehen ist, der oben in Rn. 152 angeführte Umstand entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung nicht geeignet ist, die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses zu bewirken.
154. Abgesehen davon, dass das Vereinigte Königreich die Rechtmäßigkeit von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 nicht in Zweifel gezogen hat, ist nämlich festzustellen, dass dieser Umstand, so bedauerlich er auch sein mag, an der oben dargelegten Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, die in Anbetracht einer wörtlichen, systematischen und teleologischen Analyse geboten ist, nichts ändern kann.
155. Insoweit ist außerdem hinzuzufügen, dass die Verordnung Nr. 1122/2009, die die Verordnung Nr. 796/2004 mit Wirkung zum 1. Januar 2010 aufgehoben und ersetzt hat, nunmehr ausdrücklich in ihrem Art. 57 („Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen“) Abs. 2 zweiter Gedankenstrich vorsieht, dass, „[wenn] die Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche über der Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche [liegt], … die angemeldeten Zahlungsansprüche auf die Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche gesenkt [werden]“.
156. Diese neue Bestimmung gründet sich, wie aus dem 78. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1122/2009 hervorgeht, auf folgende Erwägung:
„Die Zahlung der Stützung im Rahmen der Betriebsbeihilferegelung erfordert dieselbe Anzahl von Zahlungsansprüchen und beihilfefähigen Hektar. Für den Zweck dieser Regelung ist daher vorzuschreiben, dass für die Berechnung der Zahlung im Falle von Abweichungen zwischen den angemeldeten Zahlungsansprüchen und der angemeldeten Fläche die niedrigere der beiden Größen zugrunde gelegt wird. Um eine Berechnung auf der Grundlage nicht vorhandener Ansprüche zu vermeiden, ist vorzusehen, dass die bei der Berechnung zugrunde gelegte Anzahl von Zahlungsansprüchen die dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehende Anzahl von Zahlungsansprüchen nicht überschreiten darf.“
157. Jedoch ist, entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, wonach seine Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 durch Art. 57 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 bestätigt werde, darauf hinzuweisen, dass der Erlass der letzteren Verordnung und die Änderungen, die sie mit sich bringt, an der oben vorgenommenen Auslegung von Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 nichts ändern und keine Auslegung der letzteren Bestimmung rechtfertigen können, die nicht nur ihrem Wortlaut, sondern auch den Gründen, die ihrer Einfügung in diese Verordnung zugrunde liegen, zuwiderliefe (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 16. September 2013, Niederlande/Kommission, T‑343/11, EU:T:2013:468, Rn. 91).
158. Abgesehen davon, dass Art. 57 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 nach seiner Überschrift einen anderen Gegenstand als Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004 hat, da letztere Bestimmung Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen betrifft, ist ‐ auch ohne dass Art. 57 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 einer Auslegung bedürfte ‐ festzustellen, dass die letztere Verordnung zum Zeitpunkt der Kontrollen, bei denen die auf die Übererklärungen zurückgehenden Fehler aufgedeckt wurden, nicht anwendbar war, da sie nach ihrem Art. 87 Unterabs. 2 erst für Beihilfeanträge gilt, die sich auf ab dem 1. Januar 2010 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen.
159. Drittens ist, soweit das Vereinigte Königreich sein Vorbringen zur Auslegung von Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 durch Beispiele für die Berechnung von Sanktionen nach diesen Bestimmungen belegen will, hinzuzufügen, dass solche rein illustrativen Beispiele nicht nachweisen können, dass die Kommission dem Vereinigten Königreich zu Unrecht vorgeworfen hat, die Sanktionen nach diesen Bestimmungen fehlerhaft berechnet zu haben, und dass die bei der Beurteilung des finanziellen Risikos des Fonds angewandte Berechnungsmethode hinsichtlich der Sanktionen in Fällen von Übererklärungen falsch ist.
160. Schließlich beruft sich das Vereinigte Königreich hilfsweise auf den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung der milderen Sanktion. Insoweit vertritt es im Wesentlichen die Ansicht, dass Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009 eine neue Vorschrift über die Anwendung der Kürzungen und Ausschlüsse darstelle und dass diese Vorschrift, da sie weniger streng sei als Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 in seiner Auslegung durch die Kommission, rückwirkend anzuwenden sei. Diese neue Vorschrift schließe Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von Übererklärungen aus, wenn der Landwirt eine beihilfefähige Fläche anmelde, die mindestens der Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche entspreche, wobei diese Anzahl die ihm zur Verfügung stehende Anzahl von Zahlungsansprüchen nicht übersteigen könne.
161. Wie insoweit bereits oben in Rn. 158 festgestellt, gilt nach Art. 87 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1122/2009 diese erst für Beihilfeanträge, die sich auf ab dem 1. Januar 2010 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen, so dass die Verordnung Nr. 796/2004 auf die Beihilfeanträge für das Jahr 2009 grundsätzlich anwendbar war. Allerdings gelten nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 bei späterer Änderung der in einer Unionsregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend.
162. Nach der Rechtsprechung stellen die Kürzungen und Ausschlüsse der Beihilfen, wie die nach Art. 51 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehenen, eine verwaltungsrechtliche Sanktion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 1997, National Farmers’ Union u. a., C‑354/95, Slg, EU:C:1997:379, Rn. 40 und 41, Strawson und Gagg & Sons, oben in Rn. 132 angeführt, EU:C:2002:695, Rn. 46, sowie vom 4. Mai 2006, Haug, C‑286/05, Slg, EU:C:2006:296, Rn. 21).
163. Hingegen ist der Rechtsprechung auch zu entnehmen, dass die Bestimmungen über die Definition einer Berechnungsgrundlage keine verwaltungsrechtliche Sanktion darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil Haug, oben in Rn. 162 angeführt, EU:C:2006:296, Rn. 24).
164. Genau dies ist aber bei Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009, auf den sich das Vereinigte Königreich stützt, der Fall.
165. Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009, nach dem, „[wenn] die Anzahl der angemeldeten Zahlungsansprüche über der Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche [liegt], … die angemeldeten Zahlungsansprüche auf die Anzahl der dem Betriebsinhaber zur Verfügung stehenden Zahlungsansprüche gesenkt [werden]“, gehört nämlich, wie sich aus seiner Überschrift ergibt und wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, zur Definition der Berechnungsgrundlage in Bezug auf die angemeldeten Flächen.
166. Außerdem ändert Art. 57 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1122/2009 in keiner Weise die Vorschriften über die Kürzungen und Ausschlüsse, wie sie sich aus Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 ergeben. Der letztere Artikel übernimmt im Übrigen die Vorschriften von Art. 51 Abs. 1 der Verordnung Nr. 796/2004, wobei jedoch Art. 51 Abs. 2a der Verordnung Nr. 796/2004, der eine Ausnahme von den Kürzungen und Ausschlüssen nach Art. 51 Abs. 1 dieser Verordnung darstellte, nicht in Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 übernommen wurde.
167. Daraus folgt, dass das Vorbringen des Vereinigten Königreichs zur rückwirkenden Anwendung einer milderen Sanktion nicht durchgreifen kann.
168. Folglich ist die vierte Rüge in vollem Umfang zurückzuweisen.
Zur zweiten Rüge betreffend die Berücksichtigung der sich auf die Tierprämien auswirkenden Flächenabweichungen bei der Neuberechnung der Zahlungsansprüche
169. Das Vereinigte Königreich macht im Wesentlichen geltend, die Kommission habe zu Unrecht angenommen, dass sich Fehler bei der Bestimmung der die Tierprämien betreffenden Flächen auf das historische Element auswirken könnten. Aus dem Beschluss 2010/399/EU der Kommission vom 15. Juli 2010 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des EAGFL, Abteilung Garantie, des EGFL und des ELER getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 184, S. 6) gehe nämlich hervor, dass die Kommission hinsichtlich des Antragsjahrs 2004 nur eine pauschale Berichtigung von 2 % auf die getätigten Ausgaben im Rahmen der Extensivierungsprämienregelung angewandt habe. Dasselbe – äußerst niedrige – Risiko bestehe jedoch angesichts der großen Ähnlichkeit der Regelungen und der damit verbundenen Bedingungen während des Bezugszeitraums.
170. Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet.
171. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass die Kommission im Konformitätsabschlussverfahren der Ansicht war, die vom Vereinigten Königreich vorgenommene Neuberechnung der Zahlungsansprüche berücksichtige nur das pauschale Element, während keine Kontrolle erfolgt sei, um zu bestimmen, ob sich die Flächenabweichungen auch auf die Tierprämien, die im Bezugszeitraum von 2000 bis 2002 gezahlt worden seien, und daher auf das historische Element der Zahlungsansprüche ausgewirkt hätten.
172. Selbst wenn jedoch angenommen würde, dass, wie das Vereinigte Königreich vorträgt, das Risiko aufgrund der fehlenden Überprüfung der Auswirkung von Fehlern bei der Bestimmung der die Tierprämien betreffenden Flächen sehr gering war, ist dennoch festzustellen, dass das Vereinigte Königreich in keiner Weise die Feststellung in Frage gestellt hat, dass es eine solche Überprüfung nicht vorgenommen hat. Es bestreitet nämlich das Bestehen von Flächenabweichungen, die sich auf die Tierprämien ausgewirkt haben könnten, nicht. Außerdem hat es in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts bestätigt, dass es keine Überprüfung der etwaigen Auswirkung solcher Abweichungen auf das historische Element der Zahlungsansprüche vorgenommen hat, was im Protokoll der mündlichen Verhandlung vermerkt wurde.
173. Daraus folgt, dass es vor dem Hintergrund der oben in Rn. 65 angeführten Rechtsprechung, nach der es zwar Sache der Kommission ist, glaubhaft zu machen, dass an den von den nationalen Verwaltungen durchgeführten Kontrollen oder den von diesen übermittelten Zahlen berechtigte Zweifel bestehen, es jedoch Sache des betreffenden Mitgliedstaats ist, den Nachweis zu erbringen, dass die Feststellungen der Kommission unzutreffend sind, dem Vereinigten Königreich nicht gelungen ist, die oben in Rn. 171 im Wesentlichen zusammengefassten Feststellungen der Kommission zu entkräften.
174. Überdies ist, soweit das Vereinigte Königreich geltend macht, das Risiko aufgrund der fehlenden Überprüfungen in Bezug auf die Tierprämien sei äußerst gering, festzustellen, dass die im vorliegenden Fall angewandte Höhe der finanziellen Berichtigung durch eine Gesamtheit von durch die Kommission bei den Schlüsselkontrollen und Zusatzkontrollen festgestellten Mängeln gerechtfertigt war und sich aus einer vom Vereinigten Königreich selbst vorgenommenen Beurteilung des Risikos ergibt. Abgesehen davon, dass das Letztere nicht erläutert hat, inwieweit der Satz von 5,19 % gegebenenfalls dadurch beeinflusst war, dass das Fehlen dieser Überprüfungen berücksichtigt wurde, genügt der Hinweis, dass, selbst wenn dieses Fehlen ein vernachlässigbares Risiko für den Fonds geschaffen hätte, diese Erwägung nicht geeignet wäre, die Anwendung der punktuellen Berichtigung von 5,19 % im vorliegenden Fall in Frage zu stellen.
175. Folglich ist die vorliegende Rüge zurückzuweisen.
Zur fünften Rüge betreffend die vorsätzliche Übererklärung
176. Das Vereinigte Königreich beanstandet die Feststellung von Mängeln der Zusatzkontrollen betreffend die vorsätzliche Übererklärung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004. Es macht im Wesentlichen geltend, die vorsätzliche Übererklärung stelle einen Betrug dar, der mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht sei und im Recht Nordirlands eine Straftat darstelle. Daher schaffe Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 zwar eine Sanktion verwaltungsrechtlicher und nicht strafrechtlicher Natur, jedoch könne das nordirische Regionalministerium für Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums (Northern Ireland Department of Agriculture and Rural Development, DARD) nur feststellen, dass ein Landwirt einen betrügerischen Antrag gestellt habe, wenn dies in einem ordentlichen Strafverfahren nachgewiesen worden sei. Ebenso wenig könne die Kommission dem Vereinigten Königreich vorwerfen, dass das DARD Fälle, die ihrer Ansicht nach an seinen zentralen Untersuchungsdienst (Central Investigation Service, CIS) hätten verwiesen werden sollen, nicht an diesen verwiesen habe, dies umso mehr, als keine derartige Verweisungspflicht bestehe, wenn die Beweise jedenfalls unzureichend seien. Außerdem seien betrügerische Anträge äußerst selten, so dass der Teil der Ausgaben, der aufgrund der vorsätzlichen Übererklärung in Nordirland der Gefahr ausgesetzt sei, wahrscheinlich äußerst gering sei.
177. Die Kommission hält das Vorbringen des Vereinigten Königreichs für unbegründet.
178. Erstens ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich auf eine Frage des Gerichts im Anschluss an das Urteil vom 27. Februar 2013, Polen/Kommission (T‑241/10, EU:T:2013:96), in der mündlichen Verhandlung sein Vorbringen fallen gelassen hat, wonach im Wesentlichen die Kommission ihm zu Unrecht vorgeworfen habe, die Sanktion bei vorsätzlicher Übererklärung nach Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 von einem vorherigen Strafverfahren abhängig gemacht zu haben, was im Protokoll der mündlichen Verhandlung vermerkt wurde.
179. Zweitens ist, soweit das Vereinigte Königreich sein Vorbringen, wonach die Kommission ihm nicht vorwerfen könne, dass das DARD gewisse Fälle nicht an das CIS verwiesen habe, nicht ausdrücklich zurückgenommen hat, darauf hinzuweisen, dass allein die – unstreitige, wie sich aus der vorstehenden Rn. 178 ergibt – Tatsache, dass das Vereinigte Königreich die Anwendung der verwaltungsrechtlichen Sanktionen von einem vorherigen Strafverfahren abhängig gemacht hat, hinreicht, um auf das Vorliegen von Mängeln zu schließen, die das System der Anwendung der von Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 geschaffenen verwaltungsrechtlichen Sanktionen im Vereinigten Königreich betreffen, ohne dass auf die Frage nach der Erheblichkeit dieses Vorbringens einzugehen ist. Folglich braucht nicht geprüft zu werden, ob dieses System überdies insoweit mit Mängeln behaftet war, als gewisse Fälle von Übererklärung, die nach Ansicht der Kommission an das CIS hätten verwiesen werden müssen, ihm jedoch nicht vorgelegt worden seien.
180. Jedenfalls hat das Vereinigte Königreich die Fehlerhaftigkeit der Feststellungen der Kommission zur fehlenden Übermittlung von Fällen an das CIS nicht nachgewiesen. Das Vereinigte Königreich hat sich nämlich auf allgemeine Behauptungen beschränkt, wonach die Vorlage an eine mit der Verfolgung von Zuwiderhandlungen betraute Behörde nicht verpflichtend sei, wenn offensichtlich sei, dass die Beweise nicht hinreichten, um das Vorliegen eines vorsätzlichen Verstoßes feststellen zu können. Eine solche Behauptung ist jedoch im Hinblick auf die oben in Rn. 65 angeführte Rechtsprechung nicht hinreichend, um die berechtigten Zweifel der Kommission zu entkräften.
181. Drittens ist zum Vorbringen des Vereinigten Königreichs, das finanzielle Risiko des Fonds aufgrund der vorsätzlichen Übererklärung in Nordirland sei jedenfalls „wahrscheinlich äußerst gering“, darauf hinzuweisen, dass ein solches Vorbringen nicht ausreicht, um die von der Kommission getroffene Feststellung eines Versäumnisses bei der Anwendung der von Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Sanktionen in Frage zu stellen, ohne dass geprüft werden müsste, ob dieses Vorbringen erheblich ist, da nach den Angaben des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung die von ihm vorgenommene Beurteilung des Risikos die vorsätzlichen Übererklärungen nicht berücksichtigt.
182. Selbst wenn man unterstellt, dass das Vereinigte Königreich mit diesem Vorbringen den von der Kommission angewandten Berichtigungssatz beanstanden will, war außerdem dieser Satz, wie bereits oben in Rn. 174 ausgeführt, durch eine Gesamtheit von durch die Kommission bei den Schlüsselkontrollen und Zusatzkontrollen festgestellten Mängeln gerechtfertigt und ergibt sich aus einer vom Vereinigten Königreich vorgenommenen Beurteilung des Risikos. Daraus folgt, dass, selbst wenn die Mängel des Verwaltungssanktionsverfahrens nach Art. 53 der Verordnung Nr. 796/2004 ein vernachlässigbares Risiko für den Fonds geschaffen hätten, diese Erwägung nicht geeignet wäre, die Anwendung der punktuellen Berichtigung von 5,19 % im vorliegenden Fall in Frage zu stellen.
183. Jedenfalls hat sich das Vereinigte Königreich, entgegen der oben in Rn. 66 angeführten Rechtsprechung, nach der es Sache des Mitgliedstaats ist, nachzuweisen, dass der Kommission hinsichtlich der aus den von ihr festgestellten Unregelmäßigkeiten zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist, auf hypothetische und vage Behauptungen beschränkt, die sich zwar auf den Jahresbericht der Kommission 2009 über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und die Betrugsbekämpfung gründen, jedoch nicht durch substantiierte Anhaltspunkte gestützt werden, um zu beweisen, dass der von der Kommission angewandte Berichtigungssatz im vorliegenden Fall falsch war.
184. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist die fünfte Rüge des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
185. Folglich ist der zweite Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum ersten Klagegrund: Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bei der Bestimmung des Umfangs der tatsächlichen Verluste für den Fonds
186. Im Rahmen des ersten Nichtigkeitsgrundes rügt das Vereinigte Königreich, dass die Kommission, indem sie eine pauschale Berichtigung von 5,19 % auf alle für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben angewandt habe, Fehler in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in Bezug auf den Umfang der Gefahr eines Verlusts für den Fonds begangen habe. Die Kommission habe nicht berücksichtigt, dass zum einen ungefähr 80 % der Fehler betreffend das Antragsjahr 2009 hinsichtlich der beihilfefähigen Flächen auf Übererklärungen dieser Flächen im Jahr 2005 bei der ursprünglichen Zuweisung der Zahlungsansprüche zurückgingen und dass zum anderen der im Jahr 2005 auf der Grundlage des hybrid-statischen Modells bestimmte Wert pro Einheit der Zahlungsansprüche aus einem historischen Element, das aus der Teilung des Referenzbetrags durch die Gesamtzahl der Zahlungsansprüche hervorgehe, und einem pauschalen Element, das 78,33 Euro pro Zahlungsanspruch entspreche, bestehe. Jedoch sei der Fonds hinsichtlich 80 % der Ausgaben nur bei den das pauschale Element betreffenden Ausgaben, die ungefähr 22 % aller getätigten Ausgaben entsprächen, einem Risiko ausgesetzt. Daraus folge, dass bei Anwendung einer punktuellen Berichtigung von 5,19 % auf den der Gefahr ausgesetzten Teil der Ausgaben die finanzielle Berichtigung nicht höher als 1,95 % hätte sein können.
187. Die Kommission hält das Vorbringen des Vereinigten Königreichs für unbegründet.
188. Zunächst ist festzustellen, dass ‐ was die finanziellen Berichtigungen angeht ‐ diese nach Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 vorgenommen werden, wenn die Kommission zu der Überzeugung gelangt, dass die betreffenden Ausgaben nicht in Übereinstimmung mit den Unionsvorschriften getätigt wurden. Dieses Dokument sieht auch vor, dass, ausgenommen der Fall, dass die zu Unrecht erfolgte Zahlung bereits von den nationalen Kontrollbehörden entdeckt wurde und diese geeignete Abhilfemaßnahmen getroffen und die Wiedereinziehung in die Wege geleitet haben, die Kommission die Finanzierung aus dem Unionshaushalt ablehnen muss. Für die Fälle, in denen sich die tatsächliche Höhe der unregelmäßigen Zahlungen und somit die Höhe des der Union entstandenen finanziellen Schadens bestimmen lässt, sieht das Dokument Nr. VI/5330/97 vor, dass u. a. ein Betrag abgelehnt wird, den man durch Hochrechnung der Ergebnisse der Überprüfung einer repräsentativen Stichprobe von Fällen auf die Gesamtheit der Fälle erhält, aus denen die Stichprobe gebildet wurde, der aber auf den Verwaltungsbereich beschränkt bleibt, in dem der betreffende Mangel nach vernünftigem Ermessen auftreten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2013, Portugal/Kommission, T‑2/11, Slg, EU:T:2013:307, Rn. 120). Dagegen werden in den Fällen, in denen sich die tatsächliche Höhe der unregelmäßigen Zahlungen nicht bestimmen lässt, pauschale Berichtigungen vorgenommen (Urteile vom 18. September 2003, Vereinigtes Königreich/Kommission, C‑346/00, Slg, EU:C:2003:474, Rn. 53, und vom 24. April 2008, Belgien/Kommission, C‑418/06 P, Slg, EU:C:2008:247, Rn. 136; vgl. auch Urteil Portugal/Kommission, EU:T:2013:307, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
189. Insoweit wurde das Dokument Nr. VI/5330/97 von der Kommission zwar im Kontext des EAGFL angenommen und enthält laut seinem Titel Leitlinien zur Berechnung der finanziellen Auswirkungen im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung über den Rechnungsabschluss des EAGFL, Abteilung Garantie, jedoch ist es der Kommission nicht verwehrt, dieses Dokument auch bei der Ausübung der Befugnisse anzuwenden, die ihr Art. 31 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 im Rahmen des Rechnungsabschlusses des Fonds überträgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2013, Bulgarien/Kommission, T‑335/11, EU:T:2013:262, Rn. 86), was das Vereinigte Königreich im Übrigen nicht in Abrede stellt.
190. Im Licht dieser Erwägungen ist die Begründetheit des vorliegenden Klagegrundes zu prüfen.
191. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass die Kommission eine punktuelle Berichtigung von 5,19 % auf alle im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben anwandte. Der auf diese Weise angewandte Berichtigungssatz ist aus einer von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgenommenen Beurteilung des Risikos hervorgegangen, die die Kommission anerkannte, da diese Beurteilung ihrer Ansicht nach erlaubte, die Höhe des der Union entstandenen finanziellen Schadens angemessen zu bestimmen. In Anbetracht dieser von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgenommenen Beurteilung wurde das finanzielle Risiko dahin definiert, dass es dem Unterschied zwischen den gezahlten Beträgen und einer revidierten Zahlung entspricht, die gegebenenfalls die zu verhängenden Sanktionen umfasst, wobei die zu Unrecht gezahlten Beträge und die Sanktionen vom Vereinigten Königreich nach der von der Kommission befürworteten Methode bestimmt wurden. Die Beurteilung des Risikos gründete sich auf eine Extrapolation auf der Grundlage einer Stichprobe von 394 im Jahr 2009 im Rahmen der Betriebsprämienregelung gestellten Anträgen.
192. Aus den Akten ergibt sich somit, dass die von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgenommene Beurteilung des finanziellen Risikos darin bestand, den der Union tatsächlich entstandenen finanziellen Schaden auf der Grundlage einer Stichprobe und durch Hochrechnung zu bestimmen. Dieser finanzielle Schaden und damit das finanzielle Risiko entsprechen, wie sowohl aus dem Bericht über die Beurteilung des Risikos als auch den Schriftsätzen des Vereinigten Königreichs hervorgeht, der Summe der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen, die nach der von der Kommission befürworteten Methode bestimmt wurden. Das so beurteilte finanzielle Risiko wurde im Bericht über die Beurteilung des Risikos in Prozent aller betroffenen Zahlungen ausgedrückt. Aus dem Bericht über die Beurteilung des Risikos ergibt sich nämlich eindeutig, dass das finanzielle Risiko 5,19 % aller im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben entspricht, was außerdem das Vereinigte Königreich in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts bestätigt hat.
193. Daraus folgt, dass die Kommission, da sie auf der Grundlage einer von den Behörden des Vereinigten Königreichs vorgeschlagenen und von ihr anerkannten Beurteilung des Risikos die unregelmäßigen Zahlungen und daher die Höhe des der Union entstandenen finanziellen Schadens bestimmen konnte, zu Recht nach den im Dokument Nr. VI/5330/97 enthaltenen Leitlinien, wie sie u. a. in der vorstehenden Rn. 188 dargelegt wurden, die Ablehnung des der Höhe des Schadens entsprechenden Betrags beschloss.
194. Daraus folgt auch, dass die Kommission, da die Höhe des so beurteilten Schadens, wie oben in Rn. 192 dargelegt, in Prozent aller im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben ausgedrückt wurde, die punktuelle Berichtigung von 5,19 % zu Recht auf alle diese Ausgaben angewandt hat.
195. Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen des Vereinigten Königreichs im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes nicht in Frage gestellt, wonach im Wesentlichen die punktuelle Berichtigung von 5,19 % nur auf den Teil der betreffend das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben anzuwenden sei, der von den Unregelmäßigkeiten betroffen sei, so dass das tatsächliche finanzielle Risiko maximal 1,95 % betrage. Insoweit rührten 80 % der Fehler aus dem Jahr 2009 aus Fehlern bei der ursprünglichen Zuweisung und Berechnung der Zahlungsansprüche hinsichtlich der beihilfefähigen Flächen her. Daher sei im Wesentlichen bei 80 % der im betreffenden Zeitraum in Nordirland getätigten Ausgaben aufgrund der aus einem historischen Element und einem pauschalen Element bestehenden Methode für die Berechnung dieser Zahlungsansprüche (vgl. oben, Rn. 70) die Tatsache zu berücksichtigen, dass nur das letztere Element und nicht die gesamte Zahlung von dem Risiko für den Fonds betroffen sei. Das pauschale Element stelle jedoch nur ungefähr 22 % der gesamten in Nordirland getätigten Zahlungen dar.
196. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall die finanzielle Berichtigung auf der Grundlage einer vom Vereinigten Königreich selbst im Konformitätsabschlussverfahren vorgelegten Beurteilung des Risikos bestimmt wurde.
197. Zunächst hat das Vereinigte Königreich für diese Beurteilung des Risikos das finanzielle Risiko dahin definiert, dass es dem Unterschied zwischen den gezahlten Beträgen und einer revidierten Zahlung entspreche, die gegebenenfalls die zu verhängenden Sanktionen umfasse, wobei die zu Unrecht gezahlten Beträge und die Sanktionen vom Vereinigten Königreich nach der von der Kommission befürworteten Methode bestimmt wurden.
198. Abgesehen davon, dass das Vorbringen des Vereinigten Königreichs im Rahmen des zweiten Klagegrundes zur Beanstandung dieser Methode für die Berechnung bereits oben zurückgewiesen wurde, rügt dieser Mitgliedstaat im vorliegenden Fall jedoch keineswegs die Tatsache, dass das finanzielle Risiko des Fonds in der Summe der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen besteht.
199. Sodann hat das Vereinigte Königreich selbst für die der Kommission vorgeschlagene Beurteilung des finanziellen Risikos alle für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben als Berechnungsgrundlage verwendet, wie es in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat (vgl. oben, Rn. 192). Außerdem ergibt sich aus den Akten nicht, dass das Vereinigte Königreich, als es im Konformitätsabschlussverfahren seine Beurteilung des Risikos vorlegte, irgendwelche Bedenken hinsichtlich dieser Berechnungsgrundlage geäußert hat.
200. Indem das Vereinigte Königreich im vorliegenden Verfahren jedoch geltend macht, die finanzielle Berichtigung von 5,19 %, die im Bericht über die Beurteilung des Risikos im Verhältnis zu allen diesen Ausgaben bestimmt wurde, sei nur auf den – kleineren – Teil der Zahlungen anzuwenden, der seiner Ansicht nach wirklich vom Risiko betroffen sei, stellt es in Wahrheit gleichzeitig die Grundlage seiner eigenen Beurteilung des finanziellen Risikos in Frage.
201. Schließlich ist das Vorbringen des Vereinigten Königreichs geeignet, die Berechnungen in Frage zu stellen, die im Bericht über die Beurteilung des Risikos zum Satz von 5,19 % führten. Soweit dieser Satz den Teil aller Ausgaben widerspiegelt, der der Summe der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen (und somit dem finanziellen Risiko in Zahlen) entspricht, verliert er somit seine Bedeutung, wenn er auf eine andere Berechnungsgrundlage angewandt wird. Die Auswechslung der ursprünglich herangezogenen Berechnungsgrundlage (alle Zahlungen), die dem angewandten Berichtigungssatz seine Bedeutung gab, durch eine herabgesetzte Berechnungsgrundlage (den Teil der Zahlungen, der nach Ansicht des Vereinigten Königreichs wirklich vom Risiko betroffen ist) bei der Bestimmung des finanziellen Risikos durchbricht den Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Berechnungsgrundlage und dem festgelegten Satz.
202. Daraus folgt, dass das Vereinigte Königreich, indem es geltend macht, die finanzielle Berichtigung von 5,19 %, die auf der Grundlage aller im Jahr 2010 in Nordirland getätigten Ausgaben bestimmt wurde, sei nur auf einen Teil dieser Ausgaben anzuwenden, die Basis der im Konformitätsabschlussverfahren durchgeführten Beurteilung grundsätzlich in Frage stellt. Indem das Vereinigte Königreich eine finanzielle Berichtigung, die dem tatsächlichen Risiko für den Fonds entspricht und in Prozent aller dieser Ausgaben ausgedrückt wurde, auf nur einen Teil dieser Ausgaben anwenden will, stellt es überdies die Richtigkeit der Analyse des Risikos und des Satzes von 5,19 % selbst in Frage, obwohl es diese Analyse selbst durchgeführt und diesen Satz auf der Grundlage einer von ihm nicht bestrittenen Definition des Risikos bestimmt hat.
203. Soweit das Vereinigte Königreich außerdem auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, der im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes vorgebrachte Satz von 1,95 % sei durch die im zweiten Klagegrund in Rede stehende Methode für die Berechnung der zu Unrecht gezahlten Beträge und der Sanktionen zu erklären, genügt der Hinweis, dass sein Vorbringen zu dieser Methode im Rahmen der vorstehenden Prüfung des zweiten Klagegrundes zurückgewiesen wurde.
204. Folglich kann dieses Vorbringen des Vereinigten Königreichs, dem es gemäß den oben in Rn. 66 angeführten Anforderungen obliegt, nachzuweisen, dass der Kommission hinsichtlich der aus dem Verstoß gegen die Unionsvorschriften betreffend die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist, nicht den Nachweis erbringen, dass der Kommission hinsichtlich der aus den von ihr festgestellten Unregelmäßigkeiten zu ziehenden finanziellen Konsequenzen ein Irrtum unterlaufen ist.
205. Daher ist festzustellen, dass die Kommission keinen Fehler begangen hat, indem sie die punktuelle Berichtigung von 5,19 % auf alle im Rahmen der Betriebsprämienregelung für das Antragsjahr 2009 in Nordirland getätigten Ausgaben angewandt hat.
206. Der erste Klagegrund ist deshalb zurückzuweisen.
207. Nach alledem ist die vorliegende Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
208. Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Vereinigte Königreich unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 2. September 2015.#Andrejs Surmačs gegen Finanšu un kapitāla tirgus komisija.#Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās tiesas Senāts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 94/19/EG – Anhang I Nr. 7 – Einlagensicherungssystem – Ausnahme bestimmter Einleger vom Einlagensicherungssystem – Ausschluss eines ‚Geschäftsleiters‘.#Rechtssache C-127/14.
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62014CJ0127
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ECLI:EU:C:2015:522
| 2015-09-02T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0127
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
2. September 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 94/19/EG — Anhang I Nr. 7 — Einlagensicherungssystem — Ausnahme bestimmter Einleger vom Einlagensicherungssystem — Ausschluss eines ‚Geschäftsleiters‘“
In der Rechtssache C‑127/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā Tiesa (Lettland) mit Entscheidung vom 12. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 18. März 2014, in dem Verfahren
Andrejs Surmačs
gegen
Finanšu un kapitāla tirgus komisija
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter) und C. Lycourgos,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Surmačs, der sich selbst vertritt,
—
der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und L. Skolmeistare als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Sauka und K.‑P. Wojcik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. März 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme (ABl. L 135, S. 5) in der durch die Richtlinie 2009/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 (ABl. L 68, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 94/19).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Surmačs und der Finanšu un kapitāla tirgus komisija (Finanzmarkt- und Kapitalkommission, im Folgenden: FKTK) über deren Weigerung, Herrn Surmačs als Einleger anzuerkennen, der Anspruch auf die nach der Richtlinie 94/19 vorgesehene Sicherung hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Richtlinie 94/19 wurde durch die Richtlinie 2014/49/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Einlagensicherungssysteme (ABl. L 173, S. 149) aufgehoben. Da diese Aufhebung mit Wirkung vom 4. Juli 2015 erfolgte, bleibt die Richtlinie 94/19 im Ausgangsverfahren anwendbar.
4 Die Erwägungsgründe 1, 16 und 18 der Richtlinie 94/19 lauteten:
„Gemäß den Zielen des Vertrages empfiehlt es sich, die harmonische Entwicklung der Tätigkeiten der Kreditinstitute in der Gemeinschaft durch die Aufhebung aller Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs zu fördern und gleichzeitig die Stabilität des Bankensystems und den Schutz der Sparer zu erhöhen.
…
Zum einen sollte das in dieser Richtlinie festzusetzende Mindestdeckungsniveau so festgelegt werden, dass sowohl im Interesse des Verbraucherschutzes als auch der Stabilität des Finanzsystems möglichst viele Einlagen erfasst werden. Zum anderen wäre es unangebracht, gemeinschaftsweit ein Schutzniveau vorzuschreiben, das in manchen Fällen eine unsolide Geschäftsführung der Kreditinstitute fördern könnte. Die Finanzierungskosten für solche Systeme sollten berücksichtigt werden. Es erscheint zweckmäßig, den harmonisierten Mindestdeckungsbetrag auf 20000 [Euro] festzusetzen. In beschränktem Maße dürften Übergangsbestimmungen notwendig sein, um es den betreffenden Systemen zu gestatten, diesen Wert einzuhalten.
…
Ist ein Mitgliedstaat der Auffassung, dass bestimmte Gruppen von Einlagen oder Einlegern, die ausdrücklich genannt werden müssen, keines besonderen Schutzes bedürfen, so muss er die Möglichkeit haben, sie von der durch die Einlagensicherungssysteme gebotenen Sicherung auszunehmen.
…“
5 In Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 94/19 hieß es:
„Jeder Mitgliedstaat sorgt in seinem Hoheitsgebiet für die Errichtung und amtliche Anerkennung eines oder mehrerer Einlagensicherungssysteme. …“
6 Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sah vor:
„(1) Für den Fall, dass Einlagen nicht verfügbar sind, gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Deckungssumme für die Gesamtheit der Einlagen desselben Einlegers mindestens 50000 [Euro] beträgt.
…
(2) Die Mitgliedstaaten können jedoch vorsehen, dass bestimmte Einleger oder bestimmte Einlagen von dieser Sicherung ausgenommen oder in geringerem Umfang gesichert werden. Die Liste dieser Ausnahmen ist in Anhang I beigefügt.“
7 Anhang I der Richtlinie 94/19 enthielt die in ihrem Art. 7 Abs. 2 vorgesehene Liste der Ausnahmen. Zu den Einlagen, die von der Sicherung ausgenommen werden konnten, gehörten gemäß Anhang I Nr. 7 dieser Richtlinie Einlagen der „Verwaltungsratsmitglieder, der Geschäftsleiter, der persönlich haftenden Gesellschafter, der Personen, die mindestens 5 v. H. des Kapitals des Kreditinstituts halten, der Personen, die mit der gesetzlichen Kontrolle der Rechnungsunterlagen des Kreditinstituts betraut sind, und der Einleger, die vergleichbare Funktionen in anderen Gesellschaften derselben Unternehmensgruppe innehaben“.
8 Des Weiteren sah Anhang I Nr. 8 der Richtlinie 94/19 vor, dass „Einlagen naher Verwandter und Dritter, die für Rechnung der unter Nummer 7 genannten Einleger handeln“, von der Sicherung ausgenommen werden konnten.
Lettisches Recht
9 Die Richtlinie 94/19 wurde durch das Noguldījumu garantiju likums (Einlagensicherungsgesetz) in lettisches Recht umgesetzt. Der Einlagensicherungsfonds setzt sich aus Beiträgen der in Art. 7 dieses Gesetzes genannten Personen zusammen und wird gemäß Art. 1 Abs. 7 dieses Gesetzes von der FKTK verwaltet.
10 Art. 17 Abs. 4 dieses Gesetzes sieht vor, dass der genannte Fonds keine Entschädigung zahlen muss bei „Einlagen durch Aktionäre eines Einlageinstituts, die an diesem eine nicht unwesentliche Beteiligung halten, durch Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsrats oder durch deren Vorsitzenden, durch den Leiter der internen Abteilung für gesetzliche Kontrolle der Rechnungsunterlagen, den Rechnungsprüfer der Gesellschaft und durch andere Mitarbeiter des Einlageinstituts, die mit der Planung, Leitung und Kontrolle seiner Tätigkeit betraut und dafür verantwortlich sind“.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Am 21. November 2011 erließ die FKTK die Entscheidung Nr. 278, mit der die Einstellung der Erbringung von Finanzdienstleistungen durch die Gesellschaft Latvijas Krājbanka (im Folgenden: die Bank) angeordnet wurde. Zu diesem Zeitpunkt bekleidete Herr Surmačs in dieser Bank das Amt des Vizepräsidenten für Fragen des internationalen Rechts und des Finanzrechts. Gemäß der Vorlageentscheidung unterstand Herr Surmačs unmittelbar dem Präsidenten des Verwaltungsrats und gehörte Letzterem selbst an, bevor er Vizepräsident wurde. Dieses Amt hatte er inne, als die Entscheidung der FKTK erging.
12 Die FKTK stellte mit Entscheidung vom 5. Januar 2012 fest, dass Herr Surmačs aufgrund des Postens, den er in der Bank innehabe, nicht als ein Einleger anzusehen sei, der durch die nach dem Einlagensicherungsgesetz vorgesehene Sicherung gedeckt sei. Diese Entscheidung war gestützt auf Art. 17 Abs. 4 dieses Gesetzes, wonach diese Sicherung nicht von einem Mitarbeiter des Einlageinstituts in Anspruch genommen werden kann, der für die Planung, Leitung und Kontrolle der Tätigkeit des Einlageinstituts zuständig ist.
13 Herr Surmačs focht die Entscheidung der FKTK mit der Begründung, dass das Amt, das er in der Bank bekleidet habe, in Wirklichkeit ein reines Ehrenamt ohne jegliche Entscheidungsbefugnisse gewesen sei, vor der Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) an, die jedoch seine Klage mit Urteil vom 24. April 2013 abwies.
14 Gegen das Urteil der Administratīvā apgabaltiesa legte Herr Surmačs Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein und machte im Wesentlichen geltend, dass anhand einer konkreten Beurteilung der mit seinem Amt als Vizepräsident verbundenen Rechte und Pflichten sowie der Verantwortungsbereiche hätte festgestellt werden können, dass er nicht die Befugnis gehabt habe, verbindliche Entscheidungen zu treffen oder Einfluss auf die Tätigkeiten der Bank zu nehmen. Außerdem habe die Administratīvā apgabaltiesa das Einlagensicherungsgesetz angewandt, ohne Art. 7 Abs. 2 und Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 zu berücksichtigen.
15 Die FKTK machte vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass das Amt, das Herr Surmačs zum Zeitpunkt der in Rn. 11 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidung in der Bank bekleidet habe, unter die nach Art. 17 Abs. 4 Einlagensicherungsgesetz vorgesehene Ausnahme falle und dass er als „Geschäftsleiter“ im Sinne von Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 anzusehen sei. Außerdem seien für den Ausschluss von der Sicherung nicht nur die Herrn Surmačs förmlich eingeräumten Befugnisse, sondern auch der informelle Einfluss zu berücksichtigen, den er auf die Tätigkeiten der Bank habe ausüben können.
16 Unter diesen Umständen hat die Augstākā Tiesa (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 so auszulegen, dass die Aufzählung der als mit dem betreffenden Kreditinstitut verbunden anzusehenden Personen, denen das Recht auf die garantierte Entschädigung verweigert werden muss, abschließend ist?
2. Ist eine Person, die gemäß der Beschreibung ihres Amtes das Recht hat, einen Geschäftsbereich des Kreditinstituts oder die Ausübung einer Funktion, jedoch nicht die Tätigkeit des Kreditinstituts in ihrer Gesamtheit, zu planen, zu koordinieren und zu beaufsichtigen, und die nicht über die Möglichkeit verfügt, Anweisungen zu geben oder für andere Personen verbindliche Entscheidungen zu treffen, als Geschäftsleiter des Kreditinstituts oder als eine andere in Anhang I Nr. 7 der Richtlinie genannte Person anzusehen? Ist dabei der Gegenstand dieses Geschäftsbereichs des Kreditinstituts oder der Funktion zu berücksichtigen?
3. Ist Anhang I Nr. 7 der Richtlinie dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Zahlung der garantierten Entschädigung an eine Person verweigern darf, die in Ansehung der Rechte und Pflichten, die in der Beschreibung ihres Amtes aufgeführt sind, nicht als Leiter anzusehen ist, die jedoch über einen erheblichen faktischen Einfluss auf die Entscheidungen der Leiter des Kreditinstituts oder auf die persönlich verantwortlichen Personen dieses Kreditinstituts verfügt? Ist in diesem Zusammenhang auch ein Einfluss von Bedeutung, der lediglich informeller Natur ist und sich von der Autorität, den Kompetenzen oder dem Wissen der Person im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Kreditinstituts ableitet?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
17 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die nach Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 ausgeschlossenen Einlagen dort abschließend aufgeführt sind mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht keine anderen Gruppen von Einlegern vorsehen können, auf die der Ausschluss von der Einlagensicherung zur Anwendung kommt.
18 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 94/19 bestimmte Gruppen von Einlagen oder Einlegern vom Sicherungssystem ausgenommen werden können und derartige Einlagen oder Einleger ausdrücklich genannt werden müssen.
19 Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 94/19 erlaubt den Mitgliedstaaten insoweit, bestimmte Gruppen von Einlegern oder Arten von Einlagen von der Sicherung auszunehmen oder in geringerem Umfang zu sichern, und verweist auf die Liste dieser Ausnahmen in Anhang I dieser Richtlinie. Dem Wortlaut dieser Vorschrift ist jedoch keineswegs zu entnehmen, dass diese Aufzählung nur beispielhaft ist oder dass die Mitgliedstaaten die in Anhang I vorgesehenen Gruppen von Einlagen und Einlegern erweitern können.
20 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission auf S. 18 der Begründung zu ihrem Vorschlag vom 4. Juni 1992 (KOM[92] 188 endg., ABl. C 163, S. 6), der zum Erlass der Richtlinie 94/19 geführt hat, klar darauf hingewiesen hatte, dass die Liste der in Anhang I vorgesehenen Ausnahmen vom Sicherungssystem „erschöpfend [ist], und die Mitgliedstaaten … nur die hier angeführten Institute und Personen von der Einlagensicherung ausschließen [können]“; jeder andere Ausschluss stünde im Widerspruch zu der Richtlinie.
21 Schließlich ergibt sich aus den Erwägungsgründen 1 und 2 der Richtlinie 94/19, dass diese das zweifache Ziel verfolgt, die Sparer im Fall des Nichtverfügbarwerdens der einem Kreditinstitut anvertrauten Einlagen abzusichern und die Stabilität des Bankensystems zu erhöhen.
22 Zu diesem Zweck gibt Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie den Mitgliedstaaten auf, in ihrem Hoheitsgebiet für die Einrichtung eines oder mehrerer Einlagensicherungssysteme zu sorgen. Gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie müssen diese Systeme für jeden Einleger eine Mindestdeckung in Höhe von 50000 Euro gewährleisten.
23 Die Mitgliedstaaten sind in Abweichung von dieser Regel gemäß Art. 7 Abs. 2 und Anhang I der Richtlinie 94/19 berechtigt, bestimmte Einlagen oder Einleger von der Sicherung auszunehmen.
24 Da die in Anhang I der Richtlinie 94/19 vorgesehenen Gruppen eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Art. 3 dieser Richtlinie darstellen, sind sie eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteil Fastweb, C‑19/13, EU:C:2014:2194, Rn. 40).
25 Die Gruppen, auf die sich Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 im Hinblick auf die Bestimmung der von der Sicherung ausgenommenen Einlagen und Einleger bezieht, sind jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, funktionell festzulegen. Deshalb gilt die Ausnahme von der Einlagensicherung für Personen, die Funktionen ausüben, die – unabhängig von deren Bezeichnung – in Anbetracht des nationalen Rechts und der Geschäftspraxis des jeweiligen Mitgliedstaats begrifflich unter Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 fallen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
26 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die nach Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 ausgeschlossenen Einlagen dort abschließend aufgeführt sind mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht für andere Gruppen von Einlegern, die im Hinblick auf die von ihnen ausgeübten Funktionen begrifflich nicht unter Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 fallen, einen Ausschluss von der Einlagensicherung nicht vorsehen können.
Zur zweiten und zur dritten Frage
27 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Personen aufgrund der in dem betreffenden Kreditinstitut ausgeübten Funktion, wie der, die der Kläger des Ausgangsverfahrens ausübte, als Geschäftsleiter oder als eine Person, die einer der anderen in Anhang I Nr. 7 dieser Richtlinie genannten Gruppen angehört, von der nach der Richtlinie vorgesehenen Sicherung ausnehmen können.
28 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil Rosselle, C‑65/14, EU:C:2015:339, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern (Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 50).
29 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts nicht allein anhand des Wortlauts der in Rede stehenden Vorschrift beantwortet werden können. In Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 sind nämlich lediglich die Gruppen von Einlegern aufgeführt, die von der Sicherung ausgenommen werden können, jedoch enthält diese Bestimmung keine zusätzlichen Angaben zu den diese Ausnahmen rechtfertigenden Gründen oder zu den Rollen und Funktionen, die diese Einleger ausüben müssen, um unter den nach dieser Vorschrift vorgesehenen Ausschluss zu fallen. Auch den übrigen Bestimmungen der Richtlinie 94/19 sind keine solchen Erläuterungen zu entnehmen.
30 Ferner ist, was die Ziele der Richtlinie 94/19 angeht, diese Regelung u. a. gemäß ihrem ersten Erwägungsgrund darauf gerichtet, die Sparer in ihren Rechtsbeziehungen zu den Kreditinstituten zu schützen. Da die Sparer nämlich meistens nicht über die erforderlichen Informationen und Kompetenzen verfügen, um die tatsächliche finanzielle Lage des Kreditinstituts, mit dem sie arbeiten, bewerten zu können, sind sie nicht imstande, die Insolvenzrisiken dieser Institute zu beurteilen.
31 Der 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 94/19 sieht hierzu vor, dass die Mitgliedstaaten lediglich Einleger, die „keines besonderen Schutzes bedürfen“, von der Sicherung ausnehmen können.
32 Was schließlich die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 94/19 angeht, ist darauf hinzuweisen, dass es in der Begründung des Vorschlags der Kommission (KOM[92] 188 endg.) zum einen auf S. 2 heißt, dass diese Richtlinie Einleger schützen soll, „die über zu wenige Kenntnisse im Finanzbereich verfügen, um zahlungskräftige Kreditinstitute von weniger solventen zu unterscheiden“, und zum anderen auf S. 18, dass bestimmte, in Anhang I aufgeführte Einleger von der Sicherung ausgeschlossen werden können, die „kaum aufgrund ihrer mangelnden Sachkenntnis oder ihrer wirtschaftlichen Schwäche als besonders schützenswert gelten können“. Dies bezieht sich offensichtlich auf die in Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 genannten Personen.
33 Aus diesen Erwägungen folgt, dass der fakultative Ausschluss der in Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 aufgeführten Einleger auf dem Postulat beruht, dass diese Personen in Bezug auf das Kreditinstitut, dem sie ihre Einlagen anvertrauen, grundsätzlich Kompetenzen und Informationen besitzen, über die die meisten Einleger nicht verfügen. Deshalb ist davon auszugehen, dass Personen, die einer der in Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 aufgeführten Gruppen angehören, gemäß dieser Vorschrift von der Sicherung ausgenommen werden können, da sie aufgrund der Funktion, die sie im Kreditinstitut ausüben, oder aufgrund ihres zu diesem bestehenden Verhältnisses über ein solches Ausmaß an Informationen und Kompetenzen verfügen, dass sie die tatsächliche finanzielle Lage und die mit den Tätigkeiten dieses Instituts verbundenen Risiken kennen und beurteilen können.
34 Diese Feststellung wird durch die Prüfung weiterer Ausnahmen bestätigt, die in Anhang I der Richtlinie 94/19 vorgesehen sind. Einer der Gründe, weshalb der fakultative Ausschluss „naher Verwandter“ und „Dritter, die für Rechnung der unter Nummer 7 genannten Einleger handeln“, gerechtfertigt ist, ist nämlich der, dass diese Personen über dieselben Informationen verfügen können wie sie die in Anhang I Nr. 7 dieser Richtlinie genannten Personen besitzen.
35 Für die Prüfung einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens im Licht dieser Erwägungen ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die einzige Gruppe von Personen im Sinne von Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19, der er angehören könnte, die Gruppe der „Geschäftsleiter“ ist.
36 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass eine Person in der Situation von Herrn Surmačs von der nach der Richtlinie 94/19 vorgesehenen Sicherung ausgeschlossen sein kann, wenn sie aufgrund der als Geschäftsleiter eines Kreditinstituts ausgeübten Funktionen über ein solches Ausmaß an Informationen und Kompetenzen verfügen konnte, dass sie die tatsächliche finanzielle Lage und die mit den Tätigkeiten dieses Instituts verbundenen Risiken kennen und beurteilen konnte.
37 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob in der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Situation der Betroffene über die in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannten Informationen und Kompetenzen verfügte und sich in der in den Rn. 35 und 36 dieses Urteils erwähnten Lage befand. Dabei wird das Gericht alle im Ausgangsverfahren relevanten Umstände zu berücksichtigen haben, insbesondere die Beschreibung des Amtes, das Herr Surmačs bekleidete, die von ihm tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten sowie die rechtlichen und tatsächlichen Beziehungen zwischen ihm und dem Verwaltungsrat der Bank. Die Frage, ob Herr Surmačs für sämtliche Tätigkeiten der Bank oder nur für einen speziellen Geschäftsbereich derselben verantwortlich war, ist in diesem Rahmen nur einer der Gesichtspunkte, die bei dieser Prüfung zu berücksichtigen sind.
38 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten als Geschäftsleiter Personen von der nach dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherung ausnehmen können, die aufgrund der in dem Kreditinstitut ausgeübten Funktion – unabhängig von deren Bezeichnung – über ein solches Ausmaß an Informationen und Kompetenzen verfügen, dass sie die tatsächliche finanzielle Lage und die mit den Tätigkeiten des Kreditinstituts verbundenen Risiken beurteilen können.
Kosten
39 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Die nach Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme in der Fassung der Richtlinie 2009/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009 ausgeschlossenen Einlagen sind dort abschließend aufgeführt mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht für andere Gruppen von Einlegern, die im Hinblick auf die von ihnen ausgeübten Funktionen begrifflich nicht unter Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 fallen, einen Ausschluss von der Einlagensicherung nicht vorsehen können.
2. Anhang I Nr. 7 der Richtlinie 94/19 in der Fassung der Richtlinie 2009/14 ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten als Geschäftsleiter Personen von der nach dieser Richtlinie vorgesehenen Sicherung ausnehmen können, die aufgrund der im Kreditinstitut ausgeübten Funktion – unabhängig von deren Bezeichnung – über ein solches Ausmaß an Informationen und Kompetenzen verfügen, dass sie die tatsächliche finanzielle Lage und die mit den Tätigkeiten des Kreditinstituts verbundenen Risiken beurteilen können.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Lettisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juli 2015.#Minister for Justice and Equality gegen Francis Lanigan.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 – Recht auf Freiheit und Sicherheit – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Verpflichtung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls – Art. 12 – Inhafthaltung der gesuchten Person – Art. 15 – Entscheidung über die Übergabe – Art. 17 – Fristen und Modalitäten der Entscheidung über die Vollstreckung – Folgen der Fristüberschreitung.#Rechtssache C-237/15 PPU.
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62015CJ0237
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ECLI:EU:C:2015:474
| 2015-07-16T00:00:00 |
Cruz Villalón, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0237
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
16. Juli 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Eilvorabentscheidungsverfahren — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 6 — Recht auf Freiheit und Sicherheit — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2002/584/JI — Europäischer Haftbefehl — Verpflichtung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls — Art. 12 — Inhafthaltung der gesuchten Person — Art. 15 — Entscheidung über die Übergabe — Art. 17 — Fristen und Modalitäten der Entscheidung über die Vollstreckung — Folgen der Fristüberschreitung“
In der Rechtssache C‑237/15 PPU
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Irland) mit Entscheidung vom 19. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Mai 2015, in dem Verfahren
Minister for Justice and Equality
gegen
Francis Lanigan
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), A. Ó Caoimh, J.‑C. Bonichot, C. Vajda und S. Rodin, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský, E. Levits und M. Safjan, der Richterin A. Prechal sowie des Richters J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juli 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Lanigan, vertreten durch K. Kelly, BL, M. Forde, SC, und P. O’Donovan, Solicitor,
—
Irlands, vertreten durch E. Creedon als Bevollmächtigte im Beistand von R. Barron, SC, T. McGillicuddy, BL und H. Dockry, Solicitor,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
—
der französischen Regierung, vertreten durch F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigten,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer als Bevollmächtigten,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, Barrister,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 15 und 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).
2 Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines am 17. Dezember 2012 von den Magistrates' Courts in Dungannon (Vereinigtes Königreich) gegen Herrn Lanigan erlassenen Europäischen Haftbefehls in Irland.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
3 Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bestimmt:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
…
f)
rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.
…
(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.
…“
Unionsrecht
4 Die Erwägungsgründe 5 und 7 des Rahmenbeschlusses lauten:
„(5)
Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.
…
(7) Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 [EU] und Artikel 5 [EG] Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus.“
5 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.
(3) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“
6 Die Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses enthalten die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann.
7 Art. 12 („Inhafthaltung der gesuchten Person“) des Rahmenbeschlusses lautet:
„Im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ist jederzeit möglich, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaates die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft.“
8 Nach Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses entscheidet die „vollstreckende Justizbehörde … über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen“.
9 In Art. 17 des Rahmenbeschlusses heißt es:
„(1) Ein Europäischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt.
(2) In den Fällen, in denen die gesuchte Person ihrer Übergabe zustimmt, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen.
(3) In den anderen Fällen sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen.
(4) Kann in Sonderfällen der Europäische Haftbefehl nicht innerhalb der in den Absätzen 2 bzw. 3 vorgesehenen Fristen vollstreckt werden, so setzt die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand und von den jeweiligen Gründen unverzüglich in Kenntnis. In diesem Fall können die Fristen um weitere 30 Tage verlängert werden.
(5) Solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ergangen ist, stellt diese sicher, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind.
…
(7) Kann ein Mitgliedstaat bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen nicht einhalten, so setzt er Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis. Außerdem teilt ein Mitgliedstaat, der wiederholt Verzögerungen bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen durch einen anderen Mitgliedstaat ausgesetzt gewesen ist, diesen Umstand dem Rat mit, damit eine Beurteilung der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses auf Ebene der Mitgliedstaaten erfolgen kann.“
10 Art. 23 des Rahmenbeschlusses sieht vor:
„(1) Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt.
(2) Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.
(3) Ist die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich, setzen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung und vereinbaren ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.
(4) Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.
(5) Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen.“
11 Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses lautet:
„Der Ausstellungsmitgliedstaat rechnet die Dauer der Haft aus der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf die Gesamtdauer des Freiheitsentzugs an, die im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung zu verbüßen wäre.“
Irisches Recht
12 In Section 13(5) des European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003) in geänderter Fassung heißt es:
„Eine aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommene Person ist nach ihrer Festnahme sobald wie möglich dem High Court vorzuführen; ist diese Person zur Überzeugung des High Court diejenige Person, in Bezug auf die der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, hat der High Court
a)
die Person in Untersuchungshaft zu nehmen oder den Haftbefehl gegen Sicherheitsleistung außer Vollzug zu setzen (insoweit verfügt der High Court über die gleichen Befugnisse wie im Fall einer ihm vorgeführten Person, der wegen einer ihr zur Last gelegten Straftat eine Anklage droht),
b)
einen Termin gemäß Section 16 zu bestimmen (d. h. einen Termin spätestens 21 Tage nach dem Datum der Festnahme der Person) …“
13 Section 16(9) und (10) dieses Gesetzes lautet:
„(9)
Hat der High Court nach Ablauf von 60 Tagen seit der Festnahme der betreffenden Person gemäß Section 13 oder 14 keinen Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2) oder gemäß Section 15 Subsection (1) oder (2) gefasst oder entschieden, keinen Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2) zu fassen, weist er die Zentralbehörde des Staates an, die ausstellende Justizbehörde und gegebenenfalls Eurojust hiervon und von den hierfür in der Weisung genannten Gründen in Kenntnis zu setzen; die Zentralbehörde des Staates folgt dieser Weisung.
(10) Hat der High Court nach Ablauf von 90 Tagen seit der Festnahme der betreffenden Person gemäß Section 13 oder 14 keinen Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2) oder gemäß Section 15 Subsection (1) oder (2) gefasst oder entschieden, keinen Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2) zu fassen, weist er die Zentralbehörde des Staates an, die ausstellende Justizbehörde sowie gegebenenfalls Eurojust hiervon und von dem hierfür in der Weisung genannten Grund in Kenntnis zu setzen; die Zentralbehörde des Staates folgt dieser Weisung.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Am 17. Dezember 2012 erließen die Magistrates' Courts in Dungannon gegen Herrn Lanigan einen Europäischen Haftbefehl im Rahmen strafrechtlicher Verfolgung wegen Taten, die er am 31. Mai 1998 im Vereinigten Königreich begangen haben soll und die als Mord und Besitz einer Schusswaffe in lebensgefährdender Absicht einzustufen sein sollen.
15 Der Europäische Haftbefehl wurde vom High Court am 7. Januar 2013 gebilligt, um die Verhaftung von Herrn Lanigan durch die An Garda Síochána (irische Polizeibehörde) zu ermöglichen.
16 Am 16. Januar 2013 wurde Herr Lanigan aufgrund des Europäischen Haftbefehls festgenommen und dem High Court vorgeführt. Er teilte dem High Court mit, dass er seiner Übergabe an die Justizbehörden des Vereinigten Königreichs nicht zustimme, und wurde bis zu einer Entscheidung über seine Übergabe an diese Behörden in Haft genommen.
17 Die Prüfung der Lage von Herrn Lanigan durch den High Court begann am 30. Juni 2014, nachdem es insbesondere aufgrund von verfahrenstechnischen Umständen, die in der Vorlageentscheidung beschrieben werden, zu einer Reihe von Verzögerungen gekommen war. Herr Lanigan machte sodann neue Argumente geltend, die seines Erachtens seiner Übergabe an die Behörden des Vereinigten Königreichs entgegenstehen. Zur Prüfung der Begründetheit dieser Argumente bedurfte es u. a. eines an diese Behörden gerichteten Ersuchens um ergänzende Informationen zwecks Klärung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens von Herrn Lanigan, dass seine Übergabe an die betreffenden Behörden sein Leben gefährden würde.
18 Nachdem die angeforderten Informationen am 8. Dezember 2014 eingegangen waren, beantragte Herr Lanigan am 15. Dezember 2014, ihn gegen Sicherheitsleistung freizulassen. Der High Court gab diesem Antrag statt und gestattete deshalb unter bestimmten Bedingungen die Freilassung von Herrn Lanigan gegen Sicherheitsleistung. Da diese Bedingungen jedoch nicht erfüllt wurden, blieb Herr Lanigan in Haft.
19 In der Sitzung vom 15. Dezember 2014 vor dem High Court machte Herr Lanigan ferner geltend, dass das Übergabeersuchen wegen Überschreitung der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen abzulehnen sei.
20 Unter diesen Umständen hat der High Court beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Welche Folgen hat die Nichteinhaltung der Fristen nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses in Verbindung mit den Regelungen in Art. 15 des Rahmenbeschlusses?
2. Begründet die Nichteinhaltung der Fristen nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses im Fall einer Person, die bis zu einer Entscheidung über ihre Übergabe für einen diese Fristen überschreitenden Zeitraum in Haft genommen wurde, Rechte dieser Person?
Zum Eilverfahren
21 Der High Court hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen.
22 Das vorlegende Gericht hat diesen Antrag damit begründet, dass sich Herr Lanigan seit dem 16. Januar 2013 zur Vollstreckung des gegen ihn ergangenen Europäischen Haftbefehls in Haft befinde.
23 Dazu ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen auf die Auslegung des Rahmenbeschlusses bezieht, der zu dem von Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags, der den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betrifft, erfassten Bereich gehört. Es kann daher einem Eilvorabentscheidungsverfahren unterworfen werden.
24 Zweitens ist festzustellen, dass Herr Lanigan derzeit seiner Freiheit beraubt ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt.
25 Unter diesen Umständen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 28. Mai 2015 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben und die Rechtssache an den Gerichtshof zu verweisen, damit er sie der Großen Kammer zuweist.
Zu den Vorlagefragen
26 Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 12, 15 Abs. 1 und 17 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass sie die vollstreckende Justizbehörde daran hindern, nach Ablauf der in Art. 17 festgelegten Fristen zum einen die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu treffen und zum anderen die gesuchte Person in Haft zu behalten, obwohl die gesamte Haftdauer dieser Person die betreffenden Fristen überschreitet.
27 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss, wie sich insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie seinen Erwägungsgründen 5 und 7 ergibt, das multilaterale System der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten durch ein System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung strafrechtlicher Urteile oder zur Strafverfolgung auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ersetzen soll (Urteile Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 36, und F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 34).
28 Der Rahmenbeschluss zielt somit darauf ab, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (Urteile Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 37, und F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 35).
29 Dieses Ziel, die justizielle Zusammenarbeit zu beschleunigen, liegt mehreren Aspekten des Rahmenbeschlusses zugrunde und insbesondere der Behandlung der Fristen für den Erlass von Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl (Urteil F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 58).
30 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses generell vorsieht, dass die vollstreckende Justizbehörde über die Übergabe der betreffenden Person „nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen“ entscheidet.
31 Speziell in Bezug auf den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bestimmt Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, dass der Europäische Haftbefehl „als Eilsache erledigt und vollstreckt“ wird. In Art. 17 Abs. 2 und 3 werden genaue Fristen für die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Haftbefehls festgelegt, und Art. 17 Abs. 4 ermöglicht die Verlängerung dieser Fristen, innerhalb deren die Entscheidung erfolgen sollte.
32 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Art. 15 und 17 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls grundsätzlich innerhalb dieser Fristen erfolgen muss, deren Bedeutung im Übrigen in mehreren Bestimmungen des Rahmenbeschlusses zum Ausdruck kommt (vgl. in diesem Sinne Urteil F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 62 und 64).
33 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat die in Art. 17 vorgesehenen Fristen einhalten muss. Zur Beantwortung der gestellten Fragen ist deshalb zu klären, ob der Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls und die Inhafthaltung der gesuchten Person auf der Grundlage dieses Haftbefehls weiterhin möglich sind, wenn dieser Staat seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, innerhalb der vorgeschriebenen Fristen eine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Haftbefehls zu treffen.
Zum Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls
34 Zwar sieht Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eindeutig vor, dass die vollstreckende Justizbehörde innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen über die Übergabe der betreffenden Person entscheidet, doch reicht der Wortlaut dieser Bestimmung nicht aus, um zu klären, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Ablauf dieser Fristen fortzusetzen ist und ob insbesondere die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen zu erlassen.
35 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile Maatschap L.A. en D.A.B. Langestraat en P. Langestraat-Troost, C‑11/12, EU:C:2012:808, Rn. 27, und Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Zum Zusammenhang, in dem Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses steht, geht aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit bildet, nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses bedeutet, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten. Sie können seine Vollstreckung nämlich nur in den Fällen der Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses ablehnen und nur an die in Art. 5 des Rahmenbeschlusses aufgeführten Bedingungen knüpfen (vgl. in diesem Sinne Urteile West, C‑192/12 PPU, EU:C:2012:404, Rn. 55, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 38, und F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 36).
37 Angesichts der zentralen Rolle der Verpflichtung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls in dem durch den Rahmenbeschluss geschaffenen System und des Fehlens jeder ausdrücklichen Beschränkung der zeitlichen Geltungsdauer dieser Verpflichtung im Rahmenbeschluss kann daher die in dessen Art. 15 Abs. 1 aufgestellte Regel nicht dahin ausgelegt werden, dass sie impliziert, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht mehr erlassen kann oder dass der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht mehr verpflichtet wäre, das Verfahren zur Vollstreckung des Haftbefehls fortzusetzen.
38 Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass sich der Unionsgesetzgeber in Art. 17 Abs. 7 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich mit dem Fall befasst hat, dass ein Mitgliedstaat die in diesem Artikel festgelegten Fristen nicht einhalten kann, ohne vorzusehen, dass die vollstreckende Justizbehörde dann die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht mehr erlassen kann oder dass die Verpflichtung, das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls fortzusetzen, in diesem Fall hinfällig würde. In Art. 17 Abs. 7 des Rahmenbeschlusses ist im Übrigen vom Eintritt einer oder wiederholter „Verzögerungen bei der Vollstreckung“ die Rede; dies zeigt, dass der Unionsgesetzgeber der Auffassung war, dass in einem Fall, in dem die betreffenden Fristen nicht eingehalten wurden, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls aufgeschoben und nicht aufgegeben wird.
39 Überdies stünde eine gegenteilige Auslegung von Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses im Widerspruch zu dessen Art. 17 Abs. 5. Darin heißt es nämlich, dass die vollstreckende Justizbehörde sicherstellen muss, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der gesuchten Person weiterhin gegeben sind, bis eine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist, ohne die Geltungsdauer dieser Verpflichtung zu begrenzen und insbesondere ohne vorzusehen, dass sie nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen endet. Ihr Fortbestand in diesem Fall hat aber nur Sinn, wenn die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Ablauf dieser Fristen zu erlassen.
40 Außerdem wäre eine Auslegung von Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, nach der die vollstreckende Justizbehörde die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Ablauf der genannten Fristen nicht mehr erlassen dürfte, geeignet, das mit dem Rahmenbeschluss verfolgte Ziel einer Beschleunigung und Vereinfachung der justiziellen Zusammenarbeit zu beeinträchtigen, da sie insbesondere den Ausstellungsmitgliedstaat zwingen könnte, einen zweiten Europäischen Haftbefehl zu erlassen, um ein neues Übergabeverfahren innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen zu ermöglichen.
41 Die Auslegung der Art. 15 und 17 des Rahmenbeschlusses, wonach die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auch noch nach Ablauf der in Art. 17 festgelegten Fristen ergehen kann, trägt somit, indem sie verhindert, dass die Wirkung der Europäischen Haftbefehle geschwächt wird und eine Verzögerung bei ihrer Vollstreckung zu komplexeren Verfahren führt, nur dazu bei, die Übergabe gesuchter Personen im Einklang mit dem in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgestellten und die mit ihm eingeführte Grundregel darstellenden Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern (vgl. entsprechend Urteile Wolzenburg, C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 59, und West, C‑192/12 PPU, EU:C:2012:404, Rn. 62). Außerdem würde eine gegenteilige Auslegung der Art. 15 und 17 des Rahmenbeschlusses hinhaltende Praktiken zur Verhinderung der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle begünstigen.
42 Aus alledem folgt, dass der bloße Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen den Vollstreckungsmitgliedstaat nicht seiner Verpflichtung entheben kann, das Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls fortzuführen und die Entscheidung über seine Vollstreckung zu erlassen.
Zur Inhafthaltung der gesuchten Person
43 Nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, ob eine aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommene Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Weiter heißt es darin, dass eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der Rechtsvorschriften dieses Staates jederzeit möglich ist, sofern die zuständige Behörde dieses Staates die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht dieser Person trifft.
44 Dieser Artikel sieht nicht allgemein vor, dass die Inhafthaltung der gesuchten Person nur innerhalb ganz bestimmter zeitlicher Grenzen möglich ist, und insbesondere nicht, dass sie nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen ausgeschlossen ist.
45 Desgleichen ist zwar nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses unter bestimmten Bedingungen eine vorläufige Haftentlassung der aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person möglich, doch sieht er nicht vor, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen zu einer solchen bedingten oder gar uneingeschränkten Haftentlassung dieser Person verpflichtet ist.
46 Insoweit ist hervorzuheben, dass auch keine andere Bestimmung des Rahmenbeschlusses derartige Verpflichtungen vorsieht.
47 Insbesondere stellt Art. 17 des Rahmenbeschlusses – im Gegensatz zu dessen Art. 23 Abs. 5, wonach eine gesuchte Person freigelassen wird, wenn sie sich nach Ablauf der Fristen für ihre Übergabe im Anschluss an den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls immer noch in Haft befindet – keinen Zusammenhang zwischen der Haftentlassung der betreffenden Person und dem Ablauf der Fristen für den Erlass der genannten Entscheidung her.
48 Insoweit sieht Art. 17 des Rahmenbeschlusses in seinen Abs. 2 und 3 vor, dass die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb der dort genannten Fristen „erfolgen sollte“, und in Abs. 4, dass diese Fristen „verlängert werden“ können, während Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses nachdrücklicher bestimmt, dass die gesuchte Person „freigelassen wird“, wenn sie sich nach Ablauf der in diesem Artikel aufgestellten Fristen immer noch in Haft befindet.
49 Hinsichtlich dieses Unterschieds zwischen den jeweiligen vom Unionsgesetzgeber vorgesehenen Folgen des Ablaufs der in den Art. 17 und 23 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass im Vorschlag der Kommission, der zum Erlass des Rahmenbeschlusses führte (KOM[2001] 522 endg.), im Gegensatz dazu vorgesehen war, dass die gesuchte Person sowohl nach Ablauf der Fristen für den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls als auch nach Ablauf der Fristen für die Übergabe zwingend aus der Haft entlassen werden muss.
50 Überdies könnte, da sich aus den Erwägungen in den Rn. 34 bis 42 des vorliegenden Urteils ergibt, dass das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auch nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen fortgesetzt werden muss, eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur vorläufigen oder gar uneingeschränkten Haftentlassung der gesuchten Person nach Ablauf dieser Fristen oder bei einer sie überschreitenden Gesamthaftdauer dieser Person die Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss geschaffenen Systems beeinträchtigen und damit die Verwirklichung der mit ihm verfolgten Ziele behindern.
51 Schließlich ist festzustellen, dass der Ausstellungsmitgliedstaat nach Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses die Dauer der Haft aus der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf die Gesamtdauer einer dort zu verbüßenden Freiheitsstrafe anrechnet, so dass sichergestellt ist, dass der gesamte Zeitraum der Inhaftierung einschließlich einer etwaigen Inhafthaltung nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen im Fall der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Ausstellungsmitgliedstaat gebührend berücksichtigt wird.
52 Folglich ist Art. 12 des Rahmenbeschlusses in Verbindung mit dessen Art. 17 dahin auszulegen, dass er die vollstreckende Justizbehörde grundsätzlich nicht daran hindert, die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats auch nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen in Haft zu halten, selbst wenn ihre gesamte Haftdauer diese Fristen überschreitet.
53 In Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten, wie sie in Art. 6 EU niedergelegt sind und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zum Ausdruck kommen. Diese Pflicht gilt zudem für alle Mitgliedstaaten und insbesondere sowohl für den Ausstellungsmitgliedstaat als auch für den Vollstreckungsmitgliedstaat (vgl. in diesem Sinne Urteil F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 40 und 41).
54 Art. 12 des Rahmenbeschlusses muss daher im Einklang mit Art. 6 der Charta ausgelegt werden, wonach jeder Mensch das Recht auf Freiheit und Sicherheit hat.
55 Insoweit lässt Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung von Rechten wie denjenigen zu, die in ihrem Art. 6 verankert sind, sofern die Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der betreffenden Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 50).
56 Außerdem geht aus Art. 52 Abs. 3 der Charta hervor, dass die darin enthaltenen Rechte, soweit sie den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen dort verliehen wird. In Art. 53 der Charta wird hinzugefügt, dass keine ihrer Bestimmungen als eine Einschränkung oder Verletzung u. a. der durch die EMRK anerkannten Rechte auszulegen ist (Urteil Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 51).
57 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu dem die Auslieferungsverfahren betreffenden Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK rechtfertigt nur die Durchführung eines solchen Verfahrens eine auf diesem Artikel beruhende Freiheitsentziehung, so dass die Inhaftierung nicht mehr gerechtfertigt ist, wenn das Verfahren nicht mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt wird (vgl. u. a. Urteile des EGMR Quinn/Frankreich, 22. März 1995, Serie A, Nr. 311, § 48, sowie Gallardo Sanchez/Italien, Nr. 11620/07, § 40, EGMR-2015).
58 Da die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls als solche keine Inhaftierung der gesuchten Person während eines Zeitraums, dessen Gesamtdauer die für die Vollstreckung dieses Haftbefehls nötige Zeit überschreitet, zu rechtfertigen vermag, steht eine Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde, diese Person in Haft zu halten, nur dann im Einklang mit Art. 6 der Charta, wenn das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt wurde und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt.
59 Um sich zu vergewissern, dass dies der Fall ist, muss die vollstreckende Justizbehörde eine konkrete Prüfung der in Rede stehenden Sachlage vornehmen und dabei alle zur Beurteilung der Frage, ob die Verfahrensdauer gerechtfertigt ist, relevanten Gesichtspunkte heranziehen, u. a. die etwaige Passivität der Behörden der betreffenden Mitgliedstaaten und gegebenenfalls den Beitrag der gesuchten Person zur Verfahrensdauer. Ferner ist zu berücksichtigen, welche Strafe der gesuchten Person in Bezug auf den Sachverhalt, der die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls gegen sie rechtfertigte, droht oder gegen sie verhängt wurde und ob Fluchtgefahr besteht.
60 In diesem Zusammenhang ist auch der Umstand relevant, dass die gesuchte Person während eines Zeitraums in Haft gehalten wurde, dessen Gesamtdauer die in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen bei Weitem überschreitet, da diese Fristen grundsätzlich, im Hinblick insbesondere auf die wesentliche Rolle des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in dem durch den Rahmenbeschluss geschaffenen System, für die Vornahme der vor der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nötigen Kontrollen und den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ausreichen.
61 Kommt die vollstreckende Justizbehörde am Ende der in den Rn. 58 bis 60 des vorliegenden Urteils angesprochenen Kontrolle zu dem Ergebnis, dass sie verpflichtet ist, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, muss sie jedenfalls nach den Art. 12 und 17 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses die vorläufige Freilassung dieser Person mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist.
62 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen erstens zu antworten, dass die Art. 15 Abs. 1 und 17 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde auch nach Ablauf der in Art. 17 festgelegten Fristen zum Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verpflichtet bleibt.
63 Zweitens ist Art. 12 des Rahmenbeschlusses in Verbindung mit dessen Art. 17 im Licht von Art. 6 der Charta dahin auszulegen, dass er in einem solchen Fall der Inhafthaltung der gesuchten Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht entgegensteht, auch wenn die gesamte Haftdauer dieser Person die betreffenden Fristen überschreitet, sofern sie nicht in Anbetracht der Merkmale des Verfahrens, das in dem Fall, um den es im Ausgangsverfahren geht, angewandt wurde, übermäßig lang ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, muss sie deren vorläufige Freilassung mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist.
Kosten
64 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 15 Abs. 1 und 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde auch nach Ablauf der in Art. 17 festgelegten Fristen zum Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verpflichtet bleibt.
Art. 12 des Rahmenbeschlusses ist in Verbindung mit dessen Art. 17 im Licht von Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er in einem solchen Fall der Inhafthaltung der gesuchten Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht entgegensteht, auch wenn die gesamte Haftdauer dieser Person die betreffenden Fristen überschreitet, sofern sie nicht in Anbetracht der Merkmale des Verfahrens, das in dem Fall, um den es im Ausgangsverfahren geht, angewandt wurde, übermäßig lang ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, muss sie deren vorläufige Freilassung mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 24. Juni 2015.#Hotel Sava Rogaška, Gostinstvo, turizem in storitve, d.o.o. gegen Republika Slovenija.#Vorabentscheidungsersuchen des Vrhovno sodišče Republike Slovenije.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Natürliche Mineralwässer – Richtlinie 2009/54/EG – Art. 8 Abs. 2 – Anhang I – Verbot, ein ‚natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt‘, unter mehreren gewerblichen Kennzeichen in den Handel zu bringen – Begriff.#Rechtssache C-207/14.
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62014CJ0207
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ECLI:EU:C:2015:414
| 2015-06-24T00:00:00 |
Gerichtshof, Jääskinen
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0207
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
24. Juni 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Rechtsangleichung — Natürliche Mineralwässer — Richtlinie 2009/54/EG — Art. 8 Abs. 2 — Anhang I — Verbot, ein ‚natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt‘, unter mehreren gewerblichen Kennzeichen in den Handel zu bringen — Begriff“
In der Rechtssache C‑207/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vrhovno sodišče (Slowenien) mit Entscheidung vom 16. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 25. April 2014, in dem Verfahren
Hotel Sava Rogaška, gostinstvo, turizem in storitve, d.o.o.
gegen
Republika Slovenija
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Vizepräsidenten K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter A. Ó Caoimh, E. Jarašiūnas (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. März 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Hotel Sava Rogaška, gostinstvo, turizem in storitve, d.o.o., vertreten durch I. Dobravc Tatalovič und M. Kač, odvetnika,
—
der slowenischen Regierung, vertreten durch A. Vran und N. Pintar Gosenca als Bevollmächtigte,
—
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und S. Šindelková als Bevollmächtigte,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch I. Chalkias, E. Leftheriotou und A.‑E. Vasilopoulou als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, E. Manhaeve und M. Žebre als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. April 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern (ABl. L 164, S. 45).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hotel Sava Rogaška, gostinstvo, turizem in storitve, d.o.o. (im Folgenden: HSR) und der Republika Slovenija (Republik Slowenien), vertreten durch das Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt (im Folgenden: Ministerium), über dessen Weigerung, ein gewerbliches Kennzeichen anzuerkennen, das HSR für ein natürliches Mineralwasser verwenden möchte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2009/54
3 In den Erwägungsgründen 5, 7 und 9 der Richtlinie 2009/54 heißt es:
„(5)
Alle Regelungen über natürliche Mineralwässer sollten in erster Linie die Gesundheit der Verbraucher schützen, die Irreführung der Verbraucher verhindern und einen fairen Handel sicherstellen.
…
(7) Es sollte sichergestellt werden, dass natürliche Mineralwässer auf der Handelsstufe weiterhin die charakteristischen Eigenschaften besitzen, die ihre Anerkennung als natürliche Mineralwässer gerechtfertigt haben …
…
(9) Die Aufnahme der Angaben über die analytische Zusammensetzung eines natürlichen Mineralwassers auf das Etikett sollte verbindlich vorgeschrieben sein, um die Information der Verbraucher zu gewährleisten.“
4 Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Diese Richtlinie betrifft die aus dem Boden eines Mitgliedstaats gewonnenen und von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats als natürliche Mineralwässer nach Anhang I Abschnitt I anerkannten Wässer.“
5 Art. 4 dieser Richtlinie zählt die Behandlungen auf, denen ein natürliches Mineralwasser, so wie es aus der Quelle austritt, unterzogen werden darf. So ist in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c vorgesehen, dass die dort als zulässig genannten Behandlungen nur durchgeführt werden dürfen „insofern als die Zusammensetzung des Wassers durch diese Behandlung nicht in seinen wesentlichen, seine Eigenschaften bestimmenden Bestandteilen geändert wird“.
6 Art. 6 der Richtlinie 2009/54 verlangt, dass die zur Abfüllung natürlicher Mineralwässer verwendeten Behältnisse mit einem Verschluss versehen sind, mit dem jede Möglichkeit einer Verfälschung oder Verunreinigung vermieden wird.
7 In Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie heißt es:
„Für die Etikettierung natürlicher Mineralwässer sind … folgende Angaben verbindlich vorgeschrieben:
a)
Angabe der analytischen Zusammensetzung unter Nennung der charakteristischen Bestandteile;
b)
Angabe des Orts der Gewinnung und des Namens der Quelle;
…“
8 Art. 8 der Richtlinie 2009/54 lautet:
„(1) Der Name einer Gemeinde, eines Weilers oder einer sonstigen Ortsbezeichnung darf bei einem gewerblichen Kennzeichen unter der Voraussetzung verwendet werden, dass das natürliche Mineralwasser, auf das er sich bezieht, aus einer Quelle an dem durch dieses gewerbliche Kennzeichen angegebenen Ort gewonnen wird und dass die Verwendung dieses Namens nicht zu Missverständnissen über den Ort der Nutzung der Quelle führt.
(2) Ein natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt, darf nicht unter mehreren gewerblichen Kennzeichen in den Handel gebracht werden.
(3) Enthalten die Etiketten oder Aufschriften, die auf den Behältnissen angebracht sind, in denen natürliche Mineralwässer zum Verkauf angeboten werden, die Angabe eines anderen gewerblichen Kennzeichens als des Namens der Quelle oder des Ortes ihrer Nutzung, so muss die Angabe dieses Ortes der Nutzung oder der Name der Quelle in Buchstaben angebracht sein, die mindestens eineinhalbmal so hoch und breit sind wie der größte Buchstabe, der für die Angabe dieses gewerblichen Kennzeichens benutzt wird.
Unterabsatz 1 ist sinngemäß im Hinblick auf die Bedeutung anwendbar, die dem Namen der Quelle oder dem Ort ihrer Nutzung im Verhältnis zu der Angabe des gewerblichen Kennzeichens bei der die natürlichen Mineralwässer betreffenden Werbung jeglicher Art gegeben wird.“
9 Art. 12 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/54 sieht vor, dass die Europäische Kommission die Grenzwerte für die Gehalte an Bestandteilen natürlicher Mineralwässer bzw. alle erforderlichen Bestimmungen für die Angabe hoher Gehalte an bestimmten Bestandteilen auf dem Etikett festlegt.
10 Anhang I dieser Richtlinie enthält in Abschnitt I („Definition“) folgende Nummern:
„1.
‚Natürliches Mineralwasser‘ ist ein im Sinne des Artikels 5 mikrobiologisch einwandfreies Wasser, das seinen Ursprung in einem unterirdischen Quellvorkommen hat und aus einer oder mehreren natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen gewonnen wird.
Natürliches Mineralwasser unterscheidet sich von gewöhnlichem Trinkwasser deutlich durch:
a)
seine Eigenart, die durch seinen Gehalt an Mineralien, Spurenelementen oder sonstigen Bestandteilen und gegebenenfalls durch bestimmte Wirkungen gekennzeichnet ist,
b)
seine ursprüngliche Reinheit,
wobei beide Merkmale aufgrund der unterirdischen Herkunft des Wassers … unverändert erhalten sind.
2. Die unter Nummer 1 genannten Merkmale, die natürlichem Mineralwasser gesundheitsdienliche Eigenschaften verleihen können, müssen überprüft worden sein:
a)
unter
i)
geologischen und hydrologischen,
ii)
physikalischen, chemischen und physikalisch-chemischen,
iii)
mikrobiologischen,
iv)
erforderlichenfalls pharmakologischen, physiologischen und klinischen Gesichtspunkten;
b)
nach den in Abschnitt II aufgeführten Kriterien;
…
3. Die Zusammensetzung, die Temperatur und die übrigen wesentlichen Merkmale des natürlichen Mineralwassers müssen im Rahmen natürlicher Schwankungen konstant bleiben; insbesondere dürfen sie sich durch eventuelle Schwankungen in der Schüttung nicht verändern.
…“
11 Abschnitt II („Anweisungen und Kriterien für die Anwendung der Definition“) dieses Anhangs führt die Anweisungen und Kriterien für die geologischen und hydrologischen, physikalischen, chemischen und physikalisch-chemischen, mikrobiologischen sowie klinischen und pharmakologischen Untersuchungen auf, die nach Abschnitt I Nr. 2 Buchst. b dieses Anhangs für die Überprüfung der in Abschnitt I Nr. 1 genannten Merkmale des natürlichen Mineralwassers durchgeführt werden müssen.
12 Anhang II („Bedingungen für die Nutzung der Quellen und den Handel mit natürlichem Mineralwasser“) der Richtlinie 2009/54 bestimmt in Nr. 2, dass „[d]ie zur Nutzung [eines natürlichen Mineralwassers] bestimmten Einrichtungen … so beschaffen sein [müssen], dass … die Eigenschaften erhalten bleiben, die das Wasser am Quellaustritt besitzt und die seinen Charakter als natürliches Mineralwasser begründen“.
Richtlinie 2000/60/EG
13 Art. 1 der Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (ABl. L 327, S. 1) bestimmt:
„Ziel dieser Richtlinie ist die Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Schutz der Binnenoberflächengewässer, der Übergangsgewässer, der Küstengewässer und des Grundwassers zwecks
a)
Vermeidung einer weiteren Verschlechterung sowie Schutz und Verbesserung des Zustands der aquatischen Ökosysteme … Landökosysteme und Feuchtgebiete …,
b)
Förderung einer nachhaltigen Wassernutzung auf der Grundlage eines langfristigen Schutzes der vorhandenen Ressourcen,
c)
Anstrebens eines stärkeren Schutzes und einer Verbesserung der aquatischen Umwelt …,
d)
Sicherstellung einer schrittweisen Reduzierung der Verschmutzung des Grundwassers und Verhinderung seiner weiteren Verschmutzung, und
e)
Beitrag zur Minderung der Auswirkungen von Überschwemmungen und Dürren,
womit beigetragen werden soll
—
zu einer ausreichenden Versorgung mit Oberflächen- und Grundwasser guter Qualität, wie es für eine nachhaltige, ausgewogene und gerechte Wassernutzung erforderlich ist;
—
zu einer wesentlichen Reduzierung der Grundwasserverschmutzung;
—
zum Schutz der Hoheitsgewässer und der Meeresgewässer;
—
zur Verwirklichung der Ziele der einschlägigen internationalen Übereinkommen einschließlich derjenigen, die auf die Vermeidung und Beseitigung der Verschmutzung der Meeresumwelt abzielen …“
14 In Art. 2 der Richtlinie 2000/60 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
…
11. ‚Grundwasserleiter‘: eine unter der Oberfläche liegende Schicht oder Schichten von Felsen oder anderen geologischen Formationen mit hinreichender Porosität und Permeabilität, so dass entweder ein nennenswerter Grundwasserstrom oder die Entnahme erheblicher Grundwassermengen möglich ist;
12. ‚Grundwasserkörper‘: ein abgegrenztes Grundwasservolumen innerhalb eines oder mehrerer Grundwasserleiter;
…“
Slowenisches Recht
15 Die Richtlinie 80/777/EWG des Rates vom 15. Juli 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern (ABl. L 229, S. 1, und Berichtigung ABl. 1981, L 47, S. 43) in geänderter Fassung, nunmehr ersetzt durch die Richtlinie 2009/54, wurde u. a. durch die Verordnung über natürliches Mineralwasser, Quellwasser und Tafelwasser (Pravilnik o naravni mineralni vodi, izvirski vodi in namizni vodi, Uradni list RS, Nrn. 50/04, 75/05, 45/08, im Folgenden: Verordnung) in slowenisches Recht umgesetzt.
16 Mineralwasser ist nach Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung Wasser, das neben bestimmten mikrobiologischen Anforderungen die Bedingung erfüllt, dass es seinen Ursprung in einem unterirdischen Quellvorkommen hat, das vor jedweder Verunreinigungsmöglichkeit geschützt ist und aus einer oder mehreren natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen gewonnen wird. Art. 12 Abs. 4 dieser Verordnung sieht vor, dass natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt, im Handel nur ein gewerbliches Kennzeichen tragen darf.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17 Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass HSR am 18. Juli 2011 beim Ministerium beantragte, in Slowenien das gewerbliche Kennzeichen „ROI Roitschocrene“ für das aus der Bohrstelle RgS-2/88 gewonnene natürliche Mineralwasser anzuerkennen.
18 Mit Bescheid vom 26. Februar 2012 wies das Ministerium diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass ein natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stamme, gemäß Art. 12 Abs. 4 der Verordnung und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 nur unter einem einzigen gewerblichen Kennzeichen in den Handel gebracht werden dürfe und dass ein natürliches Mineralwasser, das aus demselben Grundwasserleiter wie das fragliche Wasser, aber aus einer anderen Bohrstelle mit der Bezeichnung V‑3/66‑70 gewonnen werde, mit Entscheidung vom 3. Juli 2001 bereits als natürliches Mineralwasser unter dem gewerblichen Kennzeichen „Donat Mg“ anerkannt und als solches in den Handel gebracht worden sei.
19 HSR erhob beim Upravno sodišče Republike Slovenije (Verwaltungsgericht der Republik Slowenien) Klage auf Aufhebung des Bescheids vom 26. Februar 2012 und trug vor, dass aus der Bohrstelle RgS‑2/88 nicht dasselbe Wasser wie aus der Bohrstelle V‑3/66-70 gewonnen werde und dass die Begriffe „Quelle“ und „Grundwasserleiter“ zu unterscheiden seien. Gegen die Abweisung der Klage legte HSR beim vorlegenden Gericht Revision ein und machte u. a. geltend, dass der Upravno sodišče Republike Slovenije den Begriff „Quelle“ in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 falsch ausgelegt habe.
20 Nach dem Hinweis darauf, dass er an die im ersten Rechtszug festgestellten Tatsachen gebunden sei, führt der Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof) aus, dass aus diesen zunächst hervorgehe, dass die Bohrstellen V‑3/66-70 und RgS‑2/88 ein und dasselbe unterirdische Quellvorkommen teilten, und erklärt hierzu, dass der Begriff „gemeinsames unterirdisches Quellvorkommen“ so verstanden werde, dass damit ein „Wasserkörper des gleichen Grundwasserleiters“ gemeint sei. Das Ministerium habe mit Bescheid vom 3. Juli 2001 das aus den Bohrstellen RgS‑2/88 und V‑3/66-70 gewonnenen Wasser als natürliches Mineralwasser unter dem gewerblichen Kennzeichen „Donat Mg“ anerkannt, obwohl die durch diesen Bescheid begünstigte Gesellschaft, die Droga Kolinska d.d., über keine Konzession zur Nutzung des aus der Bohrstelle RgS‑2/88 gewonnenen Wassers verfüge – diese Konzession gehöre gemäß einem späteren Bescheid vom 14. Februar 2008 HSR – und die Droga Kolinska d.d. daher dieses Wasser nicht unter dem gewerblichen Kennzeichen „Donat Mg“ in den Handel bringen dürfe. Schließlich sei das natürliche Mineralwasser Donat Mg im Register der in Slowenien anerkannten natürlichen Mineralwässer sowie in der Liste der von den Mitgliedstaaten anerkannten natürlichen Mineralwässer (ABl. 2013, C 95, S. 38) eingetragen, wobei als Quelle die Quelle Donat angegeben sei.
21 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es keine einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt, und fragt sich daher, wie der Ausdruck „natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt“, in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 auszulegen ist. In der Richtlinie werde der dort mehrfach verwendete Begriff „Quelle“ nicht definiert. In Anbetracht der Divergenzen, die zwischen den verschiedenen Sprachfassungen der Definition von natürlichem Mineralwasser in Anhang I Abschnitt I Nr. 1 dieser Richtlinie bestünden, seien mehrere Auslegungen des betreffenden Ausdrucks möglich. Wenn es das vorrangige Ziel sei, eine Irreführung des Verbrauchers zu verhindern, müsse der Begriff „aus ein und derselben Quelle“ als „aus derselben Bohrstelle“ verstanden werden, da nur das aus ein und derselben Bohrstelle gewonnene Wasser dieselbe chemische und mikrobiologische Zusammensetzung aufweisen könne. Jedoch sei auch eine Auslegung in dem weiteren Sinne möglich, dass es sich um Wasser handele, das an mehreren Austrittstellen gewonnen werde, aber einen gemeinsamen Grundwasserleiter im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Richtlinie 2000/60 habe, oder sogar um Wasser, das zum selben Grundwasserkörper im Sinne von Nr. 12 dieser Vorschrift gehöre.
22 Unter diesen Umständen hat der Vrhovno sodišče beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 dahin auszulegen, dass als „natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt“, folgendes Wasser gilt:
a)
Wasser aus der jeweiligen selben Bohrstelle, jedoch kein Wasser, das an einer anderen Bohrstelle gewonnen wird, obwohl es sich um Wasser handelt, das seinen Ursprung im selben Grundwasserleiter desselben Grundwasserkörpers hat, und zwar im Sinne der Definition des Begriffs „Grundwasserleiter“ und „Grundwasserkörper“ aus der Richtlinie 2000/60;
b)
Wasser aus der jeweiligen selben Bohrstelle, jedoch kein Wasser, das an einer anderen Bohrstelle gewonnen wird, obwohl es sich um Wasser handelt, das seinen Ursprung im selben Grundwasserleiter desselben Grundwasserkörpers hat, und zwar im Sinne der Definition des Begriffs „Grundwasserleiter“ und „Grundwasserkörper“ aus der Richtlinie 2000/60, wobei bei dieser Definition auch die Umstände wie die Entfernungen zwischen den Bohrstellen, die Bohrtiefen, die spezifische Qualität des Wassers aus der jeweiligen Bohrstelle (z. B. die chemische und mikrobiologische Zusammensetzung), die hydraulische Verbundenheit der Bohrstellen sowie die Geschlossenheit bzw. Offenheit des Grundwasserleiters zu berücksichtigen sind;
c)
das gesamte Wasser, das seinen Ursprung im selben Grundwasserleiter desselben Grundwasserkörpers hat, und zwar im Sinne der Definition des Begriffs „Grundwasserleiter“ und „Grundwasserkörper“ aus der Richtlinie 2000/60, ungeachtet dessen, dass es aus mehreren Bohrstellen an die Oberfläche kommt;
d)
das gesamte Wasser, das seinen Ursprung im selben Grundwasserleiter desselben Grundwasserkörpers hat, und zwar im Sinne der Definition des Begriffs „Grundwasserleiter“ und „Grundwasserkörper“ aus der Richtlinie 2000/60, ungeachtet dessen, dass es aus mehreren Bohrstellen an die Oberfläche kommt, wobei bei dieser Definition auch die Umstände wie die Entfernungen zwischen den Bohrstellen, die Bohrtiefen, die spezifische Qualität des Wassers aus der jeweiligen Bohrstelle (z. B. die chemische und mikrobiologische Zusammensetzung), die hydraulische Verbundenheit der Bohrstellen sowie die Geschlossenheit bzw. Offenheit des Grundwasserleiters zu berücksichtigen sind?
2. Ist in dem Fall, dass keiner der in Frage 1 dargelegten Auffassungen beigepflichtet werden kann, die Auslegung des Begriffs „natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt“, auf Umstände wie die Entfernungen zwischen den Bohrstellen, die Bohrtiefen, die spezifische Qualität des Wassers aus der jeweiligen Bohrstelle, die hydraulische Verbundenheit der Bohrstellen sowie die Geschlossenheit bzw. Offenheit des Grundwasserleiters, zu stützen?
Zu den Vorlagefragen
23 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der Begriff „natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt“, in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 auszulegen ist.
24 Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung darf „[e]in natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt, … nicht unter mehreren gewerblichen Kennzeichen in den Handel gebracht werden“. Anhang I Abschnitt I Nr. 1 Unterabs. 1 definiert zwar „natürliches Mineralwasser“ als „ein … mikrobiologisch einwandfreies Wasser, das seinen Ursprung in einem unterirdischen Quellvorkommen hat und aus einer oder mehreren natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen gewonnen wird“, doch wird in keiner Bestimmung dieser Richtlinie ausdrücklich klargestellt, was unter dem Begriff „Quelle“ oder unter dem Ausdruck „das aus ein und derselben Quelle stammt“ zu verstehen ist.
25 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen (Urteile EasyCar, C‑336/03, EU:C:2005:150, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Partena, C‑137/11, EU:C:2012:593, Rn. 56).
26 Die Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift erfordert zudem einen Vergleich ihrer Sprachfassungen (Urteile Cilfit u. a., 283/81, EU:C:1982:335, Rn. 18, sowie Spanien/Rat, C‑36/98, EU:C:2001:64, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn die Sprachfassungen voneinander abweichen, muss die betreffende Vorschrift nach der Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteile Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 14, sowie Brey, C‑140/12, EU:C:2013:565, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im vorliegenden Fall können weder der gewöhnliche Sinn des Begriffs „Quelle“, der sowohl als Quellaustrittstelle eines Wassers als auch als dessen allgemeinerer Ursprung verstanden werden kann, noch der Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 oder der Definition von natürlichem Mineralwasser in Anhang I der Richtlinie die Zweifel des vorlegenden Gerichts daran ausräumen, wie der Begriff „Quelle“ auszulegen ist und welche Tragweite der Ausdruck „das aus ein und derselben Quelle stammt“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 hat. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 33 und 34 seiner Schlussanträge sinngemäß festgestellt hat, kann insbesondere nicht anhand eines Vergleichs der verschiedenen Sprachfassungen dieser Bestimmung ermittelt werden, ob der Begriff auf den unterirdischen Ursprung des fraglichen Wassers verweist oder aber auf die Stelle, durch die oder den Ort, an dem das Wasser an die Oberfläche austritt.
28 Für die erbetene Auslegung ist daher auf den Zusammenhang abzustellen, in den sich Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 einfügt, sowie, allgemeiner, auf die Systematik und den Zweck dieser Richtlinie.
29 Zwar lässt sich mit der Definition von natürlichem Mineralwasser in Anhang I Abschnitt I Nr. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2009/54 für sich allein weder die Tragweite des Begriffs „Quelle“ klären, noch, was unter dem Ausdruck „das aus ein und derselben Quelle stammt“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie zu verstehen ist; gleichwohl kann aus dem Wortlaut dieser Definition abgeleitet werden, dass der Begriff „Quelle“ nicht mit dem Begriff „unterirdisches Quellvorkommen“ gleichgesetzt werden kann, da dort klar zwischen diesen beiden Begriffen unterschieden wird. Damit ein natürliches Mineralwasser als „aus ein und derselben Quelle“ stammend angesehen werden kann, ist es allerdings erforderlich, dass es als Ursprung ein und dasselbe unterirdische Quellvorkommen hat.
30 Außerdem kann aus dem Wortlaut dieser Definition abgeleitet werden, dass der Begriff „Quelle“ auch nicht mit dem Begriff „Bohrstelle“ gleichgesetzt werden kann, wie HSR vorschlägt, da ausdrücklich klargestellt wird, dass das Wasser einer Quelle aus „einer oder mehreren natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen“ gewonnen werden kann. Daraus folgt vielmehr, dass es für natürliches Mineralwasser, „das aus ein und derselben Quelle stammt“, im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 irrelevant ist, ob es aus einer oder mehreren Bohrstellen gewonnen wird.
31 Wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist allerdings die Tatsache, dass ein natürliches Mineralwasser als Ursprung ein und dasselbe unterirdische Quellvorkommen hat, eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Annahme, dass dieses Wasser im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 aus ein und derselben Quelle stammt. Die Definition von natürlichem Mineralwasser, auf die in Rn. 24 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, wird nämlich durch einen Unterabs. 2 ergänzt, in dem es heißt, dass sich „[n]atürliches Mineralwasser … von gewöhnlichem Trinkwasser deutlich durch … seine Eigenart, die durch seinen Gehalt an Mineralien, Spurenelementen oder sonstigen Bestandteilen und gegebenenfalls durch bestimmte Wirkungen gekennzeichnet ist, [sowie] seine ursprüngliche Reinheit [unterscheidet], wobei beide Merkmale aufgrund der unterirdischen Herkunft des Wassers … unverändert erhalten sind“. Da natürliche Mineralwässer somit auch in Bezug auf ihre Zusammensetzung definiert werden, ist festzustellen, dass die Merkmale von natürlichem Mineralwasser eine entscheidende Rolle bei der Identifizierung dieses Wassers spielen.
32 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 der Richtlinie 2009/54 in Abs. 2 nicht nur das Verbot, ein natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt, unter mehreren gewerblichen Kennzeichen in den Handel zu bringen vorsieht, sondern in Abs. 1 außerdem, dass der Name einer Gemeinde, eines Weilers oder einer sonstigen Ortsbezeichnung bei einem gewerblichen Kennzeichen nur unter der Voraussetzung verwendet werden darf, dass das natürliche Mineralwasser, auf das er sich bezieht, aus einer Quelle an dem durch das gewerbliche Kennzeichen angegebenen Ort gewonnen wird und die Verwendung dieses Namens nicht zu Missverständnissen über den Ort der Nutzung der Quelle führt. Dieser Artikel regelt außerdem in Abs. 3 die Etikettierung und die Werbung für natürliche Mineralwässer in der Weise, dass, wenn sie die Angabe eines anderen gewerblichen Kennzeichens als des Namens der Quelle oder des Ortes ihrer Nutzung enthalten, die Angabe dieses Ortes der Nutzung oder der Name der Quelle „in Buchstaben angebracht sein [muss], die mindestens eineinhalbmal so hoch und breit sind wie der größte Buchstabe, der für die Angabe dieses gewerblichen Kennzeichens benutzt wird“.
33 Art. 8 der Richtlinie 2009/54 soll somit insgesamt gewährleisten, dass in jedem Einzelfall der Name der Quelle eines natürlichen Mineralwassers oder die Angabe des Ortes seiner Gewinnung dem Verbraucher erlaubt, beim Kauf unmissverständlich die Herkunft des betreffenden Wassers zu erkennen und anhand dieses Namens oder dieser Angabe ein bestimmtes natürliches Mineralwasser von jedem anderen natürlichen Mineralwasser zu unterscheiden. Denn nach diesem Artikel übernimmt das gewerbliche Kennzeichen entweder den Namen der Quelle oder des Ortes ihrer Nutzung und kann daher so, wie es ist, verwendet werden, um das betreffende Wasser zu identifizieren, oder es unterscheidet sich von diesem Namen oder diesem Ort, weshalb die Buchstaben für den Namen oder die Angabe des Ortes auf dem Etikett und in der Werbung größer sein müssen als diejenigen, die für die Angabe des gewerblichen Kennzeichens verwendet werden. Demnach räumt dieser Artikel bei der Identifizierung eines natürlichen Mineralwassers dem Namen seiner Quelle oder gegebenenfalls der Angabe des Ortes seiner Gewinnung eine entscheidende Rolle ein.
34 Die Bedeutung der Rolle, die dem Namen der Quelle und dem Ort ihrer Nutzung bei der Identifizierung eines natürlichen Mineralwassers zukommt, geht auch aus Art. 7 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2009/54 hervor, der verbindlich vorschreibt, dass die Etikettierung natürlicher Mineralwässer die Angabe des Ortes der Gewinnung und des Namens der Quelle enthält.
35 Da der Name der Quelle eines natürlichen Mineralwassers eine entscheidende Rolle bei dessen Identifizierung durch die Verbraucher spielt und die Identifizierung eines bestimmten natürlichen Mineralwassers, wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils festgestellt, hauptsächlich anhand seiner Merkmale erfolgt, sind es zwangsläufig die Merkmale des natürlichen Mineralwassers, die im Wesentlichen die Identität der Quelle bestimmen, aus der es stammt. Demzufolge muss der Begriff des natürlichen Mineralwassers, „das aus ein und derselben Quelle stammt“, sinngemäß so verstanden werden, dass er ein natürliches Mineralwasser meint, das nicht nur seinen Ursprung in ein und demselben unterirdischen Quellvorkommen hat, sondern zudem dieselben Merkmale aufweist.
36 Für diese Auslegung spricht zum einen die Systematik der Richtlinie 2009/54. Eine Gesamtbetrachtung der Richtlinie bestätigt nämlich die maßgebliche Rolle, die den Merkmalen natürlicher Mineralwässer bei ihrer Anwendung zukommt.
37 Insoweit können insbesondere genannt werden Art. 4 der Richtlinie 2009/54, der regelt, welchen Behandlungen ein natürliches Mineralwasser, so wie es aus der Quelle austritt, unterzogen werden darf, und der die in Abs. 1 Buchst. a bis c dieses Artikels aufgelisteten Behandlungen nur gestattet, „insofern als die Zusammensetzung des Wassers durch [sie] nicht in seinen wesentlichen, seine Eigenschaften bestimmenden Bestandteilen geändert wird“, und Art. 6 dieser Richtlinie, der durch die Vorgabe, dass die Abfüllbehältnisse mit einem Verschluss versehen sein müssen, mit dem jede Möglichkeit einer Verfälschung oder Verunreinigung vermieden wird, sicherstellt, dass die qualitativen und gesundheitlichen Merkmale des natürlichen Mineralwassers während der gesamten Produktions- und Vermarktungskette erhalten bleiben.
38 Außerdem können genannt werden Art. 7 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2009/54, wonach für die Etikettierung natürlicher Mineralwässer die „Angabe der analytischen Zusammensetzung“ des betreffenden Wassers „unter Nennung der charakteristischen Bestandteile“ verbindlich vorgeschrieben ist, sowie Art. 12 Buchst. a und b dieser Richtlinie, wonach die Kommission Grenzwerte für die Gehalte an Bestandteilen natürlicher Mineralwässer und alle erforderlichen Bestimmungen für die Angabe hoher Gehalte an bestimmten Bestandteilen auf dem Etikett festlegt, oder auch Anhang II der Richtlinie, in dessen Nr. 2 es heißt, dass die zur Nutzung eines natürlichen Mineralwassers bestimmten Einrichtungen so beschaffen sein müssen, dass u. a. „die Eigenschaften erhalten bleiben, die das Wasser am Quellaustritt besitzt und die seinen Charakter als natürliches Mineralwasser begründen“.
39 Die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils dargestellte Auslegung ist zum anderen die einzige, die die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2009/54 verfolgten Ziele zu gewährleisten vermag.
40 Gemäß dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/54 sollten alle Regelungen über natürliche Mineralwässer in erster Linie die Gesundheit der Verbraucher schützen, die Irreführung der Verbraucher verhindern und einen fairen Handel sicherstellen. In diesem Sinne sieht der siebte Erwägungsgrund dieser Richtlinie vor, dass sichergestellt werden sollte, dass natürliche Mineralwässer auf der Handelsstufe weiterhin die charakteristischen Eigenschaften besitzen, die ihre Anerkennung als natürliche Mineralwässer gerechtfertigt haben, und der neunte Erwägungsgrund präzisiert, dass die Aufnahme der Angaben über die analytische Zusammensetzung eines natürlichen Mineralwassers auf das Etikett verbindlich vorgeschrieben sein sollte, um die Information der Verbraucher zu gewährleisten.
41 Da das gewerbliche Kennzeichen eines natürlichen Mineralwassers in Anbetracht der Feststellungen in den Rn. 29 bis 35 des vorliegenden Urteils zwangsläufig mit den Merkmalen dieses Wassers verbunden ist, würden die Verbraucher in die Irre geführt und wären nicht in der Lage, im Hinblick auf den Gesundheitsschutz eine sachkundige Wahl je nach den etwaigen Eigenschaften eines natürlichen Mineralwassers zu treffen, wenn es möglich wäre, natürliche Mineralwässer, die denselben Ursprung haben und dieselben Merkmale aufweisen, unter verschiedenen gewerblichen Kennzeichen zu verkaufen.
42 Außerdem gibt Anhang I der Richtlinie 2009/54 an, welche Merkmale für die Identifizierung eines natürlichen Mineralwassers relevant sind, nämlich insbesondere der Gehalt an Mineralien, Spurenelementen oder sonstigen Bestandteilen, und unter welchen Gesichtspunkten und nach welchen Kriterien diese Merkmale überprüft worden sein müssen, wobei die Kriterien in Abschnitt II aufgeführt sind, aus dem u. a. hervorgeht, dass für die geologischen und hydrologischen Untersuchungen u. a. die genaue Lage der Fassung sowie die Stratigraphie der hydrogeologischen Ablagerung verlangt werden müssen; bei den durchzuführenden physikalischen, chemischen und physikalisch-chemischen Untersuchungen müssen insbesondere die Beziehungen zwischen der Art des Geländes und der Art und dem Typ des Mineralgehalts bestimmt werden. Nach diesem Anhang müssen außerdem „[d]ie Zusammensetzung, die Temperatur und die übrigen wesentlichen Merkmale des natürlichen Mineralwassers … im Rahmen natürlicher Schwankungen konstant bleiben“.
43 Insoweit ist für die Überprüfung dieser Merkmale und demnach für die Zwecke der Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54 nicht auf die Begriffe „Grundwasserleiter“ und „Grundwasserkörper“ in der Richtlinie 2000/60 abzustellen. Aus Art. 1 der Richtlinie 2000/60 sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Luxemburg, C‑32/05, EU:C:2006:749, Rn. 41, und Kommission/Deutschland, C‑525/12, EU:C:2014:2202, Rn. 50) geht nämlich hervor, dass sich die Ziele der Richtlinie 2000/60 von denen der Richtlinie 2009/54 unterscheiden. Während die erste hauptsächlich Umweltziele verfolgt, zielt die zweite darauf ab, die Gesundheit der Verbraucher zu schützen, die Irreführung der Verbraucher zu verhindern und einen fairen Handel sicherzustellen. Demzufolge kann die Richtlinie 2000/60 nicht für die im vorliegenden Fall erbetene Auslegung herangezogen werden (vgl. entsprechend Urteil Møller, C‑585/10, EU:C:2011:847, Rn. 37).
44 Es kann daher nur anhand der Bestimmungen der Richtlinie 2009/54 ermittelt werden, ob ein bestimmtes natürliches Mineralwasser im Sinne von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie „aus ein und derselben Quelle stammt“.
45 Nach alledem ist unter Berücksichtigung der Definition von natürlichem Mineralwasser in Anhang I der Richtlinie 2009/54, der Systematik dieser Richtlinie sowie des mit ihr verfolgten Zwecks auf die Fragen zu antworten, dass der Begriff „natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt“, in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er ein aus einer oder mehreren natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen gewonnenes natürliches Mineralwasser bezeichnet, das seinen Ursprung in ein und demselben unterirdischen Quellvorkommen hat, wenn dieses Wasser im Hinblick auf die in Anhang I dieser Richtlinie genannten Kriterien an allen diesen natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen identische Merkmale aufweist, die im Rahmen natürlicher Schwankungen konstant bleiben.
Kosten
46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Der Begriff „natürliches Mineralwasser, das aus ein und derselben Quelle stammt“, in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2009/54/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern ist dahin auszulegen, dass er ein aus einer oder mehreren natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen gewonnenes natürliches Mineralwasser bezeichnet, das seinen Ursprung in ein und demselben unterirdischen Quellvorkommen hat, wenn dieses Wasser im Hinblick auf die in Anhang I dieser Richtlinie genannten Kriterien an allen diesen natürlichen oder künstlich erschlossenen Quellen identische Merkmale aufweist, die im Rahmen natürlicher Schwankungen konstant bleiben.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Slowenisch.
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Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 15. Juni 2015 (Auszüge).#SA Close und Cegelec gegen Europäisches Parlament.#Vorläufiger Rechtsschutz – Öffentliche Bauaufträge – Ausschreibungsverfahren – Bau einer Energiezentrale – Ablehnung des Angebots eines Bieters und Vergabe des Auftrags an einen anderen Bieter – Antrag auf Aussetzung des Vollzugs – Fehlende Dringlichkeit.#Rechtssache T-259/15 R.
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62015TO0259
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ECLI:EU:T:2015:378
| 2015-06-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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Parteien
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑259/15 R
SA Close mit Sitz in Harzé-Aywaille (Belgien),
Cegelec mit Sitz in Brüssel (Belgien),
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte J.-M. Rikkers und J.‑L. Teheux,
Antragstellerinnen,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch M. Rantala, M. Mraz und F. Poilvache als Bevollmächtigte,
Antragsgegner,
wegen Aussetzung des Vollzugs des Beschlusses vom 19. März 2015, mit dem das Parlament das von den Antragstellerinnen im Rahmen der Ausschreibung INLO‑D‑UPIL‑T‑14‑A04 eingereichte Angebot in Bezug auf den öffentlichen Bauauftrag betreffend Los 73 (Energiezentrale) des „Projekts für den Ausbau und die Modernisierung des Konrad-Adenauer-Gebäudes in Luxemburg“ abgelehnt hat, und des Beschlusses vom selben Tag, mit dem der fragliche Auftrag an einen anderen Bieter vergeben wurde,
erlässt
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
folgenden
Beschluss (1)
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1. Im Rahmen der vom Europäischen Parlament im Juli 2014 veröffentlichten Ausschreibung INLO‑D‑UPIL‑T‑14‑A04 des öffentlichen Auftrags „Projekt für Ausbau und Modernisierung des Konrad-Adenauer-Gebäudes in Luxemburg“ reichten die Antragstellerinnen SA Close und Cegelec als Gelegenheitsgesellschaft ein Angebot für das Los 73 (Energiezentrale) ein.
2. Mit Schreiben vom 27. März 2015, das die Antragstellerinnen am selben Tag erhielten, teilte ihnen das Parlament mit, dass ihr Angebot nicht ausgewählt worden sei, da sie nicht den niedrigsten Preis geboten hätten. Am 19. März 2015 war dieses Angebot nämlich zurückgewiesen und der betreffende Auftrag an einen anderen Bieter vergeben worden.
[ nicht wiedergegeben ]
Verfahren und Vorbringen der Parteien
9. Die Klägerinnen erhoben mit Klageschrift, die am 26. Mai 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses des Parlaments vom 19. März 2015, mit dem ihr Angebot abgelehnt wurde, und des Beschlusses vom selben Tag, mit dem der fragliche Auftrag an die Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD, bestehend aus den Gesellschaften X und Y, vergeben wurde (im Folgenden: angefochtene Rechtsakte).
10. Mit am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem besonderen Schriftsatz haben die Antragstellerinnen den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, mit dem sie im Wesentlichen beantragen, den Vollzug der angefochtenen Rechtsakte auszusetzen.
11. In seiner Stellungnahme zum Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, die am 11. Juni 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt das Parlament im Wesentlichen,
– den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückzuweisen;
– über die Kosten gemäß Art. 87 § 1 der Verfahrensordnung in der das Verfahren beendenden Entscheidung zu entscheiden.
Rechtliche Würdigung
[ nicht wiedergegeben ]
Zur Dringlichkeit
[ nicht wiedergegeben ]
35. Nach alledem ist die Voraussetzung der Dringlichkeit im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
36. Der Präsident des Gerichts hat allerdings kürzlich im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge festgestellt, dass es für den abgelehnten Bieter aus den genannten systembedingten Gründen generell schwer ist, die Voraussetzung des Eintritts eines nicht wiedergutzumachenden Schadens nachzuweisen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Dezember 2014, Vanbreda Risk & Benefits/Kommission, T‑199/14 R, Slg [Auszüge], EU:T:2014:1024, Rn. 157). Daraus hat der Vizepräsident des Gerichtshofs geschlossen, dass vom abgelehnten Bieter nicht verlangt werden kann, den Nachweis zu erbringen, dass ihm durch die Zurückweisung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz ein nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen könnte, sofern er einen besonders gewichtigen fumus boni iuris belegen kann, da sonst der effektive gerichtliche Rechtsschutz, den er gemäß Art. 47 der Charta genießt, übermäßig und ungerechtfertigt beeinträchtigt würde (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 41).
37. Diese durch das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gerechtfertigte Lockerung der bei der Prüfung der Dringlichkeit anwendbaren Voraussetzungen darf jedoch nicht unbegrenzt gelten, da die Interessen des abgelehnten Bieters mit denen des öffentlichen Auftraggebers und des Zuschlagsempfängers in Einklang gebracht werden müssen. Daraus folgt, dass die in Rede stehende Lockerung nur während der vorvertraglichen Phase gilt, sofern die in Art. 171 der Verordnung Nr. 1268/2012 vorgesehene Stillhaltefrist – die sich, je nach den Umständen, auf zehn oder auf 14 Kalendertage beläuft – eingehalten wurde. Hat der öffentliche Auftraggeber nach Ablauf dieser Frist und vor Einreichung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz den Vertrag mit dem Zuschlagsempfänger geschlossen, ist diese Lockerung nicht mehr gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 34 und 42).
38. Ist die Stillhaltefrist – die den öffentlichen Auftraggeber bis zu ihrem Ablauf am Übergang in die vertragliche Phase hindert und die Beteiligten in die Lage versetzen soll, die Vergabe eines öffentlichen Auftrags gerichtlich anzufechten, bevor der Vertrag geschlossen wird –vor Abschluss des Vertrags tatsächlich verstrichen, kann der Umstand, dass der abgelehnte Bieter vor dem Unionsgericht nur Schadensersatz fordern kann, nämlich nicht als Verstoß gegen das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewertet werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 36, 37 und 39).
39. Für die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten zum einen, dass der fragliche Auftrag am 19. März 2015 an die Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD, bestehend aus den Gesellschaften X und Y, vergeben wurde und die Antragstellerinnen am 27. März 2015 über die Ablehnung ihres Angebots in Kenntnis gesetzt wurden, und zum anderen, dass die Gelegenheitsgesellschaft und die Société Immobilière Bâtiment Konrad Adenauer des Parlaments den Vertrag über die Bauleistung für Los 73 (Energiezentrale) mit dem Bezugsvermerk INLO‑D‑UPIL‑T‑14‑A04 am 24. April 2015 unterzeichneten.
40. Da der ablehnende Beschluss den Antragstellerinnen am 27. März 2015 übermittelt und der Vertrag am 24. April 2015 geschlossen wurde, ist die nach Art. 171 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1268/2012 geltende Stillhaltefrist, ob zehn oder 14 Kalendertage, im vorliegenden Fall somit auf jeden Fall eingehalten worden. Außerdem haben die Antragstellerinnen ihre Nichtigkeitsklage und den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz am 26. Mai 2015, also einen Monat nach Abschluss des Vertrags, eingereicht. Unter diesen Umständen ist die Lockerung der Voraussetzung der Dringlichkeit grundsätzlich nicht gerechtfertigt.
41. Allerdings versetzt die Stillhaltefrist die Beteiligten nur dann in die Lage, die Vergabe eines Auftrags gerichtlich anzufechten, bevor der Vertrag geschlossen wird, wenn sie über ausreichende Informationen verfügen, um festzustellen zu können, ob die Zuschlagserteilung gegebenenfalls rechtswidrig ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 47).
42. Das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz würde verletzt, wenn die Stillhaltefrist auch dann als eingehalten gälte, wenn keine tatsächliche Möglichkeit bestand, vor Vertragsabschluss eine mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz verbundene Klage zu erheben, weil der abgelehnte Bieter zu dieser Zeit nicht über ausreichende Informationen verfügte, um eine solche Klage zu erheben (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 48).
43. Angesichts der sich aus dem Gebot der Rechtssicherheit ergebenden Erfordernisse muss diese Ausnahme von der rein mechanischen Anwendung der Stillhaltefrist jedoch außergewöhnlichen Fällen vorbehalten sein, in denen der abgelehnte Bieter, bevor der Vertrag mit dem Zuschlagsempfänger geschlossen wurde, keinen Grund hatte, von der Rechtswidrigkeit der Zuschlagsentscheidung auszugehen (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 49).
44. Es ist daher zu prüfen, ob die Antragstellerinnen über hinreichende Informationen verfügten, um die Stillhaltefrist sachgerecht dazu zu nutzen, eine Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte zu erheben und einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs dieser Rechtsakte zu stellen, bevor am 24. April 2015 der Vertrag zwischen dem Parlament und der Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD geschlossen wurde.
45. Hierzu ist festzustellen, dass die Antragstellerinnen das Parlament bereits am 3. April 2015, also einige Zeit vor dem Abschluss dieses Vertrags, über die Zweifel in Kenntnis setzten, die sie an der Rechtmäßigkeit des vom öffentlichen Auftraggeber angenommenen Angebots hegten (siehe oben, Rn. 3), wobei sie geltend machten, dass eine der an der Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD beteiligten luxemburgischen Gesellschaften weder die einschlägigen luxemburgischen Vorschriften noch die in den Verdingungsunterlagen genannten, die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bieter betreffenden Kriterien erfülle. Wie sich aus der Akte ergibt, werden diese Zweifel im Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz im Wesentlichen mit dem zweiten Nichtigkeitsgrund zum fumus boni iuris wiederholt.
46. Daraus folgt, dass die Antragstellerinnen ab dem 3. April 2015 in der Lage waren, eine spezifische Rüge in Bezug auf die angefochtenen Rechtsakte zu erheben. Diese Rüge, als Nichtigkeitsgrund vorgebracht, hätte es ihnen erlaubt, innerhalb der Stillhaltefrist eine mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz verbundene Klage zu erheben, um den Abschluss des Vertrags zwischen dem Parlament und der Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD zu verhindern. Mit einem solchen rechtzeitig gestellten Antrag hätten die Antragstellerinnen nach Art. 105 § 2 Abs. 2 der Verfahrensordnung noch vor Eingang der Stellungnahme der Gegenpartei einen Beschluss über die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Rechtsakte für die Dauer des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes erwirken können. Außerdem wären die Antragstellerinnen durch nichts daran gehindert gewesen, bis zum Ablauf der um die Entfernungsfrist des Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung verlängerten Klagefrist des Art. 263 Abs. 6 AEUV ihre Klage und ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach Maßgabe der vom Parlament erlangten Informationen (siehe oben, Rn. 5 und 8) zu erweitern. Im Übrigen wären die Antragstellerinnen sogar gemäß Art. 48 § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung berechtigt, im Laufe des Verfahrens neue Angriffsmittel vorzubringen, wenn sie auf erst während des Verfahrens zutage getretene rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt wären.
47. Folglich wurde die in Art. 171 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1268/2012 vorgesehene Stillhaltefrist im vorliegenden Fall in vollem Umfang eingehalten, so dass die Lockerung der Voraussetzung der Dringlichkeit im öffentlichen Auftragswesen hier nicht gilt.
48. Nach alledem ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückzuweisen, ohne dass die Voraussetzung des fumus boni iuris geprüft oder die betroffenen Interessen gegeneinander abgewogen werden müssten.
(1) .
(1) – Es werden nur die Randnummern des Beschlusses wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
beschlossen:
1. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird zurückgewiesen.
2. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Luxemburg, den 15. Juni 2015
BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTS
15. Juni 2015 (*1)
„Vorläufiger Rechtsschutz — Öffentliche Bauaufträge — Ausschreibungsverfahren — Bau einer Energiezentrale — Ablehnung des Angebots eines Bieters und Vergabe des Auftrags an einen anderen Bieter — Antrag auf Aussetzung des Vollzugs — Fehlende Dringlichkeit“
In der Rechtssache T‑259/15 R
SA Close mit Sitz in Harzé-Aywaille (Belgien),
Cegelec mit Sitz in Brüssel (Belgien),
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte J.-M. Rikkers und J.‑L. Teheux,
Antragstellerinnen,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch M. Rantala, M. Mraz und F. Poilvache als Bevollmächtigte,
Antragsgegner,
wegen Aussetzung des Vollzugs des Beschlusses vom 19. März 2015, mit dem das Parlament das von den Antragstellerinnen im Rahmen der Ausschreibung INLO‑D‑UPIL‑T‑14‑A04 eingereichte Angebot in Bezug auf den öffentlichen Bauauftrag betreffend Los 73 (Energiezentrale) des „Projekts für den Ausbau und die Modernisierung des Konrad-Adenauer-Gebäudes in Luxemburg“ abgelehnt hat, und des Beschlusses vom selben Tag, mit dem der fragliche Auftrag an einen anderen Bieter vergeben wurde,
erlässt
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
folgenden
Beschluss (1 )
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Im Rahmen der vom Europäischen Parlament im Juli 2014 veröffentlichten Ausschreibung INLO‑D‑UPIL‑T‑14‑A04 des öffentlichen Auftrags „Projekt für Ausbau und Modernisierung des Konrad-Adenauer-Gebäudes in Luxemburg“ reichten die Antragstellerinnen SA Close und Cegelec als Gelegenheitsgesellschaft ein Angebot für das Los 73 (Energiezentrale) ein.
2 Mit Schreiben vom 27. März 2015, das die Antragstellerinnen am selben Tag erhielten, teilte ihnen das Parlament mit, dass ihr Angebot nicht ausgewählt worden sei, da sie nicht den niedrigsten Preis geboten hätten. Am 19. März 2015 war dieses Angebot nämlich zurückgewiesen und der betreffende Auftrag an einen anderen Bieter vergeben worden.
[nicht wiedergegeben]
Verfahren und Vorbringen der Parteien
9 Die Klägerinnen erhoben mit Klageschrift, die am 26. Mai 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses des Parlaments vom 19. März 2015, mit dem ihr Angebot abgelehnt wurde, und des Beschlusses vom selben Tag, mit dem der fragliche Auftrag an die Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD, bestehend aus den Gesellschaften X und Y, vergeben wurde (im Folgenden: angefochtene Rechtsakte).
10 Mit am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem besonderen Schriftsatz haben die Antragstellerinnen den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, mit dem sie im Wesentlichen beantragen, den Vollzug der angefochtenen Rechtsakte auszusetzen.
11 In seiner Stellungnahme zum Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, die am 11. Juni 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt das Parlament im Wesentlichen,
—
den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückzuweisen;
—
über die Kosten gemäß Art. 87 § 1 der Verfahrensordnung in der das Verfahren beendenden Entscheidung zu entscheiden.
Rechtliche Würdigung
[nicht wiedergegeben]
Zur Dringlichkeit
[nicht wiedergegeben]
35 Nach alledem ist die Voraussetzung der Dringlichkeit im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
36 Der Präsident des Gerichts hat allerdings kürzlich im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge festgestellt, dass es für den abgelehnten Bieter aus den genannten systembedingten Gründen generell schwer ist, die Voraussetzung des Eintritts eines nicht wiedergutzumachenden Schadens nachzuweisen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Dezember 2014, Vanbreda Risk & Benefits/Kommission, T‑199/14 R, Slg [Auszüge], EU:T:2014:1024, Rn. 157). Daraus hat der Vizepräsident des Gerichtshofs geschlossen, dass vom abgelehnten Bieter nicht verlangt werden kann, den Nachweis zu erbringen, dass ihm durch die Zurückweisung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz ein nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen könnte, sofern er einen besonders gewichtigen fumus boni iuris belegen kann, da sonst der effektive gerichtliche Rechtsschutz, den er gemäß Art. 47 der Charta genießt, übermäßig und ungerechtfertigt beeinträchtigt würde (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 41).
37 Diese durch das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gerechtfertigte Lockerung der bei der Prüfung der Dringlichkeit anwendbaren Voraussetzungen darf jedoch nicht unbegrenzt gelten, da die Interessen des abgelehnten Bieters mit denen des öffentlichen Auftraggebers und des Zuschlagsempfängers in Einklang gebracht werden müssen. Daraus folgt, dass die in Rede stehende Lockerung nur während der vorvertraglichen Phase gilt, sofern die in Art. 171 der Verordnung Nr. 1268/2012 vorgesehene Stillhaltefrist – die sich, je nach den Umständen, auf zehn oder auf 14 Kalendertage beläuft – eingehalten wurde. Hat der öffentliche Auftraggeber nach Ablauf dieser Frist und vor Einreichung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz den Vertrag mit dem Zuschlagsempfänger geschlossen, ist diese Lockerung nicht mehr gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 34 und 42).
38 Ist die Stillhaltefrist – die den öffentlichen Auftraggeber bis zu ihrem Ablauf am Übergang in die vertragliche Phase hindert und die Beteiligten in die Lage versetzen soll, die Vergabe eines öffentlichen Auftrags gerichtlich anzufechten, bevor der Vertrag geschlossen wird –vor Abschluss des Vertrags tatsächlich verstrichen, kann der Umstand, dass der abgelehnte Bieter vor dem Unionsgericht nur Schadensersatz fordern kann, nämlich nicht als Verstoß gegen das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewertet werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 36, 37 und 39).
39 Für die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten zum einen, dass der fragliche Auftrag am 19. März 2015 an die Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD, bestehend aus den Gesellschaften X und Y, vergeben wurde und die Antragstellerinnen am 27. März 2015 über die Ablehnung ihres Angebots in Kenntnis gesetzt wurden, und zum anderen, dass die Gelegenheitsgesellschaft und die Société Immobilière Bâtiment Konrad Adenauer des Parlaments den Vertrag über die Bauleistung für Los 73 (Energiezentrale) mit dem Bezugsvermerk INLO‑D‑UPIL‑T‑14‑A04 am 24. April 2015 unterzeichneten.
40 Da der ablehnende Beschluss den Antragstellerinnen am 27. März 2015 übermittelt und der Vertrag am 24. April 2015 geschlossen wurde, ist die nach Art. 171 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1268/2012 geltende Stillhaltefrist, ob zehn oder 14 Kalendertage, im vorliegenden Fall somit auf jeden Fall eingehalten worden. Außerdem haben die Antragstellerinnen ihre Nichtigkeitsklage und den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz am 26. Mai 2015, also einen Monat nach Abschluss des Vertrags, eingereicht. Unter diesen Umständen ist die Lockerung der Voraussetzung der Dringlichkeit grundsätzlich nicht gerechtfertigt.
41 Allerdings versetzt die Stillhaltefrist die Beteiligten nur dann in die Lage, die Vergabe eines Auftrags gerichtlich anzufechten, bevor der Vertrag geschlossen wird, wenn sie über ausreichende Informationen verfügen, um festzustellen zu können, ob die Zuschlagserteilung gegebenenfalls rechtswidrig ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 47).
42 Das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz würde verletzt, wenn die Stillhaltefrist auch dann als eingehalten gälte, wenn keine tatsächliche Möglichkeit bestand, vor Vertragsabschluss eine mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz verbundene Klage zu erheben, weil der abgelehnte Bieter zu dieser Zeit nicht über ausreichende Informationen verfügte, um eine solche Klage zu erheben (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 48).
43 Angesichts der sich aus dem Gebot der Rechtssicherheit ergebenden Erfordernisse muss diese Ausnahme von der rein mechanischen Anwendung der Stillhaltefrist jedoch außergewöhnlichen Fällen vorbehalten sein, in denen der abgelehnte Bieter, bevor der Vertrag mit dem Zuschlagsempfänger geschlossen wurde, keinen Grund hatte, von der Rechtswidrigkeit der Zuschlagsentscheidung auszugehen (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kommission/Vanbreda Risk & Benefits, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2015:275, Rn. 49).
44 Es ist daher zu prüfen, ob die Antragstellerinnen über hinreichende Informationen verfügten, um die Stillhaltefrist sachgerecht dazu zu nutzen, eine Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte zu erheben und einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs dieser Rechtsakte zu stellen, bevor am 24. April 2015 der Vertrag zwischen dem Parlament und der Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD geschlossen wurde.
45 Hierzu ist festzustellen, dass die Antragstellerinnen das Parlament bereits am 3. April 2015, also einige Zeit vor dem Abschluss dieses Vertrags, über die Zweifel in Kenntnis setzten, die sie an der Rechtmäßigkeit des vom öffentlichen Auftraggeber angenommenen Angebots hegten (siehe oben, Rn. 3), wobei sie geltend machten, dass eine der an der Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD beteiligten luxemburgischen Gesellschaften weder die einschlägigen luxemburgischen Vorschriften noch die in den Verdingungsunterlagen genannten, die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bieter betreffenden Kriterien erfülle. Wie sich aus der Akte ergibt, werden diese Zweifel im Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz im Wesentlichen mit dem zweiten Nichtigkeitsgrund zum fumus boni iuris wiederholt.
46 Daraus folgt, dass die Antragstellerinnen ab dem 3. April 2015 in der Lage waren, eine spezifische Rüge in Bezug auf die angefochtenen Rechtsakte zu erheben. Diese Rüge, als Nichtigkeitsgrund vorgebracht, hätte es ihnen erlaubt, innerhalb der Stillhaltefrist eine mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz verbundene Klage zu erheben, um den Abschluss des Vertrags zwischen dem Parlament und der Gelegenheitsgesellschaft Énergie KAD zu verhindern. Mit einem solchen rechtzeitig gestellten Antrag hätten die Antragstellerinnen nach Art. 105 § 2 Abs. 2 der Verfahrensordnung noch vor Eingang der Stellungnahme der Gegenpartei einen Beschluss über die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Rechtsakte für die Dauer des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes erwirken können. Außerdem wären die Antragstellerinnen durch nichts daran gehindert gewesen, bis zum Ablauf der um die Entfernungsfrist des Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung verlängerten Klagefrist des Art. 263 Abs. 6 AEUV ihre Klage und ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach Maßgabe der vom Parlament erlangten Informationen (siehe oben, Rn. 5 und 8) zu erweitern. Im Übrigen wären die Antragstellerinnen sogar gemäß Art. 48 § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung berechtigt, im Laufe des Verfahrens neue Angriffsmittel vorzubringen, wenn sie auf erst während des Verfahrens zutage getretene rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt wären.
47 Folglich wurde die in Art. 171 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1268/2012 vorgesehene Stillhaltefrist im vorliegenden Fall in vollem Umfang eingehalten, so dass die Lockerung der Voraussetzung der Dringlichkeit im öffentlichen Auftragswesen hier nicht gilt.
48 Nach alledem ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückzuweisen, ohne dass die Voraussetzung des fumus boni iuris geprüft oder die betroffenen Interessen gegeneinander abgewogen werden müssten.
Aus diesen Gründen hat
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
beschlossen:
1. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird zurückgewiesen.
2. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Luxemburg, den 15. Juni 2015
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
M. Jaeger
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Beschlusses wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 11. Juni 2015.#Pfeifer & Langen GmbH & Co. KG gegen Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung.#Vorabentscheidungsersuchen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Zucker – Vergütung der Lagerkosten – Verordnung (EWG) Nr. 1998/78 – Art. 14 Abs. 3 – Verordnung (EWG) Nr. 2670/81 – Art. 2 Abs. 2 – Austausch von C-Zucker bei der Ausfuhr – Voraussetzungen – Gegenständlicher Austausch des C-Zuckers und des Austauschzuckers – Austausch nur gegen Zucker, der von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt wurde – Gültigkeit gemessen an den Art. 34 AEUV und 35 AEUV.#Rechtssache C-51/14.
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62014CJ0051
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ECLI:EU:C:2015:380
| 2015-06-11T00:00:00 |
Wathelet, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0051
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
11. Juni 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Landwirtschaft — Gemeinsame Marktorganisation — Zucker — Vergütung der Lagerkosten — Verordnung (EWG) Nr. 1998/78 — Art. 14 Abs. 3 — Verordnung (EWG) Nr. 2670/81 — Art. 2 Abs. 2 — Austausch von C‑Zucker bei der Ausfuhr — Voraussetzungen — Gegenständlicher Austausch des C‑Zuckers und des Austauschzuckers — Austausch nur gegen Zucker, der von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt wurde — Gültigkeit gemessen an den Art. 34 AEUV und 35 AEUV“
In der Rechtssache C‑51/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Februar 2014, in dem Verfahren
Pfeifer & Langen GmbH & Co. KG
gegen
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Januar 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Pfeifer & Langen GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt D. Ehle,
—
der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, vertreten durch W. Wolski und J. Jakubiec als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Rossi und G. von Rintelen als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1998/78 der Kommission vom 18. August 1978 über Durchführungsbestimmungen zur Regelung des Ausgleichs der Lagerkosten für Zucker (ABl. L 231, S. 5) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1714/88 der Kommission vom 13. Juni 1988 (ABl. L 152, S. 23) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1998/78) sowie die Auslegung und die Gültigkeit von Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2670/81 der Kommission vom 14. September 1981 mit Durchführungsvorschriften für die Erzeugung außerhalb von Quoten im Zuckersektor (ABl. L 262, S. 14) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 3892/88 der Kommission vom 14. Dezember 1988 (ABl. L 346, S. 29) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2670/81).
2 Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Pfeifer & Langen GmbH & Co. KG (im Folgenden: Pfeifer & Langen) und der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (im Folgenden: BLE) über die Rückzahlung der Lagerkostenvergütungen, die Pfeifer & Langen zu Unrecht zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union erhalten haben soll.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EWG) Nr. 1785/81
3 Die Erwägungsgründe 3, 11 und 15 der Verordnung (EWG) Nr. 1785/81 des Rates vom 30. Juni 1981 über die gemeinsame Marktorganisation für Zucker (ABl. L 177, S. 4) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1069/89 des Rates vom 18. April 1989 (ABl. L 114, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Grundverordnung) lauteten:
„Um den Zuckerrüben- und Zuckerrohrerzeugern der [Union] Beschäftigungslage und Lebensstandard weiterhin zu sichern, empfiehlt es sich, Maßnahmen zur Stabilisierung des Zuckermarktes vorzusehen. …
…
Die Gründe, die bisher die [Union] dazu veranlasst haben, für die Zuckererzeugung … eine Quotenregelung beizubehalten, bestehen noch immer. Diese Regelung muss jedoch angepasst werden, um einerseits der jüngsten Erzeugungsentwicklung Rechnung zu tragen und um andererseits der [Union] die Mittel in die Hand zu geben, die notwendig sind, um auf gerechte, aber wirksame Art die volle Finanzierung der Kosten durch die Erzeuger selbst sicherzustellen, die sich aus dem Absatz des Überschusses ergeben, um den die [Erzeugung der Union] den Verbrauch übersteigt. …
…
Da die den Unternehmen zugeteilten Erzeugungsquoten den Erzeugern die Gemeinschaftspreise und den Absatz ihrer Erzeugung garantieren, müssen Quotenübertragungen unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten, insbesondere der Zuckerrüben- und Zuckerrohrerzeuger, erfolgen.
…“
4 Art. 8 Abs. 1 und 2 der Grundverordnung bestimmte:
(1) Unter den Bedingungen dieses Artikels wird eine Regelung zum Ausgleich der Lagerkosten getroffen, die eine Pauschalvergütung und deren Finanzierung durch eine Abgabe umfasst.
…
(2) Die Lagerkosten für
—
Weißzucker,
…
[der] aus in der [Union] geernteten Zuckerrüben bzw. aus in der [Union] geerntetem Zuckerrohr gewonnen worden [ist], werden von den Mitgliedstaaten pauschal vergütet.
…“
5 In Art. 24 der Grundverordnung wurden für jedes Wirtschaftsjahr, d. h. für die Zeit vom 1. Juli eines Jahres bis zum 30. Juni des Folgejahrs, Grundmengen für „A‑Zucker“ und „B‑Zucker“ festgesetzt, die jeder Mitgliedstaat unter den in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen Zuckererzeugern (im Folgenden: Hersteller) aufteilen musste. Den Herstellern wurde dementsprechend für jedes Wirtschaftsjahr eine A‑Quote und eine B‑Quote zugeteilt. Jede über die A‑ und die B‑Quote hinaus erzeugte Zuckermenge wurde als „C‑Zucker“ bezeichnet.
6 Art. 26 der Grundverordnung sah vor:
„(1) … C‑Zucker, der nicht gemäß Artikel 27 übertragen wurde, … [darf] nicht auf dem Binnenmarkt … abgesetzt werden und [muss] in unverarbeiteter Form vor dem auf das Ende des betreffenden Wirtschaftsjahres folgenden 1. Januar ausgeführt werden.
… Artikel 8 … [ist] auf diesen Zucker … nicht anwendbar.
…
(3) Die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel werden nach dem Verfahren des Artikels 41 erlassen.
…“
Verordnung Nr. 1998/78
7 Die Verordnung Nr. 1998/78 enthält die Durchführungsbestimmungen zu der in Art. 8 der Grundverordnung vorgesehenen Regelung zum Ausgleich der Lagerkosten für Zucker.
8 Art. 14 Abs. 3 dieser Verordnung bestimmt:
„Wird eine C‑Zuckermenge bei der Ausfuhr durch eine entsprechende Menge A‑ oder B‑Zucker ersetzt, so wird die ersetzte Menge von dem Tag an, an dem die Ausfuhrzollförmlichkeiten erfüllt sind, für die Gewährung der Vergütung als A‑Zucker angesehen.“
Verordnung Nr. 2670/81
9 Die auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 3 der Grundverordnung ergangene Verordnung Nr. 2670/81 regelte die Voraussetzungen, unter denen die Ausfuhr von C‑Zucker als erfolgt galt.
10 Der fünfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2670/81 lautete:
„Den betreffenden Herstellern sollte die Möglichkeit zur Ausfuhr von nicht selbst erzeugtem Zucker … gegeben werden. In diesem Fall sollte die Zahlung eines Pauschalbetrags vorgesehen werden, der in allen Fällen als Ausgleich … für etwaige Vorteile anzusehen ist, die sich aus einem solchen Austausch ergeben können.
…“
11 Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung sah vor:
„Der Nachweis [für die Ausfuhr des C‑Zuckers] wird erbracht durch Vorlage
a)
einer Ausfuhrlizenz, die dem betreffenden Hersteller von der zuständigen Stelle des in Absatz 1 genannten Mitgliedstaats … erteilt wurde;
b)
der … Unterlagen zur Freistellung der Kaution;
c)
einer Erklärung des Herstellers, mit der er bescheinigt, dass der C‑Zucker … von ihm hergestellt worden ist;
…
Der betreffende Hersteller kann jedoch bei der Ausfuhr C‑Zucker durch einen anderen Weißzucker in unverändertem Zustand der Position 1701 der [Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1)] oder C‑Isoglukose durch eine andere Isoglukose austauschen, die von einem anderen auf dem Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sind. In diesem Fall hat der Hersteller, der den Austausch veranlasst, … einen Betrag von 1,25 [Euro] je 100 kg … zu entrichten.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
12 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Pfeifer & Langen, ein zuckerverarbeitendes Unternehmen, in den Wirtschaftsjahren 1987/88 bis 1996/97 gemäß Art. 8 Abs. 2 der Grundverordnung im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker (im Folgenden: GMO Zucker) Lagerkostenvergütungen für die Einlagerung von Weißzucker erhalten hatte.
13 Von 1997 bis 2003 wurde gegen Pfeifer & Langen wegen Betrugs bei den Lagerkostenvergütungen für Weißzucker in den genannten Wirtschaftsjahren ermittelt. Ihr wurde in diesem Rahmen u. a. vorgeworfen, im Wirtschaftsjahr 1990/91 eine über die Erzeugungsquoten hinaus erzeugte Zuckermenge – die in diesem Fall als „C‑Zucker“ eingestuft wird – als vergütungsfähigen Zucker angezeigt zu haben.
14 Pfeifer & Langen gab hierzu an, sie habe im Wirtschaftsjahr 1990/91 eine in Frankreich erzeugte Quotenzuckermenge – die in diesem Fall als „A‑Zucker“ oder „B‑Zucker“ bezeichnet wird – gekauft. Dieser Zucker sei aus Frankreich auf ein Betriebsgelände von Pfeifer & Langen in Deutschland verbracht und als Quotenzucker verbucht worden. Er sei allerdings nicht in eigenen Silos des Unternehmens eingelagert, sondern mit neuen Versandpapieren versehen und nach Antwerpen (Belgien) zwecks Ausfuhr aus dem Gebiet der Union als C‑Zucker verbracht worden. Pfeifer & Langen habe sodann eine entsprechende Menge C‑Zucker aus ihrer eigenen Mehrerzeugung (im Folgenden: in Rede stehender C‑Zucker) als Quotenzucker deklariert und dafür die Lagerkostenvergütung beantragt.
15 Mit Bescheid vom 30. Januar 2003 hob die BLE als zuständige Stelle für die Lagerkostenvergütung die Pfeifer & Langen für die Monate Juli 1990 bis Juni 1991 bewilligten Lagerkostenvergütungen teilweise auf und forderte die gezahlten Vergütungsbeträge zurück. Pfeifer & Langen erhob gegen diesen Bescheid Widerspruch.
16 Mit Bescheid vom 4. Oktober 2006 wies die BLE den Widerspruch von Pfeifer & Langen zurück, soweit er den in Rede stehenden C‑Zucker betraf.
17 Am 7. November 2006 erhob Pfeifer & Langen gegen diesen Bescheid der BLE Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln. Darin machte sie u. a. geltend, sie habe den in Rede stehenden C‑Zucker vorschriftsmäßig bei der Ausfuhr gegen eine entsprechende Menge Quotenzucker aus Frankreich ausgetauscht, so dass dieser C‑Zucker nach Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 für eine Lagerkostenvergütung in Betracht gekommen sei.
18 Mit Urteil vom 25. November 2009 wies das Verwaltungsgericht Köln die Klage von Pfeifer & Langen ab, soweit sie den von ihr vorgenommenen Zuckeraustausch betraf. Es führte hierzu aus, dieser Austausch habe gegen Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 verstoßen, wonach der Austauschzucker von einem im selben Mitgliedstaat ansässigen Hersteller stammen müsse.
19 Das vorlegende Gericht, das mit der Berufung von Pfeifer & Langen gegen dieses Urteil befasst ist, führt aus, der Ausgang des bei ihm anhängigen Verfahrens hänge davon ab, ob der Austausch von C‑Zucker bei der Ausfuhr zulässig sei, wenn die Hersteller in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig seien. Insoweit sei zu klären, ob Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 oder Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar sei. Beide Bestimmungen beträfen nämlich den Austausch von C‑Zucker, doch enthalte Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 keine besondere Voraussetzung, während nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 der Austauschzucker von einem im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sein müsse.
20 Weiter sei zu klären, ob diese Bestimmungen einen gegenständlichen Austausch der ursprünglichen C‑Zuckermenge mit der Austauschzuckermenge voraussetzten oder ob der buchmäßige Austausch dieser Mengen genüge. Sofern im Ausgangsverfahren Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 Anwendung finde, bedürfe schließlich der Klärung, ob die Beschränkung des Austauschs auf im selben Mitgliedstaat ansässige Hersteller eine Beschränkung des freien Warenverkehrs in der Union darstelle.
21 Unter diesen Umständen hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Regelt Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 für den Bereich des Lagerkostenausgleichs den Zuckeraustausch abschließend, und ist nach dieser Vorschrift nicht Voraussetzung, dass der auszutauschende Zucker von einem anderen auf dem Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sein muss?
2. Bejahendenfalls: Setzt Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 für die Inanspruchnahme von Lagerkostenvergütung voraus, dass der Austausch-C‑Zucker bei dem Zuckerhersteller „gegenständlich ersetzt“ wird?
3. Falls Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 auf den Fall des Zuckeraustauschs anwendbar ist: Setzt Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 für die Inanspruchnahme von Lagerkostenvergütung voraus, dass der Austausch-C‑Zucker bei dem Zuckerhersteller „gegenständlich ausgetauscht“ wird?
4. Hilfsweise: Ist die Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 insoweit ungültig, als sie verlangt, dass der auszutauschende Zucker „von einem anderen auf dem Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden ist“?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
22 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der GMO Zucker die Grundverordnung ein System nationaler Erzeugungsquoten für die Zuckerproduktion in der Union vorsieht. Gemäß Art. 24 der Grundverordnung teilen die Mitgliedstaaten unter Beachtung der ihnen zugewiesenen Grundmengen jedem Zuckerhersteller in ihrem Hoheitsgebiet eine A-Quote und eine B-Quote zu. Der im Rahmen dieser Quoten erzeugte Zucker darf in der Union in den Verkehr gebracht werden und wird durch verschiedene Maßnahmen zur Stützung der Erzeugung gefördert.
23 Dagegen darf Zucker, der über die einem Hersteller zugeteilten Quoten hinaus erzeugt wurde, d. h. C‑Zucker, nicht auf dem Binnenmarkt abgesetzt werden. Nach Art. 26 der Grundverordnung muss dieser Zucker grundsätzlich in unverarbeiteter Form vor dem auf das Ende des betreffenden Wirtschaftsjahrs folgenden 1. Januar aus dem Gebiet der Union ausgeführt werden.
24 Aus den Art. 1 und 2 der Verordnung Nr. 2670/81 geht hervor, dass ein Hersteller grundsätzlich den C‑Zucker aus seiner Erzeugung ausführen muss. Wie jedoch im fünften Erwägungsgrund dieser Verordnung hervorgehoben wird, war der Unionsgesetzgeber der Auffassung, dass diesen Herstellern in bestimmten Fällen die Möglichkeit zur Ausfuhr von nicht selbst erzeugtem Zucker gegeben werden sollte.
25 Zu diesem Zweck sieht Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 einen Mechanismus vor, der es einem Hersteller erlaubt, bei der Ausfuhr die von ihm auszuführende C‑Zuckermenge gegen eine entsprechende Menge Quotenzucker auszutauschen, die von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden ist. Aus dieser Bestimmung ergibt sich somit, dass der ausgetauschte Zucker, der ursprünglich zum C‑Zucker gehörte, durch eine buchmäßige Änderung den Status von Quotenzucker erhält und vom Hersteller auf dem Binnenmarkt frei in den Verkehr gebracht werden darf, während der ursprünglich im Rahmen der Quote erzeugte Austauschzucker als C‑Zucker ausgeführt wird.
26 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 1 und 2 der Grundverordnung eine Regelung zum Ausgleich der Lagerkosten für Zucker vorsieht, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, den Herstellern die Kosten für die Einlagerung des Zuckers pauschal zu vergüten. Gemäß Art. 26 Abs. 1 Unterabs. 2 der Grundverordnung sind nur die Lagerkosten für den im Rahmen der A-Quote und der B-Quote erzeugten Zucker vergütungsfähig, nicht aber die Lagerkosten für C‑Zucker.
27 Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind im Licht dieser Erwägungen zu beantworten.
Zur ersten und zur vierten Frage
28 Mit seiner ersten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 dahin auszulegen ist, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Hersteller bei der Ausfuhr eine C‑Zuckermenge durch eine entsprechende Menge Quotenzucker aus der Erzeugung eines anderen Herstellers ersetzen möchte, im Rahmen der Vergütung der Lagerkosten die in der letztgenannten Bestimmung angeführten Voraussetzungen zu berücksichtigen sind, und zum anderen, ob diese Bestimmung gemessen am Unionsrecht gültig ist, soweit sie verlangt, dass der Austauschzucker von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden ist.
29 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78, wenn eine C‑Zuckermenge bei der Ausfuhr durch eine entsprechende Menge A- oder B‑Zucker ersetzt wird, die ersetzte Menge von dem Tag an, an dem die Ausfuhrzollförmlichkeiten erfüllt sind, für die Gewährung der Vergütung als A‑Zucker angesehen wird.
30 Angesichts ihres Wortlauts ist festzustellen, dass diese Bestimmung lediglich den Zeitpunkt festlegt, ab dem eine vorschriftsmäßig durch Quotenzucker ersetzte C‑Zuckermenge bei der Berechnung der Lagerkostenvergütung als vergütungsfähiger Zucker anzusehen ist.
31 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Hersteller bei der Ausfuhr eine C‑Zuckermenge durch eine entsprechende Menge Quotenzucker, die von einem anderen Hersteller erzeugt wurde, ersetzen möchte, sind auch die in Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 aufgestellten Voraussetzungen zu berücksichtigen.
32 Insoweit ist dem Wortlaut der letztgenannten Bestimmung zu entnehmen, dass die Vorschriftsmäßigkeit eines solchen Austauschs von drei Voraussetzungen abhängt. Erstens muss der Austauschzucker zur Position 1701 der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung Nr. 2658/87 gehören, zweitens muss dieser Zucker von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sein und drittens muss der Hersteller, der den Austausch veranlasst, einen Betrag von 1,25 Euro je 100 kg ausgetauschten Zuckers entrichten.
33 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass sich das Erfordernis, dass der Austauschzucker von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sei, aus dem Wortlaut der ursprünglichen deutschen Sprachfassung von Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 nicht zweifelsfrei herleiten lasse. Da in dieser Fassung das Verb „erzeugen“ im Singular stehe, würde nämlich bei einer allein am Wortlaut orientierten Auslegung die Voraussetzung, dass das Austauscherzeugnis von einem im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sein müsse, nur für den Austausch von C‑Isoglukose gelten.
34 Insoweit genügt der Hinweis, dass die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung und Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts es verbietet, im Fall von Zweifeln eine Bestimmung in einer ihrer Sprachfassungen isoliert zu betrachten, sondern es gebietet, sie unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen und anzuwenden (vgl. u. a. Urteile Stauder, 29/69, EU:C:1969:57, Rn. 3, Moksel Import und Export, 55/87, EU:C:1988:377, Rn. 15, EMU Tabac u. a., C‑296/95, EU:C:1998:152, Rn. 36, und Profisa, C‑63/06, EU:C:2007:233, Rn. 13).
35 Auch wenn der Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 in der ursprünglichen deutschen Sprachfassung mehrdeutig sein mag, ergibt sich aber aus dem Wortlaut dieser Bestimmung in den anderen Amtssprachen, u. a. der französischen, der griechischen, der italienischen und der niederländischen Fassung, dass der Unionsgesetzgeber als Voraussetzung für den Austausch von C‑Zucker bei der Ausfuhr verlangte, dass der Austauschzucker von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt wurde. Zudem geht diese Voraussetzung aus der in zeitlicher Hinsicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren deutschen Sprachfassung dieser Verordnung, insbesondere der Wendung „die von einem anderen auf dem Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sind“, klar hervor.
36 Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81, soweit er verlangt, dass der Austauschzucker von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden ist, gemessen am Unionsrecht und insbesondere den primärrechtlichen Bestimmungen über den freien Warenverkehr in den Art. 34 AEUV und 35 AEUV gültig ist.
37 Zwar gilt das in den Art. 34 AEUV und 35 AEUV vorgesehene Verbot mengenmäßiger Beschränkungen sowie von Maßnahmen gleicher Wirkung nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur für nationale Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen der Unionsorgane (vgl. in diesem Sinne Urteile Denkavit Nederland, 15/83, EU:C:1984:183, Rn. 15, Meyhui, C‑51/93, EU:C:1994:312, Rn. 11, Kieffer und Thill, C‑114/96, EU:C:1997:316, Rn. 27, sowie Alliance for Natural Health u. a., C‑154/04 und C‑155/04, EU:C:2005:449, Rn. 47).
38 Es ist jedoch festzustellen, dass die in Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 aufgestellte Voraussetzung, dass der Austauschzucker von einem im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden sein muss – unterstellt, sie wäre eine Beschränkung im Sinne der Art. 34 AEUV und 35 AEUV –, jedenfalls gerechtfertigt ist, da sie eine notwendige Folge des durch die Grundverordnung eingeführten Quotensystems ist.
39 Wie aus den Erwägungsgründen 3, 10 und 14 der Grundverordnung hervorgeht, stellt das Quotensystem eine der Maßnahmen der GMO Zucker dar, die letztlich dazu dienen, den Unionsmarkt zu stabilisieren und damit u. a. die Beschäftigungslage und den Lebensstandard der Unionshersteller zu sichern. In diesem Rahmen garantieren die nationalen Quoten den Herstellern die Gemeinschaftspreise und den Absatz ihrer Erzeugung (vgl. in diesem Sinne Urteil Koninklijke Coöperatie Cosun/Kommission, C‑68/05 P, EU:C:2006:674, Rn. 59 und 62, sowie Beschluss Isera & Scaldis Sugar u. a., C‑154/12, EU:C:2013:101, Rn. 46).
40 Zu diesem Zweck hat der Unionsgesetzgeber, wie in Rn. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Aufteilung der Zuckererzeugung in der Union nach Mitgliedstaaten vorgesehen. Es ist daher Sache jedes Mitgliedstaats, die ihm zugewiesenen Grundmengen als A-Quoten und B-Quoten zwecks Lenkung der Zuckererzeugung in seinem Hoheitsgebiet unter den dort ansässigen Herstellern aufzuteilen.
41 Hingegen könnte ein solcher, zwischen Herstellern, die in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind und für die gesonderte nationale Quoten gelten, stattfindender Austausch von C‑Zucker bei der Ausfuhr die Struktur des Erzeugungsquotensystems stören. Ein C‑Zuckeraustausch bei der Ausfuhr, wie er in Rn. 25 des vorliegenden Urteils beschrieben wird, entspräche de facto einer Quotenübertragung von dem Hersteller, der den Austauschzucker liefert, auf den Hersteller, der den Austausch vornimmt. Dies hätte insbesondere zur Folge, dass sich die Quoten dieser beiden Hersteller nicht mehr mit den Quoten decken würden, die ihnen von ihrem jeweiligen Mitgliedstaat im Einklang mit seiner Grundmenge ursprünglich zugeteilt wurden.
42 Somit verstößt eine Voraussetzung wie die in Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 vorgesehene nicht gegen die Verbote der Art. 34 AEUV und 35 AEUV.
43 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 dahin auszulegen ist, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Hersteller bei der Ausfuhr eine C‑Zuckermenge durch eine entsprechende Menge Quotenzucker aus der Erzeugung eines anderen Herstellers ersetzen möchte, im Rahmen der Vergütung der Lagerkosten die in der letztgenannten Bestimmung angeführten Voraussetzungen zu berücksichtigen sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört insbesondere das Erfordernis, dass der Austauschzucker von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden ist. Die Prüfung der Vorlagefragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmung berühren könnte.
Zur zweiten und zur dritten Frage
44 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 und Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 dahin auszulegen sind, dass ein vorschriftsmäßiger C‑Zuckeraustausch bei der Ausfuhr voraussetzt, dass die ursprüngliche C‑Zuckermenge und die Austauschzuckermenge vom Hersteller gegenständlich ausgetauscht werden.
45 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78, wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, lediglich den Zeitpunkt festlegt, ab dem eine vorschriftsmäßig durch Quotenzucker ersetzte C‑Zuckermenge bei der Berechnung der Lagerkostenvergütung als vergütungsfähiger Zucker anzusehen ist. Die Voraussetzungen für einen vorschriftsmäßigen Austausch von C‑Zucker bei der Ausfuhr gegen Quotenzucker, der von einem anderen Hersteller erzeugt worden ist, sind nämlich in Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 geregelt.
46 Das Erfordernis eines gegenständlichen Austauschs der ursprünglichen C‑Zuckermenge gegen die Austauschzuckermenge gehört aber nicht zu den in der letztgenannten Bestimmung vorgesehenen und in Rn. 32 des vorliegenden Urteils aufgeführten Voraussetzungen. Somit verlangt diese Bestimmung keinen solchen gegenständlichen Austausch.
47 Dieses Ergebnis wird dadurch bestätigt, dass, wie Pfeifer & Langen sowie die BLE in ihren schriftlichen Erklärungen geltend gemacht haben, Weißzucker ein homogenes Erzeugnis ist, so dass es zwischen dem ursprünglichen C‑Zucker und dem Austauschzucker keine erkennbaren physikalischen Unterschiede gibt.
48 Zudem geht aus dem fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2670/81 hervor, dass durch den Mechanismus des C‑Zuckeraustauschs bei der Ausfuhr einem Hersteller die Möglichkeit gegeben werden soll, seine Verpflichtung zur Ausfuhr von C‑Zucker durch die Ausfuhr von nicht von ihm selbst erzeugtem Zucker zu erfüllen. Das Erfordernis eines gegenständlichen Austauschs der Zuckermengen liefe diesem Ziel zuwider.
49 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 und Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 dahin auszulegen sind, dass ein vorschriftsmäßiger Zuckeraustausch bei der Ausfuhr nicht voraussetzt, dass die ursprüngliche C‑Zuckermenge und die Austauschzuckermenge vom Hersteller gegenständlich ausgetauscht werden.
Kosten
50 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 14 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1998/78 der Kommission vom 18. August 1978 über Durchführungsbestimmungen zur Regelung des Ausgleichs der Lagerkosten für Zucker in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1714/88 der Kommission vom 13. Juni 1988 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2670/81 der Kommission vom 14. September 1981 mit Durchführungsvorschriften für die Erzeugung außerhalb von Quoten im Zuckersektor in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 3892/88 der Kommission vom 14. Dezember 1988 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Hersteller bei der Ausfuhr eine C‑Zuckermenge durch eine entsprechende Menge Quotenzucker aus der Erzeugung eines anderen Herstellers ersetzen möchte, im Rahmen der Vergütung der Lagerkosten die in der letztgenannten Bestimmung angeführten Voraussetzungen zu berücksichtigen sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört insbesondere das Erfordernis, dass der Austauschzucker von einem anderen im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats ansässigen Hersteller erzeugt worden ist. Die Prüfung der Vorlagefragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmung berühren könnte.
2. Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1998/78 und Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 2670/81 sind dahin auszulegen, dass ein vorschriftsmäßiger Zuckeraustausch bei der Ausfuhr nicht voraussetzt, dass die ursprüngliche C‑Zuckermenge und die Austauschzuckermenge vom Hersteller gegenständlich ausgetauscht werden.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 29. April 2015.#Sven A. von Storch u. a. gegen Europäische Zentralbank.#Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Unmittelbar betroffene Person – Beschlüsse der Europäischen Zentralbank – Leitlinie 2012/641/EU der Europäischen Zentralbank – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.#Rechtssache C-64/14 P.
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62014CO0064
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ECLI:EU:C:2015:300
| 2015-04-29T00:00:00 |
Gerichtshof, Cruz Villalón
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BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
29. April 2015(*)
„Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Unmittelbar betroffene Person – Beschlüsse der Europäischen Zentralbank – Leitlinie 2012/641/EU der Europäischen Zentralbank – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs“
In der Rechtssache C‑64/14 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 7. Februar 2014,
Sven A. von Storch u. a., Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt M. Kerber,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch C. Kroppenstedt und G. Gruber als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt H.‑G. Kamann,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský
und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs
durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen Herr von Storch und die 5 216 weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Rechtsmittelführer,
den Beschluss des Gerichts der Europäischen Union von Storch u. a./EZB (T‑492/12, EU:T:2013:702) (im Folgenden: angefochtener
Beschluss) aufzuheben, mit dem das Gericht ihre Klage abgewiesen hat, mit der sie beantragt hatten, den Beschluss der EZB
vom 6. September 2012 zu einer Reihe technischer Merkmale der geldpolitischen Outright-Geschäfte (Outright Monetary Transactions)
des Eurosystems an den Sekundärmärkten für Staatsanleihen (im Folgenden: OMT‑Beschluss) und den Beschluss der EZB vom 6. September
2012 über zusätzliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Verfügbarkeit von Sicherheiten für Geschäftspartner, um deren Zugang
zu liquiditätsführenden Geschäften des Eurosystems sicherzustellen (im Folgenden: Sicherheiten-Beschluss), sowie, hilfsweise,
die Leitlinie 2012/641/EU der EZB vom 10. Oktober 2012 zur Änderung der Leitlinie EZB/2012/18 über zusätzliche zeitlich befristete
Maßnahmen hinsichtlich der Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems und der Notenbankfähigkeit von Sicherheiten (ABl. L 284,
S. 14) für nichtig zu erklären.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits ist in den Rn. 1 bis 16 des angefochtenen Beschlusses dargelegt und kann wie folgt zusammengefasst
werden.
3 Am 6. September 2012 erließ der Rat der EZB (im Folgenden: EZB-Rat) den OMT‑Beschluss und den Sicherheiten-Beschluss. Der
Wortlaut dieser Beschlüsse wurde nur in Pressemitteilungen vom selben Tag wiedergegeben.
Der OMT‑Beschluss
4 Nach der Pressemitteilung zum OMT‑Beschluss handelt es sich bei den geldpolitischen Outright-Geschäften um ein geldpolitisches
Instrument, mit dem eine ordnungsgemäße geldpolitische Transmission und die Einheitlichkeit der Geldpolitik im Euroraum sichergestellt
werden sollen. In der Pressemitteilung werden sodann die Rahmenbedingungen für die Durchführung der geldpolitischen Outright-Geschäfte
dargestellt, die mit dem OMT‑Beschluss gebilligt wurden. Diese Bedingungen beziehen sich auf die Konditionalität der geldpolitischen
Outright-Geschäfte, ihren Geltungsbereich, den Gläubigerstatus der EZB, die „Sterilisierung“ der durch die Outright-Geschäfte
geschaffenen Liquidität und die Transparenz dieser Geschäfte.
5 Hierzu wird in dieser Pressemitteilung u. a. ausgeführt: „Der EZB-Rat wird geldpolitische Outright-Geschäfte in Erwägung ziehen,
sofern sie aus geldpolitischer Sicht geboten sind … Nach einer gründlichen Beurteilung wird der EZB-Rat im alleinigen Ermessen
und im Einklang mit seinem geldpolitischen Mandat über die Aufnahme, Fortsetzung und Einstellung von geldpolitischen Outright-Geschäften
entscheiden. … Geldpolitische Outright-Geschäfte werden künftig … bei makroökonomischen Anpassungsprogrammen oder vorsorglichen
Programmen der [Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität] bzw. des [Europäischen Stabilitätsmechanismus] in Erwägung gezogen.“
Der Sicherheiten-Beschluss
6 In der Pressemitteilung zum Sicherheiten-Beschluss wird ausgeführt, dass der EZB-Rat eine Strategie zur Gewährleistung der
Verfügbarkeit von Sicherheiten für Geschäftspartner festgelegt habe, um deren Zugang zu liquiditätsführenden Geschäften des
Eurosystems sicherzustellen.
7 In dieser Pressemitteilung heißt es u. a., dass die Anwendung des Bonitätsschwellenwerts, der nach den Regelungen über die
Eignung von Sicherheiten für die Kreditgeschäfte des Eurosystems vorgesehen sei, in Bezug auf marktfähige vom Zentralstaat
begebene oder garantierte Schuldtitel und dem Zentralstaat gewährte oder von diesem garantierte Kreditforderungen von Ländern,
die für geldpolitische Outright-Geschäfte zugelassen seien oder ein Programm der Europäischen Union oder des Internationalen
Währungsfonds (IWF) durchliefen und die damit verbundenen Auflagen nach Einschätzung des EZB-Rats erfüllten, ausgesetzt werden
müsse. Außerdem sollten marktfähige Schuldtitel, die auf andere Währungen als den Euro, nämlich auf US-Dollar, Pfund Sterling
oder japanische Yen, lauteten und im Euro-Währungsgebiet begeben und gehalten würden, bis auf Weiteres als Sicherheiten bei
Kreditgeschäften des Eurosystems zugelassen werden. Der Pressemitteilung zufolge sollten die betreffenden Maßnahmen mit den
einschlägigen Rechtsakten in Kraft treten.
Die Leitlinie 2012/641
8 Mit der Leitlinie 2012/641 wird der Sicherheiten-Beschluss in Bezug auf die Zulassung bestimmter marktfähiger Schuldtitel,
die auf andere Währungen als den Euro lauten, umgesetzt.
9 Art. 1 dieser Leitlinie sieht vor, dass in die Leitlinie 2012/476/EU der Europäischen Zentralbank vom 2. August 2012 über
zusätzliche zeitlich befristete Maßnahmen hinsichtlich der Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems und der Notenbankfähigkeit
von Sicherheiten und zur Änderung der Leitlinie EZB/2007/9 (ABl. L 218, S. 20) ein Art. 5a („Zulassung bestimmter in Pfund
Sterling, Yen oder US-Dollar denominierter Sicherheiten als notenbankfähige Sicherheiten“) eingefügt wird, dessen Abs. 1 lautet:
„Marktfähige Schuldtitel gemäß Abschnitt 6.2.1 von Anhang I der Leitlinie EZB/2011/14, die auf Pfund Sterling, Yen oder US-Dollar
lauten, stellen notenbankfähige Sicherheiten für geldpolitische Operationen des Eurosystems dar, vorausgesetzt dass: a) sie
im Euro-Währungsgebiet begeben und gehalten/abgewickelt werden; b) der Emittent seinen Sitz im Europäischen Wirtschaftsraum
hat; und c) sie alle sonstigen Zulassungskriterien des Abschnitts 6.2.1 von Anhang I der Leitlinie EZB/2011/14 erfüllen.“
10 Nach Art. 2 der Leitlinie 2012/641 übermitteln die nationalen Zentralbanken der EZB bis spätestens zum 26. Oktober 2012 detaillierte
Informationen zu den Rechtstexten und Umsetzungsmaßnahmen, mit denen sie beabsichtigen, diese Leitlinie zu erfüllen.
11 Nach Art. 4 der Leitlinie 2012/641 ist diese an alle nationalen Zentralbanken gerichtet.
Klage vor dem Gericht und angefochtener Beschluss
12 Mit Klageschrift, die am 12. November 2012 bei der Kanzlei des Gerichts einging und durch ein Schreiben vom 29. November 2012
ergänzt wurde, erhoben die Rechtsmittelführer eine Klage auf Nichtigerklärung der Beschlüsse und der Leitlinie, die oben angeführt
sind.
13 Die EZB erhob gegen diese Klage eine Einrede der Unzulässigkeit.
14 Das Gericht entschied, dass die Rechtsmittelführer nicht klagebefugt seien, und wies daher die Klage als unzulässig ab.
Anträge der Parteien
15 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Rechtsmittelführer,
– den angefochtenen Beschluss aufzuheben;
– ihren mit der Klage vor dem Gericht gestellten Anträgen zu entsprechen und
– der EZB die Kosten aufzuerlegen.
16 Die EZB beantragt,
– das Rechtsmittel als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen und
– den Rechtsmittelführern die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
17 Die Rechtsmittelführer stützen ihr Rechtsmittel auf fünf Gründe, mit denen sie im Wesentlichen eine Verletzung des Rechts
auf Zugang zu den Gerichten und des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz geltend machen.
18 Die EZB erhebt gegen das Rechtsmittel in erster Linie eine Einrede der Unzulässigkeit. Hierzu macht sie geltend, dass in der
Rechtsmittelschrift weder die Namen noch die Wohnsitze der Rechtsmittelführer angegeben seien, mit Ausnahme der von Herrn
von Storch. Außerdem seien die von den Rechtsmittelführern angeführten Gründe vage und ungenau oder stünden in keinem Zusammenhang
mit dem Gegenstand des Rechtsstreits. Darüber hinaus hält die EZB das Rechtsmittel für unbegründet.
19 Ist ein Rechtsmittel ganz oder teilweise offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet, kann der Gerichtshof es
nach Art. 181 seiner Verfahrensordnung jederzeit auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts
ganz oder teilweise durch mit Gründen versehenen Beschluss zurückweisen, ohne das mündliche Verfahren zu eröffnen.
20 Von dieser Möglichkeit ist in der vorliegenden Rechtssache Gebrauch zu machen.
Zur Einrede der Unzulässigkeit wegen fehlender Angabe der Namen und Wohnsitze der Rechtsmittelführer
21 Zu der Einrede der Unzulässigkeit, die daraus hergeleitet wird, dass die Namen und Wohnsitze der Rechtsmittelführer mit Ausnahme
des Namens und Wohnsitzes von Herrn von Storch nicht angegeben seien, ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsmittelschrift
nach Art. 168 Abs. 1 Buchst. a der Verfahrensordnung Namen und Wohnsitz des Rechtsmittelführers enthalten muss. Entspricht
die Rechtsmittelschrift nicht u. a. dieser Vorschrift, setzt der Kanzler dem Rechtsmittelführer nach Art. 168 Abs. 4 der Verfahrensordnung
eine angemessene Frist zur Mängelbehebung. In Ermangelung einer fristgemäßen Mängelbehebung entscheidet der Gerichtshof nach
Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, ob die Nichtbeachtung dieser Förmlichkeit die formale Unzulässigkeit
der Rechtsmittelschrift zur Folge hat.
22 Im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch aus der Rechtsmittelschrift, dass der Rechtsanwalt, der sie unterzeichnet hat, sie
im Namen und in Vollmacht von Herrn von Storch und der anderen von dem angefochtenen Beschluss betroffenen Rechtsmittelführer
eingereicht hat. Außerdem sind die Rechtsmittelführer nicht aufgefordert worden, die Mängel in der Rechtsmittelschrift zu
beheben. Daher ist sie unter diesem Gesichtspunkt nicht als unzulässig anzusehen.
23 Ob die einzelnen Rechtsmittelgründe zulässig sind, ist im Rahmen ihrer jeweiligen Prüfung zu erörtern.
Zu den Rechtsmittelgründen
Zum ersten Rechtsmittelgrund
24 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführer geltend, dass der OMT‑Beschluss und der Sicherheiten-Beschluss
Rechtswirkungen entfaltet hätten und daher mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden könnten.
25 Die EZB macht geltend, dass dieser Rechtsmittelgrund offensichtlich unzulässig sei, weil das Gericht die Frage, ob diese Beschlüsse
verbindliche Rechtswirkungen entfalteten, offengelassen habe. Jedenfalls stellten sie politische Willensbekundungen des EZB-Rats
dar, die der rechtlichen Sphäre vorgelagert seien und lediglich Eckpunkte einer geldpolitischen Strategie der EZB festlegten.
26 Insoweit ist auf die in Rn. 38 des angefochtenen Beschlusses getroffene Feststellung hinzuweisen, wonach die vor dem Gericht
angefochtenen Handlungen, darunter der OMT‑Beschluss und der Sicherheiten-Beschluss, selbst wenn sie verbindliche Rechtswirkungen
entfalteten, keinesfalls als Handlungen angesehen werden könnten, die sich auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführer unmittelbar
auswirkten.
27 Da sich das Gericht zu den Rechtswirkungen dieser Beschlüsse nicht geäußert hat, ist der Rechtsmittelgrund, mit dem die Rechtsmittelführer
dem Gericht vorwerfen, bei der Anwendung der Grundsätze, die für die Rechtswirkungen anfechtbarer Handlungen gelten, einen
Rechtsfehler begangen zu haben, offensichtlich unbegründet.
28 Der erste Rechtsmittelgrund ist somit offensichtlich unbegründet.
Zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes
29 Mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführer geltend, dass sie von dem OMT‑Beschluss
und dem Sicherheiten-Beschluss individuell betroffen seien.
30 Die EZB wendet ein, der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes sei offensichtlich unzulässig, weil sich das Gericht zu
der Frage, ob die fraglichen Beschlüsse die Rechtsmittelführer individuell beträfen, nicht geäußert habe. Jedenfalls seien
die Rechtsmittelführer von den Beschlüssen nicht individuell betroffen.
31 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in dem angefochtenen Beschluss nicht geprüft hat, ob die Rechtsmittelführer
von den genannten Beschlüssen individuell betroffen sind, sondern lediglich festgestellt hat, dass sie von den Beschlüssen
nicht unmittelbar betroffen seien und ihre Klage daher unzulässig sei.
32 Folglich ist, da sich das Gericht zu der Frage, ob die Rechtsmittelführer von den fraglichen Beschlüssen individuell betroffen
sind, nicht geäußert hat, ihr Vorbringen, mit dem sie dem Gericht vorwerfen, in dieser Hinsicht einen Rechtsfehler begangen
zu haben, offensichtlich nicht begründet.
33 Somit ist der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes offensichtlich unbegründet.
Zum zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes sowie zum dritten und vierten Rechtsmittelgrund
34 Mit dem zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes sowie mit dem dritten und dem vierten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführer
geltend, dass das Gericht Rechtsfehler begangen habe, indem es erstens entschieden habe, dass sie weder durch den OMT‑Beschluss
noch durch den Sicherheiten-Beschluss unmittelbar betroffen seien, zweitens festgestellt habe, dass diese Beschlüsse trotz
ihrer Folgen für den Wertpapiermarkt keine Auswirkung auf die Rechtsstellung der Bürger hätten, und drittens die Klagebefugnis
der Rechtsmittelführer von einem tatsächlichen Tätigwerden der EZB oder der nationalen Zentralbanken abhängig gemacht habe,
d. h. von späteren konkreten Geschäften wie etwa Wertpapierkäufen, von denen die Rechtsmittelführer nicht rechtzeitig Kenntnis
erlangen könnten und deren Nichtigerklärung zudem nicht ihre Rückabwicklung erlaube.
35 Die Rechtsmittelführer tragen vor, dass Teil des OMT‑Beschlusses nicht nur die Bereitschaft der EZB sei, gegebenenfalls illimitiert
Staatsanleihen in bestimmten Segmenten aufzukaufen, sondern auch, die Niedrigzinspolitik fortzusetzen. Hierdurch werde die
Rechtsstellung der Rechtsmittelführer gefährdet. Diese Rechtswirkung habe zur Folge, dass sie als Inhaber von Geldvermögen,
dessen Wert in absehbarer Zeit vermindert würde, von diesem Beschluss unmittelbar betroffen seien. Ferner habe das Gericht,
soweit es entschieden habe, dass es auf die eventuellen Wirkungen des OMT‑Beschlusses und des Sicherheiten-Beschlusses auf
die tatsächliche Stellung der Rechtsmittelführer nicht ankomme, eine nicht nachvollziehbare Unterscheidung zwischen einer
durch die Beschlüsse gegebenenfalls herbeigeführten tatsächlichen Vermögensminderung und dem Eingriff in die Rechtsstellung
der Rechtsmittelführer getroffen. Schließlich habe das Gericht mit seinen Ausführungen, wonach der OMT‑Beschluss in jedem
Fall Durchführungsmaßnahmen bedürfe, um sich auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführer auszuwirken, verkannt, dass diese
Durchführungsmaßnahmen nichts weiter bedeuteten als den tatsächlichen Vollzug von Staatsanleiheaufkäufen durch die EZB und
die nationalen Zentralbanken des Eurosystems. Von diesen könnten die Rechtsmittelführer jedoch nicht rechtzeitig Kenntnis
erlangen. Sie würden davon nämlich erst am selben oder sogar erst am Folgetag aus der Zeitung erfahren und die Quantitäten
und die Identität der gekauften Wertpapiere nicht beziffern können. Seien die Aufkäufe bereits vollzogen, gebe es tatsächlich
Schwierigkeiten, sie gegebenenfalls im Wege der Nichtigkeitsklage wieder rückabzuwickeln.
36 Die EZB hält dem entgegen, dass der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes und der vierte Rechtsmittelgrund infolge ihres
allgemeinen und vagen Charakters offensichtlich unzulässig seien. Ebenso sei der dritte Rechtsmittelgrund offensichtlich unzulässig,
weil er eine Frage betreffe, zu welcher das Gericht keine Entscheidung getroffen habe.
37 Zur Begründetheit dieser Rügen führt die EZB aus, dass der OMT‑Beschluss und der Sicherheiten-Beschluss die Rechtsmittelführer
nicht unmittelbar beträfen, weil sie weitere Durchführungsmaßnahmen erforderten. Eine Beeinträchtigung des Geldvermögens der
Rechtsmittelführer durch den OMT‑Beschluss – die aber nicht dargetan worden sei – beträfe, selbst wenn sie vorläge, nicht
die Rechtsstellung der Rechtsmittelführer, sondern allein ihre tatsächliche Stellung. Zu dem Argument der Rechtsmittelführer,
dass sie von den Durchführungsmaßnahmen nicht rechtzeitig Kenntnis erhielten, weist die EZB darauf hin, dass sie einen künftigen
rechtsverbindlichen Beschluss über geldpolitische Outright-Geschäfte im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichen müsse. Auch das Argument zur angeblichen Unmöglichkeit der Rückabwicklung sei nicht stichhaltig, da das Gericht,
wenn eine Nichtigkeitsklage gegen eine Durchführungsmaßnahme begründet sein sollte, diese für nichtig erklären würde und die
EZB die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen ergreifen müsste. Mit diesen Regelungen sei ein hinreichend effektiver Rechtsschutz
sichergestellt.
38 Zu der von der EZB erhobenen Unzulässigkeitseinrede ist festzustellen, dass die zur Stützung des zweiten Teils des zweiten
Rechtsmittelgrundes und des vierten Rechtsmittelgrundes angeführten Argumente zusammen mit den Argumenten, auf die der dritte
Rechtsmittelgrund gestützt ist, mit dem im Wesentlichen Rn. 42 des angefochtenen Beschlusses beanstandet wird, die verschiedenen
Aspekte dieses Beschlusses, die beanstandet werden, erkennen lassen und eine gemeinsame Prüfung dieser Rechtsmittelgründe
ermöglichen. Folglich sind der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes sowie der dritte und der vierte Rechtsmittelgrund
zulässig.
39 In der Sache ist auf die Ausführungen des Gerichts in Rn. 35 des angefochtenen Beschlusses hinzuweisen. Das Gericht hat dort
dargelegt, es sei in dem OMT‑Beschluss klar angegeben, dass er die Rahmenbedingungen für die zukünftige Durchführung von geldpolitischen
Outright-Geschäften durch Festlegung der Hauptparameter für solche Geschäfte schaffen solle. Aus der Pressemitteilung zu diesem
Beschluss gehe hervor, dass der EZB-Rat geldpolitische Outright-Geschäfte in Erwägung ziehen werde, sofern sie aus geldpolitischer
Sicht geboten seien, und nach einer gründlichen Beurteilung im alleinigen Ermessen und im Einklang mit seinem geldpolitischen
Mandat über die Aufnahme, Fortsetzung und Einstellung von geldpolitischen Outright-Geschäften entscheiden werde.
40 Jedoch liegt die in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehene Voraussetzung, dass eine natürliche oder juristische Person von der angefochtenen
Entscheidung unmittelbar betroffen sein muss, nur dann vor, wenn zwei Kriterien kumulativ erfüllt sind, nämlich zum einen,
dass die beanstandete Maßnahme sich auf die Rechtsstellung der betreffenden Person unmittelbar auswirkt, und zum anderen,
dass sie ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr
rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung anderer Durchführungsvorschriften ergibt (vgl.
Beschluss Northern Ireland Department of Agriculture and Rural Development/Kommission, C‑248/12 P, EU:C:2014:137, Rn. 21 und
die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Daher hat das Gericht in Rn. 38 des angefochtenen Beschlusses rechtsfehlerfrei entschieden, dass u. a. der OMT‑Beschluss,
selbst wenn er verbindliche Rechtswirkungen entfaltete, keinesfalls als eine Handlung angesehen werden könne, die sich auf
die Rechtsstellung der Rechtsmittelführer unmittelbar auswirke, weil er in jedem Fall Durchführungsmaßnahmen bedürfe, damit
er sich möglicherweise auf die Stellung der Rechtsmittelführer auswirken könne.
42 Zu dem Vorbringen der Rechtsmittelführer, dass der OMT‑Beschluss sie als Inhaber von Geldvermögen, dessen Wert in absehbarer
Zeit vermindert würde, in ihrer Rechtsstellung beeinträchtige und sie damit unmittelbar betreffe, hat das Gericht in Rn. 42
des angefochtenen Beschlusses zutreffend festgestellt, dass es sich, soweit die Rechtsmittelführer auf die etwaigen negativen
Folgen hinweisen, die insbesondere der OMT‑Beschluss für sie in wirtschaftlicher Hinsicht habe, u. a. eine Verminderung des
Wertes ihrer Vermögen, um einen Umstand handelt, der ihre tatsächliche Stellung und nicht ihre Rechtsstellung betrifft.
43 Hinsichtlich des Rechtsfehlers, den das Gericht dadurch begangen haben soll, dass es die Klagebefugnis der Rechtsmittelführer
von einem tatsächlichen Tätigwerden der EZB oder der nationalen Zentralbanken, d. h. von späteren konkreten Geschäften wie
etwa Wertpapierkäufen, abhängig gemacht habe, von denen die Rechtsmittelführer nicht rechtzeitig Kenntnis erlangen könnten
und deren Nichtigerklärung auch nicht ihre Rückabwicklung erlaube, ist festzustellen, dass der Umstand, dass die Klagebefugnis
der Rechtsmittelführer von einem tatsächlichen Tätigwerden der EZB oder der nationalen Zentralbanken, nämlich späteren Geschäften
wie etwa Wertpapierkäufen, abhängig gemacht wird, jedenfalls eindeutig nicht die von den Rechtsmittelführern angegebenen Folgen
hat.
44 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes sowie der dritte und der vierte
Rechtsmittelgrund offensichtlich unbegründet sind.
Zum fünften Rechtsmittelgrund
45 Mit ihrem fünften Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführer geltend, dass ihr in Art. 47 der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und in Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistetes Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verletzt
worden sei.
46 Dazu tragen die Rechtsmittelführer vor, es müsste, so insbesondere hinsichtlich des Sicherheiten-Beschlusses, stets möglich
sein, die Durchführungsmaßnahmen der nationalen Zentralbanken einer Gültigkeitsprüfung durch den Gerichtshof im Wege einer
Vorabentscheidung zu unterziehen, was jedoch nicht der Fall sei.
47 Abgesehen von der Unerzwingbarkeit einer solchen Vorlageentscheidung kämen nach Ansicht der Rechtsmittelführer ein Urteil
und dessen Umsetzung durch die nationalen Behörden für die Verhinderung der illegalen Kollateralpraxis des Eurosystems viel
zu spät. Der Hinweis des Gerichts auf die kompensatorischen Rechtsbehelfe der Rechtsunterworfenen nach dem AEU-Vertrag sei
rechtsirrig, da sich mit diesen Rechtsbehelfen lediglich Klagen gegen die Union und die EZB führen ließen, um Ersatz für Schäden
zu erlangen, die die Organe der Union oder ihre Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht hätten. Sie erlaubten
es jedoch nicht, die schadensträchtige Politik der EZB, wie sie sich im OMT‑Beschluss und im Sicherheiten-Beschluss manifestiere,
präventiv zu stoppen.
48 Die EZB hält diesen Rechtsmittelgrund wegen seines allgemeinen und vagen Charakters für offensichtlich unzulässig. In der
Sache verweist sie darauf, dass der AEU-Vertrag ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen habe,
um die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Union zu gewährleisten. Art. 47 der Charta ziele nicht darauf ab, das
in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem und insbesondere die Bestimmung über die Zulässigkeit direkter Klagen bei
den Unionsgerichten zu ändern. Ferner sei es gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Aufgabe der Mitgliedstaaten, die erforderlichen
Rechtsbehelfe zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu schaffen, soweit
diese noch nicht existierten.
49 Da die Rechtsmittelführer im Rahmen des fünften Rechtsmittelgrundes die beanstandeten Aspekte des angefochtenen Beschlusses
bezeichnet und ihre Argumente zur Stützung dieses Rechtsmittelgrundes dargelegt haben, ist dieser Rechtsmittelgrund zulässig.
50 Zu dem Vorbringen der Rechtsmittelführer, wonach die Durchführungsmaßnahmen der nationalen Zentralbanken nicht immer im Wege
der Vorabentscheidung auf ihre Gültigkeit geprüft werden könnten, ist in Übereinstimmung mit Rn. 46 des angefochtenen Beschlusses
darauf hinzuweisen, dass mit den Art. 263 AEUV und 277 AEUV auf der einen Seite und Art. 267 AEUV auf der anderen Seite ein
vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen wurde, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen
der Organe gewährleisten soll, wobei mit dieser Kontrolle der Unionsrichter betraut ist. In diesem System haben natürliche
oder juristische Personen, die aufgrund der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 263 AEUV Handlungen der Union wie die im
vorliegenden Fall streitigen nicht unmittelbar anfechten können, die Möglichkeit, die Ungültigkeit solcher Handlungen je nach
den Umständen des Falles entweder inzident gemäß Art. 277 AEUV vor dem Unionsrichter oder aber vor den nationalen Gerichten
geltend zu machen und darauf hinzuwirken, dass diese Gerichte, die nicht selbst die Ungültigkeit der genannten Handlungen
feststellen können, dem Gerichtshof insoweit Fragen zur Vorabentscheidung vorlegen (vgl. in diesem Sinne Urteile Unión de
Pequeños Agricultores/Rat, C‑50/00 P, EU:C:2002:462, Rn. 40, und Kommission/Jégo‑Quéré, C‑263/02 P, EU:C:2004:210, Rn. 30).
51 Wie das Gericht in Rn. 47 des angefochtenen Beschlusses zutreffend festgestellt hat, haben die Rechtsmittelführer im vorliegenden
Fall, da der OMT‑Beschluss und der Sicherheiten-Beschluss in jedem Fall Durchführungsmaßnahmen durch die nationalen Zentralbanken
erfordern, gegebenenfalls die Möglichkeit, diese Durchführungsmaßnahmen vor einem nationalen Gericht anzufechten und im Rahmen
dieses Gerichtsverfahrens die Ungültigkeit dieser Beschlüsse geltend zu machen und darauf hinzuwirken, dass das nationale
Gericht dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorlegt.
52 Die Einrichtung, die einen Rechtsakt erlassen hat, den der Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV für ungültig
erklärt hat, ist jedoch verpflichtet, die Konsequenzen aus dem Urteil des Gerichtshofs zu ziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile
Pinna, 359/87, EU:C:1989:107, Rn. 13, und Mulder u. a./Rat und Parlament, C‑104/89 und C‑37/90, EU:C:1992:217, Rn. 21).
53 Was das Argument anbelangt, die kompensatorischen Rechtsbehelfe der Rechtsunterworfenen nach dem AEU-Vertrag erlaubten es
nicht, die schadensträchtige Politik der EZB, wie sie sich im OMT‑Beschluss und im Sicherheiten-Beschluss manifestiere, präventiv
zu stoppen, so kann es selbst dann nicht durchgreifen, wenn unterstellt wird, dass diese Beschlüsse tatsächlich schadensträchtig
sind.
54 Es gehört nämlich zum Wesen der in Art. 340 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Schadensersatzklage selbst, dass sie einem Rechtsunterworfenen
zur Verfügung steht, der behauptet, dass ihm ein Schaden entstanden ist, der durch die EZB oder ihre Bediensteten verursacht
wurde.
55 Im Übrigen ist im Hinblick auf den durch Art. 47 der Charta gewährten Schutz darauf hinzuweisen, dass diese Vorschrift nicht
darauf abzielt, das in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem und insbesondere die Bestimmungen über die Zulässigkeit
direkter Klagen bei den Gerichten der Union zu ändern, wie auch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel hervorgeht, die gemäß
Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil Inuit
Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 97).
56 Somit sind die in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehenen Zulässigkeitsvoraussetzungen im Licht des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen
Rechtsschutz auszulegen, ohne dass dies den Wegfall der in diesem Vertrag ausdrücklich vorgesehenen Voraussetzungen zur Folge
hätte (vgl. Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, EU:C:2013:625, Rn. 98).
57 Daher hat das Gericht keinen Rechtsfehler begangen, soweit es in Rn. 50 des angefochtenen Beschlusses das Vorbringen der Rechtsmittelführer
zurückgewiesen hat, dass ihr Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beeinträchtigt würde, wenn ihre Klage vom
Gericht als unzulässig abgewiesen würde.
58 Daraus folgt, dass der fünfte Rechtsmittelgrund offensichtlich unbegründet ist.
59 Nach alledem ist das vorliegende Rechtsmittel insgesamt als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
Kosten
60 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der gemäß Art. 184 Abs. 1 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren
Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die EZB die Verurteilung
der Rechtsmittelführer beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, haben die Rechtsmittelführer die Kosten
des vorliegenden Verfahrens zu tragen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) beschlossen:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Herr Sven A. von Storch und die 5 216 weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Rechtsmittelführer tragen die Kosten.
Unterschriften
Anhang
Vorname Name Wohnort in
Klaus Felix Abel Ingelheim
Günther Abels Rodenbach
Christiane Abendroth Göppingen
Alfons Abstreiter Wiedergeltingen
Kai Abt Kiel
Carsten Achilles Osnabrück
Christel Adam Hambühren
Erwin Adam Adenbüttel
Johann Adam Hambühren
Roman Peter Adam Klipphausen
Thomas M. Adam Eisenberg
Wolfgang Adamus Wyk auf Föhr
Hanspeter Adelhardt Hollfeld
Paulina Adelhardt Hollfeld
Elisabeth Adenauer Hennef
Jürgen Adler Dietzhölztal
Natalie Adler Horgenzell
Stephanie Adler Berlin
Sven Adomat Luckenwalde
Marie-Luise Ahrenholz Rethwisch
Peter Ahrenholz Rethwisch
Helga Ahrens Laatzen
Olav Ahrens Bannemin
Franz-Josef Albers Ottobrunn
Dieter Albrecht Königsbrunn
Donata Albrecht Ehlershausen
Dorothee Albrecht Sandhausen
Friedrich Carl Albrecht Ehlershausen
Fritz Albrecht München
Heinz Albrecht München
Ursula Albrecht Königsbrunn
Dorothee Albus Diusburg
Johanna Alcantara München
Ingrid Alexander Friedrichshof
Barbara Alpen München
Alexander Alt Steinhagen
Arno Alt Oberwesel
Heinz Jürgen Althoff St.Wendel
Klaus Althoff Owingen
Monika Althoff St.Wendel
Wolfram Altwicker Frankfurt am Main
Ingried Altwinkler Frankfurt am Main
Diana Aman Berlin
Peter Amberger Tegernsee
Bernhard Ambros Kolbermoor
Markus Ande Heilbronn
Dieter Andreas Hattersheim
Gabriele Maria Anders Esch Bergisch Gaulsheim
Johannes Andrick Netplem
Carla Angeloni Berlin
Jürgen Angerer Zifferntenten
Karl-Ferdinand Angermann Passau
Peter Angermeier Bad Lippspringe
Veronika Angermeier Vierkirchen
Jörn Apenburg Hamberg
Brigitte Arenhold Kerpen-Sindorf
Hans Arenhold Kerpen-Sindorf
Kurt Arenhold München
Birgit Argast Karlsruhe
Friedhelm Argast Karlsruhe
Rita Armberger Hackenwarte
Frank Armbrusten Ebringen
Ulrike Arndt Bleckede
Friedgard Arnhold Berlin
Johannes Arnold Wingst
Thomas Arnold Kornvestheim
Wolfgang Arnold Saarbrücken
Haider Artur Fürstenfeldbruck
Rudolf Arz Forst/Baden
Christine Aschermann Leutkirch
Ute Aschoff Osnabrück
Theresia Asenheubaumer Hebertsfelden
Rudolf Asmera Kornwestheim
Andreas Aßmann Düsseldorf
Herbet Aste Bonsdorf
Heike Atts Hedemünden
Ulrich Atts Witzenhausen
Siegfried Auchtor Pfarrkirchen
Gottfried Auer Pohlheim
Manfred Auer Radolfzell
Ingrid Auer-Brütsch Bergisch Gladbach
Manon Auffenberg Paderborn
Adolf Augustin Strausberg
Ursula Aumüller-Roske Hannover
Ralph Aurand Köln
Robert Aust Erlangen
Jürgen Axmann Werder
Nina Azizi Köln
Sylvia Baberg Usingen
Thomas Baberg Usingen
Dietmar Bach Bonn
Sandra Bach Frankfurt am Main
Manfred Bachmann Wolfsburg
Karl Bader Bad Abbach
Adelheid Badock Chemnitz
Matthias Badock Chemnitz
Wolfram Baentsch Köln
Jörg Baer Eisenhüttenstadt
Ute Baer Möhrendorf
Heiner Bähr Düsseldorf
Martina Baier Heideck
Peter Baier Heideck
Detlef Ballin Sinntal
Julia Ballin Sinntal
Eva Balster-de-Beer Bochum
Ralf Baltes Bad Münster am Stein
Martin Baluses Lautertal
Dieter Balz Breuberg
Nico Balzereit Esslingen
Ralf Balzereit Esslingen
Harald Balzk Bad Karlshafen
Wolfgang Balzuweit Heilbronn
Manfred Bambach München
Andreas Bänsch Leipzig
Hans Banspach Altdorf
Monika Banspach Altdorf
Bernd Bantle Bösingen
Hans Banzhaf Bartholomä
Elfi Barber-Morawetz Detmold
Manfred Morawetz Detmold
Birgit Barbo Wüstenrot
Klaus Barke Hannover
Michael Barth Mühldorf
Monika Barth Mühldorf
Daniela Barthel Wiesbaden
Gert Bartholomäus Emerkingen
Christian Bartsch Dieburg
Erika Bartz Dormagen
Siegfried Bartz Oberursel
Annegret Bäte-Sewing Hilzingen
Gisela Bau Halle
Karin Bauch Ostseebad Kühlungsborn
Bettina Bauer Aschaffenburg
Carsten Bauer Zornheim
Dieter Bauer Ratingen
Jochen Bauer Würzburg
Katrin Bauer Hamburg
Manfred Bauer Veitshöchheim
Roland Bauer Schwäbisch Hall
Rolf Bauer Stuttgart
Willi Bauer Gaggenau
Michael Bauernfeind Murnau
Wolfgang Baum Ingolstadt
Daniel Baumann Lockgrim
Hans Baumann Markt Indersdorf
Ines Baumann Oelsnitz
Klaus Baumann Ludwigsstadt
Regina Baumann Taufkirchen
Rinaldo Baumann Oelsnitz
Claus-Otto Baumbach Wolfsburg
Ulrich Baum-de Vries Stuttgart
Christian Baumgarten Östringen
Frank Baumgarten Bonn
Kurt Baumgarten Troisdorf
Ilse Baumgartner München
Karin Baumgartner Fischbach
Lars Baumhauer Klein Nordende
Werner Bausch Darmstadt
Kurt Baustädter Puchheim
Hartmut Bauwe Wolfsburg
Lioba Baving Schwedenecke
Gabriela Bayer Aschaffenburg
Gundel Bayer Feucht
Rudolf Bayer Aschaffenburg
Thilo Gunter Bechstein Leipzig
Carmen Beck München
Felix Beck Burglengenfeld
Günter Beck Burglengenfeld
Klaudia Beck Burglengenfeld
Maria Beck Burglengenfeld
Ursel Beck Mainz
Dorothee Becker Frankfurt am Main
Fritz Becker Darmstadt
Gerhard Becker Frankfurt am Main
Helmut Becker Westerkappeln
Joachim Becker Bruchhobel
Jörg Becker Bad Aibling
Kay Becker Ilsenberg
Markus Becker Frankfurt am Main
Michael Becker Rheinböllen
Peter Erwin Becker Köln
Steffen Becker Graben-Neudorf
Ulrich Becker Schiffweiler
Ursel-Margret Becker Kerpen
Wolfgang Becker Haltern
Jens Beckmann Wendlingen
Lucia Beckmann Höxter
Anne-Marie Beckord Berlin
Heinz Dieter Beenen Horstmar
Christoph Beer Crossen a. d. Elster
Jürgen Behne Kriftel
Jürgen Jakob Behnke Kerpne
Peter Behr Ludwigshafen
Sabine Behrend Bad Soden
Daniela Behrendt Templin
Rüdiger Behrendt Templin
Sabine Behrendt München
Simone Behrendt Templin
H.-Joachim Behrens Rotenburg/Wümme
Andrea Beier Dreirich
Matthias Beier Steinen
Werner Beismann Wedemark
Hans-Werner Beissert Wildeshausen
Veronika Beissert Wildeshausen
Alexander Bejach Berlin
Dagmar Beller Obernkirchen
Jörg D. Beller Obernkirchen
Hans Günter Bellmann Rastenberg
Thomas Benckert Calan
Manfred Bendel Wallmerad
Rainer Bendler Baden-Baden
Lutz Benekendorff Falkenberg
Ulla Bengs Bad Homburg
Michael Benhard Mainz
Anja Bennewitz Rendsburg
Carmen Bennick Koblenz
Ferdinand Benz Friedrichsdorf
Günter Benz Ohlsboch
Günter Benz Freiburg
Dieter Ber Eitorf
Barthel Berand Gelsenkirchen
Peter Berauer Dresden
Anita Maria Berens Berlin
Josef Berens Schloß Holte-Stukenbrock
Axel Berger Weyher
Falk Berger Neu-Ulm
Gerd Berger Dresden
Joachim Berger München
Jürgen Berger Neu-Isenburg
Ludwig Berger Woringen
Markus Berger Berlin
Michael Berger Gerolstein
Sabina Berger Hemer
Ulrike Berger Woringen
Marcus Bergert Bremen
Gernot Bergmann Potsdam
Klaus Bergmann Augsburg
Georg Berkemeier Fischingen
Waltraud Berle München
Gert Berlenbach Bergisch-Gladbach
Dirk Bermannseder München
Jürgen Berndt Murg
Anke Berneiser Leipzig
Martin Bernemann Frankfurt am Main
Stefan Berner Haltern am See
Peter Bernhardt Ansbach
Stefan Bernhardt Erfurt
Heinz Bertele Tussenhausen
Karin Bertele Tussenhausen
Thomas Bertele Bad Waldsee
Reinhard Bertelsmann Velbert-Neviges
Gottfried Joseph Bertram Köln
Jörg Bertram Habichtswald
Klaus Bertram Stuttgart
Gregor Bertrand Ulm
Reinhold Bertscheit Augsburg
Udo Berzins Völpke
Dieter Beschorner Ulm
Wolfgang Besson Nürtingen
Roland Best Tannheim
Annette Beste Berlin
Ottilia Betler Hochheim
Evelin Betz Burglengenfeld
Martin Betz Egling
Matthias Betzler Hochheim am Main
Gerhard Beuck Hamburg
Walter Beuth Haltern am See
Frank Beyer Freital
Heinz-Albrecht Beyer Rimsting
Johannes Beyer Berlin
Jürgen Beyer Kontanz
Waltraud Beyer Rimsting
Ludger Beyerle Mülheim
Ursula H. Beyerle Mülheim
Manfred Bez Bad Frankenhausen
Peter Bezler Biberach
Petra Bezler Kernen
Thomas Bezler kennen
Wolfgang Bich Detmold
Susanne Biedermann Hannover
Ingmar Biehler Bad Vilbel
Walter Biehler München
Walter Bielefeld Freiburg
Ingo Biener Illerrieden
Gert Bienert Forst
Gisela Biermann Mönchengladbach
Wolfgang Biermann Mönchengladbach
Ariane Bierstedt Jena
Philipp Biesenbach Hürth
Andrea Biewald Erfurt
Josefine Bihler München
Martin Bihler München
Alexander Billig Berlin
Stephan Billig Berlin
Elke Bimmler Köln
Hans Binder Lindau
Ute Binder Dresden
Eric Bingener Cham
Michael Binger Nieder-Olm
Andreas Binke Berlin
Simone Binne Berlin
Estrella Binoya-Dewald Gelsenkirchen
Sandro Birke Fellbach
Daniel Birkholz Seelze
Michael Bischl Pfaffenhofen
Andrea Bischoff Mönchsroth
Fabian Bischoff München
Florian Bischoff Saarbrücken
Johannes Bischoff Wolfratshausen
Ralf Bischoff Zeuthen
Wolfgang Bißling Duisburg
Hans-Jürgen Bittner Berlin
Alexander Bitzer Bad Homburg
Benjamin Biwer Mainz
Helmut Blaas Laupheim
Ralf Blase Markdorf
Olaf Blask Burscheid
Marc-Andre Blath Vallendar
Marc-Philip Blath Vallendar
Silvia Blath Vallendar
Heidemarie Blatz Rothenburg
Werner Blatz Rothenburg
Peter Blecher Hamburg
Klaus Bleck Marktl
Dieter Bleek Großhansdorf
Edith Bleek Großhansdorf
Mary-Ellinor Blenk Berlin
Rainer Bliefert Baar
Ulrich Blomeier Karlshuld
Günter Blotenkämper Pfullendorf
Lothar Bluhm Sulzbach
Manfred Bluhm Gettorf
Thomas Blumberg Rötgesbüttel
Günter Blume Berlin
Helga Blume-Matzke Waldshut-Tiengen
Horst Blumenthal Taufkirchen
Detlef Blut Diera-Zehren
Uwe Bluteshek Gera
Friedrich Bochmann Mannheim
Hubertine Bock Erkelenz
Michael Bock Hanau
Monika Böck Haldenwang
Sigrid Böck Kronberg
Matthias Bockelmann Uelzen
Udo Bockermann Hiddenhausen
Manuela Bockfeld Mannheim
Hermann Heinrich Böddecker Dormagen
Harro Bode Nürnberg
Baldur Bodenstein Tirschenreuth
Peter Boelke Neuss
Anna Boergen Brühl
Ralph Boes Berlin
Lidia Boger Elmenhorst
Thomas Bohelmann Großostheim
Hans Böhlau Leipzig
Susanne Böhlau Leipzig
Ulrike Bohle Epenwöhrden
Gerhard Michael Böhm Kernen-Rommelshausen
Klaus-Jürgern Böhm Chorin
Manfred Böhm Ansbach
Walter Böhm Saarbrücken
Rocco Böhme Gera
Dietrich Böhmer München
Jürgen B. Böhmer Dresden
Jürgen Bohn Barmstedt
Kirsten Bohn Baden-Baden
Jörg Bohne Niederndodeleben
Rolf Bohne Seybothenreuth
Ulrich Bohnen Dattenberg
Gerhard Böhner Ostfildern
Brigitte Bohns- Haverland Solingen
Erdmute Bohnstedt Aschersleben
Joachim Boissier Heideblick
Annelohre Bojahr Witten
Hans-Jörg Bokermann Freiburg
Hans-jörg Bolan Bad Boll
Gereon Bollmann Eckernförde
Ralph Bölzner Loffenau
Wolfgang Bomberg Dortmund
Reiner Bonatz Renningen
Gustav Bonde Itzehoe
Manfred Böning Delmenhorst
Jörg Bonitz Leer
Mario Bork Tengen
Nelja Bormann Berlin
Ellen Born Hamburg
Felix Börner Zell
Christian Borowski Essen
Guido Borrmann Herten
Magdalena Börsig-Hover Murnau
Heike Bosse- Königsberg Lehrte
Leleonore Bossert Rottenburg
Bernhard W. Bothner Germering
Dietrich Bott Oberhain
Helmut Böttcher Hannover
Manfred Böttcher Bochum
Hubertus Botterweck Erkelenz
Hans Braatz Berlin
Ronald Braff Erkrath
Elisabeth Brand Würzburg
Gert Brandel Mainz
Barbara Brandenberg Erkrath
Horst Brandenburg Kirchberg
Elisabeth Brandenstein Illerrieden
Heinz Brandenstein Illerrieden
Barbara Brandi Frankfurt am Main
Robert Brandl München
Sabine Brandl Bernried
Anna A. Brandt Kelkheim
Brigitte Brandt Volkertshausen
Karl Brandt Kelkheim
OlivIer Brandt Adelshofen
Marc Brandtner Zohra
Alfred Brauch Stockstadt
Christiane Brauch Berlin
Manfred Brauch Berlin
Christa Braun Lauf
Gerald Braun Neubiberg
Hartmut Braun Koserow
Helga Braun Lübeck
Hermann Braun Steinheim
Karin Braun Berlin
Klaus Braun Spaiching
Martin Braun Ulm
Michael Braun Berlin
Wolfgang Braun Bietgeheim
Konrad Brauner Hollenbach
Marita Bräuning Coburg
Heiko Brauns Luth.Wittenberg
Wolfgang Brauns Reichelsheim
Horst Bredow Aumühle
Marie-Pierre Brehant Bad Homburg
Gunnar Brehme Coswig
Eric Brehmer Berlin
Offried Breidenich Simmerath
Anton Breil Salach
Harald Breit Schwarzenbruck
Joseph Breitenbach München
Manfred Breitenbach Glattbach
Helmut Breitenfeld Techlenburg
Sibylle Breitfelder Frankfurt am Main
Götz Breitmann Berlin
Adolf Breitmeier Münster
Eckhard Bremer Bonn
Heinz-Dieter Bremer Wanzleben OT Hohendodeleben
Christa Bremer-Kolbe Neustadt
Käte Brennecke Oldenburg
Rudolf Brennecke Bochum
Felix Brenner München
Sabine Brenner Hügelfing
Toni Brenner Wilheim
Holger Breter Berlin
Dominik Bretscher München
Marion Bretschneider Glashüte
Ursula Breuer Haan
Wolfgang Breuer Haan
Burkhardt Brinkmann Schwangau
Heiko Brinkmann Kipfenberg
Silke Brinkmann Lehrte
Walter Brinkmann Garmisch
Alexa Brockdorff Berlin
Johannes Brockob Hannover
Ingrid Broda Augsburg
Helmut Brodbeck Tübingen
Ralf Bröder Heidenrod
Erik Broll Hessisch Lichtenau
Monika Broniszewski VS-Villingen
Peter Brookmann Berlin
Jörg Broschk Düsseldorf
Reimund Bröskamp neubeuern
Lars Bruckert Berlin
F.X. Bruckmaier Altötting
Barbara Bruckner Stuttgart
Verena Brüdigam Tegernheim
Claus Brüdigan Tegernheim
Verena Brüdigan Tegernheim
Hans Brügemann Alling
Stefan Brüggemann Osnabrück
Erhard Brugger Neuhofen
Felicitas Bruggner Karlsruhe
Evelyn Bruhn Ebringen
Gerlinde Brumm-Hägele Crailsheim
Volker Brüning Leonberg
Michael Brunn Höxter
Christian Brunner Selb
Reinfrid Brunner Chemnitz
Jochen Brunninger Mönchsdeggingen
Stefan Brunotte Stuttgart
Petra Bruns Adelheidsdorf
Ronald Bruns Delmenhorst
Edith Bruntsch Schwarzheide
Klaus-J. Bruntsch Schwarzheide
Marcel Bruse Duisburg
Emil Brütsch Bergisch Gladbach
Anni Brutscher Bamberg
Hermann Brutscher Bamberg
Stephan Buch Berlin
Veit Buch Bad Soden
Felix Buchbinder Pfullingen
Norbert Buchbinder Nürnberg
Uta Buchbinder Nürnberg
Helga Büchele Brannenburg
Stefanie Büchele Branneburg
Herbert Bucher Langenfeld
Maria Bucher Langenfeld
Otmar Bücherl Obertraubling
Hans Buchner Fürth
Klaus Buchner München
Klaus-J. Buchner Siegen
Rosemarie Buchner München
Siegfried Buchta Kempten
Ulrich Buchwald Burg / Spreewald
Doris Buck Essen
Sebastian Buck Stuttgart
Birgitt Buckenauer Burg / Spreewald
Ingo Budde Achim
Ulrich Büddefeld Essen
Timm Bugislaus Burg
Marcus Bühl Ilmenau
Jörg Bühler Durbheim
Horst Buley München
Hans-Heinrich Büller Warder
Katja Büller Warder
Barbara Bumann Fehmarn
Ingrid Bumann Berlin
Matthias Bumann Berlin
Christian Bundt Quickborn
Heiner Bünger Berel
Silke Bunger Allendorf
Christoph Bünning Hamburg
Klaus Bünte Minden
Hedwig Buquoy Bonn
Heiko Burchert Bielefeld
Stefan Burchert Wiesbaden
David Bürger Hamburg
Hartmut Burggraf Emnepetal
Tamara Burg-Rauh Ostelsheim
Martin Bürk München
Johannes Burkart Rodgau
Eberhard Burkerl Rostock
Peter Burkert Braunschweig
Walter Burkhart Schrobenhausen
Dietmar Burow Firkenroth
Reinhard Bursian Raisting
Brigitte Busch Ebersbach
Friederike Busch Westensee
Günter Busch Leipzig
Heinz Peter Busch Westensee
Michael-Rainer Busch Ebersbach
Horst Buschmann Wertach
Luise Buschmann Wertach
Ottokar Buse Bomlitz
Gabriele Busemann Datteln
Norbert Busemann Datteln
Heidrun Büsers Krefeld
W. Bushell-Wanger Stockach
Frank Busse Leipzig
Günther Busse Berlin
Udo Bütow Leipzig
Judith C. Buttler Dachau
Hans Büttner Bad Heilbronn
Vera Büttner Bad Heilbronn
Brigitta Butzer Berlin
Christine Butzer Berlin
Harry Buzin Luckenwalde
Marianne Calderon Markt Schwaben
Bernd Campen Königsdorf
Philippa Campling Heidelberg
Dietrich Carl Gaienhofen
Rolf Caspar Werder OT Töplitz
Rosemarie Caspar Werder OT Töplitz
Matthias Cebulla Wanfried
Fatma Cevik Dautphetal
Timur Cevik Hamburg
Bettina Chella Büdelsdorf
Norbert Chella Büdelsdorf
Xiao-Ling Chen- Hamacher Bremen
Aribert Christ Templin
Marcus Christ Buchholz
Nora Christ München
Sibylle Christlein München
Karl-Heinz Chudalla Pforzheim
Christopher Cichos Stiefenhofen
Mario Cichos Stiefenhofen
Sigrid Cichos Stiefenhofen
Gerrit Ciepluch Berlin
Jürgen Claus Annaberg-Buchholz
Peter Clausen Nübel
Jeanette Clauß Burgstädt
Maximillian Clauß Burgstädt
Skadi Clauß Burgstädt
Anna Cleary Berlin
Eberhard Cleff Wiesbaden
Harald Clemens Drolshagen
Karl Clos Kaiserslautern
Igor Clukas München
Barbara Conrad Berlin
Hans-Werner Conrad Erlangen
Ute Conrad Weissenthurm
Karl-Peter Conrads Geilenkirchen
Armin Conradt Wörrstadt
Ulf Costabel Ravensburg
Elfriede Courtenay Ohlstadt
Andrea Cramer Otterfing
Hartmut Cramer Otterfing
Marlene Cremer Niederkrüchten
Reiner Cremer Niederkrüchten
Judith Csibh München
Hans Csonka Teulitz
Suzana Cucukovic Esslingen
Paul Cullen Münster
Anna Elisabeth Cyron Rosenheim
Ulrike Czerny Berlin
Manfred Czerrana Grünheide
Heinz-Dieter Czichy Herne
Berthold Czink Ubstadt-Weiher
Jens Dabberdt Biebergemünd
Udo Daercke Owingen
Karin Daffenberger Rosengarten
Jürgen Dahlmann Neckarsteinach
Anke Dahm Bochum
Doris Dahmen Prün
Heinrich Dahmen Prüm
Sylvia Damitzi Berlin
Thomas Damitzi Berlin
Benjamin Damm Kirchheim
Ulrich Dämmrich Eisenberg
Angelika Dangi Dannenberg
Iliyo Danho Pohlheim
Gerd Danigel Berlin
Heinrich Dann Holzheim
Sabine Dann Korschenbroich
Hartmut Danneck Villingen-Schwenningen
Jens Dannenberg Pattensen
Jürgen Danowski Ausbach
Rüdiger Danowski Frankfurt am Main
Christian Dantz Heilbronn
Klaus-Jürgen Dantz Brackenheim
Sybille Dantz Brackenheim
Hans-Heinrich Darger Karlsruhe
Franz Dauber Sinnelsdorf
Wolfgang David Pinneberg
Daniel De Nobili Sauerlach
Rolf Debus Darmstadt
Wolfgang Degen Gießen
Ralf Degenhardt Dortmund
Alois Degler Rastatt
Klaus-Peter Deichmann Berlin
Helmut Delblanco Gr. Ahlhorn
Andreas Delias Röthenbach
Michael Delias Röthenbach
Delinicolas Hamburg
Vanessa Delkov Fuchstal
Rolf Demmerle Wallerfangen
Wolfgang Demolsky Bochum
Dieter Dengel Arnstein
Erika Denk Fürth
Peter Denk Dachau
Michael Denner Pleinfeld
Jürgen Dennerlern Erding
Benedikt Deppe Detmold
Dieter Deppert Donzdorf
Jan Deppisch Wiesbaden
Wolfgang Deß Schwing
Hermann Detzler Riegelsberg
Markus Detzner Berlin
Hubert Dewald Gelsenkirchen
Felix Dexel Tostedt
Dietmar Dickopf Vallendar
Angelika Diebold Oberhachingen
Jochen Dieckmann Flörsheim
Karl Heinz Diedrichsen Dresden
Rainer Diehl Adelsdorf
Gunther Diel Schauenburg
Walter Diel Kassel
Otto Diemer Pfaffenhofen
Andreas Dienemann Hannover
Stefan Dienst Berleburg
Michael Dieringer Köln
Martin Dieter Wolfen
Alexander Dieterle Hausach
Gerd Diethelm Hofheim
Jürgen Diethelm Planegg
Arwed Dietrich München
Jens Dietrich Ilmenau
Rolf Dietrich Döbeln
Yorck Dietrich Bad Honnef
Wolfgang Dietrichs Kleinmachnow
Anna Dietz Pulheim
Birgit Dietz Weingarten
Gunnar Dietz Weingarten
Günter Dietz Pulheim
Herbert Dietz Wehrheim
Ingrid Dietz Ködnitz
Margarethe Dietz Wehrheim
Udo Dietzmann Mechernich
Karl Dilger Leonburg
Karin Dirschbacher Fürth
Jakob Dirtinger München
Günter Dischinger Gunzenhausen
Ralf Dissemond Bad Meinsweifel
Gernot Dittberner Norderstedt
Josefine Dittmann Rockenhausen
Ulrich Dittmann Rockenhausen
Alois Dittrich Amberg
Godehard Dittrich Ansbach
Wolfgang Dittrich Moers
Matthias Diwok Rostock
Manfred Dlouhy Bad Grönenbach
Wilfried Doberstein Bremen
Reiner Doderer Gaggenau
Wolfgang Doege München
Dietrich Doenitz Stadtbergen
Renate Doenitz Stadtbergen
Dietrich Doepner Schongau
Wolfgang Doerk Filderstadt-Bhsn
Elvira Dohmen Kerpen
Franz-Peter Dohmen Kerpen
Rosemarie Döllinger Tutzing
Uwe Dombrowsky Embsen
Siegfried Raimund Domin Augsburg
Friedrich Dominicus Bruchsal
Konrad Domke Freital
Michael Dommes Felde
Dennis Dönicke Halle
Otmar Donnenberg Weil a.d. Ruhr
Nikolas Donner Norderstedt
Wolf Donnerhack Berlin
Dietrich Dopheide Braunschweig
Christa Dörfler Kulmbach
Helmut Dörfler Kulmbach
Harald Döring Achim
Hans-Joachim Dorn Gersthofen
Irene Dorn Gersthofen
Wolfgang Dorn Fellheim
Wolfgang Dornbach Lennestadt
Georg Dorner Kassel
Gabriele Dorow Berlin
Günter Dorow Baiersdorf
Steffen Dorow Berlin
Sybille Dorow Baiersdorf
Kerstin Dorsheimer Bingen am Rhein
Klaus Dorst Weiskirchen
Nico Dostal Wedel
Günter Dötsch Erkrath
Ralph Douglas Waldbröl
Petra-Maria Dreessen Möhnsen
Stefan Dreher Opfenbach
Christine Dremmler Kornwestheim
Christine M. Dremmler Kornwestheim
Reinhard Dremmler Kornwestheim
Anja Drescher Altenhausen
Thomas Drescher Altenhausen
Willibald Dressel Kronach
Bertram Dreßler Jagstzell
Henric Dressler Weil am Rhein
Armin Dreyer Lotte
Richard Dronskowski Würselen
Erich Drosen Oberschleißheim
Manfred Droßel Hemer
Heike Drost Bernsdorf
Sven Drost Bernsdorf
Philipp Droste Aachen
Hans Dieter Drubel Düsseldorf
Dieter Drucks Bonn
Walter Drummen Neuss
Wolfgang Drzezga München
Volker Dübbers Bruchsal
Günter Duda Alsdorf
Bernhard Duehr Traben-Trarbach
Marpitta Duiolf Berlin
Franz Duis Hatten
Gisela Duis Hatten
Jörg Dumm Behrenhoff
Hans-Ulrich Dummersdorf Seegebiet Mausfelder Land
Werner Dunart München
Christa Dünhölter Wolfenbüttel
Hans Dünisch Uttenreuth
Gudrun Dunker Ahrensburg
Max Dürr Lüneburg
Gerhard Dusch Frankfurt am Main
Günter Duschanski München
Fritz Düster München
Jörg Dutschke Salzwedel
Robert Dycke Steinen
Michael Dyllick- Brenzinger Freiburg
Monika Dyllick- Brenzinger Freiburg
Günter Dziomba Mülheim
Elisabeth Dziomba Mülheim
Janusz Dzworkowski Bonsdorf
Gisela Ebel Heilbronn
Joachim Ebel Heilbronn-Böckingen
Werner Ebel Singen
Gottfried Ebenhöh Wächtersbach
Theo Eberhard Augsburg
Norbert Eberhardt Fürth
Michael Eberhart Gießen
Edeltraud Eberle Aichach
Johann Eberle Aichach
Karl Ebersberger Hausham
René Ebert Höckendorf
Christine Ebertin Walddorfhäslach
Sabine Eccher Gauting
Tomas Eckardt Wiesbaden
Andreas Eckert Zwickau
Rolf Eckert Barsinghausen
Jutta Eckhardt- Scheurig Wiesbaden
Gerhard Eckstein Schwanstetten
Johannes Eckstein Landshut
Robert Eckstein Duisburg
Karl Edelmann Reutlingen
Alfred Edinger Mettach-Wehingen
Ralf Egeler Gäufelden
Tobias Egeler Gäufelden
Jörg Egerland Heideblick
Andreas Eggersmann Rödinghausen
Wilhelm Eggert Grafrath
Heidrun Egler Stockelsdorf
Jürgen Egler Stockelsdorf
Harald Egner Ladenburg
Bernd Ehlers Ködnitz
Hans-Peter Ehrentraut Leutesdorf
Knud Ehrentraut Stuttgart
Werner Ehrhardt Dortmund
Norbert Ehtat Hamburg
Markus Eich Kahl
Inge Eichbauer Wolfschlugen
Erich Eichberg Bad Kissigen
Martin Eichberger Schwabach
Wolfgang Eichholtz Villingen-Schwenningen
Dirk Eichholz Herford
Karl-Helmut Eichner Hohen Viecheln
Theo Eichten München
Wolfgang Eickmann Korbach
Hans Eifler Königsweiler
Franz Eifridt Schopfheim
Jens Einloft Baldham
Hans-Peter Einsele Kürnbach
Johann Einwachter Stutensee
Andreas Eisele München
Michael Eisen Kleinostheim
Hans-Jürgen Eisenlohr Bammental
Johannes Eisenmann Düsseldorf
Klaus Eisenmenger Bonn
Christian Eisenreich Tännerberg
Ludger Elberfeld Vechten
Derk-Jan Elbert Itterbeck
Frank Elgauer Karlsruhe
Helga Elger Bonn
Arvid Ellenberger Sankt Augustin
Walter Ellert München
Gerhard Ellrich Bad Kreuznach
Ullrich-Bernhard Elsasser Ebenhausen
Stefan Elsässer Kirchheim
Hans-Detlef Elze Bietigheim-Bissingen
Emil Emeritzky Berlin
Ellenruth Emmelheinz Köln
Michael Emmelheinz Köln
Cord Emmermann Hannover
Frank Emser Singen
Hans-Jochen Emsmann Schwentinental
Wolf Encke Berlin
Michael Ende Hasbergen
Axel Enders Püttlingen
Randolf Moritz Enders Berlin
Hans-Jorg Endert Moritzburg
Sybille Endert Moritzburg
Adam Endres Wörth
Gabriele Endres Gochsheim
Oliver Endres Kümmenbuck
Marion Endres- Kolmhuber Wörth a.d. Isar
Manfred Engel Berlin
Georg Engemann Jüchen
Margot Engemann Jüchen
Markus Engelsberger Siegdorf
Johannes Engesser Heidelberg
Gabriele Engler Heidenheim
Helmut Engler Düsseldorf
Manfred Engler Ulm
Bernhard Englhart Riedering
Brigitte Englhart Riedering
Martin Englhart Tntentrausen
Wolfgang Engwitz Erding
Martin Enler Hamburg
Ubbo Enninga Stuttgart
Peter Eppinger München
Joerg Erbe Leverkusen
Rolf Erbe Dietzenbach
Jürgen Erdmann Berlin
Anton Erdt Haunsheim
Knut Erdtmann Hohnstorf
Will Erfling Bissendorf
Ali Erhan Hannover
Hannes Erler Hamburg
Helmut Erler Hamburg
Klaus Erler Hamburg
Maria-Luise Erler Fraureuth
Thomas Erler Fraureuth OT Gospersgrün
Robert Ernst Bad Sooden-Allendorf
Andreas Ertel Berlin
Rolf Ertel Moorenweis
Katharine Ertl Stuttgart
Traudl Ertl Kempten
Georg Eschenlohr Landsberg
Jacqueline Esen München
Gerhard Eser Mering
Winfried Esser Remagen
Karl-Ludwig Essert Eichenbühl
Vera Eulner Trebur
Thomas Evers Tecklenburg
Christian Ewald Berlin
Maritta Ewald Berlin
Walter Ewald Berlin
Helmut Exenberger Ried
Herbert J. Exner Wedemark
Hugo Eysel Langenselbold
Jörg Faber Lörrach
Axel Fachtan Fürstenwalde
Jochen Fahl Wuppertal
Dirk Fahrmeyer Münster
Joachim Fahrner Pfronten
Jürgen Falch Hamburg
Hubertus Falckenberg Ebersberg
Jean-Marie Falcone Überlingen
Bianca Falk Fuchstal
Peter Falk Bäufelden
Klaus Falke Berlin
Marvin Falz Rödermark
Werner Falzboden Tutzing
Ludwig Fanghänel München
Kurt Fassbender Rödermark
Karin Fassl Busbek
Dorothea Fastnacht Marloffstein
Klaus Fastnacht Marloffstein
Philipp-Rainer Fäth Lübbecke
Rainer Fauser Augsburg
Friedemann Fecker Barlachingen
Veronika Fecker Barlachingen
Dietmar Feckler Koblenz
Axel Fehling München
Hans-Heinrich Fehn Oberursel
Erna Feicht Petershausen
Ludwig Feicht Petershausen
Gerhard Feichtinger Bad Kissingen
Anke Feierabend Schneverdingen
Stephan Feiler Schönefeld
Bernhard Feist Werneuchen
Gudrun Feist Kremmen
Andy Feistel Burg
Gina Feistel Bad Münder
Holm Felber Dresden
Angela Feld Neutraubling
Ilse Feldmann Seehausen Am Staffelsee
Karl Feldmeyer Berlin
Helmuth Feldner Edewecht
Ralf Fellberg Herne
Dieter Fellinger Kassel
Julia Felschen Wiesbaden
Diether Fend Bad Homburg
Ralf Fennig Goldenstadt
Ludwig Fensel Nürnberg
Peter Fenske Berlin
Matthias Ferdin Reichartshausen
Manfred Ferino Hettenleidelheim
Stefanie Ferstl Reisbach
Hannelore Fesenmeier Germering
Gudrun Feuten Rielasingen-Worblingen
Klaus Feuten Rielasingen-Worblingen
Harald Fiedler Appen-Etz
Karin Fiedler Appen-Etz
Dagmar Fiedler-Heer München
Rainer Fiegl Fürstenfeldbruck
Bernhard Filipcic Salem
Udo Findeisen Quickborn
Artur Finder Königsmoos
Henning Finger Obergünzburg
Hans-Peter Finkbeiner Glatten
Barbara Fischer Leutkirch
Carsten Fischer Berlin
Heike Fischer Harsdorf
Herbert Fischer Leutkirch
Hermine Fischer Ulm
Irmgard Fischer München
Jan-Ulrich Fischer Burkhardtsdorf
Jens Fischer Nideggen
Jürgen Fischer Magdeburg
Jutta Fischer Braunschweig
Manfred Fischer Nürnberg
Maria Fischer Dortmund
Martin Fischer Berlin
Rolf Fischer Baienfurt
Sabine Fischer Völpke
Silvia Fischer München
Steffen Fischer Weisendorf
Steffen Fischer Dürrröhrsdorf
Thomas Fischer Pirna
Uwe Fischer Ulzburg
Winfried Fischer Bad Waldsee
Vera Fischer-Niemann Höhenkirchen
Jens Fitter Hamburg
Andrea Fitz Bremerhaven
Stephan Flach Koblenz
Wolfgang Flade Chemnitz
Thomas Flaskamp Bonn
Gunter Flath Annaberg-Buchholz
Theodor Flaume London
Andreas Flebbe Hannover
Matthias Eric Flehl Berlin
Gerhard Fleischmann Neustadt bei Coburg
Klaus Fleischmann Kaarst
Thilo Fleischmann Nürnberg
Ute Fleischmann München
Lukas Flocken Hamburg
Richard Floto Strande
Ralph Flügel Eging
Sandra Flügel Eging
Werner Fochtmann Grünewald
Helge-Henning Fock Nufringen
Bärbel Foerster Düsseldorf
Jerzy Jan Foit Linkenheim
Heinz Fölster Berlin
Martin Fontanari Mertesdorf
Karsten Fooken Ahlen
Helga Dorothea Foos München
Karlheinz Foos München
Dietmar Forberg Dresden
Martin Först Kassel
Gernot Förster Heidelberg
Rudolf Förster Fellbach
Wolfgang Förster Riemerling
Albert Forstmayer Kolbermoor
Eva Maria Forstmayer Kolbenmoor
Maria Forstner München
Manfred Föttinger Schönkirchen
Christoph Francke Hamburg
Michael Francke Eschede
Christian Franek Waldbrunn
Ernst-Ulrich Frank Lemgo
Günter Frank Bad Feilnbach
Iris Frank Wiesbaden
Johannes Frank München
Mathias Frank Wismar
Michael Frank Bretten
Peter Frank Lauingen
Robert Michael Frank Wiesbaden
Falk Franke Gronau
Gerhard Franke Mainz
Ute Franke Mülsen
Jan Frankl München
Mechthild Frankl Landshut
Ursula Frankowski Ingelheim
Hartmut Franz Fuchstal
Heribert Franz Obertshaausen
Heinz Franzen Langenfeld
Karoline Franzen Stuttgart
Richard Fraunhofer Ruderting
Helene Freisler Regensburg
Julius Freisler Regensburg
Alois Freko Aichach
Michael Frenger Schönborn
Eleena Frenzel Kiel
Knut Frenzel Kiel
Renate Frenzel Uelzen
Rüdiger Frenzel Uelzen
Svenja Frenzel Uelzen
Stefan Freudensprung Taufkirchen
Christoph Freund Duisburg
Angela Freundorfer München
Theodor Freundorfer München
Theodor sen. Freundorfer München
Clemens Frey Hamburg
Karin Frey-Koschwitz München
Hans Fricke Poppendorf
Rudi Fricke Schmerbach
Fabian Friedrich Hamburg
Günter Friedrich Naila
Jürgen Friedrich Hamburg
Lutz Friedrich Stelle
Mario Friedrich Zeithain
Ralf Friedrich Bad Schandau
Renate Friedrich Naila
Anna-Carina Frielingsdorf Neunkirchen-Seelscheid
Mario Frieske Karlsruhe
Johannes Frieß Mainz
Gertraud Frintop Lüdinghausen
Werner-Leopold Frint Breckerfeld
Tobias Fritsch Böhl-Iggelheim
Georg Fritsche Göppingen
Gerolf Fritsche Offenbach
Heinz Fritz Düsseldorf
Helmut Fritz Kornwestheim
Rüdiger Fritz Breitnau
Wilfried Fritz Rödermark
Elisabeth Frohberg Duisburg
Holger Frohberg Duisburg
Gabriele Fröhlich Berlin
Gustav Fröhlich Berlin
Karl-Heinz Fröhlich Stade
Michael Fröhlich Selm
Maria Froitzheim Bonn
Jürgen Frölich Springe
Götz Frömming Berlin
Philipp Fröning München
Axel Fröscher Bielefeld
Ulrich Fröschle Dresden
Ulrike Frowein Berlin
Tonio Fruehauf München
Stefan Fuchs Bonn
Andreas Fuchs Schönau
Hannelore Fuchs Bornheim
Udo Fuchs Troisdorf
Wolfram Fuchs Köln
Rainer Fuchsreiter Bad Reichenhall
Gertrud Fuhrig Annaberg-Buchholz
Christina Fuhrmann Rothenburg
Klaus Fuhrmann Scheeßel
Peter Funck Seeretal
Sören Funk Königs-Wusterhausen
Thomas Funk Ratingen
Hans-Adolf Funke Einbeck
Volker Furch Pforzheim
Wolfgang Furch Bad Nauheim
Anna Fürst Kaufbeuren
Jeanette Fürst Rödermark
Markus Fürst Rödermark
Ulrich Fürst Kaufbeuren
Christian Fußel Bonn
Renate Gähler Pfaffenhofen
Eveline Gahler-Lang Bad Homburg
Rudolf Gahthow Berlin
Herbert Gaiser München
Roland Galle Radleben
Diethard Galler Passau
Karin Gampe Gröbenzell
Luis Garom Schenefeld
Marion Gartmaier Bruckmuehl
Martin Gaßdorf Bremen
Gottfried Gasse Illmensee
Marco Gatti Mainz
Peter Gatzke Oberschau
Sabine Gauger München
Falk Gebel Düsseldorf
Anton Gebhard Nandlstadt
Hans Gebhard Hamburg
Karl-Heinz Gebhardt Karlsruhe
Klaus Gebhardt Rausdorf
Kurt Gebhardt Bad Sooden-Allendorf
Markus Gebhart München
Jochen Gebser Hagen
Johannes Gehlen Flammersfeld
Sabine Gehrhardt Eschborn
Andreas Gehri Lörrach
Horst Gehrig Hamburg
Norbert Gehring Gelnhausen
Jürgen Gehrke Lampertheim
Heinz Gehrmann Niedertaufkirchen
Florian Gehrt Büdelsdorf
Joachim Gehrt Bünsdorf
Karen Gehrt Hamburg
Attila Geiger Durbach
Bernd Geiger Worms
Ellen Geiger Hambrücken
Karl-Heinz Geiger Hambrücken
Martina Geiger Rieden
Ralph Geiger Rieden
Ilse Geimer Mainz
Winfried Geisel Nutringen
Hans-Gerd Geisen Vallendar
Eva Maria Geiser Dettum
Hans Geisler Berlin
Frank Geißler Dresden
Paulus Geißler Rettenbach
Cornelia Gelbke München
Klaus-Dieter Gellert Helmstedt
Angelika Gellisch Twist
Dieter Gellisch Twist
Peter Gemünd Stutensee
Dirk Genth Groß Grönau
Jutta Genutue München
Martina Geörger München
Axel Georgi Dresden
Hans-Jürgen Geppert Saalburg-Ebersdorf
Josef Gerards Stolberg
Helmut Gerber Ottersweier
Lukas Christian Alexander Gerber Berlin
Peter Gerbershagen Weinheim
Gerhard Lauerbach Stadtlauringen
Peter Gerhardinger Vilshoffen
Wilhelm Gerhard Freyung
Alexander Gerhardt Ruhrpolding
Anneliese Gerhardt Ruhrpolding
Thomas Gerhardt Berlin
Wolfram Gerhardt Ruhrpolding
Thomas Gering Kellinghusen
Martina Gerken Hamburg
Jana Gerntke Ostseebad Binz
Daniela Gerstenberg Schönefeld
Peter Gerstenberg Berlin
Andor Gerstmayr Brannenburg
Winfried Gertloff Fürth
Barbara Gertloff Fürth
Andreas Gertz Cottbus
Jutta Gertz Cottbus
Wolfgang Gesekus Oldenburg
Helga Geßner Langmargen
Reinald Geßner Langmargen
Lorenz Geßwein Bonn
Andrea Gibbert Alf
Martin Giebeler Zwingenberg
Roland Giebitz Oldenburg
Susanne Giegerich Berlin
Wolfgang Giegerich Berlin
Jürgen Giegold Neufahrn
Ekkehard Giehl Gummersbach
Veronika Gierer-Komor Waiblingen
Evelyn Giese Brühl
Klaus Giese Wennerstadt
Bernd Giesel Berlin
Helmut Gieselmann Hofbieber
Winfrid Gieselmann Mühlacker
Peter Gill Detmold
Susanna Gill Gundelfingen
Volker Gillot Oppenheim
Frank Gimboth Kastellaun
Maria del Rosario Girol-Ziesmer Berlin
Steffen Gitte Oschersleben
Dolores Glanert München
Marianne Glas Tiekenfeldt
Rolf-Jürgen Glaß Nackenheim
Karin Glasow Kolbermoor
Dietrich Glauner Münster
Wolfgang Gleißner Essen
Achim Glinski Steinen
Günther Glück Bad Wörishofen
Hilke Gluschke Fleckeby
Martin Gluschke Fleckeby
Achim Göbel Weilmünster
René Goebel Zornheim
Ute Goebel Zornheim
Ludwig Goergens Berlin
Eva Goertz Bardowick
Heinz Göhring Alring
Christian Golbs Erfurt
Christine Golbs Erfurt
Dieter Golbs Erfurt
Klaus-Jürgen Goldmann Berlin-Tiergarten
Enrico Golias Tauberbischoffsheim
Norbert Goll Marsberg
Herbert Göll Lappersdorf
Horst Göllner Nienburg/Weser
Matthias Gonder Bingen am Rhein
Irenäus Goor Wetter
Oliver Gorzawski Heusenstamm
Helmuth Gosslar Weinheim
Martine Gosslar Weinheim
Christian Goßner Nürnberg
Jörg Gotsch Jena
Christina Götte Lohfelden
Roman Götten Freiburg
Stefan Göttert Püttlingen
Ulrike Göttert Püttlingen
Silke Gottfriedsen Holste
Regine Götz-Eberhöch Weingarten
Natascha Goy Hochheim am Main
Katharina Gräbner Nürnberg
Sigrid Grad München
Annemarie Graf Aicha
Elfriede Graf Bad Reichenhall
Hans-Jörg Graf Pulheiim
Rüdiger Graf Bad Reichenhall
Diether Gräf Berg-Weiler
Gerhard Gräf Oberasbach
Henriette Gräf Oberasbach
Carola Gräfingholt Wuppertal
Horst Gräfingholt Wuppertal
Jürgen Gramer Ulm
Georg Graml Lupburg
Michael Graml Regensburg
Uwe Grampe Liebefeld
Wolfgang Granatowski Wieda / Harz
Alfred Grandl Freilassing
Amanda Grandl Freilassing
Wilfried Grandt Lähden
Wilhelm Graser Dinkelsbühl
Götz Grasshoff Berlin
Egon Grathwohl Leverkusen
Rainer Grauer Feldberg-Falkau
Horst Grawunder Wachau
Rüdiger Greb Bad Homburg
Margit Gredinger München
Renate Greger München
Stefanie Greger Grasbrunn
Josef Greil Schönberg
Theodor Greisinger Haag
Yasemin Greisler Niederwerth
Gerhard Greiter Pfronten
Karl-Friedrich Greve Sankt Augustin
Heike Griebl Markt Indersdorf
Elvira Griener Pfreimd
Bettina Griesenbruch Neuenrade
Markus Grimm Mannheim
Walburga Grimm Berlin
Maria Grimmeisen Eppersthausen
Marianne Grimmenstein- Bakis Lüdenscheid
Ivan Grisogono Hude
Andreas Gritschke Iphofen
Dieter Gritschke Iphofen
Klaus Gröbig Berlin
Wilhelm Grohn Wolfsburg
Oliver-Sten Gronau Halle
Michael Gröne Münster
Andreas Groneberg Berlin
Ines Groneberg Berlin
Martin Groner Langenau
Stefan Grosch Jülich
Peter Groschupf Diessen
Hans Groß Neunkirchen
Horst Gross Berlin
Reinhard Groß Bergfelde
Helmut Große Leinefeld
Monika Große Leinefeld
Stefanie Große Leinefeld
Tobias Große Leinefeld
Jörg Großelümern Schwarzenbruck
Bettina Großmann Aschaffenburg
Olaf Großmann Ottersberg
Oliver Großmann Aschaffenburg
Kerstin Grote Nertheim
Joshua Grothe Berlin
Thorsten Grother Achern
Johann Gruber Anger
Josef Gruber Hagen
Laura Gruhn Königsberg
Sebastian Grünberg Halle/Saale
Thomas Meinard Grunwald Kiel
Angelika Grzondziel Lippetal
Bernhard Peter Grzondziel Lippetal
Heide-Maria Gscheidle Stuttgart
Rainer Gscheidle Stuttgart
Fritz Gsell München
Jürgen Guba Berlin
Thomas Gucker Berlin
Monika Guddas Berlin
Ralf Gudlat Geisenhausen
Erhard Guhl Markdorf
Andreas Guhr Berlin
Steffan Guido Odenthal
Detlef J.W. Gukumus Dernau
Bernd Güldenpfennig Papenburg
Andrea Guldi Heilbronn
Werner Gümm Berlin
Manfred Gummersheime r Ludwigshafen
Bernhard Gundermann Kefferhausen
Arnold Günter Nüdlingen
Michael Günter Kornwestheim
Fred Günther Biesenthal
Roy Günther A-6850 Dornbirn
Othmar Günther Sandhatten
Christian Günzel Berlin
Wolfgang Günzel Durmersheim
Heidi Gunzenhäuser Sachsenheim
Werner Guth Niedenstein
Birgitt Guth-Bähr Düsseldorf
Wolfgang Güther Nordhorn
Renate Gütle Bensheim
Karl Gutlederer Mietingen
Gernot Gutmann Bergisch-Gladbach
Frederico Guzzoni Freiburg
Johannes Haaf Ahorn
Markus Haag Oberstenfeld
Renate Haag Hoe
Walter Haarmann Wolfenbüttel
Wolfgang Haars Salzgitter
Friedrich Haas Altdorf
Friedrich Haas Kreuztal
Herbert Haas Neusse
Regine Haas-Deuringer Augsburg
Martin Haase Harsum
Tom Haase Berlin
Kurt Haasenstrauch Aachen
Ingrid Habedanck Hamburg
Kuno Haberkern Wiernsheim
Anton Habersetzer München
Peter Habicht Greifenstein
Thomas Hable Eggerding
Gerd Hachmöller Rotenburg
Elke Hack Heidelberg
Fritz Hack Heidelberg
Wilhelm Hacke Witten
Rolf Haefele Niefern
Gudrun Haesters- Geißler Berlin
Martin Haeusler Kerpen
Hendrik Hagedorn Berlin
Albert Hägele Deggendorf
Hans Hägele Crailsheim
Joachim Hagemann Ingolstadt
Susanne Hagenlocher Berlin
Barbara-Sophie Hager Bad Freienwalde
Daniel Hager Weil am Rhein
Joachim Hager Gersheim
Jörn Hager Bad Freienwalde
Thomas Hages Oberhausen
Regina Hagn Weßling
Beate Hahn-Bucher Wiesent
Gerhard Hahner Laboe
Ernst Haible Blaustein
Gerd Haida Schwäbisch Hall
Käthe Haida Schwäbisch Hall
Anneliese Haindl Grucking
Sebastian Haindl Grucking
Sebastian Josef Haindl Grucking
René Haiplich Bernsdorf
Thomas Hala Grafing
Rolf Halbich Grünberg
Kai Halbig Nürnberg
Karl Halbritter Saaldorf-Surheim
Nadine Halfter Borna
Franz Hall Berlin
Martina Hallabrin Bietigheim-Bissingen
Rolf Hallabrin Bietigheim-Bissingen
Jörg Hallbauer Gera
Maik Hallbauer Colditz OT Schönbach
Horst Haller Landsberg
Joachim Haller Berlin
Simone Haller Berlin
Ernst Haltermann Groß Grönau
Marianne Haltermann Groß Grönau
Horst Hamacher Bremen
Oliver Hamann Neu-Anspach
Cornelia Hamberger Murnau
Thomas Hamberger Pfarrkirchen
Dirk Hammann München
Alexander Hammer Gleichamberg
Nicole Hammer Gleichamberg
Stefan Hämmerle Illertissen
Agnes Hämmerling Bodman-Ludwigshafen
Peggy Hammitsch Blomberg
André Hammon Scheblitz
Elisabeth Hampel Griesstadt
Klaus Hamper Welle
Gerold Hanau Köln
Waltraud Hanau Köln
Martin Hander Gundelfingen
Frank Hänel Kurort Seiffen
Alfred Hanft Lünen
Manfred Hanke Heidelberg
Ute Hanke Berlin
Matthias Hannes Monzelfeld
Holger Hannusch Lübben
Mario Hanzrath Münchhausen
Uwe Harder Aurich
Viktor Harder Stuttgart
Jürgen Harders Leer
Christa Hardt Bad Nenndorf
Volker Hardt Bad Nenndorf
Gunhild Hargesheimer Bergisch Gladbach
Arnd Harnischmache s Bad Homburg
Winfried Harres Langen
Walter Harth Großbardorf
Georg Hartinger St. Wolfgang
Erni Hartl Fürstenfeldbruck
Heinz Hartl Olching
Jörg Hartlieb Berlin
Friedrich-Michael Hartmann Puchheim
Georg Hartmann Bachhagel
Henrik Hartmann Friesenheim
Maria Hartmann Bachhagel
Markus Hartmann Oberkirch
Stefanie Hartmann Alfeld
Sylvia Hartmann Gundelfingen
Tobias Hartmann Alsbach-Hähnlein
Ulrich Hartmann Bonn
Wolfgang Hartmann Gundelfingen
Jutta Hartwich Wolfsburg
Petra Hartwigsen Wunsdorf
Bruno Harwardt Niederhausen
Heiko Harz Berlin
Georg Harzheim Köln
Uwe Hasenstab Aschaffenburg
Frank Hasse Koberg
Steffen Hasse Springe
Michael Hasskerel Solingen
Gerhard Haßlocher Saarbrücken
Ronald Hassold Nürnberg
Erhard Haubold Berlin
Christa Hauck Peiting
Michael Haueis Lichtenwald
Hartmut Haufe Sebnitz
Günther Hauger Bad Dürrheim
Oliver Haungs Muggensturm
Ursula Haupt Duisburg
Sigurd Horst Hauschild Rennerod
Werner Hauschildt Schenefeld
Franz Xaver Hausmann München
Wolfgang Haußler Hiltpoltstein
Roland Häußler München
Sigrun Häußler München
Angelika Haversch Ahaus
Karl-Heinz Hawlik Wolfertschwenden
Helga Hayes Hofheizen
Friedrich-Karl Hebeker Düsseldorf
Elisabeth Hecht Stuttgart
Margit Hecht Königsbrunn
Ulrich Hecht Esslingen
Hartmut Heck Dunum
Iris Heck Wolfschlagen
Marcel Hecker Halle
Sybille Heenen Köln
Fritz Heerich Buchbrunn
Ulrich Hees Heidenheim
Lisa Hefendehl- Hebeker Düsseldorf
Roland Hegger Idstein
Dietmar Heid Neupotz
Uwe Heide Schashagen
Bernhard Heidemann Bünde
Andrea Heidenreich Hohenfels
Arnold Heiderolf Freiburg
Ute Heigl München
Bruno Heil Koblenz
Walter Heilmann Freiburg
Doris Heilos Rödermark
Sylvia Heilwagen Kassel
Benjamin Heim Meißenheim
Hans-Joachim Heim Gottmadingen
Constanze Heimann Karlsruhe
Helmut Heimfarth Vaterstetten
Karin Hein Neustadt bei Coburg
Wilfried Hein Neustadt bei Coburg
Thomas Heinemann Olsberg
Guido Heinen Kleinmachnow
Hjalmar Heinen München
Margarete Heinichen Dirbhein
Rudolf Heinichen Oberhausen
Manfred Heinig Herzognaurach
Brigitte Heinitz Schwabmünchen
Reinhard Heinitz Schwabmünchen
Siegfried Heinrich Fürstenfeldbruck
Yvonne Heinrich Berlin
Herbert Heinritz Bönnigheim
Werner Heinritz Gomaringen
Roland Heinz Zornheim
Andreas Heinzelmann Köln
Jürgen Heise München
Rolf Heise Leipzig
Thomas Heise Rellingen
Josef Heiß Lenggries
Michael Heiss Nürnberg
Gundula Heitmann Berlin
Diethlinde Heitmann-Guth Glücksburg
Gerhard Heitzer Mintrachling
Ursula Heitzer Mintraching
Joe Heizenredler Luckaitztal
Gunter Held Berlin
Ruth Held Gunzenhausen
Tanja Held Gunzenhausen
Werner Held Gunzenhausen
Dieter Heldt Bad Oeynkrusen
Marcel Held Aachen
Ute Helfert Berlin
Thomas Heldman Bergheim
Andreas Helgenberger Lindenhof
Gesine Helgenberger Lindenhof
Maria-Marlene Hell München
Ulrich Hell Schiffweiler
Horst Heller Kochel
Klaus Heller Bad Homburg
Christoph Hellhake Diltramszell
Volker Hellweg Nienburg/Weser
Andrea Helm Höchst
Harald Helm Höchst
Johannes Helmer Korbach
Pamela Helmer Korbach
Horst Helmle Mannheim
Dirk Helms Ahrensburg
Heide Helms Ahrensburg
Hans-Heinz Hemmann Meerbusch
Ulrich Hempe Mainz
Heidi Hempel Buchholz
Klaus Hempel Berlin
Milo Hempel Holzhausen
Johannes Henatsch Gilching
Dorothea Hengstermann Groß-Umstadt
Fritz Henne Kirchheim
Christine Hennert Altmünster
Peter Hennert Altomünster
Marina Hennig Kulensdorf
Carmen Hennig Halle
Gabriele Hennigs-Ott Wölfersheim
Horst Hennings Hamburg
Ursula Henrich Emden
Günter Hense Frankfurt am Main
Helene Hense Frankfurt am Main
Marc Hense Frankfurt am Main
Waltraut Hensel Berlin
Michael Hentschel Detmold
Albrecht Henzler Taufkirchen
Roland Heppel Weinheim
Horst Herb Geretsried
Monika Herb Geretsried
Dirk Herberg Wesel
Willi Herbert Hoyerswerda
Rainer Herbig Hamburg
Judith Herbst Essen
Angela Herchenbach Leipzig
Klaus-Dieter Herd Stuttgart
Eva Hergert Neubiberg
Wolf Hergert Neubiberg
Simon Hergt Ratzeburg
Dietrich Hermann Tuttlingen
Klaus Hermanns Hannover
Michael Hermanns Groß-Bieberau
Christa Hermany Hamburg
Michael Hermany Hamburg
Bruno Hermes Düsseldorf
Frank Hermsteiner Wachtendonk
Helmut Hero Weiskirchen
Bodo Herold Großröhrsdorf
Sonja Herold Ravenstein
Sylke Herold Großröhrsdorf
Sabine Herr Karlsruhe
Andreas Herrmann Bautzen
Jürgen Herrmann München
Matthias Herrmann München
Renate Herrmann München
Stefan Herrmann Lehrte
Ursula Herrmann Mössingen
Wilhelm Herrmann Frankfurt am Main
Günter Hertel Dresden
Uwe Herthneck Lünefelden
Michaela Hertweck Waldrohrbach
Wolfgang Herweg Marktheidenfeld
Lothar Herzog Stockach
Andrea Heß München
Andreas Heß Bargischow
Bernd Hesse Pinneberg
Ruth Hesser Freiberg
Friedemann Hetz Weinstadt
Hansjörg Heudorfer München
Eckhart Heuer Baden-Baden
Stefan Heufers Stuttgart
Stefanie Heufers Stuttgart
Hermann Heukamp Pöcking
Hans-Jürgen Heumann Bielefeld
Roland Heuschmann Rot am See
Silke Heuschmann Rot am See
Thomas Heuser Buchholz
Ulf Heyden Kehl
Werner Heyen München
Sigrid Hegewald Erlangen
Gerhard Heyder Frankfurt am Main / Oder
Ralf Hickl Ispringen
Ferdinand Hiebel Riegelsberg
Christian Hieke Jena
Evelyn Hieke Jena
Susanne Hiemer Pliezhausen
Erik Hienstorfer Meckenheim
Thomas Higeli Remscheid
Andreas Hilbert Nussloch
Gabriele Hilbinger Wiesbaden
Immo Alexander Hilbinger Wiesbaden
Sebastian Hild Mannheim
Jörg-Werner Hildebrandt Reit im Winkl
Lutz Hildebrandt Loxstedt
Werner Hill Haidmühle
Hans-Jörg Hille Groß Grönau
Petra Hille Unna
Gisela Hille Groß Grönau
André Hilleke Kichrau
Claus Hiller Seevetal
Gabriele Hiller Farchant
Joy Hiller Seevetae
Alicia Hiller-Aleißner Solinger
Rusanna Hillmann Erlangen
Ingeborg Hilmes Koblenz
Florian Hilmes Koblenz
Sebastian Hilmes Koblenz
Gerhard Hilscher Vaterstetten
Theo Himmelberg München
Lothar Himmelsbach Seelbach
Markus Himmelsbach Seelbach
Wolfgang Himmler Chemnitz
Roland Hindemith Neustadt
Wolfgang Hindemith Wandlitz
Marianne Hinitz Sörgenloch
Regina Hinrichs Felm
Peter Hinterhoelzl Rimsting
Christian Hintz Sörgenloch
Carsten Hinz Buchholz
Ditmar Hinz Berlin
Karl-Hermann Hipp Chemnitz
Rosemarie Hippe Neu-Isenburg
Thomas Hirsch Worms
Thomas Hirsch Worpswerde
Sascha Hirsekorn Luckenwalde
Heike Hirtreiter München
Rüdiger Hoborn Wickede (Ruhr)
Thomas Hobrack Pirna
Claudia Hochler Vaihingen
Lore Hocker Karlsruhe
Peter Hocker Karlsruhe
Dietmar Hodann Neckargemünd
Thomas Höder München
Harald Hoeren Köln
Anthon Hoeue Görlitz
Oliver Hof Sebnitz
Andreas Hofer Passau
Roderich Höfers Rothenburg/W.
Cornelia Hoffmann Berlin
Daniel Hoffmann Hannover
Dirk Hoffmann Meissen
Eva Hoffmann Buchholz
Günther Hoffmann Helmstedt
Klaus-Jürgen Hoffmann Gera
Manfred Hoffmann Minden
Martin Hoffmann Paderborn
Michael Hoffmann Offenbach
Michael Hoffmann Rosdorf
Uta Hoffmann Moers
Winfried Hoffmann Moers
Wolfgang Hoffmann Rodewisch
Herbert Hoffstadt Bonn
Klaus Höfler Hohenpeißenberg
Angelika Hofmann Veilsdorf
Denis Hofmann Veilsdorf
Dietmar Hofmann Veilsdorf
Michael Hofmann Viernheim
Manfred Höft Berlin
Alexander Hoh Schopfheim
Barbara-Sophie Hohenberg Potsdam
Hans Hohenhövel Hanau
Roland Hohl Waiblingen
Manfred Hohla München
Alwin Höhle Hattingen
Wolfgang A. Höhler Celle
Friedrich Karl Hohmann Bamberg
Henry Höhme Sonneberg
Jochen Höing Essen
Stefan Holdt Hamburg
Peter Holemann Berlin
Armin Holle Bassum
Albert Hollenbach Hamburg
Raik Hollender Berlin
Uwe Höller Bergisch Gladbach
Ferdinand Hollweck Pähl
Hartmut Hollweg Haar
Jesper Holm München
Ingeborg Holst Adelberg
Karsten Holst Ammersbeck
Manfred Holst Adelberg
Werner Holstein Speyer
Ralf Holt Wuppertal
Werner Holtfreter Mannheim
Wolfgang J. Holthoff Stuttgart
Stefan Holtz Rosenheim
Lothar Holtmann Damme
Michael Holzapfel Kehl
Christine Holzer Mittenwald
Karl Holzer Kleinmachnow
Kurt Holzer Mittenwald
Richard Holzhauser Bobingen
Ernst Holzinger Kirchberg
Andreas Holzmüller Friedberg
Annemarie Holzner Rellingen
Hannelore Holzner Rosenheim
Markus Holzner Burghausen
Michael Holzner Tattenhausen
Wolfgang Holzner Rehlingen
Stefan Homola Lübech
Harry Hoose Pfaffenhofen
John Hope Bad Gondersheim
Matthias Hopf Suhl
Brigitte Hoppe Salzgitter
Klaus A. Hoppe Kiel
Peter Hoppe Wuppertal
Ulrich Hoppe Salzgitter
Heidi Höppener- Rother Gummersbach
Rainer Hoppenstedt Rosenheim
Jan Hoppert Clausthal-Zellerfeld
Klaus Hopstock Oer-Erkenschwick
Ulrich Hördt Bruchsaal
Robert Horn Dentlein
Rudolf Horn Lahr
Manfred Horndasch Wieseth
Susanne Hörnemann Köln
Eva Hornhardt Wiehe
Ulf Hornig Rendsburg
Angelika Hornschild Brannenburg
Hans Hortig Butjadingen
Michael Gustav Horvath Bretten
Christian Horvath-Furer München
Reinhard Horzonek Wendeburg
Fritz Hotze Maitenbeth
Ulrich Hövelmann Dorsten
Peter Hoven Freiburg
Astrid Hoyer-Gallini München
Aloys Hübbers Kleve
Diana Hubein Berlin
Andreas Huber München
Gerhard Huber Prien am Chiemsee
Herbert Huber Berlin
Michael Huber Berlin
Ralph Hucke Ainring
Olaf Hudecek Eckernförde
Peter-Georg Hues Korntal
Dietrich Hugenberg Extertal
Alexander Hugo Witzenhausen
Herbert Hüller Waldkraiburg
Dorothea Hülsmann Brilon
Klaus Hülsmann Brilon
Elmar Hümmer Bamberg
Stefan Hüneburg Schwerin
Jürgen Hünefeld Berlin
Waldefried Hurrle Konstanze
Thomas Hushobla Oberndorf
Gerhard Hutten Baldham
Michael Hutter Missen
Johanna Hutterer München
Stephan Hüttner Berlin
Amparo Hyprath 7831 Sant Josep (I. Baleares), Spanien
Thomas Iftiger Teublitz
Florian Igl München
Harald Ihßen Springe
Thomas Ilg Ellwangen
Angelika Illing Chemnitz
Jürgen Illing Chemnitz
Isabel Imhof München
Arndt Immel Mühlheim
Thorsten Indra Giessen
Frank Inhester Lenggries
Alisa Intini Baumbach
Wilhelm Itschner Hockenheim
Vladislavs Ivanovs Hamburg
René Jäck Bad Belzig
Roland Jäckle St.Georgen
Dieter Jacob Frankfurt am Main
Frank Jacob Weimar
Friedhelm Jacob Külsheim
Gudrun Jacob Frankfurt am Main
Jörg Jacob Ellrich
Thomas Jacob Dohna
Alfred Jacobi Düsseldorf
Daniel Jacobs Eberswalde
Harro Jäger Schwülper
Ilona Jäger Schwülper / OT Rothenmühle
Matthias Jäger Rothemühle
Thorsten Jäger Schwälper
Renate Jahn Manderloh
Thomas Jahn Kaufbeuren
Thomas M. Jahn Ahrensburg
Wilfried Jahn Iserloh
Holger Jaklitzsch Laupheim
Doris Jakobs Limeshain
Wolfgang Jakobs Speicher
Alfred Jakuszeit Ganderkesee
Carmen Janele Fulda
Kevin Janele Hünfeld
Matthias Janele Hünfeld
Hayco Jänisch Bremen
Werner Janku München
Max Jansen Dinslaken
Heinrich Janson Saarbrücken
Gerhard Janssen Karlsruhe
Heribert Janßen Offenbach
Markus Janzen Oberteuringen
Hartmut Japing Quickborn
Heiko Jaskulke Zossen
Dennis Jasper Stuhr
Albrecht Jebens Uhldingen
Elisabeth Jenders Telgte
Helmut Jenner Ennigerloh
Christoph Jeschke Ludwigshafen am Rhein
Ilka Jeschke München
Gerd Jesse Bruchköbel
Hiltrud Jessen Mainz
Jens Jessen Mainz
Jörn Jessen Mainz
Christa Jeworrek Sachsenheim
Martin Jeworrek Sachsenheim
Heinz Job Neustadt
Werner Jochem St.Wendel
Stefan Jocher Schongau
Gregoa Joerdens Meppen
Andreas Joest Castrop-Rauxel
Ralf Johansson Hamburg
Saskia John Luckenwalde
Harald B. Johnsen Warnsdorf
Sibylle Johst Kassel
Felix Jonczyk Brüggen
Friederike Jonczyk Brüggen
Ines Jonczyk Brüggen
Siegfried Jordan Laaber
Hans Josties Huglfing
Andrea Joswig Laatzen
Guido Jüling Magdeburg
Hedwig Jundt Oberkirch
Heiko Jünemann Berlin
Matthias Jünemann Nürnberg
Judith Jung Eckernförde
Klaus Dieter Jung Heusenstamm
Rosemarie Jung Heusenstamm
Thomas Jung Weisenbach
Volker Jung Köln
Wiebke Jung Heusenstamm
Wilhelm Jung Wetzlar
Hans-Joachim Junge Berlin
Barbara Junge Berlin
Silke Jungen Hamburg
Thomas Jünger Bergiseh Gladbach
Benedicta Junghanns Düsseldorf
Cornelius Junghans Neu Ulm
Helga Junghans Köln
Michael Junghans Staudach-Egerndach
Rainer Jüngling Polch
Harald Jungmann Leutenbach
Heinz Jungmann Barsbüttel
Bernd-Joachim Jungnickel Seeheim-Jugenheim
Bernhard Junker Maitenbeth
Susann Junker Maitenbeth
Wilhelm Jurcher Duisburg
Klaus Jurczyk Bremen
Frithof Jurenka Radhofzoll
Ralph-Rainer Jurgeit Ahrensfelde
Sigrid Jurgeit Ahrensfelde
René Jürgens Uelzen
Timm Jürgens Hameln
Dietmar Jürgensen Kiel
Wolfgang Bob Jürgensmeyer Bermatingen
Alfred Jurka Waldkraiburg
Margarete Jurka Waldkraiburg
Willi Just Schloß Holte-Stukenbrock
Friedrich Jütte Essen
Heinrich Käbberich Lohfelden
Thomas Kabierschke München
Bernhard Kabitzsch Dresden
Michael Kaessmann Herrsching
Thomas Käfferbitz Neuwied
Jörg Kahnt Frankfurt am Main
Horst Kahren Kenn
Andreas Kaiser Haren
Dietmar Kaiser Lindau
Georg Kaiser Erding
Hartmut Kaiser München
Manfred Kaiser Mering
Margareta Kaiser Gerolzhofen
Matthias Kaiser Hausach
Franz Kalb Potsdam
Marion Kaldenbach Oberkirch
Marek Kaliuoda Bammertingen
Giselher Kalkum Solingen
Anita Kaltenberger Burghausen
Albert Kalter Bobingen
Florian Kalter Bobingen
Marcel Kalter Bobingen
Sigrid Kalter Bobingen
Heinz Kaltofen Hamm
Elisabeth Kalusche Hofheim
Johannes Kalusche Hofheim
Peter Kalusche Hofheim
Wolf Kalz Riedlingen
Burkhard Kampf Idstein
Erika Kämpf Röttenbach
Karl-Peter Kämpf Rottenbach
Matthias Kämpfer Langenfeld
Cornelia Kampffmeyer Berlin
Harald Kampffmeyer Berlin
Luitgard Kampffmeyer Berlin
Tassilo Kampffmeyer Berlin
Thomas Kamphowe Oldenurg
Reinhold Kang Bermatingen
Mechthild Kantus-Mattern Castrop-Rauxel
Lutz Kapell Düsseldorf
Franz Kappels Farchant
Gabriele Kappmeyer Barsinghausen
Hermann Kappmeyer Barsinghausen
Michael Kaps Weilerbach
Günter Kapser Gremsdorf
Marion Kapser Gremsdorf
Irene Kar Röhrmoos
Christof Karbach Urbach
Marie-Helen Karcher München
Juraj Kardoss München
Gerd Karpensten Schneiderdingen
Uwe Karstädt München
Bernd Karwath Kusterdingen
Michael Käsberger Regensburg
Roland Kasielke Neu-Anspach
Ursula Kasielke Neu-Anspach
Klaus Kasprzik Herrenberg
Waltraud Kasprzik Herrenberg
Roland Kästner Lemberg
Hartmut Kathmann Korntal-Münchingen
Christiane Kattelmann Langwedel
Heiko Kattelmann Langwedel
Jens Kauffmann Troisdorf
Ferdinand Kaufmann Ettlingen
Gisela Kaufmann Berlin
Jens Kaufmann Lichtenhagen
Dominik Kaufner Regensburg
Walter Kaus Gießen
Thomas Kauselmann Pfinztal
Ivan Kausz Wittenreuth
Manfred Kautzsch Hamburg
Silke Keil Offenburg
Horst Keilpflug Erkrath
Hilde Keim Prem
Siegbert Keinath Dettingen
André Keiner Suhl
Angela Keinert Laage
Manfred Kelber Würzburg
Paul Kellenhenz Köln
Hartmut Keller Hamburg
Heike Keller Bad Wörishofen
Hugo Keller Taufkirchen
Thomas Keller Hamburg
Wolfgang Z. Keller Pähl
Armin Kellert Gaggenau
Karla Kellner Pforzheim
Heide Kelly Karlsruhe
Klaus Kemmrich Lindau
Friedrich Kempcke Hamburg
Andreas Kemper Frankfurt am Main
Lothar Kempf Hitzacher
Ralf Kempgen Hamburg
Markus Kenn Cochem
Thomas Kennel Kaiserslautern
Hans-Christian Keppler Schauenstein
Axel Kern Dormagen
Barbara Kernberger Ottenhöfen
Hannes Kernert Dresden
Georg Kerps Moers
Michael Kersten Ermsleben
Rosa Kersten Ermsleben
Sigrid Kessel Berlin
Gerhard Keßler Feldafing
Janis Kesten-Kühne Clausthal-Zellerfeld
Wolfgang Kestler Haßfurt
Frank Ketelsen Hamburg
Andreas Keusch Potsdam
Maria Keuthen Alf
Wilhelm Kick Gröbenzell
Horst Kiderlen Ravensburg
Irene Kieburg Grevenbroich
Uwe Kieburg Grevenbroich
Albert Kiefer Freiburg
Cordula Kieler Hollenbach
Rainer Kieler Hollenbach
Astrid Kieling Merzhausen
Anton Kiendl Kirchheim
Franziska Kiendl Kirchheim
Alma Kienitz Berlin
Ernst-Jörg Kiesgen Konstanz
Ulrike Kieslich Oberursel
Waldemar Kiessling München
Gotthold Kietz Bad Münder
Otto Kietzig München
Susanne Kilian Oberschloßheim
Firat Kilic Meerbusch
Johann Killersreiter Wegscheid
Peter Richard Kimmel Mainz
Uwe Kindermann- Morell Eitorf-Merten
Hans-Werner Kiosze Dresden
Karl Kipping Abfeld
Ellen Kirchgeßner Pfinztal
Christine Kirchhoff- Holthaus Frankfurt am Main
Ina Kirchner-Fehr Kleve
Jochen Kirschner Percha
Josef Kirschner Weiden
Rita Kirschner Augsburg
Steven Kirschner Hoyerswerda
Norbert Kirst Ingolstadt
Roland Kirst Ingolstadt
Ralf Kirsten Allendorf
Frank Kischken Wohltorf
Manfred Kisselmann Freudenstadt
Josef Kisters Oberhausen
Ralf Kitschmann Solingen
Sylvia Kitschmann Solingen
Hans-Jürgen Kittel Bremen
Kirsten Kittel Bremen
Roswitha Dany Kittlausz Düsseldorf
Stefan Kittlausz Düsseldorf
Werner Kitzmann Donauschlingen
Güther Kläber München
Dieter Klamke Aachen
Sabine Klander Berlin
Helmut Klärner Dresden
André Klatte Köln
Theo Klatzkopf- Fischer Feucht
Christine Klebe Langen
Robert Kleditzsch München
Willi Kleemann Moerlenbach
Bellis Klee-Rosenthal Lüdenscheid
Hatice Kleespies Westerheim
Matthias Kleespies Westerheim
Alfred Klein Nachrodt
Andreas Klein Schwerin
Daniel Klein Ober-Ramstadt
Gertrud Klein Nalbach
Jochen Klein Olching
Jochen Klein Hollenstedt
Jürgen Klein Bergisch-Gladbach
Maria Klein Nalbach
Max Klein Stadtbergen
Stefan Klein Köln
Thilo Klein Bad Grönenbach
Eberhard Kleina Lübbecke
Petra Kleina Lübbecke
Martina Kleine Bissendorf
Maximilian Kleine Ennigerloh
Silvia Kleine Ennigerloh
Ulrich Kleine Bissendorf
Wilhelm Kleine Ennigerloh
Danny Kleiner Tegernsee
Karin Juliane Kleiner Giesen
Rudolf Kleining Marl
Gerd Kleinmann Stuttgart
Sigrid Kleinschmidt Überlingen
Heinrich Klek Weinheim
Silvia Klemke Böhl-Iggelheim
Helmut Klemm Schechen
Jürgen Kleser Becherbach
Ralf Klewe Düsseldorf
Karl Ernst Klier Haßfurt
Andreas Klima Memmingen
Andreas Kling Linsengericht
Norman Klinger Erlangen
Rüdiger Klinghardt Hennef
Bernhard Klingsbögl Bruckmühl
Henrike Klink Taunusstein
Thomas Klink Stuttgart
Volkmar Klink Ingelfingen
Martin Klipfel Schopfheim
Ralf Klocke Vlotho
Joachim Klöcker Weilerswist
Helmut Klose München
Torsten Klose Zeuthen
Axel Kloss Hamburg
Reinhard Klossek Gummersbach
Svea Klotz Bonn
Dieter Klotzsche Appel
Brigitte Kluge Hattenhofen
Juanita Klunk Ingolstadt
Manfred Klunk Ingolstadt
Klaus Walter Knabenschuh Northeim
Hans-Martin Knapp Gütersloh
Susanne Knaus Estenfeld
Josef Kneifel Radebeul
Stephan Kneipp Mönchengladbach
Angelina Kneißl Benediktbeuern
Helmut Knett Regensburg
Thomas Kniejski Moringen
Michael Knittel München
Erich Knöbl Murnau
Ernst-Günther Knoche Hattersheim
Hartwig Knoll Kiel
Doris Knörig Berlin
Rüdiger Knörig Berlin
Ludwig Knorrek Herzebrock
Michael Knüppelholz Berlin
Gisela Knur Düsseldorf
Stefan Köber Löhne
Gerald Koblischek Berg
Annette Koch Höhenkirchen
Bärbel Koch Buchholz
Christian Koch Gerotzhofen
Detlef Koch Schriesheim
Elmar Koch Ludwigshafen
Gerhard Koch Bad Lauterberg
Gertraud Koch Wendlingen
Gisela Koch Erfurt
Günter Koch Mettmann
Joachim Koch Höhenkirchen
Michael Koch Gerotzhofen
Monika Koch Nürnberg
Rolf-Jürgen Koch Rösrath
Stefan Koch Rettenberg
Erika Köcher Leipzig
Lina Koczian München
Jürgen Koenen Meisenheim
Eberhard Koenig Baiern
Birgit Koeppl Raubling
Christian Kofler Hetzles
Monika Kofler Hetzles
Anton Kohl Edenstetten
Karolin Köhl Karlsruhe
Manuel Köhl Karlsruhe
Anca-Michaela Köhler Rostock
Bernd Köhler Kassel
Friedrich Köhler Heidenau
Marko Köhler Karlsruhe
Marziagcazia Köhler Heidenau
Steffen Köhler Vaihingen
Thomas Köhler Berlin
Hermann Kohlhage Paderborn
Kurt Kohlhage Mossautal
Renate Kohlhaus Bad Zwischenahn
Norbert Köhly Karlsruhe
Manfred Köhne Gleichen
Benno Kohnen Köln
Jürgen Kohnen Hohen Wangelin
Majda Kohnen Köln
Gitta Kohnz March
Wolfgang Kokott Wilhelmshaven
Michael Kolander Bad Homburg
Gerd Kolanowitsch Aichach
Gilfe Kolb St. Ingbert
Irene Kolbinger München
Elmar Kolle Frankfurt am Main
Volker Kolle Frankfurt am Main
Ursula Kollwitz Berlin
Ulrich Kolmhuber Wörth a.d. Isar
Agnes Kolos Erding
Günther Kommer Salingen
Matthias Kommer Salingen
Ursula Kommer Salingen
Michael Kömmerling- Aschmoneit Schriesheim
Wolfgang Könies Memhofer
Georg Konietzny Eichenau
Arne König Bruchsal
Hans-Günter König Vienenburg
Siegfried König Dresden
Rainer König Garmisch-Partenkirchen
Rainer Königsberg Lehrte
Gerhard Koning Kelkheim
Nadja Konowalow Uelzen
Reinhard Kontek Gernsbach
Anke Konz Bruchsal-Untergrombach
Harald Konz Lennestadt
Axel Koop Dortmund
Eberhard Kopp Horb a. Neckar
Gisela Kopp Berlin
Jürgen Kopp Berlin
Hildegard Kopp Eichenbühl
Meinard Kopp Schweiz
Rudolf Koppenburg Sindelfingen
Dietmar Koppe- Wigankow Berlin
Manfred Koptisch Waldkraiburg
Wolfram Körbel Gebenhofen
Philippe Korbella Munster
Tobias Kordon Kornwestheim
Evelyn Körner Wedel
Horst Körner Wedel
Joachim Körner Hamburg
Herbert Körner Norderstedt
Gabriele Körner-Thiel Norderstedt
Christian Korten Erkarath
Daniela Korten Erkarath
Annette Körting Berlin
Peter Korzendorfer Waldorfwärslach
Joachim Korzilius Eschborn
Erhard Kosch Gehrden
Siegfried Koschwitz München
Gunnar Kossate Hamburg
Gerhard Kosse Bad Wörishofen
Iris Koßmehl Isernhagen
Gert Köster Osnabrück
Helmut Köster Langen
Marcel Köster Hamburg
Kari Köster-Lösche Süderlügum
Jochen Köstner Bergisch-Gladbach
Herbert Kotkiewitz Lauchhammer
Manuela Köthe Neu Ulm
Karl-Heinz Kotzerke Dingolfing
Hinrich Kracht Norderstapel
Angela Margarete Kraft München
Georg Kraft Pforzheim
Hans Kraft Bretten
Rainer Detlef Kraft Burghausen
Sabine Kraft Pforzheim
Thomas Kragler Augsburg
Dietmar Krahn Rostock
Diederich Kramer Bernstadt
Dieter Kramer Mörfelden-Walldorf
Annegret Krämer Lübech
Anneliese Krämer Gütersleben
Daniel Krämer Köln
Franz-Josef Krämer Dielheim
Fritz Krämer Klein-Winternheim
Manfred Krämer Gütersleben
Markus Krämer Bad Abbach
Timo Krämer Gütersleben
Maria Kramer-Malik Offenburg
Gerhard Michael Kranz Gießen
Uwe Kranz Limburg
Martina Kratzer Andechs
Ernst Hildebert Kratzsch Rosengarten
Matthias Kratzsch Melsungen
Werner Kratzsch Bad-Nauheim
Josef Kraus Betzigau
Martin Kraus Störnstein
Martin Kraus München
Peter Kraus Baldham
Beatrix Krause Gräfelfing
Frank Henry Krause Kaufbeuren
Helmut P. Krause Puchheim
Mathias Krause Leipzig
Steven Krause Mühlhausen
Wolfgang Krause Bornheim
Helge Kraushaar Bretzfeld
Hermann Krauss Fulda
Stephanie Krauß Belgershain
Ulrich Krauße Berlin
Jochen Krautter Düsseldorf
Frigga Krautzun Offenbach
Harald Krautzun Erkrath
Roswitha Krautzun Erkrath
Helma Kraze Berlin
Kai Kraze Berlin
Heinz Krebedünkel Bremerhaven
Roland Krebs Deggendorf
Wolfgang Krebs Hallstadt
Barbara Kreckler Lehmen
Martin Kreckler Lehmen
Joachim Kreiger Berlin
Jörna-Kristin Kreinacke Goslar
Stefan Kreissel Nürnberg
Dana Kreitmair München
Thomas Kreitmair München
Heinrich Krekel Forchheim
Eduard Krems Berg
Brigitte krener Berlin
René Kressmann Giffhorn
Gunter Kretschmann Viersen
Lars Kretzler Hamburg
Mechthild Kretzschmar Friedrichsdorf
Lothar Kreutz Wallerfanoen
Andreas Kreutzer Aachen
Jolana Kreuz Neuötting
Martin Kreuzmeir Bruckmühl
Werner Krewer Mettloch
Alexandra Kriesinger Hildesheim
Ralf Kriesinger Hildesheim
Horst Kringe Netphen
Ursula Kringe Netphen
Michael Krispin Neukirchen-Vluyn
Peter Kroeger Halstenbeck
Godfried Kroes Egglham
Peter Krökel Böblingen
Torsten Krokotsch Dreieich
Erika Kroll Seevetal
Joachim Kroll Bad Segeberg
Reinhard Kroll Hamburg
Sigurd Kroll Seevetal
Werner Kromer Göppingen
René Krömer Kell
Sebastian Kroms Windeck
Andreas Krüger Strausberg
Angelika Krüger Strausberg
Brigitte Krüger Großmehring
Christian Krüger Gengenboch
Dieter Krüger Wismar
Friedhelm Krüger Mühltal
Gerald Krüger Berlin
Inge Krüger Köln
Ingo Krüger Weichs
Jörg Krüger Berlin
Monika Krüger Weichs
Ralf-Klaus Krüger Merane
Barbara Krüger- Sauermann Hamburg
Michael Krumpholz Kleinsendelbach
Thomas Kruse Südergellersen
Christian Kuaner Much
Jörg Kübel München
Thomas Kubisch Schwieberdingen
Joachim Kubny Mandersscheid
Hartmut Küchle Düsseldorf
Dominic Kuchlinski Troisdorf
Michael Kuchs Meerane
Kristina Kücker Saarbrücken
Hans Kuckhoff Ottendorf
Silvia Kuckshausen Töging
Rainer Kuczewski Oldenburg
Franz Josef Kügel Eberfing
Wolfgang Kugelmann Neusäß
Peter Kugler Großfischlingen
Karl F. Kuhbier Lüdenscheid
Uwe Kühl Kiel
Wolfgang Kühlmorgen Quersa
Adalbert Kuhn Hofheim
Dietrich Kuhn Tettnang
Heinrich Kuhn Altensteig
Manfred Kuhn Dachau
Simone Kuhn Tettnang
Wolfgang Kühn Kiel
Dietrich Kühne Berlin
Erika Kühne Berlin
Frederick Kühne Solingen
Heike Kühne Berlin
Dieter Kühnhold Dassel
Karl Kuhnlein Zwickau
Ulrike Kuhr Pforzheim
Marlies Kujawa Berlin
Heike Kuka Schwarzbach
Ralph Kulbarsch München
Birgit Kult Böhlen
Dieter Kult Böhlen
Gunther Kümel Kelkheim
Peter Kumm Bingen
Andreas Kumpfmüller Wörth
Arno Kunath Cottbus
Ingrid Kunert-Dreyer Buchen
Karsten Kunkel Berlin
Bernhard Kunst Rösrath
Anita Künstle Immenstaad
Siegfried Künstle Immenstaad
Siegfried Künstler Ravensburg
Dagmar Kunze Berlin
Noemi Kunze Korbach
Sabine Kunze Nürnberg
Thomas Kunze Korbach
Manfred Kunzner Moers
Bärbel Küper plienning
Max Kupillas Isernhagen
Siegfried Kupsch Kalkar
Klaus-Dieter Kürbitz Köln
Ulla Kürbitz Köln
Jürgen Kurth Colditz
Matthias Kurth Colditz
Peter Kurth Königswinter
Ursula Kurth Colditz
Bärbel Kurth-Trauboth Königswinter
Manfred Kurtz Reutlingen
Diana Kurz Harsum
Alexander Kurzweil Mindelheim
Jochen Kuschel Schlier
Andreas Kusior Berlin
Karsten Küspert Langenfeld
René Kuster Hannover
Erhard Küster Zehdenick
Hans-Jürgen Küster Naumburg
Klaus Küster München
Michaela Küster Lauf
Reinhard Küster Lauf
Christiane Kutik München
Marianne Kutsch Düsseldorf
Richard Kutsch Düsseldorf
Margit Kutting Lichtenfels
Anna-Lena Kutting Frankfurt am Main
Bernhard Kutting M.Sc. Lichtenfels
Hans Laber München
Peter Lachenmayer Scheppach
Reinhild Ladde Ravensburg
Dirk Laesch Pinneberg
Marina Lakke Reuchen
Peter Lambio Trier
Gerhard Lamm Dogern
Ingried Lammel Cloppenburg
Jürgen Lammel Cloppenburg
Jan Lammert Hemsbach
Walter Lamperberger Köln
Monika Lamprecht Igensdorf
Barbara Landgraf Ludwigshafen
Esther Lang München
Jürgen Lang Bonn
Klaus Lang Mühldorf
Pierre Lang Esslingen a.N.
Udo Lang Bielefeld
Ulla Lang Bruchköbel
Edgar Lange Düsseldorf
Karola Lange Berlin
Petra Lange Hamburg
Thomas Lange Bad Saulgau
Ulrich Lange Chemnitz
W.D Lange Poppingen
Gottfried Lange Göppingen
Rudolf Langer Moosburg
Stefan Langer Egestorf
Mirco Lantzsch Fehmarn
Heinrich Lapp Löningen
Petra Large Mannheim
Christoph Larisch Bocholt
Frank C. Lasch Offenburg
Helmut Laschütza Ritterhude
Renate Laschütza Ritterhude
Doris Lasslop Sprötau
Eduard Lasslop Sprötau
Bernd Lau Berlin
Achim Laub Trittau
Georg Laub Bad schussenrind
Florian Laube Gera
Steffen Laube Rodgan
Armin Laudacher Kirchheim
Gerda Laudi Hamburg
Lothar Lauer Remlingen
Wolfgang Lauerwald Gera
Joachim Lauk Herrenberg
Manfred Laukenmann Nürtingen
Hannelore Laun Obertshausen
Jürgen Lautenbach Sikte
Edith Laux Köln
Helmut Laux Trier
Franz Leber Bodman
Eva Maria Lechner Ortenburg
Hugo Lechner Ortenburg
Michael Lechner Bad Griesbach
Helmut Leckel Amerang
Matthias Leder Rockenberg
Helmut Mario Lefeber Mörfelden- Walldorf
Johanna Lehmair Waldkraiburg
Herbert Lehmann Bad Rippoldsau
Jürgen Lehmann Löbau
Katrin Lehmann Freital
Thomas Lehmann Puchheim
Monika Lehmkühler Lindlar
Horst Lehner Kirchheim
Michael Lehner Treuchtingen
Ingolf Lehniger Senden
Klaus Lehr Aichwald
Hubert Leibold Flieden
Karl-Heinz Leibold Kalbach
Claus Leicher Heidenrod
Gertrud Leidner Mossautal
Jörg Leiers Brüggen
Stefan Leining Hannover
Helga Leinweber Körle
Ulf Leinweber Körle
Volker Leinweber Bad Füssing
Elisabeth Leipholz Hamburg
Knut Leipziger Hannover
Alfons Leist St. Wendel
Hans-D. Leitner Rastatt
Marianne Leitner Pucheim
Silvia Lemberger München
Heidi Lemma Mossa Otter
Siegfried Lemmermeier Donauwörth
Karl Lenhardt Puhlheim
Irmi Lenz Ried
Dirk Lenze Düsseldorf
Ulrike Leo Bad Wildingen
Ingrid Leonhardt Leipzig
Norbert Leonhardt Duisburg
Herbert Leonhart Hamburg
Andreas Leopold Lingen
Uwe Lepper Buseck
Gelia Lerche Berlin Gatow
Helmut Lessing Berlin
Susanne Lessing Berlin
Heidi Leugers München
Gert-Günter Leuschner Dresden
Maria Leuschner Dresden
Leslie Annette Leuzinger Hamburg
Bianca Lewerenz Felde
Roland Leyser Otterstadt
Ansgar Licher Bad Iburg
Jürgen Lidzba Cottbus
Jörg Liebach Fürstenfeldbruck
Ulla Liebach Fürstenfeldbruck
Benjamin Liebl Tännesberg
Guido Liebsch Sulzberg
Christian Liebscher Heidelberg
Hans Lieder Maintal
Josef Liedke Borsdorf
Rudolf Liedler Solden
Gudrun Liegmann Leipzig
Klaus-Dieter Liegmann Leipzig
Katrin lienert Chemnitz
Katharina Liepelt Berlin
Matthias Liesenhoff Herben
Friedrich-Wilhelm Liffert Roedermark
Bernd Ligges Dortmund
Heinz-Dieter Limberger Burgoberbach
Michael Limburg Potsdam
Florian Limmer Selb
Hans Linde Schönau
Wolfgang Linde Plön
Wolfgang Lindemann Göttingen
Dietrich Lindenberg Bruchköbel
Markwart Lindenthal Kirchberg
Horst Lindermann Wülfrath
Henning Lindhoff Köln
Christina Lindner München
Elisabeth Lindner München
Uwe Lindner Prosigk / OT Pösigk
Willi Lindner München
Bert Lindstedt Kloster Lehnin
Robert Lindstedt Kloster Lehnin
Sarah Lindstedt Kloster Lehnin
Sylvia Lindstedt Kloster Lehnin
Mike Lindworsky Bad Schwalbach
Jutta Lingos Drochterzen
Hans-Gerhard Linke Walddorfhäslach
Jens Linke Paderborn
Wilfried Linke Gröbenzell
Stefan Lippe Unterschleißheim
Frank Lippmann Seelze
Stephan Lippmann Pockau
Ernst Lippuner Stade
Silke Liß Braunschweig
Rudolf Litt Hildesheim
E.M.v. Livonius Schwielowsee Ot Geltow
Endres Löber Berlin
Herbert Lodahl Gerlingen
Renate Lodde Wiesbaden
Rüdiger Lodde Wiesbaden
Claudia Löding München
Elisabeth Loenicker München
Klaus Loeschke Fürstenfeldbruck
Olaf Loewenberg Hamburg
Friedrich Löffler Wesseling
Ulrich Löffler Pliezhausen
Werner Loghin Witten
Christiane Löhl Oerlinghausen
Horst W. Löhl Oerlinghausen
Dagmar Lohmann Berlin
Uwe Lohmann Gütersloh
Wilma Lohmann Gütersloh
Wolfgang Lohmann Wiesbaden
Ulrich Lohse Kronberg i.Ts.
Frank Lojewski Versmold
Gabriel Lommer Griesbach
Frank Look Otzberg
Reinhard Loos Bobitz
Iris Loreck München
Markus Loreck München
Dieter Lorenz Nordheim
Fritz Lorenz Weinsberg
Guido Lorenz Gauting
Joachim Lorenz Kaarst
Jürgen Lorenz Ronneberg
Steffen Lorenz Biedenkopf
Wolf-Peter Lorenz Plauen
Katharina Lorey Steinheim
Peter Loritz Berlin
Karl -Heinz Lösche Süderlügum
Thomas Löw Rosenheim
Christoph Lübbering Heiden
Elisabeth Lübbering Heiden
Sabine Lübnitz Hamburg
Lars Lubonski Hattingen
Bernard Luczak Recklinghausen
Ilona Luczak Recklinghausen
Karsten Lüder Marchin
Regina Lüdke Baiern
Rolf Lüdke Aibling
Andreas Ludwig München
Hannelore Ludwig Altdorf
Herbert Ludwig Pforzheim
Herta Marie Ludwig Hamburg
Peter Ludwig Altdorf
Ulrike Ludwig Pforzheim
Wilfried Lührssen Langen
Daniel Lukac Schwenningen
Stefan Lüling Hemer
Marc Lunemann Dortmund
Christian Lunschen Mülheim
Wolfgang Lusch Karlsbad
Marko Lüthge Mannheim
Thomas Lutz Karlsruhe
Hans Maas Winsen/Luhe
Arne Maaß Ostrohe
Mario Mach Wartenberg
Günther Machatschke Chemnitz
Jutta Machule Lohue
Christoph Mackrodt München
Günter Mader Osternienburg
Helga Mader Weingarten
Herbert Mader Weingarten
Rainer Maelger Köln
Leonhard Percival Magobeya Bonn
Klaus Mahler Berlin
Anita Maidl Eichendorf
Stefan Maidl Eichendorf
Hans Dieter Maier Friedrichsthal
Peter Maier Weingarten
Wolfgang Maier Bad Nauheim
Klaus Maier Bad Nauheim
Rudolf Maierbeck Velden
Manfred Mailänder Schwäbisch Gmünd
Manfred Maile Messel
Brigitte Mair München
Roswitha Mai-Schleicher Bielefeld
Holger Maiwald Leipzig
Susanne Maiwald München
Erich Majer Alzenau
Renate Majunke Siegen
Bert Malchow Templin
Walburga Malecha Mönchengladbach
Gerhard Malessa Dortmund
Silke Mallies Lichteneiche
Peter Malik Offenburg
Wittwulf Malik Hamburg
Uwe Mallin Bonn
Saskia Malo Braunschweig
Georg Mammitzsch Bad Pyrmont
Odalrik Manalt-Bühler Mögglingen
Guenther Mand Bergisch Gladbach
Diemut Mandera Buggingen
Michael Mändle Kirchdorf
Christine Mandler Halle
Siegfried Mandler Halle/Saale
Gephard Manetinsky München
Helga Manetinsky München
Peter Manke Königsfeld
Cordula Manners Rosengarten
Werner Manowski Norderstedt
Eckehard Manschek Taufkirchen
Charlotte Mantel München
Walther Mantel München
Brigitte Manthei Berlin
Ulrich Manthei Berlin
Monica Mantovani Kaufbeuren
Stefan Maras Chemnitz
Eberhardt Marci Borna
Gabriela Marci Borna
Anna-Elisabeth Marco Heusenstamm
Klaus-Dieter Marherr Viersen
Lasse Marholz Berlin
Hans-Harald Maring Gütersloh
Ulrich Markmann Osnabrück
Friedhelm Marks Geesthacht
Günter Marquardt Berlin
Werner Marquardt Ulm
Heinz Marsch Allmersbach
Gerhard Marschner Radebeul
Juliane Christel Martin Berlin
Lothar Martin Frankfurt am Main
Rolf Martin Baden-Baden
Oliver Marx Püttlingen
Thoralf Marx Bad Schandau
August-Jürgen Maske Bonn
Anton Massing Springe
Eduard Massini Pforzheim
Iris Masson Peine
Gabriele Mathieu Aachen
Volker Matlik Lienen
Dietrich Matt Münzenberg
Holger Mattern Hamburg
Ulrich Mattheai Burgwedel
Dieter Matthäs Elster
Folkhard Matthes Ammersbek
Steffi Matthes Berlin
Hanno Mattulat Rhade
Peter Matzek Wallerstein
Andreas Mauch Renningen
Jano Mauche Brandenburg
Axel Maurer Steinenbronn
Markus Maurer Vierkirchen
Brigitte Maurer- Schultze Würzburg
Joachim Maus Mühlheim am Main
Hans-Werner Maushake Schoningen
Hartmut Mausolt Berlin
Gero Max Eichenau
Hans May Berlin
Hans-Jürgen May Bremervoerde
Rita May Hohen Viecheln
Walter May Waltenhofen
Bernhard Heinrich Mayer Pforzheim
Martin Mayer München
Martin Josef Mayer Schifferstadt
Rita Mayer Feldkirchen-Westerhamm
Stefan Mayer Berlin
Theo Mayer Feldkirchen-Westerhamm
Walter Mayer Karlsruhe
Marcus Mayr Erlangen
Renate McGowan Nienhagen
John B. McNamara Großkarolinenfeld
Elaine McWilliams Rohrdorf
Hans-Jürgen Medau Bergenhusen
Gisela Medeck Aspach
Günther Medicus Torgau
Axel Meese Bremen
Reinhard Mehl Freiburg
Matthias Mehlhorn Freiberg
Manfred Mehlig Lauf
Margot Mehlig Lauf
Walih Mehmetoglu Ulm
Claudia Meier Hamburg
Hans Meier Aying
Richard Meier Germering
Gerhard Meiler Freudenburg
Bärbel Meinecke Kiel
Georg Meinecke Kiel
Heinz Meiners Nettetal
Ralf Meinhardt Zeuthen
Roland Meißl Schöneck
Dieter Meißner Augustusburg
Günther Meister Rödermark
Jürgen Meister Kirchheim
Heimhild Melchior Überlingen
Klaus Melchior Fürth
Bernd Mell Bad Sachsa
Astrid Mende Hachenburg
Reinhold Mende Hachenburg
Birgit Mende München
Peter Mengel Fürstenfeldbruck
René Menges Wedel
Eckhard Mensebach Rosstal
Horst Menssen Gauting
Annelies Mentel Lenggries
Siegfried Menzel Sulmingen
Rita Merkel Regis-Breitingen
Doris Merkle Ludwigsburg
Dorothe Merlot Durach
Udo Merschbecker München
Martin Mertens Herzogenrath
Gerhard Merz Herne
Christian Merzenich Goch
Robert Mesnaritsch Neutötting
Claudia Messer Gemünden/ Main
Manfred Messer Gemünden/ Main
Dagmar Messerschmidt Nürnberg
Hartmut Messerschmidt Nürnberg
Christoph Messner Dinkelscherben
Bernhard Metzger Waghäusel
Dieter Metzger Eisingen
Hannelore Metzger Eisingen
Karin Metzner Fürth
Toni Meurer Bonn-Bad Godesberg
Joachim Mewes Stockach-Winterspüren
Arne-Reinhart Meyer Worms
Claus Meyer Bremen
Doris Meyer Wiesbaden
Elisabeth Meyer Auetal
Gerald Meyer Eisenach
Gerald Meyer Stein
Gerhard Meyer Schwanstetten
Johanna Meyer Schwanstetten
Hans-Ulrich Meyer Honnburg
Hermann Meyer Garbsen
Ina Meyer Chemnitz
Ingeborg Meyer Neumarkt
Michael Meyer Grünendeich
Michael Meyer Görisried
Rainer Meyer Chemnitz
Ulla Meyer Bad Laasphe
Wolfgang Meyer Fernwald
Eduard Meyersieck München
Philip Meyersieck München
Marcus Meyn Nienburg
Eric Micha Schleiden
Stefan Michaelis Mönkebude
Benedikt Michale Augsburg
Gabriele Michale Augsburg
Bernd Michalsky Bamberg
Christof Michel Schüttorf
Günter Michel Heusenstamm
Karl-Rüdiger Michel Moormerland
Betina Michels Sankt Augustin
Franziska Michels Itzehoe
Helga Michels Pastow
K.-Dieter Michels Neustadt
Irena Michels Neustadt
Jürgen Michels Starnberg
Olaf Michels Itzehoe
Ulrich Michels Pastow
Karl Miehe Springe
Klaus Miehling Freiburg
Holmer Mier Zwingenberg
Stefan Miersch Braunschweig
Alexander Mikas Feldafing
Manfred Mikowski Nürnberg
Gordana Milanovic- Kovacevic Berlin
Ute Milatz- Krautwasser Stockach
Petra Milling Herne
Paul Minz Ravensburg
Marite Mittelstaedt berlin
Bernd Mittnenzweig Halle
Markus Möbius Geretsried
Wolfgang Moeller Bremen
Peter Moenius Erlangen
Barbara Mogk-Meyer Neuenhagen
Matthias Mogler Neuf-Brisach
Andreas Mohn Pinneberg
Michael Mohn Berlin
Ute Mohr Tabarz
Hubert Mohs Stuttgart
Dieter Molkethin Leimen
Achim Möller Leer
Barbara Möller Hamburg
Elke Möller Leer
Manfred Möller Winterstein
Niels Mommer Pforzheim
Siegfried Mondry Bietigheim-Bissingen
Matthias Moning Köln
Claus Montanus Hockenheim
Ute Montanus Hockenheim
Anna Mordig Berlin
Erwin Mordig Berlin
Manfred Morlock Remchingen
Toska Moschick Wiesbaden
Achim Möseler Oerlinghausen
Andreas Moser Teltow
Ingo Moser Berlin
Konrad Moser Alfter
Susanne Moser Ismy (Im Allgäu)
Karl Mosler Bargheim
Eberhard Mössner Kornwestheim
Helmut Mössner Winnenden
Petra Motzer Gengenbach
Günter Mues Dietzenbach
Winfred Mühlbauer München
Eva Mühlbauer-Kroes Egglhan
Bernhard Mühlichen Hamburg
Michaela Mühmer Erlangen
Ingrid Muhr Schongau
Adolf Müller Kleinblittersdorf
Anita Müller Kerpen
Bernd Müller München
Birgit Müller Schwelm
Brigitte Müller Erding
Christa Müller Oberau
Christel Müller Bremen
Christian Müller Karlsruhe
Detlef Müller Schwelm
Dieter Müller Bernkastl
Edeltraut Müller Neckarsulm
Edmund Müller Werder
Eugen Müller Hirschhorn
Friedrich Müller Obertshaausen
Gerhard Müller Karlsruhe
Gunnar Müller Sangerhausen
Günter Müller Langenhagen
Hagen Müller Bad Wünnenberg
Petra Müller Bad Wünnenberg
Hans-Joachim Müller Berlin
Hansjörg Müller Ainring
Harry Müller Ostfildern
Herbert Müller Vorderburg
Hildegard Müller Vorderburg
Ingo Müller Erding
Ingrid Müller Stolberg
Jürgen Müller Gerstetten
Karin Müller München
Karl-Heinz Müller Tiefenbach
Katharina Müller Regensburg
Klaus Müller Nürnberg
Klaus Müller Bürstadt
Klaus Müller Mühlhausen
Petra Müller Mühlhausen
Klaus-Günther Müller Münchberg
Mailin Müller Bad Schönborn
Manfred Müller Flieden
Marlene Müller Neu-Isenburg
Martin Müller Wiesloch
Martina Müller Contwig
Meike Müller Rostock
Monika Müller Grafing
Olaf Müller Taucha
Patrick Müller Neu-Isenburg
Peter Müller Feldberg
Reinhard Müller Dötlingen
Richard Müller Neu-Isenburg
Roland Müller Herbolzheim
Ronald Müller Röbel
Sabine Müller Gengenbach
Thomas Müller Contwig
Ulrich Müller Rösrath
Uwe Müller Limbach
Werner Müller Grafing
Wolfgang Müller Bruckmühl
Klaus-Georg Müller-Beier Hannover
Ralf Müller-Kallies Lichteneiche
Florenz Müller-Machens Hannover
Wolfgang Müller-Obier Egelsbach
Thomas Müller-Siemens Hamburg
Wolfgang Müller-Thorwart Lübeck
Hinrich Mummenthey Pforzheim
Hans-Joachim Münd Offenbach
Hans J. Mundhenk Hambühren
Herta Mundhenk Hambühren
Kasimir-Thomas Muniak Pulheim
Peter Munique Lauf
Lars Munk Bergisch-Gladbach
Karl Heinz Münter Kernen
Birgit Müntjes Olsberg
Roswitha Müntz Schleswig
Elfriede Münzberg- Resch Weilheim
Eberhard Muszinski München
Michael Mutz Waake
Renate Mutz Waake
Jacqueline Nabe Neumünster
Norbert Nadler Oranienburg
Petra Nadler Oranienburg
Ercan Nak Hamburg
Birgit Nandzik Möser
Marzia Narayani Berlin
Gerd Nasner Stuttgart
Heiko Natzan Lengerich
Oliver Natzan Lienen
Christian Nauheimer Hünstetten
Tim Naujokat Wiesloch
Winfried Naumann Nottuln
Günter Naunheim Trier
Igor Nazarkin Mossautal
Falk Nebenthal Ehrenfriedersdorf
Elisabeth Neffe-Borrmann Herten
Werner Nehls München
Elisabeth Nehm Potsdam
Hans Neidhardt München
Friedrich Wilhelm Nennhaus Hamburg
Marco Nennhaus Wetzlar
Helmut Nentwich Aying
Alfred Netzer Neusäß
Ralph Netzker Ludwigsburg
Christian Neuber Ingolstadt
Eduard Neudert Dieburg
Waldemar Neufeld Villingen
Dieter Neugeboren Hessisch Lichtenau
Ulrich Neugeboren Hessisch Lichtenau
Dietmar Neuhaus Düsseldorf
Hans Neuhofer Dorfen
Alexander Neumann Frankfurt am Main
Dirk Neumann Hagen
Klaus-Dieter Neumann Köln
Tobias Neumann Eichenzell
Ulrich Neumann Donauwörth
Jürgen Neupert Oberursel
Klaus Neuroth Würselen
Karl Neuschwander Brackenheim
Minh Trang Nguyen Tattenhausen
Gunda Nickel Preetz
Horst Nickel Heidesheim
Carsten Nicklaus Kempen
Sandra Nicklaus Kempen
Xiaoning Nie Neubiberg
Martin Niebergall Malsch
Norbert Nieder Weinried
Hans-Josef Niederehe Mertesdorf
Elvira Niederhausen Pulsnitz
Wolfgang Niederhausen Pulsnitz
Maria Niedermaier Vogt
Georg Niedermeier Haimhausen
Horst Niederehe Euskirchen
Petra Niedl Weyarn
Thiemo Niedl Weyarn
Barbara Niehaus Düsseldorf
Klaus Nielsen Hamburg
Christiane Niemann Rostock
Günter Niemann Bad Soden
Hibbo Niemann Kamperfehn
Karin Niemann Bad Soden
Marlies Niemann Strassburg
Matthias Nienhagen Chemnitz
Marie-Claire Nientit Allendorf
Andreas Niepel Wunstorf
Elke Niestroj Rotenburg/Wümme
Claudia Niggenaber Dortmund
Gabriele Niggenaber Werne
Günter Niggenaber Werne
Stefanie Niggenaber Dortmund
Volker Niggewöhner Unterhaching
Dietmar Niklaus Berlin
Stjepan Nikolic Deggendorf
Thomas Nissel Nürnberg
Horst Nistriyke Halle
Meinhard Nitsch Wermelskirchen
Bernd Noack Rösrath
Gerda Noack Bornheim
Joachim Noack Egestorf
Kai Noack Wentorf
Ulrich Noack Hamm
Teut Noeske Erlensee
Florian Noll Stuttgart
Elena Noniky Gelnhausen
Christoph Noppeney Steinbach
Klaus Nordmeyer Neukirchen-Vluyn
Heiner Norz Rottenburg
Gero Nöske Aunweiler
Edeltraud Nosthaf Uhingen
Rainer Nothdurft Friedland
Verena Nothum Bayreuth
Frank Nothnagel Sandershausen
Carola Nowak Rodgau
Herbert Nowitzky Eutin
Enrico Nozzolillo Nürnberg
Manuela Nüchter Haag
Christoph Nuhn Haan
Elisa Nuhn Haan
Gerhard Nuhn Haan
Heribert Nuhn Straßenhaus
Susanne Nuhn Haan
Tobias Nuhn Haan
Detlev Nüsch Frankfurt am Main
Manfred Nußbaumer München
Frank Obenaus Priestewitz
Elmar Oberdörffer Heiligenberg
Günter Erwin Oberle Traben-Trarbach
Hans-Günther Obermaier Köln
Jürgen Obernolte Erlangen
Armin Obst Eggenstein-Leopoldhafen
Gaby Obst Eggenstein-Leopoldhafen
Robert Obst Willich
Patrick Ochnio Herne
Claus Oehler Essen
Andrea Silvia Oehrle Ulm
Rolf Oesterheld Detmold
Annerose Oesterle Korntal-Münchingen
Martin Oesterle Korntal-Münchingen
Kristina Oetken Frankfurt am Main
Johanna Oetting Sylt OT Tinnum
Bernd Ofteringer Lauchringen
Rüdiger Ohl München
Hartwig Ohlenbusch Neuenburg
Volker Ohlenroth Kirchen
Matthias Ohm Wohlde
Rudolf Ohm Kiel
Isabella Ohnesorg Augsburg
Andrea Olbing Bullay
Reiner Olbrich Stadt Seeland, OT Gatersleben
Horst Ollech Buseck
Nicole Opalka Bremerhaven
Sascha Opalka Bremerhaven
Holm Opitz Bischofswerder
Joachim Opitz Lindlar
Christa Oppermann Rielasingen-Worblingen
Michael Opre Leipzig
Claudia Orlandi Mülheim
Inke Orlich Neukirchen-Vluyn
Rüdiger Orlich Neukirchen-Vluyn
Sandy Orlich Neukirchen-Vluyn
Till Orlich Neukirchen-Vluyn
Diana Oroschakoff Berlin
Haralampi G. Oroschakoff Berlin
Hilmar Orth Köln
Wolfgang Orth Erlklenz
Rudolf Orthen Selbach
Wolfgang Orthofer Pullach
Klaus Ortmann Oberhausen
Dagmar Osmers Schenefeld
Lüder Osmers Schenefeld
Norbert Osswald Gomaringen
Herbert Ost Neufarn
Michael Osterloh Celle
Ulrich Ostoyke Lahr
Antje Oswald Detmold
Christian Ott Frankfurt am Main
Ellen Ott Neiße-Malxetal
Walburga Ott Langwied
Wilfried Ott Wölfersheim
Christoph Otter Grünwald
Erhard Otto Bad Berleburg
Joachim Otto Fulda
Peter Otto Werder
Ralph Otto Belgershain OT Threna
Gottfried Ottweiler Mettmann
Joseph Oude Moleman Löhne
Joachim Overbeck Deggendorf
Ingrid Pabst Bad Birnbach
Stephan Pabst Berlin
Udo Packheiser Bernkastel-Knes
Catharina Pagenstecher Breitnau
Norbert Pahlke Kalt
Lydia Pahmeier Göttingen
Rainer Pahnke Herzberg
Sabine Pahnke Herzberg
Friedrich Pallentin Miltenberg
Walter Pampel Hemer
Reinhard Pander Königsbrunn
Josef Pandza Kirchheim i. T.
Marion Pandza Kirchheim i. T.
Josef Panholzer Garmisch-Partenkirchen
Jürgen Pannke Rahden
Evgenos Panteleimon Hannover
Viola Pantenburg Rose Berlin
Ralf Pantzlaff Rastede-Wahnbek
Udo Panzer Schrobenhausen
Michael Pape Lengede
Alexander Papenfuß Berlin
Andreas Papenfuß Liegau-Augustbad
Gabriele Papenfuß Berlin
Inis Papenfuß Radeberg
Svetlana Papenfuß Berlin
Oliver Pappert Mannheim
Ulrich Parlow Lahr
Renate Parschau Wandlitz
Anita Parth Lindenfels
Christian Parzefall Heidhof
Gerhard Paschedag Gütersloh
Thomas Paschkow Wolfsburg
Mechthild Pater Niefern
Werner Patzelt Gernsbach
Alexandra Pauderer Rohrbach
Josef Pauderer Rohrbach
Rainer Paul Karlsruhe
Hans Otto Pauli Wermelskirchen
Detlef Paulin Löbau
Dieter Paulusch Backnang
Rosemarie Pauly Hamm
Anneliese Paus Bad Schwalbach
Erich Paus Bad Schwalbach
Franz-Josef Paus Köln
Claus Pautzsch Pirna
Pavenzinger Massing
Klaus Peege Hosenfeld
Stephan Pehl Rothenburg
Irene Peppler Dobel
Josefine Peppler Tattlingen
Wilhelm Peppler Dobel
Thilo Perlick Berlin
Walter Pernsteiner Nordheim
Alberto Perona München
Christine Persch Sachsenhagen
Anke Persson Hümmel
Günther Perthen Tübingen
Peter Perzl Fürstenfeldbruck
Gunter Peschank Neuhausen
Horst Peter Taunusstein
Heiko Petermann Detmold
Amandus Peters Bielefeld
Gerd Peters Remshalden
Jörn Peters Bad Pyrmont
Jürgen Peters Hannover
Sabine Peters Aichach
Wolfgang Peters Rosengarten
Arnd Petersen Gauderkegel
Kurt Petersen Reussenköge
Malte Petersen Jübek
Erika Petrauschke Südmoslesfehn
Karl Heinz Petrauschke Südmoslesfehn
Karl Dieter Petri Dortmund
Marika Petroff-Dimitroff München
Ralf Petter Hamburg
Rosl Pettinger München
Irene Petzold Offenburg
Hartmut Petzoldt Hagen
Hannelore Pfaff Titisee-Neustadt
Isabella Pfaff Titisee-Neustadt
Robert Pfäffl Mertingen
Tycho Pfäfflin Berlin
Joachim Pfaller Neufahrn
Herbert Pfau Lahnstein
Anton Pfauth Stuttgart
Wolfgang Pfeifer Hösbach
Horst Pfeiffer Taunusstein/Hahn
Michael P. Pfeiffer Wiesbaden
Gabriele Pfennig Berlin
Manfred Pfeufer Mittendorf
Wilhelm Pfisterer München
Margot Pfister-Murbach Schweinfurt
Rosemarie Pflugbeit Leipzig
Hans Pflüger Leinfelden-Echterdingen
Dieter Pfohmann Rödersheim-Gronau
Gertrud Philipp Waldkraiburg
Gisela Philipp Göttingen
Jennifer-Anne Philipp Marburg
Sebastian Philipp Marburg
Waldemar Phillipp Waldkraiburg
Klaus Piater Regensburg
Elena Pichler Mainhardt
Johann Piehler Hamburg
Andreas Piel Hamburg
Claudia Piel Hamburg
Detlef Pieloth Salzkotten
Georg Pientka Berlin
Klaus Piepereit Berlin
Berndt Pierau Aachen
Herbert Piergalski Manching
Erwin Pietzka Herten
Claus-Peter Pietzsch Düsseldorf
Karl-Heinz Piller Goch
Arno Pillwein Bad Liebenzell
Christina Pilser Lana
Berthold Pilsl Oberau
Susanne Pilsl Oberau
Karl-Heinz Pilz Potsdam
Gülcan Pinar Weiterstadt
Martina Pinteric Ritterhunde
Siegfried Piotrowski Hagen
Ruth Pirner Nürnberg
Michael Pistrowski Regensburg
Irene Pitter München
Denis Pixa Schkopan
Ines Pixken Trebbin
Stefan Plaaß St. Georgen
Doris Plachetta Gießen
Fabio Plachetta Karlsruhe
Günter Plachetta Gießen
Angelika Placke Disserz
Alfons Plaschke Amstadt
Evelin Plattner Berlin
Hans-Martin Plattner Augsburg
Gabriele Platzer-Mederer Berg
Horst Plebuch Vollersode
Bernhard Pleis München
Eva Plickert München
Ansgar Plogmeier Warburg
Dieter Podzimski Oldenburg
Olaf Poesch Guben
Karin Poestges Gilching
Matthias Poets Emden
Maria Theresia Pogadl Berlin
Heide Pöhler Obertshausen
Bernd Polanski Jevenstedt
Bernd Polske WT‑Tiengen
Irmtraud Polske WT‑Tiengen
Sven Polster Dresden
Helmut Pöltelt Ahrensfelde
Heinz Podewils Erdweg
Brigitte Popp Nordendorf
Gerhard Popp Nordendorf
Heike Popp Bamberg
Irene Popp Pähl
Walter Popp Bad Mergentheim
Benedikt Porsche Neunkirchen
Dirk Poschner Köln
Cornelia Post Schleswig
Hans-Ulrich Post Schleswig
Volker Poth Meerbusch
Gerd Pottkamp Porta Westfalika
Jürgen Powilleid Hammeddel
Wilhelm Pracht Tornesch
Oliver-Sten Präger Göttingen
Hilke Pralle Nürnberg
Mark Preis Hamburg
Maren Preisinger Bühnsdorf
Nordfried Preisinger Bühnsdorf
Klaus Preiß Hannover
Christian Preuß Berlin
Peter J. Preusse Marburg
Roland Preußger Dürrhennersdorf
Christina Preussler Wasserburg
Sebastian Prill Hamburg
Rüdiger Primke Seelze
Jan-Marinus Prins Bornhöved
Sabine Prins Eurasburg
Andreas Prittmitz Marburg
Annette Zulauf Marburg
Peter Prochaska Rottach-Egern
Traudl Prochaska Rottach-Egern
Beate Proels Amberg
Michael Proels Amberg
Oliver Pron Osnabrück
Giesela Prönnecke Dessau-Roßlau
Ingolf Prönnecke Dessau-Roßlau
Christine Prüfer München
Lutz Prüfer München
Dieter Puhl Wettenberg
Friedhelm Puhlmann München
Hehra Puls Stegen
Mathias Purper Bad Schwalbach
Joachim Puschendorf Bad Köstritz
Marion Puschendorf Bad Köstritz
Birgit Puschik Berlin
Günter Pütz Isernhagen
Diana Querengässer Woltersdorf
René Querengässer Woltersdorf
Rosemarie Quint Niedernhausen
Klaus Rabe Hohenstein-Ernstthal
Michael Rabe Berlin
Norbert Rabending Alfred Leine
Christine Rabus Berlin
Horst Rachinger Stein
Henrik Rachor Buchholz
Klaus Raddatz Bichl
Stephan Rademacher Wuppertal
Martin Radermacher Düsseldorf
Günter Radtke Vorbeck
Lutz Radtke Bad König
Marius Radtke Berlin
Ingo Rafalski Esselbach
Ulrich Raff Hechingen
Wolfgang Raff Offenburg
Wiebke Rahlf Hamburg
Joachim Rahn München
Matthias Rahn Magdeburg
Klaus Rambold Pfarrkirchen
Henry Ramek Mearane
Hans Ramisch Dietzenbach
Wilfried Rammelt Potsdam
Theodor Ramminger Lauben
Birgitt Ramroth Bad Wiessee
Klaus Ramser Augsburg
Irmi Ramsl Frasdorf
Michael Ramsl Frasdorf
Stephen Rapp Pinneberg
Helmuth Rath Ottobrunn
Marion Rath Dormagen
Dorothea Räth Pampow
Erhard Räth Pampow
Iris Rathsmann Berlin
Horst Rau Filderstadt
Rosemarie Rau Giching
Jens Raue Berlin
Waldemar Rauh Ostelsheim
Gisela Raum-Schweikert Liederbach
Ludwig Rausch Weinheim
Franz Rebele Dinkelsbühl
Dirk Rebig Mönchengladbach
Joachim Recktenwald Tholey
Marion Recktenwald Tholey
Roswita Reddemann Burg / Spreewald
Bert Redlinger Kappeln
Jürgen Rehbein Hamburg
Sabine Rehbein Hamburg
Thomas Rehklau Meckenbeuren
Hartwig Rehm Bruckmühl
Wendelin Rehm Bissingen
Wolfgang Rehwinkel Offenbach
Wolfgang Reich Templin
Jens Reichardt Beeskow
Susanne Reichardt Beeskow
Georg Reichart Marktoberdorf
Klaus Reichel Forchheim
Matthias Reichel Münchberg
Markus Reichelsdorfer Herzogenaurach
Roland Reichelsdorfer Herzogenaurach
Ines Reichelt Lützen
Tilmann Reichelt Bonn
Matthias Reichert Merzhausen
Wilhelmine Reichert Karlsruhe
Willibald Reichert Mittelreidenbach
Holger Reichhart Gräfelfing
Monika Reichhart Gräfelfing
Renate Reifferscheid München
Roland Reihs Denzlingen
Christoph Reimann Rotenburg/ W.
Ortrud Reimann Rotenburg
Günter Reimer Wermsdorf
Günter Reimer Bad Soden
Ingrid Reimer Bad Soden
Jan Reimer Tötensen
Eberhard Reincke Berlin
Klaus Reindl Pfullingen
Rosa Reindl Glonn
Barbara Reiner-Buchta Kempten
Martin Reiners Heidelberg
Jochen Reinert Appenweier
Hans-Jürgen Reinhard Hannover
Wilfried Reinhardt Ribnitz-Dammgarten
Peter Reinhart Roxheim
Ursula Reinhart Bobenheim-Roxheim
Antje Reinhold Limbach-Oberfrohna
Stephan Reinhold Limbach-Oberfrohna
Wilhelm Reinkensmeier Vlotho
Frido Reinstorf Quedlinburg
Johann Reisch Eiselfing
Karl Stephan Reischl Fridolfink
Robert Reiß Aldenhoven
Dagmar Reiß Aldenhoven
Bernhard Reiter Frankfurt am Main
Brigitta Reiter Senden
Franz Reiter Senden
Maria Reith Ottobrunn
Ralf-Klaus Reitinger Rodsau
Gebhard Reitz Boptingen
Peter Reizlein Wiendorf
Dagmar Reker-Pütz Isernhagen
Gerhard Reklinghaus Höxter
Simon Renard Jena
Heinrich Renelt Halle
Anne Renger Berlin
Marc Renger Berlin
Dieter Renner Jesenwang
Alexander Renz Egenhausen
Johannes Resch Winden
Ruslan Reschetvikov Fürth
Peter Respondek Bad Dürkheim
Herdis Respondek Bad Dürkheim
Thorsten Retzlaff Weinstadt
Peter Retzer Berching
Wolfgang Reuffurth Freudenberg
Roman Reusch Stahnsdorf
Sigrid-Anne Reuß Witzenhausen
Annett Reuter Dresden
Klaus Reuter Berlin
Torsten Reuter Berlin
Olaf Reuthenbuch Mannheim
Thomas Reuther Neusitz
Jürgen Rexer Schnaittach
Gregor Rex- Lawatscheck Berlin
Dieter Rheinberger Hamburg
Herbert Rhode Augustdorf
Christel Richter Grünheide
Doris Richter Markt Indersdorf
Gerd Richter Bad Salzdetfurth
Gustav-Otto Richter Düsseldorf
Helmut Richter Berlin
Jörg Richter Hamburg
Julia Richter Oberhausen
Karl-Hermann Richter Markt Indersdorf
Maria Richter Oberhausen
Markus Richter Klettgau-Erzingen
Martina Richter Oberhausen
Oliver Richter Weßling
Uwe Richter Aying
Klara Ricker Bad Homburg
Willi Ricker Bad Homburg
Helmut Rieback Berg
Bernd Riebisch Demmin
Reinhold Riede Erlangen
Achim Riedel Helmbrechts
Jürgen Riedel Berlin
Katja Riedel Bad Vilbel
Martina Riedel Bad Vilbel
Walter Riederer Aholming
Alois Riedl Burghausen
Adele Riedlecker Reichraming
Helmut Riedlinger Leonberg
Achim Riefler München
Alexander Rieger Nürnberg
Harald Riegsinger Albstadt
Dennis Riehle Konstanz
Gertrud Rieman Mannheim
Stefan Riese Berlin
Eva-Maria Riester Brigachtal
Jörn Riewe Hamburg
Walter Rikker Affalterbach
Salara Martina Rinklieb Wartin
Thomas Ring Bensheim
Dieter Ripp Geesthacht
Carolin Rippke Forst
Iris Rischke Lauchhammer
Ralf Rischke Lauchhammer
Jan B. Rittaler Rutesheim
Georg Rittberger Hamburg
Gisela Elsita Rittberger Hamburg
Thomas Rittel Würzelen
Eduard Ritter Altenstadt
Susanne Ritter Drei Gleichen
Christine Rittner Dresden
Knut Rittner Dresden
Falk Röbbelen Hamburg
Pit Roch Freital
Lutz Rochau Frankfurt am Main
Andreas Rochow Haldensleben
Ellen Röder Holzminden
Annehete Roeder von Diersburg Hohberg
Frank-Michael Roediger Burgdorf
Rayner Roehreke München
Dennis Roemer Berlin
Roswita Roestel Berlin
Hedwig Roggendorf Essen
Erika Rogosch Bad Hersfeld
Gerd Rohde Hamburg
Michael Rohe Eldingen
Jörn Röhler Zeitz
Ina Rohne Stralsund
Joachim Röhrich München
Werner Rohrmann Weinheim
Eva Rohrmann Weinheim
Christoph Roitzsch Hamburg
Ansgar Rolf Brechtesgaden
Harald Rölle Buchholz/NH
Alfons Rollmann Grossostheim
Bernd Rombach Stutensee
Manfred Romczyk Freiendsteinau
Gigi Romeiser Maintal
Ingeborg Römer Zorneding
Clemens Römer München
Otmar Rondot Linz
Andrea Roos Volxheim
Hans Joachim Roos Volxheim
Johannes Roos Volxheim
Andreas Rös Winsen
Frank Roscher Berlin
Friedel-Gustav- Wilhelm Rose Wuppertal
Jens Rose Berlin
Marlies Rose Wuppertal
Simon Rosen Marburg
Harald Rosenbaum Hemmingen
Mechthild Rosenbaum Hemmingen
Dieter Rosenberger Werneck
Simon Rosenthal Dresden
Sandra Rosentreter Bad Krozingen
Stephan Rosentreter Bad Krozingen
Erika Rosenwinkel Stuttgart
Claudia Roser Hohenfels
Barbara Rösler Bruchsaal
Yves Rösler Georgenthal
Christine Roßbach Berlin
Frank Rossmeissl Erlangen
Franz Roßmeißl Bruckmühl
Frank-Michael Rost Erftstadt
Friedhelm Rostan St. Georgen-Peterzell
Karl Rotermund Horn-Badmeinberg
Edwin Roth Nürnberg
Franz Georg Roth Germersheim
Peter Roth Epstein
Stefan Roth Linsengericht
Wolfgang Roth Marzling
Peter Rothdach München
Helmut Rothe Berlin
Peter Rothenbacher Stuttgart
Sybille Rothenbacher Stuttgart
Ekkehard Rother Koserow
Ernst Rötteken Steimbke
Barbara Roy Dornbirn
Andreas Rubel Hannover
Karl Rübhausen Meckenheim
Martin Rückert Affing
Alois Ruder Straubenhardt
Mechthild Ruder Straubenhardt
Manuela Rudolph Kubschütz
René Rudolph Kubschütz
Richard Rudolph Dresden
Ronald Rudolph Berlin
Bernadette Ruess Peiting
Anthony Ruhl Frankfurt am Main
Robert Rührschneck Stein
Angela Ruhtus Bremen
Wolfgang Rümenapp Rommerskirchen
Manfred Rummel Deizisau
Daniel Runge Berkenthin
Peter Runge Rostock
Grete Rupp Wallerfangen
Georg Rupprecht Oldenburg
Monika Rupprecht Oldenburg
Dorothea Ruppricht Stockach
Michael Rusch Buchholz
Birgit Ruschke Hannover
Dirk Ruschmeyer Rinteln
Bernhard Russ Ravensburg
Holger Rustemeier Osnabrück
Hubertus Ryback Glienicke-Nordbahn
Uwe Ryguschik Brieselang
Wolfgang Ryll Simonswald
Benjamin Rzepka Luetjenburg
Ulrich Saager Schwerte
Helena Sabatino Oberschleibheim
Bernd Sabinatz Ratekau OT Warnsdorf
Erich Sacher München
Katja Sachs Leipzig
Sabine Sachs Nastätten
Volker Sachs Krefeld
Walter Sachs Oyten
Ingrid Sachse Bonndorf
Anneliese Sackmann Greven
Klaus Sackmann Greven
Jakob Sailer Peißenberg
Ingo Salewski Greven
Elisabeth Saller Niederaichbach
Hans Joachim Salz Bochum
Werner Samjeske Kerpen
Anton Samoschkoff Gießen
Heidemarie Sander Dortmund
Ina Sander Greifenstein
Werner Sander Burscheid
Hermann Sandmaier Villingen-Schwemmingen
Marianne Sandmaier Villingen-Schwemmingen
Joachim Sandmann Ottobrunn
Johann Sandweger Starnberg
H.-W. Sanft Würzburg
Susanne Sanktjohansen München
Antonio Santalucia Kaiserslautern
Maurizio Santarelli Heilbronn
Marina Santer Wiesloch
Björn Sarcander Delmenhorst
Jan Sarosiek Sinzig
Ulrich Sartor Hannover
Werner Sasse Hamburg
Oliver Sassmann Riedstadt
Annerose Sattler krausnitz
Hans-Jürgen Sattler Krausnitz
Karl Sattler Altfrauenhofen
Thomas Sattler Niedernhausen
Peter Sauermann Hamburg
Jörg Saur Schlat
Waldemar Sauter Ausburg
Steffen Sauther Saarbrücken
Siegbert Sawatzky Donzdorf
Franz Saxinger Neufahrn
Gunnar Schaaf Halle
Markus Schaal Crailsheim
Heide Schaar Wendel
Jürgen Schaar Wendel
Heike Schablitzki Viersen
Renate Schad Brandenburg a. d. Havel
Thomas Schad Tübingen
Dieter Schade Hamburg
Heinz W. Schaefer Weil der Stadt
Peter Schaefer Tutzing
Bernhard Schaeffer Berlin Gatow
Friedrich Schaeper Wolfenbüttel
Armin Schäfer Zwickau
Bernd Schäfer Esslingen
Griseldis Schäfer Althütte
Hans Schäfer Pirmasens
Horst Schäfer Althütte
Regine Schäfer Leipzig
Wilfried Schäfer Erlenbach
Winfried Schäfer Aachen
Gerd Schäfersküpper Eckernförde
Bodo Schaffeld Detmold
Yvonne Schäffer Münster
Rudolf Schaffrath Baesweiler
Ulrike Schaffrath Baesweiler
Andreas Schaller Vohenstrauß
Peter Schaller Vohenstrauß
Stefan Schaller Neustadt
Traudl Schaller Vohenstrauß
Andreas Schallich Sylle
Rainer Schallmoser Altötting
Rüdiger Schaly Blieskastel
Nikolaus Schapfl Marktschellenberg
Claus Schappei Lübeck
Uwe Schärff Hamburg
Kristin Scharnowksi Erfurt
Rosemarie Scharnweber Norderstedt
Peter Schäuble Marbach
Hartmut Schauder Hamburg
Simon Schauder München
Taron Schauenburg Gauting
Frank Scheckeler Darmstadt
Peter Schecklmann Ingolstadt
Wolfgang Scheel Lübeck
Robert Scheffert Deute
Ralf Scheffler Frankfurt am Main
Narinjas Angelika Scheibe Hamburg
Karl Scheibert Frankfurt am Main
Melanie Scheibinger Burglengenfeld
Kurt Scheibner Chemnitz
Norbert Scheid Ahaus
Hubert Scheiding Rendsburg
Björn Scheler Freising
Rolf F. Schell Berlin
Piotr Scheller Radebeul
Joachim Schellhammer Radolfzell
Joachim Schelling Esslingen
Frank-Peter Schelp Berlin
Renate Schemke Hamburg
Heidi Schenck Kaufbeuren
Rita Schenkel Hamburg
Andreas Scherer Buchenbach
Irene Scherer Erlenbach
Magdalena Scherer Stuttgart
Peter Scherer Erlenbach
Antje Scherf Wilhelmsfeld
Klaus-Jürgern Scherf Wilhelmsfeld
Franz Xaver Scherl Metten
Lothar Scherzer Regenstauf
Maria-Luise Scherzer Regenstauf
Monika Schestag Neuried
Wolfgang Schestag Neuvied
Falko Schetelich Horn-Badmeinberg
Annelie F. Scheuernstuhl Starnberg
Barbara Scheuhing Kämpfelbach
Monika Scheungrab Gangkofen
Armin Scheurer Falkensee
Günter Schickert Berlin
Brigitte Schiechel Weiterstadt
Alexander Schiedewitz Bad Zwischenhahn
Wolfram Schiedewitz Seevetal
Klaus-Peter Schiekiera Herne
Anni Schierling Gerolzhofen
Daniel Schierling Gerolzhofen
Marcel Schierling Gerolzhofen
Rudolf Schierling Gerolzhofen
Sergej Schikowski Hamburg
Renate Schild Owingen
Christa Schiller Marburg
Frank Schiller Mengen
Manfred Schiller Weiden
Antje Schilling Asbach
Horst Schilling Ammerbusch
Stefan Schilling Trier
Hans Schillo Saarbrücken
Heike Schimmelpfenni g Ulm
Uwe Schimmelpfenni g Ulm
Martin Schimpf Böblingen
Hans Schindlböck Haimhausen
Armin Schindler Köln
Gerd Schindler Bonn
H. Schindler Werthein
Jens Schindler Werthein
Norbert Schindler Langenfeld
Christian Schinko Poing
Stefanie Schippert-Körpe Weinstadt
Christel Schippin Winterbach
Hans-Dieter Schippin Winterbach
Philipp Schiwon Winsen / Luhe
Bernd Schlabs Spremberg
Hermann Schläfer Neuburg
Wilfried Schlagenhauf Buchenbach
Rainer Schlamp Hamburg
Georg Schläppi Gammertingen
Thomas Schlawig Düsseldorf
Hans-Peter Schlenstedt Hannover
Gottried Schlemmer Altusried
Elisabeth Schlenke Gräfelfing
Volker Schlenke Gräfelfing
Judith Schlenker Donauschingen
Gabriele Schlereth Gochsheim
Antje Schletter Erkrath
Sabine Schlotmann- Leiers Brüggen
Dominik Schloßbauer Hessisch Lichtenau
Stefan Schlütter Karlsruhe
Elisabeth Schmäing Ludwigshafen
Nadja Schmalenberg Moers
Anna Schmalz Dachau
Hilmar Schmank Groß-Gerau
Johannes Schmeink Dortmund
Berta Schmeling Eckernförde
Dietrich Schmeling Eckernförde
Dietmar Schmid Rehau
Birgit Schmideder Burgthann
Jürgen Schmidmeir Stuttgart
Andrea Schmidt Berlin
Andreas Schmidt Berlin
Anita Schmidt Bretten
Balthasar Schmidt Oetisheim
Claudius Schmidt Schwalmtal
Erhard W. Schmidt Bremen
Hagen Schmidt Quedlinburg
Hans-Joachim Schmidt Puchheim
Ingrid Schmidt München
Jochen Schmidt Hamburg
Lothar Schmidt Bayreuth
Manfred Schmidt Dormagen
Manfred Schmidt Sankt Augustin
Maria-Verena Schmidt Argenbühl
Ralf Schmidt Bretten
Reinhold Schmidt Wennigsen
Rita Schmidt Berlin
Roland Schmidt Gelnhausen
Udo Schmidt Frankfurt am Main
Vera Schmidt Kaarst
Werner Schmidt Springe
Wolf-Ekkehard Schmidt Wrist
Wolf Gero Schmidt Bad Driburg
Wolfgang Schmidt Walddorfhäslach
Ingolf Schmid- Tannwald München
Jürgen Schmidt-Heydt Offenburg
Hilde Schmidt-Kaler München
Burkhard Schmidt Steinfurt
Christoph Schmidt-Krayer Berlin
Jürgen Schmidt Wanfried
Hermann Schmidt- Neuhaus Waldkraiburg
Joachim Schmitt Schwetzingen
Kamilla Schmitt Kaiserslautern
Manuel Schmitt Kaiserslautern
Matthias Schmitt Weghäusel
Raimund Schmitt Marktheidenfeld
Tobias Schmitt Liederbach
Joachim Schmittner Paguera
Torsten Schmitt-Thomas Frankfurt am Main
Fred Schmitz Germering
Gudrun Schmoll Gaggenau
Katrin Schmuck Limbach
Peter Schmucker Kisslegg
Ellen Schnabel Berlin
Ralph Schnägelberger Niederdorfelden
Florian Schnaithmann Berlin
Thomas Schnattinger Zirndorf
Manfred Schneck Heiligkreuzsteinach
Regina Schneck Heiligkreuzsteinach
Thomas Schneegaß Mittelbach
Botho Schneidemann Würzburg
Burkhard Schneider Chemnitz
Christoph Schneider Bad Beyersoien
Detlef Schneider Berlin
Dietmar Schneider Ulm
Ferdinand Schneider Rhinow
Heiko Schneider Calberlah
Hermann Schneider Heidelberg
Ingeborg Schneider Ulm
Irmgard Schneider Siegen
Josef Schneider Lennestadt
Jürgen Schneider Wolfschlugen
Klaus Schneider Duisburg
Klaus Schneider Offenbach
Markus Schneider Karben
Michael Schneider Saarbrücken
Otto Schneider Gammertingen
Patrick Schneider Osnabrück
Peter Schneider Berlin
Rudolf Schneider Nürnberg
Waltraud Schneider Rhinow
Zdravka Schneider An bei Freiburg
Christiane Schnell Bielefeld
Dieter Schnellbacher Höchst
Friedbert Schnepf Vogtsburg
Michael Schnieder Stuhr
Harald Schnitko Wöbbelin
Edgar Schnitz Ostfildern
Stefan Schnitzer Emmendingen
Bernd Schnitzler Beindersheim
Tabea Schober Oldenburg
Burkhard Schoch Berlin
Claus Schoch Halblech
Michael Schoch Mühlhausen
Erika Schock Stuttgart
Michael Schock Stuttgart
Susebill Schoedder Walldorf
Thomas Schöffel Hattersheim
Wolfgang Schöhl Darmstadt
Eckehard Scholz Altdorf
Holger Scholz Esslingen
Doris Schön Mettmann
Winfried Schön Mettmann
Ernst Schönberger Eresing
Gisela Schöndorf Seehausen
Karl Schöndorf Seehausen
Marion Schöndorf München
Stefan Schönefeldt Wusterwitz
Alexandra Schöneich Barsbüttel
Velten Schonert Hannover
Martina Schönewolf Oelsnitz
Anastasia Schönfeld Kaufering
Eleonore Schon-Janele Hünfeld
Gerhard Schönstein Weil im Schönbuch
Ilona Schönstein Weil im Schönbuch
Hans N. Schopf Großbottwar
Josef Schöpf Konzell
Jörg Schorcht- Zipprich Jena
Werner Schorradt Glienicke
Ilka Schossow Berlin
Erwin Schott Heidesheim
Albrecht Schottky Werneck
Matthias Schrader Liederbach/Ts
Otto Schrader Berlin
Claudia Schraithmann Berlin
Hansjörn Schramm Sylt OT Tinnum
Heinz Schramm Wachenroth
Martin Schramm Allmersbach im Tal
Werner Schramm Leverkusen
Wolfgang Schramm Altertheim
Gisela Schrank Castrop
Bernd Schraudner Mensing
Günter Schreier Eningen
Andreas Schrell Dietzingen
Susanne Schrell Dietzingen
Tobias Schreml Saal
Michael Schreyer Niefern
Monika Schreyer Niefern
Klaus Schricker Senden
Dietmar Schröder Frankfurt am Main
Günter Schröder Werdohl
Hans-Jürgen Schröder Hannover
Klaus Schröder St. Ingbert
Sylvia Schröder Farchant
Walter Schröder Pinneberg
Stefan Schrodt München
Carsten Schroeder Herten
Matthias Schroetel Meuro
Dieter Schroeter Wismar
Gabriele Schröter Floss
Hans Schröter Werdohl
Jörg Schröter Kelbra
Dorothea Schröttner München
Reinhard Schröttner München
Gudrun Schrüffer Wolfratshausen
Helmut Schu Bad Oeynhausen
Ingeborg Schu Trier
Magdalena Schubert Eltmann
Markus Schubert Dinkelscherben
Rainer Schubert Berlin
Horst Schuberth Hemmingen
Mario Schukowski Eschershausen
Bruno Schülein Nürnberg
Ursula Schülein Nürnberg
Anton Schuler Niederstein
Birgit Schuler Niedenstein
Heinrich Schuler Aachen
Sigurd Schulien Alzey
Thomas Schülke Hoyerswerda
Alfred Schüller Marburg
Uwe Schulte Mauer
Thomas Schülke Hoyerswerda
Alfred Schüller Marburg
Uwe Schulte Mauer
Walter Schulte-Herbrüggen Frankfurt am Main
Hartwig Schultz Exertal
Reinhard Schultz Hamburg
Detlef Schulz Sehude
Hagen Schulz Waldachtal
Joachim Schulz Nienhagen
Johann Schulz Höchstadt
Jürgen Schulz Planegg
Karl-Heinz Schulz Winnenden
Ingrid Schulz von Borkowski München
Edda Schulze Bad Harzburg
Frank Schulze Berlin
Gerd Schulze Bad Harzburg
Gunter Schulze Wuppertal
Hannelore Schulze Denkte
Jürgen Schulze Denkte
Jürgen Schulze Thalheim
Karsten Schulze Altenholz
Mario Schulze Berlin
Romeo Schumach Albstadt
André Schumacher Monheim am Rhein
Björn Schumacher Saarbrücken
Ingo Schumacher Aachen
Ruth Schumacher Hamburg
Miriam Schumaier Ludwigsburg
Thomas Schumann Heilsbronn
Evelyn Schumertl Essen
Jörg Schummel Ohmbach
Axel Schunk Stockstadt
Berta Schunk Stockstadt
Peter Schunk Freiburg
Karl Schupp Wörth
Andreas Schuppert Rastatt
Werner Schürer Zwickau
Idis Annegret Schuster Düsseldorf
Johann Schuster Krailling
Jürgen Schuster Berlin
Martin Schuster Albstadt
Annette Schuster-Abd el Bary Meersburg
Helmut Schütt Leegebruch
Richard Schütte Remagen
Frank Schütz Großhöhenrain
Helmut Schütz Möckmühl
Monika Schütz München
Silvia Schütz Feldkirchen-Westerham
Claudia Schwab Altstädten
Hartmut Schwab Reutlingen
Ursula Schwab Reutlingen
Sylke Schwabe Icking
Nicola Schwarz München
Margit Schwandt Rothenburg
Ulrich Schwandt Rothenburg
Diethelm Schwandtner Budenheim
Wolfgang Schwarting Vechta
Mark Schwartz Lichtenfels
Andreas Schwarz Dresden
Eduard Schwarz Weissenbrunn
Gerhard Schwarz Pforzheim
Hans Schwarz München
Hartmut Schwarz Brilon
Michael Schwarz Aldersbach
Monika Schwarz München
Olaf Schwarz Neuenkirchen
Renate Schwarz München
Robert Schwarz Kulmbach
Rudolf Schwarz Wolfsburg
Steffen Schwarz Köln
Bernhard Schwarze Rastede
Hartmut Schwarze Oerlinghausen
Kord Schwarze Hannover
Brigitte Schwarz-Schulz Winnenden
Erik Schwede Bautzen
Bernd Schwegmann Oldenburg
Robert Schwegmann Oldenburg
Andreas Schweig Salzwedel
Josef Schweiger Riedenburg
Frank Schweikert Starnberg
Fritz Albert Schweitzer Ceer
Heidrun Schweitzer Hess-Lichtenau
Jörg-Peter Schweizer Stuttgart
Rudi Schweizer Stuttgart
Reinhard Schwember Extertal
Bernd Schwender Königsberg
Anton Schwenk München
Michael Schwenke Landsberg
Rudolf Schwer Rohrdorf
Fred Schwerdt Porta Westfalica
Alfred Schwerin v.Krosigk Essen
Dedo Schwerin von Krosigk Köln
Harald Schwetje Celle
Andreas Schwesig Salzwedel
Karl-Wilhelm Schwigon Waldsolms
Monika Schwimmbeck Eichendorf
Reinhard Schwimmbeck Eichendorf
Hans-Joachim Schwital Frankfurt am Main
Jürgen Schwörer Friedenweiler
Ursula Schymanski Mühltal
Hans Harald Scupin Bonn
Daniela Sedlaczek Stutensee
Francesca Sedlmeier München
Jan Seeber Oldenburg
Maike Seeber Oldenburg
Frederic Seebohm Wachtberg
Carsten Seekamp Osnabrück
Gisela Seekamp Osnabrück
Inge Seel Sinsheim
Ralf Seelig Falkensee
Robert Seelig Heidelberg
Hans Seeliger Korbach
Rainer Seeling Elsdorf
Erhard Seer Sassnitz
Maik Seestedt Tornesch
Erika Seezer Eisenberg
Knut Seezer Grünstach
Uta Sefzat Berlin
Volker Sefzat Berlin
Walter Seggelke Wolfenbüttel
Frank Seibold Bonn
Roland Seide Erfurt
Dietrich Seidel Weyke
Helga Seidel Bad Homburg
Rudolf Seidel Beelitz
Oliver Seidelmann Bitterfeld
Gertraude Seidl Augsburg
Franz W. Seidler München
Julian Seidler Berlin
Katrin Seidler Berlin
Michaele Seidler Berlin
Oliver Seidler Berlin
Patrick Seidler Berlin
Wolfgang Seidler Berlin
Martin Seifert Aurich
Günter Seiffert Leipzig
Ulrike Seiler Neuried
Helga Seisenberger Geisenhausen
Holger Selig Wesel
Klaus Seliger Süderbrarup
Eva-Maria Seltz Markkleeberg
Tanja Semenova Leipzig
Kerstin Semmler München
Hildegard Sendes Herdecke
Paul Sendes Herdecke
Frank Senftleben Kirchseeon
Christa Senger Waghausel
Claudia Senger Mönchengladbach
Daniela Senger Plön
Kiumars Seraj Elahy Berlin
Michael Serfling Dortmund
Andreas Sewald Fehmarn/Wulfen
Lutz Sewöster Niedernhausen
Thomas Seyfert Aichtal
Tina Seyfert Aichtal
Bernd Seyferth Mellrichstadt
Rita Siara Wiesloch
Jens Sicker Zschaitz-Ottewig
Heinz Siebe Köln
Peter Siebenborn Wassenach
Joachim Siefert Krefeld
Karin Siefert-Klaffus Berlin
Klaffus Berlin
Günther Siegert Hamburg
Hans Siegle Plüderhausen
Ronny Siegmund Leipzig
Roswitha Siehr Baldham
Hermann Siemensmeyer Bad Kissingen
Ludwiga Siemers Lappersdorf
Manfred Siemers Leppersdorf
Eberhard Siemon Schwerin
Burkhard Sievert Köln
Stefanie Sigling Nürnberg
Günter Sikorski Braunschweig
Mario Christian Sillus Clausthal-Zellerfeld
Josef Simon Wackersberg
Renate Simon Düsseldorf
Werner Simon München
Andreas Simonsberger Otterberg
Sabine Sing Schorndorf
Helmut Sippel München
Heiko Sitzler Eppingen
Hannah Skiba Berlin
Vladimir Skoda Sankt Augustin
Regine Skowronski Neustadt
Käthe Slawik Grating
Alice Sliwinski Bremen
Tadeusz Sliwinski Bremen
Sven-Michael Slottko Oberursel
C. Peter Smit Wielenbach
Michael Smolka Pöcking
Christoph Sodha Weil im Schönbusch
Sabine Sodha Weil im Schönbusch
Ralf Soeder Freudenberg
Regina Soeder Freudenberg
Hans-Jürgen Sofsky Stuttgart
Manfred Sohn Herrenberg
Peter Sohns Holzerlingen
Helmut Söller Aschaffenburg
Hartmut Solmsdorf Berlin
Maik Somer Wendlingen
Hannelore Sommer Güby
Harald Sommer Güby
Roland Sommer Nürnberg
Charlotte Sommer-Schert Mülheim
Steffen Sommerschuh Bad Schandau
Johannes Sondermann Berlin
Liselotte Späh Erolzheim
Margret Gutsfeld Erolzheim
Alfred Spangenmacher Völklingen
Andrea Spannagel Bad Schönborn
Karl-Heinz Spautz Solingen
Richard Specht Lamerdingen
Beate Spendel Heidenheim
Hans Sperber München
Harald Sperber Schwabmünchen
Renate Sperber Schwabmünchen
Sabrina Sperber Schwabmünchen
Jürgen Sperling Spechbach
Philipp J. Sperzel Sinntal
Franz-Josef Spiekermann Iserloh
Jürgen Spielhofen Weiden
Ulrike Spielhofen Weiden
Rita Spies-Reuffurth Schwalbach
Angela Spieß Krailling
Giesela Spieß Freiburg
Karl Spieß Krailling
Konstantin Spieß Krailling
Luitnold Spieß Krailling
Sabine Spiess Lauf
Sonja Spillecke- Badingen Berlin
Gerhard Spissler Mertingen
Reinhard Spitaler Regensburg
Werner Spottka Waldmichelbach
Ralf Spranger Leipzig
Gaby Springer Rötgesbüttel
Helga Maria Springer Bad Aibling
Hubertus Springer Rötgesbüttel
Rolf Fritz Norbert Springmann Laatzen
Volker Spühn Ilsfeld
Sabine Staacke-Kruse Südergellersen
Jerome Stäbler Epfenbach
Wilhelm Stadelmann Coburg
Wilfried Städing Bremen
Annette Städter Luth.Wittenberg
Bernd Städter Luth.Wittenberg
Brigitta Stahl Sinn
Eberhard Stahl Sinn
Wilfried Stahl Weitnau
Heike Stahlmann München
Lisa Stahlmann München
Reinhard Stallbauer Reut
Hans-Andre Stamm Leverkusen
Ellen Stampfer Finsing
Lorenz Stampfer Finsing
Bernd Stanetzek Bünde
Rüdiger Stangen Havibeck
Klaus Stangl München
Siegfried Stapel Warendorf
Jan Stapelmann Korschenbroich
Klaus-Martin Stapelmann Oldenburg
Paul Stapelmann Meerbusch
Heinz-Michael Stark Bockhorn
Renate Stark Bockhorn
Christian Staschill Berlin
Jutta Staschill Berlin
Herbert Stattmiller Immenstadt
Ulrich Staude Ilmenau
Hermann Staus Darmstadt
Wolfgang Stechert Graal-Müritz
Uwe Steckenmesser Wiehl
Ulrike Steegborn München
Klaus Steep Kellinghausen
Margit Steer Krefeld
Kai Stefan Bremen
Frank Steffens Felsberg
Heike Steffens Mönchengladbach
Dietmar Stefke Schongau
Christoph Stegemann Löningen
Friedrich Steger Augsburg
Paul Stegmair Affing
Björn Steiert Lörrach
Claus Steiert Lörchdrach
Cornelia Steiert Lörrach
Reynard Steifensand Hamburg
Holger Steigekal Timmendorferstrand
Helmut Stein Wasbüttel
Wolfgang Stein Mönchengladbach
Erhard Stein Köln
Heike Steinbach Rottenburg
Rüdiger Steinbach Rottenburg
Siegurd Steinbach Hannover
Thomas Steinbach München
Lorenz Steinbock Linkenheim-Hochstetten
Tanja Steinbrückner Rosenheim
Rainer Steiner Kaiserslautern
Thomas Steiner Kaiserslautern
Ruth Steinfeld Hamburg
Birgit Steinfeldt Kleinmachnow
Jürgen Steinhäuser Pipinsried
Ute Steinheber Althengstett
Günter Steinkampf Hornburg
Ulrike Steinle Malterdingen
Klaus Steinleitner Neuenstein
Rudolf Steinmetz München
Detlef Stemke Bensheim
Rainer Stempel Brühl
Christoph Stenger Wiesen
Hubert Stenger Bürstadt
Josef Stenger München
Silke Stenger Wiesen
Stacy Sebastian Stenger Wiesen
Ingeburg Stenzel Halle (Saale)
Jörn Stenzel Berlin
Egon Stephan Rülzheim
Karin Stephan Ainring
Andreas Steppe Augsburg
Emiljan Sterkaj Kaiserslautern
Theodor Stetter Wendungen
Dagmar Steuer Hoyerswerda
Heribert Stich Karlsruhe
Bernd Stichler Langen
Christina Stichler Langen
Bodo Stiebritz Hamburg
Sigrun Stiegeler Rothenburg/W.
Roland Stiegemann Ahrensbök
Christoph Stieglitz Mainz
Bernd Stieler Lampertswalde
Hans-Peter Stiemer Tübingen
Monika Stiemer Tübingen
Heinrich Stienkemeier Bochum
Richard Stiens Essen
Karlheinz Stierl Durmersheim
Hans-Jochen Stille Biedenkopf
Heiderose Stiskall Merseburg
Sören Stitz Burgstädt
Klaus Dieter Stober Königslutter
Sabine Stober Königslutter
Michael Stock Berg
Petra Stockbauer Büchlberg
Franz Stöcklein Ansbach
Armin Stoecker Zell
Johannes Stoffers Mettmann
Birgit Stöger Augsburg
Anna Stöhr Rosenheim
Dietgard Stöhr Geesthacht
Jürgen Stöhr Geesthacht
Matthias Stöhr Hamburg
Petra Stöhr Rotenburg
Wolfgang Stöhr Raubling
Marco Stoll Rostock
Kerstin Stoltze Herzogenaurach
Rolf Stolze Neukirchen-Seelscheid
Torsten Stolze Herzopgenaurach
Peter Stölzner Hanau
Jörg Storch Heilbronn
Jürgen Storm Dresden
Karin Stoß Dresden
Axel Stoßno München
Karin Stöttner-Lüdtke Bad Aibling
Stephanie Straaß Strausberg
Eberhard Strabel Sauerlach
Rudolf Stracke Freiburg
Dieter Strahl Teugn
Reinhard Stransfeld Berlin
Claudia Strasser Eichenau
Ralf Strasser Eichenau
Robert Strasser Viechtach
Susanne Straßer Burgkirchen
Heinz Sträßner Germersheim
Inge Sträßner Germesheim
Michael Strätling Bochum
Dieter Straub Konstanz
Horst Straub Bad Homburg
Wilhelm Straub c/o Lambert Heidenheim
Reinhard Straubel Berlin
Luis Straubinger Lauingen
Silvia Straubinger Lauingen
Karl Strausberger Mainz
Elisabeth Strebel Unterschleißheim
Karl-Heinz Strebel Unterschleißheim
Wolfgang Strecker Gersfeld
Wolfgang Strehlau Liederbach
Bernhard Stremel Verden/Aller
Falko Strenzke Darmstadt
Hilmar Strenzke Aschaffenburg
Sibylle Strickle Schlaitdorf
Tilman Striebel Köln
Annerose Striedter Limburgerhof
Sabine Strieffler Pleinfeld
Erhard Striegnitz Bad Düben
Maria Striegnitz Ellrich
Melitta Striegnitz Georgenthal
Rolf Striegnitz Ellrich
Silvia Striegnitz Bad Düben
Frank Strippel Erkrath
Frank Strobel Hanshagen
Erich Ströbel Viechtach
Eckhard Ströfer Mannheim
Albert Struck Lübeck
Thomas Struck Starnberg
Hendrikje Struhler Harsum
Silvia Stüber Hanshagen
Gunthard Stübinger Lüneburg
Lothar Stumpert Elmstein
Sybille Stümpert Elmstein
Boris Stumpf Schriesheim
Hartmut Stürck Kiel
Günther Sturm Babenhausen
Wolfgang Stütze Braunfels
Hansjörg Stützle Uhldingen-Mühlhofen
André Suchland Görlitz
Birgit Suchland Görlitz
Eugen Suchowolski Flonheim
Ralph Sucker Nürnberg
Stephan Sudheimer Backnang
Bernhard Sudhoff Bergkamen
Dieter Sulzbach Gleichen
Joachim Sumpf Oberschloßheim
Robert Supel Karlsruhe
Peter Sura Konstanz
Rainer Surkow Gehrden
Henry Susa Dresden
Eva Susanka Altmannstein
Elke Süß Rösrath
Evelin Süß Fürth
Anke Sütterlin Nordwalde
Hans-Jörg Sütterlin Nordwalde
Horst Symalla Hannover
Elsmarie Synderhauf Eckental
Mathias Szymanski Hamburg
Claus Tabellion Limburgerhof
Lieselotte Tabellion Limburgerhof
Gerald Taege Nürnberg
Barbara Tapp Duisburg
Sarah Tapp Duisburg
Helmut Tappe Dortmund
Gerhard Täschner Prien
Brigitte Tassaux-Becker Schiffweiler
Achim Tatge Wedemark
Jürgen Taube Benediktbeuern
Barbara Tauber Burglengenfeld
Christian Tauber Stutensee
Johann Tauber Burglengenfeld
Ralph Taubner Treuen
Gabriele Tauch Grünkraut
Wolfgang Tauch Grünkraut
Ralf Taugler Limburg
Christian Techtmeier Arnsberg
Carsten Teeg Berlin
Engelbert Tegethoff Lichtenau
Wolfgang Teigelkötter Bergisch Gladbach
Ingrid Teigelkötter Bergisch-Gladbach
Claus Teller Lemgo
Wolfgang Tellert Werneck
Joachim Temmen Düsseldorf
Markus Tempel Berlin
Johannes Terbach Moers
Bernd Ternes Greven
Lothar Terwesten Bad Ems
Sabine Terwesten Bad Ems
Tatjana Tesch Berlin
Hannelore Tesker Steinfurt
Karl-Heinz Tesker Steinfurt
Karsten Teuber Münster
Rita Teubner Köln
Otto W. Teufel Kirchheim
Ulrike Teupe Pulheim
Jacob Theil Nürnberg
Bernhard Thein Schweinfurth
Christian Theis Oberweier
Heinz-Bernhard Thelen Mainz-Kastel
Andreas Theobald Garching
Rainer Theobald Neuötting
Michael Theren Langenhagen
Norbert Theurer Taubensuhl
Erhard Thiel Oberschleißheim
Sigrid Thiel Oberschleißheim
Günter Thiele Oderwitz
Hanna Thiele Ronnenberg-Benthe
Susann Thiele Berlin
Volkmar Thielemann Meerbusch
Heidemarie Thieler Erfurt
Heinrich Thieler Erfurt
Manfred Thielmann Möchberg
Gerhard Thieme Erfurt
Hans-Ulrich Thienel Sinsheim
Johannes Thiesbrummel Rietberg
Frank Thimma Drensteinfurt
Heinz-Erich Thoma Würselen
Brian Thomas Berlin
Edmund Thomas Unkel
Friedbert Thomas Östringen
Marion Thomas Unkel
Martin Thomas Düsseldorf
Renate Thomas Östringen
Michael Thome Moers
Rolf Thomsen Reussen Koog
Stefan Thomsen Plön
Wolfgang Thoß Dresden
Walter Thöt Hirschberg
Maria Thrä Petersdorf
Hermann Thraen Berlin
Winfried Thraen Düsseldorf
Raimund Thümmel Hof
Carsten Thumulla Roßlau
Ingeburg Thumulla Roßlau
Helga Thuringer Limeshain
Johannes Thurner Germering
Gabriele Thy Fuldebrück
Hans Tibbe Dortmund
Gisela Tiebunt Niefern
Wilmar Tiedge Berlin
Peter Tilitzki Schlüchtern
Johann Tillich Karlsfeld
Claus Timm Hanstedt
Uwe Timm Neu Wulmstorf
Roland Timmel Userin
Marion Timmermanns Fregstadt
Winfried Timmermanns Fregstadt
Diana Timpe Kolkwitz
Reiner Tinnefeld Bergkamen
Edgaz Tiosch Mesdingen
Wolfgang Tischner Nürnberg
Jerry Titze Düsseldorf
Bernhard W. Tkocz Berlin
Daniel Tobias Jena
Uwe Todt Westensee
Klause Tölle Wetzlar
Konstanze Tondu Simonswald
Viktor Topalov Krefeld
Andreas Töppel Chemnitz
Brigitte Töppel Chemnitz
Roland Tosche Hamburg
Margot Traeger Pettendorf
Dirk Träger Wanzleben
Jürgen Traub Kriftel
Günter Trausch Eichenau
Johannes Trautmann Freiburg
Katrin Trautmann Brandis
Paul Traxl Aichach
Elisabeth Trenkmann Mülsen
Jürgen Trenkmann Mülsen
Hans Trenner Hamburg
Dietmar Trenz Wolfenbüttel
Erika Trenz Wolfenbüttel
Heinz Trester Berlin
Klaus Dieter Triebel Nimshuscheid
Kai-Uwe Trienes Hannover
Kurt Tröger Hochstadt
Erika Troost Germering
Werner Trost Heikendorf
Jürgen Trost Bochum
Susanne Trunz Haltingen
Wolfram Truol Görlitz
Gisela Tschache Berlin
Markus Tschache Hamburg
Alexandra Tschan Malsch
Heinz-Dieter Tschörtner Berlin
Ilse Dore Tschörtner Berlin
Ursula Tüffel Bisten-in-Lothringen
Rolf Tümmers Neuss
Beate Tuszynski Wuppertal
Christine Tvrdý Schönach
Juergen Typke Backnang
Elke Übelacker- Schwender Königsberg
Thomas Überreiter Ulm
Frank Uebelen Kressbronn
Ralf Uebing Oldenburg
Friedrich Ufer Reinbek
Nikolaus Uhl Essen
Reinhard Uitz Umkirch
Christian Ullmann Erlangen
Adalbert Ullrich Stuttgart
Wolfgang Ullrich Bremen
Dirk Ulrich Augsburg
Veikko Ulrich Hannover
Friedrich Ulshöfer Wertheim
Richard Ludwig Umbach Gladbach
Sieglinde Umbach Gladbach
Edgar Umlauf Garching
Veronika Unfried Korntal - Münchingen
Klaus Unger Dresden
Gerd Unruh Freiburg
Günter Unruh Rödermark
Jürgen Unser Schweinfurt
Cornelia Unterkofer Bonsdorf
Georg Unterkofer Bonsdorf
Marcel Unterkofer Bonsdorf
Verena Unterkofer Bonsdorf
Ute Unterschütz Kehl
Waldemar Unterschütz Kehl
Johannes Untiedt Jettingen-Scheppach
Bernd Upmoor Hamburg
Helmut Urbahn Solingen
Klaus-Peter Urban Köngernheim
Klaus D. Ursinus Mainz
Annemarie Utikal Herrsching
Hans-Peter Utikal Herrsching
Daniela Utz Julbach
Norbert Utz Stuttgart
Jobst v. Alten Seelze
Josef v. Beverfoerde Grabow
Gerold v. Busse Niederkleveez
Franz-Raban v. Canstein Bornheim-Walberberg
Hans-Jürgen v. d. Decken Krummendeich
Joachim v. der Goltz Bad Vilbel
Erika v. Eisenhart- Rothe München
Peter v. Eisenhart- Rothe München
Hans-Friedrich v. Funck Marburg
Cornelius v. Gottberg Salzhemmendorf
Katharina v. Gottberg Salzhemmendorf
Alexander v. Hammerstein Erding
Friedrich v. Ilberg Schondorf
Steffen v. Krosigk Potsdam
Botho v. La Chevallerie Ehningen
Maria-Beate v. Loeben München
Giesela v. Negenborn Braunschweig
Ute v. Neumann Bad Salzdetfurth
Felicitas v. Oldenburg Kisdorf
Huno v. Oldenburg Kisdorf
Johann v. Oldenburg Lensahn
Nicola v. Otto München
Ingrid v. Puttkamer Ludwigsburg
Hasso v. Reinhardt Griesheim
Maria v. Reinhardt Griesheim
Eberhard v. Schwerdtner Hanstedt
Friedrich-Gert v. Seydewitz Tharandt
Manfred v. Sperber Berlin
Horst v. Stetten Neusäß
Thomas v. Tubeuf Detmold
Ullrich v. Vultée Gelsenkirchen
Karl-Hartmut v. Wangenheim Jülich
Albrecht v. Werder Hannover
Ulrich v. Witten Celle
Gebhard v.d. Wense Hamburg
Barbara v.d. Wense Hamburg
Alexander Vaissié Rostock
Jeroen van Belkum Ottermoor
Heinz van Deelen München
Dirk van den Boom Eresing
Karin van den Boom Stuttgart
Benjamin van Loo Schwarzach
Dorota van Raemdonck Falkensee
Rainer van Raemdonck Falkensee
Peter van Rensen Tutzing
Günther van Riet Kleve
Lex Van Someren Baden Baden
Rominte van Thiel Röttenbach
Andreas Vater Oberlaubach
Gudrun Vecellio Del Monego Oberursel
Marino Vedi Frankfurt am Main
Andreas Veigel Lemmingen
Klaus-Michael Vent Erkelenz
Heinz-Albert Veraart Konstanz
Karin Vermehren Adelshofen
Dirk Viebrock Zeven
Jürgen Viehrig Magdeburg
Regina Viehrig Magdeburg
Reiner Vierheller Alsfeld
Matthias Vierhuis Oberhausen
Peter Viertelhausen Marburg
Benito Vieweg Hamburg
Jürgen Visentin Erkrath
Andreas Vix Böblinger
Dieter Vogel Erlangen
Marco Vogel Radebeul
Martin Vogel Berlin
Michael Vogel Göppingen
Reinhard Vogel Berlin
Roland Vogel Meissen
Sabine Vogel Meissen
Frank Voges Laatzen
Helmut Voggetzer Augsburg
Günther Vogl Alttöttingen
Peter Christian Vogl Freilassing
Rosmarie Vogl Köln
Andreas Vogler Altstädten
Hermann Vogler Altstädten
Thomas Vögler Pfungstadt
Hans-Jürgen Vogt Rellingen
Horst Vogt Bad Soden
Christian Voigt Herzberg
Janin Voigt Herzberg
Konrad Voigt Berlin
Robert Vojc Überlingen
Jacqueline Völker Gerstetten
Elfriede Völmner Langgöns
André Vollbrecht Tostedt
Dirk Vollmer Köln
Walter Vollrath Klettbach
Hans-Kurt Volgert Celle
Sabrina von Bein Emmerting
Christoph Von Bockelmann Lübeck
Andreas von der Esch Nürnberg
Ingrid von der Esch München
Cristina von Dyck Hettenleidelheim
Hedwig von Elverfeldt Ziegelsdorf
Peter von Fintel Hamburg
Eckhard von Franqué Hamburg
Eckhard von Frantzius Aichtal-Grötzingen
Leuther von Gersdorff Otterfing
Diethardt von Haehling Berlin
Christian von Heinemann Wiesbaden
Mechthild von Herder Neubeuern
Mathias von Kanitz Welver
Philipp von Krosigk Niederzier
Brigitte von Levetzow Wuppertal
Leonard von Löhneysen Berlin
Marie-Elisabeth von Lüninck München
Giesela von Maltzahn Schloß Grubenhagen
Donata von Oldenburg Inzell
Friedrich-August von Oldenburg Inzell
Uta von Pezold Thurnau
Johann Von Reichenbach Chorin
Georg von Roda Hann. Munden
Hans-Jürgen von Rottkey Deimstedt
Bodo von Rundstedt Felsberg
Dorothea von Schlippe Frankfurt am Main
Peter von Schlippe Frankfurt am Main
Gerold Kurz von Schmeling Unterneukirchen
Carl-Josef von Seubert Murnau
Bertram von Steuben Bad Oldesloe
Alexander Von Thannhausen Salem
Silja Von Thannhausen Salem
Roderick Von Wolffersdorff Hamburg
Wolf Von Wolffersdorff Bad Pyrmont
Florian von Wrochem Esslingen
Erwin Vorndran Bad Neustadt
Bernd Vorrink Hemmingen
Jochen Voss Wuppertal
Klaus Voss Amorbach/ Ufr.
Werner Voß Wiehl
Ralf Vosshage Hamburg
Ute Voßmerbäumer Berlin
Astrid Vriendwijk Düsseldorf
Heinz Vullhorst Delbrück
Peter Vulpius Limbach-Oberfrohna
Wolfgang Wabersky Bocholt
Ulrike Wabnitz Berlin
Jens Wächter Berlin
Erhard Wacker Salach
Peter Wackernagel Grünwald
Renate Wackernagel Grünwald
Eberhard Wadischat Düsseldorf
Hagen Wadischat Düsseldorf
Sabine Wagener Witten
Annemarie Wagemann Stephanskirchen
Andreas Wagner Reutlingen
Andreas Wagner Konstanz
Christoph Wagner Berlin
Gunter Wagner Lehrte
Jans-Ernst Wagner Quakenbrück
Jans-Ernst Wagner Quakenbrück
Karsten Wagner Hamburg
Margrit Wagner Hamburg
Kurt Wagner Gräfelfing
Michael Wagner Köln
Rolf Wagner Hechingen
Roswitha Wagner Hechingen
Svev Wagner Luzern
Sybille Wagner München
Thomas Wagner Bonn
Thomas Wagner Wiesbaden
Ursula Wagner Hamburg
Jutta Wahl Waldkirch
Thomas Wahl Waldkirch
Daniel Wahnig Großröhrsdorf
Diethelm Waibel Singen
Felicitas Waldeck München
Peter Waldoch Gelsenkirchen
Helga Waldstädt Eisenach
Uwe Waldstädt Eisenach
Manfred Waldukat Augsburg
Erika Wallstabe Berlin
Bärbel Walter Kiel
Bernd Walter Petershagen
Gottfried Walter a Main
Kornelia Walter München
Lutz Walter Rödermark
Wolfgang Walter Puchheim
Manfred Waltermann Eschweiler
Wilfried Walthe Rheine
Gudrun Walther Eckersdorf
Karl Walther Eckersdorf
Jürgen Wand Braunfels
Martin Wandel Dormagen
Eberhard Wanger Leutkirch
Maria Wanger Leutkirch
Helmut Wanninger Karlstein
Wilma Wanoff Freiburg
Franz-Martin Wantscha Kleinberghofen
Gabriele Wanzek Neustadt
Reinhard Wanzek Neustadt
Svenja Wark Heusweiler
Tobias Warkentin Rahden
Martin Wartemann Heidenau
Rudolf Warwitz Bad Homburg
Diane Waschner Wagenfeld
Ingo-Werner Waschner Wagenfeld
Peter Wätjen Liebenburg
Helga Wauer Dresden
Ludwig Wauer Dresden
Christine Weber Pliezhausen
Erdmuthe Weber Waldsolms
Hans-Jürgen Weber Bad Homburg
Hanspeter Weber Ettenheim
Jutta Weber Bad Homburg
Lothar Weber Grafenheinfeld
Markus Weber Hohenkammer
Martina Weber Freiburg
Nicolas Weber Göttingen
Peter Weber Pliezhausen
Roman Weber Siegsdorf
Steffen Weber Altenburg
Trutz Weber Waldsolms
Walter Weber Lindlar
Willi Weber Stolberg
Auguste Wechsler Roth
Hans-Frieder Wedel Mainz
Erich Weede Königswerder
Gabriele Weger Kettershausen
Manfred Wehder Ketsch
Tanya Wehder Ketsch
Walter Wehler Köln
Werner Wehrisch Celle
Harald Wehrmeyer Steinfurt
Olga Wehrmeyer Steinfurt
Peter Weick Leutenbach
Martina Weidhaas München
Reinhard Weidinger München
Jörg Weidlich Berlin
Lutz Weidlich München
Harald Weidner Frankenthal
Steffen Weigand Köln
Bärbel Weigert Groß Kreutz
Raymund Weigl Lauf
Dieter Weihrauch Waldkraiburg
Hermann Weiland Stuttgart
Sabine Weiland Königsbrunn
Bernard Weiler Borbitzsch
Marion Weiler Aulendorf
Gabriele Weilnhammer Rimpar
Nadine Weilnhammer Gütersleben
Paul Weilnhammer Rimpar
Johanna Weinert Gröbenzell
Ralph Joseph Weingärtner Bochum
Artur Weischer Kressbronn
Herbert Weiser München
Raymund Weis Titisee-Neustadt
Alfred Weiß Gräfelfing
Carl Otto Weiß Braunschweig
Franz Weiß München
Hans Weiß Plüderhausen
Hermann Weiß Stuttgart
Jan-Ulrich Weiß Templin
Jürgen Weiß Swisttal
Nicole Weiß München
Sylvia Weiß Solingen
Günter Weißgerber Neubrandenburg
Heinrich Weißkopf Cuxhaven
Jens Weitlauff Karlsruhe
Christoph Welker Holzappel
Egon Welker Oberderdingen
Falk Welker Sternenfeld
Jürgen Weller Ennepetal
Michael Welte Kammeltal
Heiner Wempe Wardenburg
Volker Wendel Steingaden
Ramona Wendland Berlin
Stefan Wendle St. Augustin
Frank Wendler Plauen
Frigga Wendt Berlin
Hartmut Wenger Bad Tölz
Helmut Wenk Lindau
Annemarie Wenzel Much
Harald Wenzel Berlin
Helmut Wenzel Much
Jörg Wenzel Tübingen
Jörg H. Wenzel Berlin
Nikolaj Wenzel Wiesloch-Baiertal
Olaf Wenzel Berlin
Ursula Wenzel-lyding Schwertzingen
Horst Werber Heikendorf
Elisabeth Werle Stuttgart
Christian Wernecke Wette
Peter Werner Kiefersfelden
Rolf-Dieter Werner Moers
Thorsten Werner Berlin
Karsten Wernicke Berlin
Frank Wernoth Birkenfeld
Erika Werr Bad Griesbach
Franz Werr Bad Griesbach
Harald Wesely Lörrach
Rainer Wesner Neuemarkt
Angelika Wessel Braunschweig
Monika Wester Bodman-Ludwigshafen
Detlef Westerburg Nettetal
Robert Westermeier Sauerlach
Wolfgang Westhues Haltern am See
Ute Westig Hemer
Heinrich Westner Biberach
Bärbel Westphal Satuelle
Franz Westphal Satuelle
Manfred Westphal Osten-Isensee
Marion Westphal Quickborn
Wolfram Wettges Nittenau
Maria Wetzer Schwalbach
Peter Wetzer Schwalbach
Inge Wicherski Gelsenkirchen
Eric Wick Hamburg
Harald Wick Berlin
Günter Wickert Berlin
Tanja Widenmeyer Waldmühlbach
Rainer Widmann Oberboihingen
Hans Joachim Wiebe Preetz
Rita Wiedenmann München
Hermann Wiedmann Augsburg
Rudolf Wiegandt Bonn
Robert Wiegärtner Forchheim
Silvia Wiegner Querfurt
Dieter Wiehr Neu Ulm
Annemarie Wieland Rielasingen
Oskar Wieland Rielasingen
Waldemar Wieliczko Darmstadt
Hans-Peter Wielowski Breitscheid
Annett Wielpütz Bergisch Gladbach
Günter Wielpütz Bergisch Gladbach
Uwe Wiemer Oderwitz
Berndt Wienand Eberswalde
Ramona Wierig Commerau
Klaus-Peter Wiermann Wurmannsquick
Monika Wiermann Wurmannsquick
Harald Wiese Syke
Hans Joachim Wiesenhüter Dresden
Sigrid Wiesenhüter Dresden
Walter Wiesmeier Bad-Aibling
Annelie Wiesner Remseck
Harald Wießner Schneverdingen
Thomas Wietzel Stuttgart
Cornelia Wiggers Neustadt
Ingolf Wiggers Neustadt
Angelika Wikowski Berlin
Tobias Wildberg Rödinghausen
Otto Wildgruber Dormitz
Monika Wildrath Simmerath
Bruno Wilhelm Friedrichshafen
Hans-Jörg Wilhelm Langenburg
Ramón Wilhelm Wächtersbach
O.-H. Wilhelms Weinheim
Ute Wilk Friedrichsdorf
Eleonor Willnmer Berlin
Helmut Willner Breidenbach
Wolfgang Wilms Kämpfelbach
Verena Wilns Norderstedt
Heinz-Ludwig Wimmer Bergheim
Mona Wimmer-Bürk München
Reinhard Winandi Aldenhoven
Dagmar Wind Ladenburg
Ronald Wind Ladenburg
Kerstin Windpal Kulmbach
Peter Windt Litzendorf
Karin Wingerter- Braun Erkrath
Christian Winhardt Immenhausen
Wilko Winkelmann Potsdam
Wolfgang Wingerter Berlin
Friedmann Winkle Althütte
Bertram Winkler Ratingen
Eckhard Winkler Sulzbach
Hermann Winkler Amtzell
Georg Winnecker Grassau
Sonja Winnecker Grassau
Christian Winner Pößneck
Cornelia Winten Offenbach
Gerhard Winten Offenbach
Erich Winter Amberg
Gerhard Winter Herrnhut
Paul Gerhard Winter Herrnhut
Elisabeth Winterer Leinfelden-Echterdingen
Maximilian Wintergerst Andechs
Peter Wirkner Schwarzbach
Harald Wirth Lautach-Hain
Reinhard Wirth Straxdorf
Harm With Soest
Anja Witkowski Hückeswagen
Michael Witkowski Hückeswagen
Friedel Witte Grebin
Manfred Witte Erlangen
Gerhard Wittek Heikendorf
Jochen Wittenberg Braunschweig
Jens Wittig Rastorf
Jörg Wittig Jülich
Martina Wittig Jülich
Lothar Wittig Sternenfels
Mathias Wittner Biblis
Sonja Wittner Essen
Elmar Wocher Langenargen
Gerd Wodicka Neu Anspach
Gerhard Wohlmutheder Cölbe
Ralf Wohlrab Oelsnitz
Helmut Wöhrle-Rohn Burladingen
Helga Wointzky Hamburg
Manfred Wointzky Hamburg
Ingo Woitzel Ölbrenn-Dürrn
Adolf Wolber Buende
Christine Wolbrandt Wennerstorf
Dominik Wolf Schwenningen
Knut Wolf Penzberg
Marianne Wolf Stuttgart
Ohle Wolf Hohndorf
Renate Wolf Hohndorf
Stephan Wolf Großlangheim
Barbara Wolff Neuenhagen
Elisabeth Wolff Berlin
Christa Wolf-Kesseler Nürnberg
Hans-Dietmar Wölfle Potsdam
Heinz Werner Wolfram Stuttgart
Holger Wolgast Elmenhorst
Viktoria Wolgast Elmenhorst
Waltraut Wolkenhauer Hamburg
Christine Wollenberg Ehrenfriedersdorf
Helmut Wollenberg Ehrenfriedersdorf
Albert Wollweber Alflen
Gertrud Wollweber Alflen
Arnd Wolpers Ammerland
Erik Wolter Gummersbach
Gabriele Wolter Berlin
Hans-Jörg Wolter Lübeck
Thieß-Magnus Wolter Berlin
Helmut Wombacher Geiselbach
Lydia Wondra Dachau
Gerd Wormsbächer Marburg
Ines Wörner-Illek Tauberbischofsheim
Sigrid Worresch Weil der Stadt
Udo Wörsdörfer Andernach
Manuela Wottke Rommerskirchen
Norbert Wottke Rommerskirchen
Charlotte Woweries Langen
Jürgen Wrobel Eggersdorf
Jan Wrocklage Hamburg
Christopher Wrona Lauterbach
Monika Wulf Berlin
Klaus Wunder München
Ernst Wünsche Rödermark
Klaus-Dieter Wünsche Weißenberg
Knut Wuntke Milow
Olfried Wurch Peymeinade
Carsten Würfel Oberkochen
Helmut Wurst Bonn
Sofie E. Wurster Stuttgart
John Wurthmann Pinneberg
Martin Wuschke Meine
Simon Wüst Ditzingen
Horst Wüsten Schwulmtal
Theresia Wüster Schwalmtal
Christian Wutz Stuttgart
Artur Wydra Buchen
Annette Wynne Tübingen
Pinar Yagci Esslingen
Ufuk Yildiz Düren
Albert Zach Pettendorf
Beatrix Zach Ravensburg
Julia Zach München
Alexandra Zack Bruchsal
Günter Zander Metzingen
Harald Zang Coburg
Martin Zanke Berlin
Norbert Zappey Dietzenbach
Michael Zastrow Bad Pyrmont
Angelika Zechlin Weinböhla
Alfred Zedtwitz Babenhausen
Dimitri Zeeb Neuötting
Oliver Zeeb Bretten
Verena Zeeb Neuötting
Erwin Zeh Bad Aibling
Bruno Zehe Wildflecken
Doris Zehender Worms
Josef Zehner Neunkirchen
Andreas Zehntner Neuss
Stefan Zeilner Berlin
Wolfgang Zeitzer Steinbach
Gerd Zelck Seevetal
Kurt Zellner Aicha
Frank Zenker Ahnushagen-Daskow
Georg Zenker Berlin
Heike Zenker Ahnushagen-Daskow
Brigitte Zentgraf-Rothe Berlin
Daniel Zettermann Borna
Otwin Zettler Frankfurt am Main
Thurid Zettler Wiesbaden
Tilo Zetzschke Borna
Heidi Zickert Roggentin
Gert Ziegler München
Helga Ziegler Marktbreit
Klaus Ziegler Marktbreit
René Ziegler Neudietendorf
Stefan Zieglmaier Altdorf
Jürgen Zieher Stuttgart
Volker Ziel Hagen auf Rügen
Uwe Zielke Lübben
Werner Zielniwics Recklinghausen
Uwe Ziessnitz Bietigheim - Bissingen
Renate Zillessen Königswinter
Karin Zilt Dormagen
Christoph Zimmer Lüdenscheid
Susann Zimmer Berlin
Sven Zimmer Berlin
Anouk Zimmermann Berlin
Ekkehard Zimmermann Bad Bentheim
Gerhard Zimmermann Windhagen
Hanno Zimmermann Berlin
Klaus Zimmermann Erfurt
Peter Zimmermann Ottendorf-Okrilla
Rolf Zimmermann Hamburg
Karin Ziolko-Lange Göppingen
Klaus-Peter Zipfel Kastahn
Wolfram Zitscher Altenholz
Ingrid Zitzmann Nürnberg
Gunther Zizelmann Kirchheim unter Teck
Jürgen Zobee Hamburg
Andreas Zöller Olpe
Bärbel Zöllner Berlin
Hans Zöllner Detmold
Gisela Zombetzki Isernhagen
Hans Zombetzki Isernhagen
Michael Zöphel Würzburg
Steffen Zorn Waigolshausen
Mortimer zu Eulenburg Allmersbach
Ekkehardt Freiherr Schenck Zu Schweinsberg Friedrichsdorf i.Ts.
Birgit Zu Waldburg München
Ilke zu Wied Tegernsee
Stanislaus zu Wittgenstein Boitzenburger-Land
Michael Zube Meerbusch
Siegfried Zülsdorf Hildesheim
Astrid zum Felde Grünendeich
Hans-Herbert zum Felde Grünendeich
Arno Zurbrüggen Oelde
Veit Zürn Hildesheim
Friedrich Zuther Berlin
Marianne Zwirlein Medlingen
Hans Jochen Bauer Puerto de Mazarrón (Spanien)
Klaus Borgolte Sunnydale (Südafrika)
Kerstin Delcroix Roullet-St-Estephe (Frankreich)
G.W. Flammersfeld New York (USA)
Stephan Gerwert Baar (Schweiz)
Jürgen Giersberg Blagoergrad (Belgien)
Amparo Hyprath Sant Josep (Spanien)
Dietrich Hyprath Sant Josep (Spanien)
Dankmar Klöckner Altnau (Schweiz)
Ludwig Koller Marbella (Spanien)
Otto Kraft Rott (Frankreich)
Diotima Krug Hollywood (USA)
Alesandro Lanzafame Bures sur Yvette (Frankreich)
Markus Link Amsterdam (Niederlande)
Karl Magnet Augst (Schweiz)
Horst-Georg Marks Saint-Drezery (Frankreich)
Swen Meinert Rotterdamm (Niederlande)
Uwe Metze East Grinstead (England)
Josef Ofenböck Wien (Österreich)
Lutz Riedlecker Reichramming (Österreich)
Jens Spiess Serra De’conti (Italien)
Dennis Thurnherr Sankt Gallen (Schweiz)
Carola von Gasnier Malaga (Spanien)
Margot Wahl Zürich (Schweiz)
Wilhelm Wahl Zürich (Schweiz)
Belinda Walher-Garda San Rocco di Benezzon (Italien)
Adelheid Weidlich Michaelbeuern (Österreich)
Utz Wiegner Newnan (USA)
Dietmar Wondrak Eppan-Berg (Italien)
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 24. März 2015 (auszugsweise Veröffentlichung).#Europower SpA gegen Europäische Kommission.#Vorläufiger Rechtsschutz – Öffentliche Bauaufträge – Ausschreibungsverfahren – Errichtung und Wartung einer Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlage – Ablehnung des Angebots eines Bieters und Vergabe an einen anderen Bieter – Antrag auf Aussetzung des Vollzugs – Fumus boni iuris – Fehlende Dringlichkeit.#Rechtssache T‑383/14 R.
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62014TO0383(02)
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ECLI:EU:T:2015:190
| 2015-03-24T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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Parteien
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑383/14 R
Europower SpA mit Sitz in Mailand (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte G. Cocco und L. Salomoni,
Antragstellerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch L. Cappelletti, L. Di Paolo und F. Moro als Bevollmächtigte,
Antragsgegnerin,
unterstützt durch
CPL Concordia Soc. coop. mit Sitz in Concordia Sulla Secchia (Italien), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt A. Penta,
Streithelferin,
betreffend die Aussetzung des Vollzugs des Beschlusses vom 3. April 2014, mit dem die Kommission das von Europower im Rahmen der Ausschreibung JRC IPR 2013 C04 0031 OC über die Errichtung und Wartung einer Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlage mit Gasturbine am Standort Ispra (Italien) der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Kommission (ABl. 2013/S 137-237146) eingereichte Angebot abgelehnt hat und den Auftrag an die CPL Concordia vergeben hat, und infolgedessen aller weiteren Folgebeschlüsse
erlässt
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
folgenden
Beschluss (1)
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1. Am 17. Juli 2013 veröffentlichte die Europäische Kommission im Amtsblatt der Europäischen Union eine Ausschreibung im offenen Verfahren mit dem Aktenzeichen JRC IPR 2013 C04 0031 OC über die Errichtung und Wartung einer Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlage mit Gasturbine am Standort Ispra (Italien) der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Kommission. Der Schlusstermin für den Eingang der Angebote und der Termin für die Eröffnung der Angebote wurden nach einer im Amtsblatt veröffentlichten Berichtigung auf den 15. bzw. den 21. November 2013 festgesetzt. In dem der Aufforderung zur Angebotsabgabe beigefügten, als „administrativer Anhang“ bezeichneten Dokument wurde ausgeführt, dass der Auftrag für das wirtschaftlich günstigste Angebot erteilt werde, das auf der Grundlage der Gesamtkosten und der technischen Qualität bestimmt werde, und dass höchstens 80 Punkte für die Gesamtkosten des Angebots und höchstens 20 Punkte für die technische Qualität des Angebots vergeben werden könnten.
2. Der Eröffnungsausschuss eröffnete die Angebote am 21. November 2013. Nach der Prüfung, ob die Vorgaben eingehalten worden waren, wurden die Angebote von dem hierfür eingesetzten Ausschuss bewertet, der seinen Bericht am 21. März 2014 abgab.
3. Mit Schreiben vom 3. April 2014 informierte die Kommission die Antragstellerin Europower SpA, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt worden sei, da die ihr erteilte endgültige Punktzahl schlechter gewesen sei als die, die das Angebot der Streithelferin CPL Concordia Soc. coop. erhalten habe.
4. Mit Schreiben vom 7. April 2014 beantragte die Antragstellerin Einsicht in die Dokumente, die die Vergabeentscheidung, die Bewertungsprotokolle, das Angebot der Zuschlagsempfängerin, die Merkmale und Vorteile des Angebots der Zuschlagsempfängerin und den mit der Zuschlagsempfängerin geschlossenen bzw. zu schließenden Vertrag enthielten.
5. Mit Schreiben vom 11. April 2014 erinnerte die Kommission daran, dass der Auftrag an die Streithelferin vergeben worden sei, und teilte die Merkmale des Angebots der Zuschlagsempfängerin sowie die für dieses Angebot vergebenen Punkte mit.
6. Am 15. April 2014 beantragte die Antragstellerin u. a., ihr eine Kopie der im Antrag auf Einsichtnahme vom 7. April 2014 aufgezählten Dokumente zu überlassen, und erklärte, dass sie einen Zweitantrag auf Zugang zu den Dokumenten stelle.
7. Am 17. April 2014 antwortete die Kommission der Antragstellerin, dass ihr im laufenden Vergabeverfahren keine anderen Informationen mitgeteilt werden könnten und der Zugang zu den Vergabeunterlagen ihr erst erteilt werden könne, wenn das Verfahren durch Unterzeichnung des Vertrags durch den ausgewählten Bieter abgeschlossen sei.
Verfahren und Anträge der Parteien
8. Mit der am 30. Mai 2014 bei der Kanzlei eingegangenen Klageschrift hat die Antragstellerin beantragt, die Entscheidung vom 3. April 2014, mit der die Kommission das Angebot, das sie im Rahmen der Ausschreibung … abgegeben hatte, abgelehnt hatte, die Entscheidung, mit der die Kommission den Auftrag an die Streithelferin vergeben hatte, … sowie den Vertrag selbst für nichtig zu erklären …
9. Mit besonderem, bei der Kanzlei des Gerichts am 22. Juli 2014 eingegangenen Schriftsatz hat die Antragstellerin beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung
– den Vollzug des Beschlusses, mit dem das Angebot der Antragstellerin abgelehnt worden war, den Vollzug des Beschlusses, mit dem der Streithelferin der Auftrag erteilt worden war, und den Vollzug der Folgebeschlüsse auszusetzen,
– alle zweckdienlichen Maßnahmen zu erlassen, um den beantragten vorläufigen Rechtsschutz zu gewährleisten.
10. In ihrer am 7. August 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Stellungnahme zu dem Antrag auf einstweilige Anordnung hat die Kommission beantragt:
– den Antrag auf vorläufige Maßnahmen als unzulässig zurückzuweisen;
– den Antrag auf vorläufige Maßnahmen jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen;
– die Kostenentscheidung vorzubehalten.
11. Mit Beschluss vom 9. September 2014 hat der Präsident des Gerichts die Streithilfe zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen. Die Streithelferin hat ihre Erklärungen am 23. September 2014 eingereicht, und die anderen Parteien, die Kommission und die Antragstellerin, haben ihre Erklärungen hierzu am 1. Oktober 2014 bzw. am 3. Oktober 2014 eingereicht.
Rechtliche Würdigung
Allgemeine Erwägungen
12. Nach den Art. 278 AEUV und Art. 279 AEUV in Verbindung mit Art. 256 Abs. 1 AEUV kann der Richter im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, wenn er dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der vor dem Gericht angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.
13. Gemäß Art. 104 § 2 der Verfahrensordnung müssen Anträge auf einstweilige Anordnung den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände anführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen. Der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung kann somit die Aussetzung des Vollzugs anordnen und sonstige einstweilige Anordnungen erlassen, wenn die Notwendigkeit der Anordnungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht ( fumus boni iuris ) und dargetan ist, dass diese Anordnungen dringlich in dem Sinne sind, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten müssen. Diese Voraussetzungen sind kumulativ, so dass der Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen ist, wenn eine von ihnen nicht erfüllt ist (Beschluss vom 14. Oktober 1996, SCK und FNK/Kommission, C‑268/96 P[R], Slg, EU:C:1996:381, Rn. 30).
[ Nicht wiedergegeben ]
15. Im vorliegenden Fall ist angesichts der besonderen Rolle des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes bei öffentlichen Aufträgen und des vom Gesetzgeber der Europäischen Union geschaffenen rechtlichen Rahmens für Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge durch die öffentlichen Auftraggeber der Mitgliedstaaten (vgl. Beschluss vom 4. Dezember 2014, Vanbreda Risk & Benefits/Kommission, T‑199/14 R, Slg [Auszüge], EU:T:2014:1024, Rn. 16 bis 20 und 157 bis 162 und die dort angeführte Rechtsprechung) zunächst zu prüfen, ob die Antragstellerin ausreichende Angaben zum Vorliegen eines fumus boni iuris gemacht hat.
[ Nicht wiedergegeben ]
Zum fumus boni iuris
17. Die Voraussetzung des Vorliegens eines fumus boni iuris ist erfüllt, wenn im Stadium des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes eine bedeutsame rechtliche Kontroverse besteht, deren Lösung sich nicht sofort aufdrängt, so dass die Klage prima facie nicht einer ernsthaften Grundlage entbehrt (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 13. Juni 1989, Publishers Association/Kommission, 56/89 R, Slg, EU:C:1989:238, Rn. 31, und vom 8. Mai 2003, Kommission/Artegodan u. a., C‑39/03 P‑R, Slg, EU:C:2003:269, Rn. 40). Da nämlich der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes darin besteht, die volle Wirksamkeit der künftigen Hauptsacheentscheidung sicherzustellen, um Lücken in dem durch die Gerichte der Union gewährleisteten Rechtsschutz zu vermeiden, muss sich der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter darauf beschränken, die Begründetheit der im Rahmen des Hauptsacheverfahrens geltend gemachten Klagegründe prima facie zu beurteilen, um festzustellen, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Klage Erfolg haben wird (Beschlüsse vom 19. Dezember 2013, Kommission/Deutschland, C‑426/13 P[R], Slg, EU:C:2013:848, Rn. 41, und vom 8. April 2014, Kommission/ANKO, C‑78/14 P‑R, Slg, EU:C:2014:239, Rn.15).
18. Im vorliegenden Fall führt die Antragstellerin fünf Gründe für ihren Antrag auf Aussetzung des Vollzugs an. Mit dem ersten trägt sie vor, die Zuschlagsempfängerin genüge nicht den in den Ausschreibungsunterlagen aufgeführten technischen Anforderungen, da sie nicht die Kapazitäten anderer Einheiten anführen könne, um diesen Anforderungen zu genügen. Mit dem zweiten führt sie an, die dem Angebot der Zuschlagsempfängerin für die angegebene garantierte elektrische Leistung erteilte Punktzahl sei rechtswidrig. Mit dem dritten macht sie geltend, die Handlungen zur Vergabe des Auftrags seien unter Verstoß gegen die Grundsätze für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen in einer einzigen Sitzung durchgeführt worden. Mit dem vierten rügt sie die Weigerung der Kommission, ihr eine bestimmte Anzahl von Unterlagen und Informationen zu übermitteln. Schließlich bestreitet sie mit dem fünften Antragsgrund die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Ausschusses für die Eröffnung der Angebote und die Aufstellung des Bewertungsausschusses.
[ Nicht wiedergegeben ]
Zum zweiten, zum dritten, zum vierten und zum fünften Antragsgrund
[ Nicht wiedergegeben ]
– Zum vierten und zum fünften Antragsgrund wegen fehlenden Zugangs zu den Ausschreibungsunterlagen
[ Nicht wiedergegeben ]
46. Somit ergibt sich aus der Prüfung des zweiten, des dritten, des vierten und des fünften Antragsgrundes, dass sie die Feststellung eines fumus boni iuris nicht tragen.
Zum ersten Antragsgrund wegen Nichterfüllung der in den Ausschreibungsunterlagen gestellten technischen Anforderungen seitens der Zuschlagsempfängerin
47. Die Antragstellerin trägt vor, die Zuschlagsempfängerin genüge nicht den in den Unterlagen der betreffenden Ausschreibung aufgestellten technischen Mindestanforderungen. Insbesondere erfülle die Streithelferin nicht das Auswahlkriterium unter Punkt III.2.3 Buchst. c der Auftragsbekanntmachung, da dieses Unternehmen zum einen nicht selbst mindestens zwei Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlagen mit einer Stromleistung von mindestens 8 MW errichtet habe und zum anderen zur Erfüllung dieses Kriteriums nicht die Leistungsfähigkeit anderer Einheiten anführen könne. Der Bieter sei nach dem Wortlaut der technischen Spezifikationen verpflichtet, eine Liste der Anlagen vorzulegen, die den im Auftrag beschriebenen entsprächen und unmittelbar von dem Unternehmen, das ein Gebot abgebe, errichtet worden sei.
48. Dazu ist zunächst festzustellen, dass die Auftragsbekanntmachung in Bezug auf die Teilnahmebedingungen für die betreffende Ausschreibung dem Bieter ausdrücklich die Möglichkeit einräumt, andere Unternehmen hinzuzuziehen. Für diesen Fall ist in der Auftragsbekanntmachung im Hinblick auf die Erfüllung der Auswahlkriterien klargestellt, dass die im Abschnitt über die eigene Lage der Unternehmen verlangten Unterlagen und Informationen von jedem dieser Unternehmen vorzulegen sind.
[ Nicht wiedergegeben ]
52. Es zeigt sich daher prima facie , dass der Streithelferin nach der Auftragsbekanntmachung erlaubt war, eine andere Einheit hinzuzuziehen, um die Bedingungen hinsichtlich der technischen Leistungsfähigkeit zu erfüllen, ohne den Nachweis eigener Leistungen erbringen zu müssen.
53. Dennoch heißt es, wie die Antragstellerin betont, unter Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen, dass „[dem] technischen Angebot außerdem die allgemeinen und technischen Informationen beigefügt sein müssen, die in der Aufforderung zur Angebotsabgabe ausdrücklich verlangt werden und mindestens umfassen müssen: eine Liste ähnlicher Anlagen, die unmittelbar von dem Unternehmen, das ein Gebot abgibt, errichtet worden sind … unter Angabe der wesentlichen Merkmale einer jeden [Anlage]“.
54. Festzustellen ist, dass die Aufnahme von Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen, der die von der Antragstellerin angeführte Angabe enthält, offensichtlich nicht dazu diente, die Teilnahmebedingungen für die betreffende Ausschreibung durch die Aufnahme von Auswahlkriterien zu verschärfen. Vielmehr sollte durch diesen Punkt wohl betont werden, wie wichtig es für die Beurteilung der technischen Leistungsfähigkeit des Bieters ist, dass dem technischen Angebot bestimmte, bereits in der Auftragsbekanntmachung ausdrücklich verlangte Informationen beiliegen.
[ Nicht wiedergegeben ]
57. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist die Tragweite der Angabe zu prüfen, auf der der erste Antragsgrund beruht. Die erste unter Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen genannte Information, nämlich die „Liste ähnlicher Anlagen, die unmittelbar von dem Unternehmen, das ein Gebot abgibt, erri chtet worden sind, einschließlich baulicher, mechanischer und elektro-instrumenteller Hilfseinrichtungen unter Angabe der wesentlichen Merkmale einer jeden [Anlage]“ scheint auf Punkt III.2.3 Buchst. c der Auftragsbekanntmachung zu verweisen, der die „Liste der wichtigsten in den letzten 10 Jahren durchgeführten Arbeiten, die dem Hauptgegenstand der Ausschreibung ähnlich sind, unter Angabe der Beträge, eingerichteten Stromleistung, Daten oder Ausführungsfristen und der öffentlichen und privaten Abnehmer“ betrifft. Zum einen wird dort verlangt, dass „für alle durchgeführten Arbeiten eine Endabnahmebescheinigung oder ein anderes Dokument, das die ordnungsgemäße Errichtung bestätigt (zum Beispiel die Schlussrechnung), beigefügt ist“, und zum anderen, dass „sich mindestens zwei dieser durchgeführten Projekte auf die Errichtung von Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlagen mit einer Stromleistung von mindestens 8 MW beziehen“. Ein Vergleich der beiden Formulierungen scheint die von der Antragstellerin vertretene Interpretation, die von einem Verhältnis von lex generalis zu lex specialis ausgeht, ohne Weiteres auszuschließen, da die in den technischen Spezifikationen verwendete Formulierung zwar den Begriff „unmittelbar“ enthält, der wie eine Klarstellung erscheinen könnte, in anderer Hinsicht aber viel unbestimmter ist als die Formulierung in der Auftragsbekanntmachung. Die erste Formulierung enthält nämlich keine Zeitangabe. Außerdem scheint diese letzte Formulierung eine andere Auslegung als die von der Antragstellerin vertretene zuzulassen. Sie kann nämlich so verstanden werden, dass eine solche Liste vorgelegt werden muss, wenn und nur wenn der Bieter diese Art von Arbeiten unmittelbar durchgeführt hat. Anderenfalls ist diese Liste nicht vorzulegen, denn es kann sie nicht geben, was jedoch den Bieter nicht daran hindert, an der Ausschreibung teilzunehmen, soweit er durch Hinzuziehung Dritter die in der Auftragsbekanntmachung aufgeführten Teilnahmevoraussetzungen erfüllen kann.
58. Daraus folgt, dass die in Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen genannten Informationen einerseits als Hinweis auf das in Punkt III.2.3 Buchst. c, d und e der Auftragsbekanntmachung aufgeführte Auswahlkriterium verstanden werden können und andererseits als Klarstellung bezüglich der zu übermittelnden Informationen (Angabe der Nähe und Information, ob Anlagen unmittelbar vom Bieter errichtet wurden).
59. Jedoch ist in diesem Stadium die von der Antragstellerin vertretene Auslegung nicht völlig von der Hand zu weisen, da die Kommission in ihren Erklärungen nicht erläutert hat, welche Bedeutung der Begriff „unmittelbar“ hat und warum er gewählt worden ist.
60. Somit zwingt die Unsicherheit, welche Bedeutung die Wahl dieses Begriffs hat und wie sie sich auf die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens auswirkt, den Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu dem Schluss, dass eine bedeutsame rechtliche Kontroverse vorliegt, deren Lösung sich nicht sofort aufdrängt, so dass die Klage prima facie nicht einer ernsthaften Grundlage entbehrt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 10. September 2013, Kommission/Pilkington Group, C‑278/13 P[R], Slg, EU:C:2013:558, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61. Im Rahmen der sehr speziellen Rechtsstreitigkeiten im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe kann jedoch, wenn der abgelehnte Bieter das Vorliegen eines besonders ernsthaften fumus boni iuris nachweisen kann, von ihm nicht gefordert werden, den Nachweis zu erbringen, dass ihm die Zurückweisung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz einen nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen könnte, da anderenfalls der effektive gerichtliche Rechtsschutz, den er nach Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union genießt, übermäßig und ungerechtfertigt beeinträchtigt würde. Ein solcher fumus boni iuris liegt vor, wenn er eine hinreichend offenkundige und schwere Rechtsverletzung erkennen lässt, deren Wirkungen in ihrem Entstehen oder Fortbestand so rasch wie möglich zu beseitigen sind, wenn nicht die Abwägung der bestehenden Interessen letztlich dem entgegensteht. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen genügt der Nachweis der Schwere des Schadens, der mangels einer Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung entstünde, um die Voraussetzung der Dringlichkeit zu erfüllen, da zu berücksichtigen ist, dass Wirkungen, die sich aus einer solchen Rechtsverletzung ergeben können, verhindert werden sollen (Beschluss Vanbreda Risk & Benefits/Kommission, oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2014:1024, Rn. 162).
62. Im vorliegenden Fall hat jedoch die Prüfung des zweiten, des dritten, des vierten und des fünften Antragsgrundes keinen Rückschluss auf das Vorliegen eines fumus boni iuris zugelassen… Ebenso hat die Prüfung des ersten Antragsgrundes lediglich eine Unsicherheit zutage gefördert, die den Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu dem Schluss zwingt, dass dieser Antragsgrund nicht völlig unerheblich ist.
63. Die Verhaltensweisen und Entscheidungen der Kommission im vorliegenden Fall können somit im Rahmen dieses Verfahrens nicht als hinreichend offenkundige und schwere Rechtsverletzungen des Unionsrechts angesehen werden, die es erforderlich machen, deren Wirkungen für die Zukunft zu verhindern, ohne dass von der Antragstellerin der Nachweis verlangt wird, dass der Schaden, den sie ohne eine Aussetzung der angefochtenen Entscheidung erleiden würde, nicht wiedergutzumachen wäre.
64. Da die Prüfung der Gründe für den Antrag auf Aussetzung des Vollzugs nicht den Schluss zulässt, dass ein besonders ernsthafter fumus boni iuris besteht, ist die Voraussetzung der Dringlichkeit zu prüfen, um festzustellen, ob die Antragstellerin den Nachweis erbracht hat, dass ihr, wie von ihr behauptet, ein Schaden droht, der schwer und nicht wiedergutzumachen wäre.
Zur Dringlichkeit
65. Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt sich die Dringlichkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung danach, ob die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich ist, um zu verhindern, dass dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht. Der Antragsteller ist dafür beweispflichtig, dass er die Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne persönlich einen solchen Schaden zu erleiden (vgl. Beschluss vom 19. September 2012, Griechenland/Kommission, T‑52/12 R, Slg, EU:T:2012:447, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66. Im vorliegenden Fall trägt die Antragstellerin auf kaum mehr als einer Seite ihres Antrags auf einstweilige Anordnung vor, weshalb sie der Ansicht ist, aufgrund der angefochtenen Maßnahmen einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu erleiden. Zum einen sei der betreffende Auftrag von wesentlicher Bedeutung für die Kontinuität ihrer Tätigkeit und zum anderen sei für eine ähnliche Baustelle des Unternehmens das Sozialplanverfahren eingeleitet worden, was die Antragstellerin gezwungen habe, vier Personen freizustellen (und Gleiches für zwei weitere Personen vorzusehen), soweit diese Personen nicht auf anderen Baustellen eingesetzt werden könnten. Die Durchführung des Mobilitätsverfahrens sei insoweit ein Zeichen für die schwierige Lage, in der sie sich befinde, weil ihr nicht der Zuschlag für den Auftrag erteilt worden sei.
67. Dazu ist festzustellen, dass die Behauptung der Antragstellerin hinsichtlich der Bedeutung des Auftrags für die Kontinuität ihrer Tätigkeit durch keine konkreten und genauen Angaben untermauert und durch kein detailliertes und bestätigtes Dokument belegt wird … Daraus folgt, dass die Antragstellerin keinerlei konkrete Angaben zu ihrer finanziellen Situation gemacht hat, die dem Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung eine Beurteilung erlaubt hätten, wie schwer der behauptete Schaden wäre und ob er nicht wiedergutzumachen wäre. Solche Angaben sind jedoch für die Beurteilung der Dringlichkeit unerlässlich und hätten in dem Antrag auf einstweilige Anordnung selbst enthalten sein müssen.
68. Zur Durchführung des Mobilitätsverfahrens ist festzustellen, dass das Sozialplanverfahren auf einer ähnlichen Baustelle von der Antragstellerin am 17. März 2014 eingeleitet wurde, also vor der Ablehnung ihres Angebots für den betreffenden Auftrag. Nach ständiger Rechtsprechung muss die behauptete Dringlichkeit wegen eines drohenden schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens auf den Wirkungen der angefochtenen Handlung beruhen, was hier also nicht zutrifft, da das Mobilitätsverfahren nicht aufgrund des Vollzugs der angefochtenen Handlungen durchgeführt wurde. In ihrer Stellungnahme zu den Erklärungen der Streithelferin hat die Antragstellerin ausgeführt, dass dieses Verfahren in Form wirksamer Entscheidungen erst in Gang gesetzt worden sei, nachdem sie von der Ablehnung ihres Angebots für den betreffenden Auftrag erfahren habe. Aus den Akten geht jedoch hervor, dass die an die betroffenen Arbeitnehmer am 18. Juni 2014 versandten Schreiben, auf die sich die Antragstellerin zur Untermauerung ihrer Argumentation stützt, nur die Folge des besagten, vor der Entscheidung über die Auftragsvergabe eingeleiteten Verfahrens sind und daher in keiner Verbindung mit diesem stehen.
[ Nicht wiedergegeben ]
70. Selbst wenn die Prüfung des ersten Grundes für den Antrag auf Aussetzung des Vollzugs den Schluss auf einen besonders ernsthaften fumus boni iuris zuließe, hat die Antragstellerin im Rahmen dieses Verfahrens jedenfalls nichts zum Nachweis der Schwere des behaupteten Schadens vorgetragen.
71. Nach alledem ist festzustellen, dass das Vorbringen der Antragstellerin zur Erfüllung der Voraussetzung der Dringlichkeit offensichtlich der Grundlage entbehrt.
72. Daher ist aus den vorstehend dargelegten Gründen der Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen, ohne dass es einer Abwägung der bestehenden Interessen oder einer Entscheidung über die Fragen der Kommission zur Zulässigkeit des Antrags auf Aussetzung des Vollzugs der von der Antragstellerin genannten Folgebeschlüsse bedarf.
(1) .
(1) – Es werden nur die Randnummern des Beschlusses wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
beschlossen:
1. Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.
2. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Luxemburg, den 24. März 2015
BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTS
24. März 2015 (*1)
„Vorläufiger Rechtsschutz — Öffentliche Bauaufträge — Ausschreibungsverfahren — Errichtung und Wartung einer Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlage — Ablehnung des Angebots eines Bieters und Vergabe an einen anderen Bieter — Antrag auf Aussetzung des Vollzugs — Fumus boni iuris — Fehlende Dringlichkeit“
In der Rechtssache T‑383/14 R
Europower SpA mit Sitz in Mailand (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte G. Cocco und L. Salomoni,
Antragstellerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch L. Cappelletti, L. Di Paolo und F. Moro als Bevollmächtigte,
Antragsgegnerin,
unterstützt durch
CPL Concordia Soc. coop. mit Sitz in Concordia Sulla Secchia (Italien), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt A. Penta,
Streithelferin,
betreffend die Aussetzung des Vollzugs des Beschlusses vom 3. April 2014, mit dem die Kommission das von Europower im Rahmen der Ausschreibung JRC IPR 2013 C04 0031 OC über die Errichtung und Wartung einer Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlage mit Gasturbine am Standort Ispra (Italien) der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Kommission (ABl. 2013/S 137-237146) eingereichte Angebot abgelehnt hat und den Auftrag an die CPL Concordia vergeben hat, und infolgedessen aller weiteren Folgebeschlüsse
erlässt
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
folgenden
Beschluss (1 )
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Am 17. Juli 2013 veröffentlichte die Europäische Kommission im Amtsblatt der Europäischen Union eine Ausschreibung im offenen Verfahren mit dem Aktenzeichen JRC IPR 2013 C04 0031 OC über die Errichtung und Wartung einer Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlage mit Gasturbine am Standort Ispra (Italien) der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Kommission. Der Schlusstermin für den Eingang der Angebote und der Termin für die Eröffnung der Angebote wurden nach einer im Amtsblatt veröffentlichten Berichtigung auf den 15. bzw. den 21. November 2013 festgesetzt. In dem der Aufforderung zur Angebotsabgabe beigefügten, als „administrativer Anhang“ bezeichneten Dokument wurde ausgeführt, dass der Auftrag für das wirtschaftlich günstigste Angebot erteilt werde, das auf der Grundlage der Gesamtkosten und der technischen Qualität bestimmt werde, und dass höchstens 80 Punkte für die Gesamtkosten des Angebots und höchstens 20 Punkte für die technische Qualität des Angebots vergeben werden könnten.
2 Der Eröffnungsausschuss eröffnete die Angebote am 21. November 2013. Nach der Prüfung, ob die Vorgaben eingehalten worden waren, wurden die Angebote von dem hierfür eingesetzten Ausschuss bewertet, der seinen Bericht am 21. März 2014 abgab.
3 Mit Schreiben vom 3. April 2014 informierte die Kommission die Antragstellerin Europower SpA, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt worden sei, da die ihr erteilte endgültige Punktzahl schlechter gewesen sei als die, die das Angebot der Streithelferin CPL Concordia Soc. coop. erhalten habe.
4 Mit Schreiben vom 7. April 2014 beantragte die Antragstellerin Einsicht in die Dokumente, die die Vergabeentscheidung, die Bewertungsprotokolle, das Angebot der Zuschlagsempfängerin, die Merkmale und Vorteile des Angebots der Zuschlagsempfängerin und den mit der Zuschlagsempfängerin geschlossenen bzw. zu schließenden Vertrag enthielten.
5 Mit Schreiben vom 11. April 2014 erinnerte die Kommission daran, dass der Auftrag an die Streithelferin vergeben worden sei, und teilte die Merkmale des Angebots der Zuschlagsempfängerin sowie die für dieses Angebot vergebenen Punkte mit.
6 Am 15. April 2014 beantragte die Antragstellerin u. a., ihr eine Kopie der im Antrag auf Einsichtnahme vom 7. April 2014 aufgezählten Dokumente zu überlassen, und erklärte, dass sie einen Zweitantrag auf Zugang zu den Dokumenten stelle.
7 Am 17. April 2014 antwortete die Kommission der Antragstellerin, dass ihr im laufenden Vergabeverfahren keine anderen Informationen mitgeteilt werden könnten und der Zugang zu den Vergabeunterlagen ihr erst erteilt werden könne, wenn das Verfahren durch Unterzeichnung des Vertrags durch den ausgewählten Bieter abgeschlossen sei.
Verfahren und Anträge der Parteien
8 Mit der am 30. Mai 2014 bei der Kanzlei eingegangenen Klageschrift hat die Antragstellerin beantragt, die Entscheidung vom 3. April 2014, mit der die Kommission das Angebot, das sie im Rahmen der Ausschreibung … abgegeben hatte, abgelehnt hatte, die Entscheidung, mit der die Kommission den Auftrag an die Streithelferin vergeben hatte, … sowie den Vertrag selbst für nichtig zu erklären …
9 Mit besonderem, bei der Kanzlei des Gerichts am 22. Juli 2014 eingegangenen Schriftsatz hat die Antragstellerin beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung
—
den Vollzug des Beschlusses, mit dem das Angebot der Antragstellerin abgelehnt worden war, den Vollzug des Beschlusses, mit dem der Streithelferin der Auftrag erteilt worden war, und den Vollzug der Folgebeschlüsse auszusetzen,
—
alle zweckdienlichen Maßnahmen zu erlassen, um den beantragten vorläufigen Rechtsschutz zu gewährleisten.
10 In ihrer am 7. August 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Stellungnahme zu dem Antrag auf einstweilige Anordnung hat die Kommission beantragt:
—
den Antrag auf vorläufige Maßnahmen als unzulässig zurückzuweisen;
—
den Antrag auf vorläufige Maßnahmen jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen;
—
die Kostenentscheidung vorzubehalten.
11 Mit Beschluss vom 9. September 2014 hat der Präsident des Gerichts die Streithilfe zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen. Die Streithelferin hat ihre Erklärungen am 23. September 2014 eingereicht, und die anderen Parteien, die Kommission und die Antragstellerin, haben ihre Erklärungen hierzu am 1. Oktober 2014 bzw. am 3. Oktober 2014 eingereicht.
Rechtliche Würdigung
Allgemeine Erwägungen
12 Nach den Art. 278 AEUV und Art. 279 AEUV in Verbindung mit Art. 256 Abs. 1 AEUV kann der Richter im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, wenn er dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der vor dem Gericht angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.
13 Gemäß Art. 104 § 2 der Verfahrensordnung müssen Anträge auf einstweilige Anordnung den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände anführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen. Der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung kann somit die Aussetzung des Vollzugs anordnen und sonstige einstweilige Anordnungen erlassen, wenn die Notwendigkeit der Anordnungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht (fumus boni iuris) und dargetan ist, dass diese Anordnungen dringlich in dem Sinne sind, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten müssen. Diese Voraussetzungen sind kumulativ, so dass der Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen ist, wenn eine von ihnen nicht erfüllt ist (Beschluss vom 14. Oktober 1996, SCK und FNK/Kommission, C‑268/96 P[R], Slg, EU:C:1996:381, Rn. 30).
[Nicht wiedergegeben]
15 Im vorliegenden Fall ist angesichts der besonderen Rolle des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes bei öffentlichen Aufträgen und des vom Gesetzgeber der Europäischen Union geschaffenen rechtlichen Rahmens für Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge durch die öffentlichen Auftraggeber der Mitgliedstaaten (vgl. Beschluss vom 4. Dezember 2014, Vanbreda Risk & Benefits/Kommission, T‑199/14 R, Slg [Auszüge], EU:T:2014:1024, Rn. 16 bis 20 und 157 bis 162 und die dort angeführte Rechtsprechung) zunächst zu prüfen, ob die Antragstellerin ausreichende Angaben zum Vorliegen eines fumus boni iuris gemacht hat.
[Nicht wiedergegeben]
Zum fumus boni iuris
17 Die Voraussetzung des Vorliegens eines fumus boni iuris ist erfüllt, wenn im Stadium des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes eine bedeutsame rechtliche Kontroverse besteht, deren Lösung sich nicht sofort aufdrängt, so dass die Klage prima facie nicht einer ernsthaften Grundlage entbehrt (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 13. Juni 1989, Publishers Association/Kommission, 56/89 R, Slg, EU:C:1989:238, Rn. 31, und vom 8. Mai 2003, Kommission/Artegodan u. a., C‑39/03 P‑R, Slg, EU:C:2003:269, Rn. 40). Da nämlich der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes darin besteht, die volle Wirksamkeit der künftigen Hauptsacheentscheidung sicherzustellen, um Lücken in dem durch die Gerichte der Union gewährleisteten Rechtsschutz zu vermeiden, muss sich der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter darauf beschränken, die Begründetheit der im Rahmen des Hauptsacheverfahrens geltend gemachten Klagegründe prima facie zu beurteilen, um festzustellen, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Klage Erfolg haben wird (Beschlüsse vom 19. Dezember 2013, Kommission/Deutschland, C‑426/13 P[R], Slg, EU:C:2013:848, Rn. 41, und vom 8. April 2014, Kommission/ANKO, C‑78/14 P‑R, Slg, EU:C:2014:239, Rn.15).
18 Im vorliegenden Fall führt die Antragstellerin fünf Gründe für ihren Antrag auf Aussetzung des Vollzugs an. Mit dem ersten trägt sie vor, die Zuschlagsempfängerin genüge nicht den in den Ausschreibungsunterlagen aufgeführten technischen Anforderungen, da sie nicht die Kapazitäten anderer Einheiten anführen könne, um diesen Anforderungen zu genügen. Mit dem zweiten führt sie an, die dem Angebot der Zuschlagsempfängerin für die angegebene garantierte elektrische Leistung erteilte Punktzahl sei rechtswidrig. Mit dem dritten macht sie geltend, die Handlungen zur Vergabe des Auftrags seien unter Verstoß gegen die Grundsätze für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen in einer einzigen Sitzung durchgeführt worden. Mit dem vierten rügt sie die Weigerung der Kommission, ihr eine bestimmte Anzahl von Unterlagen und Informationen zu übermitteln. Schließlich bestreitet sie mit dem fünften Antragsgrund die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Ausschusses für die Eröffnung der Angebote und die Aufstellung des Bewertungsausschusses.
[Nicht wiedergegeben]
Zum zweiten, zum dritten, zum vierten und zum fünften Antragsgrund
[Nicht wiedergegeben]
– Zum vierten und zum fünften Antragsgrund wegen fehlenden Zugangs zu den Ausschreibungsunterlagen
[Nicht wiedergegeben]
46 Somit ergibt sich aus der Prüfung des zweiten, des dritten, des vierten und des fünften Antragsgrundes, dass sie die Feststellung eines fumus boni iuris nicht tragen.
Zum ersten Antragsgrund wegen Nichterfüllung der in den Ausschreibungsunterlagen gestellten technischen Anforderungen seitens der Zuschlagsempfängerin
47 Die Antragstellerin trägt vor, die Zuschlagsempfängerin genüge nicht den in den Unterlagen der betreffenden Ausschreibung aufgestellten technischen Mindestanforderungen. Insbesondere erfülle die Streithelferin nicht das Auswahlkriterium unter Punkt III.2.3 Buchst. c der Auftragsbekanntmachung, da dieses Unternehmen zum einen nicht selbst mindestens zwei Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlagen mit einer Stromleistung von mindestens 8 MW errichtet habe und zum anderen zur Erfüllung dieses Kriteriums nicht die Leistungsfähigkeit anderer Einheiten anführen könne. Der Bieter sei nach dem Wortlaut der technischen Spezifikationen verpflichtet, eine Liste der Anlagen vorzulegen, die den im Auftrag beschriebenen entsprächen und unmittelbar von dem Unternehmen, das ein Gebot abgebe, errichtet worden sei.
48 Dazu ist zunächst festzustellen, dass die Auftragsbekanntmachung in Bezug auf die Teilnahmebedingungen für die betreffende Ausschreibung dem Bieter ausdrücklich die Möglichkeit einräumt, andere Unternehmen hinzuzuziehen. Für diesen Fall ist in der Auftragsbekanntmachung im Hinblick auf die Erfüllung der Auswahlkriterien klargestellt, dass die im Abschnitt über die eigene Lage der Unternehmen verlangten Unterlagen und Informationen von jedem dieser Unternehmen vorzulegen sind.
[Nicht wiedergegeben]
52 Es zeigt sich daher prima facie, dass der Streithelferin nach der Auftragsbekanntmachung erlaubt war, eine andere Einheit hinzuzuziehen, um die Bedingungen hinsichtlich der technischen Leistungsfähigkeit zu erfüllen, ohne den Nachweis eigener Leistungen erbringen zu müssen.
53 Dennoch heißt es, wie die Antragstellerin betont, unter Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen, dass „[dem] technischen Angebot außerdem die allgemeinen und technischen Informationen beigefügt sein müssen, die in der Aufforderung zur Angebotsabgabe ausdrücklich verlangt werden und mindestens umfassen müssen: eine Liste ähnlicher Anlagen, die unmittelbar von dem Unternehmen, das ein Gebot abgibt, errichtet worden sind … unter Angabe der wesentlichen Merkmale einer jeden [Anlage]“.
54 Festzustellen ist, dass die Aufnahme von Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen, der die von der Antragstellerin angeführte Angabe enthält, offensichtlich nicht dazu diente, die Teilnahmebedingungen für die betreffende Ausschreibung durch die Aufnahme von Auswahlkriterien zu verschärfen. Vielmehr sollte durch diesen Punkt wohl betont werden, wie wichtig es für die Beurteilung der technischen Leistungsfähigkeit des Bieters ist, dass dem technischen Angebot bestimmte, bereits in der Auftragsbekanntmachung ausdrücklich verlangte Informationen beiliegen.
[Nicht wiedergegeben]
57 Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist die Tragweite der Angabe zu prüfen, auf der der erste Antragsgrund beruht. Die erste unter Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen genannte Information, nämlich die „Liste ähnlicher Anlagen, die unmittelbar von dem Unternehmen, das ein Gebot abgibt, errichtet worden sind, einschließlich baulicher, mechanischer und elektro-instrumenteller Hilfseinrichtungen unter Angabe der wesentlichen Merkmale einer jeden [Anlage]“ scheint auf Punkt III.2.3 Buchst. c der Auftragsbekanntmachung zu verweisen, der die „Liste der wichtigsten in den letzten 10 Jahren durchgeführten Arbeiten, die dem Hauptgegenstand der Ausschreibung ähnlich sind, unter Angabe der Beträge, eingerichteten Stromleistung, Daten oder Ausführungsfristen und der öffentlichen und privaten Abnehmer“ betrifft. Zum einen wird dort verlangt, dass „für alle durchgeführten Arbeiten eine Endabnahmebescheinigung oder ein anderes Dokument, das die ordnungsgemäße Errichtung bestätigt (zum Beispiel die Schlussrechnung), beigefügt ist“, und zum anderen, dass „sich mindestens zwei dieser durchgeführten Projekte auf die Errichtung von Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlagen mit einer Stromleistung von mindestens 8 MW beziehen“. Ein Vergleich der beiden Formulierungen scheint die von der Antragstellerin vertretene Interpretation, die von einem Verhältnis von lex generalis zu lex specialis ausgeht, ohne Weiteres auszuschließen, da die in den technischen Spezifikationen verwendete Formulierung zwar den Begriff „unmittelbar“ enthält, der wie eine Klarstellung erscheinen könnte, in anderer Hinsicht aber viel unbestimmter ist als die Formulierung in der Auftragsbekanntmachung. Die erste Formulierung enthält nämlich keine Zeitangabe. Außerdem scheint diese letzte Formulierung eine andere Auslegung als die von der Antragstellerin vertretene zuzulassen. Sie kann nämlich so verstanden werden, dass eine solche Liste vorgelegt werden muss, wenn und nur wenn der Bieter diese Art von Arbeiten unmittelbar durchgeführt hat. Anderenfalls ist diese Liste nicht vorzulegen, denn es kann sie nicht geben, was jedoch den Bieter nicht daran hindert, an der Ausschreibung teilzunehmen, soweit er durch Hinzuziehung Dritter die in der Auftragsbekanntmachung aufgeführten Teilnahmevoraussetzungen erfüllen kann.
58 Daraus folgt, dass die in Punkt 12 Abs. 5 der technischen Spezifikationen genannten Informationen einerseits als Hinweis auf das in Punkt III.2.3 Buchst. c, d und e der Auftragsbekanntmachung aufgeführte Auswahlkriterium verstanden werden können und andererseits als Klarstellung bezüglich der zu übermittelnden Informationen (Angabe der Nähe und Information, ob Anlagen unmittelbar vom Bieter errichtet wurden).
59 Jedoch ist in diesem Stadium die von der Antragstellerin vertretene Auslegung nicht völlig von der Hand zu weisen, da die Kommission in ihren Erklärungen nicht erläutert hat, welche Bedeutung der Begriff „unmittelbar“ hat und warum er gewählt worden ist.
60 Somit zwingt die Unsicherheit, welche Bedeutung die Wahl dieses Begriffs hat und wie sie sich auf die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens auswirkt, den Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu dem Schluss, dass eine bedeutsame rechtliche Kontroverse vorliegt, deren Lösung sich nicht sofort aufdrängt, so dass die Klage prima facie nicht einer ernsthaften Grundlage entbehrt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 10. September 2013, Kommission/Pilkington Group, C‑278/13 P[R], Slg, EU:C:2013:558, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Im Rahmen der sehr speziellen Rechtsstreitigkeiten im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe kann jedoch, wenn der abgelehnte Bieter das Vorliegen eines besonders ernsthaften fumus boni iuris nachweisen kann, von ihm nicht gefordert werden, den Nachweis zu erbringen, dass ihm die Zurückweisung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz einen nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen könnte, da anderenfalls der effektive gerichtliche Rechtsschutz, den er nach Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union genießt, übermäßig und ungerechtfertigt beeinträchtigt würde. Ein solcher fumus boni iuris liegt vor, wenn er eine hinreichend offenkundige und schwere Rechtsverletzung erkennen lässt, deren Wirkungen in ihrem Entstehen oder Fortbestand so rasch wie möglich zu beseitigen sind, wenn nicht die Abwägung der bestehenden Interessen letztlich dem entgegensteht. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen genügt der Nachweis der Schwere des Schadens, der mangels einer Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung entstünde, um die Voraussetzung der Dringlichkeit zu erfüllen, da zu berücksichtigen ist, dass Wirkungen, die sich aus einer solchen Rechtsverletzung ergeben können, verhindert werden sollen (Beschluss Vanbreda Risk & Benefits/Kommission, oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2014:1024, Rn. 162).
62 Im vorliegenden Fall hat jedoch die Prüfung des zweiten, des dritten, des vierten und des fünften Antragsgrundes keinen Rückschluss auf das Vorliegen eines fumus boni iuris zugelassen… Ebenso hat die Prüfung des ersten Antragsgrundes lediglich eine Unsicherheit zutage gefördert, die den Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu dem Schluss zwingt, dass dieser Antragsgrund nicht völlig unerheblich ist.
63 Die Verhaltensweisen und Entscheidungen der Kommission im vorliegenden Fall können somit im Rahmen dieses Verfahrens nicht als hinreichend offenkundige und schwere Rechtsverletzungen des Unionsrechts angesehen werden, die es erforderlich machen, deren Wirkungen für die Zukunft zu verhindern, ohne dass von der Antragstellerin der Nachweis verlangt wird, dass der Schaden, den sie ohne eine Aussetzung der angefochtenen Entscheidung erleiden würde, nicht wiedergutzumachen wäre.
64 Da die Prüfung der Gründe für den Antrag auf Aussetzung des Vollzugs nicht den Schluss zulässt, dass ein besonders ernsthafter fumus boni iuris besteht, ist die Voraussetzung der Dringlichkeit zu prüfen, um festzustellen, ob die Antragstellerin den Nachweis erbracht hat, dass ihr, wie von ihr behauptet, ein Schaden droht, der schwer und nicht wiedergutzumachen wäre.
Zur Dringlichkeit
65 Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt sich die Dringlichkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung danach, ob die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich ist, um zu verhindern, dass dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht. Der Antragsteller ist dafür beweispflichtig, dass er die Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne persönlich einen solchen Schaden zu erleiden (vgl. Beschluss vom 19. September 2012, Griechenland/Kommission, T‑52/12 R, Slg, EU:T:2012:447, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Im vorliegenden Fall trägt die Antragstellerin auf kaum mehr als einer Seite ihres Antrags auf einstweilige Anordnung vor, weshalb sie der Ansicht ist, aufgrund der angefochtenen Maßnahmen einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu erleiden. Zum einen sei der betreffende Auftrag von wesentlicher Bedeutung für die Kontinuität ihrer Tätigkeit und zum anderen sei für eine ähnliche Baustelle des Unternehmens das Sozialplanverfahren eingeleitet worden, was die Antragstellerin gezwungen habe, vier Personen freizustellen (und Gleiches für zwei weitere Personen vorzusehen), soweit diese Personen nicht auf anderen Baustellen eingesetzt werden könnten. Die Durchführung des Mobilitätsverfahrens sei insoweit ein Zeichen für die schwierige Lage, in der sie sich befinde, weil ihr nicht der Zuschlag für den Auftrag erteilt worden sei.
67 Dazu ist festzustellen, dass die Behauptung der Antragstellerin hinsichtlich der Bedeutung des Auftrags für die Kontinuität ihrer Tätigkeit durch keine konkreten und genauen Angaben untermauert und durch kein detailliertes und bestätigtes Dokument belegt wird … Daraus folgt, dass die Antragstellerin keinerlei konkrete Angaben zu ihrer finanziellen Situation gemacht hat, die dem Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung eine Beurteilung erlaubt hätten, wie schwer der behauptete Schaden wäre und ob er nicht wiedergutzumachen wäre. Solche Angaben sind jedoch für die Beurteilung der Dringlichkeit unerlässlich und hätten in dem Antrag auf einstweilige Anordnung selbst enthalten sein müssen.
68 Zur Durchführung des Mobilitätsverfahrens ist festzustellen, dass das Sozialplanverfahren auf einer ähnlichen Baustelle von der Antragstellerin am 17. März 2014 eingeleitet wurde, also vor der Ablehnung ihres Angebots für den betreffenden Auftrag. Nach ständiger Rechtsprechung muss die behauptete Dringlichkeit wegen eines drohenden schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens auf den Wirkungen der angefochtenen Handlung beruhen, was hier also nicht zutrifft, da das Mobilitätsverfahren nicht aufgrund des Vollzugs der angefochtenen Handlungen durchgeführt wurde. In ihrer Stellungnahme zu den Erklärungen der Streithelferin hat die Antragstellerin ausgeführt, dass dieses Verfahren in Form wirksamer Entscheidungen erst in Gang gesetzt worden sei, nachdem sie von der Ablehnung ihres Angebots für den betreffenden Auftrag erfahren habe. Aus den Akten geht jedoch hervor, dass die an die betroffenen Arbeitnehmer am 18. Juni 2014 versandten Schreiben, auf die sich die Antragstellerin zur Untermauerung ihrer Argumentation stützt, nur die Folge des besagten, vor der Entscheidung über die Auftragsvergabe eingeleiteten Verfahrens sind und daher in keiner Verbindung mit diesem stehen.
[Nicht wiedergegeben]
70 Selbst wenn die Prüfung des ersten Grundes für den Antrag auf Aussetzung des Vollzugs den Schluss auf einen besonders ernsthaften fumus boni iuris zuließe, hat die Antragstellerin im Rahmen dieses Verfahrens jedenfalls nichts zum Nachweis der Schwere des behaupteten Schadens vorgetragen.
71 Nach alledem ist festzustellen, dass das Vorbringen der Antragstellerin zur Erfüllung der Voraussetzung der Dringlichkeit offensichtlich der Grundlage entbehrt.
72 Daher ist aus den vorstehend dargelegten Gründen der Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen, ohne dass es einer Abwägung der bestehenden Interessen oder einer Entscheidung über die Fragen der Kommission zur Zulässigkeit des Antrags auf Aussetzung des Vollzugs der von der Antragstellerin genannten Folgebeschlüsse bedarf.
Aus diesen Gründen hat
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
beschlossen:
1. Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.
2. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Luxemburg, den 24. März 2015
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
M. Jaeger
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Beschlusses wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 19. März 2015.#E.ON Földgáz Trade Zrt gegen Magyar Energetikai és Közmű-szabályozási Hivatal.#Vorabentscheidungsersuchen der Kúria.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Erdgasbinnenmarkt – Richtlinie 2003/55/EG – Art. 25 – Richtlinie 2009/73/EG – Art. 41 und 54 – Zeitliche Geltung – Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 – Art. 5 – Kapazitätszuweisungsmechanismen und Verfahren für das Engpassmanagement – Entscheidung einer Regulierungsbehörde – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Klage einer Gesellschaft, die über eine Genehmigung zum Transport von Erdgas verfügt – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegen eine Entscheidung einer Regulierungsbehörde.#Rechtssache C-510/13.
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62013CJ0510
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ECLI:EU:C:2015:189
| 2015-03-19T00:00:00 |
Cruz Villalón, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0510
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
19. März 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Erdgasbinnenmarkt — Richtlinie 2003/55/EG — Art. 25 — Richtlinie 2009/73/EG — Art. 41 und 54 — Zeitliche Geltung — Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 — Art. 5 — Kapazitätszuweisungsmechanismen und Verfahren für das Engpassmanagement — Entscheidung einer Regulierungsbehörde — Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs — Klage einer Gesellschaft, die über eine Genehmigung zum Transport von Erdgas verfügt — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 47 — Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegen eine Entscheidung einer Regulierungsbehörde“
In der Rechtssache C‑510/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Kúria (Ungarn) mit Entscheidung vom 2. Juli 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 25. September 2013, in dem Verfahren
E.ON Földgáz Trade Zrt.
gegen
Magyar Energetikai és Közmű-szabályozási Hivatal
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und K. Herrmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. Oktober 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 25 der Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57, berichtigt im ABl. 2004, L 16, S. 74, im Folgenden: Zweite Richtlinie) sowie der Art. 41 und 54 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55 (ABl. L 211, S. 94, im Folgenden: Dritte Richtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der E.ON Földgáz Trade Zrt. (im Folgenden: E.ON Földgáz) und der Magyar Energetikai és Közmű-szabályozási Hivatal (ungarische Regulierungsbehörde für den Energie- und Versorgungssektor, im Folgenden: Regulierungsbehörde) über die von dieser vorgenommene Änderung der im Gasnetzkodex (im Folgenden: Netzkodex) enthaltenen Vorschriften über die langfristige Kapazitätszuweisung und das Engpassmanagement.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Zweite Richtlinie
3 In Art. 25 („Regulierungsbehörden“) Abs. 5, 6 und 11 der Zweiten Richtlinie war bestimmt:
„(5) Jeder Betroffene, der hinsichtlich der in den Absätzen 1, 2 und 4 und der in Artikel 19 genannten Punkte eine Beschwerde gegen einen Fernleitungs- oder Verteilernetzbetreiber oder den Betreiber einer [Flüssig-Erdgas]-Anlage hat, kann damit die Regulierungsbehörde befassen, die als Streitbeilegungsstelle innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der Beschwerde eine Entscheidung trifft. Diese Frist kann um zwei Monate verlängert werden, wenn die Regulierungsbehörde zusätzliche Informationen anfordert. Mit Zustimmung des Beschwerdeführers ist eine weitere Verlängerung dieser Frist möglich. Eine solche Entscheidung ist verbindlich, bis sie gegebenenfalls aufgrund eines Rechtsbehelfs aufgehoben wird.
(6) Jeder Betroffene, der hinsichtlich einer gemäß den Absätzen 2, 3 oder 4 getroffenen Entscheidung über die Methoden oder, soweit die Regulierungsbehörde eine Anhörungspflicht hat, hinsichtlich der vorgeschlagenen Methoden beschwerdeberechtigt ist, kann längstens binnen zwei Monaten bzw. innerhalb einer von den Mitgliedstaaten festgelegten kürzeren Frist nach Veröffentlichung der Entscheidung bzw. des Vorschlags für eine Entscheidung eine Beschwerde im Hinblick auf die Überprüfung der Entscheidung einlegen. Eine Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung.
…
(11) Beschwerden nach den Absätzen 5 und 6 lassen die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften möglichen Rechtsbehelfe unberührt.“
Dritte Richtlinie
4 Art. 41 der Dritten Richtlinie übernimmt inhaltlich im Wesentlichen Art. 25 der Zweiten Richtlinie. Die Abs. 11, 12 und 15 von Art. 41 der Dritten Richtlinie entsprechen den Abs. 5, 6 und 11 von Art. 25 der Zweiten Richtlinie. In Art. 41 der Dritten Richtlinie ist ein Abs. 17 enthalten, der in Art. 25 der Zweiten Richtlinie keine Entsprechung hatte. Er lautet:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass auf nationaler Ebene geeignete Mechanismen bestehen, in deren Rahmen eine von einer Entscheidung der Regulierungsbehörde betroffene Partei das Recht hat, bei einer von den beteiligten Parteien und Regierungen unabhängigen Stelle Beschwerde einzulegen.“
5 In Art. 54 („Umsetzung“) der Dritten Richtlinie ist bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens am 3. März 2011 nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.
Sie wenden diese Vorschriften ab 3. März 2011 an, mit Ausnahme von Artikel 11, den sie ab 3. März 2013 anwenden.
…“
Verordnung (EG) Nr. 1775/2005
6 Zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens galt die Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. September 2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen (ABl. L 289, S. 1). Sie wurde durch die ab dem 3. März 2011 geltende Verordnung (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1775/2005 (ABl. L 211, S. 36, berichtigt im ABl. 2009, L 229, S. 29, und L 309, S. 87) aufgehoben.
7 Die Erwägungsgründe 17 und 23 der Verordnung Nr. 1775/2005 lauteten:
„(17)
Die nationalen Regulierungsbehörden sollten die Einhaltung der Regeln dieser Verordnung und der gemäß dieser Verordnung erlassenen Leitlinien gewährleisten.
…
(23) Da das Ziel dieser Verordnung, nämlich die Festlegung gerechter Regeln für die Bedingungen für den Zugang zu Erdgasfernleitungsnetzen, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.“
8 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Verordnung bestimmte in Abs. 1:
„Ziel dieser Verordnung ist die Festlegung nicht diskriminierender Regeln für die Bedingungen für den Zugang zu Erdgasfernleitungsnetzen unter Berücksichtigung der Besonderheiten nationaler und regionaler Märkte, um das reibungslose Funktionieren des Erdgasbinnenmarkts sicherzustellen.
Dieses Ziel umfasst die Festlegung von harmonisierten Grundsätzen für die Tarife oder für die bei ihrer Berechnung zugrunde gelegten Methoden, für den Zugang zum Netz, die Einrichtung von Dienstleistungen für den Netzzugang Dritter und harmonisierte Grundsätze für die Kapazitätszuweisung und das Engpassmanagement, die Festlegung der Anforderungen an die Transparenz, Regeln für den Ausgleich von Mengenabweichungen und Ausgleichsentgelte sowie die Erleichterung des Kapazitätshandels.“
9 Art. 2 Abs. 1 Nr. 11 der Verordnung lautete:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
11. ‚Netznutzer‘ einen Kunden oder einen potenziellen Kunden eines Fernleitungsnetzbetreibers und Fernleitungsnetzbetreiber selbst, sofern diese ihre Funktionen im Zusammenhang mit der Fernleitung wahrnehmen müssen“.
10 Art. 5 („Grundsätze der Kapazitätszuweisungsmechanismen und Verfahren für das Engpassmanagement“) der Verordnung sah vor:
„(1) Den Marktteilnehmern wird in allen in Artikel 6 Absatz 3 genannten maßgeblichen Punkten die größtmögliche Kapazität zur Verfügung gestellt, wobei auf die Netzintegrität und einen effizienten Netzbetrieb geachtet wird.
(2) Die Fernleitungsnetzbetreiber veröffentlichen nicht diskriminierende und transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen und setzen diese um; diese müssen
a)
angemessene ökonomische Signale für die effiziente und maximale Nutzung der technischen Kapazität liefern und Investitionen in neue Infrastruktur erleichtern;
b)
die Kompatibilität mit den Marktmechanismen einschließlich Spotmärkten und ‚Trading Hubs‘ sicherstellen und gleichzeitig flexibel und in der Lage sein, sich einem geänderten Marktumfeld anzupassen;
c)
mit den Netzzugangsregelungen der Mitgliedstaaten kompatibel sein.
(3) Schließen Fernleitungsnetzbetreiber neue Transportverträge ab oder handeln sie laufende Verträge neu aus, so berücksichtigen diese Verträge folgende Grundsätze:
a)
Im Falle vertraglich bedingter Engpässe bietet der Fernleitungsnetzbetreiber ungenutzte Kapazität auf dem Primärmarkt zumindest auf ‚Day-ahead‘-Basis (für den folgenden Gastag) und als unterbrechbare Kapazität an;
b)
Netznutzer, die ihre ungenutzte, kontrahierte Kapazität auf dem Sekundärmarkt weiterverkaufen oder verpachten wollen, sind hierzu berechtigt. Die Mitgliedstaaten können eine Benachrichtigung oder Unterrichtung des Fernleitungsnetzbetreibers durch die Netznutzer verlangen.
(4) Bleiben Kapazitäten im Rahmen bestehender Transportverträge ungenutzt und entsteht ein vertraglich bedingter Engpass, so wenden die Fernleitungsnetzbetreiber Absatz 3 an, es sei denn, dadurch würde gegen die Anforderungen bestehender Transportverträge verstoßen. Würde dadurch gegen bestehende Transportverträge verstoßen, so richten die Fernleitungsnetzbetreiber nach Rücksprache mit den zuständigen Behörden gemäß Absatz 3 ein Gesuch an die Netznutzer für die Nutzung der ungenutzten Kapazität auf dem Sekundärmarkt.
(5) Im Falle physischer Engpässe wenden die Fernleitungsnetzbetreiber oder gegebenenfalls die Regulierungsbehörden nicht diskriminierende, transparente Kapazitätszuweisungsmechanismen an.“
11 In Art. 9 („Leitlinien“) Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1775/2005 war bestimmt:
„(1) Gegebenenfalls bestimmen Leitlinien, die für das zur Erreichung des Ziels dieser Verordnung erforderliche Mindestmaß an Harmonisierung sorgen, Folgendes:
…
b)
die Einzelheiten der Grundsätze der Kapazitätszuweisungsmechanismen und der Anwendung von Engpassmanagementverfahren bei vertraglich bedingten Engpässen gemäß Artikel 5;
…
(2) Leitlinien zu den in Absatz 1 aufgeführten Punkten sind im Anhang enthalten. Sie können von der Kommission geändert werden; dies geschieht nach dem in Artikel 14 Absatz 2 genannten Verfahren.
…“
12 Art. 10 („Regulierungsbehörden“) der Verordnung bestimmte in Abs. 1:
„Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben aufgrund dieser Verordnung sorgen die nach Artikel 25 der [Zweiten Richtlinie] eingerichteten Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten für die Einhaltung dieser Verordnung und der gemäß Artikel 9 dieser Verordnung angenommenen Leitlinien.“
13 Der Anhang der Verordnung Nr. 1775/2005 enthält die in deren Art. 9 vorgesehenen Leitlinien. Sein Abschnitt 2 definiert insbesondere die „Grundsätze der Kapazitätszuweisungsmechanismen, Engpassmanagementverfahren und ihre Anwendung bei vertraglich bedingten Engpässen“.
14 Nach ihrem Art. 17 Abs. 2 galt die Verordnung Nr. 1775/2005 ab dem 1. Juli 2006.
Ungarisches Recht
15 Die Vorschriften des innerstaatlichen Rechts über die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse sind im Gesetz Nr. III von 1952 zur Einführung der Zivilprozessordnung (A polgári perrendtartásról szóló 1952. évi III. törvény) und im Gesetz Nr. CXL von 2004 mit allgemeinen Vorschriften für Verwaltungsverfahren und die Leistungsverwaltung (A közigazgatási hatósági eljárás és szolgáltatás általános szabályairól szóló 2004. évi CXL. törvény) enthalten.
16 In Art. 110 des Gesetzes Nr. XL von 2008 über die Erdgasversorgung (A földgázellátásról szóló 2008. évi XL törvény) heißt es:
„(1) Der Netzbetreiber arbeitet die Regeln, Verfahren und Methoden in Bezug auf den Betrieb des Erdgasverbundnetzes, die inhaltlichen Mindestbestandteile der Vereinbarungen zum Handel, zur Verrechnungsmessung und zum Datenverkehr sowie den detaillierte Regeln zur Schaffung des Tagesgleichgewichts enthaltenden Netzkodex aus. …
(2) Der Netzkodex ist unter Berücksichtigung der Versorgungssicherheit, der Qualitätsanforderungen, der Wettbewerbsneutralität und des freien Zugangs zum Erdgasverbundnetz auszuarbeiten. Dabei muss der Betreiber die Stellungnahme des gemäß besonderen Rechtsvorschriften gebildeten und tätigen Netzkodexausschusses anfordern.
(3) Der Betreiber überprüft in jedem Jahr den gemäß Absatz 2 ausgearbeiteten Netzkodex, holt dabei die Stellungnahme des Netzkodexausschusses ein und legt [die vorgeschlagene(n) Änderung(en)] im Falle einer Änderung – zusammen mit den eingegangenen Stellungnahmen – bis zum 31. Oktober jedes Jahres der Regulierungsbehörde zur Genehmigung vor. Die Regulierungsbehörde verweigert die Genehmigung des Netzkodexes, wenn dieser rechtswidrig ist oder einen effizienten Wettbewerb bzw. die Durchführung der bei der Gebührenregulierung festgehaltenen Grundsätze und Regeln behindert oder gegenüber einzelnen Kunden die Anwendung von unbegründeten Differenzierungen ermöglicht, und verpflichtet den Betreiber – unter Fristsetzung und Angabe von Gründen – zur Überarbeitung und neuerlichen Einreichung des Entwurfs. Die einschlägigen Vorschriften des genehmigten Netzkodexes sind von den Inhabern einer Genehmigung, den Erdgasförderunternehmen, den Netzbenutzern und den Kunden einzuhalten.
(4) Im Falle einer Änderung einer Rechtsvorschrift oder wenn der Netzkodex einen effizienten Wettbewerb bzw. die Durchführung der bei der Gebührenregulierung festgehaltenen Grundsätze und Regeln behindert oder gegenüber einzelnen Kunden die Anwendung von unbegründeten Differenzierungen ermöglicht, verpflichtet die Regulierungsbehörde in Abstimmung mit den Inhabern einer Genehmigung und den Netzbenutzern den Betreiber – unter Fristsetzung und Angabe von Gründen – zur Änderung des Kodexes. Unterbleibt die Änderung, kann die Regulierungsbehörde eine Geldbuße verhängen und den Kodex von Amts wegen ändern.
(5) Die Inhaber einer Genehmigung veröffentlichen den Netzkodex und dessen Änderungen zusammen mit den Genehmigungsentscheidungen [der Regulierungsbehörde] – in einer konsolidierten Fassung – auf ihrer Website.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17 E.ON Földgáz stellte als Inhaberin einer Genehmigung zum Transport von Erdgas beim ungarischen Betreiber des Gasfernleitungsnetzes, der FGSZ Földgázszállító Zrt. (im Folgenden: Netzbetreiber), vier Anträge auf langfristige Kapazitätszuweisung am Importeinspeisungspunkt der Gasleitung zwischen Ungarn und Österreich (Hungarian-Austrian gas interconnector).
18 Da diese Anträge die am genannten Einspeisungspunkt nach dem 1. Juli 2010 verfügbare Kapazität erheblich überstiegen, bat der Netzbetreiber die Regulierungsbehörde, ihm mitzuteilen, wie mit den Anträgen zu verfahren sei.
19 Die Regulierungsbehörde kam dieser Bitte nach und erließ die Entscheidung Nr. 98/2010 vom 22. Februar 2010, mit der die Entscheidung vom 25. Januar 2010 über die Genehmigung des Netzkodexes geändert wurde.
20 Mit der Entscheidung Nr. 98/2010 wurden die Vorschriften des Netzkodexes über die Zuweisung von Kapazität für einen über ein Gasjahr hinausgehenden Zeitraum (im Folgenden: langfristige Kapazität) neu definiert. Nach den Angaben in der angefochtenen Entscheidung wurden mit dieser Entscheidung auch die Vorschriften über das Engpassmanagement geändert.
21 Vor seiner Änderung durch die Entscheidung Nr. 98/2010 sah der Netzkodex vor, dass der Netzbetreiber Anträge auf Zuweisung langfristiger Kapazität in der Reihenfolge ihres Eingangs prüfte und entsprechende Kapazität, sofern vorhanden, durch den Abschluss eines Vertrags mit den Antragstellern zuwies.
22 Nach den durch die Entscheidung Nr. 98/2010 geänderten Vorschriften hat der Netzbetreiber für das Gasjahr 2010/2011 dem Abschluss von langfristigen Verträgen 80 % der verfügbaren Kapazität und dem Abschluss von Jahresverträgen für dieses Gasjahr 20 % der Kapazität vorzubehalten. Für die folgenden Gasjahre sieht die Entscheidung vor, dass die Zuweisung langfristiger Kapazität und der tatsächliche Abschluss der Verträge ab dem Gasjahr 2011/2012 nach neuen Vorschriften zu erfolgen haben, die vom Netzbetreiber unter Beteiligung der Erdgaslieferanten zu erarbeiten und der Regulierungsbehörde zur Genehmigung vorzulegen sind.
23 Die Regulierungsbehörde begründete die Ausarbeitung dieser neuen Vorschriften damit, dass das ursprüngliche Verfahren der Kapazitätszuweisung die Entwicklung des Wettbewerbs beeinträchtigt und den Markteintritt neuer Wirtschaftsteilnehmer behindert habe.
24 E.ON Földgáz erhob beim Fővárosi bíróság (Hauptstadtgericht Budapest) am 27. März 2010 Klage auf Aufhebung der in der Entscheidung Nr. 98/2010 enthaltenen Bestimmungen über die Modalitäten der Kapazitätszuweisung für das Gasjahr 2010/2011. Ihre Klage wurde am 3. November 2011 abgewiesen.
25 Das Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Berufungsgericht) wies am 9. Mai 2012 auch die von E.ON Földgáz eingelegte Berufung zurück. Es begründete seine Entscheidung damit, dass E.ON Földgáz im Rahmen eines Verfahrens der gerichtlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung über den Netzkodex nicht klagebefugt sei. Die genannte Gesellschaft habe nämlich nicht dargetan, dass sie im Hinblick auf die angefochtenen Bestimmungen der Entscheidung Nr. 98/2010 ein einschlägiges unmittelbares Interesse hätte. Sie habe keinen Vertrag mit dem Netzbetreiber geschlossen, und in der Entscheidung sei nur von diesem die Rede.
26 E.ON Földgáz legte daraufhin beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein. Sie macht geltend, sie habe ein unmittelbares Interesse, das ihr eine Klagebefugnis verschaffe. Mit der Entscheidung Nr. 98/2010 seien nämlich die Vorschriften des Netzkodexes geändert worden, auf deren Grundlage sie als Inhaberin einer Genehmigung zum Transport von Erdgas Anträge auf Kapazitätszuweisung gestellt habe. Außerdem sei durch die neuen Vorschriften ihr Recht zum Abschluss von Verträgen über die beantragte Kapazität beschränkt worden. Insoweit sei es unerheblich, ob zwischen ihr und dem Netzbetreiber ein laufender Vertrag bestehe, da im Netzkodex u. a. das Verfahren zum Abschluss solcher Verträge geregelt sei. Im Übrigen sei die Entscheidung Nr. 98/2010 auf ihre Anträge hin erlassen worden. Nach dem Gesetz Nr. XL von 2008 über die Erdgasversorgung sei der Netzbetreiber verpflichtet, sie als Erdgaslieferanten beim Verfahren zur Ausarbeitung des neuen Netzkodexes zu konsultieren.
27 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass ein Beteiligter eines Verwaltungsverfahrens nach ungarischem Recht in Bezug auf eine Verwaltungsentscheidung nur klagebefugt sei, wenn sich seine Klage gegen eine Bestimmung einer solchen Entscheidung richte, die seine Rechte unmittelbar betreffe. Es fragt sich deshalb, ob das von E.ON Földgáz angeführte Interesse, das von ihm als wirtschaftliches Interesse eingestuft wird, ein unmittelbares Interesse darstellen kann, das der genannten Gesellschaft im Rahmen einer Klage gegen eine Regulierungsentscheidung im Energiesektor eine Klagebefugnis verleihen kann.
28 Das vorlegende Gericht hält eine Auslegung des in der Zweiten und der Dritten Richtlinie enthaltenen Begriffs des Betroffenen für erforderlich. Im Rahmen von Klagen gegen Entscheidungen der Regulierungsbehörden im Bereich der elektronischen Kommunikation habe der Gerichtshof diesen Begriff zwar bereits ausgelegt (Urteile Tele2 Telecommunication, C‑426/05, EU:C:2008:103, und Arcor, C‑55/06, EU:C:2008:244). Zur Regulierung des Energiesektors, insbesondere zu den Entscheidungen über die Netzkodexe, gebe es aber noch keine Rechtsprechung.
29 Die Kúria (Oberster Gerichtshof) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die in Art. 25 der Zweiten Richtlinie enthaltenen Bestimmungen, die den Kreis der zur Einlegung eines Rechtsbehelfs Berechtigten festlegen, im Fall einer während der Geltung dieser Richtlinie ergangenen Verwaltungsentscheidung anwendbar, oder sind im anhängigen Gerichtsverfahren die Bestimmungen des Art. 41 der während des Gerichtsverfahrens in Kraft getretenen Dritten Richtlinie zu beachten, weil die Vorschriften dieser Richtlinie nach ihrem Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 ab 3. März 2011 anzuwenden sind?
2. Falls die Dritte Richtlinie anzuwenden ist: Kann bei einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der ein Netzkodex genehmigt oder sein Inhalt festgelegt wird, der Inhaber einer Vertriebslizenz, der – wie im vorliegenden Rechtsstreit – über ein wirtschaftliches Interesse verfügt, als „betroffene Partei“ im Sinne des Art. 41 Abs. 17 dieser Richtlinie angesehen werden, oder ist nur der Netzbetreiber, der befugt ist, die Genehmigung des Netzkodexes zu beantragen, betroffene Partei?
3. Falls die Zweite Richtlinie anzuwenden ist: Fallen die Genehmigung bzw. die Änderung des Netzkodexes in seinem die Prüfung von Anträgen auf Kapazitätszuweisung betreffenden Teil, wie sie im vorliegenden Rechtsstreit erfolgt sind, unter die in Art. 25 Abs. 5 und 6 der Zweiten Richtlinie geregelten Tatbestände?
4. Falls der Sachverhalt, um den es im Ausgangsverfahren geht, unter Art. 25 Abs. 6 der Zweiten Richtlinie fällt: Kann bei einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der ein Netzkodex genehmigt oder sein Inhalt festgelegt wird, der Inhaber einer Vertriebslizenz, der – wie im vorliegenden Rechtsstreit – über ein wirtschaftliches Interesse verfügt, als „Betroffener“ angesehen werden, oder ist nur der Netzbetreiber, der befugt ist, die Genehmigung des Kodexes zu beantragen, betroffene Partei?
5. Wie ist Art. 25 Abs. 11 der Zweiten Richtlinie auszulegen, nach dem Beschwerden im Sinne der Abs. 5 und 6 die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften möglichen Rechtsbehelfe unberührt lassen, wenn sich aus den Antworten auf die vorhergehenden Fragen ergibt, dass die Voraussetzungen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften enger sind als die, die sich aus der Richtlinie oder dem Unionsrecht ergeben?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
30 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Dritte Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 3. März 2011 ablief, und insbesondere die neuen Bestimmungen in ihrem Art. 41 Abs. 17 dahin auszulegen sind, dass sie auf eine Klage anwendbar ist, die gegen eine vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist ergangene Entscheidung einer Regulierungsbehörde – wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht – erhoben wurde und bei Ablauf dieser Frist immer noch anhängig war.
31 Nach Art. 41 Abs. 17 der Dritten Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass auf nationaler Ebene geeignete Mechanismen bestehen, in deren Rahmen eine von einer Entscheidung der Regulierungsbehörde betroffene Partei das Recht hat, bei einer von den beteiligten Parteien und Regierungen unabhängigen Stelle Beschwerde einzulegen.
32 Nach ihrem Wortlaut ist diese Bestimmung auf Sachverhalte anwendbar, in denen die Regulierungsbehörde eine Entscheidung erlassen hat, durch die eine Partei in ihren Rechten betroffen ist. Mithin kommt es bei der Beurteilung der Frage, ob ein Sachverhalt unter Art. 41 Abs. 17 der Dritten Richtlinie fällt, auf den Zeitpunkt des Erlasses einer solchen Entscheidung an.
33 Art. 41 Abs. 17 der Dritten Richtlinie ist also dahin auszulegen, dass er nicht für Entscheidungen der Regulierungsbehörde gilt, die vor dem Ablauf der in Art. 54 Abs. 1 der Richtlinie geregelten Frist zu ihrer Umsetzung, d. h. vor dem 3. März 2011, erlassen wurden.
34 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem die Entscheidung Nr. 98/2010 am 22. Februar 2010 erlassen wurde, also vor dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Dritten Richtlinie, ist die Dritte Richtlinie demnach nicht anwendbar.
35 Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Dritte Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 3. März 2011 ablief, und insbesondere die neuen Bestimmungen in ihrem Art. 41 Abs. 17 dahin auszulegen sind, dass sie nicht auf eine Klage anwendbar ist, die gegen eine vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist ergangene Entscheidung einer Regulierungsbehörde – wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht – erhoben wurde und bei Ablauf dieser Frist immer noch anhängig war.
Zur zweiten Frage
36 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Zur dritten, zur vierten und zur fünften Frage
37 Mit der dritten, der vierten und der fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung über die Erhebung von Klagen vor dem für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten einer Regulierungsbehörde zuständigen Gericht entgegensteht, nach der einem Wirtschaftsteilnehmer wie E.ON Földgáz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens keine Befugnis zur Klageerhebung gegen eine Entscheidung der Regulierungsbehörde über den Netzkodex zuerkannt werden kann.
38 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 36 und 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, enthält die Zweite Richtlinie keine besondere Bestimmung, die den Wirtschaftsteilnehmern ein Recht einräumt, gegen Entscheidungen der Regulierungsbehörde wie die Entscheidung Nr. 98/2010 zu klagen.
39 Die zeitlich auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbare Verordnung Nr. 1775/2005 legt jedoch harmonisierte Regeln für den Zugang der Marktteilnehmer zum Erdgasfernleitungsnetz fest.
40 Nach dem 23. Erwägungsgrund und nach Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung ist deren Ziel die Festlegung nicht diskriminierender Regeln für die Bedingungen für den Zugang zu Erdgasfernleitungsnetzen unter Berücksichtigung der Besonderheiten nationaler und regionaler Märkte, um das reibungslose Funktionieren des Erdgasbinnenmarkts sicherzustellen.
41 In diesem Rahmen geht aus Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung hervor, dass sie insbesondere zur Festlegung harmonisierter Grundsätze für die Kapazitätszuweisungsmechanismen und das Verfahren für das Engpassmanagement dient.
42 Art. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 enthält die Grundsätze, die der Netzbetreiber bei der Durchführung dieser Mechanismen und Verfahren zu beachten hat, um zu gewährleisten, dass die Marktteilnehmer unter nicht diskriminierenden und transparenten Bedingungen Zugang zum Leitungsnetz haben. Nach Art. 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung werden die Einzelheiten der Grundsätze von Art. 5 in den Leitlinien im Anhang der Verordnung bestimmt.
43 Außerdem ergibt sich aus dem 17. Erwägungsgrund und aus Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1775/2005, dass die Regulierungsbehörden bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben für die Einhaltung der in Art. 5 und im Anhang der Verordnung genannten Grundsätze zu sorgen haben.
44 Folglich hat eine Regulierungsbehörde, wenn sie wie im Ausgangsverfahren eine Entscheidung erlässt, mit der die Vorschriften des Netzkodexes über die Kapazitätszuweisung und das Engpassmanagement durch den Netzbetreiber geändert werden, für die Einhaltung der durch die Verordnung Nr. 1775/2005 festgelegten und insbesondere der in Art. 5 der Verordnung in Verbindung mit deren Anhang enthaltenen Grundsätze zu sorgen.
45 Zu der Frage, ob Art. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 in Verbindung mit deren Anhang einem Wirtschaftsteilnehmer wie E.ON Földgáz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens Rechte verleiht, die die Regulierungsbehörde zu beachten hat, wenn sie eine Entscheidung erlässt, mit der die Verpflichtungen geändert werden, die sich für den Netzbetreiber hinsichtlich der Verfahren zur Regelung des Netzzugangs aus dem Kodex ergeben, ist festzustellen, dass E.ON Földgáz als Inhaberin einer Genehmigung zum Transport von Erdgas im Netz als Netznutzerin im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Nr. 11 der Verordnung Nr. 1775/2005 anzusehen ist. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung kommt es nämlich nicht darauf an, ob ein solcher Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich einen Vertrag mit dem Netzbetreiber abgeschlossen hat, da als „Netznutzer“ jeder Kunde oder potenzielle Kunde des Netzbetreibers gilt.
46 Sodann sind die in Art. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 in Verbindung mit deren Anhang enthaltenen Grundsätze angesichts des oben in Rn. 41 angeführten Ziels dieser Verordnung dahin auszulegen, dass sie Schutzmaßnahmen im Interesse der Nutzer, die Zugang zum Netz erhalten möchten, darstellen und somit Rechte für diese begründen können (vgl. entsprechend Urteil Tele2 Telecommunication, C‑426/05, EU:C:2008:103, Rn. 34).
47 Insbesondere geht in Bezug auf die Kapazitätszuweisungsmechanismen und die Engpassmanagementverfahren aus Abschnitt 2.1.3. des Anhangs der Verordnung Nr. 1775/2005 hervor, dass diese Mechanismen und Verfahren weder den Markteintritt neuer Marktteilnehmer behindern noch übermäßige Markteintrittshindernisse schaffen. Außerdem hindern sie Marktteilnehmer, einschließlich neuer Marktteilnehmer und Unternehmen mit kleinem Marktanteil, nicht am wirksamen Wettbewerb.
48 Demnach stehen einem Wirtschaftsteilnehmer wie E.ON Földgáz unter den Umständen des Ausgangsverfahrens bestimmte Rechte aus Art. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 in Verbindung mit deren Anhang zu, so dass davon auszugehen ist, dass er durch eine Entscheidung der Regulierungsbehörde, mit der die Vorschriften des Netzkodexes zur Kapazitätszuweisung und zum Engpassmanagement geändert werden, potenziell in seinen Rechten betroffen ist.
49 Nach ständiger Rechtsprechung ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten allerdings für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind (Urteil Mono Car Styling, C‑12/08, EU:C:2009:466, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 So ist es zwar grundsätzlich Sache des nationalen Rechts, die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen zu bestimmen, doch verlangt das Unionsrecht über die Einhaltung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität hinaus, dass die nationalen Rechtsvorschriften das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehene Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Mono Car Styling, C‑12/08, EU:C:2009:466, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Somit ist auf die dritte, die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 1775/2005 in Verbindung mit deren Anhang und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung über die Erhebung von Klagen vor dem für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten einer Regulierungsbehörde zuständigen Gericht entgegenstehen, nach der einem Wirtschaftsteilnehmer wie E.ON Földgáz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens keine Befugnis zur Klageerhebung gegen eine Entscheidung der Regulierungsbehörde über den Netzkodex zuerkannt werden kann.
Kosten
52 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, deren Umsetzungsfrist am 3. März 2011 ablief, und insbesondere die neuen Bestimmungen in ihrem Art. 41 Abs. 17 sind dahin auszulegen, dass sie nicht auf eine Klage anwendbar ist, die gegen eine vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist ergangene Entscheidung einer Regulierungsbehörde – wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht – erhoben wurde und bei Ablauf dieser Frist immer noch anhängig war.
2. Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. September 2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen in Verbindung mit dem Anhang dieser Verordnung und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung über die Erhebung von Klagen vor dem für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten einer Regulierungsbehörde zuständigen Gericht entgegenstehen, nach der einem Wirtschaftsteilnehmer wie der E.ON Földgáz Trade Zrt. unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens keine Befugnis zur Klageerhebung gegen eine Entscheidung der Regulierungsbehörde über den Netzkodex zuerkannt werden kann.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 19. März 2015. # Chin Haur Indonesia, PT gegen Rat der Europäischen Union. # Rechtssache T-412/13.
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62013TJ0412
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ECLI:EU:T:2015:163
| 2015-03-19T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑412/13
Chin Haur Indonesia, PT mit Sitz in Tangerang (Indonesien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte T. Müller‑Ibold und F.‑C. Laprévote,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch S. Boelaert als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt R. Bierwagen,
Beklagter,
unterstützt durch:
Europäische Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland und M. França als Bevollmächtigte,
und
Maxcom Ltd mit Sitz in Plovdiv (Bulgarien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt L. Ruessmann und J. Beck, Solicitor,
Streithelferinnen,
wegen teilweiser Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 501/2013 des Rates vom 29. Mai 2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht (ABl. L 153, S. 1)
erlässt
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. van der Woude (Berichterstatter), der Richterin I. Wiszniewska‑Białecka und des Richters I. Ulloa Rubio,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2014
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1. Die Klägerin, die Chin Haur Indonesia, PT ist ein Unternehmen taiwanesischen Ursprungs, das Fahrräder aus Indonesien in die Europäische Union einführt. Sie rügt die Ausweitung des durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 des Rates vom 3. Oktober 2011 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China im Anschluss an eine Auslaufüberprüfung nach Artikel 11 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 (ABl. L 261, S. 2) eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf bestimmte indonesische Unternehmen.
Die wesentlichen ursprünglichen Antidumping- und Antisubventionsverfahren
2. Mit der Verordnung (EWG) Nr. 2474/93 vom 8. September 1993 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Antidumpingzolls (ABl. L 228, S. 1) führte der Rat der Europäischen Gemeinschaften auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in China einen endgültigen Antidumpingzoll von 30,6 % ein.
3. Im Anschluss an eine Auslaufüberprüfung nach seiner Verordnung (EG) Nr. 384/96 vom 22. Dezember 1995 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. 1996, L 56, S. 1) in geänderter Fassung (ersetzt durch die Verordnung [EG] Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern [ABl. L 343, S. 51, Berichtigung ABl. 2010, L 7, S. 22, im Folgenden: Grundverordnung]) und insbesondere nach Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 384/96 (jetzt Art. 11 Abs. 2 der Grundverordnung) bestätigte der Rat mit der Verordnung (EG) Nr. 1524/2000 vom 10. Juli 2000 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. L 175, S. 39) den Antidumpingzoll von 30,6 %.
4. Im Anschluss an eine Interimsüberprüfung nach Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 384/96 (jetzt Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung) erhöhte der Rat mit der Verordnung (EG) Nr. 1095/2005 vom 12. Juli 2005 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in Vietnam und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1524/2000 (ABl. L 183, S. 1) den geltenden Antidumpingzoll auf 48,5 %.
5. Im Oktober 2011 bestätigte der Rat im Anschluss an eine Auslaufüberprüfung nach Art. 11 Abs. 2 der Grundverordnung mit der Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 den Antidumpingzoll von 48,5 %.
6. Im April 2012 machte die Europäische Kommission die Einleitung eines Antisubventionsverfahrens betreffend die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in China in die Union nach Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 597/2009 des Rates vom 11. Juni 2009 über den Schutz gegen subventionierte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. L 188, S. 93) bekannt.
7. Am 22. Mai 2013 erließ die Kommission den Beschluss 2013/227/EU zur Einstellung des Antisubventionsverfahrens betreffend die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. L 136, S. 15), ohne andere Antisubventionsmaßnahmen einzuführen. Am 29. Mai 2013 erließ der Rat im Anschluss an eine Interimsüberprüfung nach Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung die Verordnung (EU) Nr. 502/2013 zur Änderung der Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 (ABl. L 153, S. 17).
Umgehungsverfahren
8. Am 14. August 2012 wurde die Kommission mit einem im Namen von drei Fahrradherstellern der Union eingereichten Antrag des Europäischen Fahrradherstellerverbands (European Bicycle Manufacturers Association – EBMA) befasst, mit dem sie ersucht wurde, zum einen eine mutmaßliche Umgehung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber der Einfuhr von Fahrrädern mit Ursprung in China zu untersuchen und zum anderen die aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandten Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas und Tunesiens angemeldet oder nicht, zollamtlich zu erfassen.
9. Am 25. September 2012 erließ die Kommission die Verordnung (EU) Nr. 875/2012 zur Einleitung einer Untersuchung betreffend die mutmaßliche Umgehung der mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 des Rates eingeführten Antidumpingmaßnah men gegenüber den Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China durch aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht, und zur zollamtlichen Erfassung dieser Einfuhren (ABl. L 258, S. 21).
10. Mit dieser Untersuchung sollte u. a. die mutmaßliche Veränderung des Handelsgefüges nach der Erhöhung des Antidumpingzolls im Jahr 2005 geprüft werden. Sie bezog sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis zum 31. August 2012 (im Folgenden: Untersuchungszeitraum). Für den Zeitraum vom 1. September 2011 bis zum 31. August 2012 (im Folgenden: Berichtszeitraum) wurden ausführlichere Informationen eingeholt, um eine mögliche Untergrabung der Abhilfewirkung der geltenden Maßnahmen sowie das Vorliegen eines Dumpings zu untersuchen.
11. Die Klägerin wurde von der Einleitung der Umgehungsuntersuchung unterrichtet und erhielt am 26. September 2012 ein Formular zur Beantragung einer Befreiung. Dieses sollte sie bis zum 2. November 2012 auf elektronischem Weg beantworten.
12. Am 5. November 2012 ging bei der Kommission eine Papierfassung des Befreiungsantrags der Klägerin ein. Die Klägerin gab darin insbesondere an, keine Montagearbeiten in einem Drittstaat im Sinne von Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung vorgenommen zu haben.
13. Mit Schreiben vom 27. November 2012 forderte die Kommission die Klägerin auf, ihr bei dem Kontrollbesuch bestimmte Unterlagen, insbesondere die zum Ausfüllen des Befreiungsantrags verwendeten Arbeitsblätter, zur Verfügung zu stellen. Die Klägerin bestätigte den Erhalt dieses Schreibens am 28. November 2012.
14. Mit einem weiteren Schreiben vom 29. November 2012 forderte die Kommission die Klägerin auf, ihr bis zum 3. Dezember 2012 zu 13 in dem Befreiungsantrag fehlenden Angaben neue Informationen zu übermitteln. Am 3. und am 4. Dezember 2012 übersandte die Klägerin der Kommission eine Reihe von Unterlagen.
15. Am 6. und am 7. Dezember 2012 fand in den Geschäftsräumen der Klägerin der Kontrollbesuch statt. Dabei legte die Klägerin der Kommission einen überarbeiteten Befreiungsantrag vor.
16. Am 28. Januar 2013 kündigte die Kommission der Klägerin an, dass sie beabsichtige, ihr gegenüber Art. 18 der Grundverordnung anzuwenden. Die Klägerin nahm am 4. Februar 2013 Stellung.
17. Am 21. März 2013 übermittelte die Kommission der Klägerin sowie den indonesischen und den chinesischen Behörden das allgemeine Informationsdokument, in dem sie ihre Schlussfolgerungen zu Versand- und Montagevorgängen darlegte und ihre Absicht bekundete, eine Ausweitung der für Einfuhren von Fahrrädern aus China eingeführten Antidumpingmaßnahmen auf Einfuhren aus Indonesien vorzuschlagen. In Anhang B des allgemeinen Informationsdokuments wies die Kommission den Befreiungsantrag der Klägerin insbesondere aufgrund der Unzuverlässigkeit der vorgelegten Informationen zurück.
18. Die Klägerin trat den in dem allgemeinen Informationsdokument gezogenen Schlussfolgerungen mit Schreiben vom 9. April 2013 entgegen. Am 28. Mai 2013 gab sie dazu eine weitere Stellungnahme ab.
19. Am 29. Mai 2013 erließ der Rat die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 501/2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht (ABl. L 153, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung).
Angefochtene Verordnung
20. In den Erwägungsgründen 28 bis 33 der angefochtenen Verordnung stellte der Rat zum einen fest, dass vier indonesische Unternehmen, auf die im Berichtszeitraum 91 % aller Einfuhren aus Indonesien in die Union entfallen seien, einen Befreiungsantrag nach Art. 13 Abs. 4 der Grundverordnung gestellt hätten. Zum anderen war der Rat der Ansicht, dass die Angaben, die eines dieser Unternehmen vorgelegt habe, nicht nachprüfbar und unzuverlässig seien. Trotz der eingegangenen Stellungnahmen meinte der Rat, dass die von diesem Unternehmen übermittelten Informationen nicht berücksichtigt werden könnten. Daher wurden die es betreffenden Schlussfolgerungen gemäß Art. 18 der Grundverordnung auf der Grundlage der verfügbaren Informationen getroffen. Die drei anderen Unternehmen wurden als kooperierende Unternehmen betrachtet.
21. In den Erwägungsgründen 45 bis 58 der angefochtenen Verordnung stellte der Rat nach einer Untersuchung der Entwicklung der Handelsströme zwischen China, Indonesien und der Union sowie der Entwicklung der Produktionsmengen fest, dass nach der Erhöhung der Antidumpingzölle im Juli 2005 eine Veränderung des Handelsgefüges im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung zwischen Indonesien und der Union eingetreten sei.
22. In den Erwägungsgründen 59 bis 67 der angefochtenen Verordnung untersuchte der Rat die Art der ausgeübten Umgehungspraktiken.
23. In den Erwägungsgründen 60 bis 64 der angefochtenen Verordnung prüfte der Rat, ob sich Versandpraktiken feststellen ließen. Er kam zunächst zu dem Ergebnis, dass in Bezug auf die drei kooperierenden Unternehmen keine Versandpraktiken festgestellt worden seien. Hinsichtlich des Unternehmens, auf das nach Ansicht des Rates Art. 18 der Grundverordnung anzuwenden war, führte er dagegen aus, dass „[d]ie Untersuchung ergab, dass das Unternehmen nicht über die nötige eigene Ausrüstung verfügte, die die für den [Berichtszeitraum] verzeichneten Ausfuhrmengen in die Union hätten rechtfertigen können“, und dass, „da das Unternehmen keine andere Begründung vorbrachte, … der Schluss gezogen werden [kann], dass das Unternehmen an Umgehungspraktiken im Wege des Versands beteiligt war“ (62. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung). Angesichts der Veränderung des Handelsgefüges, der Feststellungen in Bezug auf das Unternehmen, auf das Art. 18 der Grundverordnung anwendbar sei, und des Umstands, dass sich nicht alle indonesischen ausführenden Hersteller gemeldet und somit nicht alle kooperiert hätten, kam der Rat zu dem Schluss, dass Waren chinesischen Ursprungs über Indonesien versandt worden seien.
24. In den Erwägungsgründen 65 bis 67 der angefochtenen Verordnung prüfte der Rat, ob Montagevorgänge vorlagen. Er gelangte zu dem Schluss, dass zum einen in Bezug auf die drei kooperierenden Unternehmen keine Montagevorgänge festgestellt worden seien und dass er zum anderen nicht habe feststellen können, ob das vierte Unternehmen, auf das Art. 18 der Grundverordnung angewandt worden sei, an Montagevorgängen beteiligt gewesen sei. Das Vorliegen von in Indonesien vorgenommenen Montagevorgängen im Sinne von Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung wurde daher nicht festgestellt.
25. Im 92. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hob der Rat hervor, dass die Untersuchung keine andere hinreichende Begründung oder wirtschaftliche Rechtfertigung erbracht habe als die Absicht, die geltenden Maßnahmen gegenüber der betroffenen Ware zu vermeiden.
26. In den Erwägungsgründen 94 und 95 der angefochtenen Verordnung hob der Rat zum einen hervor, dass der Vergleich der in der Interimsüberprüfung von 2005 festgestellten Schadensbeseitigungsschwelle mit dem gewogenen durchschnittlichen Ausfuhrpreis im Berichtszeitraum eine deutliche Zielpreisunterbietung ergeben habe. Zum anderen wies er darauf hin, dass der Anstieg der Einfuhren aus Indonesien in die Union in Bezug auf die Mengen als erheblich anzusehen sei. Der Rat kam daher im 96. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung zu dem Schluss, dass die geltenden Maßnahmen im Hinblick auf Mengen und Preise untergraben würden.
27. In den Erwägungsgründen 99 bis 102 der angefochtenen Verordnung prüfte der Rat gemäß Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung, ob Beweise für ein Dumping im Verhältnis zu dem Normalwert vorlagen, der bei der 2005 abgeschlossenen Interimsüberprüfung festgestellt worden sei. Um die Preise der Ausfuhren aus Indonesien zu ermitteln, die Gegenstand von Umgehungspraktiken seien, wurden nur die Ausfuhren der ausführenden Hersteller berücksichtigt, die nicht kooperiert hatten. Anschließend wurden die besten verfügbaren Informationen, im vorliegenden Fall der Durchschnittspreis für die Ausfuhr von Fahrrädern aus Indonesien in die Union während des Berichtszeitraums, der in der Comext-Datenbank von Eurostat verzeichnet war, herangezogen. Nach mehreren Berichtigungen des Normalwerts und des Ausfuhrpreises ergab sich aus dem Vergleich der beiden Variablen nach Ansicht des Rates ein Dumping.
28. Nach alledem gelangte der Rat zu dem Schluss, dass eine Umgehung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung in Form eines Versands über Indonesien vorliege. Er weitete daher den in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 990/2011 vorgesehenen endgültigen Antidumpingzoll von 48,5 % auf die Einfuhren der in Rede stehenden aus Indonesien versandten Ware, ob als Ursprungserzeugnis Indonesiens angemeldet oder nicht, aus. Nach den oben in Rn. 20 angeführten Feststellungen gewährte der Rat drei der vier Ausführer, die einen Befreiungsantrag gestellt hatten, eine Befreiung von den ausgeweiteten Maßnahmen.
Verfahren und Anträge der Parteien
29. Mit Klageschrift, die am 9. August 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
30. Mit besonderem Schriftsatz, der der Klageschrift beigefügt war, hat die Klägerin außerdem beantragt, über diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren nach Art. 76a der Verfahrensordnung des Gerichts zu entscheiden.
31. Infolge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern ist der Berichterstatter der Siebten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb zugewiesen worden ist.
32. Dem Antrag auf Behandlung im beschleunigten Verfahren hat die Siebte Kammer des Gerichts mit Beschluss vom 8. Oktober 2013 stattgegeben.
33. Mit Schriftsätzen, die am 17. Oktober und am 8. November 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Kommission und der Europäische Fahrradherstellerverband beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden.
34. Mit Beschluss vom 11. November 2013 hat der Präsident der Siebten Kammer des Gerichts dem Streithilfeantrag der Kommission stattgegeben.
35. Mit Beschluss vom 17. Dezember 2013 hat die Siebte Kammer des Gerichts den Streithilfeantrag des Europäischen Fahrradherstellerverbands zurückgewiesen.
36. Mit am 19. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat die Maxcom Ltd beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden.
37. Mit Schreiben vom 27. März und vom 15. Mai 2014 hat das Gericht als prozessleitende Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung schriftliche Fragen an die Klägerin gestellt und den Rat ersucht, Fragen zu beantworten und bestimmte Unterlagen vorzulegen. Die Parteien haben diesen prozessleitenden Maßnahmen fristgerecht Folge geleistet.
38. Mit Beschluss vom 16. Juli 2014 hat die Siebte Kammer des Gerichts dem Streithilfeantrag von Maxcom stattgegeben.
39. Die Klägerin beantragt,
– Art. 1 Abs. 1 und 3 der angefochtenen Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie von diesen Bestimmungen betroffen ist;
– dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
40. Der Rat, unterstützt durch die Kommission und Maxcom, beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zulässigkeit
41. Der Rat hat in seinen schriftlichen Antworten auf die prozessleitenden Maßnahmen und anschließend in der mündlichen Verhandlung die Zulässigkeit der Klage insgesamt in Zweifel gezogen. Auf der Grundlage eines Presseartikels, von dem er während des gerichtlichen Verfahrens Kenntnis erlangt habe, macht er geltend, die Klägerin sei in Wirklichkeit keine echte indonesische Fahrradherstellerin, und ihre Existenz sei überhaupt zweifelhaft. Aus dem Presseartikel sei zu schließen, dass in Indonesien nur das chinesische Unternehmen F. als Hersteller tätig gewesen sei. Unter diesen Umständen sei der Befreiungsantrag der Klägerin im Namen des falschen Unternehmens gestellt worden. Die Klage sei daher insgesamt als unzulässig abzuweisen.
42. Die Klägerin tritt dem Vorbringen des Rates entgegen; es sei unbegründet und beruhe auf Umständen, die nicht Teil der Akte seien.
43. Hierzu ist festzustellen, dass der vom Rat herangezogene kurze Presseartikel mit, was die Klägerin betrifft, einer Länge von nur einer Seite nicht eindeutig ist und jedenfalls die Behauptung des Rates nicht stützen kann.
44. Aus dem fraglichen Presseartikel folgt nämlich, dass die Klägerin, eine Gesellschaft taiwanesischen Ursprungs, seit 1990 in Indonesien niedergelassen sein soll. Sie stelle Fahrradteile her, die sie in Südostasien, Indonesien, Südamerika und Italien verkaufe. Außerdem habe sie eines ihrer Werke der Montage von Fahrrädern für das chinesische Unternehmen F. gewidmet. Nach der Auferlegung europäischer Antidumpingzölle auf die Einfuhren chinesischer Fahrräder habe sie ihr Werk an das Unternehmen F. vermietet, wobei nicht eindeutig erläutert wird, welcher Art die Beziehungen zwischen der Klägerin und diesem Unternehmen genau sind.
45. Folglich ist, unabhängig von der Frage, ob die Vorlage eines kurzen Presseartikels ohne weitere Beweismittel der Zulässigkeit einer Klage entgegenstehen kann, festzustellen, dass die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführten Erwägungen des Rates durch diesen Presseartikel nicht bestätigt werden.
46. Da der Rat insoweit keine weiteren Beweismittel vorgelegt hat, ist die Klage zulässig.
Begründetheit
47. Die Klägerin stützt ihre Klage auf drei Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund – Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung – rügt sie Rechts- und Beurteilungsfehler des Rates hinsichtlich des Vorliegens einer Umgehung und der Art der verfügbaren Informationen. Der zweite Klagegrund – Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Begründungspflicht – betrifft die Feststellung fehlender Mitarbeit. Der dritte Klagegrund – Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung und den Grundsatz der Gleichbehandlung – bezieht sich auf das Vorliegen von Dumping.
Erster Klagegrund: Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung
48. Der erste Klagegrund besteht aus zwei Teilen, von denen der erste die Frage betrifft, ob tatsächlich eine Veränderung des Handelsgefüges eingetreten ist, und der zweite die Schlussfolgerung des Rates, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen habe.
– Zur Veränderung des Handelsgefüges
49. Die Klägerin macht erstens geltend, die chinesischen Statistiken über die Ausfuhr von Fahrrädern nach Indonesien, auf die der Rat seine Feststellung einer Veränderung des Handelsgefüges im Wesentlichen gestützt habe, seien fehlerhaft. Für Fahrräder habe bei der Ausfuhr ein höherer Rückerstattungssatz als für Fahrradteile gegolten, was die chinesischen Ausführer dazu verleitet habe, Ausfuhren bloßer Teile als Ausfuhren vollständiger Fahrräder anzumelden. Die chinesischen Ausfuhrstatistiken über Fahrräder seien demnach künstlich hoch gewesen, da es sich bei den meisten ausgeführten Fahrrädern in Wirklichkeit um Fahrradteile gehandelt habe. Die Volksrepublik China habe somit eine erheblich geringere Zahl an Fahrrädern nach Indonesien ausgeführt als in Tabelle 2 der angefochtenen Verordnung angegeben.
50. Zweitens hätten die zur Feststellung einer Veränderung des Handelsgefüges herangezogenen Daten nicht ausgereicht, um darauf die Feststellung eines Versands zu stützen, da zwischen den Ausfuhren von Fahrrädern aus China nach Indonesien und den Ausfuhren von Indonesien in die Union keine eindeutige Korrelation bestanden habe.
51. Drittens habe der Rat andere Erklärungen für die mutmaßliche Veränderung des Handelsgefüges außer Acht gelassen. Insbesondere seine Analyse der Produktionsmengen sei wenig überzeugend und betreffe einen falschen Zeitraum.
52. Der Rat weist diese Argumente insgesamt als unbegründet zurück.
53. Was das erste Argument betrifft, ist insoweit erstens festzustellen, dass sich dem von der Klägerin übermittelten Dokument, in dem die unterschiedlichen Rückerstattungssätze für Fahrräder und für Fahrradteile ausgewiesen sind, entnehmen lässt, dass für Fahrradteile und vollständig e Fahrräder offensichtlich tatsächlich unterschiedliche Mehrwertsteuererstattungssätze existieren.
54. Die Klägerin hat jedoch keinen Beweis dafür beigebracht, dass die chinesischen Ausführer oder die Zollbehörden infolgedessen Ausfuhren bloßer Fahrradteile als Ausfuhren vollständiger Fahrräder angemeldet hätten. Sie hat nämlich nur zu einer begrenzten Zahl von Geschäftsvorgängen Unterlagen vorgelegt. Selbst wenn diese Unterlagen einen Beweiswert für das Vorliegen dieser Praxis hätten, könnten sie nicht für sich allein belegen, dass diese Praxis hinreichend gebräuchlich war, um die vom Rat verwendeten Statistiken in Frage zu stellen. Letztendlich hat die Klägerin jedenfalls nicht dargetan, dass diese Praxis hinreichend gebräuchlich war, um die Gültigkeit der chinesischen Statistiken in Frage zu stellen.
55. Zweitens macht die Klägerin geltend, dass die Kommission bei ihrer Untersuchung eine solche Praxis leicht hätte feststellen können, da diese den Wirtschaftsteilnehmern des Sektors gut bekannt sei. Im Wesentlichen wirft sie der Kommission eine Sorgfaltspflichtverletzung vor.
56. Dazu trägt zum einen der Rat – von der Klägerin unwidersprochen – vor, dass offensichtlich keine der anderen Parteien, die von dieser Untersuchung oder von den anderen gleichzeitig durchgeführten Untersuchungen betroffen gewesen seien, das Vorliegen einer solchen Praxis erwähnt habe. Im Übrigen haben die indonesischen und die chinesischen Behörden, denen die Untersuchungsergebnisse übermittelt wurden, zu keinem Zeitpunkt die Verlässlichkeit der verwendeten Statistiken, soweit ihre eigenen Zahlen betroffen sind, in Frage gestellt. Der Rat hatte daher keine Veranlassung, an der Verlässlichkeit dieser Statistiken zu zweifeln.
57. Zum anderen hat die Klägerin erst am 28. Mai 2013, d. h. am Tag vor der Annahme der angefochtenen Verordnung und mehr als 40 Tage nach Ablauf der Frist für die Abgabe der Stellungnahme zu dem allgemeinen Informationsdokument, auf das vermeintliche Vorliegen dieser Praxis hingewiesen. Davor hatte sie sie nie erwähnt. Das Argument der Klägerin ist daher in einem besonders späten Stadium der Untersuchung vorgebracht worden.
58. Unter diesen Umständen hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass hinsichtlich der verwendeten Statistiken ein Beurteilungsfehler oder eine Verletzung der Sorgfaltspflicht der Unionsorgane vorliegt.
59. Zum zweiten Argument ist festzustellen, dass die in den Erwägungsgründen 45 bis 55 der angefochtenen Verordnung aufgeführten Zahlen des Rates eine Veränderung des Handelsgefüges im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung zwischen China und der Union, zwischen China und Indonesien und schließlich zwischen Indonesien und der Union belegen.
60. Erstens lässt sich nämlich dem 45. Erwägungsgrund und Tabelle 1 der angefochtenen Verordnung entnehmen, dass die Fahrradausfuhren aus China in die Union im Untersuchungszeitraum um mehr als 80 % gesunken sind. Zwischen der Erhöhung der Antidumpingzölle im Jahr 2005 und dem Ende des Berichtszeitraums sind die Einfuhren auf ein Drittel gesunken. Zweitens sind, wie aus dem 51. Erwägungsgrund und Tabelle 2 der angefochtenen Verordnung hervorgeht, die Fahrradausfuhren aus China nach Indonesien im Untersuchungszeitraum um mehr als 83 % gestiegen. Drittens sind die Fahrradausfuhren aus Indonesien in die Union im Untersuchungszeitraum um das 2,6-fache gestiegen. Wie sich aus dem 46. Erwägungsgrund und Tabelle 1 der angefochtenen Verordnung ergibt, sind die Einfuhren aus Indonesien zwar im Jahr 2009 zurückgegangen, sie lagen aber zum einen immer noch weit über jenen der Jahre 2004 und 2005 und sind zum anderen zwischen 2010 und 2012 wieder gestiegen.
61. Zwar sind, wie die Klägerin hervorhebt, die Einfuhren aus China nach Indonesien im Jahr 2007 um 10,1 % zurückgegangen, während die Ausfuhren aus Indonesien in die Union um 18,6 % gestiegen sind. Eine solche jährliche Schwankung ist jedoch nicht geeignet, die auf der Grundlage der Zahlen der Unionsorgane festgestellte Entwicklung in Frage zu stellen. Wie nämlich der Rat zu Recht ausführt, kann eine zeitliche Verzögerung der Änderung der Ströme zwischen China und Indonesien und zwischen Indonesien und der Union insbesondere auf das Vorhandensein von Lagerbeständen zurückgehen.
62. Somit hat der Rat keinen Fehler begangen, als er aufgrund dieser Zahlen von einer Veränderung des Handelsgefüges ausgegangen ist.
63. Was das dritte Argument betrifft, hat der Rat nach Auffassung der Klägerin bei der Prüfung der Entwicklung der Ausfuhren aus Indonesien in die Union andere Erklärungen als eine Umgehung außer Acht gelassen.
64. Hierzu ist festzustellen, dass die Grundverordnung der Kommission keine Untersuchungsbefugnis verleiht, die es ihr erlaubte, die Unternehmen zu zwingen, an einer Untersuchung mitzuwirken oder Auskünfte zu erteilen. Der Rat und die Kommission sind daher darauf angewiesen, dass die Parteien durch die fristgerechte Vorlage der erforderlichen Informationen freiwillig mit ihnen zusammenarbeiten (Urteil vom 24. Mai 2012, JBF RAK/Rat, T‑555/10, EU:T:2012:262, Rn. 80).
65. Im vorliegenden Fall ergibt sich erstens aus den Akten, dass während der Untersuchung keine andere Erklärung vorgetragen worden ist. Insbesondere weist der Rat darauf hin, dass sich die indonesischen Behörden zur Ursache der Veränderung des Handelsgefüges nicht gegenteilig geäußert hätten.
66. Zweitens hat auch die Klägerin selbst im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren keine alternative Erläuterung vorgetragen, mit der sich die Veränderung des Handelsgefüges anders als mit der Festsetzung des ursprünglichen Antidumpingzolls erklären ließe. Sie hat sich – abgesehen von ihrer Kritik an der Untersuchung des Rates zur Entwicklung der Produktionsmengen – ohne nähere Angaben auf den Hinweis beschränkt, dass der Rat andere Erklärungen als eine Umgehung außer Acht gelassen habe.
67. Was die Entwicklung der Produktionsmengen betrifft, hält die Klägerin die Untersuchung des Rates für unvollständig, da diese sich weder auf den gesamten Untersuchungszeitraum noch auf sämtliche indonesischen Ausfuhrunternehmen beziehe.
68. Aus dem 56. Erwägungsgrund und Tabelle 3 der angefochtenen Verordnung ergibt sich, dass die Unionsorgane die Entwicklung der Produktionsmengen der kooperierenden Unternehmen in der Zeit von 2009 bis zum Ende des Berichtszeitraums untersucht haben. Diese Prüfung hat ergeben, dass die indonesischen kooperierenden Unternehmen ihre Produktion in diesem Zeitraum um 54 % erhöht haben.
69. Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es gerechtfertigt war, dass sich die Unionsorgane nur auf die Zahlen der kooperierenden indonesischen Unternehmen gestützt haben, da die Zahlen zu den anderen Unternehmen in der Folge weder verfügbar noch zuverlässig waren. Sodann folgt, wie der Rat zutreffend ausgeführt hat, aus den auszufüllenden Tabellen in der Anlage zu dem Befreiungsantrag, dass die Antragsteller Auskünfte zu ihren Produktionsmengen seit 2004 vorlegen mussten. Die Untersuchung der Kommission bezog sich daher tatsächlich auf die Produktionsmengen im gesamten Untersuchungszeitraum. Die Beschränkung auf den Zeitraum von 2009 bis August 2012 hat der Rat in seinen Schriftsätzen damit begründet, dass nicht alle Angaben für die ersten Jahre für alle Unternehmen vollständig gewesen seien.
70. Da während der Untersuchung keine andere Begründung als die Einführung eines Antidumpingzolls erkennbar geworden ist und die Klägerin weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren insoweit etwas Konkretes vorgetragen hat, konnte der Rat fehlerfrei zu dem Schluss gelangen, dass es für die Veränderung des Handelsgefüges keine andere Erklärung gab.
71. Daher ist der erste Teil des ersten Klagegrundes insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Durchführung von Versandmaßnahmen
72. Mit dem zweiten Teil erhebt die Klägerin drei Rügen.
73. Erstens habe der Rat mit seiner Feststellung im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung (siehe oben, Rn. 23), dass die Klägerin nicht über die nötige Fertigungskapazität verfügt habe, die ihre Ausfuhrmengen in die Union hätte rechtfertigen können, einen Beurteilungsfehler begangen.
74. Zweitens habe der Rat rechtsfehlerhaft aus der bloßen Veränderung des Handelsgefüges einen Versand abgeleitet. Er habe weder die genannten Versandmaßnahmen nachgewiesen noch einen Kausalzusammenhang zwischen diesen Maßnahmen und der vermeintlichen Veränderung des Handelsgefüges dargetan.
75. Drittens hätten, da es an anderen Beweisen gefehlt habe, die vorgelegten Beweismittel die verfügbaren Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung darstellen müssen.
76. Der Rat tritt allen Argumenten der Klägerin entgegen.
77. Im Rahmen ihrer ersten Rüge macht die Klägerin geltend, dass sie tatsächlich eine Fahrradherstellerin indonesischen Ursprungs sei und daher nicht als an Umgehungspraktiken beteiligt angesehen werden könne. Aus ihrem Befreiungsantrag gehe u. a. hervor, dass [ vertraulich ](1) . Sie bestreitet nicht, eine Reihe von Einzelteilen aus China eingeführt zu haben. Diese Einzelteile seien anschließend für die Fertigung von Fahrrädern in ihrem Werk in Tangerang (Indonesien) verwendet worden, das etwa [ vertraulich ] beschäftigt habe. Der Fertigungsprozess in ihrem Werk habe alle Abschnitte der Fahrradherstellung umfasst.
78. Die Klägerin stützt ihre Behauptung, dass dem Rat ausreichend Informationen zur Verfügung gestanden hätten, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass kein Versand stattgefunden habe, im Wesentlichen auf ihren Befreiungsantrag und auf den Prüfbericht von Bureau V. vom 28. November 2011, dem am 16. Juli 2012 ein Anschlussbericht gefolgt sei.
79. Ferner habe – entgegen dem Vorbringen des Rates – der Umstand, dass zum Zeitpunkt des Kontrollbesuchs ihre Ausstattung keine Gebrauchsspuren aufgewiesen habe und das Werk nicht in Betrieb gewesen sei, keinen Beweiswert. Darüber hinaus widerspreche die Behauptung des Rates im 29. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass sie sich auch eines chinesischen Herstellers als Lieferanten von Fahrradteilen bedient habe, der Feststellung, dass sie selbst keine Fahrräder hergestellt und ein Versand stattgefunden habe.
80. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Grundverordnung der Kommission keine Untersuchungsbefugnis verleiht, die es ihr erlaubte, die Unternehmen zu zwingen, an der Untersuchung mitzuwirken oder Auskünfte zu erteilen. Der Rat und die Kommission sind daher darauf angewiesen, dass die Parteien durch die fristgerechte Vorlage der erforderlichen Informationen freiwillig mit ihnen zusammenarbeiten. In diesem Kontext sind die Angaben im Befreiungsantrag sowie der spätere Kontrollbesuch, den die Kommission an Ort und Stelle vornehmen kann, für den Ablauf des Antiumgehungsverfahrens unabdingbar. Somit müssen die kooperierenden Unternehmen in den Angaben und Beweismitteln, die sie übermitteln, sowie bei der Beantwortung der schriftlichen und mündlichen Fragen und bei dem Kontrollbesuch Genauigkeit und Korrektheit walten lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil JBF RAK/Rat, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2012:262, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
81. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in dem Befreiungsantrag und dem überarbeiteten Befreiungsantrag tatsächlich eine Reihe einschlägiger Beweise vorgebracht. Insbesondere hat sie in den den Anträgen beigefügten Tabellen Informationen über ihre Fertigungskapazität, ihre tatsächliche Produktion, ihre Ausfuhrverkäufe, ihren Umsatz, bestimmte Finanz- und Rechnungslegungsdaten wie die Gemeinkosten des Werkes, die Lagerbestände, die Käufe von Fahrradteilen und den Ursprung dieser Käufe, den Fabrikationsprozess und die Produktionskosten zusammengestellt. Außerdem hat sie Abschlüsse vorgelegt.
82. Jedoch haben sich erstens die Angaben der Klägerin in dem ersten, am 5. November 2012 eingereichten Befreiungsantrag aufgrund ihrer weitgehenden Unvollständigkeit als unzureichend erwiesen.
83. Die Angaben in dem Befreiungsantrag vom 5. November 2012 ließen nämlich u. a. weder eine Bestimmung der jeweiligen Kosten der Fahrradteile noch ihres Ursprungs zu, so dass es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war, festzustellen, ob es sich bei der Klägerin um eine indonesische Fahrradherstellerin handelte, und ihr daher eine Befreiung nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung zu gewähren.
84. Mit ihrem Schreiben vom 29. November 2012 ersuchte die Kommission die Klägerin mit Hilfe von 13 präzisen Fragen, ihr die fehlenden Informationen bis spätestens zum 3. Dezember 2012, d. h. vor dem Kontrollbesuch, zur Verfügung zu stellen. Die Klägerin übermittelte in ihrem Schreiben vom 3. Dezember 2012 – von ihr unbestritten – Informationen nur zu zwei der 13 Fragen der Kommission.
85. Zweitens legte die Klägerin bei dem Kontrollbesuch am 6. und 7. Dezember 2012 eine überarbeitete Fassung des Befreiungsantrags vor, in dem nur bestimmte Punkte, nämlich u. a. Angaben zu den Fahrradteilen, die in anderen Ländern als in China gekauft worden waren, aktualisiert waren. Die in dem überarbeiteten Befreiungsantrag vorgelegten Informationen blieben jedoch unvollständig, was von der Klägerin im Übrigen auch nicht bestritten wird. Insbesondere blieb die Klägerin bei den Angaben über ihre Ausfuhren die cif-Werte (Kosten, Versicherung und Fracht) bestimmter Transaktionen in die Union schuldig. Darüber hinaus hat die Klägerin keine Verpackungs-, Garantie- oder Bankkosten angegeben.
86. Die Angaben in dem überarbeiteten Befreiungsantrag erwiesen sich auch als widersprüchlich und nicht überprüfbar.
87. Zunächst waren – von der Klägerin unbestritten – die Zahlen zum Ursprung der von der Klägerin gekauften Fahrradteile, die in zwei den Befreiungsanträgen beigefügten Tabellen vorgelegt worden sind, inkohärent. In einem Verfahren wegen einer möglichen Umgehung von Antidumpingzöllen sind diese Zahlen jedoch von wesentlicher Bedeutung.
88. Ferner ergibt sich aus den Akten, dass – von der Klägerin unbestritten – ihre Beschäftigten beim Kontrollbesuch zum einen nicht die Arbeitsblätter vorgelegt haben, anhand deren die Befreiungsanträge ausgefüllt werden konnten (siehe dazu unten, Rn. 112), und zum anderen nicht erläutert haben, wie die in den Befreiungsanträgen angegebenen Zahlen zustande gekommen sind. Die von der Klägerin vorgelegten Zahlen sind offensichtlich von Hand mit Hilfe einer einfachen Rechenmaschine erstellt worden.
89. Zudem ergibt sich aus den Akten auch, dass die Klägerin keine anderen Unterlagen als ihre Steuererklärungen, bestimmte Zollformulare und einige Rechnungen vorlegen konnte. Sie verfügte weder über geprüfte Jahresberichte noch über Rechnungslegungssysteme, anhand deren die in den Befreiungsanträgen vorgelegten Zahlen und die Vollständigkeit der Aufstellung der Geschäftsvorgänge leicht überprüft werden könnten. Es war beispielsweise nicht möglich, eine Korrelation zwischen den Produktionsmengen einerseits und den Verkäufen und den Lagerbeständen andererseits herzustellen. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission der Klägerin in ihrem Schreiben vom 27. November 2012 vorab mitgeteilt hat, dass diese bei dem Kontrollbesuch sämtliche Unterlagen, insbesondere die Arbeitsblätter, vorzulegen habe, anhand deren sie die in dem Befreiungsantrag angegebenen Zahlen überprüfen könne.
90. Drittens gab die Kommission der Klägerin nach dem Kontrollbesuch mit ihrem Schreiben vom 28. Januar 2013, in dem sie der Klägerin mitteilte, auf sie Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung anwenden zu wollen, erneut die Möglichkeit, die erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Die – nur eine Seite lange – Antwort der Klägerin vom 4. Februar 2013 enthielt insoweit keine wesentlichen neuen Angaben, da sich die Klägerin hauptsächlich darauf beschränkte, erneut geltend zu machen, sie habe ordnungsgemäß kooperiert. In ihrer Stellungnahme zu dem allgemeinen Informationsdokument vom 9. April 2013 und auch in ihrem verspäteten Schreiben vom 28. Mai 2013 hat die Klägerin immer noch keine konkreten Beweismittel vorgelegt, mit denen sich die in dem Befreiungsantrag angegebenen Zahlen belegen ließen.
91. Viertens belegt – wie der Rat zutreffend betont – der Prüfbericht von Bureau V. vom 28. November 2011, dem am 16. Juli 2012 ein Anschlussbericht folgte, jedenfalls nicht, dass die Klägerin selbst Fahrräder mit Ursprung in Indonesien hergestellt hätte oder die Voraussetzungen nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllen könnte.
92. In diesem Bericht geht es nämlich nicht um die Frage, ob die Klägerin Praktiken, Fertigungsprozesse oder Arbeiten ausgeübt hat, für die es außer der Einführung des ursprünglichen Antidumpingzolls keine hinreichende Begründung oder wirtschaftliche Rechtfertigung gab. Er zeigt höchstens, dass die Klägerin bei seiner Veröffentlichung mit der Herstellung von Fahrrädern befasst war, was unbestritten ist. Der Prüfbericht bezieht sich insoweit im Wesentlichen auf die Arbeitsbedingungen und die Effektivität der Organisation. Er enthält somit keine einschlägigen Angaben zur Entwicklung vor allem der Produktionsmengen und zum Ursprung der Einzelteile.
93. Darüber hinaus wird auch mit den Fotos und dem Video, die die Klägerin dem Gericht vorgelegt hat, nicht der Beweis dafür erbracht, dass sie eine indonesische Fahrradherstellerin und daher nicht an einer Umgehung im Sinne von Art. 13 der Grundverordnung beteiligt war, da anhand dieser Unterlagen u. a. der Ursprung der Ausgangsmaterialien nicht genau ermittelt werden kann.
94. Mit den Befreiungsanträgen, dem Prüfbericht von Bureau V. und den im gerichtlichen Verfahren zu verschiedenen Zeitpunkten vorgelegten Fotos, auf die sich die Klägerin allesamt stützt, kann demnach nicht nachgewiesen werden, dass sie tatsächlich ein Ausfuhrunternehmen indonesischen Ursprungs war oder die Voraussetzungen nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllt hat.
95. Nichtsdestoweniger ist festzustellen, dass der Rat auf der Grundlage der Akten nicht über ausreichende Beweismittel verfügte, um im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ausdrücklich zu dem Schluss gelangen zu können, dass die Klägerin im Hinblick auf die in die Union ausgeführten Mengen nicht über die nötige Fertigungskapazität verfügt habe, oder, in der Folge, dass sie an Versandmaßnahmen, d. h. am Versand der von den Maßnahmen betroffenen Ware über Drittländer, beteiligt gewesen sei.
96. Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass der Rat sich in seiner Begründung weitgehend auf die Feststellungen der Bediensteten der Kommission bei ihrem Kontrollbesuch stützt.
97. Nach Ansicht der Bediensteten der Kommission hat sich u. a. gezeigt, dass die Klägerin nicht über die erforderlichen Maschinen verfügt habe, um für die erklärten Mengen ausreichend Teile herzustellen. Sie hätten vermerkt, dass die Produktionsstätte der Klägerin bei ihrer Ankunft abgeschlossen gewesen sei und dass einige Produktionsmaschinen neu oder in jüngster Zeit wahrscheinlich nicht benutzt worden seien. Zudem habe es weder eine Schneide- noch eine Schweißmaschine gegeben. Die Bediensteten der Kommission hätten vergeblich darum gebeten, die Ausgangsmaterialien für die Leichtmetallfelgen sowie die Rohrahmen zu sehen. Stattdessen hätten sie Kisten mit vollständigen Fahrrädern vorgefunden, die, ohne den chinesischen Lieferanten der Klägerin zu nennen, den Aufdruck „Hergestellt in Indonesien“ getragen hätten, sowie weitere Kisten mit Rahmen ohne Ursprungshinweis. Das Team habe festgestellt, dass alle von ihm vorgefundenen Rahmen von Zulieferern geliefert und bereits mit einem Anstrich versehen gewesen seien. Schließlich seien die Beschäftigten der Klägerin nicht imstande gewesen, den Fertigungsprozess zu erläutern.
98. Keine dieser Feststellungen deutet jedoch – einzeln oder zusammen genommen – in überzeugender Weise darauf hin, dass Versandmaßnahmen stattgefunden hätten.
99. Da nämlich die Tätigkeit des Unternehmens nach Einleitung der Antiumgehungsuntersuchung stark zurückgegangen ist, können aus dem guten Zustand des Werkes und den geringen Lagerbeständen an Ausgangsmaterialien zum Zeitpunkt des Kontrollbesuchs keine Schlüsse gezogen werden. Insoweit hat die Klägerin im Übrigen darauf hingewiesen, dass sie wegen des Rückgangs ihrer Tätigkeit bestimmte Teile ihrer Produktionskette verkauft habe. Außerdem hat sie unter Vorlage von Rechnungen erwähnt, dass sie nach einem Großbrand in ihrem Werk am 23. April 2009 einige Produktionsmaschinen erst kürzlich erworben habe. Sie habe daher zweimal, im Mai 2009 und im Juli 2011, u. a. in die Montagebänder reinvestiert.
100. Bestimmte Feststellungen, z. B. dass der chinesische Lieferant der Klägerin nirgendwo genannt war oder dass einige Kisten Rahmen ohne Ursprungshinweis enthielten, trugen zwar dazu bei, Zweifel an der wirklichen Tätigkeit der Klägerin aufkommen zu lassen, die noch dadurch verstärkt wurden, dass die Klägerin weiterhin einen Beleg für die in den Befreiungsanträgen vorgelegten Zahlen schuldig geblieben ist. Jedoch wurde mit diesen Beweismitteln nicht dargetan, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen hat.
101. Was den Umstand betrifft, dass die bei dem Kontrollbesuch angetroffenen Beschäftigten der Klägerin nicht imstande waren, den Fertigungsprozess zu erläutern – was von der Klägerin im Übrigen bestritten wird –, ist festzustellen, dass sich aus den schriftlichen Antworten des Rates auf die schriftlichen Fragen des Gerichts ergibt, dass das Team der Kommission nur Mitarbeiter der Verkaufsabteilung, aber keine Produktionsfachleute angetroffen hat.
102. Zweitens hat der Rat seine oben in Rn. 97 wiedergegebenen Tatsachenfeststellungen fast ausschließlich, ohne weitere Beweise, auf den Kontrollbericht der Bediensteten der Kommission gestützt. Die meisten der in diesem Kontrollbericht getroffenen Feststellungen werden jedoch von der Klägerin angegriffen, insbesondere die, dass die Fließbänder nicht in Betrieb gewesen seien oder für bestimmte Ausgangsmaterialien keine Lagerbestände existiert hätten. Zwar hat der Rat in seinen Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung auf eine Reihe von Fotos hingewiesen, die von der Klägerin vorgelegt oder die von den Bediensteten der Kommission bei ihrem Kontrollbesuch aufgenommen wurden. Diesen Fotos lässt sich jedoch nichts zu der Frage entnehmen, ob die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen hat.
103. Drittens stützt der Rat seine Argumentation auch auf die Tatsache, dass die Klägerin die Beweise dafür schuldig geblieben sei, dass sie wirklich eine indonesische Herstellerin sei oder dass sie die Kriterien nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfülle. Auch wenn dieser Feststellung in Rn. 94 des vorliegenden Urteils beigepflichtet worden ist, kann ihr jedoch nicht ohne Weiteres entnommen werden, dass die Klägerin Versandmaßnahmen durchgeführt hat.
104. Angesichts der Ausführungen in den Rn. 95 bis 103 des vorliegenden Urteils verfügte der Rat nicht über ausreichend Anhaltspunkte, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Klägerin nicht über die nötige Fertigungskapazität für die in die Union ausgeführten Mengen verfügt und daher Versandmaßnahmen betrieben habe.
105. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vornahm, also eine der Praktiken, Fertigungsprozesse oder Arbeiten im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Grundverordnung, für die es außer der Auferlegung des ursprünglichen Antidumpingzolls keine ausreichende Begründung oder wirtschaftliche Rechtfertigung gab. Entgegen dem Vorbringen der Kommission in der mündlichen Verhandlung konnte der Rat jedoch aus dem Umstand, dass die Klägerin nicht dartun konnte, dass sie tatsächlich eine indonesische Herstellerin sei oder dass sie die Voraussetzungen von Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfülle, nicht ohne Weiteres ableiten, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen habe, da sich eine solche Befugnis keineswegs aus der Grundverordnung oder der Rechtsprechung ergibt.
106. Unter diesen Umständen ist dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes stattzugeben, ohne dass über die weiteren Rügen der Klägerin entschieden zu werden braucht.
Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Begründungspflicht
107. Die Klägerin stützt den zweiten Klagegrund auf vier Teile, mit denen insbesondere dargetan werden soll, dass der Rat in den Erwägungsgründen 29 bis 33 der angefochtenen Verordnung Rechts- und Beurteilungsfehler begangen habe, indem er davon ausgegangen sei, dass sie nicht im Sinne von Art. 18 der Grundverordnung kooperiert habe. Mit dem ersten Teil macht sie geltend, sie habe nach besten Kräften kooperiert, was der Rat unter Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung nicht berücksichtigt habe. Mit dem zweiten Teil, der sich ebenfalls auf einen Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung bezieht, tritt sie der Feststellung fehlender Mitarbeit entgegen. Mit dem dritten Teil macht sie geltend, dass der Rat u. a. dadurch gegen seine Begründungspflicht verstoßen habe, dass er nicht erläutert habe, auf welche verfügbaren Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung er sich gestützt habe. Mit dem vierten Teil trägt sie vor, der Rat habe unter Verstoß gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung die Informationen, die sie während der gesamten Untersuchung vorgelegt habe, außer Acht gelassen. Darüber hinaus verstoße es gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn nicht alle von ihr vorgelegten Informationen berücksichtigt würden.
108. Der Rat tritt sämtlichen Argumenten der Klägerin entgegen.
109. Zunächst ist der zweite Teil, dann sind nacheinander der erste, der dritte und der vierte Teil zu prüfen.
– Zur Feststellung fehlender Mitarbeit
110. Die Klägerin macht zur Begründung des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes eine Reihe von Argumenten geltend, mit denen dargetan werden soll, dass die Feststellung fehlender Mitarbeit fehlerhaft sei. Insbesondere habe der Umstand, dass keine Arbeitsblätter vorgelegt worden seien, als solcher nicht ausgereicht, um die Feststellung fehlender Mitarbeit zu begründen.
111. Insoweit ist einleitend darauf hinzuweisen, dass Art. 18 Abs. 1 Satz 1 der Grundverordnung die Organe ermächtigt, die verfügbaren Informationen bzw. Fakten zugrunde zu legen, wenn eine interessierte Partei den Zugang zu den erforderlichen Informationen verweigert oder innerhalb der durch diese Verordnung gesetzten Fristen nicht die erforderlichen Auskünfte erteilt oder wenn sie die Untersuchung erheblich behindert. Die verfügbaren Informationen können auch dann zugrunde gelegt werden, wenn eine interessierte Partei unwahre oder irreführende Informationen vorlegt. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt sich, dass es sich dabei um vier alternative Voraussetzungen handelt, so dass, wenn eine von ihnen erfüllt ist, die Organe ihren vorläufigen oder endgültigen Schlussfolgerungen die verfügbaren Informationen zugrunde legen können (Urteil vom 22. Mai 2014, Guangdong Kito Ceramics u. a./Rat, T‑633/11, EU:T:2014:271, Rn. 44).
112. Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass die fehlende Mitarbeit in der angefochtenen Verordnung nicht nur darauf gestützt wird, dass die Arbeitsblätter, mit deren Hilfe eine Verbindung zwischen der Beantwortung des Formulars für einen Befreiungsantrag und den Finanz- und Rechnungslegungsunterlagen des Ausführers hergestellt werden kann, nicht vorgelegt worden sind. Sie beruht auch auf der verspäteten Vorlage der erbetenen Informationen, der Widersprüchlichkeit und mangelnden Verlässlichkeit dieser Informationen sowie auf den Schwierigkeiten, die beim Kontrollbesuch aufgetreten sind. Bereits im Rahmen des ersten Klagegrundes wurde nämlich festgestellt, dass sich die Angaben der Klägerin als unvollständig, widersprüchlich und nicht überprüfbar erwiesen haben. Folglich hat die Klägerin im Sinne der oben in Rn. 111 angeführten Rechtsprechung den Zugang zu den erforderlichen Informationen nicht gewährt.
113. Zweitens macht die Klägerin geltend, dass die bei ihren Produktionszahlen aufgetretenen Inkohärenzen auf Verzögerungen zwischen den Buchungszeiträumen und dem tatsächlichen Produktionsrhythmus zurückzuführen seien. Diese Behauptung könne durch ihr Schreiben vom 4. Februar 2013 gestützt werden. Es genügt jedoch die Feststellung, dass das Schreiben vom 4. Februar 2013 hierzu keinen Beweis enthält.
114. Drittens betont die Klägerin, dass zumindest ein Teil der vorgelegten Informationen richtig gewesen sei, da der Rat selbst eingeräumt habe, dass die zu den Ausfuhrverkäufen mitgeteilten Zahlen zutreffend gewesen seien. Tatsächlich ergibt sich aus dem 31. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass der Rat die Richtigkeit dieser Zahlen bestätigt hat. Jedoch ist zum einen zu beachten, dass sich diese Zahlen dem Rat zufolge auf sämtliche Ausfuhrverkäufe beziehen und nicht nur auf die Ausfuhren in die Union, die nicht mit den Angaben in Einklang gebracht werden konnten, was von der Klägerin nicht bestritten wird. Zum anderen bedeutet der Umstand, dass die Ausfuhrzahlen richtig und überprüfbar waren, nicht, dass die Zahlen zum Ursprung der ausgeführten Waren selbst gutgeheißen werden müssen.
115. Viertens trifft es zwar zu, dass der Umstand, dass ein Verkaufsleiter der Klägerin gleichzeitig bei einem chinesischen Hersteller beschäftigt war, der auch ihr Hauptlieferant für Fahrradteile war, als solcher eine Feststellung fehlender Mitarbeit im Sinne von Art. 18 der Grundverordnung nicht begründen kann. Jedoch hat sich die Stellungnahme der Klägerin zum Status dieses Mitarbeiters als besonders unklar erwiesen, was für die Beurteilung der Kooperation der Klägerin relevant ist. Zudem hatte die Klägerin in ihrem Befreiungsantrag angegeben, keine Verbindungen zu chinesischen Unternehmen zu haben. Angesichts der Bedeutung, die dem Umstand, dass ein Verkaufsleiter der Klägerin gleichzeitig bei einem chinesischen Fahrradunternehmen beschäftigt war, für die Feststellung einer Umgehung über Indonesien zukommen konnte, war es jedenfalls legitim, dass die Kommission die Klägerin hierzu befragt hat und dass dieser Umstand in der angefochtenen Verordnung erwähnt wird.
116. Fünftens macht die Klägerin geltend, dass die fehlende Mitarbeit sich nur auf die Montage, nicht aber auf den Versand beziehe. Die vermeintlich unzureichende Mitarbeit beziehe sich nur auf den Wert der Teile chinesischen Ursprungs. Diese Angabe sei jedoch nur erforderlich, um zu bestimmen, ob sie Montagearbeiten vorgenommen habe, d. h., ob sie sich an die Vorschriften über den Anteil der aus China eingeführten Teile am Gesamtwert der hergestellten Ware nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung gehalten habe. Da die Umgehung über Indonesien in der angefochtenen Verordnung nur auf Versandmaßnahmen gegründet werde, beziehe sich die Feststellung fehlender Mitarbeit auf Feststellungen, die für die vom Rat erhobene Rüge einer Umgehung nicht relevant seien.
117. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass sich aus dem Befreiungsantrag der Klägerin ergibt, dass sie nachzuweisen versuchte, dass sie die Kriterien nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllte. Die Kommission durfte somit in Anhang B des allgemeinen Informationsdokuments ihre Entscheidung, der Klägerin eine Befreiung zu versagen, damit begründen, dass sie auf der Grundlage der vorgelegten Informationen nicht imstande gewesen sei, die Berechnungen für diese Kriterien vorzunehmen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Untersuchung auf das Vorliegen einer Umgehung über Indonesien und nicht auf das Vorliegen einer besonderen Art der Umgehung bezog. Darüber hinaus hat die Kommission im 9. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 875/2012 zur Einleitung der Antiumgehungsuntersuchung einen möglichen Versand über Indonesien und mögliche Montagevorgänge in Indonesien erwähnt.
118. Zudem ist festzustellen, dass die Klägerin den Nachweis dafür, dass sie tatsächlich eine Herstellerin von Fahrrädern indonesischen Ursprungs ist oder die in Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung bestimmten Kriterien erfüllt hat, schuldig geblieben ist, d. h., dass sie den Ursprung der Fahrräder, die sie in erheblicher Anzahl in die Union ausgeführt hat, nicht nachweisen konnte. Jedenfalls waren die von der Klägerin vorgelegten Informationen unzureichend, da der Gegenstand der Untersuchung, unabhängig von der späteren Einstufung der entsprechenden Praktiken durch den Rat, darin bestand, festzustellen, ob die Klägerin an einer Umgehung des ursprünglichen Antidumpingzolls über Indonesien beteiligt war.
119. Daher ist diese Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
120. Folglich ist der zweite Teil des zweiten Klagegrundes insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
– Zu den Wirkungen der Mitarbeit der Klägerin
121. Mit dem ersten Teil macht die Klägerin geltend, dass der Rat unter Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung den Umstand, dass sie nach besten Kräften kooperiert habe, nicht berücksichtigt habe. Sie habe u. a. einen Befreiungsantrag sowie einen überarbeiteten Fragebogen vorgelegt, und sie habe sich damit einverstanden erklärt, das Team der Kommission zu empfangen. Darüber hinaus sei die Mitarbeit unter schwierigen Umständen verlaufen, da die Klägerin über begrenzte Verwaltungsmittel verfügt habe und ihr die Verwaltungsverfahren der Kommission nicht bekannt gewesen seien.
122. Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Rückgriff auf verfügbare Informationen, da Art. 18 Abs. 1 Satz 2 der Grundverordnung kein vorsätzliches Handeln voraussetzt, u. a. dann gerechtfertigt ist, wenn sich ein Unternehmen weigert, mitzuarbeiten, oder wenn es unwahre oder irreführende Informationen vorlegt. Das Ausmaß der Bemühungen, die eine interessierte Partei im Hinblick auf die Übermittlung bestimmter Auskünfte unternimmt, hängt nämlich nicht unbedingt mit der Qualität der gewährten Auskünfte zusammen und ist dafür auf jeden Fall nicht das einzig maßgebliche Kriterium. Die Kommission ist daher, wenn sie die erbetenen Auskünfte letztlich nicht erhalten hat, berechtigt, in Bezug auf diese Auskünfte auf die verfügbaren Informationen zurückzugreifen (Urteil vom 4. März 2010, Sun Sang Kong Yuen Shoes Factory/Rat, T‑409/06, Slg, EU:T:2010:69, Rn. 103 und 104).
123. Darüber hinaus ist auch darauf hinzuweisen, dass die Organe der Union zu entscheiden haben, ob sie es zur Überprüfung der von einer betroffenen Partei gelieferten Informationen für erforderlich halten, diese Informationen durch einen Kontrollbesuch in den Räumen dieser Partei zu erhärten, und dass in dem Fall, in dem eine betroffenen Partei die Überprüfung der von ihr gelieferten Daten behindert, Art. 18 der Grundverordnung anwendbar ist und die verfügbaren Informationen verwendet werden können. Und wenn die Verweigerung eines Kontrollbesuchs dem Ziel der loyalen und gewissenhaften Zusammenarbeit, die Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung gewährleisten soll, zuwiderläuft, so kann indessen der Umstand, sich dieser zu unterziehen, nicht als solcher zur Feststellung einer Zusammenarbeit führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2011, Transnational Company „Kazchrome“ und ENRC Marketing/Rat, T‑192/08, Slg, EU:T:2011:619, Rn. 273 und 275).
124. Unter diesen Umständen konnten die Einreichung eines Befreiungsantrags und danach einer überarbeiteten Fassung sowie der Empfang der Bediensteten der Kommission bei dem Kontrollbesuch nicht ausreichen, um zur Feststellung einer Mitarbeit zu gelangen oder die Unionsorgane zur Berücksichtigung unzureichender Informationen zu verpflichten. Zudem konnte im vorliegenden Fall hinsichtlich der von der Kommission erbetenen Angaben nicht angenommen werden, dass sie einen besonders großen Verwaltungsaufwand begründeten. Darüber hinaus umfasste die für den Verkauf und die Verwaltung zuständige Abteilung der Klägerin nach Auffassung des Rates 16 Mitarbeiter, was von der Klägerin nicht bestritten wird.
125. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung die von einer interessierten Partei übermittelten Informationen, auch wenn sie sich nicht in jeder Hinsicht als vollkommen erweisen, dennoch nicht unberücksichtigt bleiben, sofern die Mängel nicht derart sind, dass sie angemessene und zuverlässige Feststellungen über Gebühr erschweren, und sofern die Informationen in angemessener Weise und fristgerecht übermittelt werden, nachprüfbar sind und die interessierte Partei nach besten Kräften gehandelt hat. Die vier Voraussetzungen sind, wie sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, kumulativ anzuwenden. Die Nichterfüllung einer von ihnen steht daher der Anwendung der Vorschrift und somit der Berücksichtigung der fraglichen Informationen entgegen (Urteil Guangdong Kito Ceramics u. a./Rat, oben in Rn. 111 angeführt, EU:T:2014:271, Rn. 100).
126. Da die Klägerin, wie oben in den Rn. 80 bis 94 festgestellt, nicht die erforderlichen Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung übermittelt hat, anhand deren sich nachweisen ließe, dass sie wirklich eine Herstellerin indonesischen Ursprungs war oder dass sie die in Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung genannten Voraussetzungen erfüllte, konnte Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung im vorliegenden Fall keine Anwendung finden. Im Übrigen ist, auch wenn sie zum einen die erforderlichen Informationen vorgelegt hätte und zum anderen tatsächlich nach besten Kräften kooperiert hätte, bereits festgestellt worden, dass die vorgelegten Informationen nicht nachprüfbar waren.
127. Der erste Teil des zweiten Klagegrundes ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Begründung
128. Die Klägerin ist erstens der Auffassung, dass der Rat zwischen der Mitarbeit bezüglich der Rüge einer Montage und der Mitarbeit bezüglich der Rüge eines Versands hätte unterscheiden müssen. Da der Rat nicht spezifiziert habe, ob sich die vorgelegten Informationen auf die Rüge des Versands oder auf die Rüge der Montage bezögen, weise die angefochtene Verordnung einen Begründungsmangel auf.
129. Zweitens trägt die Klägerin vor, der Rat habe, nachdem er die übermittelten Informationen insgesamt zurückgewiesen habe, nicht präzisiert, welcher Art die verfügbaren Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung seien, auf die er seine Schlussfolgerung, dass eine Umgehung vorliege, gestützt habe. Der Rat hätte auch klarstellen müssen, warum die verfügbaren Informationen, die er verwendet habe, die bestmöglichen gewesen seien.
130. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Begründung eines Rechtsakts der Unionsorgane die Überlegungen des Urhebers des Rechtsakts so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen und ihre Rechte verteidigen können und das Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (Urteil vom 27. September 2005, Common Market Fertilizers/Kommission, T‑134/03 und T‑135/03, Slg, EU:T:2005:339, Rn. 156). Im Übrigen ist die Frage, ob die Begründun g eines Rechtsakts den Erfordernissen von Art. 296 AEUV genügt, nicht nur im Hinblick auf seinen Wortlaut zu beurteilen, sondern auch aufgrund seines Zusammenhangs sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Februar 1996, Belgien/Kommission, C‑56/93, Slg, EU:C:1996:64, Rn. 86, und vom 27. November 1997, Kaysersberg/Kommission, T‑290/94, Slg, EU:T:1997:186, Rn. 150).
131. Im vorliegenden Fall hat der Rat diese Grundsätze aus den nachfolgend dargestellten Gründen beachtet.
132. Erstens ist, was das Argument der Klägerin betrifft, dass der Rat zwischen der Mitarbeit bezüglich der Rüge einer Montage und der Mitarbeit bezüglich der Rüge eines Versands hätte unterscheiden müssen, vorstehend in Rn. 117 festgestellt worden, dass sich die Untersuchung auf das Vorliegen einer Umgehung über Indonesien und nicht auf das Vorliegen einer bestimmten Art der Umgehung bezog. Zudem waren die für die Beurteilung der Mitarbeit zu berücksichtigenden Kriterien, was den Versand und die Montage betraf, ähnlich. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin waren daher ihre Mitarbeit bezüglich der Rüge einer Montage und ihre Mitarbeit bezüglich der Rüge eines Versands nicht getrennt voneinander zu beurteilen.
133. Ferner ist festzustellen, dass die Begründung in den Erwägungsgründen 29 bis 33 der angefochtenen Verordnung im Hinblick auf die vorstehend in Rn. 130 angeführte Rechtsprechung hinreichend substantiiert ist.
134. Aus dem 29. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ergibt sich nämlich, dass der Rat die von der Klägerin übermittelten Daten für nicht zuverlässig hielt. Zunächst habe die Klägerin die Arbeitsblätter, die sie zum Ausfüllen des Befreiungsantrags verwendet habe, nicht aufbewahrt. Daher habe sie keinen Nachweis für die Richtigkeit der entsprechenden Zahlen erbringen können. Sodann sei bei den während des Kontrollbesuchs auf der Grundlage der in den Geschäftsräumen der Klägerin verfügbaren Unterlagen vorgenommenen Berechnungen festgestellt worden, dass die vorgelegten Zahlen ungenau seien. Schließlich habe die Untersuchung ergeben, dass der Verkaufsleiter des Unternehmens auch bei einem chinesischen Fahrradhersteller beschäftigt gewesen sei, bei dem es sich um den Hauptlieferanten der Klägerin für Fahrradteile gehandelt habe.
135. Aus den Erwägungsgründen 30 und 31 der angefochtenen Verordnung ergibt sich, dass die Kommission der Klägerin, nachdem sie ihr ihre Absicht mitgeteilt hatte, die vorgelegten Informationen nicht zu berücksichtigen, Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. In der entsprechenden Stellungnahme habe sich die Klägerin zur Mitarbeit bereit erklärt und alle erbetenen Unterlagen mit Ausnahme der Arbeitsblätter vorgelegt, die ihrer Ansicht nach nie verlangt worden seien. Der Rat weist insoweit darauf hin, dass die Arbeitsblätter bereits vor der Kontrolle vor Ort angefordert worden seien. In Bezug auf das Argument der Klägerin, dass die vor Ort vorgenommenen Kontrollberechnungen aufgrund der unzutreffenden Erläuterungen eines einzigen Beschäftigten fehlerhaft gewesen seien, weist der Rat darauf hin, dass mehrere Beschäftigte um Erläuterungen gebeten worden seien, die aber weder imstande gewesen seien, anzugeben, woher die in dem Formular vorgelegten Zahlen stammten, noch, wie sie berechnet worden seien.
136. Der Rat ist daher in den Erwägungsgründen 32 und 33 der angefochtenen Verordnung zu dem Schluss gelangt, dass die von der Klägerin mitgeteilten Informationen nicht berücksichtigt werden könnten und dass die Feststellungen nach Art. 18 der Grundverordnung auf der Grundlage der verfügbaren Informationen getroffen worden seien.
137. Zweitens ist festzustellen, dass der Rat in der angefochtenen Verordnung zwar nicht ausdrücklich aufgelistet hat, welcher Art die verfügbaren Informationen waren.
138. Insbesondere aus den Erwägungsgründen 28 bis 33, 45, 46, 50, 51, 55, 56, 92 und 98 bis 102 der angefochtenen Verordnung ergibt sich jedoch, dass die verfügbaren Informationen alle Angaben umfassen, die der Rat verwendet hat, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Klägerin eine Umgehung begangen habe, d. h. vor allem die Informationen, die auf eine Veränderung des Handelsgefüges schließen ließen, das Fehlen einer anderen glaubhaften Erklärung und die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat, die verwendet worden sind, um zum einen die Feststellung der Untergrabung der Abhilfewirkung des ursprünglichen Antidumpingzolls und zum anderen das Vorliegen von Beweisen für ein Dumping im Vergleich zu den vorher festgelegten Normalwerten zu begründen. Darüber hinaus umfassen die verfügbaren Informationen alle einschlägigen Beweise einschließlich der Beschwerde (Erwägungsgründe 10 bis 17 der angefochtenen Verordnung).
139. Drittens ist zu dem Argument, dass der Rat hätte begründen müssen, inwieweit die verwendeten verfügbaren Informationen die bestmöglichen gewesen seien, darauf hinzuweisen, dass sich eine solche Verpflichtung weder aus Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung noch aus der Rechtsprechung ergibt. Nach Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung kann der Rat seine Feststellungen auf die verfügbaren Informationen stützen, wenn die vorgelegten Informationen unzulänglich sind (siehe oben, Rn. 111). Da im vorliegenden Fall die vorgelegten Informationen unzulänglich waren, musste der Rat demnach nicht begründen, inwieweit die verwendeten verfügbaren Informationen besser seien als die vorgelegten Informationen. Zudem hat die Klägerin nicht behauptet, dass andere verfügbare Informationen besser seien als die vom Rat verwendeten verfügbaren Informationen. Daher ist das Argument der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.
140. Folglich ist der dritte Teil des zweiten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Berücksichtigung der von der Klägerin übermittelten zusätzlichen Informationen
141. Mit dem vierten Teil macht die Klägerin geltend, der Rat habe gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem er alle übermittelten Informationen zurückgewiesen habe, ohne zu prüfen, ob einige Informationen bezüglich der Rüge eines Versands verwendet werden könnten. Die Informationen seien rechtzeitig übermittelt worden und, was die Rüge eines Versands betreffe, leicht überprüfbar gewesen.
142. Erstens wurde, was einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung betrifft, bereits vorstehend in Rn. 125 darauf hingewiesen, dass die Anwendung dieses Art. 18 Abs. 3 voraussetzt, dass vier kumulativ anzuwendende Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich insbesondere die, dass die möglichen Mängel nicht derart sind, dass sie angemessene und zuverlässige Feststellungen über Gebühr erschweren, und dass die übermittelten Informationen nachprüfbar sind. Im vorliegenden Fall wurde jedoch bereits im Rahmen des ersten Klagegrundes festgestellt, dass sich die von der Klägerin vorgelegten Informationen als unvollständig, widersprüchlich und nicht überprüfbar erwiesen haben, was die Anwendung von Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung unabhängig von der Art der in Rede stehenden Umgehung ausschloss.
143. Die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
144. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Rechtmäßigkeit einer Unionsregelung voraussetzt, dass die gewählten Mittel zur Erreichung des mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziels geeignet sind und das Maß des hierzu Erforderlichen nicht übersteigen, wobei von mehreren geeigneten Maßnahmen grundsätzlich die am wenigsten belastende zu wählen ist (Urteil vom 5. Juni 1996, NMB France u. a./Kommission, T‑162/94, Slg, EU:T:1996:71, Rn. 69).
145. Im vorliegenden Fall vertritt die Klägerin im Wesentlichen die Auffassung, dass es unverhältnismäßig gewesen sei, alle vorgelegten Informationen außer Acht zu lassen, ohne zu prüfen, ob einige Informationen bezüglich der Rüge eines Versands verwendet werden könnten.
146. Hierzu genügt die Feststellung, dass die Klägerin die Übermittlung von Informationen schuldig geblieben ist, die belegten, dass es sich bei ihr tatsächlich um ein indonesisches Ausfuhrunternehmen handelte oder dass sie die Kriterien nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllt hat. Der Rat hat die genannten Informationen daher ohne Verkennung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit außer Acht gelassen.
147. Folglich ist der vierte Teil des zweiten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
148. Nach alledem ist der zweite Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung und den Grundsatz der Gleichbehandlung
149. Die Klägerin macht erstens geltend, dem Rat seien dadurch tatsächliche Fehler und Beurteilungsfehler unterlaufen, dass er die Preisangaben der Comext-Datenbank von Eurostat verwendet habe. Es habe in allen Prüfungsphasen der Antidumpingverordnungen bezüglich Fahrrädern und Fahrradteilen aus China Einvernehmen darüber bestanden, dass die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat nicht zuverlässig seien und keine schlüssigen Vergleiche zuließen.
150. Zweitens habe der Rat gegen Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung und den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, indem er die Informationen der Klägerin über die Ausfuhrpreise, deren Verlässlichkeit im 31. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung bestätigt worden sei, ausgeklammert habe. Der Umstand, dass die Daten der kooperierenden Gesellschaften berücksichtigt worden seien, verfälsche die Zahlen zum Vorliegen von Dumping.
151. Der Rat tritt den Argumenten der Klägerin entgegen.
152. Hierzu ist festzustellen, dass das Vorliegen einer Umgehung nach Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung voraussetzt, dass Beweise für ein Dumping im Verhältnis zu den in der ursprünglichen Antidumpinguntersuchung festgestellten Normalwerten vorliegen.
153. Darüber hinaus geht aus der Grundverordnung hervor, dass die Unionsorgane für die Berechnung des Dumpings die am besten geeignete Methode wählen müssen und dass diese Wahl mit der Beurteilung komplexer wirtschaftlicher Sachverhalte verbunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 1992, Minolta Camera/Rat, C‑178/87, Slg, EU:C:1992:112, Rn. 41).
154. Im vorliegenden Fall ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass bereits festgestellt worden ist, dass die Klägerin, da die vorgelegten Informationen nicht verlässlich und überprüfbar waren, im Sinne von Art. 18 der Grundverordnung nicht kooperiert hat.
155. Aus dem 31. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ergibt sich zwar, dass sich der Abgleich der Zahlen zu den Ausfuhrverkäufen als korrekt erwiesen hat. Wie der Rat von der Klägerin unwidersprochen geltend gemacht hat, konnte jedoch nur der aggregierte Wert aller Ausfuhren mit den Büchern abgeglichen und überprüft werden. Da die vorgelegten Informationen zudem unvollständig waren, hat die Klägerin zu keinem Zeitpunkt die erforderlichen Informationen vorgelegt (siehe hierzu oben, Rn. 85 und 114).
156. Da dem Rat folglich keine zuverlässigen Informationen über die Klägerin und die Gesellschaften, die sich nicht gemeldet hatten, zur Verfügung standen, durfte er sich auf die verfügbaren Informationen stützen.
157. Als Zweites rügt die Klägerin die Verwendung von Daten aus der Comext-Datenbank von Eurostat als verfügbare Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung. Sie beruft sich auf die Verordnung Nr. 1095/2005, die Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 und die Verordnung Nr. 502/2013, in denen die Zuverlässigkeit dieser Daten in Frage gestellt worden sei.
158. Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass die drei von der Klägerin genannten Verordnungen keine Antiumgehungsverfahren betrafen. Sie betrafen die Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls, eine Auslaufüberprüfung und eine Interimsüberprüfung.
159. Zweitens wurden die Ausfuhrpreise für die Hersteller, die nicht kooperiert hatten, in diesen drei Verordnungen jeweils unterschiedlich berechnet. In der Verordnung Nr. 1095/2005 wurden die Zahlen der kooperierenden Gesellschaften verwendet, da die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat im Fall einer vollständigen Überprüfung der Dumping- und Schädigungssituation nicht als hinreichend genau angesehen wurden. In der Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 wurden dagegen die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat verwendet, da nur ein Unternehmen kooperiert hatte. In der Verordnung Nr. 502/2013 wurden die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat nur in begrenztem Umfang verwendet, da diese Daten für den besonderen Fall einer Interimsüberprüfung erneut nicht als hinreichend genau angesehen wurden.
160. Daher wurden die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat entgegen der Auffassung der Klägerin in den drei genannten Verordnungen nicht als unzulänglich angesehen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass das Dumping je nach dem Gegenstand der Untersuchung und den Umständen des Falles anhand verschiedener Methoden berechnet wurde.
161. Drittens betrafen diese Verordnungen China und Vietnam, nicht aber Indonesien. Die Klägerin hat keine Beweise dafür vorgebracht, dass diese Feststellungen auch für Indonesien gelten.
162. Die Argumente der Klägerin zur Zuverlässigkeit der Daten der Comext-Datenbank von Eurostat sind daher als unbegründet zurückzuweisen.
163. Als Drittes ist die Klägerin im Rahmen ihres Vorwurfs eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Ansicht, dass die Kommission in dem Fall, dass die vom Rat verwendeten Zahlen – wobei es sich im Wesentlichen um die Zahlen der Ausführer, die kooperiert hätten, handele – tatsächlich Dumping belegten, eine Antidumpinguntersuchung hinsichtlich der übrigen indonesischen Hersteller hätte einleiten müssen, statt die Klägerin als für die Schwierigkeiten der Industrie der Union unwahrscheinliche einzige Verantwortliche auszuwählen.
164. Insoweit ist erstens festzustellen, dass die Unionsorgane zu dem Schluss gelangt sind, dass Beweise für ein Dumping im Verhältnis zu den Normalwerten vorlägen, die während der früheren Antidumpinguntersuchung festgestellt worden seien, nicht aber im Verhältnis zum Normalwert der Verkäufe der entsprechenden Ausführer auf ihrem nationalen Markt. Die Feststellungen in der angefochtenen Verordnung deuteten daher nicht auf die Notwendigkeit hin, eine unabhängige Antidumpinguntersuchung im Hinblick auf die indonesischen Hersteller einzuleiten. Darüber hinaus waren die kooperierenden Hersteller – im Gegensatz zur Klägerin – imstande, nachzuweisen, dass sie nicht an der Umgehung mitgewirkt haben.
165. Zweitens hat der Rat in seiner Antwort auf eine schriftliche Frage des Gerichts ausgeführt, dass die Menge und der Wert der Ausfuhren der kooperierenden Hersteller von den in der Comext-Datenbank von Eurostat enthaltenen aggregierten Daten bezüglich aller indonesischen Ausführer abgezogen worden seien. Folglich ist der Rat – anders als von der Klägerin behauptet – nicht unter Verwendung der Daten der kooperierenden Hersteller zu dem Schluss gelangt, dass Beweise für ein Dumping vorlägen.
166. Angesichts der Ausführungen in den vorstehenden Rn. 152 bis 165 ist festzustellen, dass die Klägerin, soweit es darum geht, ob es Beweise für das Vorliegen eines Dumpings gab, den Nachweis von Rechts- oder Beurteilungsfehlern des Rates sowie eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung schuldig geblieben ist.
167. Demnach ist der dritte Klagegrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
168. Nach den vorangegangenen Ausführungen, insbesondere denjenigen in Rn. 106, ist Art. 1 Abs. 1 und 3 der angefochtenen Verordnung für nichtig zu erklären, soweit er die Klägerin betrifft.
Kosten
169. Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
170. Die Kommission und Maxcom tragen nach Art. 87 § 4 Abs. 1 und 3 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten.
(1) .
(1) Unkenntlich gemachte vertrauliche Angaben.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Art. 1 Abs. 1 und 3 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 501/2013 des Rates vom 29. Mai 2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht, wird für nichtig erklärt, soweit er die Chin Haur Indonesia, PT betrifft.
2. Der Rat der Europäischen Union trägt die Kosten von Chin Haur Indonesia sowie seine eigenen Kosten.
3. Die Europäische Kommission und die Maxcom Ltd tragen ihre eigenen Kosten.
URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)
19. März 2015 (*1)
„Dumping — Aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern — Ausweitung des auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in China eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf diese Einfuhren — Umgehung — Mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit — Art. 13 und 18 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 — Begründungspflicht — Beurteilungsfehler“
In der Rechtssache T‑412/13
Chin Haur Indonesia, PT mit Sitz in Tangerang (Indonesien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte T. Müller‑Ibold und F.‑C. Laprévote,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch S. Boelaert als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt R. Bierwagen,
Beklagter,
unterstützt durch:
Europäische Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland und M. França als Bevollmächtigte,
und
Maxcom Ltd mit Sitz in Plovdiv (Bulgarien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt L. Ruessmann und J. Beck, Solicitor,
Streithelferinnen,
wegen teilweiser Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 501/2013 des Rates vom 29. Mai 2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht (ABl. L 153, S. 1)
erlässt
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. van der Woude (Berichterstatter), der Richterin I. Wiszniewska‑Białecka und des Richters I. Ulloa Rubio,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2014
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin, die Chin Haur Indonesia, PT ist ein Unternehmen taiwanesischen Ursprungs, das Fahrräder aus Indonesien in die Europäische Union einführt. Sie rügt die Ausweitung des durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 des Rates vom 3. Oktober 2011 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China im Anschluss an eine Auslaufüberprüfung nach Artikel 11 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 (ABl. L 261, S. 2) eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf bestimmte indonesische Unternehmen.
Die wesentlichen ursprünglichen Antidumping- und Antisubventionsverfahren
2 Mit der Verordnung (EWG) Nr. 2474/93 vom 8. September 1993 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Antidumpingzolls (ABl. L 228, S. 1) führte der Rat der Europäischen Gemeinschaften auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in China einen endgültigen Antidumpingzoll von 30,6 % ein.
3 Im Anschluss an eine Auslaufüberprüfung nach seiner Verordnung (EG) Nr. 384/96 vom 22. Dezember 1995 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. 1996, L 56, S. 1) in geänderter Fassung (ersetzt durch die Verordnung [EG] Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern [ABl. L 343, S. 51, Berichtigung ABl. 2010, L 7, S. 22, im Folgenden: Grundverordnung]) und insbesondere nach Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 384/96 (jetzt Art. 11 Abs. 2 der Grundverordnung) bestätigte der Rat mit der Verordnung (EG) Nr. 1524/2000 vom 10. Juli 2000 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. L 175, S. 39) den Antidumpingzoll von 30,6 %.
4 Im Anschluss an eine Interimsüberprüfung nach Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 384/96 (jetzt Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung) erhöhte der Rat mit der Verordnung (EG) Nr. 1095/2005 vom 12. Juli 2005 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in Vietnam und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1524/2000 (ABl. L 183, S. 1) den geltenden Antidumpingzoll auf 48,5 %.
5 Im Oktober 2011 bestätigte der Rat im Anschluss an eine Auslaufüberprüfung nach Art. 11 Abs. 2 der Grundverordnung mit der Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 den Antidumpingzoll von 48,5 %.
6 Im April 2012 machte die Europäische Kommission die Einleitung eines Antisubventionsverfahrens betreffend die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in China in die Union nach Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 597/2009 des Rates vom 11. Juni 2009 über den Schutz gegen subventionierte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. L 188, S. 93) bekannt.
7 Am 22. Mai 2013 erließ die Kommission den Beschluss 2013/227/EU zur Einstellung des Antisubventionsverfahrens betreffend die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. L 136, S. 15), ohne andere Antisubventionsmaßnahmen einzuführen. Am 29. Mai 2013 erließ der Rat im Anschluss an eine Interimsüberprüfung nach Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung die Verordnung (EU) Nr. 502/2013 zur Änderung der Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 (ABl. L 153, S. 17).
Umgehungsverfahren
8 Am 14. August 2012 wurde die Kommission mit einem im Namen von drei Fahrradherstellern der Union eingereichten Antrag des Europäischen Fahrradherstellerverbands (European Bicycle Manufacturers Association – EBMA) befasst, mit dem sie ersucht wurde, zum einen eine mutmaßliche Umgehung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber der Einfuhr von Fahrrädern mit Ursprung in China zu untersuchen und zum anderen die aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandten Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas und Tunesiens angemeldet oder nicht, zollamtlich zu erfassen.
9 Am 25. September 2012 erließ die Kommission die Verordnung (EU) Nr. 875/2012 zur Einleitung einer Untersuchung betreffend die mutmaßliche Umgehung der mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 des Rates eingeführten Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China durch aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht, und zur zollamtlichen Erfassung dieser Einfuhren (ABl. L 258, S. 21).
10 Mit dieser Untersuchung sollte u. a. die mutmaßliche Veränderung des Handelsgefüges nach der Erhöhung des Antidumpingzolls im Jahr 2005 geprüft werden. Sie bezog sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis zum 31. August 2012 (im Folgenden: Untersuchungszeitraum). Für den Zeitraum vom 1. September 2011 bis zum 31. August 2012 (im Folgenden: Berichtszeitraum) wurden ausführlichere Informationen eingeholt, um eine mögliche Untergrabung der Abhilfewirkung der geltenden Maßnahmen sowie das Vorliegen eines Dumpings zu untersuchen.
11 Die Klägerin wurde von der Einleitung der Umgehungsuntersuchung unterrichtet und erhielt am 26. September 2012 ein Formular zur Beantragung einer Befreiung. Dieses sollte sie bis zum 2. November 2012 auf elektronischem Weg beantworten.
12 Am 5. November 2012 ging bei der Kommission eine Papierfassung des Befreiungsantrags der Klägerin ein. Die Klägerin gab darin insbesondere an, keine Montagearbeiten in einem Drittstaat im Sinne von Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung vorgenommen zu haben.
13 Mit Schreiben vom 27. November 2012 forderte die Kommission die Klägerin auf, ihr bei dem Kontrollbesuch bestimmte Unterlagen, insbesondere die zum Ausfüllen des Befreiungsantrags verwendeten Arbeitsblätter, zur Verfügung zu stellen. Die Klägerin bestätigte den Erhalt dieses Schreibens am 28. November 2012.
14 Mit einem weiteren Schreiben vom 29. November 2012 forderte die Kommission die Klägerin auf, ihr bis zum 3. Dezember 2012 zu 13 in dem Befreiungsantrag fehlenden Angaben neue Informationen zu übermitteln. Am 3. und am 4. Dezember 2012 übersandte die Klägerin der Kommission eine Reihe von Unterlagen.
15 Am 6. und am 7. Dezember 2012 fand in den Geschäftsräumen der Klägerin der Kontrollbesuch statt. Dabei legte die Klägerin der Kommission einen überarbeiteten Befreiungsantrag vor.
16 Am 28. Januar 2013 kündigte die Kommission der Klägerin an, dass sie beabsichtige, ihr gegenüber Art. 18 der Grundverordnung anzuwenden. Die Klägerin nahm am 4. Februar 2013 Stellung.
17 Am 21. März 2013 übermittelte die Kommission der Klägerin sowie den indonesischen und den chinesischen Behörden das allgemeine Informationsdokument, in dem sie ihre Schlussfolgerungen zu Versand- und Montagevorgängen darlegte und ihre Absicht bekundete, eine Ausweitung der für Einfuhren von Fahrrädern aus China eingeführten Antidumpingmaßnahmen auf Einfuhren aus Indonesien vorzuschlagen. In Anhang B des allgemeinen Informationsdokuments wies die Kommission den Befreiungsantrag der Klägerin insbesondere aufgrund der Unzuverlässigkeit der vorgelegten Informationen zurück.
18 Die Klägerin trat den in dem allgemeinen Informationsdokument gezogenen Schlussfolgerungen mit Schreiben vom 9. April 2013 entgegen. Am 28. Mai 2013 gab sie dazu eine weitere Stellungnahme ab.
19 Am 29. Mai 2013 erließ der Rat die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 501/2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht (ABl. L 153, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung).
Angefochtene Verordnung
20 In den Erwägungsgründen 28 bis 33 der angefochtenen Verordnung stellte der Rat zum einen fest, dass vier indonesische Unternehmen, auf die im Berichtszeitraum 91 % aller Einfuhren aus Indonesien in die Union entfallen seien, einen Befreiungsantrag nach Art. 13 Abs. 4 der Grundverordnung gestellt hätten. Zum anderen war der Rat der Ansicht, dass die Angaben, die eines dieser Unternehmen vorgelegt habe, nicht nachprüfbar und unzuverlässig seien. Trotz der eingegangenen Stellungnahmen meinte der Rat, dass die von diesem Unternehmen übermittelten Informationen nicht berücksichtigt werden könnten. Daher wurden die es betreffenden Schlussfolgerungen gemäß Art. 18 der Grundverordnung auf der Grundlage der verfügbaren Informationen getroffen. Die drei anderen Unternehmen wurden als kooperierende Unternehmen betrachtet.
21 In den Erwägungsgründen 45 bis 58 der angefochtenen Verordnung stellte der Rat nach einer Untersuchung der Entwicklung der Handelsströme zwischen China, Indonesien und der Union sowie der Entwicklung der Produktionsmengen fest, dass nach der Erhöhung der Antidumpingzölle im Juli 2005 eine Veränderung des Handelsgefüges im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung zwischen Indonesien und der Union eingetreten sei.
22 In den Erwägungsgründen 59 bis 67 der angefochtenen Verordnung untersuchte der Rat die Art der ausgeübten Umgehungspraktiken.
23 In den Erwägungsgründen 60 bis 64 der angefochtenen Verordnung prüfte der Rat, ob sich Versandpraktiken feststellen ließen. Er kam zunächst zu dem Ergebnis, dass in Bezug auf die drei kooperierenden Unternehmen keine Versandpraktiken festgestellt worden seien. Hinsichtlich des Unternehmens, auf das nach Ansicht des Rates Art. 18 der Grundverordnung anzuwenden war, führte er dagegen aus, dass „[d]ie Untersuchung ergab, dass das Unternehmen nicht über die nötige eigene Ausrüstung verfügte, die die für den [Berichtszeitraum] verzeichneten Ausfuhrmengen in die Union hätten rechtfertigen können“, und dass, „da das Unternehmen keine andere Begründung vorbrachte, … der Schluss gezogen werden [kann], dass das Unternehmen an Umgehungspraktiken im Wege des Versands beteiligt war“ (62. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung). Angesichts der Veränderung des Handelsgefüges, der Feststellungen in Bezug auf das Unternehmen, auf das Art. 18 der Grundverordnung anwendbar sei, und des Umstands, dass sich nicht alle indonesischen ausführenden Hersteller gemeldet und somit nicht alle kooperiert hätten, kam der Rat zu dem Schluss, dass Waren chinesischen Ursprungs über Indonesien versandt worden seien.
24 In den Erwägungsgründen 65 bis 67 der angefochtenen Verordnung prüfte der Rat, ob Montagevorgänge vorlagen. Er gelangte zu dem Schluss, dass zum einen in Bezug auf die drei kooperierenden Unternehmen keine Montagevorgänge festgestellt worden seien und dass er zum anderen nicht habe feststellen können, ob das vierte Unternehmen, auf das Art. 18 der Grundverordnung angewandt worden sei, an Montagevorgängen beteiligt gewesen sei. Das Vorliegen von in Indonesien vorgenommenen Montagevorgängen im Sinne von Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung wurde daher nicht festgestellt.
25 Im 92. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hob der Rat hervor, dass die Untersuchung keine andere hinreichende Begründung oder wirtschaftliche Rechtfertigung erbracht habe als die Absicht, die geltenden Maßnahmen gegenüber der betroffenen Ware zu vermeiden.
26 In den Erwägungsgründen 94 und 95 der angefochtenen Verordnung hob der Rat zum einen hervor, dass der Vergleich der in der Interimsüberprüfung von 2005 festgestellten Schadensbeseitigungsschwelle mit dem gewogenen durchschnittlichen Ausfuhrpreis im Berichtszeitraum eine deutliche Zielpreisunterbietung ergeben habe. Zum anderen wies er darauf hin, dass der Anstieg der Einfuhren aus Indonesien in die Union in Bezug auf die Mengen als erheblich anzusehen sei. Der Rat kam daher im 96. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung zu dem Schluss, dass die geltenden Maßnahmen im Hinblick auf Mengen und Preise untergraben würden.
27 In den Erwägungsgründen 99 bis 102 der angefochtenen Verordnung prüfte der Rat gemäß Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung, ob Beweise für ein Dumping im Verhältnis zu dem Normalwert vorlagen, der bei der 2005 abgeschlossenen Interimsüberprüfung festgestellt worden sei. Um die Preise der Ausfuhren aus Indonesien zu ermitteln, die Gegenstand von Umgehungspraktiken seien, wurden nur die Ausfuhren der ausführenden Hersteller berücksichtigt, die nicht kooperiert hatten. Anschließend wurden die besten verfügbaren Informationen, im vorliegenden Fall der Durchschnittspreis für die Ausfuhr von Fahrrädern aus Indonesien in die Union während des Berichtszeitraums, der in der Comext-Datenbank von Eurostat verzeichnet war, herangezogen. Nach mehreren Berichtigungen des Normalwerts und des Ausfuhrpreises ergab sich aus dem Vergleich der beiden Variablen nach Ansicht des Rates ein Dumping.
28 Nach alledem gelangte der Rat zu dem Schluss, dass eine Umgehung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung in Form eines Versands über Indonesien vorliege. Er weitete daher den in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 990/2011 vorgesehenen endgültigen Antidumpingzoll von 48,5 % auf die Einfuhren der in Rede stehenden aus Indonesien versandten Ware, ob als Ursprungserzeugnis Indonesiens angemeldet oder nicht, aus. Nach den oben in Rn. 20 angeführten Feststellungen gewährte der Rat drei der vier Ausführer, die einen Befreiungsantrag gestellt hatten, eine Befreiung von den ausgeweiteten Maßnahmen.
Verfahren und Anträge der Parteien
29 Mit Klageschrift, die am 9. August 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
30 Mit besonderem Schriftsatz, der der Klageschrift beigefügt war, hat die Klägerin außerdem beantragt, über diese Rechtssache im beschleunigten Verfahren nach Art. 76a der Verfahrensordnung des Gerichts zu entscheiden.
31 Infolge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern ist der Berichterstatter der Siebten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb zugewiesen worden ist.
32 Dem Antrag auf Behandlung im beschleunigten Verfahren hat die Siebte Kammer des Gerichts mit Beschluss vom 8. Oktober 2013 stattgegeben.
33 Mit Schriftsätzen, die am 17. Oktober und am 8. November 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Kommission und der Europäische Fahrradherstellerverband beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden.
34 Mit Beschluss vom 11. November 2013 hat der Präsident der Siebten Kammer des Gerichts dem Streithilfeantrag der Kommission stattgegeben.
35 Mit Beschluss vom 17. Dezember 2013 hat die Siebte Kammer des Gerichts den Streithilfeantrag des Europäischen Fahrradherstellerverbands zurückgewiesen.
36 Mit am 19. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat die Maxcom Ltd beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden.
37 Mit Schreiben vom 27. März und vom 15. Mai 2014 hat das Gericht als prozessleitende Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung schriftliche Fragen an die Klägerin gestellt und den Rat ersucht, Fragen zu beantworten und bestimmte Unterlagen vorzulegen. Die Parteien haben diesen prozessleitenden Maßnahmen fristgerecht Folge geleistet.
38 Mit Beschluss vom 16. Juli 2014 hat die Siebte Kammer des Gerichts dem Streithilfeantrag von Maxcom stattgegeben.
39 Die Klägerin beantragt,
—
Art. 1 Abs. 1 und 3 der angefochtenen Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie von diesen Bestimmungen betroffen ist;
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
40 Der Rat, unterstützt durch die Kommission und Maxcom, beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zulässigkeit
41 Der Rat hat in seinen schriftlichen Antworten auf die prozessleitenden Maßnahmen und anschließend in der mündlichen Verhandlung die Zulässigkeit der Klage insgesamt in Zweifel gezogen. Auf der Grundlage eines Presseartikels, von dem er während des gerichtlichen Verfahrens Kenntnis erlangt habe, macht er geltend, die Klägerin sei in Wirklichkeit keine echte indonesische Fahrradherstellerin, und ihre Existenz sei überhaupt zweifelhaft. Aus dem Presseartikel sei zu schließen, dass in Indonesien nur das chinesische Unternehmen F. als Hersteller tätig gewesen sei. Unter diesen Umständen sei der Befreiungsantrag der Klägerin im Namen des falschen Unternehmens gestellt worden. Die Klage sei daher insgesamt als unzulässig abzuweisen.
42 Die Klägerin tritt dem Vorbringen des Rates entgegen; es sei unbegründet und beruhe auf Umständen, die nicht Teil der Akte seien.
43 Hierzu ist festzustellen, dass der vom Rat herangezogene kurze Presseartikel mit, was die Klägerin betrifft, einer Länge von nur einer Seite nicht eindeutig ist und jedenfalls die Behauptung des Rates nicht stützen kann.
44 Aus dem fraglichen Presseartikel folgt nämlich, dass die Klägerin, eine Gesellschaft taiwanesischen Ursprungs, seit 1990 in Indonesien niedergelassen sein soll. Sie stelle Fahrradteile her, die sie in Südostasien, Indonesien, Südamerika und Italien verkaufe. Außerdem habe sie eines ihrer Werke der Montage von Fahrrädern für das chinesische Unternehmen F. gewidmet. Nach der Auferlegung europäischer Antidumpingzölle auf die Einfuhren chinesischer Fahrräder habe sie ihr Werk an das Unternehmen F. vermietet, wobei nicht eindeutig erläutert wird, welcher Art die Beziehungen zwischen der Klägerin und diesem Unternehmen genau sind.
45 Folglich ist, unabhängig von der Frage, ob die Vorlage eines kurzen Presseartikels ohne weitere Beweismittel der Zulässigkeit einer Klage entgegenstehen kann, festzustellen, dass die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführten Erwägungen des Rates durch diesen Presseartikel nicht bestätigt werden.
46 Da der Rat insoweit keine weiteren Beweismittel vorgelegt hat, ist die Klage zulässig.
Begründetheit
47 Die Klägerin stützt ihre Klage auf drei Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund – Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung – rügt sie Rechts- und Beurteilungsfehler des Rates hinsichtlich des Vorliegens einer Umgehung und der Art der verfügbaren Informationen. Der zweite Klagegrund – Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Begründungspflicht – betrifft die Feststellung fehlender Mitarbeit. Der dritte Klagegrund – Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung und den Grundsatz der Gleichbehandlung – bezieht sich auf das Vorliegen von Dumping.
Erster Klagegrund: Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung
48 Der erste Klagegrund besteht aus zwei Teilen, von denen der erste die Frage betrifft, ob tatsächlich eine Veränderung des Handelsgefüges eingetreten ist, und der zweite die Schlussfolgerung des Rates, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen habe.
– Zur Veränderung des Handelsgefüges
49 Die Klägerin macht erstens geltend, die chinesischen Statistiken über die Ausfuhr von Fahrrädern nach Indonesien, auf die der Rat seine Feststellung einer Veränderung des Handelsgefüges im Wesentlichen gestützt habe, seien fehlerhaft. Für Fahrräder habe bei der Ausfuhr ein höherer Rückerstattungssatz als für Fahrradteile gegolten, was die chinesischen Ausführer dazu verleitet habe, Ausfuhren bloßer Teile als Ausfuhren vollständiger Fahrräder anzumelden. Die chinesischen Ausfuhrstatistiken über Fahrräder seien demnach künstlich hoch gewesen, da es sich bei den meisten ausgeführten Fahrrädern in Wirklichkeit um Fahrradteile gehandelt habe. Die Volksrepublik China habe somit eine erheblich geringere Zahl an Fahrrädern nach Indonesien ausgeführt als in Tabelle 2 der angefochtenen Verordnung angegeben.
50 Zweitens hätten die zur Feststellung einer Veränderung des Handelsgefüges herangezogenen Daten nicht ausgereicht, um darauf die Feststellung eines Versands zu stützen, da zwischen den Ausfuhren von Fahrrädern aus China nach Indonesien und den Ausfuhren von Indonesien in die Union keine eindeutige Korrelation bestanden habe.
51 Drittens habe der Rat andere Erklärungen für die mutmaßliche Veränderung des Handelsgefüges außer Acht gelassen. Insbesondere seine Analyse der Produktionsmengen sei wenig überzeugend und betreffe einen falschen Zeitraum.
52 Der Rat weist diese Argumente insgesamt als unbegründet zurück.
53 Was das erste Argument betrifft, ist insoweit erstens festzustellen, dass sich dem von der Klägerin übermittelten Dokument, in dem die unterschiedlichen Rückerstattungssätze für Fahrräder und für Fahrradteile ausgewiesen sind, entnehmen lässt, dass für Fahrradteile und vollständige Fahrräder offensichtlich tatsächlich unterschiedliche Mehrwertsteuererstattungssätze existieren.
54 Die Klägerin hat jedoch keinen Beweis dafür beigebracht, dass die chinesischen Ausführer oder die Zollbehörden infolgedessen Ausfuhren bloßer Fahrradteile als Ausfuhren vollständiger Fahrräder angemeldet hätten. Sie hat nämlich nur zu einer begrenzten Zahl von Geschäftsvorgängen Unterlagen vorgelegt. Selbst wenn diese Unterlagen einen Beweiswert für das Vorliegen dieser Praxis hätten, könnten sie nicht für sich allein belegen, dass diese Praxis hinreichend gebräuchlich war, um die vom Rat verwendeten Statistiken in Frage zu stellen. Letztendlich hat die Klägerin jedenfalls nicht dargetan, dass diese Praxis hinreichend gebräuchlich war, um die Gültigkeit der chinesischen Statistiken in Frage zu stellen.
55 Zweitens macht die Klägerin geltend, dass die Kommission bei ihrer Untersuchung eine solche Praxis leicht hätte feststellen können, da diese den Wirtschaftsteilnehmern des Sektors gut bekannt sei. Im Wesentlichen wirft sie der Kommission eine Sorgfaltspflichtverletzung vor.
56 Dazu trägt zum einen der Rat – von der Klägerin unwidersprochen – vor, dass offensichtlich keine der anderen Parteien, die von dieser Untersuchung oder von den anderen gleichzeitig durchgeführten Untersuchungen betroffen gewesen seien, das Vorliegen einer solchen Praxis erwähnt habe. Im Übrigen haben die indonesischen und die chinesischen Behörden, denen die Untersuchungsergebnisse übermittelt wurden, zu keinem Zeitpunkt die Verlässlichkeit der verwendeten Statistiken, soweit ihre eigenen Zahlen betroffen sind, in Frage gestellt. Der Rat hatte daher keine Veranlassung, an der Verlässlichkeit dieser Statistiken zu zweifeln.
57 Zum anderen hat die Klägerin erst am 28. Mai 2013, d. h. am Tag vor der Annahme der angefochtenen Verordnung und mehr als 40 Tage nach Ablauf der Frist für die Abgabe der Stellungnahme zu dem allgemeinen Informationsdokument, auf das vermeintliche Vorliegen dieser Praxis hingewiesen. Davor hatte sie sie nie erwähnt. Das Argument der Klägerin ist daher in einem besonders späten Stadium der Untersuchung vorgebracht worden.
58 Unter diesen Umständen hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass hinsichtlich der verwendeten Statistiken ein Beurteilungsfehler oder eine Verletzung der Sorgfaltspflicht der Unionsorgane vorliegt.
59 Zum zweiten Argument ist festzustellen, dass die in den Erwägungsgründen 45 bis 55 der angefochtenen Verordnung aufgeführten Zahlen des Rates eine Veränderung des Handelsgefüges im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung zwischen China und der Union, zwischen China und Indonesien und schließlich zwischen Indonesien und der Union belegen.
60 Erstens lässt sich nämlich dem 45. Erwägungsgrund und Tabelle 1 der angefochtenen Verordnung entnehmen, dass die Fahrradausfuhren aus China in die Union im Untersuchungszeitraum um mehr als 80 % gesunken sind. Zwischen der Erhöhung der Antidumpingzölle im Jahr 2005 und dem Ende des Berichtszeitraums sind die Einfuhren auf ein Drittel gesunken. Zweitens sind, wie aus dem 51. Erwägungsgrund und Tabelle 2 der angefochtenen Verordnung hervorgeht, die Fahrradausfuhren aus China nach Indonesien im Untersuchungszeitraum um mehr als 83 % gestiegen. Drittens sind die Fahrradausfuhren aus Indonesien in die Union im Untersuchungszeitraum um das 2,6-fache gestiegen. Wie sich aus dem 46. Erwägungsgrund und Tabelle 1 der angefochtenen Verordnung ergibt, sind die Einfuhren aus Indonesien zwar im Jahr 2009 zurückgegangen, sie lagen aber zum einen immer noch weit über jenen der Jahre 2004 und 2005 und sind zum anderen zwischen 2010 und 2012 wieder gestiegen.
61 Zwar sind, wie die Klägerin hervorhebt, die Einfuhren aus China nach Indonesien im Jahr 2007 um 10,1 % zurückgegangen, während die Ausfuhren aus Indonesien in die Union um 18,6 % gestiegen sind. Eine solche jährliche Schwankung ist jedoch nicht geeignet, die auf der Grundlage der Zahlen der Unionsorgane festgestellte Entwicklung in Frage zu stellen. Wie nämlich der Rat zu Recht ausführt, kann eine zeitliche Verzögerung der Änderung der Ströme zwischen China und Indonesien und zwischen Indonesien und der Union insbesondere auf das Vorhandensein von Lagerbeständen zurückgehen.
62 Somit hat der Rat keinen Fehler begangen, als er aufgrund dieser Zahlen von einer Veränderung des Handelsgefüges ausgegangen ist.
63 Was das dritte Argument betrifft, hat der Rat nach Auffassung der Klägerin bei der Prüfung der Entwicklung der Ausfuhren aus Indonesien in die Union andere Erklärungen als eine Umgehung außer Acht gelassen.
64 Hierzu ist festzustellen, dass die Grundverordnung der Kommission keine Untersuchungsbefugnis verleiht, die es ihr erlaubte, die Unternehmen zu zwingen, an einer Untersuchung mitzuwirken oder Auskünfte zu erteilen. Der Rat und die Kommission sind daher darauf angewiesen, dass die Parteien durch die fristgerechte Vorlage der erforderlichen Informationen freiwillig mit ihnen zusammenarbeiten (Urteil vom 24. Mai 2012, JBF RAK/Rat, T‑555/10, EU:T:2012:262, Rn. 80).
65 Im vorliegenden Fall ergibt sich erstens aus den Akten, dass während der Untersuchung keine andere Erklärung vorgetragen worden ist. Insbesondere weist der Rat darauf hin, dass sich die indonesischen Behörden zur Ursache der Veränderung des Handelsgefüges nicht gegenteilig geäußert hätten.
66 Zweitens hat auch die Klägerin selbst im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren keine alternative Erläuterung vorgetragen, mit der sich die Veränderung des Handelsgefüges anders als mit der Festsetzung des ursprünglichen Antidumpingzolls erklären ließe. Sie hat sich – abgesehen von ihrer Kritik an der Untersuchung des Rates zur Entwicklung der Produktionsmengen – ohne nähere Angaben auf den Hinweis beschränkt, dass der Rat andere Erklärungen als eine Umgehung außer Acht gelassen habe.
67 Was die Entwicklung der Produktionsmengen betrifft, hält die Klägerin die Untersuchung des Rates für unvollständig, da diese sich weder auf den gesamten Untersuchungszeitraum noch auf sämtliche indonesischen Ausfuhrunternehmen beziehe.
68 Aus dem 56. Erwägungsgrund und Tabelle 3 der angefochtenen Verordnung ergibt sich, dass die Unionsorgane die Entwicklung der Produktionsmengen der kooperierenden Unternehmen in der Zeit von 2009 bis zum Ende des Berichtszeitraums untersucht haben. Diese Prüfung hat ergeben, dass die indonesischen kooperierenden Unternehmen ihre Produktion in diesem Zeitraum um 54 % erhöht haben.
69 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es gerechtfertigt war, dass sich die Unionsorgane nur auf die Zahlen der kooperierenden indonesischen Unternehmen gestützt haben, da die Zahlen zu den anderen Unternehmen in der Folge weder verfügbar noch zuverlässig waren. Sodann folgt, wie der Rat zutreffend ausgeführt hat, aus den auszufüllenden Tabellen in der Anlage zu dem Befreiungsantrag, dass die Antragsteller Auskünfte zu ihren Produktionsmengen seit 2004 vorlegen mussten. Die Untersuchung der Kommission bezog sich daher tatsächlich auf die Produktionsmengen im gesamten Untersuchungszeitraum. Die Beschränkung auf den Zeitraum von 2009 bis August 2012 hat der Rat in seinen Schriftsätzen damit begründet, dass nicht alle Angaben für die ersten Jahre für alle Unternehmen vollständig gewesen seien.
70 Da während der Untersuchung keine andere Begründung als die Einführung eines Antidumpingzolls erkennbar geworden ist und die Klägerin weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren insoweit etwas Konkretes vorgetragen hat, konnte der Rat fehlerfrei zu dem Schluss gelangen, dass es für die Veränderung des Handelsgefüges keine andere Erklärung gab.
71 Daher ist der erste Teil des ersten Klagegrundes insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Durchführung von Versandmaßnahmen
72 Mit dem zweiten Teil erhebt die Klägerin drei Rügen.
73 Erstens habe der Rat mit seiner Feststellung im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung (siehe oben, Rn. 23), dass die Klägerin nicht über die nötige Fertigungskapazität verfügt habe, die ihre Ausfuhrmengen in die Union hätte rechtfertigen können, einen Beurteilungsfehler begangen.
74 Zweitens habe der Rat rechtsfehlerhaft aus der bloßen Veränderung des Handelsgefüges einen Versand abgeleitet. Er habe weder die genannten Versandmaßnahmen nachgewiesen noch einen Kausalzusammenhang zwischen diesen Maßnahmen und der vermeintlichen Veränderung des Handelsgefüges dargetan.
75 Drittens hätten, da es an anderen Beweisen gefehlt habe, die vorgelegten Beweismittel die verfügbaren Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung darstellen müssen.
76 Der Rat tritt allen Argumenten der Klägerin entgegen.
77 Im Rahmen ihrer ersten Rüge macht die Klägerin geltend, dass sie tatsächlich eine Fahrradherstellerin indonesischen Ursprungs sei und daher nicht als an Umgehungspraktiken beteiligt angesehen werden könne. Aus ihrem Befreiungsantrag gehe u. a. hervor, dass [vertraulich] (1 ). Sie bestreitet nicht, eine Reihe von Einzelteilen aus China eingeführt zu haben. Diese Einzelteile seien anschließend für die Fertigung von Fahrrädern in ihrem Werk in Tangerang (Indonesien) verwendet worden, das etwa [vertraulich] beschäftigt habe. Der Fertigungsprozess in ihrem Werk habe alle Abschnitte der Fahrradherstellung umfasst.
78 Die Klägerin stützt ihre Behauptung, dass dem Rat ausreichend Informationen zur Verfügung gestanden hätten, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass kein Versand stattgefunden habe, im Wesentlichen auf ihren Befreiungsantrag und auf den Prüfbericht von Bureau V. vom 28. November 2011, dem am 16. Juli 2012 ein Anschlussbericht gefolgt sei.
79 Ferner habe – entgegen dem Vorbringen des Rates – der Umstand, dass zum Zeitpunkt des Kontrollbesuchs ihre Ausstattung keine Gebrauchsspuren aufgewiesen habe und das Werk nicht in Betrieb gewesen sei, keinen Beweiswert. Darüber hinaus widerspreche die Behauptung des Rates im 29. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass sie sich auch eines chinesischen Herstellers als Lieferanten von Fahrradteilen bedient habe, der Feststellung, dass sie selbst keine Fahrräder hergestellt und ein Versand stattgefunden habe.
80 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Grundverordnung der Kommission keine Untersuchungsbefugnis verleiht, die es ihr erlaubte, die Unternehmen zu zwingen, an der Untersuchung mitzuwirken oder Auskünfte zu erteilen. Der Rat und die Kommission sind daher darauf angewiesen, dass die Parteien durch die fristgerechte Vorlage der erforderlichen Informationen freiwillig mit ihnen zusammenarbeiten. In diesem Kontext sind die Angaben im Befreiungsantrag sowie der spätere Kontrollbesuch, den die Kommission an Ort und Stelle vornehmen kann, für den Ablauf des Antiumgehungsverfahrens unabdingbar. Somit müssen die kooperierenden Unternehmen in den Angaben und Beweismitteln, die sie übermitteln, sowie bei der Beantwortung der schriftlichen und mündlichen Fragen und bei dem Kontrollbesuch Genauigkeit und Korrektheit walten lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil JBF RAK/Rat, oben in Rn. 64 angeführt, EU:T:2012:262, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
81 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in dem Befreiungsantrag und dem überarbeiteten Befreiungsantrag tatsächlich eine Reihe einschlägiger Beweise vorgebracht. Insbesondere hat sie in den den Anträgen beigefügten Tabellen Informationen über ihre Fertigungskapazität, ihre tatsächliche Produktion, ihre Ausfuhrverkäufe, ihren Umsatz, bestimmte Finanz- und Rechnungslegungsdaten wie die Gemeinkosten des Werkes, die Lagerbestände, die Käufe von Fahrradteilen und den Ursprung dieser Käufe, den Fabrikationsprozess und die Produktionskosten zusammengestellt. Außerdem hat sie Abschlüsse vorgelegt.
82 Jedoch haben sich erstens die Angaben der Klägerin in dem ersten, am 5. November 2012 eingereichten Befreiungsantrag aufgrund ihrer weitgehenden Unvollständigkeit als unzureichend erwiesen.
83 Die Angaben in dem Befreiungsantrag vom 5. November 2012 ließen nämlich u. a. weder eine Bestimmung der jeweiligen Kosten der Fahrradteile noch ihres Ursprungs zu, so dass es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war, festzustellen, ob es sich bei der Klägerin um eine indonesische Fahrradherstellerin handelte, und ihr daher eine Befreiung nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung zu gewähren.
84 Mit ihrem Schreiben vom 29. November 2012 ersuchte die Kommission die Klägerin mit Hilfe von 13 präzisen Fragen, ihr die fehlenden Informationen bis spätestens zum 3. Dezember 2012, d. h. vor dem Kontrollbesuch, zur Verfügung zu stellen. Die Klägerin übermittelte in ihrem Schreiben vom 3. Dezember 2012 – von ihr unbestritten – Informationen nur zu zwei der 13 Fragen der Kommission.
85 Zweitens legte die Klägerin bei dem Kontrollbesuch am 6. und 7. Dezember 2012 eine überarbeitete Fassung des Befreiungsantrags vor, in dem nur bestimmte Punkte, nämlich u. a. Angaben zu den Fahrradteilen, die in anderen Ländern als in China gekauft worden waren, aktualisiert waren. Die in dem überarbeiteten Befreiungsantrag vorgelegten Informationen blieben jedoch unvollständig, was von der Klägerin im Übrigen auch nicht bestritten wird. Insbesondere blieb die Klägerin bei den Angaben über ihre Ausfuhren die cif-Werte (Kosten, Versicherung und Fracht) bestimmter Transaktionen in die Union schuldig. Darüber hinaus hat die Klägerin keine Verpackungs-, Garantie- oder Bankkosten angegeben.
86 Die Angaben in dem überarbeiteten Befreiungsantrag erwiesen sich auch als widersprüchlich und nicht überprüfbar.
87 Zunächst waren – von der Klägerin unbestritten – die Zahlen zum Ursprung der von der Klägerin gekauften Fahrradteile, die in zwei den Befreiungsanträgen beigefügten Tabellen vorgelegt worden sind, inkohärent. In einem Verfahren wegen einer möglichen Umgehung von Antidumpingzöllen sind diese Zahlen jedoch von wesentlicher Bedeutung.
88 Ferner ergibt sich aus den Akten, dass – von der Klägerin unbestritten – ihre Beschäftigten beim Kontrollbesuch zum einen nicht die Arbeitsblätter vorgelegt haben, anhand deren die Befreiungsanträge ausgefüllt werden konnten (siehe dazu unten, Rn. 112), und zum anderen nicht erläutert haben, wie die in den Befreiungsanträgen angegebenen Zahlen zustande gekommen sind. Die von der Klägerin vorgelegten Zahlen sind offensichtlich von Hand mit Hilfe einer einfachen Rechenmaschine erstellt worden.
89 Zudem ergibt sich aus den Akten auch, dass die Klägerin keine anderen Unterlagen als ihre Steuererklärungen, bestimmte Zollformulare und einige Rechnungen vorlegen konnte. Sie verfügte weder über geprüfte Jahresberichte noch über Rechnungslegungssysteme, anhand deren die in den Befreiungsanträgen vorgelegten Zahlen und die Vollständigkeit der Aufstellung der Geschäftsvorgänge leicht überprüft werden könnten. Es war beispielsweise nicht möglich, eine Korrelation zwischen den Produktionsmengen einerseits und den Verkäufen und den Lagerbeständen andererseits herzustellen. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission der Klägerin in ihrem Schreiben vom 27. November 2012 vorab mitgeteilt hat, dass diese bei dem Kontrollbesuch sämtliche Unterlagen, insbesondere die Arbeitsblätter, vorzulegen habe, anhand deren sie die in dem Befreiungsantrag angegebenen Zahlen überprüfen könne.
90 Drittens gab die Kommission der Klägerin nach dem Kontrollbesuch mit ihrem Schreiben vom 28. Januar 2013, in dem sie der Klägerin mitteilte, auf sie Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung anwenden zu wollen, erneut die Möglichkeit, die erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Die – nur eine Seite lange – Antwort der Klägerin vom 4. Februar 2013 enthielt insoweit keine wesentlichen neuen Angaben, da sich die Klägerin hauptsächlich darauf beschränkte, erneut geltend zu machen, sie habe ordnungsgemäß kooperiert. In ihrer Stellungnahme zu dem allgemeinen Informationsdokument vom 9. April 2013 und auch in ihrem verspäteten Schreiben vom 28. Mai 2013 hat die Klägerin immer noch keine konkreten Beweismittel vorgelegt, mit denen sich die in dem Befreiungsantrag angegebenen Zahlen belegen ließen.
91 Viertens belegt – wie der Rat zutreffend betont – der Prüfbericht von Bureau V. vom 28. November 2011, dem am 16. Juli 2012 ein Anschlussbericht folgte, jedenfalls nicht, dass die Klägerin selbst Fahrräder mit Ursprung in Indonesien hergestellt hätte oder die Voraussetzungen nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllen könnte.
92 In diesem Bericht geht es nämlich nicht um die Frage, ob die Klägerin Praktiken, Fertigungsprozesse oder Arbeiten ausgeübt hat, für die es außer der Einführung des ursprünglichen Antidumpingzolls keine hinreichende Begründung oder wirtschaftliche Rechtfertigung gab. Er zeigt höchstens, dass die Klägerin bei seiner Veröffentlichung mit der Herstellung von Fahrrädern befasst war, was unbestritten ist. Der Prüfbericht bezieht sich insoweit im Wesentlichen auf die Arbeitsbedingungen und die Effektivität der Organisation. Er enthält somit keine einschlägigen Angaben zur Entwicklung vor allem der Produktionsmengen und zum Ursprung der Einzelteile.
93 Darüber hinaus wird auch mit den Fotos und dem Video, die die Klägerin dem Gericht vorgelegt hat, nicht der Beweis dafür erbracht, dass sie eine indonesische Fahrradherstellerin und daher nicht an einer Umgehung im Sinne von Art. 13 der Grundverordnung beteiligt war, da anhand dieser Unterlagen u. a. der Ursprung der Ausgangsmaterialien nicht genau ermittelt werden kann.
94 Mit den Befreiungsanträgen, dem Prüfbericht von Bureau V. und den im gerichtlichen Verfahren zu verschiedenen Zeitpunkten vorgelegten Fotos, auf die sich die Klägerin allesamt stützt, kann demnach nicht nachgewiesen werden, dass sie tatsächlich ein Ausfuhrunternehmen indonesischen Ursprungs war oder die Voraussetzungen nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllt hat.
95 Nichtsdestoweniger ist festzustellen, dass der Rat auf der Grundlage der Akten nicht über ausreichende Beweismittel verfügte, um im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ausdrücklich zu dem Schluss gelangen zu können, dass die Klägerin im Hinblick auf die in die Union ausgeführten Mengen nicht über die nötige Fertigungskapazität verfügt habe, oder, in der Folge, dass sie an Versandmaßnahmen, d. h. am Versand der von den Maßnahmen betroffenen Ware über Drittländer, beteiligt gewesen sei.
96 Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass der Rat sich in seiner Begründung weitgehend auf die Feststellungen der Bediensteten der Kommission bei ihrem Kontrollbesuch stützt.
97 Nach Ansicht der Bediensteten der Kommission hat sich u. a. gezeigt, dass die Klägerin nicht über die erforderlichen Maschinen verfügt habe, um für die erklärten Mengen ausreichend Teile herzustellen. Sie hätten vermerkt, dass die Produktionsstätte der Klägerin bei ihrer Ankunft abgeschlossen gewesen sei und dass einige Produktionsmaschinen neu oder in jüngster Zeit wahrscheinlich nicht benutzt worden seien. Zudem habe es weder eine Schneide- noch eine Schweißmaschine gegeben. Die Bediensteten der Kommission hätten vergeblich darum gebeten, die Ausgangsmaterialien für die Leichtmetallfelgen sowie die Rohrahmen zu sehen. Stattdessen hätten sie Kisten mit vollständigen Fahrrädern vorgefunden, die, ohne den chinesischen Lieferanten der Klägerin zu nennen, den Aufdruck „Hergestellt in Indonesien“ getragen hätten, sowie weitere Kisten mit Rahmen ohne Ursprungshinweis. Das Team habe festgestellt, dass alle von ihm vorgefundenen Rahmen von Zulieferern geliefert und bereits mit einem Anstrich versehen gewesen seien. Schließlich seien die Beschäftigten der Klägerin nicht imstande gewesen, den Fertigungsprozess zu erläutern.
98 Keine dieser Feststellungen deutet jedoch – einzeln oder zusammen genommen – in überzeugender Weise darauf hin, dass Versandmaßnahmen stattgefunden hätten.
99 Da nämlich die Tätigkeit des Unternehmens nach Einleitung der Antiumgehungsuntersuchung stark zurückgegangen ist, können aus dem guten Zustand des Werkes und den geringen Lagerbeständen an Ausgangsmaterialien zum Zeitpunkt des Kontrollbesuchs keine Schlüsse gezogen werden. Insoweit hat die Klägerin im Übrigen darauf hingewiesen, dass sie wegen des Rückgangs ihrer Tätigkeit bestimmte Teile ihrer Produktionskette verkauft habe. Außerdem hat sie unter Vorlage von Rechnungen erwähnt, dass sie nach einem Großbrand in ihrem Werk am 23. April 2009 einige Produktionsmaschinen erst kürzlich erworben habe. Sie habe daher zweimal, im Mai 2009 und im Juli 2011, u. a. in die Montagebänder reinvestiert.
100 Bestimmte Feststellungen, z. B. dass der chinesische Lieferant der Klägerin nirgendwo genannt war oder dass einige Kisten Rahmen ohne Ursprungshinweis enthielten, trugen zwar dazu bei, Zweifel an der wirklichen Tätigkeit der Klägerin aufkommen zu lassen, die noch dadurch verstärkt wurden, dass die Klägerin weiterhin einen Beleg für die in den Befreiungsanträgen vorgelegten Zahlen schuldig geblieben ist. Jedoch wurde mit diesen Beweismitteln nicht dargetan, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen hat.
101 Was den Umstand betrifft, dass die bei dem Kontrollbesuch angetroffenen Beschäftigten der Klägerin nicht imstande waren, den Fertigungsprozess zu erläutern – was von der Klägerin im Übrigen bestritten wird –, ist festzustellen, dass sich aus den schriftlichen Antworten des Rates auf die schriftlichen Fragen des Gerichts ergibt, dass das Team der Kommission nur Mitarbeiter der Verkaufsabteilung, aber keine Produktionsfachleute angetroffen hat.
102 Zweitens hat der Rat seine oben in Rn. 97 wiedergegebenen Tatsachenfeststellungen fast ausschließlich, ohne weitere Beweise, auf den Kontrollbericht der Bediensteten der Kommission gestützt. Die meisten der in diesem Kontrollbericht getroffenen Feststellungen werden jedoch von der Klägerin angegriffen, insbesondere die, dass die Fließbänder nicht in Betrieb gewesen seien oder für bestimmte Ausgangsmaterialien keine Lagerbestände existiert hätten. Zwar hat der Rat in seinen Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung auf eine Reihe von Fotos hingewiesen, die von der Klägerin vorgelegt oder die von den Bediensteten der Kommission bei ihrem Kontrollbesuch aufgenommen wurden. Diesen Fotos lässt sich jedoch nichts zu der Frage entnehmen, ob die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen hat.
103 Drittens stützt der Rat seine Argumentation auch auf die Tatsache, dass die Klägerin die Beweise dafür schuldig geblieben sei, dass sie wirklich eine indonesische Herstellerin sei oder dass sie die Kriterien nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfülle. Auch wenn dieser Feststellung in Rn. 94 des vorliegenden Urteils beigepflichtet worden ist, kann ihr jedoch nicht ohne Weiteres entnommen werden, dass die Klägerin Versandmaßnahmen durchgeführt hat.
104 Angesichts der Ausführungen in den Rn. 95 bis 103 des vorliegenden Urteils verfügte der Rat nicht über ausreichend Anhaltspunkte, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Klägerin nicht über die nötige Fertigungskapazität für die in die Union ausgeführten Mengen verfügt und daher Versandmaßnahmen betrieben habe.
105 Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vornahm, also eine der Praktiken, Fertigungsprozesse oder Arbeiten im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Grundverordnung, für die es außer der Auferlegung des ursprünglichen Antidumpingzolls keine ausreichende Begründung oder wirtschaftliche Rechtfertigung gab. Entgegen dem Vorbringen der Kommission in der mündlichen Verhandlung konnte der Rat jedoch aus dem Umstand, dass die Klägerin nicht dartun konnte, dass sie tatsächlich eine indonesische Herstellerin sei oder dass sie die Voraussetzungen von Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfülle, nicht ohne Weiteres ableiten, dass die Klägerin Versandmaßnahmen vorgenommen habe, da sich eine solche Befugnis keineswegs aus der Grundverordnung oder der Rechtsprechung ergibt.
106 Unter diesen Umständen ist dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes stattzugeben, ohne dass über die weiteren Rügen der Klägerin entschieden zu werden braucht.
Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Begründungspflicht
107 Die Klägerin stützt den zweiten Klagegrund auf vier Teile, mit denen insbesondere dargetan werden soll, dass der Rat in den Erwägungsgründen 29 bis 33 der angefochtenen Verordnung Rechts- und Beurteilungsfehler begangen habe, indem er davon ausgegangen sei, dass sie nicht im Sinne von Art. 18 der Grundverordnung kooperiert habe. Mit dem ersten Teil macht sie geltend, sie habe nach besten Kräften kooperiert, was der Rat unter Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung nicht berücksichtigt habe. Mit dem zweiten Teil, der sich ebenfalls auf einen Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung bezieht, tritt sie der Feststellung fehlender Mitarbeit entgegen. Mit dem dritten Teil macht sie geltend, dass der Rat u. a. dadurch gegen seine Begründungspflicht verstoßen habe, dass er nicht erläutert habe, auf welche verfügbaren Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung er sich gestützt habe. Mit dem vierten Teil trägt sie vor, der Rat habe unter Verstoß gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung die Informationen, die sie während der gesamten Untersuchung vorgelegt habe, außer Acht gelassen. Darüber hinaus verstoße es gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn nicht alle von ihr vorgelegten Informationen berücksichtigt würden.
108 Der Rat tritt sämtlichen Argumenten der Klägerin entgegen.
109 Zunächst ist der zweite Teil, dann sind nacheinander der erste, der dritte und der vierte Teil zu prüfen.
– Zur Feststellung fehlender Mitarbeit
110 Die Klägerin macht zur Begründung des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes eine Reihe von Argumenten geltend, mit denen dargetan werden soll, dass die Feststellung fehlender Mitarbeit fehlerhaft sei. Insbesondere habe der Umstand, dass keine Arbeitsblätter vorgelegt worden seien, als solcher nicht ausgereicht, um die Feststellung fehlender Mitarbeit zu begründen.
111 Insoweit ist einleitend darauf hinzuweisen, dass Art. 18 Abs. 1 Satz 1 der Grundverordnung die Organe ermächtigt, die verfügbaren Informationen bzw. Fakten zugrunde zu legen, wenn eine interessierte Partei den Zugang zu den erforderlichen Informationen verweigert oder innerhalb der durch diese Verordnung gesetzten Fristen nicht die erforderlichen Auskünfte erteilt oder wenn sie die Untersuchung erheblich behindert. Die verfügbaren Informationen können auch dann zugrunde gelegt werden, wenn eine interessierte Partei unwahre oder irreführende Informationen vorlegt. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt sich, dass es sich dabei um vier alternative Voraussetzungen handelt, so dass, wenn eine von ihnen erfüllt ist, die Organe ihren vorläufigen oder endgültigen Schlussfolgerungen die verfügbaren Informationen zugrunde legen können (Urteil vom 22. Mai 2014, Guangdong Kito Ceramics u. a./Rat, T‑633/11, EU:T:2014:271, Rn. 44).
112 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass die fehlende Mitarbeit in der angefochtenen Verordnung nicht nur darauf gestützt wird, dass die Arbeitsblätter, mit deren Hilfe eine Verbindung zwischen der Beantwortung des Formulars für einen Befreiungsantrag und den Finanz- und Rechnungslegungsunterlagen des Ausführers hergestellt werden kann, nicht vorgelegt worden sind. Sie beruht auch auf der verspäteten Vorlage der erbetenen Informationen, der Widersprüchlichkeit und mangelnden Verlässlichkeit dieser Informationen sowie auf den Schwierigkeiten, die beim Kontrollbesuch aufgetreten sind. Bereits im Rahmen des ersten Klagegrundes wurde nämlich festgestellt, dass sich die Angaben der Klägerin als unvollständig, widersprüchlich und nicht überprüfbar erwiesen haben. Folglich hat die Klägerin im Sinne der oben in Rn. 111 angeführten Rechtsprechung den Zugang zu den erforderlichen Informationen nicht gewährt.
113 Zweitens macht die Klägerin geltend, dass die bei ihren Produktionszahlen aufgetretenen Inkohärenzen auf Verzögerungen zwischen den Buchungszeiträumen und dem tatsächlichen Produktionsrhythmus zurückzuführen seien. Diese Behauptung könne durch ihr Schreiben vom 4. Februar 2013 gestützt werden. Es genügt jedoch die Feststellung, dass das Schreiben vom 4. Februar 2013 hierzu keinen Beweis enthält.
114 Drittens betont die Klägerin, dass zumindest ein Teil der vorgelegten Informationen richtig gewesen sei, da der Rat selbst eingeräumt habe, dass die zu den Ausfuhrverkäufen mitgeteilten Zahlen zutreffend gewesen seien. Tatsächlich ergibt sich aus dem 31. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass der Rat die Richtigkeit dieser Zahlen bestätigt hat. Jedoch ist zum einen zu beachten, dass sich diese Zahlen dem Rat zufolge auf sämtliche Ausfuhrverkäufe beziehen und nicht nur auf die Ausfuhren in die Union, die nicht mit den Angaben in Einklang gebracht werden konnten, was von der Klägerin nicht bestritten wird. Zum anderen bedeutet der Umstand, dass die Ausfuhrzahlen richtig und überprüfbar waren, nicht, dass die Zahlen zum Ursprung der ausgeführten Waren selbst gutgeheißen werden müssen.
115 Viertens trifft es zwar zu, dass der Umstand, dass ein Verkaufsleiter der Klägerin gleichzeitig bei einem chinesischen Hersteller beschäftigt war, der auch ihr Hauptlieferant für Fahrradteile war, als solcher eine Feststellung fehlender Mitarbeit im Sinne von Art. 18 der Grundverordnung nicht begründen kann. Jedoch hat sich die Stellungnahme der Klägerin zum Status dieses Mitarbeiters als besonders unklar erwiesen, was für die Beurteilung der Kooperation der Klägerin relevant ist. Zudem hatte die Klägerin in ihrem Befreiungsantrag angegeben, keine Verbindungen zu chinesischen Unternehmen zu haben. Angesichts der Bedeutung, die dem Umstand, dass ein Verkaufsleiter der Klägerin gleichzeitig bei einem chinesischen Fahrradunternehmen beschäftigt war, für die Feststellung einer Umgehung über Indonesien zukommen konnte, war es jedenfalls legitim, dass die Kommission die Klägerin hierzu befragt hat und dass dieser Umstand in der angefochtenen Verordnung erwähnt wird.
116 Fünftens macht die Klägerin geltend, dass die fehlende Mitarbeit sich nur auf die Montage, nicht aber auf den Versand beziehe. Die vermeintlich unzureichende Mitarbeit beziehe sich nur auf den Wert der Teile chinesischen Ursprungs. Diese Angabe sei jedoch nur erforderlich, um zu bestimmen, ob sie Montagearbeiten vorgenommen habe, d. h., ob sie sich an die Vorschriften über den Anteil der aus China eingeführten Teile am Gesamtwert der hergestellten Ware nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung gehalten habe. Da die Umgehung über Indonesien in der angefochtenen Verordnung nur auf Versandmaßnahmen gegründet werde, beziehe sich die Feststellung fehlender Mitarbeit auf Feststellungen, die für die vom Rat erhobene Rüge einer Umgehung nicht relevant seien.
117 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass sich aus dem Befreiungsantrag der Klägerin ergibt, dass sie nachzuweisen versuchte, dass sie die Kriterien nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllte. Die Kommission durfte somit in Anhang B des allgemeinen Informationsdokuments ihre Entscheidung, der Klägerin eine Befreiung zu versagen, damit begründen, dass sie auf der Grundlage der vorgelegten Informationen nicht imstande gewesen sei, die Berechnungen für diese Kriterien vorzunehmen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Untersuchung auf das Vorliegen einer Umgehung über Indonesien und nicht auf das Vorliegen einer besonderen Art der Umgehung bezog. Darüber hinaus hat die Kommission im 9. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 875/2012 zur Einleitung der Antiumgehungsuntersuchung einen möglichen Versand über Indonesien und mögliche Montagevorgänge in Indonesien erwähnt.
118 Zudem ist festzustellen, dass die Klägerin den Nachweis dafür, dass sie tatsächlich eine Herstellerin von Fahrrädern indonesischen Ursprungs ist oder die in Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung bestimmten Kriterien erfüllt hat, schuldig geblieben ist, d. h., dass sie den Ursprung der Fahrräder, die sie in erheblicher Anzahl in die Union ausgeführt hat, nicht nachweisen konnte. Jedenfalls waren die von der Klägerin vorgelegten Informationen unzureichend, da der Gegenstand der Untersuchung, unabhängig von der späteren Einstufung der entsprechenden Praktiken durch den Rat, darin bestand, festzustellen, ob die Klägerin an einer Umgehung des ursprünglichen Antidumpingzolls über Indonesien beteiligt war.
119 Daher ist diese Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
120 Folglich ist der zweite Teil des zweiten Klagegrundes insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
– Zu den Wirkungen der Mitarbeit der Klägerin
121 Mit dem ersten Teil macht die Klägerin geltend, dass der Rat unter Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung den Umstand, dass sie nach besten Kräften kooperiert habe, nicht berücksichtigt habe. Sie habe u. a. einen Befreiungsantrag sowie einen überarbeiteten Fragebogen vorgelegt, und sie habe sich damit einverstanden erklärt, das Team der Kommission zu empfangen. Darüber hinaus sei die Mitarbeit unter schwierigen Umständen verlaufen, da die Klägerin über begrenzte Verwaltungsmittel verfügt habe und ihr die Verwaltungsverfahren der Kommission nicht bekannt gewesen seien.
122 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Rückgriff auf verfügbare Informationen, da Art. 18 Abs. 1 Satz 2 der Grundverordnung kein vorsätzliches Handeln voraussetzt, u. a. dann gerechtfertigt ist, wenn sich ein Unternehmen weigert, mitzuarbeiten, oder wenn es unwahre oder irreführende Informationen vorlegt. Das Ausmaß der Bemühungen, die eine interessierte Partei im Hinblick auf die Übermittlung bestimmter Auskünfte unternimmt, hängt nämlich nicht unbedingt mit der Qualität der gewährten Auskünfte zusammen und ist dafür auf jeden Fall nicht das einzig maßgebliche Kriterium. Die Kommission ist daher, wenn sie die erbetenen Auskünfte letztlich nicht erhalten hat, berechtigt, in Bezug auf diese Auskünfte auf die verfügbaren Informationen zurückzugreifen (Urteil vom 4. März 2010, Sun Sang Kong Yuen Shoes Factory/Rat, T‑409/06, Slg, EU:T:2010:69, Rn. 103 und 104).
123 Darüber hinaus ist auch darauf hinzuweisen, dass die Organe der Union zu entscheiden haben, ob sie es zur Überprüfung der von einer betroffenen Partei gelieferten Informationen für erforderlich halten, diese Informationen durch einen Kontrollbesuch in den Räumen dieser Partei zu erhärten, und dass in dem Fall, in dem eine betroffenen Partei die Überprüfung der von ihr gelieferten Daten behindert, Art. 18 der Grundverordnung anwendbar ist und die verfügbaren Informationen verwendet werden können. Und wenn die Verweigerung eines Kontrollbesuchs dem Ziel der loyalen und gewissenhaften Zusammenarbeit, die Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung gewährleisten soll, zuwiderläuft, so kann indessen der Umstand, sich dieser zu unterziehen, nicht als solcher zur Feststellung einer Zusammenarbeit führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2011, Transnational Company „Kazchrome“ und ENRC Marketing/Rat, T‑192/08, Slg, EU:T:2011:619, Rn. 273 und 275).
124 Unter diesen Umständen konnten die Einreichung eines Befreiungsantrags und danach einer überarbeiteten Fassung sowie der Empfang der Bediensteten der Kommission bei dem Kontrollbesuch nicht ausreichen, um zur Feststellung einer Mitarbeit zu gelangen oder die Unionsorgane zur Berücksichtigung unzureichender Informationen zu verpflichten. Zudem konnte im vorliegenden Fall hinsichtlich der von der Kommission erbetenen Angaben nicht angenommen werden, dass sie einen besonders großen Verwaltungsaufwand begründeten. Darüber hinaus umfasste die für den Verkauf und die Verwaltung zuständige Abteilung der Klägerin nach Auffassung des Rates 16 Mitarbeiter, was von der Klägerin nicht bestritten wird.
125 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung die von einer interessierten Partei übermittelten Informationen, auch wenn sie sich nicht in jeder Hinsicht als vollkommen erweisen, dennoch nicht unberücksichtigt bleiben, sofern die Mängel nicht derart sind, dass sie angemessene und zuverlässige Feststellungen über Gebühr erschweren, und sofern die Informationen in angemessener Weise und fristgerecht übermittelt werden, nachprüfbar sind und die interessierte Partei nach besten Kräften gehandelt hat. Die vier Voraussetzungen sind, wie sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, kumulativ anzuwenden. Die Nichterfüllung einer von ihnen steht daher der Anwendung der Vorschrift und somit der Berücksichtigung der fraglichen Informationen entgegen (Urteil Guangdong Kito Ceramics u. a./Rat, oben in Rn. 111 angeführt, EU:T:2014:271, Rn. 100).
126 Da die Klägerin, wie oben in den Rn. 80 bis 94 festgestellt, nicht die erforderlichen Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung übermittelt hat, anhand deren sich nachweisen ließe, dass sie wirklich eine Herstellerin indonesischen Ursprungs war oder dass sie die in Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung genannten Voraussetzungen erfüllte, konnte Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung im vorliegenden Fall keine Anwendung finden. Im Übrigen ist, auch wenn sie zum einen die erforderlichen Informationen vorgelegt hätte und zum anderen tatsächlich nach besten Kräften kooperiert hätte, bereits festgestellt worden, dass die vorgelegten Informationen nicht nachprüfbar waren.
127 Der erste Teil des zweiten Klagegrundes ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Begründung
128 Die Klägerin ist erstens der Auffassung, dass der Rat zwischen der Mitarbeit bezüglich der Rüge einer Montage und der Mitarbeit bezüglich der Rüge eines Versands hätte unterscheiden müssen. Da der Rat nicht spezifiziert habe, ob sich die vorgelegten Informationen auf die Rüge des Versands oder auf die Rüge der Montage bezögen, weise die angefochtene Verordnung einen Begründungsmangel auf.
129 Zweitens trägt die Klägerin vor, der Rat habe, nachdem er die übermittelten Informationen insgesamt zurückgewiesen habe, nicht präzisiert, welcher Art die verfügbaren Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung seien, auf die er seine Schlussfolgerung, dass eine Umgehung vorliege, gestützt habe. Der Rat hätte auch klarstellen müssen, warum die verfügbaren Informationen, die er verwendet habe, die bestmöglichen gewesen seien.
130 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Begründung eines Rechtsakts der Unionsorgane die Überlegungen des Urhebers des Rechtsakts so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen und ihre Rechte verteidigen können und das Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (Urteil vom 27. September 2005, Common Market Fertilizers/Kommission, T‑134/03 und T‑135/03, Slg, EU:T:2005:339, Rn. 156). Im Übrigen ist die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen von Art. 296 AEUV genügt, nicht nur im Hinblick auf seinen Wortlaut zu beurteilen, sondern auch aufgrund seines Zusammenhangs sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Februar 1996, Belgien/Kommission, C‑56/93, Slg, EU:C:1996:64, Rn. 86, und vom 27. November 1997, Kaysersberg/Kommission, T‑290/94, Slg, EU:T:1997:186, Rn. 150).
131 Im vorliegenden Fall hat der Rat diese Grundsätze aus den nachfolgend dargestellten Gründen beachtet.
132 Erstens ist, was das Argument der Klägerin betrifft, dass der Rat zwischen der Mitarbeit bezüglich der Rüge einer Montage und der Mitarbeit bezüglich der Rüge eines Versands hätte unterscheiden müssen, vorstehend in Rn. 117 festgestellt worden, dass sich die Untersuchung auf das Vorliegen einer Umgehung über Indonesien und nicht auf das Vorliegen einer bestimmten Art der Umgehung bezog. Zudem waren die für die Beurteilung der Mitarbeit zu berücksichtigenden Kriterien, was den Versand und die Montage betraf, ähnlich. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin waren daher ihre Mitarbeit bezüglich der Rüge einer Montage und ihre Mitarbeit bezüglich der Rüge eines Versands nicht getrennt voneinander zu beurteilen.
133 Ferner ist festzustellen, dass die Begründung in den Erwägungsgründen 29 bis 33 der angefochtenen Verordnung im Hinblick auf die vorstehend in Rn. 130 angeführte Rechtsprechung hinreichend substantiiert ist.
134 Aus dem 29. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ergibt sich nämlich, dass der Rat die von der Klägerin übermittelten Daten für nicht zuverlässig hielt. Zunächst habe die Klägerin die Arbeitsblätter, die sie zum Ausfüllen des Befreiungsantrags verwendet habe, nicht aufbewahrt. Daher habe sie keinen Nachweis für die Richtigkeit der entsprechenden Zahlen erbringen können. Sodann sei bei den während des Kontrollbesuchs auf der Grundlage der in den Geschäftsräumen der Klägerin verfügbaren Unterlagen vorgenommenen Berechnungen festgestellt worden, dass die vorgelegten Zahlen ungenau seien. Schließlich habe die Untersuchung ergeben, dass der Verkaufsleiter des Unternehmens auch bei einem chinesischen Fahrradhersteller beschäftigt gewesen sei, bei dem es sich um den Hauptlieferanten der Klägerin für Fahrradteile gehandelt habe.
135 Aus den Erwägungsgründen 30 und 31 der angefochtenen Verordnung ergibt sich, dass die Kommission der Klägerin, nachdem sie ihr ihre Absicht mitgeteilt hatte, die vorgelegten Informationen nicht zu berücksichtigen, Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. In der entsprechenden Stellungnahme habe sich die Klägerin zur Mitarbeit bereit erklärt und alle erbetenen Unterlagen mit Ausnahme der Arbeitsblätter vorgelegt, die ihrer Ansicht nach nie verlangt worden seien. Der Rat weist insoweit darauf hin, dass die Arbeitsblätter bereits vor der Kontrolle vor Ort angefordert worden seien. In Bezug auf das Argument der Klägerin, dass die vor Ort vorgenommenen Kontrollberechnungen aufgrund der unzutreffenden Erläuterungen eines einzigen Beschäftigten fehlerhaft gewesen seien, weist der Rat darauf hin, dass mehrere Beschäftigte um Erläuterungen gebeten worden seien, die aber weder imstande gewesen seien, anzugeben, woher die in dem Formular vorgelegten Zahlen stammten, noch, wie sie berechnet worden seien.
136 Der Rat ist daher in den Erwägungsgründen 32 und 33 der angefochtenen Verordnung zu dem Schluss gelangt, dass die von der Klägerin mitgeteilten Informationen nicht berücksichtigt werden könnten und dass die Feststellungen nach Art. 18 der Grundverordnung auf der Grundlage der verfügbaren Informationen getroffen worden seien.
137 Zweitens ist festzustellen, dass der Rat in der angefochtenen Verordnung zwar nicht ausdrücklich aufgelistet hat, welcher Art die verfügbaren Informationen waren.
138 Insbesondere aus den Erwägungsgründen 28 bis 33, 45, 46, 50, 51, 55, 56, 92 und 98 bis 102 der angefochtenen Verordnung ergibt sich jedoch, dass die verfügbaren Informationen alle Angaben umfassen, die der Rat verwendet hat, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Klägerin eine Umgehung begangen habe, d. h. vor allem die Informationen, die auf eine Veränderung des Handelsgefüges schließen ließen, das Fehlen einer anderen glaubhaften Erklärung und die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat, die verwendet worden sind, um zum einen die Feststellung der Untergrabung der Abhilfewirkung des ursprünglichen Antidumpingzolls und zum anderen das Vorliegen von Beweisen für ein Dumping im Vergleich zu den vorher festgelegten Normalwerten zu begründen. Darüber hinaus umfassen die verfügbaren Informationen alle einschlägigen Beweise einschließlich der Beschwerde (Erwägungsgründe 10 bis 17 der angefochtenen Verordnung).
139 Drittens ist zu dem Argument, dass der Rat hätte begründen müssen, inwieweit die verwendeten verfügbaren Informationen die bestmöglichen gewesen seien, darauf hinzuweisen, dass sich eine solche Verpflichtung weder aus Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung noch aus der Rechtsprechung ergibt. Nach Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung kann der Rat seine Feststellungen auf die verfügbaren Informationen stützen, wenn die vorgelegten Informationen unzulänglich sind (siehe oben, Rn. 111). Da im vorliegenden Fall die vorgelegten Informationen unzulänglich waren, musste der Rat demnach nicht begründen, inwieweit die verwendeten verfügbaren Informationen besser seien als die vorgelegten Informationen. Zudem hat die Klägerin nicht behauptet, dass andere verfügbare Informationen besser seien als die vom Rat verwendeten verfügbaren Informationen. Daher ist das Argument der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.
140 Folglich ist der dritte Teil des zweiten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Berücksichtigung der von der Klägerin übermittelten zusätzlichen Informationen
141 Mit dem vierten Teil macht die Klägerin geltend, der Rat habe gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem er alle übermittelten Informationen zurückgewiesen habe, ohne zu prüfen, ob einige Informationen bezüglich der Rüge eines Versands verwendet werden könnten. Die Informationen seien rechtzeitig übermittelt worden und, was die Rüge eines Versands betreffe, leicht überprüfbar gewesen.
142 Erstens wurde, was einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung betrifft, bereits vorstehend in Rn. 125 darauf hingewiesen, dass die Anwendung dieses Art. 18 Abs. 3 voraussetzt, dass vier kumulativ anzuwendende Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich insbesondere die, dass die möglichen Mängel nicht derart sind, dass sie angemessene und zuverlässige Feststellungen über Gebühr erschweren, und dass die übermittelten Informationen nachprüfbar sind. Im vorliegenden Fall wurde jedoch bereits im Rahmen des ersten Klagegrundes festgestellt, dass sich die von der Klägerin vorgelegten Informationen als unvollständig, widersprüchlich und nicht überprüfbar erwiesen haben, was die Anwendung von Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung unabhängig von der Art der in Rede stehenden Umgehung ausschloss.
143 Die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
144 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Rechtmäßigkeit einer Unionsregelung voraussetzt, dass die gewählten Mittel zur Erreichung des mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziels geeignet sind und das Maß des hierzu Erforderlichen nicht übersteigen, wobei von mehreren geeigneten Maßnahmen grundsätzlich die am wenigsten belastende zu wählen ist (Urteil vom 5. Juni 1996, NMB France u. a./Kommission, T‑162/94, Slg, EU:T:1996:71, Rn. 69).
145 Im vorliegenden Fall vertritt die Klägerin im Wesentlichen die Auffassung, dass es unverhältnismäßig gewesen sei, alle vorgelegten Informationen außer Acht zu lassen, ohne zu prüfen, ob einige Informationen bezüglich der Rüge eines Versands verwendet werden könnten.
146 Hierzu genügt die Feststellung, dass die Klägerin die Übermittlung von Informationen schuldig geblieben ist, die belegten, dass es sich bei ihr tatsächlich um ein indonesisches Ausfuhrunternehmen handelte oder dass sie die Kriterien nach Art. 13 Abs. 2 der Grundverordnung erfüllt hat. Der Rat hat die genannten Informationen daher ohne Verkennung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit außer Acht gelassen.
147 Folglich ist der vierte Teil des zweiten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
148 Nach alledem ist der zweite Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung und den Grundsatz der Gleichbehandlung
149 Die Klägerin macht erstens geltend, dem Rat seien dadurch tatsächliche Fehler und Beurteilungsfehler unterlaufen, dass er die Preisangaben der Comext-Datenbank von Eurostat verwendet habe. Es habe in allen Prüfungsphasen der Antidumpingverordnungen bezüglich Fahrrädern und Fahrradteilen aus China Einvernehmen darüber bestanden, dass die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat nicht zuverlässig seien und keine schlüssigen Vergleiche zuließen.
150 Zweitens habe der Rat gegen Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung und den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, indem er die Informationen der Klägerin über die Ausfuhrpreise, deren Verlässlichkeit im 31. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung bestätigt worden sei, ausgeklammert habe. Der Umstand, dass die Daten der kooperierenden Gesellschaften berücksichtigt worden seien, verfälsche die Zahlen zum Vorliegen von Dumping.
151 Der Rat tritt den Argumenten der Klägerin entgegen.
152 Hierzu ist festzustellen, dass das Vorliegen einer Umgehung nach Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung voraussetzt, dass Beweise für ein Dumping im Verhältnis zu den in der ursprünglichen Antidumpinguntersuchung festgestellten Normalwerten vorliegen.
153 Darüber hinaus geht aus der Grundverordnung hervor, dass die Unionsorgane für die Berechnung des Dumpings die am besten geeignete Methode wählen müssen und dass diese Wahl mit der Beurteilung komplexer wirtschaftlicher Sachverhalte verbunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 1992, Minolta Camera/Rat, C‑178/87, Slg, EU:C:1992:112, Rn. 41).
154 Im vorliegenden Fall ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass bereits festgestellt worden ist, dass die Klägerin, da die vorgelegten Informationen nicht verlässlich und überprüfbar waren, im Sinne von Art. 18 der Grundverordnung nicht kooperiert hat.
155 Aus dem 31. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ergibt sich zwar, dass sich der Abgleich der Zahlen zu den Ausfuhrverkäufen als korrekt erwiesen hat. Wie der Rat von der Klägerin unwidersprochen geltend gemacht hat, konnte jedoch nur der aggregierte Wert aller Ausfuhren mit den Büchern abgeglichen und überprüft werden. Da die vorgelegten Informationen zudem unvollständig waren, hat die Klägerin zu keinem Zeitpunkt die erforderlichen Informationen vorgelegt (siehe hierzu oben, Rn. 85 und 114).
156 Da dem Rat folglich keine zuverlässigen Informationen über die Klägerin und die Gesellschaften, die sich nicht gemeldet hatten, zur Verfügung standen, durfte er sich auf die verfügbaren Informationen stützen.
157 Als Zweites rügt die Klägerin die Verwendung von Daten aus der Comext-Datenbank von Eurostat als verfügbare Informationen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung. Sie beruft sich auf die Verordnung Nr. 1095/2005, die Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 und die Verordnung Nr. 502/2013, in denen die Zuverlässigkeit dieser Daten in Frage gestellt worden sei.
158 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass die drei von der Klägerin genannten Verordnungen keine Antiumgehungsverfahren betrafen. Sie betrafen die Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls, eine Auslaufüberprüfung und eine Interimsüberprüfung.
159 Zweitens wurden die Ausfuhrpreise für die Hersteller, die nicht kooperiert hatten, in diesen drei Verordnungen jeweils unterschiedlich berechnet. In der Verordnung Nr. 1095/2005 wurden die Zahlen der kooperierenden Gesellschaften verwendet, da die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat im Fall einer vollständigen Überprüfung der Dumping- und Schädigungssituation nicht als hinreichend genau angesehen wurden. In der Durchführungsverordnung Nr. 990/2011 wurden dagegen die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat verwendet, da nur ein Unternehmen kooperiert hatte. In der Verordnung Nr. 502/2013 wurden die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat nur in begrenztem Umfang verwendet, da diese Daten für den besonderen Fall einer Interimsüberprüfung erneut nicht als hinreichend genau angesehen wurden.
160 Daher wurden die Daten der Comext-Datenbank von Eurostat entgegen der Auffassung der Klägerin in den drei genannten Verordnungen nicht als unzulänglich angesehen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass das Dumping je nach dem Gegenstand der Untersuchung und den Umständen des Falles anhand verschiedener Methoden berechnet wurde.
161 Drittens betrafen diese Verordnungen China und Vietnam, nicht aber Indonesien. Die Klägerin hat keine Beweise dafür vorgebracht, dass diese Feststellungen auch für Indonesien gelten.
162 Die Argumente der Klägerin zur Zuverlässigkeit der Daten der Comext-Datenbank von Eurostat sind daher als unbegründet zurückzuweisen.
163 Als Drittes ist die Klägerin im Rahmen ihres Vorwurfs eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Ansicht, dass die Kommission in dem Fall, dass die vom Rat verwendeten Zahlen – wobei es sich im Wesentlichen um die Zahlen der Ausführer, die kooperiert hätten, handele – tatsächlich Dumping belegten, eine Antidumpinguntersuchung hinsichtlich der übrigen indonesischen Hersteller hätte einleiten müssen, statt die Klägerin als für die Schwierigkeiten der Industrie der Union unwahrscheinliche einzige Verantwortliche auszuwählen.
164 Insoweit ist erstens festzustellen, dass die Unionsorgane zu dem Schluss gelangt sind, dass Beweise für ein Dumping im Verhältnis zu den Normalwerten vorlägen, die während der früheren Antidumpinguntersuchung festgestellt worden seien, nicht aber im Verhältnis zum Normalwert der Verkäufe der entsprechenden Ausführer auf ihrem nationalen Markt. Die Feststellungen in der angefochtenen Verordnung deuteten daher nicht auf die Notwendigkeit hin, eine unabhängige Antidumpinguntersuchung im Hinblick auf die indonesischen Hersteller einzuleiten. Darüber hinaus waren die kooperierenden Hersteller – im Gegensatz zur Klägerin – imstande, nachzuweisen, dass sie nicht an der Umgehung mitgewirkt haben.
165 Zweitens hat der Rat in seiner Antwort auf eine schriftliche Frage des Gerichts ausgeführt, dass die Menge und der Wert der Ausfuhren der kooperierenden Hersteller von den in der Comext-Datenbank von Eurostat enthaltenen aggregierten Daten bezüglich aller indonesischen Ausführer abgezogen worden seien. Folglich ist der Rat – anders als von der Klägerin behauptet – nicht unter Verwendung der Daten der kooperierenden Hersteller zu dem Schluss gelangt, dass Beweise für ein Dumping vorlägen.
166 Angesichts der Ausführungen in den vorstehenden Rn. 152 bis 165 ist festzustellen, dass die Klägerin, soweit es darum geht, ob es Beweise für das Vorliegen eines Dumpings gab, den Nachweis von Rechts- oder Beurteilungsfehlern des Rates sowie eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung schuldig geblieben ist.
167 Demnach ist der dritte Klagegrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
168 Nach den vorangegangenen Ausführungen, insbesondere denjenigen in Rn. 106, ist Art. 1 Abs. 1 und 3 der angefochtenen Verordnung für nichtig zu erklären, soweit er die Klägerin betrifft.
Kosten
169 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
170 Die Kommission und Maxcom tragen nach Art. 87 § 4 Abs. 1 und 3 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Art. 1 Abs. 1 und 3 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 501/2013 des Rates vom 29. Mai 2013 zur Ausweitung des mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 eingeführten endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China auf aus Indonesien, Malaysia, Sri Lanka und Tunesien versandte Einfuhren von Fahrrädern, ob als Ursprungserzeugnisse Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas oder Tunesiens angemeldet oder nicht, wird für nichtig erklärt, soweit er die Chin Haur Indonesia, PT betrifft.
2. Der Rat der Europäischen Union trägt die Kosten von Chin Haur Indonesia sowie seine eigenen Kosten.
3. Die Europäische Kommission und die Maxcom Ltd tragen ihre eigenen Kosten.
Van der Woude
Wiszniewska-Białecka
Ulloa Rubio
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. März 2015.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Die wesentlichen ursprünglichen Antidumping- und Antisubventionsverfahren
Umgehungsverfahren
Angefochtene Verordnung
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Zulässigkeit
Begründetheit
Erster Klagegrund: Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung
– Zur Veränderung des Handelsgefüges
– Zur Durchführung von Versandmaßnahmen
Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 18 der Grundverordnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Begründungspflicht
– Zur Feststellung fehlender Mitarbeit
– Zu den Wirkungen der Mitarbeit der Klägerin
– Zur Begründung
– Zur Berücksichtigung der von der Klägerin übermittelten zusätzlichen Informationen
Dritter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 der Grundverordnung und den Grundsatz der Gleichbehandlung
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Unkenntlich gemachte vertrauliche Angaben.
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 25. Februar 2015.#Robert Walton gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Abweisung der Klage im ersten Rechtszug als offensichtlich unzulässig – Ausscheiden aus dem Dienst als Bediensteter auf Zeit – Höhe der Forderung der Kommission gegenüber dem Rechtsmittelführer infolge seines Ausscheidens – Rechtskraft – Entscheidungen, die mangels Klage bestandskräftig geworden sind.#Rechtssache T-261/14 P.
|
62014TJ0261
|
ECLI:EU:T:2015:110
| 2015-02-25T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – Sammlung von Rechtssachen im öffentlichen Dienst
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EUR-Lex - CELEX:62014TJ0261 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 12. Februar 2015.#Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Richtlinie 2013/51/Euratom – Wahl der Rechtsgrundlage – EAG-Vertrag – Art. 31 EA und 32 EA – AEU‑Vertrag – Art. 192 Abs. 1 AEUV – Schutz der menschlichen Gesundheit – Radioaktive Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch – Rechtssicherheit – Loyale Zusammenarbeit zwischen den Organen.#Rechtssache C-48/14.
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62014CJ0048
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ECLI:EU:C:2015:91
| 2015-02-12T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0048
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
12. Februar 2015 (*1)
„Nichtigkeitsklage — Richtlinie 2013/51/Euratom — Wahl der Rechtsgrundlage — EAG-Vertrag — Art. 31 EA und 32 EA — AEU‑Vertrag — Art. 192 Abs. 1 AEUV — Schutz der menschlichen Gesundheit — Radioaktive Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch — Rechtssicherheit — Loyale Zusammenarbeit zwischen den Organen“
In der Rechtssache C‑48/14
betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV und Art. 106a Abs. 1 EA, eingereicht am 30. Januar 2014,
Europäisches Parlament, vertreten durch L. Visaggio und J. Rodrigues als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Kläger,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch O. Segnana und R. Liudvinaviciute-Cordeiro als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagter,
unterstützt durch
Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek und E. Ruffer als Bevollmächtigte,
Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und N. Rouam als Bevollmächtigte,
Europäische Kommission, vertreten durch P. Van Nuffel und M. Patakia als Bevollmächtigte,
Streithelferinnen,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts (Berichterstatter) sowie der Richter A. Arabadjiev, J. L. da Cruz Vilaça und C. Lycourgos,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit seiner Klage beantragt das Europäische Parlament die Nichtigerklärung der Richtlinie 2013/51/Euratom des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch (ABl. L 296, S. 12, im Folgenden: angefochtene Richtlinie).
Rechtlicher Rahmen
EAG-Vertrag
2 Die Art. 30 EA bis 32 EA, die zu Kapitel 3 („Der Gesundheitsschutz“) des Titels II des EAG-Vertrags gehören, lauten:
„Artikel 30
In der Gemeinschaft werden Grundnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen festgesetzt.
Unter Grundnormen sind zu verstehen:
a)
die zulässigen Höchstdosen, die ausreichende Sicherheit gewähren,
b)
die Höchstgrenze für die Aussetzung gegenüber schädlichen Einflüssen und für schädlichen Befall,
c)
die Grundsätze für die ärztliche Überwachung der Arbeitskräfte.
Artikel 31
Die Grundnormen werden von der Kommission nach Stellungnahme einer Gruppe von Persönlichkeiten ausgearbeitet, die der Ausschuss für Wissenschaft und Technik aus wissenschaftlichen Sachverständigen der Mitgliedstaaten, insbesondere aus Sachverständigen für Volksgesundheit, ernennt. Die Kommission holt zu den in dieser Weise ausgearbeiteten Grundnormen die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses ein.
Nach Anhörung des Europäischen Parlaments legt der Rat die Grundnormen auf Vorschlag der Kommission, die ihm die von ihr eingeholten Stellungnahmen der Ausschüsse zuleitet, mit qualifizierter Mehrheit fest.
Artikel 32
Die Grundnormen können auf Antrag der Kommission oder eines Mitgliedstaats nach dem Verfahren des Artikels 31 überprüft oder ergänzt werden.
Die Kommission hat jeden von einem Mitgliedstaat gestellten Antrag zu prüfen.“
3 Nach Art. 106a Abs. 3 EA „[beeinträchtigen] [d]ie Vorschriften des [EU‑]Vertrags … und des [AEU‑]Vertrags … nicht die Vorschriften dieses Vertrags“.
Richtlinie 98/83/EG
4 Die Richtlinie 98/83/EG des Rates vom 3. November 1998 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch (ABl. L 330, S. 32) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 (ABl. L 188, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/83) bestimmt in ihrem Art. 1:
„(1) Diese Richtlinie betrifft die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch.
(2) Ziel dieser Richtlinie ist es, die menschliche Gesundheit vor den nachteiligen Einflüssen, die sich aus der Verunreinigung von für den menschlichen Gebrauch bestimmtem Wasser ergeben, durch Gewährleistung seiner Genusstauglichkeit und Reinheit zu schützen.“
5 Art. 5 der Richtlinie 98/83 („Qualitätsstandards“) bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:
„(1) Die Mitgliedstaaten setzen die für Wasser für den menschlichen Gebrauch geltenden Werte für die Parameter in Anhang I fest.
(2) Die nach Absatz 1 festgesetzten Werte dürfen nicht weniger streng als die in Anhang I enthaltenen sein. Für die in Anhang I Teil C aufgeführten Parameter gilt, dass die Werte nur für Überwachungszwecke und die Einhaltung der Verpflichtungen aus Artikel 8 festgesetzt zu werden brauchen.“
6 Anhang I Teil C der Richtlinie 98/83 („Indikatorparameter“) sieht vor:
„…
RadioaktivitätParameterParameterwertEinheitAnmerkungenTritium100Bq/lAnm. 8 und 10Gesamtrichtdosis0,10mSv/JahrAnm. 9 und 10
...
Anmerkung 8: Die Kontrollhäufigkeit wird später in Anhang II festgelegt.
Anmerkung 9: Mit Ausnahme von Tritium, Kalium-40, Radon und Radonzerfallsprodukten. Die Kontrollhäufigkeit, die Kontrollmethoden und die geeignetsten Überwachungsstandorte werden später in Anhang II festgelegt.
Anmerkung 10: Die Kommission erlässt die gemäß Anmerkung 8 erforderlichen Maßnahmen betreffend die Kontrollhäufigkeit sowie die gemäß Anmerkung 9 für Anhang II erforderlichen Maßnahmen betreffend die Kontrollhäufigkeit, die Kontrollmethoden und die geeignetsten Überwachungsstandorte. Diese Maßnahmen zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Richtlinie werden nach dem in Artikel 12 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen.
Bei der Ausarbeitung dieser Maßnahmen berücksichtigt die Kommission unter anderem die geltenden einschlägigen Bestimmungen sowie die von ihnen abgeleiteten angemessenen Überwachungsprogramme einschließlich der Überwachungsergebnisse.
…“
Angefochtene Richtlinie
7 Da der Vorschlag COM(2012) 147 final der Kommission vom 28. März 2012 zur Festlegung von Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch auf die Art. 31 EA und 32 EA gestützt war, billigte das Parlament mit legislativer Entschließung vom 12. März 2013 Abänderungen zur Ersetzung dieser Rechtsgrundlage durch Art. 192 Abs. 1 AEUV.
8 Der Rat lehnte jedoch die vom Parlament beabsichtigte Änderung der Rechtsgrundlage ab und erließ die angefochtene Richtlinie am 22. Oktober 2013 auf der Grundlage der Art. 31 EA und 32 EA.
9 Die Erwägungsgründe 1 bis 5 der angefochtenen Richtlinie lauten:
„(1)
Durch die Aufnahme von Wasser können radioaktive Stoffe in den menschlichen Körper gelangen. Gemäß der Richtlinie 96/29/Euratom des Rates [vom 13. Mai 1996 zur Festlegung der grundlegenden Sicherheitsnormen für den Schutz der Gesundheit der Arbeitskräfte und der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlungen (ABl. L 159, S. 1)] muss der Beitrag der mit einer Gefährdung durch ionisierende Strahlung verbundenen Tätigkeiten zur Strahlenexposition der Bevölkerung insgesamt so niedrig gehalten werden, wie dies vernünftigerweise erreichbar ist.
(2) Angesichts der Bedeutung, die die Qualität des für den menschlichen Gebrauch bestimmten Wassers für die menschliche Gesundheit hat, sind auf Gemeinschaftsebene Qualitätsstandards festzulegen, die eine Indikatorfunktion haben, und ist die Überwachung der Einhaltung dieser Standards vorzusehen.
(3) Die Richtlinie [98/83] enthält in Anhang I Teil C Indikatorparameter für radioaktive Stoffe, während in Anhang II der Richtlinie die zugehörigen Überwachungsvorschriften festgelegt sind. Diese Parameter fallen jedoch in den Geltungsbereich der in Artikel 30 [EA] definierten Grundnormen.
(4) Die Anforderungen an die Überwachung radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch sollten daher in gesonderten Rechtsvorschriften festgelegt werden, die die Einheitlichkeit, Kohärenz und Vollständigkeit der Strahlenschutzvorschriften im Rahmen des [EAG]‑Vertrags gewährleisten.
(5) Da die Gemeinschaft für die Festlegung der Grundnormen für den Schutz der Gesundheit der Arbeitskräfte und der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlung zuständig ist, ersetzen die Bestimmungen der vorliegenden Richtlinie diejenigen der Richtlinie [98/83] in Bezug auf radioaktive Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch.“
10 Art. 1 der angefochtenen Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie legt Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch fest. Sie bestimmt Parameterwerte sowie Häufigkeit und Methoden für die Überwachung radioaktiver Stoffe.“
11 Art. 2 Nr. 3 der angefochtenen Richtlinie definiert „Richtdosis“ (im Folgenden: RD) als „die effektive Folgedosis für die Aufnahme während eines Jahres, die sich aus allen Radionukliden sowohl natürlichen als auch künstlichen Ursprungs ergibt, welche in einem Versorgungssystem für Wasser für den menschlichen Gebrauch nachgewiesen wurden, mit Ausnahme von Tritium, Kalium–40, Radon und kurzlebigen Radon-Zerfallsprodukten“.
12 Nach Art. 5 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie „[legen] [d]ie Mitgliedstaaten … nach Anhang I Parameterwerte für die Überwachung radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch fest“.
13 Anhang I („Parameterwerte für Radon und Tritium und RD von Wasser für den menschlichen Gebrauch“) der angefochtenen Richtlinie lautet:
„Parameter
Parameterwert
Einheit
Anmerkungen
Radon
100 Bq/l
(Anm. 1)
Tritium
100 Bq/l
(Anm. 2)
RD
0,10
mSv
Anmerkung 1:
a)
Die Mitgliedstaaten können einen Wert für Radon festsetzen, der nicht überschritten werden sollte und unterhalb dessen die Optimierung des Schutzes fortgesetzt werden sollte, ohne dabei die Wasserversorgung auf nationaler oder regionaler Ebene zu gefährden. Der von einem Mitgliedstaat festgesetzte Wert kann höher als 100 Bq/l sein, darf aber 1000 Bq/l nicht übersteigen. Um die nationale Gesetzgebung zu vereinfachen, können die Mitgliedstaaten beschließen, den Parameterwert an diesen Wert anzupassen.
b)
Abhilfemaßnahmen gelten aus Strahlenschutzgründen ohne weitere Prüfung als gerechtfertigt, wenn die Radonkonzentration mehr als 1000 Bq/l beträgt.
Anmerkung 2: Erhöhte Tritiumwerte können auf das Vorhandensein anderer künstlicher Radionuklide hindeuten. Liegt die Tritiumkonzentration über dem für sie festgelegten Parameterwert, ist eine Analyse im Hinblick auf das Vorhandensein anderer künstlicher Radionuklide erforderlich.“
14 In Art. 6 Abs. 1 und 2 der angefochtenen Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Überwachung hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch im Einklang mit den Überwachungsstrategien und der Überwachungshäufigkeit nach Anhang II erfolgt, damit geprüft werden kann, ob die Konzentration radioaktiver Stoffe den nach Artikel 5 Absatz 1 festgesetzten Parameterwerten entspricht.
…
(2) Eine Überwachung hinsichtlich der RD hat zu erfolgen, und die Leistungsmerkmale der Analysen haben die Anforderungen nach Anhang III zu erfüllen.“
Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Verfahrensbeteiligten
15 Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Mai, 28. Mai und 26. Juni 2014 sind die Französische Republik, die Kommission und die Tschechische Republik als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden.
16 Das Parlament beantragt,
—
die angefochtene Richtlinie für nichtig zu erklären und
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
17 Der Rat, unterstützt durch die Tschechische Republik, die Französische Republik und die Kommission, beantragt,
—
die Klage abzuweisen und
—
dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
18 Der Rat, unterstützt durch die Französische Republik und die Kommission, beantragt hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof der Klage stattgeben sollte, die Wirkungen der angefochtenen Richtlinie aufrechtzuerhalten, bis innerhalb einer angemessenen Frist eine neue, sie ersetzende Regelung in Kraft tritt.
Zur Klage
19 Das Parlament stützt seine Klage auf drei Gründe. Erstens wird geltend gemacht, dass die Wahl der Rechtsgrundlage für die angefochtene Richtlinie fehlerhaft sei. Zweitens liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit vor und drittens ein Verstoß gegen den in Art. 13 Abs. 2 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen.
Zum ersten Klagegrund: fehlerhafte Wahl der Rechtsgrundlage für die angefochtene Richtlinie
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
20 Das Parlament trägt unter Berufung auf die Erwägungsgründe 3 bis 5 der angefochtenen Richtlinie vor, dass das Hauptziel der angefochtenen Richtlinie den in Art. 191 Abs. 1 AEUV aufgeführten Zielen der Umweltpolitik der Europäischen Union entspreche, insbesondere den Zielen des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der umsichtigen und rationellen Verwendung der natürlichen Ressourcen. Die angefochtene Richtlinie hätte daher auf Art. 192 Abs. 1 AEUV gestützt werden müssen (vgl. Urteil Kommission/Parlament und Rat, C‑411/06, EU:C:2009:518, Rn. 45 bis 47).
21 Aus Art. 1 der Richtlinie 98/83 gehe hervor, dass die mit ihr geschaffene Regelung für alle Formen der Verunreinigung von Wasser für den menschlichen Gebrauch ungeachtet ihrer Quelle gelten sollte. Die angefochtene Richtlinie breche daher die Einheitlichkeit der mit der Richtlinie 98/83 geschaffenen Regelung auf.
22 Aus der Begründung des Vorschlags COM(2012) 147 final der Kommission ergebe sich, dass diese davon ausgehe, dass bestimmte Vorschriften der Richtlinie 98/83, nämlich die in Anhang I Teil C und Anhang II, in Wirklichkeit in den Anwendungsbereich der Art. 30 EA bis 32 EA fielen. Durch die Verordnung Nr. 596/2009 sei jedoch in Anhang I Teil C der Richtlinie 98/83 eine Anmerkung 10 betreffend radioaktive Stoffe eingefügt worden. Die Verordnung Nr. 596/2009 sei auf Art. 175 Abs. 1 EG, jetzt Art. 192 Abs. 1 AEUV, gestützt worden. Weder der Unionsgesetzgeber noch die Kommission habe es bei dieser Gelegenheit als erforderlich angesehen, dieser Verordnung Bestimmungen des EAG-Vertrags als Rechtsgrundlage hinzuzufügen.
23 Anstatt im vorliegenden Fall die Richtlinie 98/83 zu ändern, um Bestimmungen über die Parameterwerte für radioaktive Stoffe und deren Kontrolle aufzunehmen, habe der Rat einen Vorschlag gebilligt, der die mit dieser Richtlinie geschaffene einheitliche Regelung verfälsche.
24 In seiner Erwiderung macht das Parlament ferner geltend, dass sein Vorbringen den in Art. 106a Abs. 3 EA genannten Grundsatz nicht in Frage stelle. Die angefochtene Richtlinie hätte ihre Rechtsgrundlage nämlich in Art. 192 Abs. 1 AEUV haben müssen, da sie sich in den mit der Richtlinie 98/83 geschaffenen Regelungsrahmen einfüge. Mit der angefochtenen Richtlinie habe der Rat auf der Grundlage der Art. 31 EA und 32 EA neue Vorschriften über einen besonderen Aspekt des mit der Richtlinie 98/83 geschaffenen Rahmens, nämlich die Schutzstandards bezüglich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch, erlassen und damit dem Ziel dieser Richtlinie zuwidergehandelt. Bei der Bestimmung der geeigneten Rechtsgrundlage für die angefochtene Richtlinie hätte erstens berücksichtigt werden müssen, dass die Richtlinie 98/83 den Eckpfeiler der Regelung über den Schutz der menschlichen Gesundheit vor den nachteiligen Einflüssen bilde, die sich aus der Verunreinigung von für den menschlichen Gebrauch bestimmtem Wasser ergäben, und zweitens, dass die angefochtene Richtlinie gerade einen Aspekt der mit der Richtlinie 98/83 geschaffenen Regelung betreffe (vgl. Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, C‑656/11, EU:C:2014:97, Rn. 50, 51, 64 und 66).
25 Der Rat und die Streithelferinnen weisen darauf hin, dass die Bestimmungen von Titel II Kapitel 3 des EAG-Vertrags, zu denen die Art. 31 EA und 32 EA gehörten, weit auszulegen seien, um ihnen praktische Wirksamkeit zu verleihen (Urteile Parlament/Rat, C‑70/88, EU:C:1991:373, Rn. 14, Kommission/Rat, C‑29/99, EU:C:2002:734, Rn. 78 bis 80, und ČEZ, C‑115/08, EU:C:2009:660, Rn. 100 und 112). Die angefochtene Richtlinie sei angesichts ihres Ziels und Inhalts zu Recht auf die Art. 31 EA und 32 EA gestützt worden.
Würdigung durch den Gerichtshof
26 Nach Art. 31 EA erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit die Grundnormen nach Art. 30 EA für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen. Art. 32 EA bestimmt, dass die so erlassenen Grundnormen auf Antrag der Kommission oder eines Mitgliedstaats nach demselben Verfahren überprüft werden können.
27 Auch wenn in der Präambel der angefochtenen Richtlinie auf die Art. 31 EA und 32 EA Bezug genommen wird, könnte nur Art. 31 EA die Rechtsgrundlage der Richtlinie bilden, da diese keine Überprüfung von zuvor auf der Grundlage des EAG-Vertrags erlassenen Grundnormen beinhaltet.
28 Art. 192 Abs. 1 AEUV sieht vor, dass das Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren über das Tätigwerden der Union zur Erreichung ihrer Ziele im Bereich der Umwelt, die insbesondere den Schutz der menschlichen Gesundheit umfassen, beschließen.
29 Hinsichtlich der Frage, ob die angefochtene Richtlinie rechtsgültig auf der Grundlage von Art. 31 EA erlassen werden konnte, ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen muss, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören (vgl. u. a. Urteile Parlament/Rat, EU:C:1991:373, Rn. 9, Parlament/Rat, C‑130/10, EU:C:2012:472, Rn. 42, Kommission/Rat, C‑137/12, EU:C:2013:675, Rn. 52, sowie Kommission/Parlament und Rat, C‑43/12, EU:C:2014:298, Rn. 29).
30 Dabei spielt es keine Rolle, welche Rechtsgrundlage für den Erlass anderer Rechtsakte der Union, die gegebenenfalls ähnliche Merkmale aufweisen, herangezogen wurde, da die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts anhand seines Ziels und Inhalts zu bestimmen ist (vgl. Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, EU:C:2014:97, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Parlament kann sich daher nicht darauf berufen, dass die angefochtene Richtlinie bestimmte Bestandteile aufweist, die denen in Anhang I Teil C der Richtlinie 98/83 entsprechen, welche ihrerseits auf Art. 130s Abs. 1 des EG-Vertrags, jetzt Art. 192 Abs. 1 AEUV, gestützt wurde.
31 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die angefochtene Richtlinie nach ihrem Art. 1 darauf abzielt, durch die Festlegung von Anforderungen hinsichtlich radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. In den Erwägungsgründen 1 und 2 dieser Richtlinie heißt es insoweit, dass durch die Aufnahme von Wasser radioaktive Stoffe in den menschlichen Körper gelangen können und dass daher auf Gemeinschaftsebene Qualitätsstandards festzulegen sind, die eine Indikatorfunktion haben, und die Überwachung der Einhaltung dieser Standards vorzusehen ist.
32 Die Zielsetzung der angefochtenen Richtlinie entspricht somit der Zielsetzung einer Grundnorm im Sinne von Art. 30 EA, mit der der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen gewährleistet werden soll.
33 Was den Inhalt der angefochtenen Richtlinie anbelangt, so werden Parameterwerte sowie Häufigkeit und Methoden für die Überwachung radioaktiver Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch festgelegt. Auch ihrem Inhalt nach entspricht die angefochtene Richtlinie einer Grundnorm im Sinne von Art. 30 EA, mit der gemäß Abs. 2 Buchst. a und b dieses Artikels für ionisierende Strahlungen die zulässigen Höchstdosen, die ausreichende Sicherheit gewähren, und die Höchstgrenze für die Aussetzung gegenüber schädlichen Einflüssen und für schädlichen Befall festgelegt werden. Darüber hinaus ist die Überwachung der Radioaktivität von Wasser in den Bestimmungen von Titel II Kapitel 3 des EAG-Vertrags, zu denen die Art. 30 EA und 31 EA gehören, ausdrücklich vorgesehen.
34 Zum Vorbringen des Parlaments, das Hauptziel der angefochtenen Richtlinie entspreche den in Art. 191 Abs. 1 AEUV aufgeführten Zielen der Umweltpolitik der Union, so dass sie auf Art. 192 Abs. 1 AEUV hätte gestützt werden müssen, ist festzustellen, dass die Umweltpolitik der Union nach Art. 191 Abs. 1 AEUV zwar u. a. zur Verfolgung des Ziels des Schutzes der menschlichen Gesundheit beiträgt.
35 Jedoch hat der Gerichtshof bereits wiederholt entschieden, dass die Bestimmungen von Titel II Kapitel 3 des EAG-Vertrags weit auszulegen sind, um ihnen praktische Wirksamkeit zu verleihen (vgl. u. a. Urteile Kommission/Rat, EU:C:2002:734, Rn. 78, und ČEZ, EU:C:2009:660, Rn. 100). Diese Bestimmungen, zu denen die Art. 30 EA und 31 EA gehören, zielen darauf ab, einen lückenlosen und wirksamen Gesundheitsschutz der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlungen sicherzustellen, und zwar ungeachtet der Strahlungsquelle und unabhängig davon, welche Personengruppen diesen Strahlungen ausgesetzt sind (Urteile Parlament/Rat, EU:C:1991:373, Rn. 14, und ČEZ, EU:C:2009:660, Rn. 112).
36 Im Übrigen ist der betreffende Rechtsakt, wenn die Verträge eine spezifischere Bestimmung enthalten, die als Rechtsgrundlage für ihn dienen kann, auf diese Bestimmung zu stützen (vgl. Urteile Kommission/Rat, C‑338/01, EU:C:2004:253, Rn. 60, und Kommission/Rat, C‑533/03, EU:C:2006:64, Rn. 45).
37 Hinsichtlich des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung vor radioaktiven Stoffen in Wasser für den menschlichen Gebrauch stellt Art. 31 EA eine spezifischere Rechtsgrundlage dar als die allgemeine Rechtsgrundlage von Art. 192 Abs. 1 AEUV. Der EAG-Vertrag enthält nämlich eine Reihe von Vorschriften gerade im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung und der Umwelt vor ionisierenden Strahlungen (Urteil ČEZ, EU:C:2009:660, Rn. 83).
38 Könnte ein Rechtsakt mit Bezug zu radioaktiven Stoffen allein deshalb auf die Rechtsgrundlage von Art. 192 Abs. 1 AEUV gestützt werden, weil er auf den Schutz der menschlichen Gesundheit im Sinne von Art. 191 Abs. 1 AEUV abzielt, könnte Art. 31 EA jedenfalls nicht mehr als Rechtsgrundlage für eine Handlung der Gemeinschaft dienen, da die Grundnormen im Sinne von Art. 30 EA naturgemäß auf den Schutz der menschlichen Gesundheit abzielen. Das Vorbringen des Parlaments verkennt daher nicht nur die praktische Wirksamkeit von Art. 31 EA, der eine spezifischere Rechtsgrundlage als Art. 192 Abs. 1 AEUV darstellt, sondern auch den in Art. 106a Abs. 3 EA enthaltenen Grundsatz, dass die Vorschriften des AEU-Vertrags die Vorschriften des EAG-Vertrags nicht beeinträchtigen.
39 Nach alledem ist die angefochtene Richtlinie rechtsgültig auf der Grundlage von Art. 31 EA erlassen worden.
40 Der erste Klagegrund, mit dem eine fehlerhafte Wahl der Rechtsgrundlage für die angefochtene Richtlinie gerügt wird, ist daher zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
41 Das Parlament trägt vor, der Rat habe eine Situation rechtlicher Unsicherheit geschaffen, da der Erlass der angefochtenen Richtlinie nicht mit der Aufhebung der Richtlinie 98/83 in ihrem radioaktive Stoffe betreffenden Teil einhergegangen sei. Mangels ausdrücklicher Aufhebung seien die Parameterwerte des Anhangs I Teil C dieser Richtlinie nach wie vor in Kraft, neben denen der angefochtenen Richtlinie. Ebenso verhalte es sich mit der der Kommission eingeräumten Ermächtigung, Maßnahmen gemäß des Regelungsverfahrens mit Kontrolle zu erlassen, wie in Anmerkung 10 von Anhang I Teil C der Richtlinie 98/83 vorgesehen. Die Überlagerung zweier Regelungen, derjenigen der angefochtenen Richtlinie und derjenigen der Richtlinie 98/83, beeinträchtige die Rechtssicherheit.
42 Der fünfte Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie, wonach die Bestimmungen dieser Richtlinie diejenigen der Richtlinie 98/83 ersetzten, reiche für sich allein genommen nicht aus, um diese Rechtsunsicherheit zu überwinden. Denn das Nebeneinander zweier Rechtstexte, die beide das gleiche Ziel verfolgten, nämlich den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor radioaktiver Verunreinigung von Wasser für den menschlichen Gebrauch, sich jedoch inhaltlich voneinander unterschieden, schaffe eine Situation der Unsicherheit, die nicht durch Berufung auf den Grundsatz lex specialis derogat legi generali ausgeräumt werden könne. In jedem Fall seien die Mitgliedstaaten weiterhin verpflichtet, in Anwendung der Richtlinie 98/83 die zur Umsetzung von Anhang I Teil C und Anhang II dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften in Kraft zu belassen, und ein Verstoß gegen diese Verpflichtung könne von jedem Betroffenen vor den zuständigen nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Diese Verpflichtung könne nur durch eine ausdrückliche Aufhebung der fraglichen Vorschriften beendet werden, was einen Rückgriff auf die Rechtsgrundlage von Art. 192 Abs. 1 AEUV erfordert hätte. Aus der angefochtenen Richtlinie gehe jedoch eindeutig hervor, dass die fehlende Aufhebung dieser Vorschriften kein einfaches Versehen darstelle. Im Übrigen könne sich der Verfasser eines Rechtsakts nicht auf den Grundsatz lex specialis derogat legi generali berufen, um einen Konflikt zwischen zwei von ihm selbst geschaffenen Rechtsakten zu rechtfertigen.
43 Der Rat und die Streithelferinnen weisen darauf hin, dass der fünfte Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie klarstelle, dass deren Vorschriften diejenigen der Richtlinie 98/83 ersetzten, was die Anforderungen an den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor radioaktiven Stoffen in Wasser für den menschlichen Gebrauch anbelange.
44 Somit bestehe keine Unklarheit hinsichtlich der Beziehung zwischen den Bestimmungen der angefochtenen Richtlinie und denjenigen der Richtlinie 98/83. Die Mitgliedstaaten als Adressaten der angefochtenen Richtlinie seien im Einklang mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in der Lage, die ihnen obliegenden Verpflichtungen zu ermitteln.
Würdigung durch den Gerichtshof
45 Nach ständiger Rechtsprechung gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sind, damit sich die Betroffenen bei unter das Unionsrecht fallenden Tatbeständen und Rechtsbeziehungen orientieren können (vgl. Urteile France Télécom/Kommission, C‑81/10 P, EU:C:2011:811, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie LVK – 56, C‑643/11, EU:C:2013:55, Rn. 51).
46 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass im Verhältnis zwischen der angefochtenen Richtlinie und der Richtlinie 98/83 kein Widerspruch besteht. Die angefochtene Richtlinie bestimmt vielmehr in ihrem Anhang I genau die gleichen Parameterwerte wie Anhang I Teil C der Richtlinie 98/83, nämlich 100 Becquerel pro Liter für Tritium und 0,10 mSv pro Jahr als Gesamtrichtdosis der Radioaktivität.
47 Daher ist, auch wenn sowohl die angefochtene Richtlinie als auch die Richtlinie 98/83 Rechtsvorschriften über radioaktive Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch enthalten, die Überlagerung der beiden Regelungen nicht geeignet, die Klarheit, Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der anwendbaren Vorschriften zu beeinträchtigen.
48 Auch soweit die angefochtene Richtlinie neue Bestimmungen, insbesondere in Bezug auf Radon, enthält, kann die sich aus dieser Richtlinie und der Richtlinie 98/83 ergebende Überlagerung rechtlicher Regelungen die Klarheit, Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit dieser Bestimmungen nicht beeinträchtigen, da sie nur in der angefochtenen Richtlinie enthalten sind.
49 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die angefochtene Richtlinie im Verhältnis zur Richtlinie 98/83, die allgemein die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch betrifft, eine lex specialis für den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gegen Gefahren, die von radioaktiven Stoffen in diesem Wasser ausgehen, darstellt. Der Grundsatz lex specialis derogat legi generali ist entgegen dem Vorbringen des Parlaments auch dann anwendbar, wenn die lex generalis und die lex specialis von demselben Organ stammen.
50 Daher ersetzen – sollten die beiden Rechtsakte, wie vom Parlament erstmals in seiner Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen vorgetragen, in ihrem Regelungsinhalt voneinander abweichen – bei Unvereinbarkeit der mit den beiden Richtlinien geschaffenen Regelungen die Bestimmungen der angefochtenen Richtlinie diejenigen der Richtlinie 98/83, wie im fünften Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie ausdrücklich bestätigt wird.
51 Unter diesen Umständen kann kein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit festgestellt werden.
52 Dem zweiten Klagegrund kann somit nicht stattgegeben werden.
Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den in Art. 13 Abs. 2 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
53 Das Parlament trägt vor, dass kein stichhaltiger rechtlicher Grund dafür ersichtlich sei, auf der Grundlage des EAG-Vertrags eine gesonderte Regelung für radioaktive Stoffe in Wasser für den menschlichen Gebrauch zu schaffen, die die gleichen Schutz- und Überwachungsvorschriften wie Anhang I Teil C und Anhang II der Richtlinie 98/83 zum Gegenstand habe. Diese Vorschriften beträfen zwar den Strahlenschutz, stellten aber lediglich einen Bestandteil des allgemeinen Rahmens von Schutzmaßnahmen dar, der mit der Richtlinie 98/83 – die dasselbe Endziel, nämlich den in Art. 191 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit, verfolge – geschaffen worden sei.
54 Die Wahl der Rechtsgrundlage könne in keinem Fall auf Erwägungen zu dem für den Erlass des fraglichen Rechtsakts einzuhaltenden Verfahren oder zu der auf diesen Rechtsakt nach seinem Erlass anwendbaren Regelung beruhen (Urteil Kommission/Rat, EU:C:2013:675, Rn. 74). Es verstoße gegen den in Art. 13 Abs. 2 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen, wenn ein Bestandteil eines geltenden Rechtsakts, der nach dessen allgemeiner Systematik offensichtlich von untergeordneter Bedeutung sei, künstlich isoliert werde, um ihn in einem gesonderten Rechtsakt zu regeln, der auf einer anderen Rechtsgrundlage beruhe und einer anderen rechtlichen Regelung unterliege.
55 In seiner Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen trägt das Parlament ferner vor, dass es im Hinblick auf die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit erforderlich gewesen wäre, zunächst die Richtlinie 98/83 auf der Grundlage von Art. 192 Abs. 1 AEUV und im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren teilweise aufzuheben. Dadurch hätten alle betroffenen Organe die Möglichkeit erhalten, sich zu der Frage zu äußern, ob es rechtlich korrekt und politisch opportun sei, die Bestimmungen über die radioaktive Verunreinigung von Wasser für den menschlichen Gebrauch aus der Richtlinie 98/83 herauszunehmen und in einem eigenen Rechtsakt auf der Grundlage des EAG-Vertrags zu regeln.
56 Der Rat und die Streithelferinnen sind der Ansicht, dass die angefochtene Richtlinie nicht gegen Art. 13 Abs. 2 EUV verstoße.
Würdigung durch den Gerichtshof
57 Nach Art. 13 Abs. 2 EUV arbeiten die Organe loyal zusammen.
58 Die loyale Zusammenarbeit erfolgt jedoch in den Grenzen der den einzelnen Organen durch die Verträge zugewiesenen Befugnisse. Die Verpflichtung aus Art. 13 Abs. 2 EUV ist also nicht geeignet, diese Befugnisse zu verändern.
59 Hinsichtlich der Frage, ob der Rat durch den Erlass der angefochtenen Richtlinie gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen hat, ist daran zu erinnern, dass diese, wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils festgestellt, auf eine geeignete Rechtsgrundlage, nämlich Art. 31 EA, gestützt wurde.
60 Dass das Parlament zum Zweck des Erlasses der angefochtenen Richtlinie angehört, nicht aber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren als Mitgesetzgeber tätig wurde, beruht daher allein auf der Entscheidung der Verfasser der Verträge und nicht auf einem Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (vgl. in diesem Sinne Urteil Parlament/Rat, EU:C:2012:472, Rn. 82).
61 Schließlich kann auch dem Vorbringen des Parlaments nicht gefolgt werden, wonach vor Erlass der angefochtenen Richtlinie die Richtlinie 98/83 auf der Grundlage von Art. 192 Abs. 1 AEUV und unter Beachtung der Bestimmungen des AEU-Vertrags über das ordentliche Gesetzgebungsverfahren teilweise hätte aufgehoben werden müssen.
62 Die Auffassung des Parlaments läuft nämlich darauf hinaus, dass die Ausübung von Befugnissen des Rates, die diesem durch die Art. 30 EA und 31 EA übertragen werden, seiner vorherigen Zustimmung unterworfen werden kann, obwohl es nach diesen Vorschriften nur in Form der Anhörung beteiligt ist. Wie aus Rn. 58 des vorliegenden Urteils hervorgeht, können die Befugnisse des Parlaments und des Rates aus den Art. 30 EA und 31 EA jedoch nicht nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit begrenzt oder erweitert werden.
63 Der dritte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
64 Nach alledem ist die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Kosten
65 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm gemäß des Antrags des Rates die Kosten aufzuerlegen.
66 Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Tschechische Republik, die Französische Republik und die Kommission ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Europäische Parlament trägt die Kosten.
3. Die Tschechische Republik, die Französische Republik und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 11. Februar 2015.#Marktgemeinde Straßwalchen u. a. gegen Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend und Rohöl-Aufsuchungs AG.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs.#Umwelt – Richtlinie 85/337/EWG – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten – Projekte, die einer Prüfung unterzogen werden müssen oder nicht – Aufschlussbohrungen – Anhang I Nr. 14 – Begriff ‚Gewinnung von Erdöl und Erdgas zu gewerblichen Zwecken‘ – Prüfungspflicht bei der Förderung einer bestimmten Gasmenge – Anhang II Nr. 2 Buchst. d – Begriff ‚Tiefbohrungen‘ – Anhang III Nr. 1 – Begriff ‚Kumulierung mit anderen Projekten‘.#Rechtssache C-531/13.
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62013CJ0531
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ECLI:EU:C:2015:79
| 2015-02-11T00:00:00 |
Kokott, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0531
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
11. Februar 2015 (*1)
„Umwelt — Richtlinie 85/337/EWG — Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten — Projekte, die einer Prüfung unterzogen werden müssen oder nicht — Aufschlussbohrungen — Anhang I Nr. 14 — Begriff ‚Gewinnung von Erdöl und Erdgas zu gewerblichen Zwecken‘ — Prüfungspflicht bei der Förderung einer bestimmten Gasmenge — Anhang II Nr. 2 Buchst. d — Begriff ‚Tiefbohrungen‘ — Anhang III Nr. 1 — Begriff ‚Kumulierung mit anderen Projekten‘“
In der Rechtssache C‑531/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 11. September 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Oktober 2013, in dem Verfahren
Marktgemeinde Straßwalchen u. a.
gegen
Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend,
Beteiligte:
Rohöl-Aufsuchungs AG,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Marktgemeinde Straßwalchen u. a., vertreten durch Rechtsanwalt G. Lebitsch,
—
der Rohöl-Aufsuchungs AG, vertreten durch Rechtsanwalt C. Onz im Beistand von H.‑J. Handler,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer und M. Lais als Bevollmächtigte,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, A. Lippstreu und A. Wiedmann als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, D. Krawczyk und M. Rzotkiewicz als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wilms und C. Hermes als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 9. Oktober 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40) in der Fassung der Richtlinie 2009/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 (ABl. L 140, S. 114) (im Folgenden: Richtlinie 85/337).
2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Marktgemeinde Straßwalchen und 59 weiteren Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens auf der einen und dem Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend auf der anderen Seite über einen Bescheid, mit dem der Rohöl-Aufsuchungs AG die Herstellung einer Aufschlussbohrung auf dem Gebiet der Marktgemeinde Straßwalchen bewilligt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 85/337 lautet:
„(1) Projekte des Anhangs I werden vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 3 einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen.
(2) Bei Projekten des Anhangs II bestimmen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 3 anhand
a)
einer Einzelfalluntersuchung
oder
b)
der von den Mitgliedstaaten festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien,
ob das Projekt einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen werden muss.
Die Mitgliedstaaten können entscheiden, beide unter den Buchstaben a) und b) genannten Verfahren anzuwenden.“
4 Anhang I („Projekte nach Artikel 4 Absatz 1“) der Richtlinie 85/337 bestimmt in Nr. 14:
„Gewinnung von Erdöl und Erdgas zu gewerblichen Zwecken mit einem Fördervolumen von mehr als 500 t/Tag bei Erdöl und von mehr als 500000 m3/Tag bei Erdgas“.
5 Anhang II („Projekte nach Artikel 4 Absatz 2“) der Richtlinie 85/337 bestimmt in Nr. 2 Buchst. d:
„Bergbau
…
d)
Tiefbohrungen, insbesondere
—
Bohrungen zur Gewinnung von Erdwärme,
—
Bohrungen im Zusammenhang mit der Lagerung von Kernabfällen,
—
Bohrungen im Zusammenhang mit der Wasserversorgung,
ausgenommen Bohrungen zur Untersuchung der Bodenfestigkeit“.
6 Anhang III („Auswahlkriterien im Sinne von Artikel 4 Absatz 3“) der Richtlinie 85/337 lautet:
„1. Merkmale der Projekte
Die Merkmale der Projekte sind insbesondere hinsichtlich folgender Punkte zu beurteilen:
—
Größe des Projekts,
—
Kumulierung mit anderen Projekten,
—
Nutzung der natürlichen Ressourcen,
—
Abfallerzeugung,
—
Umweltverschmutzung und Belästigungen,
—
Unfallrisiko, insbesondere mit Blick auf verwendete Stoffe und Technologien.
2. Standort der Projekte
Die ökologische Empfindlichkeit der geografischen Räume, die durch die Projekte möglicherweise beeinträchtigt werden, muss unter Berücksichtigung insbesondere folgender Punkte beurteilt werden:
—
bestehende Landnutzung;
—
Reichtum, Qualität und Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen des Gebiets;
—
Belastbarkeit der Natur unter besonderer Berücksichtigung folgender Gebiete:
a)
Feuchtgebiete,
b)
Küstengebiete,
c)
Bergregionen und Waldgebiete,
d)
Reservate und Naturparks,
e)
durch die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten ausgewiesene Schutzgebiete; von den Mitgliedstaaten gemäß den Richtlinien 79/409/EWG und 92/43/EWG ausgewiesene besondere Schutzgebiete,
f)
Gebiete, in denen die in den Gemeinschaftsvorschriften festgelegten Umweltqualitätsnormen bereits überschritten sind,
g)
Gebiete mit hoher Bevölkerungsdichte,
h)
historisch, kulturell oder archäologisch bedeutende Landschaften.
3. Merkmale der potentiellen Auswirkungen
Die potentiellen erheblichen Auswirkungen der Projekte sind anhand der unter den Nummern 1 und 2 aufgeführten Kriterien zu beurteilen; insbesondere ist Folgendem Rechnung zu tragen:
—
dem Ausmaß der Auswirkungen (geografisches Gebiet und betroffene Bevölkerung),
—
dem grenzüberschreitenden Charakter der Auswirkungen,
—
der Schwere und der Komplexität der Auswirkungen,
—
der Wahrscheinlichkeit von Auswirkungen,
—
der Dauer, Häufigkeit und Reversibilität der Auswirkungen.“
Österreichisches Recht
7 In Anhang 1 des Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetzes 2000 (BGBl., 697/1993) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (BGBl. I, 87/2009, im Folgenden: UVP‑G) heißt es:
„Der Anhang enthält die gemäß § 3 UVP-pflichtigen Vorhaben.
In Spalte 1 und 2 finden sich jene Vorhaben, die jedenfalls UVP‑pflichtig sind und einem UVP‑Verfahren (Spalte 1) oder einem vereinfachten Verfahren (Spalte 2) zu unterziehen sind. Bei in Anhang 1 angeführten Änderungstatbeständen ist ab dem angeführten Schwellenwert eine Einzelfallprüfung durchzuführen; sonst gilt § 3a Abs. 2 und 3, außer es wird ausdrücklich nur die ‚Neuerrichtung‘, der ‚Neubau‘ oder die ‚Neuerschließung‘ erfasst.
In Spalte 3 sind jene Vorhaben angeführt, die nur bei Zutreffen besonderer Voraussetzungen der UVP‑Pflicht unterliegen. Für diese Vorhaben hat ab den angegebenen Mindestschwellen eine Einzelfallprüfung zu erfolgen. Ergibt diese Einzelfallprüfung eine UVP‑Pflicht, so ist nach dem vereinfachten Verfahren vorzugehen.
Die in der Spalte 3 genannten Kategorien schutzwürdiger Gebiete werden in Anhang 2 definiert. Gebiete der Kategorien A, C, D und E sind für die UVP‑Pflicht eines Vorhabens jedoch nur dann zu berücksichtigen, wenn sie am Tag der Antragstellung ausgewiesen sind.
…
UVP
UVP im vereinfachten Verfahren
Spalte 1
Spalte 2
Spalte 3
29 a) Förderung von Erdöl oder Erdgas mit einer Kapazität von mindestens 500 t/d pro Sonde bei Erdöl und von mindestens 500 000 m3/d pro Sonde bei Erdgas;
b) …
c) Förderung von Erdöl [oder] Erdgas in schutzwürdigen Gebieten der Kategorie A mit einer Kapazität von mindestens 250 t/d pro Sonde bei Erdöl und von mindestens 250 000 m3/d pro Sonde bei Erdgas;
d) …
(Mengen bzw. Volumenangaben bei atmosphärischem Druck)“
8 § 1 des Mineralrohstoffgesetzes 1999 (BGBl. I, 38/1999) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (BGBl. I, 111/2010, im Folgenden: MinroG) sieht vor:
„Im Sinn dieses Bundesgesetzes ist
1. ‚Aufsuchen‘ jede mittelbare und unmittelbare Suche nach mineralischen Rohstoffen einschließlich der damit zusammenhängenden vorbereitenden Tätigkeiten sowie das Erschließen und Untersuchen natürlicher Vorkommen mineralischer Rohstoffe und solche enthaltender verlassener Halden zum Feststellen der Abbauwürdigkeit;
2. ‚Gewinnen‘ das Lösen oder Freisetzen (Abbau) mineralischer Rohstoffe und die damit zusammenhängenden vorbereitenden, begleitenden und nachfolgenden Tätigkeiten;
…“
9 § 119 („Bewilligung von Bergbauanlagen“) MinroG sieht in Abs. 1 vor:
„Zur Herstellung (Errichtung) von obertägigen Bergbauanlagen sowie von Zwecken des Bergbaus dienenden von der Oberfläche ausgehende Stollen, Schächten, Bohrungen mit Bohrlöchern ab 300 m Tiefe und Sonden ab 300 m Tiefe ist eine Bewilligung der Behörde einzuholen. …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
10 Mit Bescheid des Bundesministers für Wirtschaft, Familie und Jugend vom 29. August 2011 wurde der Rohöl-Aufsuchungs AG gemäß § 119 MinroG die Herstellung einer Aufschlussbohrung auf dem Gebiet der Marktgemeinde Straßwalchen bis in 4 150 m Tiefe ohne Umweltverträglichkeitsprüfung bewilligt. Dieser Bescheid ist Gegenstand einer Beschwerde der Marktgemeinde Straßwalchen und 59 weiterer Personen vor dem Verwaltungsgerichtshof.
11 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die streitige Bewilligung mehrere Arbeiten und Tätigkeiten betrifft, u. a. die Ausführung der für die Aufstellung der Bohranlage notwendigen Arbeiten und im Fall der Nichtfündigkeit die Rekultivierungsmaßnahmen.
12 Für den Fall der Entdeckung von Kohlenwasserstoffen hat die Rohöl-Aufsuchungs AG die Bewilligung für eine Testförderung von Erdgas mit einer Gesamtmenge von bis zu 1000000 m3 erhalten, um sich der Wirtschaftlichkeit der Bohrung zu vergewissern. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts ist vorgesehen, dass 150000 m3 bis 250 000 m3 Gas pro Tag und maximal 150 m3 Erdöl und 18 900 m3 Erdölbegleitgas pro Tag gefördert werden. Die so geförderten Kohlenwasserstoffe würden am Bohrplatzrand abgefackelt. Ein Anschluss an eine Erdgashochdruckleitung ist nicht vorgesehen.
13 Die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass die in Rede stehende Bewilligung insbesondere deshalb ungültig sei, weil die Aufschlussbohrung gemäß Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 – wonach die Gewinnung von Erdöl und Erdgas einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müsse, wenn sie „zu gewerblichen Zwecken“ erfolge und das Fördervolumen die dort angegebenen Schwellenwerte übersteige – einer Umweltverträglichkeitsprüfung hätte unterzogen werden müssen.
14 Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, ob eine Aufschlussbohrung „zu gewerblichen Zwecken“ erfolgt, wenn sie nur dem Nachweis der Wirtschaftlichkeit einer Lagerstätte dient. Außerdem sei das Gesamtvolumen der in diesem Rahmen förderbaren Kohlenwasserstoffe relativ beschränkt, da die im vorliegenden Fall gestattete Fördermenge an Erdgas auf ein Volumen begrenzt sei, das lediglich dem Doppelten des in Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 vorgesehenen Tagesschwellenwerts entspreche.
15 Der Verwaltungsgerichtshof führt zweitens aus, dass selbst unter der Annahme, dass Aufschlussbohrungen gewerbliche Zwecke im Sinne von Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 verfolgten, die vorgesehenen Tagesfördermengen an Kohlenwasserstoffen unter den vom UVP‑G festgelegten Schwellenwerten lägen, ab denen ein Projekt eine Umweltverträglichkeitsprüfung erfordere. Die in Rede stehende Bewilligung berücksichtige nämlich nicht die in der Region im Rahmen anderer Bohrungen geförderten Kohlenwasserstoffe, sondern lege ausschließlich die vom Ansuchen der Rohöl-Aufsuchungs AG erfasste Aufschlussbohrung zugrunde.
16 Der Verwaltungsgerichtshof weist darauf hin, dass diese Vorgehensweise dem österreichischen Recht entspreche, da Anhang 1 Nr. 29 Buchst. a UVP‑G klarstelle, dass für die Beurteilung der Frage, ob eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen sei, die Erdöl- und Erdgasfördermengen „pro Sonde“ berücksichtigt werden müssten. Da Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 jedoch keine solche Klarstellung enthalte, stelle sich die Frage, ob der österreichische Gesetzgeber diese Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt habe.
17 Das vorlegende Gericht möchte drittens wissen, ob die österreichischen Behörden bei der Bewilligung der in Rede stehenden Aufschlussbohrung verpflichtet gewesen sind, die kumulativen Auswirkungen aller „gleichartigen“ Projekte zu berücksichtigen. Es führt insoweit aus, dass sich auf dem Gebiet der Marktgemeinde Straßwalchen etwa 30 Sonden zur Förderung von Erdgas befänden, die der Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend im streitigen Bescheid nicht berücksichtigt habe, obgleich aus den Urteilen Umweltanwalt von Kärnten (C‑205/08, EU:C:2009:767, Rn. 53) und Brussels Hoofdstedelijk Gewest u. a. (C‑275/09, EU:C:2011:154, Rn. 36) hervorgehe, dass das Ziel der Richtlinie 85/337 nicht durch eine Aufsplitterung von Projekten umgangen werden dürfe.
18 Aufgrund dieser Erwägungen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Handelt es sich bei einer zeitlich und mengenmäßig begrenzten Testförderung von Erdgas, die im Rahmen einer Aufschlussbohrung zur Erforschung der Wirtschaftlichkeit einer dauerhaften Gewinnung von Erdgas durchgeführt wird, um eine „Gewinnung von … Erdgas zu gewerblichen Zwecken“ nach Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337?
Für den Fall, dass die erste Vorlagefrage bejaht wird:
2. Steht Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 einer Regelung des nationalen Rechts entgegen, welche bei der Gewinnung von Erdgas die in Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 genannten Schwellenwerte nicht an die Gewinnung an sich, sondern an die „Förderung pro Sonde“ knüpft?
3. Ist die Richtlinie 85/337 dahin auszulegen, dass die Behörde in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Genehmigung einer Testförderung von Erdgas im Rahmen einer Aufschlussbohrung beantragt wird, zur Feststellung, ob eine Verpflichtung zur Umweltverträglichkeitsprüfung besteht, nur alle gleichartigen Projekte, konkret alle im Gemeindegebiet aufgeschlossenen Bohrungen, auf ihre kumulative Wirkung zu prüfen hat?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
19 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 dahin auszulegen ist, dass eine Aufschlussbohrung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in deren Rahmen eine Testförderung von Erdgas und Erdöl beabsichtigt ist, um die wirtschaftliche Abbauwürdigkeit einer Lagerstätte zu erforschen, in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt.
20 Einleitend ist daran zu erinnern, dass Projekte von Anhang I der Richtlinie 85/337 nach deren Art. 4 Abs. 1 und vorbehaltlich von Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden. Daher muss die Gewinnung von Erdöl und Erdgas zu gewerblichen Zwecken mit einem Fördervolumen von mehr als 500 t/Tag bei Erdöl und von mehr als 500000 m3/Tag bei Erdgas nach Anhang I Nr. 14 der Richtlinie einer solchen Prüfung unterzogen werden.
21 Desgleichen ist darauf hinzuweisen, dass sowohl aus den Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch aus dem Gleichheitsgrundsatz folgt, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmung und des verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. Urteil Edwards und Pallikaropoulos, C‑260/11, EU:C:2013:221, Rn. 29).
22 Eine Aufschlussbohrung zur Prüfung der Abbauwürdigkeit und damit der Wirtschaftlichkeit einer Lagerstätte ist zwar per definitionem ein zu gewerblichen Zwecken durchgeführter Vorgang. Wie die Generalanwältin in Nr. 26 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wäre es nur anders bei einer Bohrung, die ausschließlich der wissenschaftlichen Forschung, aber nicht der Vorbereitung einer wirtschaftlichen Aktivität dient.
23 Aus dem Zusammenhang und dem Ziel von Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 ergibt sich jedoch, dass sich der Anwendungsbereich dieser Bestimmung nicht auf Aufschlussbohrungen erstreckt. Die Bestimmung knüpft die Pflicht zur Vornahme einer Umweltverträglichkeitsprüfung nämlich an die geplanten Fördermengen an Erdöl und Erdgas. Hierzu sieht sie Schwellenwerte vor, die pro Tag überschritten werden müssen, was darauf hindeutet, dass sie auf Projekte von gewisser Dauer abzielt, die die fortgesetzte Förderung relativ bedeutender Mengen an Kohlenwasserstoffen ermöglichen.
24 Insoweit ist festzustellen, dass es wenig sinnvoll wäre, die Kriterien von Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 unverändert auf Aufschlussbohrungen anzuwenden, da der in dieser Bestimmung vorgesehene Schwellenwert für die Förderung von Erdöl 500 t/Tag und für die Förderung von Erdgas 500000 m3/Tag beträgt, wohingegen die für eine Aufschlussbohrung festgesetzte Grenze nicht auf einen solchen Schwellenwert bezogen ist, wie aus dem im Ausgangsverfahren angefochtenen Bescheid hervorgeht, der die Förderung nur eines Gesamtvolumens von 1 Mio. m3 Erdgas gestattet.
25 Außerdem ergibt sich aus den Erläuterungen in der Vorlageentscheidung und in der mündlichen Verhandlung, dass vor einer Aufschlussbohrung nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann, ob Kohlenwasserstoffe tatsächlich vorhanden sind. Eine solche Bohrung wird durchgeführt, um das Vorhandensein von Kohlenwasserstoffen nachzuweisen sowie gegebenenfalls ihre Menge zu bestimmen und durch eine Testförderung zu überprüfen, ob sie wirtschaftlich abbauwürdig sind. Somit lässt sich die pro Tag förderbare Kohlenwasserstoffmenge nur auf der Grundlage einer Aufschlussbohrung bestimmen. Zudem ist die Kohlenwasserstoffmenge, deren Förderung im Rahmen eines solchen Tests beabsichtigt ist, und die Dauer des Tests auf die technischen Erfordernisse beschränkt, die sich aus dem Ziel ergeben, die Abbauwürdigkeit einer Lagerstätte nachzuweisen.
26 Diese Auslegung wird auch durch die Systematik der Richtlinie 85/337 bestätigt. Ihr Anhang II Nr. 2 Buchst. d kann nämlich auf Aufschlussbohrungen Anwendung finden, so dass nicht von vornherein alle Aufschlussbohrungen dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie entzogen sind.
27 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 85/337 entweder anhand einer Einzelfalluntersuchung oder anhand der von ihnen festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien bestimmen, ob die unter Anhang II der Richtlinie fallenden Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen.
28 Zu diesen Projekten zählen die in Nr. 2 Buchst. d dieses Anhangs aufgeführten Tiefbohrungen, die insbesondere Bohrungen zur Gewinnung von Erdwärme, Bohrungen im Zusammenhang mit der Lagerung von Kernabfällen und Bohrungen im Zusammenhang mit der Wasserversorgung umfassen, ausgenommen Bohrungen zur Untersuchung der Bodenfestigkeit.
29 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht hervor, dass sie keine abschließende Aufzählung der von ihr erfassten verschiedenen Bohrungsarten vornimmt, sondern ihr Anwendungsbereich alle Tiefbohrungen umfasst, ausgenommen Bohrungen zur Untersuchung der Bodenfestigkeit.
30 Daher fallen Aufschlussbohrungen, soweit sie Tiefbohrungen sind, unter Anhang II Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 85/337.
31 Vorliegend ist festzustellen, dass eine Aufschlussbohrung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der die wirtschaftliche Abbauwürdigkeit einer Lagerstätte erforscht werden soll und die bis zu einer Tiefe von 4150 m reichen kann, eine Tiefbohrung im Sinne von Anhang II Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 85/337 ist.
32 Nach allem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337 dahin auszulegen ist, dass eine Aufschlussbohrung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in deren Rahmen eine Testförderung von Erdgas und Erdöl beabsichtigt ist, um die wirtschaftliche Abbauwürdigkeit einer Lagerstätte zu erforschen, nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt.
Zur zweiten Frage
33 Angesichts der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage.
Zur dritten Frage
34 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 85/337 dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde zur Feststellung, ob eine Aufschlussbohrung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende der Pflicht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit unterliegt, nur die kumulativen Auswirkungen der gleichartigen Projekte – im vorliegenden Fall nach Angaben des vorlegenden Gerichts alle im Gemeindegebiet aufgeschlossenen Bohrungen – zu berücksichtigen hat.
35 Wie die Generalanwältin in Nr. 47 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nimmt das vorlegende Gericht – da diese Frage nur für den Fall der Bejahung der ersten Frage gestellt wird – in der bei ihm anhängigen Rechtssache offenbar an, dass eine Verpflichtung zur Prüfung der Umweltverträglichkeit nur auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 in Verbindung mit Anhang I Nr. 14 der Richtlinie gestützt werden könne.
36 Diese Annahme geht jedoch fehl, da sich – wie aus den Rn. 27 und 30 des vorliegenden Urteils hervorgeht – eine solche Pflicht aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 in Verbindung mit Anhang II Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie ergeben kann.
37 Ferner ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat.
38 Daher ist die dritte Frage im Licht der Verpflichtungen zu beantworten, die sich aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 in Verbindung mit Anhang II Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie ergeben können.
39 In Rn. 27 des vorliegenden Urteils ist darauf hingewiesen worden, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 anhand einer Einzelfalluntersuchung oder anhand der von ihnen festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien zu bestimmen haben, ob die unter Anhang II der Richtlinie fallenden Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen.
40 Hinsichtlich der Festlegung dieser Schwellenwerte oder Kriterien räumt Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 85/337 den Mitgliedstaaten insoweit zwar einen Wertungsspielraum ein. Dieser Spielraum wird jedoch durch die in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie festgelegte Pflicht begrenzt, die Projekte, bei denen u. a. aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen zu rechnen ist, einer Untersuchung ihrer Auswirkungen auf die Umwelt zu unterziehen (Urteil Salzburger Flughafen, C‑244/12, EU:C:2013:203, Rn. 29).
41 Demgemäß wird mit den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 85/337 erwähnten Kriterien und Schwellenwerten das Ziel verfolgt, die Beurteilung der konkreten Merkmale eines Projekts zu erleichtern, damit bestimmt werden kann, ob es der Pflicht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit unterliegt (Urteil Salzburger Flughafen, EU:C:2013:203, Rn. 30).
42 Daraus folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf Genehmigung eines Projekts von Anhang II dieser Richtlinie befasst sind, eine besondere Prüfung der Frage vorzunehmen haben, ob unter Berücksichtigung der Kriterien in Anhang III der Richtlinie eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Mellor, C‑75/08, EU:C:2009:279, Rn. 51).
43 Insoweit ergibt sich aus Anhang III Nr. 1 der Richtlinie 85/337, dass die Merkmale eines Projekts insbesondere hinsichtlich der kumulativen Auswirkungen mit anderen Projekten zu beurteilen sind. Die Nichtberücksichtigung der kumulativen Auswirkung eines Projekts mit anderen Projekten kann nämlich zur Folge haben, dass es der Verpflichtung zur Verträglichkeitsprüfung entzogen wird, obwohl es zusammengenommen mit anderen Projekten erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Brussels Hoofdstedelijk Gewest u. a., EU:C:2011:154, Rn. 36).
44 Dieses Erfordernis muss im Licht von Anhang III Nr. 3 der Richtlinie 85/337 gelesen werden, wonach die potenziellen erheblichen Auswirkungen der Projekte anhand der unter Anhang III Nrn. 1 und 2 der Richtlinie aufgeführten Kriterien zu beurteilen sind und insbesondere der Wahrscheinlichkeit, dem Ausmaß, der Schwere, der Dauer und der Reversibilität der Auswirkungen des Projekts Rechnung zu tragen ist.
45 Daraus folgt, dass es einer nationalen Behörde bei der Überprüfung, ob ein Projekt einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss, obliegt, die Auswirkungen zu prüfen, die das Projekt zusammen mit anderen haben könnte. Mangels einer Präzisierung ist diese Pflicht im Übrigen nicht allein auf gleichartige Projekte beschränkt. Wie die Generalanwältin in Nr. 71 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist in diese Vorprüfung einzubeziehen, ob die Umweltauswirkungen der Aufschlussbohrungen wegen der Auswirkungen anderer Projekte größeres Gewicht haben können als bei deren Fehlen.
46 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 85/337 in der Tat ernsthaft in Frage gestellt wäre, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats bei der Entscheidung über die Frage, ob ein Projekt einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss, den in einem anderen Mitgliedstaat durchzuführenden Teil des Projekts außer Acht lassen dürften (Urteil Umweltanwalt von Kärnten, EU:C:2009:767, Rn. 55). Aus denselben Gründen kann die Beurteilung der Auswirkungen anderer Projekte nicht von den Gemeindegrenzen abhängen.
47 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 in Verbindung mit deren Anhang II Nr. 2 Buchst. d dahin auszulegen ist, dass sich bei einer Tiefbohrung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aufschlussbohrung aus dieser Vorschrift die Pflicht zur Vornahme einer Umweltverträglichkeitsprüfung ergeben kann. Die zuständigen nationalen Behörden müssen daher eine besondere Prüfung der Frage vornehmen, ob unter Berücksichtigung der Kriterien in Anhang III der Richtlinie eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen ist. In diesem Rahmen ist u. a. zu prüfen, ob die Umweltauswirkungen der Aufschlussbohrungen wegen der Auswirkungen anderer Projekte größeres Gewicht haben können als bei deren Fehlen. Diese Beurteilung kann nicht von den Gemeindegrenzen abhängen.
Kosten
48 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Anhang I Nr. 14 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten in der Fassung der Richtlinie 2009/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 ist dahin auszulegen, dass eine Aufschlussbohrung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in deren Rahmen eine Testförderung von Erdgas und Erdöl beabsichtigt ist, um die wirtschaftliche Abbauwürdigkeit einer Lagerstätte zu erforschen, nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt.
2. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 in der Fassung der Richtlinie 2009/31 in Verbindung mit Anhang II Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 85/337 ist dahin auszulegen, dass sich bei einer Tiefbohrung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aufschlussbohrung aus dieser Vorschrift die Pflicht zur Vornahme einer Umweltverträglichkeitsprüfung ergeben kann. Die zuständigen nationalen Behörden müssen daher eine besondere Prüfung der Frage vornehmen, ob unter Berücksichtigung der Kriterien in Anhang III der Richtlinie 85/337 in der Fassung der Richtlinie 2009/31 eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen ist. In diesem Rahmen ist u. a. zu prüfen, ob die Umweltauswirkungen der Aufschlussbohrungen wegen der Auswirkungen anderer Projekte größeres Gewicht haben können als bei deren Fehlen. Diese Beurteilung kann nicht von den Gemeindegrenzen abhängen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 5. Februar 2015.#Grima Janet Nisttahuz Poclava gegen Jose María Ariza Toledano.#Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Social n° 23 de Madrid.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge – Nationale Regelung, die einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit einer Probezeit von einem Jahr vorsieht – Durchführung des Unionsrechts – Fehlen – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.#Rechtssache C-117/14.
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62014CJ0117
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ECLI:EU:C:2015:60
| 2015-02-05T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0117
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
5. Februar 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge — Nationale Regelung, die einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit einer Probezeit von einem Jahr vorsieht — Durchführung des Unionsrechts — Fehlen — Unzuständigkeit des Gerichtshofs“
In der Rechtssache C‑117/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Social no 23 de Madrid (Spanien) mit Entscheidung vom 4. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2014, in dem Verfahren
Grima Janet Nisttahuz Poclava
gegen
Jose María Ariza Toledano
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Vajda sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter) und E. Juhász,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Enegren und R. Vidal Puig als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 30 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. L 175, S. 43).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Nisttahuz Poclava und ihrem Arbeitgeber, Herrn Ariza Toledano, über die Entlassung von Frau Nisttahuz Poclava.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In Art. 30 der Charta ist der „Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung“ wie folgt verankert:
„Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung.“
4 Nach Art. 1 der Richtlinie 1999/70 „[soll mit] dieser Richtlinie … die zwischen den allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen (EGB, UNICE und CEEP) geschlossene Rahmenvereinbarung vom 18. März 1999 über befristete Arbeitsverträge, die im Anhang enthalten ist, durchgeführt werden“.
5 Der Anhang der Richtlinie 1999/70 enthält die EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (im Folgenden: Rahmenvereinbarung). Paragraf 1 der Rahmenvereinbarung lautet:
„Diese Rahmenvereinbarung soll:
a)
durch Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse verbessern;
b)
einen Rahmen schaffen, der den Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse verhindert.“
6 Paragraf 2 („Anwendungsbereich“) der Rahmenvereinbarung sieht in Nr. 1 vor:
„Diese Vereinbarung gilt für befristet beschäftigte Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis gemäß der gesetzlich, tarifvertraglich oder nach den Gepflogenheiten in jedem Mitgliedstaat geltenden Definition.“
7 Paragraf 3 („Definitionen“) der Rahmenvereinbarung bestimmt:
„Im Sinne dieser Vereinbarung ist:
1. ‚befristet beschäftigter Arbeitnehmer‘ eine Person mit einem direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis, dessen Ende durch objektive Bedingungen wie das Erreichen eines bestimmten Datums, die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe oder das Eintreten eines bestimmten Ereignisses bestimmt wird.
…“
8 Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung, der „Maßnahmen zur Vermeidung von Missbrauch“ betrifft, lautet:
„1.
Um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse zu vermeiden, ergreifen die Mitgliedstaaten nach der gesetzlich oder tarifvertraglich vorgeschriebenen oder in dem Mitgliedstaat üblichen Anhörung der Sozialpartner und/oder die Sozialpartner, wenn keine gleichwertigen gesetzlichen Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung bestehen, unter Berücksichtigung der Anforderungen bestimmter Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen:
a)
sachliche Gründe, die die Verlängerung solcher Verträge oder Verhältnisse rechtfertigen;
b)
die insgesamt maximal zulässige Dauer aufeinanderfolgender Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse;
c)
die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge oder Verhältnisse.
2. Die Mitgliedstaaten, nach Anhörung der Sozialpartner, und/oder die Sozialpartner legen gegebenenfalls fest, unter welchen Bedingungen befristete Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse:
a)
als ‚aufeinanderfolgend‘ zu betrachten sind;
b)
als unbefristete Verträge oder Verhältnisse zu gelten haben.“
Spanisches Recht
Arbeitsrecht
9 Das Arbeitsverhältnis wird durch das Real Decreto Legislativo 1/1995 vom 24. März 1995 zur Billigung der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut (BOE Nr. 75 vom 29. März 1995, S. 9654, im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) geregelt.
10 Zur „Probezeit“ sieht Art. 14 des Arbeitnehmerstatuts vor:
„1. Eine Probezeit kann schriftlich vereinbart werden; sie unterliegt den gegebenenfalls in Tarifverträgen der Dauer gesetzten Grenzen. Fehlt eine Tarifvereinbarung, darf die Probezeit für Fachkräfte mit anerkanntem Abschluss [técnicos titulados] sechs Monate und für die übrigen Arbeitnehmer zwei Monate nicht überschreiten. In Unternehmen mit weniger als 25 Arbeitnehmern darf die Probezeit für Arbeitnehmer, die keine Fachkräfte mit anerkanntem Abschluss sind, drei Monate nicht überschreiten.
Bei befristeten Verträgen nach Art. 15, die für eine Dauer von höchstens sechs Monaten geschlossen werden, darf die Probezeit einen Monat nicht überschreiten, es sei denn, dass tarifvertraglich etwas anderes bestimmt ist …“
Der unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer
11 Durch das Gesetz 3/2012 vom 6. Juli 2012 über Dringlichkeitsmaßnahmen zur Reform des Arbeitsmarkts (BOE Nr. 162 vom 7. Juli 2012, S. 49113) wurde das Arbeitsrecht aufgrund der Wirtschaftskrise, in der sich das Königreich Spanien befand, geändert.
12 Als Teil der Maßnahmen zur „Förderung unbefristeter Arbeitsverhältnisse und anderer Unterstützungsmaßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen“ sieht Art. 4 des Gesetzes 3/2012 den „unbefristeten Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer“ vor. Art. 4 Abs. 1 bis 3 bestimmt:
„1. Um die Festanstellung zu erleichtern und zugleich die Unternehmerinitiative zu fördern, können Unternehmen mit weniger als 50 Arbeitnehmern den in diesem Artikel geregelten Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer schließen.
2. Der Vertrag wird unbefristet als Vollzeitvertrag und nach dem festgelegten Muster schriftlich geschlossen.
3. Die rechtliche Regelung des Vertrags und die sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten unterliegen insgesamt dem neu gefassten Gesetz über das Arbeitnehmerstatut, das durch das Real Decreto Legislativo 1/1995 vom 24. März gebilligt wurde, und den Tarifvereinbarungen für unbefristete Verträge; ausgenommen ist allein die Dauer der Probezeit gemäß Art. 14 des Arbeitnehmerstatuts, die in jedem Fall ein Jahr beträgt. Eine Probezeit darf nicht festgelegt werden, wenn der Arbeitnehmer unabhängig von der Art der Anstellung bereits früher dieselben Aufgaben im Unternehmen wahrgenommen hat.“
13 Art. 4 Abs. 4 und 5 des Gesetzes 3/2012 sieht vor, dass der Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer mit Steuervergünstigungen sowie Vorteilen im Bereich der sozialen Sicherheit verbunden ist und dass solche Verträge, wenn sie mit Arbeitslosen geschlossen werden, die beim Arbeitsamt gemeldet sind, zu diversen Vergünstigungen berechtigen.
14 Art. 4 Abs. 6 bis 8 des Gesetzes 3/2012 bestimmt:
„6. Unternehmen, die in den sechs Monaten vor Vertragsschluss rechtswidrige Kündigungen ausgesprochen haben, dürfen keinen unbefristeten Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer gemäß diesem Artikel schließen …
7. Für die Anwendung der mit dem unbefristeten Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer verbundenen Vergünstigungen muss das Unternehmen den angestellten Arbeitnehmer ab Beginn des Arbeitsverhältnisses mindestens drei Jahre lang beschäftigen. Außerdem muss es das durch den unbefristeten Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer erreichte Beschäftigungsniveau im Unternehmen ab Vertragsschluss mindestens ein Jahr lang halten. Bei Nichterfüllung dieser Verpflichtungen muss es die Vergünstigungen zurückerstatten.
…
8. Für die Zwecke dieses Artikels wird auf die Anzahl der zum Einstellungszeitpunkt im Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer abgestellt.“
15 Die Geltungsdauer dieser Beschäftigungsart wird in Abs. 2 der neunten Übergangsbestimmung des Gesetzes 3/2012 wie folgt festgelegt:
„Neunte Übergangsbestimmung. Abschluss von Berufsausbildungs- und Lehrverträgen sowie von unbefristeten Arbeitsverträgen zur Unterstützung der Unternehmer im Zusammenhang mit der Arbeitslosenquote.
…
2. Unbefristete Arbeitsverträge zur Unterstützung der Unternehmer gemäß Art. 4 dieses Gesetzes können solange geschlossen werden, bis die Arbeitslosenquote in unserem Land unter 15 % liegt.“
Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen
16 Frau Nisttahuz Poclava, eine bolivianische Staatsangehörige, war bei dem Hotelunternehmen Taberna del Marqués als Köchin beschäftigt. Ihr unbefristeter Vollzeit-Arbeitsvertrag wurde am 16. Januar 2013 geschlossen. Dieser Vertrag fiel in die Kategorie der unbefristeten Arbeitsverträge zur Unterstützung der Unternehmer.
17 Nach der zweiten Klausel des Vertrags beträgt die Probezeit von Frau Nisttahuz Poclava in jedem Fall ein Jahr. Nach der elften Klausel des Vertrags wird dieser möglicherweise vom Europäischen Sozialfonds mitfinanziert. Hinsichtlich aller nicht im Arbeitsvertrag geregelten Fragen gilt der Tarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe.
18 Frau Nisttahuz Poclava wurde mit Schreiben vom 31. Mai 2013 mitgeteilt, ihr Arbeitsverhältnis mit dem Unternehmen werde mit Wirkung zum selben Tag beendet, da sie die Probezeit nicht bestanden habe.
19 Am 2. Juli 2013 erhob Frau Nisttahuz Poclava gegen ihren Arbeitgeber beim Juzgado de lo Social no 23 de Madrid eine Klage, mit der sie beantragte, festzustellen, dass ihre Kündigung rechtswidrig ist, und ihren Arbeitgeber zu verurteilen, sie entweder zu denselben Bedingungen wieder einzustellen, die vor der Beendigung des Arbeitsvertrags galten, oder ihr eine Entschädigung zu zahlen, die dem Lohn für 33 Tage pro Dienstjahr entspricht.
20 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Dauer der Probezeit gemäß Art. 4 Abs. 3 des Gesetzes 3/2012 nicht der üblicherweise im spanischen Recht vorgesehenen Dauer entspreche und nicht im Zusammenhang mit den beruflichen Fähigkeiten des Angestellten stehe. Durch diese Bestimmung werde ein atypischer, auf die Dauer eines Jahres befristeter Vertrag eingeführt, der nach Ablauf der Probezeit zu einem unbefristeten Arbeitsvertrag werden könne. Darüber hinaus habe der Arbeitnehmer während dieser Probezeit keinen Rechtsschutz gegen eine etwaige Kündigung insbesondere in Bezug auf deren Form, die Gründe, aus denen sie ausgesprochen werde, und die gerichtliche Kontrolle, der sie unterliegen könne.
21 Das vorlegende Gericht führt außerdem aus, dass das Gesetz 3/2012 die Beschäftigung erleichtern solle und zu den Reformen des Arbeitsrechts gehöre, die aufgrund der Beschlüsse und Empfehlungen der Europäischen Union zur Beschäftigungspolitik verabschiedet worden seien.
22 Bezüglich der Beschlüsse und Empfehlungen der Union nennt das vorlegende Gericht in diesem Zusammenhang Art. 148 AEUV, der beschäftigungspolitische Leitlinien vorsieht, und Art. 151 AEUV, die Entscheidung 2008/618/EG des Rates vom 15. Juli 2008 über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (ABl. L 198, S. 47), die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 18. April 2012 mit dem Titel „Einen arbeitsplatzintensiven Aufschwung gestalten“ (COM[2012] 173 final), den Beschluss 2010/707/EU des Rates vom 21. Oktober 2010 über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (ABl. L 308, S. 46), die Empfehlung des Rates vom 12. Juli 2011 zum nationalen Reformprogramm Spaniens 2011 und zur Stellungnahme des Rates zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Spaniens für 2011-2014 (ABl. C 212, S. 1) sowie die Empfehlung des Rates vom 10. Juli 2012 zum nationalen Reformprogramm Spaniens 2012 mit einer Stellungnahme des Rates zum Stabilitätsprogramm Spaniens für die Jahre 2012 bis 2015 (ABl. C 219, S. 81).
23 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts verletzt der unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer Art. 30 der Charta, Art. 2.2 Buchst. b und Art. 4 des von der Internationalen Arbeitsorganisation am 22. Juni 1982 in Genf angenommenen Übereinkommens Nr. 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber, die am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichnete Europäische Sozialcharta – diese Verletzung ergebe sich aus einem Beschluss des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte vom 23. Mai 2012 zu einem ähnlichen griechischen Vertrag – sowie die Richtlinie 1999/70.
24 Konkret zu dieser Richtlinie führt das vorlegende Gericht aus, dass das Gesetz 3/2012 deren Zielen zuwiderlaufe, nämlich der Nichtdiskriminierung der im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrags eingestellten Arbeitnehmer und der Vermeidung von Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse. Das Gesetz führe dazu, dass Arbeitnehmer, die solche Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse geschlossen hätten, gegenüber Arbeitnehmern mit einem normalen befristeten oder unbefristeten Arbeitsvertrag während des ersten Jahres der Durchführung der Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse diskriminiert würden, da für Erstere bei vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine Entschädigung vorgesehen sei. Darüber hinaus werde mit diesem Gesetz unter Verstoß gegen die Richtlinie 1999/70 und die Rahmenvereinbarung ein neuer, faktisch befristeter Arbeitsvertrag eingeführt, der für die Arbeitnehmer, mit denen er geschlossen werde, ungünstigere Arbeitsbedingungen vorsehe.
25 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob eine nationale Regelung, durch die ein Arbeitsvertrag mit einer Probezeit von einem Jahr eingeführt und geregelt wird und die überdies eine tarifvertragliche Regelung der Probezeit dieses Vertragstyps ausschließt, gegen das Unionsrecht verstößt. Es fragt sich ferner, ob diese Probezeit, während deren der Arbeitsvertrag frei auflösbar ist, mit dem durch Art. 30 der Charta gewährleisteten Grundrecht vereinbar ist.
26 Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Social no 23 de Madrid beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Widerspricht eine nationale Regelung, die für den unbefristeten Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer eine einjährige Probezeit vorsieht, während der er frei auflösbar ist, dem Unionsrecht, und ist sie mit dem durch Art. 30 der Charta gewährleisteten Grundrecht vereinbar?
2. Verletzt die Probezeit von einem Jahr, der der unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer unterliegt, die Ziele und die Regelung der Richtlinie 1999/70 und damit die Paragrafen 1 und 3 der Rahmenvereinbarung?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
27 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 30 der Charta und die Richtlinie 1999/70, konkret die Paragrafen 1 und 3 der Rahmenvereinbarung, dahin auszulegen sind, dass diese Bestimmungen einer nationalen Regelung wie der spanischen Regelung entgegenstehen, durch die der unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer eingeführt und geregelt sowie eine Probezeit von einem Jahr vorgesehen wird.
28 Der Anwendungsbereich der Charta ist hinsichtlich des Handelns der Mitgliedstaaten in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
29 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen und nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Deshalb ist zu prüfen, ob die spanische Regelung, durch die der unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer eingeführt und geregelt wird, eine Durchführung des Unionsrechts darstellt.
31 Wie die spanische Regierung und die Europäische Kommission ausgeführt haben, sind die Richtlinie 1999/70 und die Rahmenvereinbarung auf alle Arbeitnehmer anwendbar, die entgeltliche Arbeitsleistungen im Rahmen eines mit ihrem Arbeitgeber bestehenden befristeten Arbeitsverhältnisses erbringen (Urteile Del Cerro Alonso, C‑307/05, EU:C:2007:509, Rn. 28, Rosado Santana, C‑177/10, EU:C:2011:557, Rn. 40, sowie Valenza u. a., C‑302/11 bis C‑305/11, EU:C:2012:646, Rn. 33).
32 Gemäß ihrem Paragrafen 2 Nr. 1 gilt die Rahmenvereinbarung für befristet beschäftigte Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis gemäß der gesetzlich, tarifvertraglich oder nach den Gepflogenheiten in jedem Mitgliedstaat geltenden Definition.
33 Ein „befristet beschäftigter Arbeitnehmer“ ist nach der Definition in Paragraf 3 der Rahmenvereinbarung „eine Person mit einem direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis, dessen Ende durch objektive Bedingungen wie das Erreichen eines bestimmten Datums, die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe oder das Eintreten eines bestimmten Ereignisses bestimmt wird“.
34 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass nach Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes 3/2012 „der Vertrag unbefristet … geschlossen [wird]“. Gemäß Art. 4 Abs. 3 des Gesetzes 3/2012 unterliegt der Vertrag dem Arbeitnehmerstatut und den für unbefristete Verträge geltenden Tarifvereinbarungen; ausgenommen ist allein die Dauer der Probezeit.
35 Sowohl aus der Definition des befristet beschäftigen Arbeitnehmers in Paragraf 3 der Rahmenvereinbarung als auch aus der im Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Regelung ergibt sich, dass ein Arbeitsvertrag wie der von Frau Nisttahuz Poclava nicht als befristeter Vertrag qualifiziert werden kann.
36 Die Probezeit dient nämlich im Wesentlichen der Überprüfung der Eignung und der Fähigkeiten des Arbeitnehmers, während der befristete Arbeitsvertrag verwendet wird, wenn das Ende des Arbeitsvertrags oder ‑verhältnisses durch objektive Bedingungen bestimmt wird.
37 Die Dauer einer Probezeit, wie sie im Gesetz 3/2012 vorgesehen ist, wird jedenfalls nicht durch die Richtlinie 1999/70 geregelt.
38 Daher ist festzustellen, dass ein Vertrag wie der „unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer“ im spanischen Recht kein befristeter Vertrag ist, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 1999/70 fällt.
39 In der Begründung seiner Entscheidung hat das vorlegende Gericht weitere unionsrechtliche Vorschriften angeführt, aufgrund deren seiner Auffassung nach der in Rede stehende rechtliche Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
40 Was Art. 151 AEUV anbelangt, der die Ziele der Union und der Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik darlegt, sieht er keine besondere Verpflichtung in Bezug auf Probezeiten in Arbeitsverträgen vor. Das Gleiche gilt für die vom vorlegenden Gericht genannten Leitlinien und Empfehlungen im Bereich der Beschäftigungspolitik, die vom Rat gemäß Art. 148 AEUV erlassen wurden.
41 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bei der Prüfung des französischen „Erstanstellungsvertrags“ entschieden hat, dass zwar der Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags ein Mittel zur Erreichung der in Art. 151 AEUV festgelegten Ziele ist und der Unionsgesetzgeber nach Maßgabe von Art. 153 Abs. 2 AEUV in diesem Bereich zuständig ist, dass aber Sachverhalte, die nicht Gegenstand von auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen waren, nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen (Beschluss Polier, C‑361/07, EU:C:2008:16, Rn. 13).
42 Der Umstand, dass der unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer möglicherweise durch Strukturfonds finanziert werden kann, genügt für sich genommen nicht, um den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalt als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen.
43 In der Begründung seiner Entscheidung führt das vorlegende Gericht ferner Art. 2.2 Buchst. b und Art. 4 des von der Internationalen Arbeitsorganisation am 22. Juni 1982 in Genf angenommenen Übereinkommens Nr. 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber und die am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichnete Europäische Sozialcharta an. Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV nicht befugt ist, über die Auslegung völkerrechtlicher Bestimmungen zu entscheiden, die zwischen den Mitgliedstaaten Bindungen außerhalb des unionsrechtlichen Bereichs schaffen (vgl. Urteile Vandeweghe u. a., 130/73, EU:C:1973:131, Rn. 2, TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 61, Beschluss Corpul Naţional al Poliţiştilor, C‑134/12, EU:C:2012:288, Rn. 14, sowie Urteil Qurbani, C‑481/13, EU:C:2014:2101, Rn. 22).
44 Nach alledem fällt der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Deshalb ist der Gerichtshof für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen nicht zuständig.
Kosten
45 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Juzgado de lo Social no 23 de Madrid (Spanien) mit Entscheidung vom 4. März 2014 zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 4. Dezember 2014 (auszugsweise Veröffentlichung).#Vanbreda Risk & Benefits gegen Europäische Kommission.#Vorläufiger Rechtsschutz – Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Ausschreibungsverfahren – Erbringung von Dienstleistungen in der Personen- und Sachversicherung – Ablehnung des Angebots eines Bieters – Antrag auf Aussetzung des Vollzugs – Zulässigkeit – Fumus boni iuris – Dringlichkeit – Interessenabwägung.#Rechtssache T‑199/14 R.
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62014TO0199(03)
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ECLI:EU:T:2014:1024
| 2014-12-04T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TO0199(03)
BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTS
4. Dezember 2014 (*1)
„Vorläufiger Rechtsschutz — Öffentliche Dienstleistungsaufträge — Ausschreibungsverfahren — Erbringung von Dienstleistungen in der Personen- und Sachversicherung — Ablehnung des Angebots eines Bieters — Antrag auf Aussetzung des Vollzugs — Zulässigkeit — Fumus boni iuris — Dringlichkeit — Interessenabwägung“
In der Rechtssache T‑199/14 R
Vanbreda Risk & Benefits mit Sitz in Antwerpen (Belgien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte P. Teerlinck und P. de Bandt,
Antragstellerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch S. Delaude und L. Cappelletti als Bevollmächtigte,
Antragsgegnerin,
wegen eines Antrags auf einstweilige Anordnung, gerichtet im Wesentlichen auf die Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung der Kommission vom 30. Januar 2014, mit der diese das von der Antragstellerin im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens für einen Auftrag für die Personen- und Sachversicherung eingereichte Angebot zurückgewiesen hat und dieser Auftrag an eine andere Gesellschaft vergeben worden ist,
erlässt
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
folgenden
Beschluss (1 )
Vorgeschichte des Rechtsstreits, Verfahren und Anträge der Parteien
1 Am 10. August 2013 veröffentlichte die Kommission im Amtsblatt der Europäischen Union eine Ausschreibung mit der Referenznummer OIB.DR.2/PO/2013/062/591 betreffend einen in vier Lose unterteilten Auftrag für Personen- und Sachversicherungen. Los Nr. 1 bezog sich auf den Versicherungsschutz – ab dem 1. März 2014 – für Gebäude und deren Inventar, wobei der Vertrag von der Kommission im eigenen Namen und im Namen der folgenden Auftraggeber geschlossen werden sollte: Rat der Europäischen Union, Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Ausschuss der Regionen der Europäischen Union, Exekutivagentur des Europäischen Forschungsrats, Exekutivagentur für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation, Exekutivagentur für die Forschung, Exekutivagentur „Bildung, Audiovisuelles und Kultur“ und Exekutivagentur für Innovation und Netze (im Folgenden: Ausschreibung).
2 Die Ausschreibung sollte den zu diesem Zeitpunkt geltenden Vertrag mit einem Konsortium ersetzen, dessen Maklerin die Antragstellerin, Vanbreda Risk & Benefits, war und der am 28. Februar 2014 auslief.
3 Am 7. September 2013 wurde im Supplement zum Amtsblatt (ABl. S 174) eine Berichtigung veröffentlicht, mit der die Frist für die Einreichung von Angeboten bis zum 25. Oktober 2013 verlängert und der Zeitpunkt für die öffentliche Sitzung zur Öffnung der Angebote auf den 31. Oktober 2013 verschoben wurde. In dieser Sitzung bestätigte der Eröffnungsausschuss den Eingang von zwei Angeboten für das Los Nr. 1, die zum einen von der Versicherungsmaklerin Marsh SA und zum anderen von der Antragstellerin abgegeben worden waren.
4 Am 30. Januar 2014 unterrichtete die Kommission zum einen Marsh, dass ihr der Zuschlag für das Los Nr. 1 erteilt worden sei, und zum anderen die Antragstellerin, dass ihr Angebot für dieses Los nicht ausgewählt worden sei, da sie nicht den niedrigsten Preis geboten habe (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).
5 Mit getrennten Schriftsätzen vom 28. März 2014 hat die Antragstellerin bei der Kanzlei des Gerichts zum einen eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie eine Schadensersatzklage nach den Art. 268 AEUV und 340 AEUV auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung von Schadensersatz an sie in Höhe von 1 Mio. Euro erhoben und zum anderen den vorliegenden Antrag gestellt, mit dem sie den für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter im Wesentlichen ersuchte,
—
zum einen, nach Art. 105 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts anzuordnen, den Vollzug der angefochtenen Entscheidung bis zum Erlass des Beschlusses auszusetzen, der das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließt, und zum anderen den Vollzug der angefochtenen Entscheidung bis zur Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache auszusetzen;
—
die Vorlage folgender Dokumente anzuordnen:
[nicht wiedergegeben]
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
6 Am 3. April 2014 verfügte der Präsident des Gerichts mit seinem Beschluss Vanbreda Risk & Benefits/Kommission (T‑199/14 R, im Folgenden: Beschluss vom 3. April 2014) nach Art. 105 § 2 der Verfahrensordnung die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung sowie des Dienstleistungsvertrags zwischen der Kommission, Marsh und der bzw. den jeweiligen Versicherungsgesellschaft(en) bis zum Erlass des Beschlusses, der das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließt.
7 Am 8. April 2014 übermittelte die Kommission zum einen den Dienstleistungsvertrag OIB.DR.2/PO/2013/062/591/C0/L1 und stellte zum anderen einen Antrag, der darauf gerichtet war, dass der Präsident des Gerichts umgehend, rückwirkend und ohne Vorbehalt, Nr. 1 des Tenors seines Beschlusses vom 3. April 2014 aufhebe. Im Hinblick auf das neue dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter von der Kommission zur Kenntnis gebrachte Vorbringen in Bezug auf den Ablauf des vorangehenden Versicherungsvertrags und die damit verbundenen Folgen erließ der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter am 10. April 2014 einen Beschluss, mit dem er dem Antrag der Kommission stattgab.
[Nicht wiedergegeben]
9 Am 25. April 2014 hat die Kommission Erklärungen zu dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz abgegeben, in denen sie im Wesentlichen beantragte,
—
den Antrag der Antragstellerin auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung zurückzuweisen;
—
die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vorzubehalten.
[Nicht wiedergegeben]
12 Mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 sind die Parteien zu einer Anhörung geladen worden, die am 21. Oktober 2014 stattgefunden hat.
Rechtliche Würdigung
[Nicht wiedergegeben]
16 Vorliegend ist der besonderen Rolle des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge Rechnung zu tragen (Beschluss vom 4. Februar 2014, Serco Belgium u. a./Kommission, T‑644/13 R, Slg, EU:T:2014:57, Rn. 18 ff.). Hierbei ist auch der vom Unionsgesetzgeber geschaffene Rechtsrahmen zu berücksichtigen, der von den öffentlichen Auftraggebern der Mitgliedstaaten auf Vertragsvergabeverfahren anzuwenden ist. Insbesondere sollten sich, wie im 40. Erwägungsgrund der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 in Verbindung mit Art. 91 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. L 94, S. 65) ausgeführt, die materiellen Vorschriften für die Auftragsvergabe auf die Richtlinie 2014/24 stützen.
17 Darüber hinaus hielt es der Gesetzgeber, wie zum einen in den ersten drei Erwägungsgründen der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) und zum anderen im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge (ABl. L 335, S. 31) festgestellt wurde, zur Sicherstellung der tatsächlichen Anwendung solcher Vorschriften für erforderlich, eine Reihe von Verfahrensregeln einzuführen, durch die eine rasche Nachprüfung in einem Stadium zur Verfügung steht, in dem Verstöße noch sinnvoll beseitigt werden können.
18 Wie sich im Übrigen aus den Erwägungsgründen 2, 3 und 5 und aus Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 ergibt, werden einstweilige Maßnahmen im besonderen Kontext öffentlicher Aufträge nicht nur als Mittel zur Aussetzung des Vergabeverfahrens, sondern zumindest in gleicher Weise als Mittel zur Beseitigung einer Rechtswidrigkeit angesehen, die sonst dem Hauptsacheverfahren vorbehalten wäre.
19 Die Berücksichtigung der Auswirkung dieser Erwägungen auf die Ausübung der Befugnis des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters ist dadurch gerechtfertigt, dass zum einen, ebenso wie auf nationaler Ebene, bei öffentlichen Aufträgen die Maßnahmen nach dem ersten Kapitel des Dritten Teils der Verfahrensordnung die Gewährleistung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Hinblick auf die Anwendung der für die EU‑Organe und ‑Einrichtungen anwendbaren Vorschriften für die Auftragsvergabe, die im Wesentlichen auf die Richtlinie 2014/24 (siehe oben, Rn. 16 sowie den vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66) gestützt sind, bezwecken, und dass zum anderen diese Richtlinien gemäß dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz, wie er im Urteil vom 19. September 2013, Überprüfung Kommission/Strack (C‑579/12 RX‑II, Slg, EU:C:2013:570, Rn. 40) Anwendung findet, das Bestehen eines wesentlichen Grundsatzes des Rechts der öffentlichen Aufträge der Union, nämlich des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes der Bieter, hervorheben, dessen besondere Bedeutung aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2014, Fastweb, C‑19/13, Slg, EU:C:2014:2194, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung), und der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist (im Folgenden: Grundrechtecharta).
20 Auch wenn feststeht, dass das Gericht den Nichtigkeitsgrund, der auf den Verstoß eines Unionsorgans gegen eine Bestimmung einer Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe, die definitionsgemäß an die Mitgliedstaaten gerichtet ist, gestützt ist, als in Leere gehend zurückweist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2010, Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑50/05, Slg, EU:T:2010:101, Rn. 104, vom 11. Mai 2010, PC‑Ware Information Technologies/Kommission, T‑121/08, Slg, EU:T:2010:183, Rn. 50, und vom 6. Mai 2013, Kieffer Omnitec/Kommission, T‑288/11, EU:T:2013:228, Rn. 22 bis 24), ist der Unionsrichter daher gleichwohl nicht daran gehindert, den in diesem Unionsrechtsakt enthaltenen Ausdruck allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts zu berücksichtigen. Daher geben im vorliegenden Fall die im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe erlassenen Richtlinien nur die besonders zentrale Bedeutung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in diesem Bereich wieder.
[Nicht wiedergegeben]
1. Zum fumus boni iuris
22 Die Voraussetzung des Vorliegens eines fumus boni iuris ist erfüllt, wenn im Stadium des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes eine bedeutsame rechtliche Kontroverse besteht, deren Lösung sich nicht sogleich aufdrängt, so dass die Klage dem ersten Anschein nach nicht einer ernsthaften Grundlage entbehrt (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 13. Juni 1989, Publishers Association/Kommission, 56/89 R, Slg, EU:C:1989:238, Rn. 31, und vom 8. Mai 2003, Kommission/Artegodan u. a., C‑39/03 P-R, Slg, EU:C:2003:269, Rn. 40). Da nämlich der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes darin besteht, die volle Wirksamkeit der künftigen Hauptsacheentscheidung sicherzustellen, um Lücken im durch den Gerichtshof gewährleisteten Rechtsschutz zu vermeiden, muss sich der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter darauf beschränken, die Begründetheit der im Rahmen des Hauptsacheverfahrens geltend gemachten Klagegründe prima facie zu beurteilen, um festzustellen, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Klage Erfolg haben wird (Beschlüsse vom 19. Dezember 2013, Kommission/Deutschland, C‑426/13 P[R], Slg, EU:C:2013:848, Rn. 41, und vom 8. April 2014, Kommission/ANKO, C‑78/14 P‑R, Slg, EU:C:2014:239, Rn. 15).
23 Zwar ist der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter grundsätzlich nicht verpflichtet, eine genauso eingehende Prüfung wie im Rahmen des Hauptsacheverfahrens vorzunehmen, doch kann diese Feststellung nicht so ausgelegt werden, dass eine eingehende Prüfung absolut verboten ist (Beschluss Vischim/Kommission, oben Rn. 15, EU:C:2007:209, Rn. 50).
24 Im vorliegenden Fall macht die Antragstellerin als einzigen, aus drei Teilen bestehenden Klagegrund die Nichtübereinstimmung des Angebots von Marsh mit dem Lastenheft geltend, die dem ersten Anschein nach die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung begründe.
Zum ersten Teil des einzigen Nichtigkeitsgrundes
[Nicht wiedergegeben]
Zur Begründetheit des ersten Teils des einzigen Nichtigkeitsgrundes
[Nicht wiedergegeben]
– Zum Vorwurf der Rechtswidrigkeit der Teilnahme von Marsh an der Ausschreibung als einzige Bieterin
[Nicht wiedergegeben]
75 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Zulassung eines Maklers zur Teilnahme an der Ausschreibung als einziger Bieter die Bewertung seines Angebots unter Außerachtlassung der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit der Versicherungsgesellschaften, die das abgedeckte Risiko letztlich versichern, im Gegensatz zu allen anderen ausdrücklich im Lastenheft vorgesehenen Fallgestaltungen und ohne dass diese Differenzierung im Hinblick auf die Systematik der Regelung objektiv gerechtfertigt erschiene, ermöglichte, so dass ihre Rechtmäßigkeit auf den ersten Blick zweifelhaft erscheint.
[Nicht wiedergegeben]
81 Aus dieser Prima-facie-Prüfung folgt, dass die Zulassung eines Maklers zur Teilnahme an einer Ausschreibung als einzigem, von Versicherungsgesellschaften bevollmächtigtem Bieter zum einen die Prüfung der Vorzüge eines Angebots in Bezug auf die im Lastenheft aufgestellten Kriterien auf den ersten Blick illusorisch macht und dass zum anderen dieser Makler dadurch gegebenenfalls gegenüber den anderen Bietern in den Genuss eines Wettbewerbsvorteils kommt.
[Nicht wiedergegeben]
83 Nach alledem scheint es auf den ersten Blick, dass die Anwendung der Auswahlkriterien und der Modalitäten für die Übermittlung der Angebote sowie ihre Auslegung durch die Kommission im vorliegenden Fall keinen effektiven Wettbewerb gewährleisten konnten.
[Nicht wiedergegeben]
86 Daher ist festzustellen, dass nach einer Prima-facie-Prüfung vom Vorliegen hinreichend ernsthafter Elemente auszugehen ist, um auf die Begründetheit des Vorwurfs, die Zulassung von Marsh zur Teilnahme an der Ausschreibung als einziger Bieter sei rechtswidrig gewesen, schließen zu können.
– Zum Vorwurf der Behandlung des Angebots von Marsh durch die Kommission wie ein gemeinsames Angebot
[Nicht wiedergegeben]
96 Daher zeigt sich nach einer ersten Prüfung des Austauschs zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und Marsh im vorliegenden Fall, dass das ursprüngliche Angebot als das eines einzigen Bieters dargestellt wurde, das nicht einer gesamtschuldnerischen Verpflichtung genügen musste, das dann zu einem einem gemeinsamen Angebot gleichzusetzenden Angebot wurde. Um dem Lastenheft zu entsprechen, muss diese Art des Angebots die Zustimmung/Vollmacht enthalten. Da dem Angebot von Marsh ein solches Dokument nicht beigefügt war, hat die Kommission, indem sie es als gültig akzeptierte, offensichtlich ihre eigenen Vorschriften verkannt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn er im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens die Bedingungen festlegt, die er den Bietern auferlegen möchte, seine Ermessensausübung beschränkt und überdies von den so festgelegten Bedingungen nicht gegenüber einem der Bieter abweichen kann, ohne gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen den Bewerbern zu verstoßen (Urteil vom 20. März 2013, Nexans France/Entreprise commune Fusion for Energy, T‑415/10, Slg, EU:T:2013:141, Rn. 80).
[Nicht wiedergegeben]
102 Nach alledem führt das System des Mandats, wie es im vorliegenden Fall von der Kommission akzeptiert wurde, offenbar zu einer Umgehung der auf gemeinschaftliche Angebote anwendbaren Regeln.
103 Daher ist dem ersten Anschein nach davon auszugehen, dass Elemente vorliegen, die in diesem Stadium die Begründetheit des Vorwurfs stützen können, die Kommission habe das Angebot von Marsh de facto als gemeinsames Angebot behandelt, während dieses Angebot in dieser Eigenschaft, mangels Zustimmung/Vollmacht, für rechtswidrig hätte erklärt werden müssen.
104 Somit ergibt sich aus der vorstehenden Analyse, dass die Antragstellerin, was den ersten Teil des einzigen Nichtigkeitsgrundes angeht, das Vorliegen eines besonders ernsthaften fumus boni iuris nachgewiesen hat.
Zum zweiten Teil des einzigen Nichtigkeitsgrundes
105 Im Rahmen des zweiten Teils ihres einzigen Nichtigkeitsgrundes weist die Antragstellerin zunächst darauf hin, dass es einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter darstellen würde, wenn einem Bieter die Möglichkeit eingeräumt würde, sein Angebot nach Öffnung der Angebote zu ändern. Die Identität der Versicherungsgesellschaften, die Marsh Vollmacht erteilt hätten, sei nach der Eröffnung der Angebote verändert worden. Zwar könnten die öffentlichen Auftraggeber aus eigener Initiative mit einem Bieter in Kontakt treten, wenn ein Angebot Klarstellungen erfordere oder sachliche Irrtümer im Wortlaut des Angebots zu berichtigen seien; dieser Rahmen würde mit der im vorliegenden Fall vorgenommenen Änderung jedoch überschritten und stelle eine wesentliche Änderung des Angebots dar. Da die Bestimmung des Auftragnehmers nämlich nach den im Lastenheft festgelegten Auswahlkriterien erfolge, hätte eine solche Änderung eine neue Prüfung auf Grundlage dieser Kriterien erfordert. Daher habe die Kommission, indem sie diese Änderung genehmigt habe, gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter in Verbindung mit Art. 112 Abs. 1 der Haushaltsordnung und Art. 160 der delegierten Verordnung verstoßen.
[Nicht wiedergegeben]
109 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass erstens aus der Analyse des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters hervorging, dass die Änderung der Anteile der Versicherungsgesellschaften, die Marsh Vollmacht erteilt hatten, an der Risikodeckung als Änderung eines wesentlichen Bestandteils des Angebots qualifiziert werden kann, da diese Änderung zur Erlangung eines Wettbewerbsvorteils für einen der Bieter führte (siehe oben, Rn. 78 bis 80).
110 Zweitens deutete die Prüfung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz ebenfalls auf eine Änderung des Wesens des Angebots von Marsh hinsichtlich der gemeinschaftlichen Verpflichtung der Versicherungsgesellschaften hin. Entgegen der von der Kommission in ihren Erklärungen vom 25. April 2014 vertretenen Auffassung bedeutet der Umstand, dass der unterzeichnete Vertrag die Klausel über die Solidarität der Unterzeichneten enthält und dass diese Klausel seit der Veröffentlichung des Lastenhefts der Ausschreibung vorgesehen war, nicht, dass das Angebot von Marsh zwangsläufig die mit dieser Klausel verbundenen Kosten und Risiken hätte berücksichtigen müssen (siehe oben, Rn. 95 und 96).
111 Daher ist in dieser Hinsicht, wie die Antragstellerin in ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ausführt, die Bedeutung der Voraussetzung der Solidarität im Rahmen dieser Ausschreibung anhand der Größe des betroffenen Marktes und ihres Einflusses auf den Preis des Angebots hervorzuheben. Im Hinblick auf die Höhe des auf dem Spiel stehenden Kapitals und die Möglichkeit des Eintritts eines Schadensfalls von großem Ausmaß ist es unabdingbar, dass die Versicherungsgesellschaften durch die Solidaritätsklausel gebunden sind, um zu vermeiden, dass jede von ihnen nur die finanziellen Risiken für den Teil des Vertrags abdeckt, den sie erfüllt, und dass im Fall des Ausfalls einer Versicherungsgesellschaft der Teil des Schadens, für dessen Deckung diese zuständig ist, nicht ersetzt wird. Jedoch läuft diese Anforderung für eine Versicherungsgesellschaft darauf hinaus, ihre Leistungsfähigkeit, also ihr Kapital, bis zur maximalen Höhe der Verpflichtung für alle durch den Dienstleistungsvertrag abgedeckten Risiken offenzulegen. Da diese Verpflichtung zur Überschreitung der finanziellen Leistungsfähigkeit jeder einzelnen Versicherung führen kann, muss sie diese zusätzliche Leistungsfähigkeit durch Rückgriff auf Mechanismen wie eine Bankgarantie oder eine Rückversicherung erlangen, die ein zusätzliches finanzielles Risiko darstellt und zusätzliche Kosten verursacht. Daher ist die vorgeschlagene Prämie für einen Vertrag, der die gemeinschaftliche Haftung zwischen allen Beteiligten vorsieht, auf den ersten Blick höher als jene für einen Vertrag, der keine solche Solidarität bietet.
[Nicht wiedergegeben]
113 Da das ursprüngliche Angebot das aufgestellte Erfordernis der Solidarität nicht zwangsläufig berücksichtigte und der vage Charakter der Begriffe der Ausschreibung im Hinblick auf die Einreichung eines Angebots durch einen einzigen Bieter die Anpassung des ursprünglichen Angebots ermöglichte, um durch ein gemeinsames Angebot das gewünschte Ergebnis zu erzielen, ist dem ersten Anschein nach auf die Änderung eines wesentlichen Bestandteils des Angebots zu schließen.
[Nicht wiedergegeben]
120 Somit ist in diesem Stadium festzustellen, dass das ursprüngliche Angebot von Marsh dem ersten Anschein nach im Hinblick auf Art. 112 Abs. 1 der Haushaltsordnung und Art. 160 der delegierten Verordnung unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter, der im Bereich des Unionsrechts bei der Vergabe öffentlicher Aufträge anzuwenden ist, rechtswidrige Änderungen erfahren hat.
121 Daher folgt aus der vorstehenden Analyse, dass die Antragstellerin, was den zweiten Teil des einzigen Klagegrundes angeht, das Vorliegen eines besonders ernsthaften fumus boni iuris nachgewiesen hat.
[Nicht wiedergegeben]
2. Zur Dringlichkeit
138 Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt sich die Dringlichkeit danach, ob eine einstweilige Entscheidung notwendig ist, um zu verhindern, dass der Partei, die eine einstweilige Anordnung beantragt, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entsteht (Beschluss vom 14. Dezember 2001, Kommission/Euroalliages u. a., C‑404/01 P[R], Slg, EU:C:2001:710, Rn. 61 und 62). In dieser Hinsicht hat die Partei, die den Erlass einstweiliger Anordnungen beantragt, nachzuweisen, dass sie den Ausgang des Verfahrens zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne dass ihr ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstünde. Für den Nachweis des Bestehens eines solchen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens braucht sein Bevorstehen nicht mit absoluter Sicherheit nachgewiesen zu werden, seine Entstehung muss jedoch mit einem hinreichenden Grad von Wahrscheinlichkeit vorhersehbar sein (vgl. Beschluss vom 12. Juni 2014, Kommission/Rat, C‑21/14 P‑R, Slg, EU:C:2014:1749, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
[Nicht wiedergegeben]
Zum nicht wiedergutzumachenden Charakter des Schadens
[Nicht wiedergegeben]
157 Daraus folgt, dass ‐ in Anwendung der bisherigen Rechtsprechung ‐ die Voraussetzung der Dringlichkeit im vorliegenden Fall nicht erfüllt wäre. Generell ist festzustellen, dass, angewandt auf die Situation eines abgelehnten Bieters, die Voraussetzung des Eintritts eines nicht wiedergutzumachenden Schadens aus den oben genannten systembedingten Gründen nur übermäßig schwer nachzuweisen ist.
158 Ein solches Ergebnis ist jedoch mit den Erfordernissen, die sich aus einem effektiven vorläufigen Schutz ergeben, der im Bereich der öffentlichen Aufträge zu gewährleisten ist, unvereinbar (siehe oben, Rn. 16 bis 20). Im Übrigen ist hervorzuheben, dass die Missachtung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht nur negative Auswirkungen im Hinblick auf die abgelehnten Bieter haben, sondern auch den Schutz der finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen kann. Dieser Rechtsstreit erfordert daher eine neue Vorgehensweise, die seinen Besonderheiten angepasst ist und es dem abgelehnten Bieter ermöglichen soll, die Dringlichkeit in anderer Weise als dadurch zu begründen, dass unter allen Umständen ein bevorstehendes Risiko des Eintritts eines nicht wiedergutzumachenden Schadens nachgewiesen wird.
159 In dieser Hinsicht ist erstens darauf hinzuweisen, dass der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter die Voraussetzung betreffend den nicht wiedergutzumachenden Charakter des Schadens – ebenso wenig im Übrigen auch diejenige betreffend den schwerwiegenden Charakter des geltend gemachten Schadens ‐ nicht mechanisch und streng anwenden darf, sondern die Umstände berücksichtigen muss, die für jede Rechtssache charakteristisch sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 28. April 2009, United Phosphorus/Kommission, T‑95/09 R, EU:T:2009:124, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).
160 Zweitens ist der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nicht daran gehindert, die Art. 278 AEUV und 279 AEUV unmittelbar anzuwenden ‐ Bestimmungen des Primärrechts, die ihm die Befugnis verleihen, eine Aussetzung des Vollzugs anzuordnen, „wenn er dies den Umständen nach für nötig hält“, und die „erforderlichen“ einstweiligen Maßnahmen zu treffen (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 24. Februar 2014, HTTS und Bateni/Rat, T‑45/14 R, EU:T:2014:85, Rn. 51, und vom 25. Juli 2014, Deza/ECHA, T‑189/14 R, EU:T:2014:686, Rn. 105).
161 Drittens schloss der Präsident des Gerichtshofs nicht die Möglichkeit aus, eine Aussetzung des Vollzugs anzuordnen oder vorläufige Maßnahmen auf der bloßen Grundlage der offensichtlichen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Rechtsakts anzuordnen, etwa, wenn diese die Rechtswidrigkeit gewissermaßen auf der Stirn tragen (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 7. Juli 1981, IBM/Kommission, 60/81 R und 190/81 R, Slg, EU:C:1981:165, Rn. 7 und 8, und vom 26. März 1987, Hoechst/Kommission, 46/87 R, Slg, EU:C:1987:167, Rn. 31 und 32). In diesem Zusammenhang wurde bereits im Beschluss Communicaid Group/Kommission, oben in Rn. 148 angeführt (vgl. in diesem Sinne EU:T:2013:121, Rn. 45), die Möglichkeit erwogen, dass, insbesondere bei Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Bereich des öffentlichen Auftragswesens, die Dringlichkeit in der unabdingbaren Notwendigkeit bestehen kann, so schnell wie möglich einen Zustand zu beseitigen, der dem ersten Anschein nach als eine hinreichend offenkundige und schwere Rechtswidrigkeit und daher als ein besonders ernsthafter fumus boni iuris erscheint.
162 Im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe ist also davon auszugehen, dass, sofern der abgelehnte Bieter das Vorliegen eines besonders ernsthaften fumus boni iuris nachweisen kann, von ihm nicht gefordert werden kann, den Nachweis zu erbringen, dass ihm die Zurückweisung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz einen nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen könnte, da andernfalls der effektive gerichtliche Rechtsschutz, den er nach Art. 47 der Grundrechtecharta genießt, übermäßig und ungerechtfertigt beeinträchtigt würde. Ein solcher fumus boni iuris liegt vor, wenn er das Bestehen einer hinreichend offenkundigen und schweren Rechtswidrigkeit erkennen lässt, deren Wirkungen in ihrem Entstehen oder Fortbestand so rasch wie möglich zu beseitigen sind, es sei denn, dass die Abwägung der bestehenden Interessen dem letztlich nicht entgegensteht. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen genügt der Nachweis der Schwere des Schadens, der mangels einer Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung entstünde, um die Voraussetzung der Dringlichkeit zu erfüllen, wobei zu berücksichtigen ist, dass Wirkungen, die sich aus einem solchen Rechtsverstoß ergeben können, verhindert werden sollen.
163 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Prüfung der Voraussetzung des fumus boni iuris (siehe oben, Rn. 22 bis 136), dass dem ersten Anschein nach schwerwiegende Verstöße in Bezug auf Teile des Verfahrens der Auftragsvergabe begangen wurden, die zur Rechtswidrigkeit des ausgewählten Angebots führen. Daraus folgt, dass die Handlungen der Kommission und die von ihr erlassenen Entscheidungen im vorliegenden Fall in diesem Verfahrensstadium als Verstöße gegen das Unionsrecht anzusehen sind, die hinreichend offenkundig und schwerwiegend sind, um es erforderlich zu machen, zu verhindern, dass sie Wirkungen für die Zukunft entfalten, ohne dass die Antragstellerin jedoch den nicht wiedergutzumachenden Charakter des Schadens, der ihr mangels einer Aussetzung der angefochtenen Entscheidung entstünde, nachweisen muss.
164 Daher ist im Hinblick auf den Charakter der festgestellten Rechtsverstöße die Voraussetzung der Dringlichkeit im vorliegenden Fall als erfüllt anzusehen.
[Nicht wiedergegeben]
3. Zur Interessenabwägung
[Nicht wiedergegeben]
Allgemeines Interesse an der Notwendigkeit, einen Verstoß gegen das Unionsrecht aufgrund seines hinreichend offensichtlichen und schweren Charakters unverzüglich zu beenden
[Nicht wiedergegeben]
197 Daher ist der Schluss zu ziehen, dass die Interessenabwägung im Hinblick zum einen auf die Intensität, in der die Voraussetzungen des fumus boni iuris und der Dringlichkeit erfüllt sind, und insbesondere im Hinblick auf den hinreichend offensichtlichen und schweren Charakter der behaupteten Verstöße gegen das Unionsrecht dem ersten Anschein nach, und zum anderen im Hinblick auf die Besonderheiten des vorliegenden Falles und insbesondere auf den gerichtlichen Rechtsschutz, der den Bietern im spezifischen Kontext der öffentlichen Aufträge zuteil werden muss, zugunsten der Antragstellerin ausfällt.
198 Aus den dargelegten Gründen folgt, dass die Voraussetzung betreffend die Interessenabwägung, deren Bedeutung in Streitigkeiten im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen besonders hervorgehoben wurde (siehe oben, Rn. 147, 158 und 165), erfüllt ist.
[Nicht wiedergegeben]
200 Im Hinblick auf die Besonderheiten des betreffenden öffentlichen Auftrags und aus den, insbesondere oben in Rn. 184, dargelegten Gründen ist dem vorliegenden Beschluss jedoch erst nach Ablauf der Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels gegen denselben Wirkung zu verleihen.
Aus diesen Gründen hat
DER PRÄSIDENT DES GERICHTS
beschlossen:
1. Die Entscheidung der Europäischen Kommission vom 30. Januar 2014, mit der diese das von Vanbreda Risk & Benefits im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens für einen Auftrag für die Personen- und Sachversicherung eingereichte Angebot zurückgewiesen hat und dieser Auftrag an eine andere Gesellschaft vergeben wurde, wird ausgesetzt, was den Zuschlag von Los 1 angeht.
2. Die Wirkungen der Entscheidung der Kommission vom 30. Januar 2014 werden bis zum Ablauf der Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels gegen den vorliegenden Beschluss aufrechterhalten.
3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Luxemburg, den 4. Dezember 2014
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
M. Jaeger
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Beschlusses wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 9. Januar 2015.#RG gegen SF.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour d'appel de Bruxelles.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Kindesentführung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 11 Abs. 7 und 8.#Rechtssache C-498/14 PPU.
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62014CJ0498
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ECLI:EU:C:2015:3
| 2015-01-09T00:00:00 |
Jääskinen, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0498
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
9. Januar 2015 (*1) (1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Kindesentführung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 11 Abs. 7 und 8“
In der Rechtssache C‑498/14 PPU
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 7. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2014, in dem Verfahren
RG
gegen
SF
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 7. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2014, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Vierten Kammer vom 18. November 2014, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, J.‑C. Halleux und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1, im Folgenden: Verordnung).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen RG und SF wegen der elterlichen Verantwortung für ihren gemeinsamen Sohn TE, der von SF in Polen festgehalten wird.
Rechtlicher Rahmen
Haager Übereinkommen von 1980
3 Art. 3 des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) bestimmt:
„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn
a)
dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
b)
dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“
4 In Art. 12 dieses Übereinkommens heißt es:
„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.
…“
5 Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht vor:
„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,
a)
dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder
b)
dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
…“
6 Das Haager Übereinkommen von 1980 ist am 1. Dezember 1983 in Kraft getreten. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsparteien des Übereinkommens.
Unionsrecht
7 Die Erwägungsgründe 12, 17, 18 und 33 der Verordnung lauten:
„(12)
Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder die Träger der elterlichen Verantwortung anderes vereinbart haben.
…
(17) Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von 1980], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.
(18) Entscheidet das Gericht gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980, die Rückgabe abzulehnen, so sollte es das zuständige Gericht oder die Zentrale Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, hiervon unterrichten. Wurde dieses Gericht noch nicht angerufen, so sollte dieses oder die Zentrale Behörde die Parteien entsprechend unterrichten. Diese Verpflichtung sollte die Zentrale Behörde nicht daran hindern, auch die betroffenen Behörden nach nationalem Recht zu unterrichten.
…
(33) Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta] zu gewährleisten.“
8 Art. 1 Abs. 1 und 2 der Verordnung bestimmt:
„(1)
Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:
…
b)
die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.
(2) Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:
a)
das Sorgerecht und das Umgangsrecht,
…“
9 In Art. 2 der Verordnung heißt es:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Gericht‘ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen;
…
7. ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;
8. ‚Träger der elterlichen Verantwortung‘ jede Person, die die elterliche Verantwortung für ein Kind ausübt;
9. ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;
10. ‚Umgangsrecht‘ insbesondere auch das Recht, das Kind für eine begrenzte Zeit an einen anderen Ort als seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zu bringen;
11. ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn
a)
dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,
und
b)
das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“
10 Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung sieht vor:
„(1)
Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
(2) Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“
11 In Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung heißt es:
„(1)
Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.
…
(3) Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.
Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.
…
(6) Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.
(7) Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.
Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.
(8) Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“
12 Art. 15 („Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann“) der Verordnung bestimmt in seinem Abs. 1:
„In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,
a)
die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder
b)
ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.“
Belgisches Recht
13 Art. 1322decies des Gerichtsgesetzbuchs in der durch die Loi du 30 juillet 2013 portant création du tribunal de la famille (Gesetz vom 30. Juli 2013 zur Schaffung eines Familien- und Jugendgerichts) geänderten Fassung (im Folgenden: Gerichtsgesetzbuch) bestimmt:
„§ 1 – Eine im Ausland erlassene Entscheidung, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, sowie die dazugehörenden Unterlagen, die der belgischen Zentralbehörde in Anwendung von Artikel 11 Absatz 6 der in Artikel 1322bis Nr. 3 erwähnten Verordnung des Rates übermittelt werden, werden dem Greffier des Gerichts Erster Instanz, das am Sitz des Appellationshofes tagt, in dessen Bereich das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Wohnort hatte, per Einschreibebrief zugesandt.
§ 2 – Der Greffier notifiziert den Parteien und der Staatsanwaltschaft ab Entgegennahme der Unterlagen und spätestens binnen drei Werktagen per Gerichtsbrief die in Artikel 11 Absatz 7 der in § 1 erwähnten Verordnung des Rates enthaltene Information. Der Gerichtsbrief enthält folgende Vermerke:
1. den Text von Artikel 11 der in Artikel 1322bis Nr. 3 erwähnten Verordnung des Rates,
2. eine Aufforderung an die Parteien, bei der Kanzlei binnen drei Monaten ab der Notifizierung Schriftsätze zu hinterlegen. Die Hinterlegung dieser Schriftsätze macht die Sache beim Familiengericht anhängig.
§ 3 – Wenn mindestens eine der Parteien Schriftsätze hinterlegt, lädt der Greffier die Parteien unverzüglich zur erstmöglichen Sitzung vor.
§ 4 – Die Befassung des Familiengerichts führt zur Aussetzung der Verfahren, die vor den Gerichtshöfen und Gerichten, bei denen eine Rechtsstreitigkeit in Sachen elterliche Verantwortlichkeit oder eine damit zusammenhängende Rechtsstreitigkeit anhängig gemacht wurde, eingeleitet worden sind.
§ 5 – Wenn die Parteien innerhalb der in § 2 Nr. 2 vorgesehenen Frist dem Gericht keine Bemerkungen vorlegen, fasst das Familiengericht einen Beschluss, der dies feststellt. Der Greffier notifiziert den Parteien, der Zentralbehörde und der Staatsanwaltschaft diesen Beschluss.
§ 6 – Die in Anwendung von Artikel 11 Absatz 8 der in § 1 erwähnten Verordnung des Rates erlassene Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind darf sich, für den Fall, dass in dieser Entscheidung die Rückkehr des Kindes nach Belgien gefordert wird, auf Ersuchen einer der Parteien gleichermaßen auf das Umgangsrecht beziehen.
§ 7 – Der Greffier notifiziert den Parteien, der Staatsanwaltschaft und der belgischen Zentralbehörde die in § 6 erwähnte Entscheidung per Gerichtsbrief.
§ 8 – Ausschließlich die belgische Zentralbehörde ist dazu ermächtigt, für die Übermittlung der Entscheidung und der dazugehörigen Unterlagen an die zuständigen Behörden des Staates zu sorgen, in dem die Entscheidung zur Ablehnung der Rückgabe erlassen wurde.
§ 9 – Für die Anwendung von Artikel 11 Absatz 7 und 8 der in § 1 erwähnten Verordnung des Rates wird die Anhörung des Kindes gemäß Artikel 42 Absatz 2 Buchstabe a) der vorhin erwähnten Verordnung und gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen vorgenommen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
14 TE ist ein am 21. Dezember 2011 in Polen geborenes Kind, das aus einer Beziehung zwischen SF, einer polnischen Staatsangehörigen, und RG, einem in Belgien wohnhaften britischen Staatsangehörigen, hervorgegangen ist.
15 Die Mutter [SF] und das Kind zogen im Juli oder August 2012, als das Kind sieben Monate alt war, nach Brüssel (Belgien). Ab diesem Zeitpunkt wohnte das Kind bei seiner Mutter und traf seinen Vater regelmäßig.
16 Der Vater und die Mutter nahmen im August und September 2013 an einer örtlichen Mediation teil, um eine Einigung über die wechselnde Unterbringung des Kindes zu erzielen; dies gelang jedoch nicht.
17 Am 16. Oktober 2013 teilte die Mutter dem Vater mit, dass sie mit dem Kind nach Polen in Urlaub fahre.
18 Mit einem am 18. Oktober 2013 beim Tribunal de jeunesse de Bruxelles (Jugendgericht Brüssel) eingereichten Schriftsatz beantragte der Vater, eine Entscheidung u. a. über die Modalitäten der Ausübung der elterlichen Verantwortung und die Unterbringung des Kindes zu treffen.
19 Außerdem beantragte der Vater mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2013 bei dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter den Erlass einer dringenden und vorläufigen Maßnahme betreffend die Festlegung einer Zweitunterbringung des Kindes bei ihm.
20 Als dem Vater klar wurde, dass die Mutter nicht die Absicht hatte, mit dem gemeinsamen Kind nach Belgien zurückzukehren, änderte er seine bei dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter und beim Tribunal de la jeunesse de Bruxelles gestellten Anträge u. a. dahin gehend ab, ihm die alleinige Ausübung der elterlichen Verantwortung und die Befugnis zuzusprechen, über die Hauptunterbringung des Kindes zu entscheiden, sowie der Mutter zu verbieten, mit dem Kind aus Belgien auszureisen. Die Mutter bestritt die internationale Zuständigkeit der belgischen Gerichte, beantragte die Anwendung von Art. 15 der Verordnung und die Verweisung der Rechtssache an die polnischen Gerichte wegen der besonderen Bindung zwischen ihnen und der Situation des Kindes, das in Polen wohne und dort inzwischen zum Kindergarten angemeldet worden sei.
21 Mit Beschluss vom 19. Dezember 2013 erklärte sich der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter für zuständig und gab den Anträgen des Vaters vorläufig und aufgrund der Dringlichkeit statt.
22 Mit Urteil vom 26. März 2014 bejahte das Tribunal de la jeunesse de Bruxelles seine Zuständigkeit und entschied, dass die elterliche Verantwortung von den Eltern gemeinsam auszuüben sei, dass die Mutter über die Hauptunterbringung des Kindes zu entscheiden habe und dass der Vater vorläufig jedes zweite Wochenende ein Recht zur Zweitunterbringung bei ihm habe, wozu er sich auf seine Kosten nach Polen begeben müsse.
23 Gegen diese Entscheidung legte der Vater bei der Cour d’appel de Bruxelles (Apellationshof von Brüssel) Rechtsmittel ein, weil durch sie das widerrechtliche Verbringen des gemeinsamen Kindes nach Polen gebilligt und diese Eigenmacht mit einer positiven Rechtsfolge belohnt werde. Er beantragte, ihm die alleinige Ausübung der elterlichen Verantwortung und die Befugnis zuzusprechen, über die Hauptunterbringung des Kindes zu entscheiden.
24 Parallel zum Hauptsacheverfahren vor den belgischen Gerichten rief der Vater am 20. November 2013 die belgische Zentralbehörde an und beantragte, die unverzügliche Rückkehr des Kindes nach Belgien nach dem Rückgabeverfahren des Haager Übereinkommens von 1980 anzuordnen.
25 Am 13. Februar 2014 stellte das Bezirksgericht von Płońsk (Polen) fest, dass die Verbringung des Kindes durch seine Mutter widerrechtlich gewesen sei und das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor seiner Verbringung in Belgien gehabt habe. Gleichwohl erließ das polnische Gericht eine auf Art. 13 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980 gestützte Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes abgelehnt wurde.
26 Die belgische Zentralbehörde, die von der polnischen Zentralen Behörde eine Abschrift der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und der entsprechenden Unterlagen erhalten hatte, legte am 10. April 2014 der Kanzlei des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel) die Akte vor. Dieses Gericht forderte die Parteien zur Stellungnahme auf. Die vom Vater am 9. Juli 2014 bei diesem Gericht eingereichte Stellungnahme führte zur Befassung des Präsidenten des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles, der gemäß Art. 1322decies des Gerichtsgesetzbuchs in seiner vor dem Inkrafttreten der Loi du 30 juillet 2013 portant création du tribunal de la famille geltenden Fassung nach Art. 11 Abs. 6 und 7 der Verordnung für die Prüfung des Sorgerechts zuständig war. Nach Art. 1322decies des Gerichtsgesetzbuchs führt die Befassung dieses Gerichts zur Aussetzung der Verfahren, die vor den Gerichtshöfen und Gerichten eingeleitet worden sind, bei denen eine Rechtsstreitigkeit in Sachen elterliche Verantwortlichkeit oder eine damit zusammenhängende Rechtsstreitigkeit anhängig gemacht wurde. Im Anschluss an das Inkrafttreten des genannten Gesetzes wurde die Rechtssache an das Tribunal de la famille de Bruxelles (Familiengericht Brüssel) verwiesen.
27 Mit Zwischenurteil vom 30. Juli 2014, das gegenüber der Mutter als Versäumnisurteil erging, bestätigte die Cour d’appel de Bruxelles das Urteil des Tribunal de la jeunesse de Bruxelles, soweit damit die internationale Zuständigkeit der belgischen Gerichte für die inhaltliche Prüfung der die elterliche Verantwortung betreffenden Fragen bejaht wurde. Dagegen setzte die Cour d’appel, da sie feststellte, dass der Präsident des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles inzwischen von den Parteien mit einem auf Art. 11 Abs. 6 und 7 der Verordnung gestützten Antrag befasst worden war, die Entscheidung in der Hauptsache aus und ersuchte die Zentralbehörde von Belgien, alle nach Art. 1322decies des Gerichtsgesetzbuchs der Kanzlei des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles vorgelegten Unterlagen zur Verfahrensakte zu geben. Bis dieses Gericht das Verfahren nach Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung abgeschlossen hat, gab die Cour d’appel de Bruxelles der Mutter im Wege einer vorläufigen Entscheidung auf, dem Vater die Anschrift ihres neuen gemeinsamen Wohnsitzes mit dem Kind mitzuteilen, und legte die Modalitäten für die Ausübung des Umgangsrechts des Vaters mit dem Kind fest.
28 Da die Mutter sich weigerte, die Anschrift mitzuteilen, unter der sie mit dem Kind wohnt, konnte der Vater das ihm durch die Cour d’appel zugesprochene Umgangsrecht nicht ausüben.
29 Parallel zu den vom Vater in Belgien geführten Verfahren reichte die Mutter in Polen verschiedene Klagen betreffend die elterliche Verantwortung ein. Die polnischen Gerichte stellten fest, dass die belgischen Gerichte zuerst mit der Sache befasst worden seien und ihre internationale Zuständigkeit anerkannt hätten; sie erklärten sich daher für unzuständig.
30 Mit rechtskräftigem Urteil vom 8. Oktober 2014 verwies das Tribunal de la famille de Bruxelles die Rechtssache an die Cour d’appel de Bruxelles, weil der Vater die belgischen Gerichte vor der widerrechtlichen Verbringung des Kindes im Sinne von Art. 11 Abs. 7 der Verordnung angerufen habe und die Rechtssache inhaltlich bei der Cour d’appel anhängig sei.
31 Die Cour d’appel de Bruxelles ist der Auffassung, nach belgischem Recht könne sie sich durch das verweisende Urteil des Tribunal de la famille de Bruxelles vom 8. Oktober 2014 nicht als mit dem in Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung geregelten Verfahren befasst betrachten. Vielmehr könne sie mit diesem Verfahren nur befasst werden, wenn eine der Parteien ein Rechtsmittel gegen das genannte Urteil einlege.
32 Fraglich sei, ob im Hinblick auf das Beschleunigungs- und das Effektivitätsgebot, die im Verfahren nach Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung zu beachten seien, Art. 11 Abs. 7 dem entgegenstehe, dass das Recht eines Mitgliedstaats einem spezialisierten Gericht die ausschließliche Zuständigkeit für dieses Verfahren übertrage und dabei bestimme, dass alle vor einem Gerichtshof oder einem Gericht anhängig gemachten Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ab dem Zeitpunkt der Befassung dieses spezialisierten Gerichts ausgesetzt würden.
33 Daher sei dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung von Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung zur Vorabentscheidung vorzulegen, damit das nach dem Unionsrecht zuständige belgische Gericht bestimmt und insbesondere darüber entschieden werden könne, ob die Cour d’appel de Bruxelles als das mit dem Hauptsacheverfahren betreffend die elterliche Verantwortung befasste Gericht gemäß dem in Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung geregelten Verfahren zu entscheiden habe.
34 Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Bruxelles das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Kann Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung dahin ausgelegt werden, dass er es einem Mitgliedstaat untersagt,
–
der Spezialisierung der Gerichte in Situationen elterlicher Kindesentführung für das von diesen Bestimmungen vorgesehene Verfahren den Vorzug zu geben, selbst wenn bereits ein Gerichtshof oder ein Gericht mit einem Hauptsacheverfahren über die elterliche Verantwortung in Bezug auf das Kind befasst wurde?
–
dem in einem Hauptsacheverfahren über die elterliche Verantwortung in Bezug auf das Kind befassten Gericht die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht zu entziehen, obwohl es sowohl international als auch innerstaatlich für die Entscheidung über Fragen der elterlichen Verantwortung in Bezug auf das Kind zuständig ist?
Zum Eilvorabentscheidungsverfahren
35 Die Cour d’appel de Bruxelles hat beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen wegen der besonderen Dringlichkeit des Ausgangsverfahrens dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen. Es betreffe nämlich die Ausübung der elterlichen Verantwortung und das Sorgerecht in einem Kontext, in dem die Gefahr einer nicht wiedergutzumachenden Verschlechterung der Verbindung zwischen Vater und Sohn bestehe, da derzeit Kontakte zwischen ihnen unterbunden würden.
36 Erstens ist festzustellen, dass die Vorlage zur Vorabentscheidung die Auslegung der Verordnung betrifft, die u. a. auf der Grundlage von Art. 61 Buchst. c EG, nunmehr Art. 67 AEUV, erlassen wurde. Art. 67 AEUV gehört zu Titel V des den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffenden Dritten Teils des AEU-Vertrags, so dass die Vorlage in den in Art. 107 der Verfahrensordnung geregelten Anwendungsbereich des Eilvorabentscheidungsverfahrens fällt.
37 Zweitens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass SF sich weigert, dem Urteil der Cour d’appel de Bruxelles vom 30. Juli 2014 Folge zu leisten, mit dem ihr zum einen aufgegeben wurde, RG binnen acht Tagen ab Übermittlung des Urteils die Anschrift ihres neuen gemeinsamen Wohnsitzes mit dem Kind mitzuteilen, und zum anderen RG ein Recht zum persönlichen Umgang mit TE zuerkannt wurde, dass vorbehaltlich einer anderen Vereinbarung zwischen den Parteien jedes dritte Wochenende auszuüben ist.
38 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die vorliegende Rechtssache ein dreijähriges Kind betrifft, das seit mehr als einem Jahr von seinem Vater getrennt ist. Daher könnte der Fortbestand der gegenwärtigen Situation, die überdies durch die weite Entfernung des Wohnorts des Vaters vom Aufenthaltsort des Kindes gekennzeichnet ist, die künftige Beziehung des Kindes zu seinem Vater ernstlich schädigen.
39 Unter diesen Umständen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs auf der Grundlage von Art. 108 der Verfahrensordnung auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.
Zur Vorlagefrage
40 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat untersagt, im Rahmen des durch diese Bestimmungen vorgesehenen Verfahrens einem spezialisierten Gericht die Zuständigkeit für die Prüfung von Fragen der Rückgabe des Kindes oder des Sorgerechts zu übertragen, selbst wenn im Übrigen bereits ein Gerichtshof oder ein Gericht mit einem Hauptsacheverfahren über die elterliche Verantwortung in Bezug auf das Kind befasst wurde.
41 Die Verordnung hat nicht die Vereinheitlichung des materiellen Rechts und der Verfahrensregeln der einzelnen Mitgliedstaaten zum Gegenstand. Gleichwohl darf die Anwendung dieser nationalen Rechtsvorschriften die praktische Wirksamkeit der Verordnung nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Rinau, C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 82).
42 Im vorliegenden Zusammenhang ist ferner hervorzuheben, dass die Verordnung nach ihrem 33. Erwägungsgrund im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die mit der Charta anerkannt wurden, und insbesondere darauf abzielt, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne von Art. 24 der Charta zu gewährleisten, zu denen u. a. der Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil McB, C‑400/10 PPU, EU:C:2010:582, Rn. 60).
43 Art. 11 Abs. 6 der Verordnung bestimmt, dass ein Gericht, wenn es nach einer Kindesentführung entscheidet, die Rückgabe des Kindes gemäß Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen übermitteln muss. Die ausdrückliche Bezugnahme auf das nationale Recht zeigt u. a., dass es dem Mitgliedstaat, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unter Beachtung der Ziele der Verordnung obliegt, das Gericht zu bestimmen, das für die Entscheidung über die Frage der Rückgabe des Kindes zuständig ist, nachdem in dem Mitgliedstaat, in den es verbracht wurde, eine die Rückgabe ablehnende Entscheidung ergangen ist.
44 Nach Art. 11 Abs. 7 der Verordnung muss im Anschluss an eine die Rückgabe ablehnende gerichtliche Entscheidung, sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits befasst wurden, das Gericht oder die Zentrale Behörde, das oder die die Mitteilung über diese gerichtliche Entscheidung erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, Anträge beim Gericht einzureichen, damit es die Frage des Sorgerechts prüfen kann. Weder diese Bestimmung der Verordnung noch ihr Art. 11 Abs. 6 regelt aber, welches nationale Gericht für die Prüfung der Frage des Sorgerechts nach einer die Rückgabe ablehnenden Entscheidung zuständig ist. Das Gleiche gilt für Art. 11 Abs. 8.
45 Insoweit muss zwar nach Art. 11 Abs. 7 der Verordnung dieses Gericht oder die Zentrale Behörde den Parteien u. a. eine Abschrift der nach Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe verweigert wird, übermitteln, um gegebenenfalls die Frage des Sorgerechts prüfen zu können, sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits befasst wurden. Die Frage, ob im Fall einer solchen Befassung das vom Mitgliedstaat für diese Prüfung als zuständig bestimmte Gericht seine Zuständigkeit zugunsten anderer Gerichte desselben Mitgliedstaats verliert, ist jedoch nach nationalem Recht zu beurteilen.
46 Wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Stellungnahme ausgeführt hat, handelt es sich bei Art. 11 Abs. 7 der Verordnung nämlich nicht um eine Vorschrift zur Bestimmung des zuständigen Gerichts, sondern um eine technische Vorschrift, deren wesentliches Ziel darin besteht, die Modalitäten für die Mitteilung der die Entscheidung, mit der die Rückgabe abgelehnt wird, betreffenden Informationen festzulegen.
47 Im Übrigen kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus Art. 11 Abs. 7 der Verordnung nicht abgeleitet werden, dass eine Sorgerechtsentscheidung zwangsläufig eine Vorbedingung für den Erlass einer Entscheidung ist, mit der gegebenenfalls die Rückgabe des Kindes angeordnet wird. Die letztgenannte Zwischenentscheidung dient nämlich ebenfalls zur Verwirklichung des Endziels, das darin besteht, die Situation des Kindes zu regeln (vgl. in diesem Sinne Urteil Povse, C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 53).
48 Der von der belgischen Regierung angeführte Umstand, dass nach dem nationalen Verfahrensrecht das mit der Frage der Rückgabe des Kindes nach Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung befasste spezialisierte Gericht die Rechtssache auf Antrag einer der Parteien an die in der Hauptsache mit dem Rechtsstreit über die elterliche Verantwortung befasste Cour d’appel verweisen könne, damit diese über die Rückgabe und das Sorgerecht entscheide, betrifft die Auslegung des nationalen Rechts und fällt nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Folglich ist es Sache der belgischen Gerichte, über diesen Punkt zu befinden.
49 Nach alledem obliegt die Bestimmung des im Rahmen des Verfahrens nach Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung für die Prüfung der Fragen der Rückgabe des Kindes oder des Sorgerechts zuständigen nationalen Gerichts den Mitgliedstaaten, und zwar selbst dann, wenn zum Zeitpunkt der Übermittlung der Entscheidung, mit der die Rückgabe verweigert wird, bereits ein Gerichtshof oder ein Gericht mit einem Hauptsacheverfahren über die elterliche Verantwortung in Bezug auf dieses Kind befasst wurde.
50 Wie aus Rn. 41 des vorliegenden Urteils hervorgeht, darf eine solche Wahl jedoch nicht die praktische Wirksamkeit der Verordnung beeinträchtigen.
51 Die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat im Rahmen des in Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung vorgesehenen Verfahrens einem spezialisierten Gericht die Zuständigkeit für die Prüfung von Fragen der Rückgabe des Kindes oder des Sorgerechts überträgt, selbst wenn im Übrigen bereits ein Gerichtshof oder ein Gericht mit einem Hauptsacheverfahren über die elterliche Verantwortung in Bezug auf das Kind befasst wurde, kann aber als solche die praktische Wirksamkeit der Verordnung nicht beeinträchtigen.
52 Es ist jedoch darauf zu achten, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens eine solche Zuweisung der Zuständigkeit mit den in Art. 24 der Charta verbürgten Grundrechten des Kindes, insbesondere mit dem Ziel der Beschleunigung derartiger Verfahren, im Einklang steht.
53 In Bezug auf das Ziel der Beschleunigung ist darauf hinzuweisen, dass bei der Anwendung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften das nationale Gericht, das sie auszulegen hat, seine Auslegung am Unionsrecht und insbesondere an der Verordnung ausrichten muss.
54 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht untersagt, im Rahmen des durch diese Bestimmungen vorgesehenen Verfahrens einem spezialisierten Gericht die Zuständigkeit für die Prüfung von Fragen der Rückgabe des Kindes oder des Sorgerechts zu übertragen, selbst wenn im Übrigen bereits ein Gerichtshof oder ein Gericht mit einem Hauptsacheverfahren über die elterliche Verantwortung in Bezug auf das Kind befasst wurde.
Kosten
55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 11 Abs. 7 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht untersagt, im Rahmen des durch diese Bestimmungen vorgesehenen Verfahrens einem spezialisierten Gericht die Zuständigkeit für die Prüfung von Fragen der Rückgabe des Kindes oder des Sorgerechts zu übertragen, selbst wenn im Übrigen bereits ein Gerichtshof oder ein Gericht mit einem Hauptsacheverfahren über die elterliche Verantwortung in Bezug auf das Kind befasst wurde.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
(1 ) Im Anschluss an einen Antrag auf Anonymisierung sind die Namen in den Randnummern 2, 14, 15 und 37 durch Buchstaben ersetzt worden.
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 11. Dezember 2014.#PP Nature-Balance Lizenz GmbH gegen Europäische Kommission.#Humanarzneimittel – Wirkstoff Tolperison – Art. 116 der Richtlinie 2001/83/EG – Beschluss der Kommission, mit dem gegenüber den Mitgliedstaaten die Änderung der nationalen Zulassungen von Humanarzneimitteln mit dem betreffenden Wirkstoff angeordnet wird – Beweislast – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑189/13.
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62013TJ0189
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ECLI:EU:T:2014:1056
| 2014-12-11T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0189 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 18. Dezember 2014.#Europäische Kommission gegen Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Rückzahlung zu Unrecht gezahlter Steuern nach dem Unionsrecht – Nationale Rechtsvorschriften – Rückwirkend eingeführte Verkürzung der Frist für die Einlegung von Rechtsbehelfen – Grundsatz der Effektivität – Grundsatz des Vertrauensschutzes.#Rechtssache C‑640/13).
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62013CJ0640
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ECLI:EU:C:2014:2457
| 2014-12-18T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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EUR-Lex - CELEX:62013CJ0640 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 10. November 2014.#DD gegen Rat der Europäischen Union.#Prozesskostenhilfe – Einreichung eines Antrags vor Erhebung einer Nichtigkeitsklage – Restriktive Maßnahmen gegen verschiedene belarussische Amtsträger.#Rechtssache T‑228/12 AJ.
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62012TO0228
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ECLI:EU:T:2014:958
| 2014-11-10T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012TO0228
BESCHLUSS DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
10. November 2014 (*1)
„Prozesskostenhilfe — Einreichung eines Antrags vor Erhebung einer Nichtigkeitsklage — Restriktive Maßnahmen gegen verschiedene belarussische Amtsträger“
In der Rechtssache T‑228/12 AJ
DD, wohnhaft in Vitebsk (Belarus),
Antragsteller,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch F. Naert und E. Finnegan als Bevollmächtigte,
Antragsgegner,
wegen Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach den Art. 94 und 95 der Verfahrensordnung des Gerichts, eingereicht vor Klageerhebung,
erlässt
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen (Berichterstatter), der Richterin I. Pelikánová sowie der Richter E. Buttigieg, S. Gervasoni und L. Madise,
Kanzler: E. Coulon,
folgenden
Beschluss
1 Mit Schriftsatz, der am 31. Mai 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger, Herr DD, im Hinblick auf die Erhebung einer Klage gegen den Rat der Europäischen Union auf Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses 2012/171/GASP des Rates vom 23. März 2012 zur Durchführung des Beschlusses 2010/639/GASP des Rates über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 87, S. 95) und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 265/2012 des Rates vom 23. März 2012 zur Durchführung des Art. 8a Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 des Rates über restriktive Maßnahmen gegenüber Belarus (ABl. L 87, S. 37), soweit dieser Beschluss und diese Verordnung ihn betrafen, nach den Art. 94 und 95 der Verfahrensordnung des Gerichts einen Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt.
2 Zur Begründung dieses Antrags macht der Antragsteller insbesondere, unter Vorlage bestimmter Belege, geltend, dass er ein durchschnittliches Monatseinkommen von 264 Euro beziehe und weder über Kapital noch unbewegliches Vermögen verfüge.
3 Was die von Art. 94 § 3 der Verfahrensordnung aufgestellte Voraussetzung für die beabsichtigte Klage angeht, bringt der Antragsteller vor, der Durchführungsbeschluss 2012/171 und die Durchführungsverordnung Nr. 265/2012, deren Nichtigerklärung er zu beantragen beabsichtige, seien, was ihn betreffe, unter Verletzung, erstens, seines Rechts auf ein faires Verfahren, zweitens, seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, drittens, des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Justiz verabschiedet worden.
4 Mit Schreiben vom 16. Juli 2012 hat der Präsident der Sechsten Kammer des Gerichts den Rat ersucht, zu dem Antrag des Antragstellers auf Prozesskostenhilfe Stellung zu nehmen.
5 In seiner Stellungnahme, die bei der Kanzlei des Gerichts am 30. Juli 2012 eingegangen ist, erklärt der Rat, es in das Ermessen des Gerichts zu stellen, ob die vom Antragsteller vorgelegten Auskünfte und Belege die Feststellung zuließen, dass er der Prozesskostenhilfe bedürfe. Der Antragsteller habe keine Schätzung der zu erwartenden Kosten vorgelegt, und die beabsichtigte Klage werfe keine neuen bedeutenden Fragen auf. Der Rat ist der Auffassung, dass die Höhe der Prozesskostenhilfe im vorliegenden Fall 7000 Euro nicht übersteigen dürfe.
6 Mit Schreiben vom 25. April 2013 hat Rechtsanwalt A. Kolosovski dem Gericht mitgeteilt, dass er vom Antragsteller den Auftrag erhalten habe, ihn zu vertreten.
7 Am 18. Juli 2013 hat der Präsident der Sechsten Kammer des Gerichts im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung den Antragsteller aufgefordert, vor dem 2. September 2013 den Nachweis für den Erhalt einer Ausnahmegenehmigung seitens der zuständigen Behörde nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 des Rates vom 18. Mai 2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 134, S. 1) in der geänderten Fassung vorzulegen, mangels derer grundsätzlich kein Geld an seinen Rechtsanwalt überwiesen werden konnte.
8 Im Anschluss an die Neuzusammensetzung der Kammern des Gerichts wurde der Präsident der Sechsten Kammer des Gerichts Präsident der Ersten Kammer des Gerichts.
9 Nachdem der Antragsteller der Aufforderung vom 18. Juli 2013 nicht innerhalb der gesetzten Frist nachgekommen ist, hat der Präsident der Ersten Kammer des Gerichts am 7. Oktober 2013 entschieden, diesbezüglich eine neue Frist festzusetzen, die am 21. Oktober 2013 endete.
10 Mit Schreiben vom 20. Oktober 2013 ersuchte der Antragsteller das Gericht um eine Verlängerung dieser Frist um zwei Monate. Der Präsident der Ersten Kammer des Gerichts hat die Frist bis zum 21. November 2013 verlängert. Jedoch hat der Antragsteller innerhalb der gesetzten Frist nicht den Nachweis für den Erhalt der oben in Rn. 7 genannten Genehmigung erbracht.
11 Am 27. März 2014 hat der Präsident der Ersten Kammer des Gerichts beschlossen, diese Kammer mit der Entscheidung über den Antrag auf Prozesskostenhilfe zu betrauen.
12 Am 11. Juni 2014 hat das Plenum auf Antrag der Ersten Kammer die Rechtssache an die Erste erweiterte Kammer verwiesen.
13 Erstens geht aus Art. 94 § 1 der Verfahrensordnung hervor, dass, zur Gewährleistung eines effektiven Zugangs zu den Gerichten, die für das Verfahren vor dem Gericht gewährte Prozesskostenhilfe die Kosten des Beistands und der rechtlichen Vertretung vor dem Gericht vollständig oder teilweise deckt. Diese Kosten (im Folgenden: Rechtsanwaltskosten) werden von der Kasse des Gerichts getragen.
14 Nach Art. 94 §§ 2 und 3 der Verfahrensordnung ist die Gewährung von Prozesskostenhilfe von der doppelten Voraussetzung abhängig, dass zum einen der Antragsteller aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage vollständig oder teilweise außerstande ist, die Kosten des Beistands und der rechtlichen Vertretung zu tragen, und dass zum anderen seine Rechtsverfolgung nicht offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet erscheint.
15 Nach Art. 95 § 2 der Verfahrensordnung sind mit dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe alle Auskünfte und Belege einzureichen, die eine Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Antragstellers ermöglichen, wie eine Bescheinigung einer zuständigen nationalen Behörde, die diese wirtschaftliche Lage bestätigt. Wird der Antrag vor Klageerhebung eingereicht, so hat der Antragsteller nach dieser Bestimmung den Gegenstand der beabsichtigten Klage, den Sachverhalt und das Vorbringen zur Stützung der Klage kurz darzulegen. Mit dem Antrag sind entsprechende Unterlagen einzureichen.
16 Im vorliegenden Fall geht aus den Aktenbestandteilen in Bezug auf die wirtschaftliche Lage des Antragstellers, wie oben in Rn. 2 ausgeführt, hervor, dass der Antrag auf Prozesskostenhilfe die erste Voraussetzung nach Art. 94 § 2 der Verfahrensordnung erfüllt.
17 Was die zweite Voraussetzung nach Art. 94 § 3 der Verfahrensordnung betrifft, ist festzustellen, dass die Klage, für die Prozesskostenhilfe begehrt wird, nicht offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet erscheint.
18 Daher ist festzustellen, dass der Antragsteller die Voraussetzungen erfüllt, die nach der Verfahrensordnung einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe geben.
19 Zweitens ist festzustellen, dass nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 765/2006 in der im vorliegenden Fall anwendbaren Fassung sichergestellt wird, dass den in Anhang I dieser Verordnung aufgeführten natürlichen Personen, darunter der Antragsteller, weder Gelder noch wirtschaftliche Ressourcen direkt oder indirekt zur Verfügung gestellt werden oder ihnen zugute kommen.
20 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 765/2006 bestimmt:
„Abweichend von Artikel 2 können die auf den Websites in Anhang II angegebenen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Freigabe bestimmter eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen oder die Bereitstellung bestimmter eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen unter ihnen angemessen erscheinenden Bedingungen genehmigen, nachdem sie festgestellt haben, dass diese Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen:
…
b)
ausschließlich der Bezahlung angemessener Honorare und der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen dienen;
…“
21 Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 765/2006 untersagt also mangels einer von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats gewährten Ausnahmegenehmigung grundsätzlich die Verwendung von Geldern zum Nutzen des Antragstellers.
22 Da sich allerdings, wie in der vorliegenden Rechtssache, eine Verwendung der Gelder zum Nutzen einer der in Anhang I der Verordnung Nr. 765/2006 aufgeführten Personen nicht von einem Verfahren zur Erlangung von Prozesskostenhilfe vor den Gerichten der Union trennen lässt, dürfen die Vorschriften dieser Verordnung nicht ausgelegt werden, ohne auf die besonderen Bestimmungen für dieses Verfahren Rücksicht zu nehmen, die im vorliegenden Fall von der Verfahrensordnung vorgesehen sind.
23 Da die Verordnung Nr. 765/2006 und die Verfahrensordnung nämlich keine Vorschrift enthalten, die im Hinblick auf die Gewährung von Prozesskostenhilfe ausdrücklich den Vorrang der einen gegenüber der anderen vorsehen würde, ist eine Anwendung jeder dieser Verordnungen sicherzustellen, die mit jener der jeweils anderen vereinbar ist, und somit eine kohärente Anwendung zu erlauben, die insbesondere geeignet ist, die Erreichung des von jeder dieser Verordnungen verfolgten Ziels zu gewährleisten.
24 Was die Verfahrensordnung angeht, hat diese im Rahmen der Bestimmungen über die Gewährung von Prozesskostenhilfe zum Ziel, einen effektiven Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten, wie aus ihrem Art. 94 § 1 und aus Art. 47 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hervorgeht, in dem es ausdrücklich heißt, dass Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe bewilligt wird, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.
25 Was die Verordnung Nr. 765/2006 anbelangt, geht aus ihren Erwägungsgründen 1 bis 4 hervor, dass sie zum Ziel hat, restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen anzuwenden. Zu diesen Maßnahmen zählt insbesondere das in Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung enthaltene Verbot, Gelder und wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
26 Diese restriktiven Maßnahmen müssen allerdings angewandt werden, ohne den Personen, deren Gelder eingefroren wurden, den effektiven Zugang zu den Gerichten zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juni 2014, Peftiev, C‑314/13, Slg, EU:C:2014:1645, Rn. 26), insbesondere dann, wenn es darum geht, die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte, die eben diese restriktiven Maßnahmen angeordnet haben, anzufechten.
27 So hat der Gerichtshof im Urteil Peftiev, oben in Rn. 26 angeführt (EU:C:2014:1645, Rn. 25), festgestellt, dass die zuständige nationale Behörde nicht über ein freies Ermessen verfügt, wenn sie über einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 entscheidet, sondern ihre Zuständigkeiten unter Beachtung der in Art. 47 Abs. 2 Satz 2 der Charta der Grundrechte vorgesehenen Rechte auszuüben hat, wonach jede Person sich beraten, verteidigen und vertreten lassen kann. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass nach Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und nach Art. 43 § 1 Unterabs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts die Vertretung durch einen Anwalt für die Einreichung einer Klage, mit der die Rechtmäßigkeit restriktiver Maßnahmen angefochten werden soll, unerlässlich ist.
28 In Bezug auf die Kriterien, die die zuständige nationale Behörde zu berücksichtigen hat, wenn sie über einen Antrag auf Ausnahmegenehmigung nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 entscheidet, ist festzustellen, dass diese Vorschrift Beschränkungen der Verwendung der Gelder vorsieht, da diese ausschließlich der Bezahlung angemessener Honorare und der Rückerstattung von Ausgaben im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen dienen müssen. In diesem Zusammenhang kann die zuständige nationale Behörde die Verwendung freigegebener Gelder überprüfen, indem sie Bedingungen festsetzt, die ihr angemessen erscheinen, um zu gewährleisten, dass das Ziel der verhängten Sanktion nicht außer Acht gelassen und dass die erteilte Ausnahmegenehmigung nicht umgangen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Peftiev, oben in Rn. 26 angeführt, EU:C:2014:1645, Rn. 32 et 33)
29 Während indessen im Urteil Peftiev, oben in Rn. 26 angeführt (EU:C:2014:1645), der Ausgangsrechtsstreit vor dem nationalen Richter einen Antrag auf Freigabe von Geldern von Personen, für die restriktive Maßnahmen galten, betraf, damit diese Personen Anwälte in Anspruch nehmen konnten, führt in der vorliegenden Rechtssache die Gewährung von Prozesskostenhilfe dazu, dass die Rechtsanwaltskosten des Klägers von der Kasse des Gerichts getragen werden.
30 Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist davon auszugehen, dass die Zurückweisung des vorliegenden Antrags auf Prozesskostenhilfe allein deshalb, weil der Antragsteller die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 765/2006 vorgesehene Genehmigung einer nationalen Behörde nicht vorgelegt hat, obwohl der Antrag auf Prozesskostenhilfe die von der Verfahrensordnung vorgesehenen, oben in Rn. 14 genannten Voraussetzungen erfüllt, eine Beschränkung des Grundrechts, welches das Recht auf effektiven Rechtsschutz ist, darstellen würde.
31 Was im Übrigen die für die Erfüllung der Ziele der Verordnung Nr. 765/2006 festgelegten Garantien angeht, sei darauf hingewiesen, dass kein Mechanismus des Unionsrechts die zuständigen nationalen Behörden dazu ermächtigt, zu prüfen, ob die Gewährung von Prozesskostenhilfe durch das Gericht notwendig ist, um einen effektiven Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten, was allein der Beurteilung des Gerichts unterliegt, oder die Verwendung der dazu dringend benötigten Finanzmittel durch Letzteres zu kontrollieren, oder schließlich gegenüber dem Gericht Voraussetzungen festzulegen, um zu gewährleisten, dass das Ziel der verhängten Sanktion nicht außer Acht gelassen wird.
32 Um daher im vorliegenden Fall eine kohärente Anwendung der Verfahrensordnung und der Verordnung Nr. 765/2006 zu ermöglichen, ist festzustellen, dass das Gericht gleichzeitig verpflichtet ist, zum einen jedem Antragsteller, der in Anhang I der letztgenannten Verordnung aufgeführt ist und der die von den Art. 94 ff. der Verfahrensordnung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt hat, Prozesskostenhilfe zu gewähren, was das Erreichen des Ziels dieser Verordnung ermöglicht, und, zum anderen, sich zu vergewissern, dass die gewährte Prozesskostenhilfe ausschließlich dazu verwendet wird, die Rechtsanwaltskosten des Antragstellers zu decken, und nicht das in Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 765/2006 niedergelegte Ziel der verhängten restriktiven Maßnahme gefährdet.
33 In diesem Zusammenhang ist zu ergänzen, dass es die Vorschriften der Verfahrensordnung dem Gericht im vorliegenden Fall ermöglichen, zu gewährleisten, dass eine Prozesskostenhilfe ausschließlich zur Deckung der Rechtsanwaltskosten des Antragstellers verwendet wird, ohne dass es notwendig wäre, vom Antragsteller die Vorlage einer Genehmigung einer nationalen Behörde zu verlangen.
34 Zum einen werden von Art. 94 § 1 der Verfahrensordnung nur die Rechtsanwaltskosten als Kosten genannt, die von der Kasse des Gerichts getragen werden können.
35 Zum anderen kann sich das Gericht nach Art. 96 § 3 der Verfahrensordnung in dem Beschluss, mit dem die Prozesskostenhilfe bewilligt wird, ohne deren Höhe im Voraus festzusetzen, darauf beschränken, einen Höchstbetrag anzugeben, den die Auslagen und Gebühren des Anwalts grundsätzlich nicht überschreiten dürfen. Das Gericht hat daher nach Art. 97 § 2 der Verfahrensordnung die Möglichkeit, im Nachhinein den zur Deckung der Rechtsanwaltskosten unbedingt erforderlichen Betrag festzusetzen, wenn der Prozesskostenhilfeempfänger gemäß der verfahrensbeendenden Entscheidung seine eigenen Kosten zu tragen hat. Es kann daher der Schwierigkeit der vom bestimmten Anwalt geleisteten Arbeit und, auf Grundlage der von diesem vorgelegten Nachweise, die Anzahl der Stunden, die er tatsächlich dafür aufwenden musste, sowie sonstige Ausgaben, die ihm entstanden sind, berücksichtigen.
36 Außerdem ist es allgemeine Praxis, dass das Gericht den so berechneten Betrag direkt an den bestimmten Anwalt zahlt, so dass der Antragsteller nicht die Möglichkeit hat, die Prozesskostenhilfe für andere Zwecke als jene, für die sie gewährt wurde, zu verwenden (vgl. hierzu auch Beschluss vom2. September 2009, Ayadi/Rat, C‑403/06 P, EU:C:2009:496, Rn. 21). Was den Anwalt angeht, ist es ihm nach den Vorschriften der Verordnung Nr. 765/2006 untersagt, dem Antragsteller einen Teil oder den Gesamtbetrag der ihm gewährten Vergütung abzutreten, so wie es ihm auch generell verboten ist, diesem unmittelbar oder mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
37 Nach alledem ist die beantragte Prozesskostenhilfe im vorliegenden Fall zu gewähren, ungeachtet des Fehlens einer nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 erteilten Ausnahmegenehmigung, wobei jedoch die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen sind, um sicherzustellen, dass die Prozesskostenhilfe nicht veruntreut wird.
38 Schließlich soll schon jetzt unter Berücksichtigung des Gegenstands und der Art des Rechtsstreits, seiner Bedeutung in rechtlicher Hinsicht, der vorhersehbaren Schwierigkeiten der Rechtssache und des vorhersehbaren Arbeitsaufwands, den das streitige Verfahren den Parteien verursacht, im Einklang mit Art. 96 § 3 der Verfahrensordnung klargestellt werden, dass die Auslagen und Gebühren des zur Vertretung der Interessen des Antragstellers im Verfahren, das er einzuleiten beabsichtigt, bestimmten Anwalts grundsätzlich einen Betrag von 6000 Euro für das Verfahren insgesamt nicht übersteigen dürfen.
39 Diese Auslagen und Gebühren werden direkt an Rechtsanwalt Kolosovski gezahlt und auf Grundlage einer dem Gericht vorzulegenden detaillierten Abrechnung festgesetzt.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
beschlossen:
1. Herrn DD wird Prozesskostenhilfe bewilligt.
2. Rechtsanwalt A. Kolosovski wird als Anwalt zur Vertretung von Herrn DD in der Rechtssache T‑228/12 bestimmt.
3. Die Auslagen und Gebühren von Rechtsanwalt Kolosovski werden direkt an ihn gezahlt und auf Grundlage einer dem Gericht vorzulegenden detaillierten Abrechnung am Ende des Verfahrens festgesetzt, dürfen aber grundsätzlich einen Höchstbetrag von 6000 Euro nicht übersteigen.
Luxemburg, den 10. November 2014
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
H. Kanninen
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 20. November 2014.#Direction générale des douanes et droits indirects u. a. gegen Utopia SARL.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Frankreich].#Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion und Gemeinsamer Zolltarif – Befreiung von den Eingangsabgaben – Zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelte Tiere – Öffentliche oder gemeinnützige Einrichtung oder ermächtigte private Einrichtung – Importeur, der solche Einrichtungen als Kunden hat – Verpackungen – Käfige, die zum Transport von Tieren dienen.#Rechtssache C‑40/14.
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62014CJ0040
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ECLI:EU:C:2014:2389
| 2014-11-20T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0040
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
20. November 2014 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Zollunion und Gemeinsamer Zolltarif — Befreiung von den Eingangsabgaben — Zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelte Tiere — Öffentliche oder gemeinnützige Einrichtung oder ermächtigte private Einrichtung — Importeur, der solche Einrichtungen als Kunden hat — Verpackungen — Käfige, die zum Transport von Tieren dienen“
In der Rechtssache C‑40/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 21. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Januar 2014, in dem Verfahren
Direction générale des douanes et droits indirects,
Chef de l’Agence de poursuites de la Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières,
Direction régionale des douanes et droits indirects de Lyon
gegen
Utopia SARL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader und des Richters C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Utopia SARL, vertreten durch M. Le Berre, avocat,
—
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und C. Candat als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Caeiros und F. Dintilhac als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 60 der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. L 105, S. 1) in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 918/83) und der Allgemeinen Vorschrift 5 b) der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1789/2003 der Kommission vom 11. September 2003 (ABl. L 281, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: KN).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Direction générale des douanes et droits indirects, dem Chef de l’Agence de poursuites de la Direction nationale du renseignement et des enquêtes douanières und der Direction régionale des douanes et droits indirects de Lyon (drei Organe der Zollverwaltung) einerseits und der Utopia SARL (im Folgenden: Utopia) andererseits wegen eines von dieser Gesellschaft angefochtenen Beitreibungsbescheids.
Rechtlicher Rahmen
3 Durch die Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates vom 16. November 2009 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. L 324, S. 23) wurde die Verordnung Nr. 918/83 mit Wirkung vom 1. Januar 2010 aufgehoben und ersetzt. Dessen ungeachtet ist auf den Ausgangsrechtsstreit – angesichts der Zeit, in der sich die maßgeblichen Vorgänge ereignet haben – noch die Verordnung Nr. 918/83 anzuwenden.
4 Art. 60 („Tiere für Laborzwecke und biologische und chemische Stoffe für Forschungszwecke“) der Verordnung Nr. 918/83, der einzige Artikel in deren Titel XIII, bestimmt:
„(1) Von den Eingangsabgaben befreit sind
a)
zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelte Tiere,
…
(2) Die Befreiung nach Absatz 1 ist auf Tiere … beschränkt, die bestimmt sind für
—
öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen, deren Haupttätigkeit die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist, sowie solche Abteilungen einer öffentlichen oder gemeinnützigen Einrichtung, deren Haupttätigkeit die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist, oder
—
private Einrichtungen, deren Haupttätigkeit die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist und die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zum Empfang dieser Waren unter Abgabenbefreiung ermächtigt sind.
…“
5 Art. 128 der Verordnung Nr. 918/83 sieht vor:
„Ist die Befreiung von den Eingangsabgaben von einer bestimmten Verwendung der Waren durch den Empfänger abhängig, so kann diese Befreiung nur von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gewährt werden, auf dessen Gebiet die Waren der Verwendung zugeführt werden sollen.“
6 In Art. 129 der Verordnung Nr. 918/83 heißt es:
„Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, damit Waren, die aufgrund ihrer Verwendung durch den Empfänger unter Befreiung von den Eingangsabgaben zum zollrechtlich freien Verkehr abgefertigt wurden, nicht ohne Entrichtung der Eingangsabgaben zu anderen Zwecken verwendet werden können, sofern die Änderung der Verwendung nicht unter den in dieser Verordnung festgelegten Voraussetzungen erfolgt.“
7 Art. 131 der Verordnung Nr. 918/83 bestimmt:
„Ist in dieser Verordnung vorgesehen, dass die Befreiung nur unter bestimmten Voraussetzungen gewährt wird, so hat der Beteiligte den zuständigen Behörden nachzuweisen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind.“
8 Die KN beruht auf dem weltweiten Harmonisierten System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (im Folgenden: HS), das vom Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens, jetzt Weltzollorganisation, ausgearbeitet und durch das am 14. Juni 1983 in Brüssel geschlossene und im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 87/369/EWG des Rates vom 7. April 1987 (ABl. L 198, S. 1) genehmigte internationale Übereinkommen eingeführt wurde.
9 Teil I der KN enthält eine Reihe einführender Vorschriften. In diesem Teil enthält Titel I („Allgemeine Vorschriften“) einen Abschnitt A („Allgemeine Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur“). Zu diesen Vorschriften gehört die Allgemeine Vorschrift 5, die Folgendes vorsieht:
„Zusätzlich zu den vorstehenden Allgemeinen Vorschriften gilt für die nachstehend aufgeführten Waren Folgendes:
…
b)
Vorbehaltlich der vorstehenden Allgemeinen Vorschrift 5 a) werden Verpackungen … wie die darin enthaltenen Waren eingereiht, wenn sie zur Verpackung dieser Waren üblich sind. Diese Allgemeine Vorschrift gilt nicht verbindlich für Verpackungen, die eindeutig zur mehrfachen Verwendung geeignet sind.“
10 In der Fußnote zum Begriff „Verpackungen“ in der Allgemeinen Vorschrift 5 b) der KN heißt es:
„Als ‚Verpackungen‘ gelten innere und äußere Behältnisse, Aufmachungen, Umhüllungen und Unterlagen mit Ausnahme von Beförderungsmitteln – insbesondere Behältern –, Planen, Lademitteln und des bei der Beförderung verwendeten Zubehörs. Der Ausdruck ‚Verpackungen‘ umfasst nicht die in der Allgemeinen Vorschrift 5 a) angesprochenen Behältnisse.“
11 Abgesehen von dieser Fußnote übernimmt die Allgemeine Vorschrift 5 b) der KN den genauen Wortlaut der Allgemeinen Vorschrift 5 b) des HS.
12 Die Erläuterung zur Allgemeinen Vorschrift 5 b) der KN in der Mitteilung der Europäischen Kommission mit dem Titel „Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur der Europäischen Gemeinschaften“ (ABl. 2002, C 256, S. 1) lautet:
„Verpackungen, die üblicherweise für die Vermarktung von Getränken, Marmeladen, Senf, Gewürzen usw. verwendet werden, sind wie die Waren einzureihen, die sie enthalten, auch wenn sie offensichtlich wiederholt verwendet werden können.“
13 Gemäß der Erläuterung zur Allgemeinen Vorschrift 5 b) des HS regelt diese Vorschrift „die Einreihung von Verpackungsmaterial und Behältern, wie sie gewöhnlich zum Verpacken von Waren verwendet werden, zu denen sie gehören. [Sie] gilt jedoch nicht verbindlich für Verpackungen, die offensichtlich zur wiederholten Verwendung geeignet sind, wie z. B. bestimmte Metallfässer oder Behälter aus Eisen oder Stahl für komprimierte oder verflüssigte Gase.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Die Gesellschaft Utopia, die ihre Tätigkeit unter dem Handelsnamen Marshall Bioresources ausübt, importiert zur Laborforschung bestimmte Tiere aus den Vereinigten Staaten nach Frankreich.
15 Im Lauf des Jahres 2006 führte die französische Zollverwaltung eine nachträgliche Prüfung der von Utopia in der Zeit von März bis Dezember 2004 vorgenommenen Einfuhren von lebenden Hunden und Frettchen durch. Dabei stellte sich heraus, dass Utopia die Einfuhren ohne Zahlung von Zollabgaben durchgeführt hatte, wobei sie sich auf Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 gestützt hatte.
16 Die Zollverwaltung war der Ansicht, dass Utopia – die keine Lehre oder wissenschaftliche Forschung betreibe und nicht über die erforderliche Ermächtigung verfüge – keinen Anspruch auf Befreiung von den Zollabgaben nach Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 habe. Daher stellte die Zollverwaltung mit Protokoll vom 7. März 2007 diverse Zollrechtsverletzungen, wodurch bestimmte Abgabenbeträge hinterzogen worden seien, fest und erließ am 27. März 2007 einen Beitreibungsbescheid für diese Beträge.
17 Nach Zurückweisung ihres Einspruchs durch die Zollverwaltung erhob Utopia am 26. Juli 2007 Klage auf Aufhebung des Protokolls und des Beitreibungsbescheids. Mit Urteil vom 10. Januar 2011 gab das Tribunal d’instance de Lyon der Klage statt und hob den Beitreibungsbescheid auf.
18 Die Zollverwaltung legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour d’appel de Lyon ein, die mit Urteil vom 20. Oktober 2011 dem von Utopia auf die Anwendung von Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 gestützten Vorbringen insoweit folgte, als sie entschied, dass die Einfuhr der lebenden Tiere von den Abgaben befreit sei, da diese Tiere zur Verwendung in Laboratorien bestimmt seien. Dagegen bestätigte die Cour d’appel de Lyon in diesem Urteil die bestrittene Zollschuld hinsichtlich der Käfige zum Transport der lebenden Tiere und begründete dies damit, dass diese Käfige nicht als Waren enthaltende Verpackungen im Sinne der Allgemeinen Vorschrift 5 b) der KN angesehen werden könnten. Dabei wies die Cour d’appel de Lyon das Vorbringen von Utopia zurück, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Käfige von dem amerikanischen Zulieferer gemietet und nach dem Transport der Tiere an diesen zurückgesandt würden und allein eine mehrfache Verwendung dieser Käfige im Gebiet der Europäischen Union als eine mehrfache Verwendung im Sinne der Allgemeinen Vorschrift 5 b) der KN angesehen werden könne.
19 Die Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens legten gegen das Urteil der Cour d’appel de Lyon eine Kassationsbeschwerde ein, die die Anwendbarkeit von Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 auf den vorliegenden Fall betrifft. Utopia befasste die Cour de cassation mit einer Anschlusskassationsbeschwerde, die die Frage der Anwendbarkeit der Allgemeinen Vorschrift 5 b) der KN auf die zum Transport der fraglichen Tiere bestimmten Käfige betrifft.
20 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann ein Importeur von zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelten Tieren die Befreiung von den Eingangsabgaben in Anspruch nehmen, die für diese Art von Waren in Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 vorgesehen ist, wenn er zwar nicht selbst eine öffentliche oder gemeinnützige oder eine ermächtigte private Einrichtung ist, deren Haupttätigkeit die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist, jedoch Einrichtungen als Kunden hat, die diese Bedingungen erfüllen?
2. Ist die Allgemeine Vorschrift 5 b) dahin auszulegen, dass Käfige zum Transport lebender, für die Laborforschung bestimmter Tiere in die Kategorie der Verpackungen im Sinne dieser Vorschrift einzureihen sind?
Falls dies bejaht werden sollte, sind die Begriffe „eindeutig zur mehrfachen Verwendung geeignet“ im Zusammenhang mit diesen Verpackungen allgemein oder nur im Hinblick auf eine Wiederverwendung im Gebiet der Union zu prüfen?
Zur ersten Frage
21 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Importeur von zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelten Tieren die Befreiung von den Eingangsabgaben in Anspruch nehmen kann, die für diese Art von Waren in Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 vorgesehen ist, wenn er zwar nicht selbst eine öffentliche oder gemeinnützige oder eine ermächtigte private Einrichtung ist, deren Haupttätigkeit die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist, jedoch Einrichtungen als Kunden hat, die diese Bedingungen erfüllen.
22 Nach Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 sind von den Eingangsabgaben insbesondere „zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelte Tiere“ befreit, sofern die Haupttätigkeit ihres Empfängers die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist und es sich bei diesem Empfänger um eine öffentliche oder gemeinnützige Einrichtung, eine Abteilung einer solchen Einrichtung oder eine private Einrichtung handelt. Wenn es sich bei dem Empfänger um eine private Einrichtung handelt, muss diese allerdings von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats zum Empfang dieser Tiere unter Abgabenbefreiung ermächtigt sein.
23 Somit geht aus Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 hervor, dass seine Anwendung voraussetzt, dass zwei verschiedene Voraussetzungen erfüllt sind. Nach der ersten Voraussetzung müssen die eingeführten Tiere besonders behandelt sein, um in Laboratorien verwendet zu werden. Nach der zweiten Voraussetzung muss der Empfänger dieser Tiere besondere Kriterien erfüllen, die die Art der betreffenden Einrichtung, die ausgeübte Tätigkeit und gegebenenfalls die Erteilung einer Ermächtigung betreffen.
24 Es steht fest, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Einfuhren diese beiden Voraussetzungen erfüllen, die für die betroffenen Tiere bzw. ihren Empfänger gelten.
25 Mit der ersten Frage des vorlegenden Gerichts soll jedoch geklärt werden, ob der Importeur der in Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 angeführten Tiere, um die für diese Warenart vorgesehene Befreiung von den Einfuhrabgaben in Anspruch nehmen zu können, den Kriterien dafür entsprechen muss, dass er als Empfänger der Tiere im Sinne dieses Artikels angesehen werden kann.
26 Hierzu ist festzuhalten, dass der Importeur der Tiere in Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 nicht genannt wird.
27 Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil Brain Products, C‑219/11, EU:C:2012:742, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Zu dem Zusammenhang, in dem Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 steht, ist festzuhalten, dass diese Verordnung mehrere Zollbefreiungen vorsieht, die ausdrücklich davon abhängig gemacht werden, dass der Importeur bestimmte Voraussetzungen erfüllt. So hängt die in Art. 2 der Verordnung vorgesehene abgabenfreie Einfuhr von Voraussetzungen in Bezug auf den Importeur und die Natur der eingeführten Ware ab, nach denen die Ware von einer natürlichen Person eingeführt werden muss, die ihren gewöhnlichen Wohnsitz in das Zollgebiet der Union verlegt (Urteil Treimanis, C‑487/11, EU:C:2012:556, Rn. 15 und 16).
29 Dagegen hängen andere in der Verordnung Nr. 918/83 vorgesehene Zollbefreiungen mehr von der Verwendung der eingeführten Ware durch den Empfänger ab und weniger davon, wer der Importeur ist. Dies gilt u. a. für die in Art. 51 der Verordnung vorgesehene Befreiung für Gegenstände erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters, die für gewisse Forschungs- und Lehranstalten bestimmt sind.
30 Es ist festzustellen, dass die in Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 vorgesehene Befreiung zu dieser zweiten Kategorie von Befreiungen gehört, bei der die Befreiung mehr von der Verwendung durch den Empfänger der eingeführten Ware abhängt und weniger davon, wer der Importeur ist.
31 Zudem ist mit der Kommission festzustellen, dass aus dem Wortlaut der Art. 128 und 129 der Verordnung Nr. 918/83 hervorgeht, dass der Unionsgesetzgeber den Fall in Betracht gezogen hat, dass der Importeur in Situationen wie den in Art. 60 der Verordnung vorgesehenen eine andere Person als der Empfänger der eingeführten Ware ist.
32 In diesem Zusammenhang geht aus den Art. 128 und 129 in Verbindung mit Art. 131 der Verordnung Nr. 918/83 zum einen hervor, dass ein Importeur die in Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 vorgesehene Befreiung nur dann in Anspruch nehmen kann, wenn er den zuständigen Behörden nachweisen kann, dass die eingeführten Waren tatsächlich für die in Art. 60 genannten Einrichtungen und die Verwendung, von der diese Befreiung abhängt, bestimmt sind, und zum anderen, dass diese Befreiung nur von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gewährt werden kann, in dessen Gebiet die Waren dieser Verwendung zugeführt werden sollen. Dagegen geht aus den genannten Artikeln in keiner Weise hervor, dass der Importeur die Verwendung, von der die Gewährung der fraglichen Befreiung abhängt, selbst sicherstellen können muss.
33 Zu dem mit Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 verfolgten Ziel ist festzustellen, dass die Verwirklichung dieses Ziels, das darin besteht, die Forschungstätigkeiten zu erleichtern, indem es bestimmten in der Union belegenen Einrichtungen erlaubt wird, zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelte Tiere zu geringeren Kosten einzuführen, nicht durch die diesen Einrichtungen eingeräumte Möglichkeit beeinträchtigt würde, für die Einfuhr die für sie geeignetste und vorteilhafteste Lösung zu wählen.
34 Folglich muss der Importeur der in Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 genannten Tiere angesichts des Zusammenhangs, in dem diese Bestimmung steht, und des mit ihr verfolgten Ziels nicht den Kriterien dafür entsprechen, dass er als Empfänger der Tiere im Sinne dieses Artikels angesehen werden kann, um die für diese Warenart vorgesehene Befreiung von den Einfuhrabgaben in Anspruch nehmen zu können.
35 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 60 der Verordnung Nr. 918/83 dahin auszulegen ist, dass dann, wenn zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelte Tiere, die ein Importeur in das Gebiet der Union einführt, für eine öffentliche oder gemeinnützige oder eine ermächtigte private Einrichtung, deren Haupttätigkeit die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist, bestimmt sind, dieser Importeur, obwohl er selbst keine solche Einrichtung ist, die in diesem Artikel für diese Warenart vorgesehene Befreiung von den Einfuhrabgaben in Anspruch nehmen kann.
Zur zweiten Frage
36 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Allgemeine Vorschrift 5 b) der KN dahin auszulegen ist, dass Käfige zum Transport lebender, für die Laborforschung bestimmter Tiere zu der Kategorie der Verpackungen gehören, die wie die darin enthaltenen Waren einzureihen sind.
37 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach dieser Allgemeinen Vorschrift Verpackungen nur dann wie die darin enthaltenen Waren eingereiht werden, wenn sie zur Verpackung dieser Waren üblich sind.
38 Daher ist für die Beantwortung der zweiten Frage zu prüfen, ob Käfige zum Transport lebender, für die Laborforschung bestimmter Tiere als für diese Tiere übliche Verpackung angesehen werden können.
39 Hierzu ist auf die Beispiele für Verpackungen hinzuweisen, von denen laut den Erläuterungen zu der KN und dem HS anzunehmen ist, dass sie gewöhnlich zum Verpacken derjenigen Waren verwendet werden, zu denen sie gehören. Nach diesen Erläuterungen sind solche Verpackungen bestimmte Metallfässer oder Behälter aus Eisen oder Stahl für komprimierte oder verflüssigte Gase oder auch Verpackungen, die üblicherweise für die Vermarktung von Getränken, Marmeladen, Senf, Gewürzen usw. verwendet werden.
40 Wie die französische Regierung in ihren Erklärungen dargelegt hat, folgt daraus, dass Verpackungen, die für die darin enthaltenen Waren üblich sind, entweder Verpackungen sind, die für die Verwendung der fraglichen Ware unbedingt notwendig sind, oder Verpackungen, die üblicherweise zur Vermarktung und Verwendung der darin enthaltenen Waren genutzt werden. Es wäre nämlich unmöglich, komprimierte oder verflüssigte Gase ohne die Behälter aus Stahl, in denen sie enthalten sind, zu verwenden. Ebenso ist es schwer vorstellbar, Marmeladen oder Senf anders zu vermarkten oder zu verwenden als in den Behältern, die für diese Waren üblicherweise vorgesehen sind.
41 Angesichts der Erläuterungen zu der KN und dem HS kann nicht davon ausgegangen werden, dass Käfige zum Transport lebender, für die Laborforschung bestimmter Tiere als für diese Tiere übliche Verpackung im Sinne der Allgemeinen Vorschrift 5 b) angesehen werden können. Denn selbst wenn man annimmt, dass die Käfige üblicherweise für den Lufttransport dieser Tiere verwendet werden, sind sie zur Vermarktung und Verwendung der Tiere weder unbedingt notwendig noch werden sie üblicherweise dazu genutzt.
42 Insoweit ist festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Transportkäfige und Tiere von ihren Empfängern üblicherweise nicht zusammen verwendet werden. Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Käfige nach Lieferung der Tiere dem Importeur zurückgegeben werden.
43 Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Allgemeine Vorschrift 5 b) der KN dahin auszulegen ist, dass Käfige zum Transport lebender, für die Laborforschung bestimmter Tiere nicht zu der Kategorie der Verpackungen gehören, die wie die darin enthaltenen Waren einzureihen sind.
Kosten
44 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 60 der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom 28. März 1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass dann, wenn zur Verwendung in Laboratorien besonders behandelte Tiere, die ein Importeur in das Gebiet der Europäischen Union einführt, für eine öffentliche oder gemeinnützige oder eine ermächtigte private Einrichtung, deren Haupttätigkeit die Lehre oder die wissenschaftliche Forschung ist, bestimmt sind, dieser Importeur, obwohl er selbst keine solche Einrichtung ist, die in diesem Artikel für diese Warenart vorgesehene Befreiung von den Einfuhrabgaben in Anspruch nehmen kann.
2. Die Allgemeine Vorschrift 5 b) der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1789/2003 der Kommission vom 11. September 2003 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass Käfige zum Transport lebender, für die Laborforschung bestimmter Tiere nicht zu der Kategorie der Verpackungen gehören, die wie die darin enthaltenen Waren einzureihen sind.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 5. November 2014. # Europäische Kommission gegen Florence Thomé. # Rechtssache T-669/13 P.
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62013TJ0669
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ECLI:EU:T:2014:929
| 2014-11-05T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0669 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 9. Oktober 2014.#Eleonora Giulia Calvi gegen Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte.#Rechtsmittel – Klage auf Aufhebung einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, mit der eine Klage gegen eine Entscheidung eines nationalen Gerichts für unzulässig erklärt wurde.#Rechtssache C‑171/14 P.
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62014CO0171
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ECLI:EU:C:2014:2281
| 2014-10-09T00:00:00 |
Cruz Villalón, Gerichtshof
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EUR-Lex - CELEX:62014CO0171 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 10. Oktober 2014. # Jean-Charles Marchiani gegen Europäisches Parlament. # Rechtssache T-479/13.
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62013TJ0479
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ECLI:EU:T:2014:866
| 2014-10-10T00:00:00 |
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0479 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 16. Oktober 2014.#Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Freier Warenverkehr – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der bestimmte Bauprodukte, die mit der Konformitätskennzeichnung ‚CEʻ versehen sind, zusätzlichen nationalen Normen entsprechen müssen – Bauregellisten.#Rechtssache C‑100/13).
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62013CJ0100
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ECLI:EU:C:2014:2293
| 2014-10-16T00:00:00 |
Gerichtshof, Sharpston
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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
16. Oktober 2014(*)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Freier Warenverkehr – Regelung eines Mitgliedstaats, nach der bestimmte Bauprodukte, die mit der Konformitätskennzeichnung ‚CE‘ versehen sind,
zusätzlichen nationalen Normen entsprechen müssen – Bauregellisten“
In der Rechtssache C‑100/13
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 27. Februar 2013,
Europäische Kommission, vertreten durch G. Wilms und G. Zavvos als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Vajda sowie der Richter E. Juhász und D. Šváby (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2014,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus der Richtlinie 89/106/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften
der Mitgliedstaaten über Bauprodukte (ABl. 1989, L 40, S. 12) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 (ABl. L 284, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/106), insbesondere
aus deren Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1, verstoßen hat, dass die deutschen Behörden die Bauregellisten dazu verwenden, zusätzliche
Zulassungen für den wirksamen Marktzugang und die Verwendung von Bauprodukten zu verlangen, statt die erforderlichen Bewertungsmethoden
und ‑kriterien im Rahmen der europäischen harmonisierten Normen aufzunehmen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
2 Die Erwägungsgründe 1, 11 und 12 der Richtlinie 89/106 lauteten:
„Es obliegt den Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass auf ihrem Gebiet die Bauwerke des Hoch- und des Tiefbaus derart entworfen
und ausgeführt werden, dass die Sicherheit der Menschen, der Haustiere und der Güter nicht gefährdet und andere wesentliche
Anforderungen im Interesse des Allgemeinwohls beachtet werden.
…
Von der Brauchbarkeit eines Produktes ist auszugehen, wenn es mit einer harmonisierten Norm, mit einer europäischen technischen
Zulassung oder einer auf Gemeinschaftsebene anerkannten nicht harmonisierten technischen Spezifikation übereinstimmt. Daneben
kann in dem Fall, dass Produkte eine geringe Bedeutung im Hinblick auf die wesentlichen Anforderungen haben und von bestehenden
technischen Spezifikationen abweichen, der Nachweis der Brauchbarkeit über eine Bescheinigung einer anerkannten Stelle geführt
werden.
Produkte, die in diesem Sinne brauchbar sind, sind unmittelbar durch das EG-Zeichen erkenntlich. Sie können im gesamten Gebiet
der Gemeinschaft frei verkehren und für den vorgesehenen Zweck frei verwendet werden.“
3 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 89/106 bestimmte:
„Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, damit die Produkte gemäß Artikel 1, die zur Verwendung in Bauwerken
bestimmt sind, nur in Verkehr gebracht werden können, wenn sie brauchbar sind, d. h. solche Merkmale aufweisen, dass das Bauwerk,
für das sie durch Einbau, Zusammenfügung, Anbringung oder Installierung verwendet werden sollen, bei ordnungsgemäßer Planung
und Bauausführung die wesentlichen Anforderungen nach Artikel 3 erfüllen kann, wenn und wo für bestimmte Bauwerke Regelungen
gelten, die entsprechende Anforderungen enthalten.“
4 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 89/106 sah vor:
„Die wesentlichen auf Bauwerke anwendbaren Anforderungen, die die technischen Merkmale eines Produkts beeinflussen können,
sind in Form von einzelnen Vorgaben in Anhang 1 aufgeführt.
Von diesen Anforderungen können eine, mehrere oder alle berücksichtigt werden; sie sind während einer angemessenen Lebensdauer
zu erfüllen.“
5 In Art. 4 der Richtlinie 89/106 hieß es:
„(1) Normen und technische Zulassungen werden im Sinne dieser Richtlinie ‚technische Spezifikationenʻ genannt.
Im Sinne dieser Richtlinie sind unter harmonisierten Normen die technischen Spezifikationen zu verstehen, die vom CEN [Europäischen
Komitee für Normung] oder vom CENELEC [Europäischen Komitee für elektrotechnische Normung] oder von beiden gemeinsam im Auftrag
der Kommission gemäß der Richtlinie 83/189/EWG nach Stellungnahme des in Artikel 19 vorgesehenen Ausschusses und aufgrund
der am 13. November 1984 unterzeichneten allgemeinen Leitlinien für die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und diesen
beiden Stellen genehmigt wurden.
(2) Die Mitgliedstaaten gehen von der Brauchbarkeit der Produkte aus, die so beschaffen sind, dass die Bauwerke, für die sie verwendet
werden, bei ordnungsgemäßer Planung und Bauausführung den wesentlichen Anforderungen nach Artikel 3 entsprechen, wenn diese
Produkte die CE-Kennzeichnung tragen, aus der hervorgeht, dass sie sämtlichen Bestimmungen dieser Richtlinie einschließlich
der Verfahren für die Konformitätsbewertung gemäß Kapitel V und dem in Kapitel III festgelegten Verfahren entsprechen. Die
CE-Kennzeichnung besagt,
a) dass sie mit den entsprechenden nationalen Normen übereinstimmen, in die die harmonisierten Normen umgesetzt worden sind und
deren Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden sind. Die Mitgliedstaaten veröffentlichen die Fundstellen dieser einzelstaatlichen Normen;
b) dass sie mit einer europäischen technischen Zulassung übereinstimmen, die nach dem Verfahren des Kapitels III ausgestellt
wurde; oder
c) dass sie den nationalen technischen Spezifikationen gemäß Absatz 3 entsprechen, soweit keine harmonisierten Spezifikationen
vorliegen; ein Verzeichnis dieser nationalen Spezifikationen ist nach dem Verfahren des Artikels 5 Absatz 2 zu erstellen.
(3) Die Mitgliedstaaten können der Kommission den Wortlaut ihrer nationalen technischen Spezifikationen, die ihres Erachtens mit
den wesentlichen Anforderungen nach Artikel 3 übereinstimmen, übermitteln. Die Kommission leitet diese nationalen technischen
Spezifikationen umgehend an die anderen Mitgliedstaaten weiter. Nach dem Verfahren des Artikels 5 Absatz 2 unterrichtet sie
die Mitgliedstaaten über diejenigen nationalen technischen Spezifikationen, bei denen von der Übereinstimmung mit den wesentlichen
Anforderungen nach Artikel 3 ausgegangen wird.
Für die Einleitung und Durchführung dieses Verfahrens ist die Kommission unter Einschaltung des in Artikel 19 vorgesehenen
Ausschusses zuständig.
Die Mitgliedstaaten veröffentlichen die Fundstellen dieser technischen Spezifikationen. Diese werden außerdem von der Kommission
im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht.
…
(6) Die CE-Kennzeichnung besagt, dass ein Produkt den Anforderungen der Absätze 2 und 4 genügt …“
6 Art. 5 der Richtlinie 89/106 lautete:
„(1) Ist ein Mitgliedstaat oder die Kommission der Auffassung, dass die in Artikel 4 Absatz 2 Buchstaben a und b genannten harmonisierten
Normen oder europäischen technischen Zulassungen oder die in Kapitel II genannten Mandate den Bestimmungen der Artikel 2 und
3 nicht genügen, so befasst dieser Mitgliedstaat oder die Kommission unter Angabe der Gründe den in Artikel 19 vorgesehenen
Ausschuss. Dieser Ausschuss nimmt hierzu umgehend Stellung.
Unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme und im Falle harmonisierter Normen nach Anhörung des mit der Richtlinie 83/189/EWG
eingesetzten Ausschusses teilt die Kommission den Mitgliedstaaten mit, ob die betreffenden Normen oder Zulassungen aus den
Veröffentlichungen gemäß Artikel 7 Absatz 3 gestrichen werden müssen.
(2) Nach Eingang der Mitteilung gemäß Artikel 4 Absatz 3 befasst die Kommission den in Artikel 19 vorgesehenen Ausschuss. Unter
Berücksichtigung der Stellungnahme dieses Ausschusses unterrichtet die Kommission die Mitgliedstaaten, ob für die betreffende
technische Spezifikation die Annahme der Konformität gilt, und veröffentlicht gegebenenfalls eine Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften.
Ist die Kommission oder ein Mitgliedstaat der Auffassung, dass eine technische Spezifikation den erforderlichen Bedingungen
für die Annahme der Konformität mit den Bestimmungen der Artikel 2 und 3 nicht mehr erfüllt, so befasst die Kommission den
in Artikel 19 vorgesehenen Ausschuss. Unter Berücksichtigung der Stellungnahme dieses Ausschusses unterrichtet die Kommission
die Mitgliedstaaten, ob für die betreffende nationale technische Spezifikation weiterhin die Annahme der Konformität gelten
soll oder ob, wenn dies nicht der Fall ist, die in Artikel 4 Absatz 3 genannte Fundstelle hierfür gestrichen werden muss.“
7 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106 bestimmte:
„Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Verkehr, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Produkten, die dieser Richtlinie
entsprechen, auf ihrem Gebiet nicht behindern.
Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die zweckentsprechende Verwendung dieser Produkte nicht durch Vorschriften oder
Bedingungen behindert wird, die von öffentlichen oder privaten Stellen festgelegt werden, die als öffentliches Unternehmen
oder als öffentliche Einrichtung aufgrund einer Monopolstellung handeln.“
8 Art. 7 der Richtlinie 89/106 regelte das Verfahren für den Erlass harmonisierter Normen durch die europäischen Normenorganisationen
CEN und Cenelec.
9 In Art. 15 der Richtlinie 89/106 waren die Folgen festgelegt, die sich aus einer unberechtigten Anbringung der CE-Kennzeichnung
für die Unternehmen und die Mitgliedstaaten ergaben.
10 Art. 21 der Richtlinie 89/106 sah eine Schutzklausel vor, die es einem Mitgliedstaat ermöglichte, ein Produkt, dessen Konformität
mit der Richtlinie bescheinigt worden war, nach einem in diesem Artikel festgelegten Verfahren aus dem Markt zu nehmen, sein
Inverkehrbringen zu verbieten oder seinen freien Verkehr einzuschränken, wenn dieser Mitgliedstaat festgestellt hatte, dass
dieses Produkt den Anforderungen der Art. 2 und 3 der Richtlinie 89/106 nicht entsprach.
11 In Anhang I der Richtlinie 89/106 waren die wesentlichen Anforderungen aufgeführt, die – sofern vorhanden – von Bauwerken
zu erfüllen waren.
12 „Rohrleitungsdichtungen aus thermoplastischem Elastomer“ sind von der harmonisierten Norm EN 681-2:2000 („Elastomer-Dichtungen
– Werkstoff-Anforderungen für Rohrleitungs-Dichtungen für Anwendungen in der Wasserversorgung und Entwässerung – Teil 2: Thermoplastische
Elastomere“) erfasst.
13 „Wärmedämmstoffe“ fallen unter die harmonisierte Norm EN 13162:2008 („Wärmedämmstoffe für Gebäude – Werkmäßig hergestellte
Produkte aus Mineralwolle [MW] – Spezifikation“).
14 „Tore, Fenster und Außentüren“ sind von der harmonisierten Norm EN 13241-1 („Tore – Produktnorm – Teil 1: Produkte ohne Feuer-
und Rauchschutzeigenschaften“) erfasst.
15 Die Richtlinie 89/106 wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011
zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 89/106/EWG
des Rates (ABl. L 88 S. 5) aufgehoben. Diese Verordnung ist jedoch im vorliegenden Fall aus zeitlichen Gründen nicht anwendbar.
Deutsches Recht
16 Die Richtlinie 89/106 wurde im Wesentlichen durch das Gesetz über das Inverkehrbringen von und den freien Warenverkehr mit
Bauprodukten zur Umsetzung der Richtlinie 89/l06/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften
der Mitgliedstaaten über Bauprodukte und anderer Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften (Bauproduktengesetz – BauPG) in
der Fassung der Bekanntmachung vom 28. April 1998 (BGBl. 1998 I S. 812) in das deutsche innerstaatliche Recht umgesetzt. Hierbei
handelt es sich um ein Bundesgesetz.
17 Die Sicherheit von Bauwerken als besondere Materie des Gefahrenabwehrrechts und die Anforderungen an die Verwendung von Bauprodukten
fallen in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Die dazu von den Ländern erlassenen Landesbauordnungen orientieren sich
an der von der Bauministerkonferenz der Länder erlassenen Musterbauordnung. Die Vorschriften der Landesbauordnungen stimmen
daher in weiten Teilen überein.
18 Die Kommission und die Bundesrepublik Deutschland haben sich darauf verständigt, als Modell für diese Gesetze die Landesbauordnung
für Baden-Württemberg in der Fassung vom 5. März 2010, zuletzt geändert durch Art. 70 der Verordnung vom 25. Januar 2012 (BGBl.
2012 I S. 65) (im Folgenden: LBO‑BW), heranzuziehen.
19 Die LBO-BW verweist auf drei Bauregellisten, die unterschiedliche Regelungen aufweisen.
20 Die Bauregelliste A enthält materielle und verfahrensmäßige Anforderungen an Bauprodukte, die nicht in den Anwendungsbereich
der Richtlinie 89/106 fallen. In den §§ 17 bis 25 LBO-BW ist zum einen geregelt, nach welchen Vorgaben und Verfahren der Nachweis
der Verwendbarkeit von Bauprodukten für einen bestimmten Verwendungszweck zu führen ist, und zum anderen, wann und wie die
deutsche Konformitätskennzeichnung, das Ü‑Zeichen, auf Bauprodukte aufzubringen ist.
21 Die Bauregelliste B, um die es in der vorliegenden Rechtssache allein geht, betrifft Bauprodukte im Geltungsbereich der Richtlinie
89/106, die von einer harmonisierten Norm erfasst werden. In § 17 Abs. 7 Nr. 1 LBO-BW wird das Deutsche Institut für Bautechnik,
eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, dazu ermächtigt, festzulegen, welche der Klassen und Leistungsstufen Bauprodukte
u. a. zur Umsetzung der Richtlinie 89/106 erfüllen müssen. Nach § 17 Abs. 7 Nr. 2 LBO-BW kann das Deutsche Institut für Bautechnik
im Einvernehmen mit der obersten Baurechtsbehörde in der Bauregelliste B bekannt machen, inwieweit andere Vorschriften zur
Umsetzung von Richtlinien der Union die wesentlichen Anforderungen nach dem Bauproduktengesetz nicht berücksichtigen. Für
diesen letzteren Fall verweist die LBO-BW auf die Nachweisverfahren für die Produkte der Bauregelliste A.
22 In der Bauregelliste C sind Anforderungen an nicht harmonisierte Bauprodukte von untergeordneter Bedeutung bekannt gemacht.
23 Die LBO-BW enthält Spezifikationen, die für alle Bauprodukte gelten, insbesondere auch für die in der vorliegenden Rechtssache
streitigen.
24 „Rohrleitungsdichtungen aus thermoplastischem Elastomer“ bedürfen in Ermangelung einer europäischen harmonisierten Prüfmethode
nach der Bauregelliste B von 2012, Teil 1, laufende Nrn. 12.1.3 und 12.1.4, einer Übereinstimmungserklärung des Herstellers
nach vorheriger Prüfung des Produkts durch eine anerkannte Prüfstelle, die nach den Modalitäten der in der Bauregelliste A
aufgeführten Funktionsprüfung erfolgen muss.
25 „Dämmstoffe aus Mineralwolle“ müssen in Ermangelung einer harmonisierten Methode für die Bewertung und Prüfung des Brand-
und Glimmverhaltens insbesondere hinsichtlich ihres Glimmverhaltens eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung nach der Bauregelliste B
von 2012, Teil 1, laufende Nr. 1.5.1, aufweisen.
26 „Tore, Fenster und Außentüren“ müssen bis zur Vervollständigung der für sie geltenden harmonisierten Norm EN 13241-1 im Bereich
des Brandverhaltens nach der Bauregelliste B von 2012, Teil 1, laufende Nr. 1.6.7, das Ü-Zeichen aufweisen und den in der
Bauregelliste A von 2012, Teil 1, Anlage 6.5, genannten Anforderungen entsprechen.
Vorverfahren
27 Nachdem die Kommission eine Vielzahl von Beschwerden darüber erhalten hatte, dass die deutschen Behörden für bestimmte Bauprodukte,
die gemäß der Richtlinie 89/106 die CE-Kennzeichnung trügen, die zusätzliche Kennzeichnung mit dem deutschen Ü-Zeichen oder
eine besondere deutsche Zulassung („allgemeine bauaufsichtliche Zulassung“) verlangten und damit bestimmte Produkte, die nur
mit der CE-Kennzeichnung versehen seien, von einer Verwendung ohne weitere Formalitäten in Deutschland ausschlössen, richtete
sie am 18. Oktober 2005 und am 4. Juli 2006 Mahnschreiben an die Bundesrepublik Deutschland. Darin führte die Kommission aus,
dass die deutschen Bauregellisten Schwierigkeiten verursachten, weil sie langsam und unregelmäßig aktualisiert würden und
zusätzliche Voraussetzungen für die Verwendung bestimmter Bauprodukte schafften, die indes die CE-Kennzeichnung aufwiesen.
Nach Ansicht der Kommission verstoßen solche Anforderungen gegen Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106.
28 Die Bundesrepublik Deutschland antwortete mit Schreiben vom 19. Dezember 2005 sowie vom 15. und 31. August 2006 auf diese
Mahnschreiben. In ihren Antworten machte sie geltend, dass tatsächlich für manche Bauprodukte mit der CE-Kennzeichnung zusätzliche
Prüfungen und Zulassungen vorgeschrieben seien, da die einschlägigen europäischen harmonisierten Normen unvollständig seien
und nicht den Anforderungen des Anhangs I der Richtlinie 89/106 und der Landesbauordnungen der Länder genügten. Solange die
europäischen harmonisierten Normen nicht ergänzt worden seien, würden die deutschen innerstaatlichen Anforderungen beibehalten
und könne eine behördliche Zulassung oder ein Ü-Zeichen verlangt werden.
29 Die Kommission richtete in der Folge am 17. Oktober 2008 eine mit Gründen versehene Stellungnahme und am 17. Juni 2011 eine
ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme an die Bundesrepublik Deutschland, auf die dieser Mitgliedstaat mit Schreiben
vom 17. Dezember 2008 und 8. August 2011 antwortete.
30 Da diese Antworten die Kommission nicht zufriedenstellten, hat sie beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.
Zur Klage
Zur Zulässigkeit
31 Die Bundesrepublik Deutschland trägt zunächst vor, die vorliegende Klage sei mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig,
da sich die Kommission auf abstrakte und widersprüchliche Ausführungen zur Harmonisierung der Anforderungen an Bauprodukte
beschränke.
32 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 120
Buchst. c seiner Verfahrensordnung der Kommission obliegt, in jeder nach Art. 258 AEUV erhobenen Klage genau die Rügen anzugeben,
über die der Gerichtshof entscheiden soll, und zumindest in gedrängter Form die rechtlichen und tatsächlichen Umstände darzulegen,
auf die diese Rügen gestützt sind.
33 Im vorliegenden Fall sind alle diese Anforderungen erfüllt, da die Kommission zum einen klar einen Widerspruch zwischen Bauregeln
der Bauordnungen der Länder für bestimmte von der Bauregelliste B erfasste Produkte und Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der
Richtlinie 89/106 vorgetragen hat und zum anderen den rechtlichen Rahmen, in dem ihre Rügen stehen, genau definiert hat, was
die Bundesrepublik Deutschland im Übrigen nicht in Frage stellt.
34 Somit ist die vorliegende Klage zulässig.
Zum Klagegegenstand
35 Im Rahmen der vorliegenden Vertragsverletzungsklage macht die Kommission geltend, dass die zusätzlichen Anforderungen an Bauprodukte,
die in der Bauregelliste B, auf die die Landesbauordnungen verwiesen, aufgeführt seien, nicht mit Art. 4 Abs. 2 und Art. 6
Abs. 1 der Richtlinie 89/106 vereinbar seien. Sie bezieht sich hierbei speziell auf die drei Produktkategorien „Rohrleitungsdichtungen
aus thermoplastischem Elastomer“, „Dämmstoffe aus Mineralwolle“ und „Tore, Fenster und Außentüren“, weist aber darauf hin,
dass es sich um Beispiele handele.
36 Nach Ansicht der Bundesrepublik Deutschland kann die vorliegende Vertragsverletzungsklage nicht, wie dies die Kommission im
Wesentlichen geltend mache, auf einen strukturellen oder systematischen Verstoß gegen die Richtlinie 89/106 gestützt werden,
der im deutschen System der Bauregellisten begründet wäre. Der Klagegegenstand sei auf die drei Produktgruppen zu begrenzen,
für die nach Ansicht der Kommission zusätzliche nationale Anforderungen bestünden. Die Bauregelliste B stelle nämlich keineswegs
durchgehend weitere Anforderungen an abschließend harmonisierte Bauprodukte, sondern betreffe nur die Produkte, bei denen
die europäischen harmonisierten Normen Lücken aufwiesen, worunter die drei von der Kommission genannten Produktkategorien
fielen.
37 Nach ständiger Rechtsprechung obliegt es der Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV,
das Vorliegen der vermeintlichen Verletzung darzutun und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die
es ihm ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendwelche
Vermutungen stützen könnte (Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑530/11, EU:C:2014:67, Rn. 60 und die dort angeführte
Rechtsprechung).
38 Im vorliegenden Fall rügt die Kommission in ihrer Klageschrift einen allgemeinen Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen
Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106, weil nach den Bauordnungen der Länder vorgeschrieben sei, an bestimmten
Bauprodukten zusätzlich zur CE-Kennzeichnung noch das Ü-Zeichen anzubringen. Sie hat sich dabei jedoch darauf beschränkt,
drei Beispiele für von dieser Anforderung betroffene Produktkategorien anzuführen.
39 Da die Kommission keine weiteren Produktkategorien benennt, für die eine Verpflichtung zur Kennzeichnung mit dem Ü-Zeichen
besteht, greift ihr Vorbringen, der gerügte Verstoß sei allgemeiner Art, nicht durch.
40 Dass die Kommission auf Nachfrage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, sie habe ihrer Klage ein Dokument
mit den Bauregellisten beigefügt, kann nicht als hinreichende weitere Klarstellung angesehen werden, die geeignet wäre, diese
Beurteilung zu ändern.
41 Ebenso kann mangels hinreichender Präzisierung durch die Kommission § 17 Abs. 7 Nr. 2 LBO-BW nicht dahin verstanden werden,
dass er die zusätzliche Kennzeichnungspflicht zwangsläufig für alle Bauprodukte vorschreibt, die in der Bauregelliste B, auf
die die Bauordnungen der Länder verweisen, enthalten sind. Die Kommission führt zwar aus, dass die Bauregelliste B häufig
auf zusätzliche Erfordernisse in der Bauregelliste A verweise, doch reichen diese Ausführungen nicht aus, um die Behauptung
der Bundesrepublik Deutschland zu widerlegen, die Bauregelliste B stelle nicht durchgehend zusätzliche Anforderungen an harmonisierte
Bauprodukte.
42 Daher macht die Bundesrepublik Deutschland zu Recht geltend, dass die vorliegende Vertragsverletzungsklage nur die Pflicht
zum Anbringen des Ü-Zeichens auf den Produkten betrifft, die von den harmonisierten Normen EN 681-2:2000 („Elastomer-Dichtungen
– Werkstoff-Anforderungen für Rohrleitungs-Dichtungen für Anwendungen in der Wasserversorgung und Entwässerung – Teil 2: Thermoplastische
Elastomere“), EN 13162:2008 („Wärmedämmstoffe für Gebäude – Werkmäßig hergestellte Produkte aus Mineralwolle [MW] – Spezifikation“)
und EN 13241-1 („Tore – Produktnorm – Teil 1: Produkte ohne Feuer- und Rauchschutzeigenschaften“) erfasst werden (im Folgenden:
streitige Produkte).
Zur Begründetheit
Vorbringen der Parteien
43 Die Kommission trägt zunächst vor, dass in Deutschland für die Verwendung eines Bauprodukts, das mit der CE-Kennzeichnung
versehen und in der Bauregelliste B enthalten sei, häufig die Erfüllung von Anforderungen erforderlich sei, die über die der
europäischen harmonisierten Norm hinausgingen. Dabei handele es sich um das Ü-Zeichen oder eine allgemeine bauaufsichtliche
Zulassung.
44 Sie macht geltend, dass gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten nur solange zur Anwendung ihrer
nationalen Bestimmungen berechtigt seien, wie eine europäische Norm dem nicht entgegenstehe, ein solches Instrumentarium gegen
Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106 verstoße, da es dazu führe, dass diese Bauprodukte wie ungeregelte Produkte
behandelt würden, obwohl sie in einen geregelten Bereich fielen und die Anforderungen einer europäischen harmonisierten Norm
erfüllten, so dass sie die CE‑Kennzeichnung tragen und ohne weitere Erfordernisse in der Europäischen Union verwendet werden
dürften.
45 Die Bundesrepublik Deutschland trägt hierzu vor, da die Richtlinie 89/106 nur die wesentlichen Anforderungen an Bauwerke und
nicht an Bauprodukte enthalte, könnten diese wesentlichen Anforderungen erst dann effektiv werden, wenn für das entsprechende
Produkt eine vollständige europäische harmonisierte Norm bekannt gemacht worden sei, diese somit alle Anforderungen an Bauprodukte
enthalte, die nach den Art. 2 und 3 in Verbindung mit Anhang I der Richtlinie 89/106 erforderlich seien.
46 Fehle eine solche Bekanntmachung, hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, vorübergehend ergänzende nationale Anforderungen
an die betreffenden Bauprodukte zu stellen und Bewertungs- und Prüfverfahren zur Schließung aktueller Lücken in der entsprechenden
Unionsregelung anzuwenden. Von der Brauchbarkeit eines Bauprodukts könne nämlich nur dann ausgegangen werden, wenn alle erforderlichen
Produktmerkmale in der europäischen harmonisierten Norm enthalten seien. Die Fälle einer unvollständigen europäischen harmonisierten
Norm seien daher den Fällen des gänzlichen Fehlens einer europäischen harmonisierten Norm gleichzusetzen.
47 In einer solchen Situation bleibe daher die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bestehen, und das Verbot der Behinderung des
freien Verkehrs von Produkten gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106 komme ebenso wenig zum Tragen wie die Vermutungswirkung
des Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie, der vorsehe, dass bei den Bauprodukten, die das CE-Zeichen trügen, davon auszugehen sei,
dass sie den wesentlichen Anforderungen nach Anhang I der Richtlinie entsprächen. Das ergebe sich aus der Notwendigkeit, Gefahren
für Personen abzuwenden und der Richtlinie zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen, wie dies den Mitgliedstaaten nach dem ersten
Erwägungsgrund der Richtlinie obliege.
48 Nach Ansicht der Kommission hingegen darf die Bundesrepublik Deutschland, selbst wenn ihrem Vorbringen zur Lückenhaftigkeit
der europäischen harmonisierten Normen zuzustimmen wäre, was vorliegend nicht der Fall sei, keine einseitigen Maßnahmen vornehmen,
sondern sie müsse im Gegenteil die dafür in der Richtlinie 89/106 vorgesehenen Verfahren einhalten. Da die fraglichen Normen
bereits vor Einleitung des europäischen Normungsprozesses bestanden hätten, hätte sie dieser Mitgliedstaat bei Erteilung des
Normungsauftrags für die streitigen Produkte mitteilen müssen. Er hätte auch von dem Mitteilungsverfahren nach Art. 4 Abs. 3
dieser Richtlinie Gebrauch machen müssen. Zudem könne er, wenn er der Auffassung sei, dass die betreffenden europäischen harmonisierten
Normen überarbeitet werden müssten, im Nachhinein das in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Verfahren einleiten. Keines
dieser Verfahren sei jedoch von der Bundesrepublik Deutschland eingehalten worden. Überdies eröffneten die Art. 15 und 21
der Richtlinie einem Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen und nur unter Einhaltung eines besonderen Verfahrens die
Möglichkeit, Bauprodukte aus dem Markt zu nehmen, ihr Inverkehrbringen zu verbieten oder ihren freien Verkehr einzuschränken.
49 Hierzu trägt die Bundesrepublik Deutschland vor, dass die förmliche Befassung des Ständigen Ausschusses für das Bauwesen gemäß
Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/106 kein wirksames Mittel zur Gewährleistung der Sicherheit von Bauwerken sei, da dies zu
einer kompletten Streichung der betreffenden europäischen harmonisierten Normen und damit zu einem Handelsausschluss führen
würde. Die Verfahren nach Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 2 und Art. 21 dieser Richtlinie könne die Kommission nicht anführen,
da sie in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 17. Oktober 2008 nicht angesprochen worden seien und es sich um freiwillige
Verfahren handele, die nur bei gänzlichem Fehlen einer europäischen harmonisierten Norm greifen könnten und nicht wie im vorliegenden
Fall bei punktuellen Lücken. Auch das Schutzklauselverfahren gemäß Art. 21 der Richtlinie hindere einen Mitgliedstaat nicht
daran, Harmonisierungslücken zu schließen, da es nicht präventiv eingesetzt werden könne. Zudem könne die Entscheidung darüber,
mit welcher technischen Lösung eine Lücke in einer europäischen harmonisierten Norm geschlossen werden müsse, nicht der Kommission
überlassen werden.
50 Hilfsweise trägt die Bundesrepublik Deutschland schließlich vor, dass die vorliegend streitigen deutschen Maßnahmen mit den
Artikeln des AEU-Vertrags zum freien Warenverkehr vereinbar seien. In diesem Sinne könnten die Maßnahmen nicht als Maßnahmen
mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen angesehen werden, da keine Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten
vorliege. Jedenfalls seien die in der Bauregelliste B vorgesehenen Anforderungen an Bauprodukte, die von einer lückenhaften
europäischen harmonisierten Norm erfasst würden, durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt, insbesondere durch
das Ziel des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen sowie der Umwelt. Diese Maßnahmen, einschließlich derjenigen,
die sich auf die von den harmonisierten Normen EN 681‑2:2000, EN 13162:2008 und EN 13241‑1 erfassten Produkte bezögen, gingen
auch nicht über das hinaus, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
51 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Hauptzweck der Richtlinie 89/106 darin besteht, Handelshemmnisse zu beseitigen,
indem die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Bauprodukte innerhalb der Union frei vermarktet werden können. Zu
diesem Zweck werden in dieser Richtlinie die wesentlichen Anforderungen genannt, denen die Bauprodukte genügen müssen und
die mit harmonisierten Normen und nationalen Umsetzungsnormen, mit europäischen technischen Zulassungen und mit auf Unionsebene
anerkannten nationalen technischen Spezifikationen umgesetzt werden (Urteil Elenca, C‑385/10, EU:C:2012:634, Rn. 15 und die
dort angeführte Rechtsprechung).
52 Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 89/106 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten von der Brauchbarkeit der Produkte ausgehen, die so
beschaffen sind, dass die Bauwerke, für die sie verwendet werden, bei ordnungsgemäßer Planung und Bauausführung den wesentlichen
Anforderungen nach Art. 3 entsprechen, wenn diese Produkte die CE-Kennzeichnung tragen, aus der hervorgeht, dass sie sämtlichen
Bestimmungen dieser Richtlinie entsprechen.
53 Nach diesem Art. 4 Abs. 2 besagt die CE-Kennzeichnung, dass das Produkt, auf dem sie angebracht ist, sämtlichen Bestimmungen
der Richtlinie 89/106 einschließlich Art. 3 entspricht. Somit greift die Brauchbarkeitsvermutung ohne Weiteres.
54 Dieser Schluss wird durch die Erwägungsgründe 11 und 12 der Richtlinie 89/106 bestätigt, wonach von der Brauchbarkeit eines
Produkts auszugehen ist, wenn es mit einer harmonisierten Norm übereinstimmt und deshalb die CE-Kennzeichnung trägt, wobei
ein solches Produkt im gesamten Gebiet der Union frei verkehren und für den vorgesehenen Zweck frei verwendet werden kann.
55 Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 89/106 dürfen die Mitgliedstaaten den freien Verkehr, das Inverkehrbringen und
die Verwendung von Produkten, die dieser Richtlinie entsprechen, auf ihrem Gebiet nicht behindern.
56 Die streitigen Produkte fallen somit unter das Verbot des Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 89/106, so dass die Mitgliedstaaten
ihren freien Verkehr, ihr Inverkehrbringen und ihre Verwendung auf ihrem Gebiet nicht behindern dürfen.
57 Wie die Kommission ausführt, sieht die Richtlinie 89/106 zudem Verfahren vor, anhand deren die Mitgliedstaaten gegen harmonisierte
Normen vorgehen können, die ihrer Auffassung nach den Anforderungen der Art. 2 und 3 dieser Richtlinie nicht oder nicht mehr
entsprechen. Insbesondere kann ein Mitgliedstaat gemäß Art. 5 der Richtlinie die Überprüfung u. a. einer harmonisierten Norm
mit dem Ziel ihrer Streichung beantragen. Ebenso legt Art. 21 der Richtlinie die Schutzmaßnahmen fest, die ein Mitgliedstaat
ergreifen kann, wenn er zu der Auffassung gelangt ist, dass eine bestehende harmonisierte Norm lückenhaft sei.
58 Diese in der Richtlinie 89/106 vorgesehenen Verfahren können entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland nicht
als fakultativ angesehen werden, wenn ein Mitgliedstaat eine bestehende harmonisierte Norm für lückenhaft hält. Selbst in
einem solchen Fall kann ein Mitgliedstaat keine anderen als die in der Richtlinie 89/106 vorgesehenen einseitigen nationalen
Maßnahmen treffen, die den freien Verkehr von dieser harmonisierten Norm entsprechenden und daher mit der CE-Kennzeichnung
versehenen Bauprodukten beschränken.
59 Die Bundesrepublik Deutschland bestreitet im Übrigen nicht, dass die streitigen Maßnahmen, die in den zusätzlichen Anforderungen
hinsichtlich der Kennzeichnung der streitigen Produkte bestehen, weder auf der Grundlage der Art. 5 und 21 der Richtlinie
89/106 noch gemäß den darin vorgesehenen Verfahren erlassen wurden.
60 Jede andere Auslegung dieser Bestimmungen würde im Hinblick auf Bauprodukte, die unter eine europäische harmonisierte Norm
fallen, dazu führen, dass es einem Mitgliedstaat allein deshalb, weil er der Auffassung ist, die Sicherheit eines solchen
Produkts sei nicht ausreichend gewährleistet, gestattet wäre, Maßnahmen anzuordnen, die den freien Verkehr dieser Produkte
beschränkten, womit die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 89/106 in Frage gestellt würde.
61 Insoweit kann der von der Bundesrepublik Deutschland angeführte Umstand, dass es nach dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie
den Mitgliedstaaten obliegt, sicherzustellen, dass auf ihrem Gebiet die Bauwerke des Hoch- und des Tiefbaus derart entworfen
und ausgeführt werden, dass die Sicherheit der Menschen, der Haustiere und der Güter nicht gefährdet wird, zu keiner anderen
Bewertung führen. Dieser Erwägungsgrund kann nämlich nicht dahin verstanden werden, dass er den Mitgliedstaaten einen Kompetenzvorbehalt
einräumt, der ihnen gestatten würde, die in der Richtlinie 89/106 vorgesehenen Verfahren für die Überprüfung der harmonisierten
Normen zu umgehen.
62 Zum Hilfsvorbringen der Bundesrepublik Deutschland, die streitigen nationalen Maßnahmen seien mit den Artikeln des AEU-Vertrags
zum freien Warenverkehr vereinbar, genügt der Hinweis, dass eine nationale Maßnahme in einem Bereich, der auf Unionsebene
abschließend harmonisiert wurde, wie dies für die streitigen Produkte der Fall ist, anhand der Bestimmungen dieser Harmonisierungsmaßnahme
und nicht der des Primärrechts zu beurteilen ist (Urteil Kommission/Frankreich, C‑216/11, EU:C:2013:162, Rn. 27 und die dort
angeführte Rechtsprechung).
63 Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 2 und
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106 verstoßen hat, dass sie durch die Bauregellisten, auf die die Bauordnungen der Bundesländer
verweisen, zusätzliche Anforderungen für den wirksamen Marktzugang und die Verwendung von Bauprodukten in Deutschland gestellt
hat, die von den harmonisierten Normen EN 681-2:2000 („Elastomer-Dichtungen – Werkstoff-Anforderungen für Rohrleitungs-Dichtungen
für Anwendungen in der Wasserversorgung und Entwässerung – Teil 2: Thermoplastische Elastomere“), EN 13162:2008 („Wärmedämmstoffe
für Gebäude – Werkmäßig hergestellte Produkte aus Mineralwolle [MW] – Spezifikation“) und EN 13241-1 („Tore – Produktnorm
– Teil 1: Produkte ohne Feuer- und Rauchschutzeigenschaften“) erfasst wurden und mit der CE-Kennzeichnung versehen waren.
Kosten
64 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten
zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission
die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106/EWG
des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte
in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 geänderten
Fassung verstoßen, dass sie durch die Bauregellisten, auf die die Bauordnungen der Bundesländer verweisen, zusätzliche Anforderungen
für den wirksamen Marktzugang und die Verwendung von Bauprodukten in Deutschland gestellt hat, die von den harmonisierten
Normen EN 681-2:2000 („Elastomer-Dichtungen – Werkstoff-Anforderungen für Rohrleitungs-Dichtungen für Anwendungen in der Wasserversorgung
und Entwässerung – Teil 2: Thermoplastische Elastomere“), EN 13162:2008 („Wärmedämmstoffe für Gebäude – Werkmäßig hergestellte
Produkte aus Mineralwolle [MW] – Spezifikation“) und EN 13241-1 („Tore – Produktnorm – Teil 1: Produkte ohne Feuer- und Rauchschutzeigenschaften“)
erfasst wurden und mit der CE-Kennzeichnung versehen waren.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Oktober 2014.#Ilie Nicolae Nicula gegen Administraţia Finanţelor Publice a Municipiului Sibiu und Administraţia Fondului pentru Mediu.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Sibiu.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Erstattung der von einem Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhobenen Steuern.#Rechtssache C‑331/13.
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62013CJ0331
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ECLI:EU:C:2014:2285
| 2014-10-15T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0331
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
15. Oktober 2014 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Erstattung der von einem Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhobenen Steuern“
In der Rechtssache C‑331/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Sibiu (Rumänien) mit Entscheidung vom 30. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Juni 2013, in dem Verfahren
Ilie Nicolae Nicula
gegen
Administraţia Finanţelor Publice a Municipiului Sibiu,
Administraţia Fondului pentru Mediu
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, A. Ó Caoimh, C. Vajda und S. Rodin sowie der Richter A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Nicula, vertreten durch D. Târşia, avocat,
—
der rumänischen Regierung, vertreten durch R. Radu, V. Angelescu und A.‑L. Crişan als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und G.‑D. Bălan als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Mai 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6 EUV und 110 AEUV, der Art. 17, 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Verschlechterungsverbots.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Nicula auf der einen Seite und der Administraţia Finanţelor Publice a Municipiului Sibiu (Amt für öffentliche Finanzen Sibiu) sowie der Administraţia Fondului pentru Mediu (Umweltfonds-Amt) auf der anderen Seite über die Weigerung der beiden Letzteren, dem Antrag von Herrn Nicula auf Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge (im Folgenden: Umweltsteuer) stattzugeben.
Rechtlicher Rahmen
3 Die Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung zur Einführung einer Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge (Ordonanţă de urgenţă a Guvernului nr. 50/2008 pentru instituirea taxei pe poluare pentru autovehicule) vom 21. April 2008 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 327 vom 25. April 2008) (im Folgenden: OUG Nr. 50/2008), die am 1. Juli 2008 in Kraft getreten war, hatte eine Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge der Kategorien M1 bis M3 und N1 bis N3 eingeführt. Die Pflicht zur Entrichtung dieser Steuer entstand u. a. bei der ersten Zulassung eines Kraftfahrzeugs in Rumänien.
4 Die OUG Nr. 50/2008 wurde mehrfach geändert, bevor sie durch das Gesetz Nr. 9/2012 über die Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen (Legea nr. 9/2012 privind taxa pentru emisiili poluante provenite de la autovehicule) vom 6. Januar 2012 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 17 vom 10. Januar 2012) (im Folgenden: Gesetz Nr. 9/2012), das am 13. Januar 2012 in Kraft trat, aufgehoben wurde.
5 Nach Art. 4 des Gesetzes Nr. 9/2012 entstand die Pflicht zur Entrichtung der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen nicht nur bei der ersten Zulassung eines Fahrzeugs in Rumänien, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch bei der ersten Umschreibung des Eigentums an einem gebrauchten Kraftfahrzeug in Rumänien.
6 Durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 1/2012 der Regierung zur Aussetzung bestimmter Vorschriften des Gesetzes Nr. 9/2012 über die Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen und zur Erstattung der nach Art. 4 Abs. 2 dieses Gesetzes entrichteten Steuer (Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 1/2012 pentru suspendarea aplicării unor dispoziții ale Legii nr. 9/2012 privind taxa pentru emisiile poluante provenite de la autovehicule, precum şi pentru restituirea taxei achitate în conformitate cu prevederile art. 4 alin. 2 din lege) vom 30. Januar 2012 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 79 vom 31. Januar 2012), die am 31. Januar 2012 in Kraft trat, wurde aber die Anwendung der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen bei der erstmaligen Umschreibung des Eigentums an einem gebrauchten Kraftfahrzeug in Rumänien bis zum 1. Januar 2013 ausgesetzt.
7 Die Dringlichkeitsverordnung Nr. 9/2013 der Regierung über die Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge (Ordonanţa de urgenţă nr. 9/2013 privind timbrul de mediu pentru autovehicule) vom 19. Februar 2013 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 119 vom 4. März 2013) (im Folgenden: OUG Nr. 9/2013), mit der das Gesetz Nr. 9/2012 aufgehoben wurde, trat am 15. März 2013 in Kraft.
8 Art. 4 der OUG Nr. 9/2013 bestimmt:
„Die Pflicht zur Zahlung der Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge [im Folgenden: Umweltgebühr] entsteht einmalig
a)
mit der Eintragung des Erwerbs des Eigentums an einem Fahrzeug durch den ersten Eigentümer in Rumänien bei der zuständigen Behörde sowie der Erteilung einer Zulassungsbescheinigung und der Zuteilung des amtlichen Kennzeichens;
b)
mit der Wiedereinführung eines Kraftfahrzeugs in den nationalen Kraftfahrzeugbestand, wenn dem Eigentümer beim Ausscheiden dieses Fahrzeugs aus dem nationalen Kraftfahrzeugbestand der Restwert der [Umweltgebühr] erstattet wurde …;
c)
mit der Umschreibung des Eigentums an einem gebrauchten Kraftfahrzeug, für das weder die Sondersteuer für Pkw und Kraftfahrzeuge noch die [Umweltsteuer] noch die Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen gemäß den zum Zeitpunkt der Zulassung geltenden gesetzlichen Bestimmungen entrichtet wurde;
d)
mit der Umschreibung des Eigentums an einem gebrauchten Kraftfahrzeug im Fall von Kraftfahrzeugen, hinsichtlich deren gerichtlich die Erstattung oder die Zulassung ohne Zahlung der Sondersteuer für Pkw und Kraftfahrzeuge, der [Umweltsteuer] oder der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen angeordnet wurde.“
9 Art. 12 Abs. 1 und 2 der OUG Nr. 9/2013 sieht vor:
„(1) Ist die Sondersteuer für Pkw und Kraftfahrzeuge, die [Umweltsteuer] oder die Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen höher als die Gebühr, die sich bei Anwendung der vorliegenden Vorschriften über die Umweltgebühr ergibt – berechnet in [rumänischen Lei (RON)] zu dem zum Zeitpunkt der Zulassung oder der Umschreibung des Eigentums an einem Gebrauchtfahrzeug anwendbaren Wechselkurs –, kann der Unterschiedsbetrag zum gezahlten Betrag gemäß den Durchführungsbestimmungen zu dieser Dringlichkeitsverordnung – allerdings nur an den Zahlungsverpflichteten – erstattet werden. Der zu erstattende Unterschiedsbetrag wird auf der Grundlage der Berechnungsformel dieser Dringlichkeitsverordnung berechnet, bei der Kriterien herangezogen werden, die zum Zeitpunkt der Zulassung oder der Umschreibung des Eigentums an einem Gebrauchtfahrzeug berücksichtigt worden sind.
(2) Der Betrag, der sich als Unterschiedsbetrag zwischen dem vom Abgabenpflichtigen als Sondersteuer für Pkw und Kraftfahrzeuge, als [Umweltsteuer] oder als Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen entrichteten Betrag und dem Betrag ergibt, der aus der Anwendung der [Umweltgebühr] folgt, wird innerhalb der nach der Regierungsverordnung [Nr. 92 über die Steuerverfahrensordnung (Ordonanţa Guvernului nr. 92 privind Codul de procedură fiscală) vom 24. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 941 vom 29. Dezember 2003)] in nachträglich geänderter, ergänzter und neu veröffentlichter Fassung vorgesehenen Verjährungsfrist gemäß dem in den Durchführungsbestimmungen zur vorliegenden Dringlichkeitsverordnung festgelegten Verfahren erstattet.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10 Herr Nicula, ein in Rumänien wohnhafter rumänischer Staatsangehöriger, erwarb im Jahr 2009 ein gebrauchtes Kraftfahrzeug, das erstmalig in Deutschland zugelassen worden war. Für die Zulassung dieses Fahrzeugs in Rumänien musste er nach Art. 4 der OUG Nr. 50/2008 einen Betrag von 5153 RON als Umweltsteuer entrichten.
11 Mit Urteil vom 3. Mai 2012 gab das Tribunal Sibiu der von Herrn Nicula bei ihm erhobenen Klage gegen die Administraţia Fondului pentru Mediu, der die Umweltsteuer zufloss, statt und verurteilte diese Behörde zur Erstattung der Steuer, da sie unter Verstoß gegen Art. 110 AEUV in dessen Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Tatu (C‑402/09, EU:C:2011:219) eingeführt worden sei. Das Gericht wies die Klage jedoch ab, soweit sie gegen die Administraţia Finanţelor Publice a Municipiului Sibiu, die die Steuer erhob, gerichtet war.
12 Auf das gegen dieses Urteil bei der Curte de Apel Alba-Iulia eingelegte Rechtsmittel hob diese das Urteil am 25. Januar 2013 auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an das erstinstanzliche Gericht zurück, mit der Vorgabe für die erneute Verhandlung, dass bei dieser Art von Rechtsstreitigkeiten hinsichtlich der Erstattung einer unionsrechtswidrig vereinnahmten Steuer nicht nur derjenige passivlegitimiert sei, dem die fragliche Steuer zufließe, sondern auch derjenige, der sie erhebe.
13 Die OUG Nr. 9/2013 trat am 15. März 2013 und damit nach Eingang der Sache zur erneuten Verhandlung beim Tribunal Sibiu in Kraft. Dieses Gericht führt aus, dass gemäß diesem Rechtsakt die Erstattung zuvor gezahlter Umweltsteuer nur möglich sei, wenn die entrichtete Umweltsteuer höher sei als die Umweltgebühr, da die Erstattung nur eingeschränkt vorgesehen und auf diese eventuelle Differenz beschränkt sei.
14 In der konkreten Situation von Herrn Nicula ergibt sich für das betreffende Fahrzeug in Anwendung der OUG Nr. 9/2013 eine Umweltgebühr in Höhe von 8126,44 RON, während die zuvor gezahlte Umweltsteuer sich auf 5153 RON belief. Nach Ansicht des Tribunal Sibiu geht der Kläger fehl, wenn er behaupte, die Umweltgebühr für sein Fahrzeug betrage lediglich 3779,74 RON, da der zu erstattende Unterschiedsbetrag gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der OUG Nr. 9/2013 auf der Grundlage der Berechnungsformel dieser Dringlichkeitsverordnung berechnet werde, bei der Kriterien herangezogen würden, die sich auf den Zeitpunkt der Zulassung des Fahrzeugs in Rumänien bezögen und nicht auf den gegenwärtigen Zeitpunkt.
15 Somit habe Herr Nicula aufgrund der OUG Nr. 9/2013 keinen Anspruch auf Rückzahlung der Umweltsteuer zuzüglich Zinsen, da der entsprechende Betrag von den Steuer- und Umweltbehörden als Umweltgebühr einbehalten worden sei, weil die Umweltgebühr höher als die Umweltsteuer sei, die er bei der Zulassung seines Fahrzeugs gezahlt habe.
16 Unter diesen Umständen hat das Tribunal Sibiu beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Können Art. 6 EUV, die Art. 17, 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 110 AEUV sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Verschlechterungsverbots, die beide im Unionsrecht niedergelegt sind und von der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile Belbouab, 10/78, EU:C:1978:181, und Belgocodex, C‑381/97, EU:C:1998:589) bestätigt wurden, dahin ausgelegt werden, dass sie Vorschriften wie denen der OUG Nr. 9/2013 entgegenstehen?
17 Die rumänische Regierung hat gemäß Art. 16 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantragt, dass dieser als Große Kammer tagt.
Zur Vorlagefrage
Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
18 Nach Ansicht der rumänischen Regierung ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig. Erstens regle die vom vorlegenden Gericht angegebene Bestimmung des nationalen Rechts, nämlich Art. 12 der OUG Nr. 9/2013, ein außergerichtliches Verwaltungsverfahren zur Erstattung von Steuern, so dass den Gerichten, die mit Anträgen auf Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer wie der im Ausgangsverfahren fraglichen befasst seien, durch diese Vorschrift keine Auslegungsschranken gesetzt seien. Daher sei das vorlegende Gericht zu Unrecht der Ansicht, dass diese Bestimmung einer Anordnung der Erstattung des gesamten von Herrn Nicula als Umweltsteuer gezahlten Betrags entgegenstehe.
19 Zweitens könne die OUG Nr. 9/2013 auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens jedenfalls nicht anwendbar sein, da sie zu dem Zeitpunkt, zu dem Herr Nicula die Umweltsteuer gezahlt habe, nicht in Kraft gewesen sei.
20 Aus diesen Gründen meint die rumänische Regierung, die Beantwortung der Vorlagefrage sei für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht sachdienlich und das Vorabentscheidungsersuchen sei daher als unzulässig zurückzuweisen.
21 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Verfahren nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. dazu Urteile Gouvernement de la Communauté française und gouvernement wallon, C‑212/06, EU:C:2008:178, Rn. 28, Zurita García und Choque Cabrera, C‑261/08 und C‑348/08, EU:C:2009:648, Rn. 34, und Filipiak, C‑314/08, EU:C:2009:719, Rn. 40).
22 Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass es ihm ausnahmsweise obliegt, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Filipiak, EU:C:2009:719, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur dann abgelehnt werden kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil Zurita García und Choque Cabrera, EU:C:2009:648, Rn. 35).
24 Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof gemäß Art. 101 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung das vorlegende Gericht ersucht, anzugeben, ob Art. 12 der OUG Nr. 9/2013 unter Berücksichtigung der Art des bei ihm anhängigen Verfahrens auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist. Mit seiner am 13. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereichten Antwort hat das vorlegende Gericht bestätigt, dass dieser Artikel die auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbare materiell-rechtliche Vorschrift für die neuerliche Prüfung der an es zurückverwiesenen Sache sei. Die in Art. 12 Abs. 1 aufgestellte Regel sei eindeutig und beschränke die Erstattung von vor Einführung der Umweltgebühr gezahlter Steuer auf den Fall, dass der Betrag dieser Steuer höher sei als derjenige der Umweltgebühr in ihrer durch die OUG Nr. 9/2013 eingeführten Form.
25 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Antwort des Gerichtshofs auf die Auslegungsfrage des vorlegenden Gerichts diesem für die Entscheidung über die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht von Nutzen ist, so dass das Vorbringen der rumänischen Regierung, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, zu verwerfen und dieses somit zu beantworten ist.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage
26 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem System zur Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht.
27 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (Urteile Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 24, und Irimie, C‑565/11, EU:C:2013:250, Rn. 20).
28 Der Gerichtshof hat außerdem bereits entschieden, dass der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge hat, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Littlewoods Retail u. a., EU:C:2012:478, Rn. 25, und Irimie, EU:C:2013:250, Rn. 21).
29 Der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unionsrechtswidrig erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, ergibt sich aus dem Unionsrecht (Urteile Littlewoods Retail u. a., EU:C:2012:478, Rn. 26, und Irimie, EU:C:2013:250, Rn. 22).
30 Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass aus dem Vorlagebeschluss nicht klar hervorgeht, nach welcher Fassung der OUG Herrn Nicula zum Zeitpunkt der Zulassung seines Fahrzeugs in Rumänien die Umweltsteuer auferlegt wurde. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass Art. 110 AEUV einer Steuer wie der durch die OUG Nr. 50/2008 eingeführten Umweltsteuer sowohl in der ursprünglichen als auch in den geänderten Fassungen der OUG entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteile Tatu, EU:C:2011:219, Rn. 58 und 61, und Nisipeanu, C‑263/10, EU:C:2011:466, Rn. 27 und 29).
31 Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass die Anwendung der OUG Nr. 50/2008 unabhängig von deren Fassung bewirkte, dass eingeführte Gebrauchtfahrzeuge, die durch ein beträchtliches Alter und eine beträchtliche Abnutzung charakterisiert waren, mit einer Steuer belegt wurden, die bis um die 30 % ihres Marktwerts erreichen konnte, während gleichartige Fahrzeuge, die auf dem inländischen Markt für Gebrauchtwagen verkauft wurden und damit gleichartige inländische Waren im Sinne von Art. 110 AEUV waren, in keiner Weise mit einer solchen Steuer belastet wurden. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass eine solche Maßnahme die Inbetriebnahme von in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Gebrauchtfahrzeugen erschwert, ohne zugleich Käufern den Erwerb von Gebrauchtfahrzeugen desselben Alters und mit derselben Abnutzung auf dem inländischen Markt zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile Tatu, EU:C:2011:219, Rn. 55, 58 und 61, und Nisipeanu, EU:C:2011:466, Rn. 26, 27 und 29).
32 Rumänien hat auf die Urteile Tatu (EU:C:2011:219) und Nisipeanu (EU:C:2011:466) hin die OUG Nr. 9/2013 erlassen, die eine neue Steuer auf Kraftfahrzeuge eingeführt hat, nämlich die Umweltgebühr. Nach Art. 4 dieser Verordnung entsteht die Verpflichtung zur Zahlung der Umweltgebühr bei der ersten Zulassung eines Kraftfahrzeugs in Rumänien, zum Zeitpunkt der Wiedereinführung eines Kraftfahrzeugs in den nationalen Kraftfahrzeugbestand oder mit der Umschreibung des Eigentums an einem gebrauchten Kraftfahrzeug, für das keine der früher für Fahrzeuge geltenden Steuern gezahlt wurde, oder für das gerichtlich ihre Erstattung oder die Zulassung ohne Zahlung der Steuern angeordnet wurde.
33 Wie aus dem Vorlagebeschluss und der Antwort des vorlegenden Gerichts auf das Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hervorgeht, hat die OUG Nr. 9/2013 in ihrem Art. 12 auch ein System zur Erstattung der u. a. gemäß der OUG Nr. 50/2008 oder geänderten Fassungen dieser Verordnung gezahlten Steuer eingeführt, das es dem Einzelnen ermöglicht, die Erstattung der zuvor gezahlten Steuer zu erhalten, soweit der Betrag dieser Steuer denjenigen der Umweltgebühr übersteigt. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es nach dieser Bestimmung nicht die Möglichkeit habe, anzuordnen, dass Herrn Nicola der Betrag, den er als Umweltsteuer zahlen musste, zuzüglich Zinsen erstattet werde.
34 Somit ist zu prüfen, ob ein solches System der Erstattung durch Aufrechnung dem Einzelnen ermöglicht, seinen unionsrechtlichen Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer wirksam geltend zu machen.
35 Dazu geht aus Art. 12 Abs. 1 der OUG Nr. 9/2013 in seiner Auslegung durch das vorlegende Gericht hervor, dass bei Gebrauchtfahrzeugen, die aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt werden, die unionsrechtswidrig erhobene Umweltsteuer dem Steuerpflichtigen nur insoweit erstattet wird, als sie den als Umweltgebühr zu entrichtenden Betrag übersteigt, was anhand von Kriterien berechnet wird, die zum Zeitpunkt der Zulassung des eingeführten Gebrauchtfahrzeugs in Rumänien berücksichtigt wurden.
36 Daraus folgt, wie die Europäische Kommission ausgeführt hat, dass ein Erstattungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche im Fall eines aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten Gebrauchtfahrzeugs zu einer Beschränkung oder sogar wie im Ausgangsverfahren zu einem vollständigen Wegfall der Verpflichtung zur Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Umweltsteuer führt, was die vom Gerichtshof in den Urteilen Tatu (EU:C:2011:219) und Nisipeanu (EU:C:2011:466) festgestellte Diskriminierung fortbestehen lässt.
37 Außerdem führt dieses System zu einer Befreiung der nationalen Behörden von der Verpflichtung, die dem Steuerpflichtigen für den Zeitraum zwischen der rechtswidrigen Erhebung der Umweltsteuer und ihrer Erstattung geschuldeten Zinsen zu berücksichtigen und entspricht daher nicht den in Rn. 29 des vorliegenden Urteils gestellten Anforderungen.
38 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass ein Erstattungssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche keine wirksame Geltendmachung des unionsrechtlichen Anspruchs des Einzelnen auf Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer ermöglicht.
39 Nach alledem ist das Unionsrecht dahin auszulegen, dass es einem System zur Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht.
Zur zeitlichen Begrenzung der Wirkungen des Urteils des Gerichtshofs
40 Für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass das Unionsrecht einer Abgabe wie der durch die OUG Nr. 9/2013 eingeführten Umweltgebühr entgegensteht, hat die rumänische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen beantragt, der Gerichtshof möge die Wirkungen seines Urteils zeitlich begrenzen.
41 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit dem Ersuchen um Auslegung des Unionsrechts nicht fragt, ob das Unionsrecht einer Abgabe wie der Umweltgebühr entgegensteht, sondern nur, ob das Unionsrecht einem Erstattungssystem wie dem durch die OUG Nr. 9/2013 eingeführten entgegensteht, das die Erstattung der zu Unrecht gemäß der OUG Nr. 50/2008 erhobenen Steuer vorsieht.
42 Unter diesen Umständen genügt es, darauf hinzuweisen, dass die von der rumänischen Regierung für eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils des Gerichtshofs vorgetragenen Argumente andere Fälle als den im Ausgangsverfahren fraglichen betreffen und über den Antrag dieser Regierung auf zeitliche Begrenzung der Wirkungen des vorliegenden Urteils demnach nicht entschieden zu werden braucht.
Kosten
43 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einem System zur Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 26. September 2014.#Romonta GmbH gegen Europäische Kommission.#Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten ab 2013 – Beschluss 2011/278/EU – Von Deutschland unterbreitete nationale Umsetzungsmaßnahmen – Härtefallklausel – Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑614/13.
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62013TJ0614
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ECLI:EU:T:2014:835
| 2014-09-26T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013TJ0614
URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)
26. September 2014 (*1)
„Umwelt — Richtlinie 2003/87/EG — System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten — Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten ab 2013 — Beschluss 2011/278/EU — Von Deutschland unterbreitete nationale Umsetzungsmaßnahmen — Härtefallklausel — Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit — Eigentumsrecht — Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache T‑614/13
Romonta GmbH mit Sitz in Seegebiet Mansfelder Land (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältinnen I. Zenke, M.‑Y. Vollmer und A. Schulze sowie Rechtsanwalt C. Telschow,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch E. White, C. Hermes und K. Herrmann als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend einen Antrag auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2013/448/EU der Kommission vom 5. September 2013 über nationale Umsetzungsmaßnahmen für die übergangsweise kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 240, S. 27), soweit darin in Art. 1 Abs. 1 eine Härtefallzuteilung für die Klägerin für die dritte Handelsperiode des Emissionshandels 2013 bis 2020 nach § 9 Abs. 5 des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes vom 21. Juli 2011 abgelehnt wird,
erlässt
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Dittrich (Berichterstatter), des Richters J. Schwarcz und der Richterin V. Tomljenović,
Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 2014
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin, die Romonta GmbH, ist ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland und europaweit der einzige Hersteller von Montanwachs. Aus besonders bitumenreicher Braunkohle löst sie das Bitumen, um es aufzubereiten und als Montanwachs zu vermarkten. Den verbleibenden Braunkohlerückstand verwertet die Klägerin in einer hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplungsanlage. Die erzeugte Wärme benötigt die Klägerin für ihren industriellen Prozess. Den beim Kraft-Wärme-Kopplungs-Prozess als Nebenprodukt anfallenden Strom verkauft sie. Seit dem 1. Januar 2005 unterliegt die Klägerin dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. L 275, S. 32), zuletzt geändert durch die Richtlinie 2009/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung und Ausweitung des Gemeinschaftssystems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten (ABl. L 140, S. 63) (im Folgenden: Richtlinie 2003/87). Nach Art. 1 der Richtlinie 2003/87 wurde dieses System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten geschaffen, um Treibhausgasemissionen in der Union zu verringern.
2 Zu diesem Zweck bestimmt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87, dass die unionsweite Menge der Zertifikate, die ab 2013 jährlich vergeben werden, ab der Mitte des Zeitraums von 2008 bis 2012 linear verringert wird. Nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie musste die Europäische Kommission die absolute unionsweite Menge der Zertifikate für 2013 veröffentlichen. Hierzu erließ sie den Beschluss 2010/384/EU vom 9. Juli 2010 über die gemeinschaftsweite Menge der im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems für 2013 zu vergebenden Zertifikate (ABl. L 175, S. 36), aufgehoben durch den Beschluss 2010/634/EU der Kommission vom 22. Oktober 2010 zur Anpassung dieser Menge (ABl. L 279, S. 34). Diese absolute Menge wird nach den Regeln der Art. 10, 10a und 10c der Richtlinie 2003/87 vergeben. So wird ein Teil der Zertifikate auf der Grundlage der Art. 10a und 10c dieser Richtlinie kostenlos zugeteilt. Ab dem Jahr 2013 werden alle Zertifikate, die nicht gemäß den Art. 10a und 10c der Richtlinie 2003/87 kostenlos zugeteilt werden, nach Art. 10 dieser Richtlinie von den Mitgliedstaaten versteigert.
3 Was die auf der Grundlage von Art. 10a der Richtlinie 2003/87 kostenlos zuzuteilenden Zertifikate betrifft, musste die Kommission unionsweite und vollständig harmonisierte Durchführungsmaßnahmen für die harmonisierte Zuteilung kostenloser Emissionszertifikate erlassen. Sie war insoweit insbesondere verpflichtet, Ex-ante-Benchmarks für die einzelnen Sektoren bzw. Teilsektoren festzulegen und dabei als Ausgangspunkt die Durchschnittsleistung der 10 % effizientesten Anlagen eines Sektors oder Teilsektors der Union in den Jahren 2007 und 2008 zugrunde zu legen. Auf der Grundlage dieser Benchmarks wird die Zahl der Emissionszertifikate berechnet, die ab 2013 den einzelnen betroffenen Anlagen kostenlos zuzuteilen sind.
4 Am 27. April 2011 erließ die Kommission den Beschluss 2011/278/EU zur Festlegung EU-weiter Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß Artikel 10a der Richtlinie 2003/87 (ABl. L 130, S. 1). Wie sich aus dem vierten Erwägungsgrund und Anhang I dieses Beschlusses ergibt, legte die Kommission darin so weit wie möglich für jedes Produkt eine Benchmark fest. Soweit die Berechnung einer Produkt-Benchmark nicht möglich war, jedoch für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten in Frage kommende Treibhausgase entstehen, wurde, wie sich aus dem zwölften Erwägungsgrund dieses Beschlusses ergibt, eine Hierarchie von drei Fall-Back-Methoden entwickelt. So gilt die Wärme-Benchmark für Wärmeverbrauchsprozesse, bei denen ein Träger messbarer Wärme eingesetzt wird. Die Brennstoff-Benchmark findet Anwendung, wenn nicht messbare Wärme verbraucht wird. Für Prozessemissionen werden die Emissionszertifikate auf der Basis der historischen Emissionen zugeteilt.
5 Art. 10 des Beschlusses 2011/278 enthält die Regeln, nach denen die Mitgliedstaaten für jedes Jahr die Anzahl der Emissionszertifikate zu berechnen haben, die jeder Bestandsanlage in ihrem Hoheitsgebiet ab 2013 kostenlos zugeteilt werden. Gemäß Art. 10 Abs. 2 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, zunächst die vorläufige jährliche Anzahl der den einzelnen Anlagenteilen kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate für jeden Anlagenteil mit Produkt-Benchmark und für Anlagenteile mit Wärme-Benchmark, Brennstoff-Benchmark und Prozessemissionen zu bestimmen.
6 Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 und Art. 15 Abs. 1 und 2 des Beschlusses 2011/278 hatten die Mitgliedstaaten der Kommission bis 30. September 2011 ein Verzeichnis der in ihrem Hoheitsgebiet unter die Richtlinie fallenden Anlagen und alle den einzelnen Anlagen in ihrem Hoheitsgebiet kostenlos zugeteilten Zertifikate, die im Einklang mit den Vorschriften von Art. 10a Abs. 1 und Art. 10c der Richtlinie berechnet wurden, zu unterbreiten. Gemäß Art. 15 Abs. 3 des Beschlusses 2011/278 musste die Kommission alle Anlageneinträge sowie die den jeweiligen Anlagen zugeordneten vorläufigen Jahresgesamtmengen der kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate prüfen und den einheitlichen sektorübergreifenden Korrekturfaktor festlegen. Diese Festlegung war notwendig, da die jährliche Höchstmenge der kostenlos zuzuteilenden Zertifikate nach Art. 10a Abs. 5 der Richtlinie 2003/87 begrenzt war. Gemäß Art. 15 Abs. 4 des Beschlusses 2011/278 nimmt der betreffende Mitgliedstaat, sofern die Kommission den Eintrag einer Anlage im Verzeichnis und die entsprechenden vorläufigen Jahresgesamtmengen der dieser Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate nicht ablehnt, die Berechnung der endgültigen Jahresmenge der Emissionszertifikate vor, die für jedes Jahr des Zeitraums 2013 bis 2020 kostenlos zuzuteilen sind. Gemäß Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 dürfen die Mitgliedstaaten Anlagen, deren Eintrag in das in Art. 11 Abs. 1 genannte Verzeichnis von der Kommission abgelehnt wurde, keine kostenlosen Zertifikate zuteilen.
7 In Deutschland wurde der Beschluss 2011/278 u. a. durch das Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz – TEHG) vom 21. Juli 2011 umgesetzt. § 9 Abs. 5 TEHG enthält folgende Härtefallklausel:
„Bedeutete eine Zuteilung nach den Zuteilungsregeln nach § 10 eine unzumutbare Härte für den Anlagenbetreiber und für ein mit diesem verbundenes Unternehmen, das mit seinem Kapital aus handels- oder gesellschaftsrechtlichem Rechtsgrund für die wirtschaftlichen Risiken des Anlagenbetriebes einstehen muss, teilt die zuständige Behörde auf Antrag des Betreibers zusätzliche Berechtigungen in der für einen Ausgleich angemessenen Menge zu, soweit die Europäische Kommission diese Zuteilung nicht nach Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 2003/87/EG ablehnt.“
8 Am 21. Dezember 2011 beantragte die Klägerin bei der für den Vollzug des Handels mit Emissionszertifikaten in der Bundesrepublik Deutschland zuständigen Behörde die Zuteilung kostenloser Zertifikate für ihre Anlage mit der Kennnummer DE000000000000978 nach dem Zuteilungselement für Prozessemissionen, dem Zuteilungselement mit Wärme-Benchmark und nach der Härtefallklausel gemäß § 9 Abs. 5 TEHG. Hierzu machte sie geltend, dass ihre Existenz von der Zuteilung zusätzlicher Zertifikate gemäß dieser Klausel abhänge, weil sie anderenfalls in die Insolvenz gerate.
9 Am 7. Mai 2012 übermittelte die Bundesrepublik Deutschland der Kommission gemäß Art. 15 Abs. 1 des Beschlusses 2011/278 das Verzeichnis der unter die Richtlinie 2003/87 fallenden Anlagen in ihrem Hoheitsgebiet und alle den einzelnen Anlagen in ihrem Hoheitsgebiet kostenlos zuzuteilenden Zertifikate. Für die Anlage der Klägerin hatte dieser Mitgliedstaat die vorläufige Menge an kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikaten u. a. in Anwendung der Härtefallklausel gemäß § 9 Abs. 5 TEHG berechnet.
10 Am 5. September 2013 erließ die Kommission den Beschluss 2013/448/EU über nationale Umsetzungsmaßnahmen für die übergangsweise kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 2003/87 (ABl. L 240, S. 27, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
11 Mit Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses in Verbindung mit Anhang I Buchst. A dieses Beschlusses lehnte die Kommission die Aufnahme der Anlage der Klägerin in die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 unterbreiteten Verzeichnisse von unter diese Richtlinie fallenden Anlagen und die vorläufigen Jahresgesamtmengen der Emissionszertifikate ab, die dieser Anlage kostenlos zugeteilt werden sollen.
12 Die Kommission vertrat, wie dem elften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu entnehmen ist, die Ansicht, dass die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten an die Klägerin auf der Grundlage von § 9 Abs. 5 TEHG abzulehnen sei, da der Beschluss 2011/278 eine Anpassung, wie sie die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage dieser Vorschrift vornehmen wolle, nicht vorsehe. Deutschland habe nicht dargelegt, dass die auf der Grundlage des Beschlusses 2011/278 berechnete Zuteilung an die betreffende Anlage mit Blick auf das angestrebte Ziel der vollständigen Harmonisierung der Zuteilungen offensichtlich unangemessen gewesen sei. Die Zuteilung zusätzlicher kostenloser Zertifikate an einige Anlagen würde den Wettbewerb verzerren oder zu verzerren drohen und hätte grenzüberschreitende Folgen, da in allen unter die Richtlinie 2003/87 fallenden Sektoren unionsweit gehandelt werde. Angesichts des Grundsatzes der Gleichbehandlung der unter das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten fallenden Anlagen hielt es die Kommission für angezeigt, gegen die in den nationalen Umsetzungsmaßnahmen Deutschlands vorgesehenen vorläufigen Mengen der kostenlosen Zuteilung an bestimmte Anlagen, die in Anhang I Buchst. A des angefochtenen Beschlusses aufgeführt sind, Einwände zu erheben.
13 Gemäß Art. 2 des angefochtenen Beschlusses erhob die Kommission unbeschadet des Art. 1 dieses Beschlusses keine Einwände gegen die Verzeichnisse der unter die Richtlinie 2003/87 fallenden Anlagen, die die Mitgliedstaaten gemäß Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie unterbreitet haben, und die entsprechenden vorläufigen Jahresgesamtmengen der diesen Anlagen kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate.
14 In Art. 3 des angefochtenen Beschlusses wurde von der Kommission die auf der Grundlage der Art. 9 und 9a der Richtlinie 2003/87 bestimmte Gesamtmenge der ab 2013 zu vergebenden Zertifikate, wie sie im Beschluss 2010/634 festgelegt worden war, angepasst.
15 Schließlich legte die Kommission in Art. 4 des angefochtenen Beschlusses in Verbindung mit Anhang II dieses Beschlusses gemäß Art. 15 Abs. 3 des Beschlusses 2011/278 den einheitlichen sektorübergreifenden Korrekturfaktor gemäß Art. 10a Abs. 5 der Richtlinie 2003/87 fest.
Verfahren und Anträge der Parteien
16 Mit Klageschrift, die am 26. November 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
17 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin beantragt, über die vorliegende Klage im beschleunigten Verfahren nach Art. 76a der Verfahrensordnung des Gerichts zu entscheiden. Die Kommission hat am 10. Dezember 2013 ihre Stellungnahme zu diesem Antrag eingereicht.
18 Mit besonderem Schriftsatz, der am 27. November 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, mit dem sie im Wesentlichen die Außervollzugsetzung des angefochtenen Beschlusses begehrte, soweit damit eine Zuteilung von Zertifikaten nach § 9 Abs. 5 TEHG abgelehnt wurde.
19 Mit Entscheidung vom 17. Dezember 2013 hat das Gericht (Fünfte Kammer) dem Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren stattgegeben.
20 Mit Beschluss vom 20. Januar 2014, Romonta/Kommission (T‑614/13 R, EU:T:2014:16), ist der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückgewiesen und die Kostenentscheidung vorbehalten worden.
21 Am 21. Januar 2014 ist das schriftliche Verfahren geschlossen worden.
22 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Fünfte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
23 Im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme gemäß Art. 64 seiner Verfahrensordnung hat das Gericht die Kommission aufgefordert, eine Frage in der mündlichen Verhandlung zu beantworten.
24 In der Sitzung vom 14. Mai 2014 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
25 Die Klägerin beantragt,
—
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit darin in Art. 1 Abs. 1 für sie eine Härtefallzuteilung für die dritte Handelsperiode des Emissionshandels 2013 bis 2020 nach § 9 Abs. 5 TEHG abgelehnt wird;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
26 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
27 Die Kommission wendet sich, ohne förmlich eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, gegen die Zulässigkeit der Klage. Bevor die von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe geprüft werden, ist daher die Zulässigkeit der Klage zu prüfen.
Zur Zulässigkeit
28 Die Kommission stellt die Klagebefugnis der Klägerin, genauer deren unmittelbare Betroffenheit, in Abrede. Sie ist der Ansicht, Art. 15 Abs. 4 und 5 des Beschlusses 2011/278 sehe vor einer Zuteilung von Emissionszertifikaten nationale Umsetzungsmaßnahmen vor.
29 Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV kann jede natürliche oder juristische Person unter den Bedingungen nach Art. 263 Abs. 1 und 2 gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben.
30 Im vorliegenden Fall steht fest, dass der angefochtene Beschluss nicht an die Klägerin gerichtet war und diese daher nicht Adressatin dieser Handlung ist. Unter diesen Umständen kann die Klägerin nach Art. 263 Abs. 4 AEUV eine Nichtigkeitsklage gegen den angefochtenen Beschluss nur unter der Voraussetzung erheben, dass sie u. a. von ihm unmittelbar betroffen ist.
31 Die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann erfüllt, wenn sich erstens die beanstandete Maßnahme auf die Rechtsstellung des Einzelnen unmittelbar auswirkt und sie zweitens ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung anderer Durchführungsvorschriften ergibt (Urteile vom 5. Mai 1998, Dreyfus/Kommission, C‑386/96 P, Slg, EU:C:1998:193, Rn. 43, vom 29. Juni 2004, Front national/Parlament, C‑486/01 P, Slg, EU:C:2004:394, Rn. 34, und vom 10. September 2009, Kommission/Ente per le Ville vesuviane und Ente per le Ville vesuviane/Kommission, C‑445/07 P und C‑455/07 P, Slg, EU:C:2009:529, Rn. 45).
32 Gemäß Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 dürfen die Mitgliedstaaten Anlagen, deren Eintrag in das in Abs. 1 dieser Vorschrift genannte Verzeichnis von Anlagen die Kommission abgelehnt hat, keine kostenlosen Zertifikate zuteilen. Die Ablehnung des Eintrags der Anlage der Klägerin in dieses Verzeichnis und der entsprechenden vorläufigen Jahresgesamtmengen der dieser Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate wirkt sich daher unmittelbar auf die Rechtsstellung der Klägerin aus und lässt der Bundesrepublik Deutschland, die mit der Durchführung des angefochtenen Beschlusses betraut ist, keinerlei Ermessensspielraum. Im Übrigen spiegeln sich die Wirkungen des angefochtenen Beschlusses auch in § 9 Abs. 5 TEHG wider, wonach die nationale Behörde Emissionszertifikate nur dann gemäß der Härtefallklausel kostenlos zuteilen kann, wenn die Kommission diese Zuteilung nicht nach Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 ablehnt (vgl. Rn. 7 des vorliegenden Urteils).
33 Diese Schlussfolgerung wird durch das Vorbringen der Kommission nicht in Frage gestellt. Zwar sieht, wie die Kommission vorträgt, Art. 15 Abs. 4 und 5 des Beschlusses 2011/278 nationale Umsetzungsmaßnahmen vor, jedoch schließt diese Bestimmung nicht aus, dass die Klägerin von dem angefochtenen Beschluss unmittelbar betroffen ist.
34 Was erstens Art. 15 Abs. 4 des Beschlusses 2011/278 betrifft, sieht diese Bestimmung nämlich vor, dass der betreffende Mitgliedstaat, sofern die Kommission den Eintrag einer Anlage im nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Verzeichnis von Anlagen und die entsprechenden vorläufigen Jahresgesamtmengen der dieser Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate nicht ablehnt, die Berechnung der endgültigen Jahresmenge der Emissionszertifikate vornimmt, die gemäß Art. 10 Abs. 9 des Beschlusses 2011/278 für jedes Jahr des Zeitraums 2013 bis 2020 kostenlos zuzuteilen sind. Diese Bestimmung sieht vor, wie die endgültige Jahresgesamtmenge der jeder Bestandsanlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate bestimmt wird. Diese Menge entspricht der vorläufigen Jahresgesamtmenge der jeder Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate, multipliziert mit dem von der Kommission festgesetzten sektorübergreifenden Korrekturfaktor.
35 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im angefochtenen Beschluss abschließend alle Faktoren festgelegt, die bei der Berechnung der endgültigen Jahresmengen der der Anlage der Klägerin für jedes Jahr des Zeitraums 2013 bis 2020 kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate durch die Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen sind. In diesem Beschluss hat sie nämlich zum einen die vorläufigen Jahresgesamtmengen der Emissionszertifikate, die jeder Anlage kostenlos zuzuteilen sind, und zum anderen den sektorübergreifenden Korrekturfaktor festgelegt. Für die Berechnung der endgültigen Jahresgesamtmenge der der betreffenden Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate gemäß den in Art. 10 Abs. 9 des Beschlusses 2011/278 vorgesehenen Regeln verfügte die Bundesrepublik Deutschland somit über keinerlei Ermessen. Die Berechnung dieser Menge ergab sich allein aus dem angefochtenen Beschluss, in dem alle relevanten Faktoren abschließend festgelegt worden waren. Die Umsetzung des angefochtenen Beschlusses durch die Berechnung der endgültigen Jahresgesamtmenge der der betreffenden Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate erfolgte somit rein automatisch.
36 Was zweitens Art. 15 Abs. 5 des Beschlusses 2011/278 betrifft, verpflichtet dieser die Mitgliedstaaten, der Kommission im Anschluss an die Festlegung der endgültigen Jahresmenge für alle Bestandsanlagen in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten ein Verzeichnis der gemäß Art. 10 Abs. 9 dieses Beschlusses berechneten endgültigen Jahresmenge der im Zeitraum 2013 bis 2020 kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate zu übermitteln. Hierzu genügt der Hinweis, dass eine derartige Mitteilungspflicht den Mitgliedstaaten kein Ermessen einräumt und diese lediglich verpflichtet, der Kommission das Ergebnis ihrer Berechnung der endgültigen Jahresgesamtmenge der jeder betroffenen Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate zu übermitteln.
37 Folglich ist die Klägerin als von dem angefochtenen Beschluss unmittelbar betroffen anzusehen. Da sie von diesem Beschluss außerdem individuell betroffen ist, weil die Kommission mit dem angefochtenen Beschluss die vorläufigen Jahresgesamtmengen der ihrer Anlage kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate individuell abgelehnt hat, was von der Kommission im Übrigen nicht bestritten wird, ist die Klägerin klagebefugt.
38 Die Klage ist somit zulässig.
Zur Begründetheit
39 Die Klägerin stützt ihre Klage auf drei Gründe, nämlich erstens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zweitens eine Verletzung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und des Subsidiaritätsprinzips sowie drittens eine Verletzung von Grundrechten. Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst den ersten und den dritten Klagegrund gemeinsam und anschließend den zweiten Klagegrund zu prüfen.
Zum ersten und zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Verletzung von Grundrechten
40 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe dadurch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen und ihre Grundrechte verletzt, dass sie die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten für Härtefälle abgelehnt habe. In erster Linie trägt sie vor, mit der Annahme, der Beschluss 2011/278 stehe der Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel entgegen, habe die Kommission diesen Beschluss verkannt und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und ihre Grundrechte verstoßen. Hilfsweise für den Fall, dass ihr Hauptvorbringen mit der Begründung zurückgewiesen werde, der Beschluss 2011/278 nenne nicht ausdrücklich die Möglichkeit, in Härtefällen zusätzliche Zertifikate zuzuteilen, macht sie geltend, dass dieser Beschluss als unverhältnismäßig anzusehen sei und ihre Grundrechte verletze.
– Zum Hauptvorbringen: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Verletzung von Grundrechten aufgrund einer Verkennung des Beschlusses 2011/278
41 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe den Beschluss 2011/278 verkannt, als sie angenommen habe, dass er der Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel entgegenstehe. Dadurch, dass die Kommission es abgelehnt habe, die Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage von § 9 Abs. 5 TEHG zu genehmigen, habe sie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen und ihre Grundrechte verletzt, nämlich ihre Berufsfreiheit, ihre unternehmerische Freiheit und ihr Eigentumsrecht, die durch die Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützt seien.
42 Die Schlussfolgerung, dass die Kommission den Beschluss 2011/278 verkannt und infolgedessen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte der Klägerin verstoßen hat, als sie es abgelehnt hat, die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel zu genehmigen, setzt voraus, dass eine solche Zuteilung nach diesem Beschluss, der auf der Richtlinie 2003/87 beruht, möglich ist, was die Kommission in Abrede stellt.
43 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel nach dem Beschluss 2011/278, der auf der Richtlinie 2003/87 beruht, nicht möglich war, da dieser Beschluss es nach den geltenden Rechtsvorschriften der Kommission nicht erlaubte, die Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage einer derartigen Klausel zu genehmigen, und die Kommission, wie sie geltend gemacht hat, über keinerlei Ermessen verfügte.
44 Erstens erlaubt es der Beschluss 2011/278 der Kommission nicht, die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel wie der des § 9 Abs. 5 TEHG zu genehmigen. Art. 10 des Beschlusses 2011/278 enthält nämlich die Regeln, auf deren Basis die Mitgliedstaaten für jedes Jahr die Zahl der ab 2013 jeder Bestandsanlage in ihrem Hoheitsgebiet kostenlos zuzuteilenden Emissionszertifikate berechnen müssen. Nach dieser Vorschrift haben die Mitgliedstaaten die Menge der den Anlagen in ihrem Hoheitsgebiet kostenlos zuzuteilenden Zertifikate anhand der im Beschluss 2011/278 festgelegten Benchmark-Werte oder Prozessemissionen, bestimmter Multiplikationsfaktoren und des gemäß Art. 15 Abs. 3 dieses Beschlusses festgelegten sektorübergreifenden Korrekturfaktors zu berechnen.
45 Diese Zuteilungsregeln werden in den Erwägungsgründen des Beschlusses 2011/278 erläutert. Wie sich aus dem vierten Erwägungsgrund des Beschlusses 2011/278 ergibt, hat die Kommission für die Produkte so weit wie möglich Benchmarks entwickelt. Nach dem zwölften Erwägungsgrund dieses Beschlusses wurde, soweit die Berechnung einer Produkt-Benchmark nicht möglich war, jedoch für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten in Frage kommende Treibhausgase entstehen, eine Hierarchie von drei Fall-Back-Methoden entwickelt. So geht aus diesem zwölften Erwägungsgrund hervor, dass die Wärme-Benchmark für Wärmeverbrauchsprozesse gilt, bei denen ein Träger messbarer Wärme eingesetzt wird. Die Brennstoff-Benchmark findet Anwendung, wenn nicht messbare Wärme verbraucht wird. Für Prozessemissionen werden die Emissionszertifikate auf Basis der historischen Emissionen zugeteilt.
46 Das mit dem Beschluss 2011/278 eingeführte System sieht somit abschließende Regeln für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten vor, so dass jede kostenlose Zuteilung von Zertifikaten außerhalb dieser Regeln ausgeschlossen ist. Diese Schlussfolgerung wird dadurch bestätigt, dass die Aufnahme einer Härtefallklausel im Verfahren zum Erlass des Beschlusses 2011/278 auf die Initiative eines Mitgliedstaats hin zwar erörtert, eine solche Klausel letztlich aber nicht aufgenommen wurde, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts ausgeführt hat.
47 Zweitens verfügte die Kommission über keinerlei Ermessen bei der Ablehnung des Eintrags der Anlage der Klägerin in die ihr gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 unterbreiteten Verzeichnisse der unter diese Richtlinie fallenden Anlagen und der entsprechenden vorläufigen Jahresgesamtmengen der dieser Anlage kostenlos zugeteilten Emissionszertifikate. Rechtsgrundlagen des angefochtenen Beschlusses sind nämlich die Art. 10a und 11 der Richtlinie 2003/87. Gemäß Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie unterbreitet jeder Mitgliedstaat der Kommission das Verzeichnis der in seinem Hoheitsgebiet unter diese Richtlinie fallenden Anlagen und alle den einzelnen Anlagen in seinem Hoheitsgebiet kostenlos zugeteilten Zertifikate, die im Einklang mit den Vorschriften gemäß Art. 10a Abs. 1 und Art. 10c dieser Richtlinie berechnet wurden. Nach Art. 11 Abs. 3 dieser Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten Anlagen, deren Eintrag in die in Abs. 1 genannte Liste von der Kommission abgelehnt wurde, keine kostenlosen Zertifikate zuteilen. Wie die Kommission vorträgt, ergibt sich aus Art. 11 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2003/87, dass ihre Entscheidung, ob sie den Eintrag einer Anlage in das Verzeichnis ablehnt, allein davon abhängt, ob die der Anlage vom betreffenden Mitgliedstaat zugeteilten Zertifikate im Einklang mit den Vorschriften von Art. 10a Abs. 1 und Art. 10c dieser Richtlinie berechnet wurden. Ist dies nicht der Fall, muss die Kommission den Eintrag ablehnen, ohne insoweit über ein Ermessen zu verfügen.
48 Soweit die Klägerin drittens geltend macht, dass ein Fall höherer Gewalt anerkannt und so die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten ermöglicht werden könne, wenn die Gefahr bestehe, dass ein Unternehmen insolvent werde und seine Abgabepflicht mangels hinreichender Mittel nicht erfüllen könne, ist ihr Vorbringen ebenfalls zurückzuweisen. Zwar kann nach der Rechtsprechung auch bei Fehlen einer besonderen Bestimmung ein Fall höherer Gewalt anerkannt werden, wenn sich Rechtssuchende auf eine äußere Ursache berufen, deren Folgen unvermeidbar und unausweichlich sind und den Betroffenen die Einhaltung ihrer Verpflichtungen objektiv unmöglich machen (Urteil vom 17. Oktober 2013, Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, C‑203/12, Slg, EU:C:2013:664, Rn. 31, vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 18. März 1980, Ferriera Valsabbia u. a./Kommission, 154/78, 205/78, 206/78, 226/78 bis 228/78, 263/78, 264/78, 31/79, 39/79, 83/79 und 85/79, Slg, EU:C:1980:81, Rn. 140). Da jedoch die Klägerin seit 1. Januar 2005 dem nach der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten unterliegt, genügt die bloße Gefahr, insolvent zu werden und eine Abgabepflicht mangels hinreichender Mittel nicht erfüllen zu können, nicht, um einen Fall höherer Gewalt festzustellen, der ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse voraussetzt, auf die derjenige, der sich auf höhere Gewalt beruft, keinen Einfluss hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Eurofit, C‑99/12, Slg, EU:C:2013:487, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Folglich hat die Kommission den Beschluss 2011/278 nicht verkannt, als sie die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel abgelehnt hat.
50 Das Hauptvorbringen der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
– Zum Hilfsvorbringen: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Verletzung von Grundrechten durch den Beschluss 2011/278
51 Die Klägerin macht geltend, dass der Beschluss 2011/278, soweit er die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel nicht erlaube, gegen ihre Grundrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.
52 Es ist daher zu prüfen, ob die Kommission dadurch gegen die Grundrechte der Klägerin und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat, dass sie in den im Beschluss 2011/278 festgelegten Regeln für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten nicht die Möglichkeit vorgesehen hat, diese Zertifikate auf der Grundlage einer Härtefallklausel kostenlos zuzuteilen.
53 Ein Verstoß gegen die Grundrechte und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufgrund des Nichtvorhandenseins einer Härtefallklausel in den im Beschluss 2011/278 festgelegten Regeln für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, da Art. 10a der Richtlinie 2003/87, der die Rechtsgrundlage dieses Beschlusses darstellt, die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage einer derartigen Klausel durch die Kommission nicht ausschließt. Erstens hatte die Kommission nach Art. 10a Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/87 unionsweite und vollständig harmonisierte Durchführungsmaßnahmen für die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten zu erlassen, mit denen nicht wesentliche Bestimmungen der Richtlinie 2003/87 geändert werden sollten, indem sie ergänzt werden. Die Einführung einer für alle Mitgliedstaaten geltenden Härtefallklausel durch die Kommission hätte das Erfordernis der vollständigen unionsweiten Harmonisierung dieser Durchführungsmaßnahmen beachtet. Da eine derartige Klausel nur Ausnahmefälle betroffen und somit das mit der Richtlinie 2003/87 eingeführte System nicht in Frage gestellt hätte, hätte sie auch nicht auf die Änderung wesentlicher Bestimmungen dieser Richtlinie abgezielt. Zweitens hatte die Kommission nach Art. 10a Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/87 so weit wie möglich Ex-ante-Benchmarks festzulegen. Soweit die Berechnung einer Produkt-Benchmark nicht möglich war, jedoch für die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten in Frage kommende Treibhausgase entstanden, verfügte die Kommission über ein Ermessen zur Festlegung von Regeln, das sie ausgeübt hat, indem sie eine Hierarchie von drei Fall-Back-Methoden entwickelt hat. Im Rahmen dieses Ermessens hätte die Kommission somit grundsätzlich auch die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten aufgrund einer Härtefallklausel vorsehen können.
54 Zur Stützung ihrer Argumentation macht die Klägerin geltend, dass der Beschluss 2011/278 dadurch, dass er keine Härtefallklausel vorsehe, ihre Berufsfreiheit, ihre unternehmerische Freiheit und ihr Eigentumsrecht, die in den Art. 15 bis 17 der Charta der Grundrechte geschützt seien, sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachte.
55 Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte niedergelegt sind, wobei die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind.
56 Nach Art. 15 Abs. 1 der Charta der Grundrechte hat jede Person das Recht, einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. Nach Art. 16 der Charta der Grundrechte wird die unternehmerische Freiheit nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt. Der durch Art. 16 gewährte Schutz umfasst die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb, wie aus den Erläuterungen zu diesem Artikel hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, Slg, EU:C:2013:28, Rn. 42).
57 Nach Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte hat jede Person das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist. Der durch diesen Artikel gewährte Schutz bezieht sich auf vermögenswerte Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht (Urteil Sky Österreich, EU:C:2013:28, Rn. 34).
58 Da der Beschluss 2011/278 keine Härtefallklausel enthält, musste die Kommission die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten an die Klägerin, die über die in diesem Beschluss vorgesehenen Zuteilungsregeln hinausging, ablehnen. Da eine derartige Klausel dazu bestimmt ist, unzumutbare Härten zu bewältigen, denen die fragliche Anlage begegnet und die deren Existenz bedrohen, begründet ihr Fehlen einen Eingriff in die Berufsfreiheit, die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht der Klägerin.
59 Nach ständiger Rechtsprechung wird jedoch die freie Berufsausübung ebenso wie das Eigentumsrecht nicht absolut gewährleistet; beide sind im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen. Die Ausübung dieser Freiheiten und das Eigentumsrecht können daher Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich den dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 14. Mai 1974, Nold/Kommission, 4/73, Slg, EU:C:1974:51, Rn. 14; vgl. auch Urteile vom 21. Februar 1991, Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest, C‑143/88 und C‑92/89, Slg, EU:C:1991:65, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 6. September 2012, Deutsches Weintor, C‑544/10, Slg, EU:C:2012:526, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Sky Österreich,EU:C:2013:28, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielen oder dem Erfordernis des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
60 Hinsichtlich der vorgenannten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele ergibt sich ebenfalls aus einer ständigen Rechtsprechung, dass der Schutz der Umwelt zu diesen Zielen gehört (vgl. Urteil vom 9. März 2010, ERG u. a., C‑379/08 und C‑380/08, Slg, EU:C:2010:127, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Dass der Beschluss 2011/278 keine Härtefallklausel enthält, berührt weder den Wesensgehalt der Berufsfreiheit und der unternehmerischen Freiheit noch den des Eigentumsrechts. Das Nichtvorhandensein einer derartigen Klausel hindert die Betreiber von Anlagen, die dem System für den Handel mit Emissionszertifikaten unterliegen, nämlich weder an der Ausübung einer beruflichen und unternehmerischen Tätigkeit als solcher noch entzieht sie ihnen ihr Eigentum. Die Lasten, die sich für die betroffenen Anlagen aus dem Nichtvorhandensein einer solchen Klausel ergeben, hängen mit der Verpflichtung zusammen, die fehlenden Zertifikate zu ersteigern, wie es die mit der Richtlinie 2009/29 eingeführte Regel vorsieht.
62 Bezüglich der Verhältnismäßigkeit des festgestellten Eingriffs ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehörende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, dass die Handlungen der Organe nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (vgl. Urteil vom 8. Juli 2010, Afton Chemical, C‑343/09, Slg, EU:C:2010:419, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Bei der gerichtlichen Nachprüfung der in der vorstehenden Rn. 62 genannten Voraussetzungen ist der Kommission ein weites Ermessen in einem Bereich wie dem in Rede stehenden zuzuerkennen, in dem von ihr politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt werden und in dem sie komplexe Beurteilungen und Bewertungen im Hinblick auf das allgemeine Ziel der Verringerung von Treibhausgasemissionen im Wege eines Systems für den Handel mit Emissionszertifikaten auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise (Art. 1 Abs. 1 und fünfter Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87) vorzunehmen hat. Eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme kann nur dann rechtswidrig sein, wenn sie zur Erreichung des von den zuständigen Organen verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2006, Deutschland/Parlament und Rat, C‑380/03, Slg, EU:C:2006:772, Rn. 145 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 7. März 2013, Polen/Kommission, T‑370/11, Slg, EU:T:2013:113, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Die Klägerin zieht die Geeignetheit des Beschlusses 2011/278 in Zweifel und macht geltend, dass dieser Beschluss offenkundig nicht verhältnismäßig im engeren Sinne sei.
65 Was zunächst die Geeignetheit des Beschlusses 2011/278 betrifft, macht die Klägerin geltend, dass das Fehlen einer Härtefallklausel dem Klimaschutz nicht zugutekomme. Zum einen steige, wenn sich eine Einzelfallzuteilung erhöhe, der sektorübergreifende Korrekturfaktor, der vorgesehen sei, um die Einhaltung der festgelegten Menge der unionsweit kostenlos zuzuteilenden Zertifikate in jedem Fall zu gewährleisten. Zum anderen wäre mit der Schließung ihrer Anlage kein absoluter Emissionsrückgang verbunden, da die Produktnachfrage nicht verschwinden, sondern von den außereuropäischen Konkurrenten befriedigt würde, die aber nicht weniger emittieren würden.
66 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es vor der Änderung der Richtlinie 2003/87 durch die Richtlinie 2009/29 erklärtes Hauptziel der Richtlinie 2003/87 war, die Treibhausgasemissionen erheblich zu verringern, um die Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten aus dem Kyoto-Protokoll einzuhalten, das mit der Entscheidung 2002/358/EG des Rates vom 25. April 2002 über die Genehmigung des Protokolls von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen im Namen der Europäischen Gemeinschaft sowie die gemeinsame Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtungen (ABl. L 130, S. 1) genehmigt wurde (Urteile vom 29. März 2012, Kommission/Polen, C‑504/09 P, Slg, EU:C:2012:178, Rn. 77, und Kommission/Estland, C‑505/09 P, Slg, EU:C:2012:179, Rn. 79). Nach dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 verpflichtete das Kyoto-Protokoll die Union und ihre Mitgliedstaaten, ihre gemeinsamen anthropogenen Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2008 bis 2012 gegenüber dem Stand von 1990 um 8 % zu senken (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 67).
67 Aus Art. 1 Abs. 2 und dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 geht hervor, dass diese Richtlinie seit ihrer Änderung durch die Richtlinie 2009/29 eine stärkere Reduzierung von Treibhausgasemissionen vorschreibt, um die Verringerungsraten zu erreichen, die aus wissenschaftlicher Sicht zur Vermeidung gefährlicher Klimaänderungen erforderlich sind. Wie diesen Bestimmungen sowie den Erwägungsgründen 3, 5, 6 und 13 der Richtlinie 2009/29 zu entnehmen ist, besteht das Hauptziel der Richtlinie 2003/87 seit ihrer Änderung durch die Richtlinie 2009/29 darin, bis 2020 die gesamten Treibhausgasemissionen der Union gegenüber dem Stand von 1990 um mindestens 20 % zu senken (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 68).
68 Dieses Ziel soll unter Einhaltung einer Reihe von Unterzielen und durch Einsatz bestimmter Instrumente erreicht werden. Wie sich aus Art. 1 Abs. 1 und dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 ergibt, ist hierfür das System für den Handel mit Treibhausgasemissionsrechten das Hauptinstrument. Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie wirkt dieses System auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung von Treibhausgasemissionen hin. Bei den weiteren Unterzielen, die mit diesem System erreicht werden sollen, handelt es sich nach den Erwägungsgründen 5 und 7 der Richtlinie u. a. um den Schutz der wirtschaftlichen Entwicklung, der Beschäftigungslage, der Integrität des Binnenmarkts und der Wettbewerbsbedingungen (Urteile Kommission/Polen, EU:C:2012:178, Rn. 77, Kommission/Estland, EU:C:2012:179, Rn. 79, und Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 69).
69 Was erstens das Hauptziel der Richtlinie 2003/87, nämlich die Verringerung der Treibhausgasemissionen in der Union, anbelangt, lässt sich nicht argumentieren, dass die im Beschluss 2011/278 enthaltenen Zuteilungsregeln ohne eine Härtefallklausel zur Erreichung dieses Ziels offensichtlich ungeeignet seien. Die im Beschluss 2011/278 vorgesehenen Berechnungsregeln für die Zuteilung von Emissionszertifikaten auf der Basis der Produkt-Benchmark, der Wärme-Benchmark, der Brennstoff-Benchmark und der Prozessemissionen bezwecken eine Verringerung der kostenlos zuzuteilenden Zertifikate für die dritte Handelsperiode, d. h. den Zeitraum ab 2013, gegenüber der zweiten Handelsperiode, d. h. dem Zeitraum 2008 bis 2012. Diese Maßnahmen gehören zu den in Art. 10a der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Übergangsvorschriften für die kostenlose Erteilung von Zertifikaten und sollen, wie sich aus Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Vorschrift ergibt, gewährleisten, dass die Modalitäten für die Zuteilung der Zertifikate Anreize für die Reduzierung von Treibhausgasemissionen und für energieeffiziente Techniken schaffen und keine Anreize für eine Erhöhung der Emissionen bieten.
70 Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die in Art. 10a Abs. 5 der Richtlinie 2003/87 genannte Jahreshöchstmenge kostenloser Zertifikate wegen der notwendigen Anwendung des einheitlichen sektorübergreifenden Korrekturfaktors, die zu einer einheitlichen Verringerung der ursprünglichen Mengen kostenloser Zertifikate in allen betroffenen Sektoren und Teilsektoren führe, nicht erhöht würde, wenn die kostenlose Zuteilung zusätzlicher Zertifikate aufgrund einer Härtefallklausel genehmigt würde. Wie die Kommission vorträgt, könnten nämlich Anlagenbetreiber bei Bestehen einer Härtefallregelung weniger Anreize haben, ihre Treibhausgasemissionen durch ökonomische oder technische Anpassungsmaßnahmen zu reduzieren, da sie in Härtefällen die Zuteilung zusätzlicher kostenloser Zertifikate beantragen könnten.
71 Zum Argument der Klägerin, wonach die Schließung ihrer Anlage nicht zu einem absoluten Emissionsrückgang führen würde, da die Produktnachfrage nicht verschwände und von Wettbewerbern außerhalb der Union erfüllt würde, die nicht weniger Emissionen ausstießen, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Hauptzweck der Richtlinie 2003/87 darin besteht, die Treibhausgasemissionen in der Union zu verringern. Zum anderen ist es allgemeinen Zuteilungsregeln eigen, dass sie auf einige Anlagen größere Auswirkungen haben als auf andere (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 85). Außerdem enthält Art. 10a Abs. 12 der Richtlinie 2003/87 eine Sonderregel für die Zuteilung kostenloser Zertifikate an Anlagen in Sektoren bzw. Teilsektoren, in denen ein erhebliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht, d. h. ein Risiko, dass die Tätigkeiten von in der Union ansässigen Unternehmen in Sektoren, die einem starken internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, in Drittländer verlagert werden, in denen die Anforderungen auf dem Gebiet der Treibhausgasemissionen geringer sind. Diese Sonderregel verringert das Risiko einer bloßen Verlagerung der Emissionen.
72 Was zweitens die Unterziele der Richtlinie 2003/87, nämlich den Schutz der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigungslage, betrifft, hat das Gericht zwar bereits entschieden, dass das Ziel, die Treibhausgase gemäß den Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten im Rahmen des Kyoto-Protokolls zu verringern, weitestgehend unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der europäischen Wirtschaft verwirklicht werden muss (Urteil vom 23. November 2005, Vereinigtes Königreich/Kommission, T‑178/05, Slg, EU:T:2005:412, Rn. 60). Es ist jedoch zu beachten, dass die Zuteilung von Emissionszertifikaten, wie es im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29 heißt, von der dritten Handelsperiode an nach dem in Art. 10 der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Grundprinzip der Versteigerung erfolgen sollte (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 72). Da zu diesem Grundsatz Ausnahmen vorgesehen sind, um etwaige nachteilige Auswirkungen des Systems für den Handel mit Zertifikaten auf diese Unterziele abzumildern, nämlich die in Art. 10a der Richtlinie 2003/87 vorgesehenen Übergangsvorschriften, nach denen Zertifikate während eines Übergangszeitraums kostenlos zugeteilt werden können, die in Abs. 6 dieses Artikels vorgesehene Möglichkeit finanzieller Maßnahmen und die in Abs. 12 dieses Artikels vorgesehenen Sonderregeln für Sektoren, in denen ein erhebliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht, kann nicht argumentiert werden, dass die im Beschluss 2011/278 vorgesehenen Zuteilungsregeln gemessen an diesen Unterzielen offensichtlich ungeeignet seien.
73 Infolgedessen hat die Klägerin nichts dafür vorgetragen, dass der Beschluss 2011/278 wegen des Nichtvorhandenseins einer Härtefallklausel zur Erreichung der angestrebten Ziele offensichtlich ungeeignet ist.
74 Was sodann die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne des Beschlusses 2011/278 angeht, soweit dieser keine Härtefallklausel enthält, ist darauf hinzuweisen, dass der Beschluss 2011/278, selbst wenn er zur Erreichung legitimer Ziele geeignet und erforderlich ist, keine Nachteile verursachen darf, die außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 89).
75 Daher ist zu prüfen, ob dadurch, dass der Beschluss 2011/278 keine Härtefallklausel enthält, Anlagenbetreibern, die dem System für den Handel mit Emissionszertifikaten unterliegen, Nachteile entstehen können, die außer Verhältnis zu den mit der Einführung dieses Systems angestrebten Zielen stehen, so dass dieser Beschluss offensichtlich unverhältnismäßig im engeren Sinne wäre.
76 Hierzu ist festzustellen, dass die Kommission beim Erlass unionsweiter und vollständig harmonisierter Durchführungsmaßnahmen für die harmonisierte Zuteilung kostenloser Zertifikate nach Art. 10a Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/87 einerseits die Grundrechte der Anlagenbetreiber, die dem System für den Handel mit Emissionszertifikaten unterliegen, und andererseits den Schutz der Umwelt, der in Art. 37 der Charta der Grundrechte, Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV sowie den Art. 11 AEUV und 191 AEUV vorgesehen ist, gegeneinander abwägen musste.
77 Sind mehrere grundrechtlich geschützte Rechte und Freiheiten im Spiel, die unter dem Schutz der Unionsrechtsordnung stehen, ist bei der Beurteilung der möglichen Unverhältnismäßigkeit einer unionsrechtlichen Bestimmung darauf zu achten, dass die Erfordernisse des Schutzes dieser verschiedenen Rechte und Freiheiten miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht (vgl. Urteil Sky Österreich, EU:C:2013:28, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 12. Juni 2003, Schmidberger, C‑112/00, Slg, EU:C:2003:333, Rn. 77 und 81).
78 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe den Klimaschutz und ihren wirtschaftlichen Ruin nicht richtig gegeneinander abgewogen und bewertet. Die Kommission meine, die Insolvenz der Klägerin sei ein positiver Schritt in Richtung „mehr Klimaschutz“. Dabei übersehe sie, dass hier wegen des Risikos der Verlagerung von Emissionen außerhalb der Union kein Klimaschutzvorteil eintrete. Außerdem habe die Kommission die erheblichen Folgen verkannt, die eine Einstellung des Betriebs für die Klägerin, ihre Mitarbeiter und ihre Kunden hätte. Sie habe unzutreffend angenommen, dass der Klimaschutz die Erhaltung einer großen Zahl von Arbeitsplätzen überwiege.
79 Es ist festzustellen, dass die Klägerin nichts dafür vorgetragen hat, dass der Beschluss 2011/278 ohne eine Härtefallklausel unverhältnismäßig im engeren Sinne ist.
80 Erstens ist zwar entgegen dem Vorbringen der Kommission die Einführung einer Härtefallklausel nicht unvereinbar mit den Zielen der Richtlinie 2003/87, da das Hauptziel der Verringerung der Treibhausgasemissionen in der Union unter Beachtung einer Reihe von Unterzielen und unter Rückgriff auf bestimmte Instrumente erreicht werden muss (vgl. Rn. 68 des vorliegenden Urteils). Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt, dass das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung dieser Emissionen hinwirkt. Eines der weiteren Unterziele, die dieses System erfüllen muss, ist, wie im fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausgeführt, der Schutz der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigungslage. Die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage einer Härtefallklausel würde gerade dazu dienen, solche Härtefälle für die fraglichen Anlagen abzuwenden, und würde so den Schutz der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigungslage fördern.
81 Die Einführung einer derartigen Klausel ist jedoch schwer mit dem Verursacherprinzip zu vereinbaren, das für den Umweltbereich in Art. 191 Abs. 2 AEUV verankert ist. Gemäß diesem Prinzip wurde mit dem System für den Handel mit Emissionszertifikaten nämlich bezweckt, einen Preis für Treibhausgasemissionen festzulegen und den Wirtschaftsteilnehmern die Wahl zwischen der Zahlung dieses Preises oder der Verringerung ihrer Emissionen zu überlassen (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 90). Mit dem Verursacherprinzip wird somit im Wesentlichen bezweckt, jede betroffene Anlage individuell zur Verantwortung zu ziehen. Die Einführung einer Härtefallklausel hätte aber zur Folge, dass bestimmten Anlagen zusätzliche kostenlose Zertifikate zugeteilt würden und dass die kostenlosen Zertifikate für die Anlagen in allen betroffenen Sektoren und Teilsektoren wegen der notwendigen Anwendung des einheitlichen sektorübergreifenden Korrekturfaktors einheitlich um diese Menge verringert würden, da die in Art. 10a Abs. 5 der Richtlinie 2003/87 genannte jährliche Höchstmenge an Zertifikaten nicht erhöht werden kann. Die Erhöhung der Mengen der den betreffenden Anlagen kostenlos zuzuteilenden Zertifikate in Anwendung einer Härtefallklausel könnte somit zu einer Verringerung der kostenlosen Zertifikate für andere Anlagen führen (vgl. in diesem Sinne Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 83). Dies wäre denkbar, wenn der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß dem System für den Handel mit Zertifikaten das Solidaritätsprinzip zugrunde läge, wie dies bei dem Quotensystem der Fall war, das auf der Grundlage von Art. 58 KS angesichts einer offensichtlichen Krise der Eisen- und Stahlindustrie eingeführt wurde, um die zwangsläufigen Folgen der Anpassung der Erzeugung an die verringerten Absatzmöglichkeiten gerecht auf die gesamte Eisen- und Stahlindustrie zu verteilen (Urteil vom 29. September 1987, Fabrique de fer de Charleroi und Dillinger Hüttenwerke/Kommission, 351/85 und 360/85, Slg, EU:C:1987:392, Rn. 13 bis 16). Die Einführung eines Systems für den Handel mit Emissionszertifikaten fällt jedoch in den Umweltbereich, in dem das Verursacherprinzip gilt.
82 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die mit der Richtlinie 2009/29 für den Handelszeitraum ab 2013 eingeführten Regeln die Methoden für die Zuteilung der Zertifikate stark verändert haben, um in Anbetracht der aus dem ersten und dem zweiten Handelszeitraum, nämlich 2005 bis 2007 und 2008 bis 2012, gewonnenen Erfahrung ein stärker harmonisiertes Emissionshandelssystem zu schaffen, damit die Vorteile des Emissionshandels besser genutzt, Verzerrungen auf dem Binnenmarkt vermieden und die Verknüpfung mit anderen Emissionshandelssystemen erleichtert werden können, wie es im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29 heißt (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 53). Außerdem geht aus Art. 1 Abs. 2 und dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 hervor, dass die Richtlinie seit ihrer Änderung durch die Richtlinie 2009/29 eine stärkere Reduzierung von Treibhausgasemissionen vorschreibt, um die Verringerungsraten zu erreichen, die aus wissenschaftlicher Sicht zur Vermeidung gefährlicher Klimaänderungen erforderlich sind (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 68). Für den dritten Handelszeitraum bestimmt Art. 9 der Richtlinie 2003/87, dass die unionsweite Menge an Zertifikaten, die ab 2013 jährlich vergeben wird, von der Mitte des Zeitraums von 2008 bis 2012 an linear verringert wird. Nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 und dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29 sollte die Zuteilung der Zertifikate ab 2013 nach dem Grundprinzip der Versteigerung erfolgen. Nach Art. 10a Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 erfolgt grundsätzlich keine kostenlose Zuteilung mehr von Zertifikaten für Stromerzeuger. Gemäß Art. 10a Abs. 11 Satz 2 der Richtlinie 2003/87 wird die kostenlose Zuteilung nach 2013 Jahr für Jahr in gleicher Höhe bis 2020 auf 30 % reduziert, so dass im Jahr 2027 keine kostenlose Zuteilung erfolgt.
83 Um die Folgen dieses Systems für den Handel mit Zertifikaten für die betroffenen Sektoren und Teilsektoren abzumildern, hat der Unionsgesetzgeber in Art. 10a der Richtlinie 2003/87 Übergangsvorschriften vorgesehen, die, wie sich aus dem 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29 ergibt, mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte anerkannt wurden, im Einklang stehen. So hat er eine Übergangsregelung eingeführt, die für die kostenlose Erteilung von Zertifikaten in anderen Sektoren als dem der Stromerzeugung gilt, für den nach Art. 10a Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 keine kostenlose Zuteilung erfolgt. Nach dem 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29 hat dieser Sektor nach Auffassung des Gesetzgebers die Möglichkeit, die CO2-Kostensteigerung abzuwälzen.
84 Darüber hinaus hat der Gesetzgeber Sonderregeln für bestimmte Sektoren geschaffen, um, wie sich aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 ergibt, die wirtschaftliche Entwicklung und die Beschäftigungslage möglichst wenig zu beeinträchtigen.
85 Zum einen können die Mitgliedstaaten nach Art. 10a Abs. 6 der Richtlinie 2003/87 zugunsten der Sektoren bzw. Teilsektoren, für die ein erhebliches Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen durch auf den Strompreis übergewälzte Kosten der Treibhausgasemissionen ermittelt wurde, finanzielle Maßnahmen einführen, um diese Kosten auszugleichen, sofern dies mit den geltenden und künftigen Regeln für staatliche Beihilfen vereinbar ist. Hierzu hat die Kommission die Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten nach 2012 (ABl. 2012, C 158, S. 4) erlassen. Auch hat sie bereits staatliche Beihilfen an deutsche Unternehmen genehmigt, die einem erheblichen Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen durch auf den Strompreis übergewälzte Kosten der Treibhausgasemissionen ausgesetzt waren (ABl. 2013, C 353, S. 2).
86 Zum anderen hat der Gesetzgeber in Art. 10a Abs. 12 der Richtlinie 2003/87 eine Sonderregel für die Zuteilung kostenloser Zertifikate in Sektoren bzw. Teilsektoren vorgesehen, in denen ein erhebliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht. Nach dieser Regel sollten den betroffenen Anlagen im Jahr 2013 und in jedem der Folgejahre bis 2020 Zertifikate in Höhe von 100 % der Menge, die gemäß den in Art. 10a Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 genannten Maßnahmen festgelegt wurde, kostenlos zugeteilt werden. Diese Bestimmung wurde nach dem 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29 eingeführt, um wirtschaftliche Benachteiligungen bestimmter energieintensiver Sektoren und Teilsektoren in der Union zu vermeiden, die im internationalen Wettbewerb stehen, der nicht an vergleichbare CO2-Auflagen gebunden ist.
87 Zudem bestimmen nach Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 die Mitgliedstaaten die Verwendung der Einnahmen aus der Versteigerung der Zertifikate. Hierbei haben sie mindestens 50 % der Einnahmen aus der Versteigerung von Zertifikaten für in dieser Vorschrift genannte Zwecke zu nutzen, zu denen insbesondere nach Abs. 3 Buchst. a und g die Reduzierung von Treibhausgasemissionen und die Finanzierung der Erforschung und Entwicklung energieeffizienter und sauberer Technologien in den unter die Richtlinie 2003/87 fallenden Sektoren gehören.
88 Da das nach der Richtlinie 2003/87 vorgesehene Grundprinzip der Versteigerung von Emissionszertifikaten von der Klägerin nicht in Frage gestellt wird, besteht somit der Nachteil, der Anlagenbetreibern, die dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten unterliegen, aus dem Nichtvorhandensein einer Härtefallklausel entstehen kann, darin, dass sie während des Übergangszeitraums nur gemäß den Vorschriften des Beschlusses 2011/278 kostenlose Zertifikate erhalten können und nicht zusätzlich aufgrund einer derartigen Klausel.
89 Es ergibt sich daher nicht, dass der Beschluss 2011/278 offensichtlich unverhältnismäßig im engeren Sinne wäre, weil er nicht zusätzlich eine Härtefallklausel für Einzelfälle vorsieht. Die Klägerin hat nichts dafür vorgetragen, dass durch die Anwendung der im Beschluss 2011/278 vorgesehenen Zuteilungsregeln typischerweise die Existenz der Anlagenbetreiber, die dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten unterliegen, über das marktwirtschaftliche Risiko hinaus bedroht ist. Aus dem Umstand, dass dieser Beschluss keine Klausel zur Vermeidung von Situationen vorsieht, in denen die Existenz eines Unternehmens aufgrund wirtschaftlicher und finanzieller Schwierigkeiten gefährdet ist, die sich aus der individuellen Führung des Unternehmens ergeben, lässt sich nicht darauf schließen, dass der Beschluss im engeren Sinne offensichtlich unverhältnismäßig ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unter Beachtung der Art. 107 AEUV und 108 AEUV staatliche Beihilfemaßnahmen in Erwägung ziehen können.
90 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten der Klägerin nach ihren eigenen Angaben im Wesentlichen darauf beruhen, dass sich die Kommission zu Unrecht geweigert habe, im Beschluss 2011/278 eine eigene Produktbenchmark für Montanwachs zu bestimmen, deren einzige Herstellerin in Europa die Klägerin ist. Wäre eine solche Produktbenchmark festgelegt worden, hätten es die im Beschluss 2011/278 vorgesehenen Zuteilungsregeln der Klägerin ihrer Meinung nach ermöglicht, genügend kostenlose Zertifikate zu erhalten. Die diesen Schwierigkeiten zugrunde liegenden Umstände, die die Festlegung einer Produktbenchmark für ein spezifisches Produkt durch die Kommission betreffen, lassen aber nicht die Annahme zu, dass Anlagen durch die Anwendung der im Beschluss 2011/278 vorgesehenen Zuteilungsregeln typischerweise in ihrer Existenz bedroht sind, zumal die Klägerin im Rahmen der vorliegenden Klage keinen Klagegrund geltend gemacht hat, der sich darauf stützt, dass in diesem Beschluss keine Produktbenchmark für Montanwachs festgelegt wurde, wie sich auch aus der mündlichen Verhandlung ergibt.
91 Insbesondere ergibt sich aus den von der Klägerin vorgetragenen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nicht, dass die Bestimmungen des Art. 10a Abs. 12 der Richtlinie 2003/87 nicht geeignet sind, in bestimmten Fällen wirtschaftliche Schwierigkeiten von Anlagen abzuwenden, die zu einem Sektor gehören, in dem ein erhebliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen im Sinne des Beschlusses 2010/2/EU der Kommission vom 24. Dezember 2009 zur Festlegung eines Verzeichnisses der Sektoren und Teilsektoren, von denen angenommen wird, dass sie einem erheblichen Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen ausgesetzt sind, gemäß der Richtlinie 2003/87 (ABl. 2010, L 1, S. 10) in der zuletzt durch den Beschluss 2014/9/EU der Kommission vom 18. Dezember 2013 (ABl. 2014, L 9, S. 9) geänderten Fassung besteht. Insoweit ist festzustellen, dass die Klägerin nach Nr. 1.2 des Anhangs des Beschlusses 2010/2 einem solchen Sektor angehört. Sie gehört nämlich zum Sektor „Mineralölverarbeitung“, der unter den Code 2320 der Statistischen Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft (NACE) fällt. Die Klägerin genießt somit bereits eine Sonderbehandlung, da sie im Jahr 2013 kostenlose Zertifikate in Höhe von 100 % der nach dem Beschluss 2011/278 festgelegten Menge erhalten hat und in jedem der Folgejahre bis 2020 erhalten wird, und nicht nur 80 % mit einer Reduzierung Jahr für Jahr in gleicher Höhe auf 30 % bis 2020, wie es nach der allgemeinen Regelung des Art. 10a Abs. 11 der Richtlinie 2003/87 vorgesehen ist.
92 Nach der Rechtsprechung hängt der letztlich eintretende Vorteil für die Umwelt davon ab, wie streng die Gesamtmenge der zugeteilten Zertifikate festgesetzt wird, die die Obergrenze der nach dem System für den Handel mit Zertifikaten zulässigen Emissionen bildet (Urteil Billerud Karlsborg und Billerud Skärblacka, EU:C:2013:664, Rn. 26). Wie die Kommission vorträgt, hätten Anlagenbetreiber bei Bestehen einer Härtefallregelung weniger Anreize, ihre Emissionen durch ökonomische oder technische Anpassungsmaßnahmen zu reduzieren, da sie in einem Härtefall immer zusätzliche kostenlose Zertifikate beantragen könnten.
93 Darüber hinaus ist bereits entschieden worden, dass die Organe bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse zwar darüber zu wachen haben, dass die den Wirtschaftsteilnehmern auferlegten Belastungen nicht über das hinausgehen, was zur Verwirklichung der Ziele, die die Behörde erreichen muss, erforderlich ist. Doch folgt daraus nicht, dass diese Verpflichtung an den besonderen Verhältnissen eines bestimmten Wirtschaftskreises zu messen ist. Eine solche Abwägung wäre angesichts der Vielfalt und Komplexität der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht nur undurchführbar, sondern würde darüber hinaus eine ständige Quelle der Rechtsunsicherheit darstellen (Urteile vom 24. Oktober 1973, Balkan-Import-Export, 5/73, Slg, EU:C:1973:109, Rn. 22, und vom 15. Dezember 1994, Unifruit Hellas/Kommission, T‑489/93, Slg, EU:T:1994:297, Rn. 74). Zudem ist entschieden worden, dass die mit Beschränkungsmaßnahmen der Union angestrebte Sanierung eines Marktes die Kommission nicht verpflichtet, jedem einzelnen Unternehmen eine Mindestproduktion zu gewährleisten, die sich nach dessen eigenen Rentabilitäts- und Entwicklungskriterien bemisst (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juli 1982, Klöckner-Werke/Kommission, 119/81, Slg, EU:C:1982:259, Rn. 13, und vom 30. November 1983, Ferriere San Carlo/Kommission, 235/82, Slg, EU:C:1983:356, Rn. 18).
94 Daher sind das Hilfsvorbringen der Klägerin und damit der erste und der dritte Klagegrund zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verletzung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und des Subsidiaritätsprinzips
95 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe dadurch, dass sie die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten auf der Grundlage der in § 9 Abs. 5 TEHG vorgesehenen Härtefallklausel abgelehnt habe, die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten verletzt. Die Mitgliedstaaten seien zuständig für alle Zuteilungsregeln, die neben den von der Kommission im Beschluss 2011/278 festgelegten Zuteilungsmethoden griffen. Die Richtlinie 2003/87 sehe nicht vor, dass die Union für die Zuteilungsregeln ausschließlich zuständig sei. Die Kommission habe damit auch gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen.
96 Als Erstes macht die Klägerin im Rahmen der Argumentation, wonach die Mitgliedstaaten für alle Zuteilungsregeln zuständig seien, die neben den von der Kommission im Beschluss 2011/278 festgelegten Zuteilungsmethoden griffen, geltend, dass Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 zeige, dass es außer den von der Kommission festgelegten Zuteilungsmethoden weitere Zuteilungsregeln geben könne. Andernfalls ergäbe die Ablehnungsbefugnis in dieser Vorschrift keinen Sinn. Für den Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 blieben nur Fälle übrig, in denen es nicht um einzelne Zuteilungen und deren Berechnung, sondern um generalisierte Zuteilungsregeln gehe, weil die Befugnis der Kommission zur Kontrolle der einzelnen Zuteilungen von Zertifikaten durch die Mitgliedstaaten schon in Art. 51 der Verordnung (EU) Nr. 389/2013 der Kommission vom 2. Mai 2013 zur Festlegung eines Unionsregisters gemäß der Richtlinie 2003/87 und den Entscheidungen Nr. 280/2004/EG und Nr. 406/2009/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 920/2010 und (EU) Nr. 1193/2011 der Kommission (ABl. L 122, S. 1) geregelt sei.
97 Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 betrifft nämlich einzelne Zuteilungen, da diese Bestimmung in Verbindung mit Abs. 1 dieses Artikels u. a. vorsieht, dass die Kommission prüft, ob die Verzeichnisse der Anlagen und der den einzelnen Anlagen kostenlos zugeteilten Zertifikate mit den Bestimmungen des Art. 10a der Richtlinie 2003/87 im Einklang stehen.
98 Was das Argument bezüglich der Verordnung Nr. 389/2013 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung eine Durchführungsverordnung ist, die auf Art. 19 der Richtlinie 2003/87 beruht und daher keine Abweichung von den Bestimmungen des Art. 11 Abs. 3 dieser Richtlinie begründen kann. Im Übrigen betrifft die Verordnung Nr. 389/2013 nach ihrem Art. 1 nur Funktions- und Wartungsvorschriften für das in Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87 vorgesehene unabhängige Transaktionsprotokoll und die in Art. 6 der Entscheidung Nr. 280/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über ein System zur Überwachung der Treibhausgasemissionen in der Gemeinschaft und zur Umsetzung des Kyoto-Protokolls (ABl. L 49, S. 1) vorgesehenen Register sowie die Kommunikation mit diesem Register.
99 Die Klägerin macht zudem geltend, aus der systematischen Gesamtschau der durch den Beschluss 2011/278 vorgesehenen Regelung für die Zuteilung von Zertifikaten ergebe sich, dass die Bundesrepublik Deutschland, da die Zuteilungsmethoden nur den Regelfall abdeckten und keine Ausnahmeregelung für atypische Konstellationen vorsähen, diese Lücke durch § 9 Abs. 5 TEHG habe schließen dürfen. Zwar seien die Mitgliedstaaten nicht zuständig für die Regelung der Fälle, die der Beschluss 2011/278 vorsehe, sie seien jedoch zuständig für alle Zuteilungsregeln, die neben den von der Kommission festgelegten Zuteilungsmethoden griffen.
100 Diese Argumentation ist ebenfalls zurückzuweisen.
101 Erstens sieht Art. 10a der Richtlinie 2003/87 Übergangsregeln für die kostenlose Erteilung von Zertifikaten vor. Nach Art. 10a Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie erlässt die Kommission unionsweite und vollständig harmonisierte Durchführungsmaßnahmen für die Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten. Dies hat die Kommission getan, indem sie den Beschluss 2011/278 erlassen hat, der nach seinem Art. 1 unionsweite Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß der Richtlinie 2003/87 ab dem Jahr 2013 festlegt. Art. 10 des Beschlusses 2011/278 enthält die Berechnungsmethoden für die Zuteilung dieser Zertifikate an die Anlagen (vgl. Rn. 44 des vorliegenden Urteils). Wie die Kommission vorträgt, impliziert eine solche unionsweite und vollständige Harmonisierung, dass die im Beschluss 2011/278 niedergelegten Zuteilungsregeln abschließend sind und jede Zuteilung kostenloser Zertifikate nach nationalen Vorschriften zwingend ausschließen.
102 Zweitens läuft die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten aufgrund einer nationalen Vorschrift, die über die im Beschluss 2011/278 festgelegten Regeln hinausgeht, dem Ziel des Unionsgesetzgebers zuwider, der, wie bereits festgestellt (vgl. Rn. 82 des vorliegenden Urteils), ein stärker harmonisiertes Emissionshandelssystem schaffen wollte, um die Vorteile des Emissionshandels besser zu nutzen, Verzerrungen auf dem Binnenmarkt zu vermeiden und die Verknüpfung mit anderen Emissionshandelssystemen zu erleichtern (Urteil Polen/Kommission, EU:T:2013:113, Rn. 41).
103 Drittens kann nicht argumentiert werden, dass die im Beschluss 2011/278 vorgesehenen Zuteilungsregeln nur den Regelfall erfassten und atypische Konstellationen durch das nationale Recht geregelt werden könnten. Nach Art. 10a Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/87 hatte die Kommission nämlich unionsweite und vollständig harmonisierte Durchführungsmaßnahmen für die Zuteilung kostenlos zuzuteilender Zertifikate zu erlassen. Da es derartigen allgemeinen Zuteilungsregeln eigen ist, dass sie auf einige Anlagen größere Auswirkungen haben als auf andere (vgl. Rn. 71 des vorliegenden Urteils), erfassen diese Regeln alle Fallkonstellationen, auch die atypischen. Eine Abweichung von den harmonisierten Vorschriften der Union kann nicht einseitig durch einen Mitgliedstaat gewährt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Mai 1996, Faroe Seafood u. a., C‑153/94 und C‑204/94, Slg, EU:C:1996:198, Rn. 56).
104 Im Übrigen sieht § 9 Abs. 5 TEHG nicht vor, dass die Bundesrepublik Deutschland dafür zuständig wäre, Betreibern von Anlagen im Fall unzumutbarer Härten kostenlos Zertifikate zuzuteilen. Eine derartige Zuteilung ist nämlich nach dieser Bestimmung nur möglich, soweit die Kommission sie nicht ablehnt.
105 Was als Zweites die Argumentation der Klägerin betrifft, wonach die Kommission gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen habe, als sie es abgelehnt habe, Zertifikate auf der Grundlage der in § 9 Abs. 5 TEHG vorgesehenen Härtefallklausel kostenlos zuzuweisen, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 5 Abs. 3 EUV die Union nach dem Subsidiaritätsprinzip in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.
106 Im vorliegenden Fall ist diese Argumentation zurückzuweisen. Die im Beschluss 2011/278 auf der Grundlage von Art. 10a Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/87 niedergelegten Übergangsvorschriften zur kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten sind nämlich abschließend und schließen jede Zuteilung kostenloser Zertifikate nach nationalen Vorschriften zwingend aus (vgl. Rn. 101 des vorliegenden Urteils). Außerdem hat die Klägerin nicht bestritten, dass das mit der Richtlinie 2003/87 eingeführte System für den Handel mit Emissionszertifikaten von den jeder für sich handelnden Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden konnte und dass die Einführung dieses Systems wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen war. Zudem ergibt sich aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/29, dass eine Überprüfung im Jahr 2007 unter Berücksichtigung der in den ersten beiden Handelszeiträumen erzielten Erfahrung bestätigt hat, dass ein stärker harmonisiertes Emissionshandelssystem unerlässlich ist, wenn die Vorteile des Emissionshandels besser genutzt, Verzerrungen auf dem Binnenmarkt vermieden und die Verknüpfung mit anderen Emissionshandelssystemen erleichtert werden sollen.
107 Folglich ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
108 Nach alledem ist die Klage abzuweisen.
Kosten
109 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten des Verfahrens in der Hauptsache und des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Romonta GmbH trägt die Kosten des Verfahrens in der Hauptsache und des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
Dittrich
Schwarcz
Tomljenović
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. September 2014.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 17. September 2014.#Cruz & Companhia Lda gegen Instituto de Financiamento da Agricultura e Pescas IP (IFAP).#Vorabentscheidungsersuchen des Supremo Tribunal Administrativo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 – Art. 3 – Verfolgung von Unregelmäßigkeiten – Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) – Wiedereinziehung rechtswidrig erhaltener Ausfuhrerstattungen – Verjährungsfrist – Anwendung einer längeren nationalen Verjährungsfrist – Verjährungsfrist nach allgemeinem Recht – Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen.#Rechtssache C‑341/13.
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62013CJ0341
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ECLI:EU:C:2014:2230
| 2014-09-17T00:00:00 |
Mengozzi, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0341
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
17. September 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Schutz der finanziellen Interessen der Union — Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 — Art. 3 — Verfolgung von Unregelmäßigkeiten — Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) — Wiedereinziehung rechtswidrig erhaltener Ausfuhrerstattungen — Verjährungsfrist — Anwendung einer längeren nationalen Verjährungsfrist — Verjährungsfrist nach allgemeinem Recht — Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen“
In der Rechtssache C‑341/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Portugal) mit Entscheidung vom 17. April 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 2013, in dem Verfahren
Cruz & Companhia Lda
gegen
Instituto de Financiamento da Agricultura e Pescas IP (IFAP)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Cruz & Companhia Lda, vertreten durch P. Sousa Machado und F. Duarte Geada, advogados,
—
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und M. Moreno als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou und P. Guerra e Andrade als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 bis 5 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Cruz & Companhia Lda (im Folgenden: Cruz & Companhia) und dem Instituto de Financiamento da Agricultura e Pescas IP (Institut für die Finanzierung der Landwirtschaft und der Fischerei, im Folgenden: IFAP) über die Vollstreckung einer Fiskalschuld betreffend die Einziehung von Ausfuhrerstattungen für Wein, die von Cruz & Companhia im Wirtschaftsjahr 1995 zu Unrecht bezogen wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 2988/95
3 Der dritte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:
„Die Einzelheiten dieser dezentralen Verwaltung und der Kontrollsysteme werden in ausführlichen Vorschriften geregelt, die sich je nach Bereich der Gemeinschaftspolitik unterscheiden. Es ist jedoch wichtig, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Union] zu bekämpfen.»
4 Im fünften Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt es, dass „[d]ie Verhaltensweisen, die Unregelmäßigkeiten darstellen, sowie die verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und die entsprechenden Sanktionen … im Einklang mit dieser Verordnung in sektorbezogenen Regelungen vorgesehen [sind]“.
5 Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:
„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der [Union] wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das [Unions]recht getroffen.
(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine [Unions]bestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Union] oder die Haushalte, die von [der Union] verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der [Union] erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“
6 Art. 3 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2988/95 sieht vor:
„(1) Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.
…
Die Verfolgungsverjährung wird durch jede der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung der zuständigen Behörde unterbrochen. Nach jeder eine Unterbrechung bewirkenden Handlung beginnt die Verjährungsfrist von neuem.
…
(3) Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, eine längere Frist als die in Absatz 1 … vorgesehene Frist anzuwenden.“
7 Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:
„(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils
—
durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;
…
(2) Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können.
…
(4) Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“
8 Art. 5 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen:
a)
Zahlung einer Geldbuße;
b)
Zahlung eines Betrags, der den rechtswidrig erhaltenen oder hinterzogenen Betrag, gegebenenfalls zuzüglich der Zinsen, übersteigt …;
c)
vollständiger oder teilweiser Entzug eines nach Gemeinschaftsrecht gewährten Vorteils auch dann, wenn der Wirtschaftsteilnehmer nur einen Teil dieses Vorteils rechtswidrig erlangt hat;
…
g)
weitere ausschließlich wirtschaftliche Sanktionen gleichwertiger Art und Tragweite, wie sie in der vom Rat nach Maßgabe der sektorrelevanten Erfordernisse erlassenen sektorbezogenen Regelungen vorgesehen sind, unter Einhaltung der der Kommission vom Rat übertragenen Durchführungsbefugnisse.
(2) Unbeschadet der Bestimmungen der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung bestehenden sektorbezogenen Regelungen können bei sonstigen Unregelmäßigkeiten nur die in Absatz 1 aufgeführten Sanktionen, die nicht einer strafrechtlichen Sanktion gleichgestellt werden können, verhängt werden, sofern derartige Sanktionen für die korrekte Anwendung der Regelung unerlässlich sind.“
9 Die Verordnung Nr. 2988/95 trat gemäß ihrem Art. 11 am 26. Dezember 1995 in Kraft.
Verordnung (EWG) Nr. 729/70
10 Art. 1 Abs. 1 der durch die Verordnung (EG) Nr. 1287/95 des Rates vom 22. Mai 1995 (ABl. L 125, S. 1) geänderten Verordnung (EWG) Nr. 729/70 des Rates vom 21. April 1970 über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 94, S. 13) (im Folgenden: Verordnung Nr. 729/70) bestimmte, dass der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) ein Teil des Haushalts der Union ist und zwei Abteilungen umfasst, nämlich die Abteilung Garantie und die Abteilung Ausrichtung. Nach Abs. 2 dieses Artikels finanziert die Abteilung Garantie u. a. die Erstattungen bei der Ausfuhr nach dritten Ländern.
11 Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung sah vor:
„Nach Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a) werden die Erstattungen bei der Ausfuhr nach dritten Ländern finanziert, die nach [Unions]vorschriften im Rahmen der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte gewährt werden.
…“
12 In Art. 4 der Verordnung Nr. 729/70 hieß es:
„(1) Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission Folgendes mit:
a)
die Dienststellen und Einrichtungen, nachstehend ‚Zahlstellen‘ genannt, die zur Zahlung der in den Artikeln 2 und 3 vorgesehenen Ausgaben zugelassen sind.
…
(3) Jeder Mitgliedstaat teilt der Kommission [bestimmte] Auskünfte über die Zahlstellen mit, [die] ihre Bezeichnung und ihre Satzung, … die verwaltungs-, buchungstechnischen und die interne Kontrolle betreffenden Bedingungen, unter denen die Zahlungen im Zusammenhang mit der Durchführung der [Unionsvorschriften] im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik vorgenommen werden, [sowie] die Zulassungsurkunde [betreffen].
Die Kommission ist umgehend von jeder Änderung zu unterrichten.
…“
13 Art. 5 der Verordnung Nr. 729/70 regelte die Modalitäten, nach denen die Finanzierungsvorschüsse, die von den in Art. 4 dieser Verordnung bezeichneten nationalen Dienststellen und Einrichtungen gezahlt worden waren, von der Kommission im Rahmen des EAGFL-Rechnungsabschlussverfahrens genehmigt wurden, und sah hierzu insbesondere vor, dass sich die Rechnungsabschlussentscheidung auf die Vollständigkeit, die Genauigkeit und die Richtigkeit der übermittelten Rechnungen bezieht.
14 Art. 5 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 729/70 schrieb vor, dass die Kommission
„die Ausgaben [bestimmt], die von der in den Artikeln 2 und 3 genannten [Finanzierung durch die Union] auszuschließen sind, wenn sie feststellt, dass Ausgaben nicht in Übereinstimmung mit den [Unions]vorschriften getätigt worden sind.
Vor jeder Entscheidung über eine Ablehnung der Finanzierung werden die Ergebnisse der Überprüfungen der Kommission sowie die Antworten des betreffenden Mitgliedstaats jeweils schriftlich übermittelt; danach bemühen sich beide Parteien, zu einem Einvernehmen hinsichtlich der zu ziehenden Folgerungen zu gelangen.
Wird kein Einvernehmen erzielt, so kann der Mitgliedstaat die Eröffnung eines Verfahrens beantragen, um die jeweiligen Standpunkte innerhalb von vier Monaten miteinander in Einklang zu bringen; die Ergebnisse dieses Verfahrens werden in einem Bericht erfasst, der an die Kommission übermittelt und von dieser geprüft wird, bevor eine Finanzierung abgelehnt wird.
Die Kommission bemisst die auszuschließenden Beträge insbesondere unter Berücksichtigung der Tragweite der festgestellten Nichtübereinstimmung. Die Kommission trägt dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der [Union] entstandenen finanziellen Schaden Rechnung.
Die Ablehnung der Finanzierung kann sich nicht auf Ausgaben beziehen, die über vierundzwanzig Monate vor dem Zeitpunkt getätigt wurden, zu dem die Kommission dem betroffenen Mitgliedstaat die Ergebnisse ihrer Überprüfungen schriftlich mitgeteilt hat. Diese Bestimmung gilt jedoch nicht für die finanziellen Auswirkungen
—
der Fälle von Unregelmäßigkeiten im Sinne von Artikel 8 Absatz 2,
—
der einzelstaatlichen Beihilfen oder Verstöße, deretwegen das Verfahren nach Artikel 93 oder das Verfahren nach Artikel 169 [EG-Vertrag] eingeleitet wurde.“
15 Nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 729/70 hatten die Mitgliedstaaten gemäß den einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sich zu vergewissern, dass die durch den EAGFL finanzierten Maßnahmen tatsächlich und ordnungsgemäß durchgeführt wurden, um Unregelmäßigkeiten zu verhindern und zu verfolgen und um die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen abgeflossenen Beträge wiedereinzuziehen.
16 Abs. 2 dieser Bestimmung sah vor, dass, wenn keine vollständige Wiedereinziehung erfolgt, die Gemeinschaft die finanziellen Folgen der Unregelmäßigkeiten oder Versäumnisse trägt; dies galt danach nicht für Unregelmäßigkeiten oder Versäumnisse, die den Verwaltungen oder Einrichtungen der Mitgliedstaaten anzulasten sind. Nach Unterabs. 2 dieses Absatzes „[fließen d]ie wiedereingezogenen Beträge … den zugelassenen Zahlstellen zu, die sie von den durch den [EAGFL] finanzierten Ausgaben abziehen. Die Zinsen für wiedereingezogene oder zu spät entrichtete Beträge fließen dem [EAGFL] zu.“
Portugiesisches Recht
17 Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass im portugiesischen Recht für die Wiedereinziehung zugunsten des Haushalts der Union von im Mitgliedstaat Portugal rechtswidrig bezogenen Ausfuhrerstattungen keine spezifische Verjährungsfrist vorgesehen ist. Art. 309 des Código Civil (Zivilgesetzbuch, im Folgenden: C. C.) sieht eine regelmäßige Verjährungsfrist von 20 Jahren vor, und nach Art. 304 Abs. 1 C. C. gilt:
„Ist die Verjährungsfrist abgelaufen, kann der Begünstigte die Erbringung der Leistung ablehnen oder sich der Durchsetzung des verjährten Rechts mit allen Mitteln widersetzen.“
18 Das Decreto-Lei Nr. 155/92 vom 28. Juli 1992 (Gesetzesdekret Nr. 155/92) legt die Regelung über die Finanzverwaltung des Staates fest. Sein Art. 36 regelt insbesondere die Verfahren zur Wiedereinziehung öffentlicher Mittel, die an die Staatskasse zurückzuzahlen sind.
19 Art. 40 dieses Decreto-Lei bestimmt:
„(1) Die Verpflichtung zur Rückerstattung der erhaltenen Beträge verjährt in fünf Jahren ab deren Empfang.
(2) Diese Frist wird durch das Vorliegen allgemeiner Gründe der Verjährungsunterbrechung oder ‑hemmung unterbrochen bzw. gehemmt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 Den dem Gerichtshof vorgelegten Akten zufolge ist Cruz & Companhia eine Gesellschaft, deren Gesellschaftszweck der Vertrieb von Weinen, Branntweinen und deren Derivaten ist. Im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit führte sie im Wirtschaftsjahr 1995 mehrere Partien Wein nach Angola zu einem niedrigeren Preis als dem aus, den sie erhalten hätte, wenn sie den Wein auf dem Unionsmarkt verkauft hätte. Unter Vorlage der entsprechenden Ausfuhrgenehmigungen beantragte Cruz & Companhia beim Instituto Nacional de Garantia Agrária (Nationales Institut für landwirtschaftliche Garantien, im Folgenden: INGA) die Zahlung von Ausfuhrerstattungen.
21 Im Laufe des Jahres 2004 verlangte das INGA von Cruz & Companhia die Rückzahlung unrechtmäßig erhaltener Ausfuhrerstattungen in Höhe von 634995,78 Euro.
22 2005 betrieb es gegen Cruz & Companhia ein gerichtliches Verfahren zur Einziehung dieser Forderung.
23 Mit Urteil vom 28. Dezember 2001 wies das Tribunal Administrativo e Fiscal de Viseu (Verwaltungs- und Steuergericht von Viseu, Portugal) die Klage von Cruz & Companhia gegen das Einziehungsverfahren mit der Begründung ab, dass dieses im Hinblick auf die Verjährungsfrist von 20 Jahren nach Art. 309 C. C. nicht verjährt sei.
24 Gegen dieses Urteil legte Cruz & Companhia beim Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) ein Rechtsmittel ein. Sie macht im Wesentlichen geltend, die Anwendung der regelmäßigen Verjährungsfrist von 20 Jahren auf die Wiedereinziehung von im Wirtschaftsjahr 1995 gezahlten Ausfuhrerstattungen für Wein durch die zuständige nationale Stelle verstoße gegen in der portugiesischen Rechtsordnung unmittelbar anwendbares Unionsrecht sowie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Nichtdiskriminierung von Gemeinschaftsrechtsstreitigkeiten gegenüber nationalen Rechtsstreitigkeiten und der Verhältnismäßigkeit. Dazu macht Cruz & Companhia geltend, in ihrer Angelegenheit gelte die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehene Verjährungsfrist von vier Jahren, da die portugiesischen Rechtsvorschriften keine längere spezifische Verjährungsfrist im Sinne von Abs. 3 dieses Artikels vorsähen. Zur Stützung ihres Vorbringens beruft sie sich insbesondere auf das Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading (C‑201/10 und C‑202/10, EU:C:2011:282).
25 Cruz & Companhia führt weiter aus, wenn angenommen werden sollte, dass in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 eine längere Verjährungsfrist angewandt werden könne, müsse es sich bei dieser um die Frist von fünf Jahren nach Art. 40 des Decreto‑Lei n.o 155/92, de 28 de junho de 1992, respeitante aos procedimentos por irregularidades que ponham em causa os interesses financeiros nacionais da República Portuguesa (Decreto-Lei Nr. 155/92 vom 28. Juni 1992 betreffend Verfahren wegen Unregelmäßigkeiten, die die nationalen finanziellen Interessen der Portugiesischen Republik verletzen) handeln, da der Grundsatz der Nichtdiskriminierung es verbiete, dass für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten, die die nationalen finanziellen Interessen der Union verletzten, eine Verjährungsfrist gelte, die viermal so lang sei wie die, die auf entsprechende innerstaatliche Situationen anwendbar sei.
26 Das IFAP trägt im Wesentlichen vor, die Verjährungsfrist des Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 sei nicht auf jene Maßnahmen zur Verfolgung von Unregelmäßigkeiten anwendbar, die in Form von Verwaltungsmaßnahmen im Sinne von Art. 4 dieser Verordnung getroffen würden. Die Verjährungsvorschriften in Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 beträfen nämlich nur Verfolgungsmaßnahmen, die im Hinblick auf die Verhängung von Verwaltungssanktionen im Sinne von Art. 5 dieser Verordnung durchgeführt würden.
27 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass das Urteil des Tribunal Administrativo e Fiscal de Viseu vom 28. Dezember 2011 mit seiner ständigen Rechtsprechung in Einklang stehe, wonach die Verjährungsfrist für die Rückzahlung von Ausfuhrerstattungen nicht diejenige des Art. 40 des Decreto-Lei Nr. 155/92, sondern sehr wohl die in Art. 309 C. C. festgelegte allgemeine Verjährungsfrist von 20 Jahren sei.
28 Das vorlegende Gericht hat jedoch Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit der Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 in der bei ihm anhängigen Rechtssache. Insbesondere erscheint es ihm fraglich, ob diese Bestimmung nur im Verhältnis zwischen der Union und der nationalen Zahlstelle für landwirtschaftliche Beihilfen anwendbar ist oder auch im Verhältnis zwischen dieser Zahlstelle und dem Empfänger dieser – als rechtswidrig erhalten eingestuften – Beihilfen. Es fragt sich zudem, ob diese Verjährungsfrist von vier Jahren nur für die in Art. 5 der Verordnung Nr. 2988/95 genannten verwaltungsrechtlichen Sanktionen gilt oder auch für die in Art. 4 dieser Verordnung bezeichneten verwaltungsrechtlichen Maßnahmen.
29 Das Supremo Tribunal Administrativo hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Gilt die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehene Verjährungsfrist für die Verfolgung nur im Verhältnis zwischen der Union und der nationalen Zahlstelle für Unionsbeihilfen oder auch im Verhältnis zwischen der nationalen Zahlstelle für Unionsbeihilfen und dem Empfänger der als rechtsgrundlos gezahlt eingestuften Beihilfen?
2. Falls festgestellt wird, dass die Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 auch im Verhältnis zwischen der nationalen Zahlstelle für Beihilfen und dem Empfänger der als rechtsgrundlos gezahlt eingestuften Beihilfen gilt, ist dann davon auszugehen, dass diese Frist nur für den Fall „verwaltungsrechtlicher Sanktionen“ im Sinne von Art. 5 der Verordnung Nr. 2988/95 gilt oder auch für den Fall „verwaltungsrechtlicher Maßnahmen“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung, insbesondere wenn es um die Rückzahlung rechtswidrig erhaltener Beträge geht?
Zu den Vorlagefragen
Zur Erheblichkeit der Antworten für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits
30 Die portugiesische Regierung macht in ihren Erklärungen geltend, der Ausgangsrechtsstreit lasse sich nicht nach den Bestimmungen der Verordnung Nr. 2988/95 beurteilen, da es nicht um die Verjährungsfrist für verwaltungsrechtliche Verfolgungsmaßnahmen, sondern um Verfahren zur Vollstreckung der Entscheidung über die Rückzahlung der rechtsgrundlos an Cruz & Companhia gezahlten Beihilfen, also ein Verfahren zur Beitreibung einer Forderung, gehe. Daher sei eine Berufung auf das in Art. 3 dieser Verordnung vorgesehene System der Verfolgungsverjährung im Stadium der Vollstreckung einer rechtskräftig gewordenen gerichtlichen Entscheidung über die Verpflichtung zur Rückzahlung von Beihilfen nicht mehr möglich. Demgemäß seien die Antworten auf die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich.
31 Zwar sieht die Verordnung Nr. 2988/95, wie die portugiesische Regierung hervorhebt, für die Vollstreckung einer nationalen Entscheidung, mit der eine „verwaltungsrechtliche Maßnahme“ im Sinne dieser Verordnung angeordnet wird, keine Frist vor.
32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht allerdings eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:429, Rn. 26, sowie Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 In der vorliegenden Rechtssache geht aus der Vorlageentscheidung ausdrücklich hervor, dass das vorlegende Gericht seiner Entscheidung die Erwägung zugrunde gelegt hat, dass sich Cruz & Companhia in ihrem Rechtsmittel nicht unmittelbar auf die Verjährung der zu vollstreckenden Schuld, sondern auf die Verjährung der „Verpflichtung zur Rückerstattung der erhaltenen Beträge“ berufen habe, wie sie sich aus den Verfolgungsmaßnahmen ergeben hätten, die aufgrund der festgestellten Unregelmäßigkeiten getroffen worden seien. Damit stellt das vorlegende Gericht seine Fragen im Wesentlichen zu dem Zweck, klären zu lassen, inwieweit die Verordnung Nr. 2988/95 in zeitlicher Hinsicht für das Vorgehen einer Verwaltungsbehörde gilt, die eine verwaltungsrechtliche Maßnahme treffen will, mit der eine Forderung über einen aus dem Unionshaushalt erhaltenen Betrag wiedereingezogen werden soll.
34 Die in dieser Weise vom Supremo Tribunal Administrativo zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen sind unter diesen Umständen zu beantworten.
Zur Beantwortung der Fragen
Zur ersten Frage
35 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen ist, dass er auf Verfolgungsmaßnahmen anwendbar ist, die von den nationalen Behörden gegen Empfänger von Unionsbeihilfen eingeleitet werden, nachdem von der für die Zahlung von Ausfuhrerstattungen im Rahmen des EAGFL zuständigen nationalen Stelle Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden.
36 Insoweit ist zu beachten, dass im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik gemäß Art. 2 der Verordnung Nr. 729/70 gilt, dass nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung die Erstattungen bei der Ausfuhr nach dritten Ländern finanziert werden, die nach Unionsvorschriften im Rahmen der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte gewährt werden.
37 Nach Art. 4 der Verordnung Nr. 729/70 bezeichnen die Mitgliedstaaten die Dienststellen und Einrichtungen, die sie dazu ermächtigen, die Zahlungen zur Begleichung der in den Art. 2 und 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausgaben vorzunehmen. Sie haben insbesondere der Kommission die verwaltungs- und buchungstechnischen Bedingungen mitzuteilen, unter denen die Zahlungen im Zusammenhang mit der Durchführung der unionsrechtlichen Vorschriften im Rahmen der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte vorgenommen werden. Art. 5 dieser Verordnung regelt die Modalitäten, nach denen die von diesen nationalen Dienststellen und Einrichtungen gezahlten Finanzierungsvorschüsse von der Kommission im Rahmen des EAGFL-Rechnungsabschlussverfahrens genehmigt werden.
38 Nach Art. 8 der Verordnung Nr. 729/70 haben die Mitgliedstaaten gemäß den einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sich zu vergewissern, dass die durch den EAGFL finanzierten Maßnahmen tatsächlich und ordnungsgemäß durchgeführt worden sind, um Unregelmäßigkeiten zu verhindern und zu verfolgen und um die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen abgeflossenen Beträge wiedereinzuziehen. Erfolgt keine vollständige Wiedereinziehung, trägt die Union die finanziellen Folgen der Unregelmäßigkeiten oder Versäumnisse außer diejenigen für Unregelmäßigkeiten oder Versäumnisse, die den Verwaltungen oder Einrichtungen der Mitgliedstaaten anzulasten sind. Die in dieser Weise wiedereingezogenen Beträge fließen den auszahlenden Dienststellen oder Einrichtungen zu und werden von den durch den EAGFL finanzierten Ausgaben abgezogen.
39 Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Aufgabe der Rechtsverfolgung zugunsten der Abschöpfungs- und Erstattungssysteme weiterhin grundsätzlich den Mitgliedstaaten verbleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil Mertens u. a., 178/73 bis 180/73, EU:C:1974:36, Rn. 16) und dass Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 729/80, wo dieser von der Wiedereinziehung der infolge von Unregelmäßigkeiten abgeflossenen Beträge durch die Mitgliedstaaten spricht, die mit der Verwaltung des gemeinschaftlichen Agrarinterventionssystems betrauten nationalen Behörden bei der Ausübung dieser Befugnisse ausdrücklich verpflichtet, die zu Unrecht oder vorschriftswidrig ausgezahlten Beträge wiedereinzuziehen, ohne dass diese für Rechnung der Union handelnden Behörden dabei hinsichtlich der Frage, ob die Rückforderung der zu Unrecht oder vorschriftswidrig gewährten Unionsmittel zweckmäßig ist, ein Ermessen ausüben könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil BayWa u. a., 146/81, 192/81 und 193/81, EU:C:1982:146, Rn. 30).
40 Insoweit werden die zuständigen nationalen Behörden, wenn sie die Rückzahlung von Ausfuhrerstattungen verlangen, die ein Wirtschaftsteilnehmer wie Cruz & Companhia im Ausgangsverfahren zu Unrecht aus dem Unionshaushalt erlangt hat, im Namen und für Rechnung des Unionshaushalts tätig und verfolgen eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95, so dass sie im Rahmen des Anwendungsbereichs dieser Verordnung handeln.
41 Demgemäß ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin auszulegen ist, dass er auf Verfolgungsmaßnahmen anwendbar ist, die von den nationalen Behörden gegen Empfänger von Unionsbeihilfen eingeleitet werden, nachdem von der für die Zahlung von Ausfuhrerstattungen im Rahmen des EAGFL zuständigen nationalen Stelle Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden.
Zur zweiten Frage
42 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 bezeichnete Verjährungsfrist nicht nur für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten gilt, die zur Verhängung von verwaltungsrechtlichen Sanktionen im Sinne von Art. 5 dieser Verordnung führen, sondern auch für Verfolgungsmaßnahmen, die zum Ergreifen von verwaltungsrechtlichen Maßnahmen im Sinne von Art. 4 der Verordnung führen.
43 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 eine „Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das [Unionsrecht]“ einführt, um, wie sich aus der dritten Begründungserwägung dieser Verordnung ergibt, „in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Union] zu bekämpfen“ (Urteile Handlbauer, C‑278/02, EU:C:2004:388, Rn. 31, und Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., C‑278/07 bis C‑280/07, EU:C:2009:38, Rn. 20).
44 Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 setzt für die Verfolgung eine Verjährungsfrist fest, die ab Begehung der Unregelmäßigkeit läuft, wobei der betreffende Tatbestand gemäß Art. 1 Abs. 2 der Verordnung „bei jedem Verstoß gegen eine [Unions]bestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben [ist], die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Union] … bewirkt hat bzw. haben würde“ (Urteile Handlbauer, EU:C:2004:388, Rn. 32, sowie Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 21).
45 Daraus ergibt sich, dass Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 sowohl für die Unregelmäßigkeiten gilt, die zur Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion im Sinne von Art. 5 der Verordnung führen, als auch für diejenigen, die Gegenstand einer verwaltungsrechtlichen Maßnahme im Sinne von Art. 4 sind, die den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils bewirken soll, aber nicht den Charakter einer Sanktion hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Handlbauer, EU:C:2004:388, Rn. 33 und 34, sowie Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 22).
46 Im Ausgangsverfahren ist jedoch als Erstes zu prüfen, ob die Verordnung Nr. 2988/95 in zeitlicher Hinsicht anzuwenden ist, da die von Cruz & Companhia rechtswidrig erhaltenen Exporterstattungen für vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung erfolgte Ausfuhren gezahlt worden sind.
47 Vor Erlass der Verordnung Nr. 2988/95 hatte der Unionsgesetzgeber keine Verjährungsvorschrift für die Wiedereinziehung von Vorteilen vorgesehen, die Wirtschaftsteilnehmer rechtswidrig infolge einer Handlung oder Unterlassung erlangt haben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union oder die Haushalte, die von der Union verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde (Urteil Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 25).
48 Vor Erlass dieser Verordnung mussten die nationalen Gerichte daher Rechtsstreitigkeiten über die Wiedereinziehung von zu Unrecht aufgrund des Unionsrechts geleisteten Zahlungen in Ermangelung von Unionsvorschriften nach ihrem nationalen Recht entscheiden, jedoch vorbehaltlich der durch das Unionsrecht gezogenen Grenzen. Demzufolge durften die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten nicht darauf hinauslaufen, die Wiedereinziehung der zu Unrecht gewährten Beihilfen praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, und das nationale Recht musste ohne Diskriminierung im Vergleich zu den Verfahren, in denen über gleichartige rein nationale Streitigkeiten entschieden wird, angewandt werden (vgl. Urteil Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 26).
49 Mit dem Erlass der Verordnung Nr. 2988/95 und insbesondere ihres Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 wollte der Unionsgesetzgeber eine allgemeine Verjährungsregelung für diesen Bereich einführen, in der eine in allen Mitgliedstaaten geltende Mindestfrist festgelegt und die Rückforderung von zu Unrecht aus dem Unionshaushalt erlangten Beträgen nach Ablauf von vier Jahren seit Begehung der die streitigen Zahlungen betreffenden Unregelmäßigkeit ausgeschlossen werden sollte (Urteil Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 27).
50 So hat der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 unbeschadet ihres Art. 3 Abs. 3 eine allgemeine Verjährungsregelung normiert, mit der er den Zeitraum, in dem die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn sie im Namen oder für Rechnung des Unionshaushalts handeln, solche rechtswidrig erlangten Vorteile zurückfordern müssen oder hätten zurückfordern müssen, bewusst auf vier Jahre verkürzt hat (Urteil Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 29). Das gilt jedoch nicht für die Verfolgung von Irrtümern oder Unregelmäßigkeiten, die von den nationalen Behörden selbst begangen wurden (vgl. in diesem Sinne Bayerische Hypotheken- und Vereinsbank, C‑281/07, EU:C:2009:6, Rn. 22).
51 Was die Schulden betrifft, die unter der Geltung einer nationalen Verjährungsvorschrift entstanden und nach dieser noch nicht verjährt waren, hat das Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2988/85 gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 zur Folge, dass eine solche Schuld grundsätzlich nach Ablauf einer Frist von vier Jahren ab dem Zeitpunkt der Begehung der Unregelmäßigkeiten verjährt sein muss (vgl. Urteil Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 31).
52 Daher ist nach dieser Bestimmung jeder Betrag, den ein Wirtschaftsteilnehmer aufgrund einer Unregelmäßigkeit vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2988/95 rechtswidrig erhalten hat, grundsätzlich verjährt, wenn nicht innerhalb von vier Jahren nach Begehung einer solchen Unregelmäßigkeit eine Unterbrechungshandlung, d. h. gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung eine der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung der zuständigen Behörde, vorgenommen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil Josef Vosding Schlacht-, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 32).
53 Ist wie im Ausgangsverfahren im Lauf des Jahres 1995 eine Unregelmäßigkeit begangen worden, fällt diese demzufolge unter die allgemeine Verjährungsregelung, die eine Verjährung in vier Jahren vorsieht, und ist deshalb je nach dem genauen Zeitpunkt der Begehung dieser auf das Jahr 1995 zurückgehenden Unregelmäßigkeit im Lauf des Jahres 1999 verjährt, wobei den Mitgliedstaaten jedoch gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 vorbehalten bleibt, längere Verjährungsfristen vorzusehen (vgl. entsprechend Urteil Josef Vosding Schlacht‑, Kühl- und Zerlegebetrieb u. a., EU:C:2009:38, Rn. 33).
54 Als Zweites ist zu berücksichtigen, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 ausdrücklich vorgesehen hat, dass die Mitgliedstaaten Verjährungsfristen anwenden dürfen, die länger als die Mindestfrist von vier Jahren nach Abs. 1 dieser Bestimmung sind. Der Unionsgesetzgeber wollte nämlich die auf diesem Gebiet geltenden Fristen nicht vereinheitlichen, so dass die Mitgliedstaaten durch das Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2988/95 nicht gezwungen sein konnten, die bisher wegen des Fehlens unionsrechtlicher Bestimmungen auf diesem Gebiet angewandten Verjährungsvorschriften auf vier Jahre zu verkürzen (vgl. in diesem Sinne Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 25).
55 So behalten die Mitgliedstaaten im Rahmen der in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehenen Möglichkeit ein weites Ermessen hinsichtlich der Festlegung längerer Verjährungsfristen, die sie im Fall einer die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigenden Unregelmäßigkeit anwenden möchten (Urteile Corman, C‑131/10, EU:C:2010:825, Rn. 54, sowie Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 26).
56 Dabei können sich die längeren Verjährungsfristen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 weiterhin anwenden dürfen, aus Bestimmungen des allgemeinen Rechts ergeben, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Verordnung gegolten haben. So können die Mitgliedstaaten die Geltung längerer Fristen herbeiführen, indem sie einer gerichtlichen Praxis folgend auf die Rückforderung von zu Unrecht erlangten Vorteilen eine allgemein geltende Bestimmung, die eine Verjährungsfrist von mehr als vier Jahren vorsieht, anwenden (Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 29).
57 Zwar lässt sich für einen Wirtschaftsteilnehmer die anwendbare Verjährungsfrist leichter bestimmen, wenn sie vom nationalen Gesetzgeber in einer speziell auf den betreffenden Bereich anwendbaren Vorschrift definiert worden ist. Ist aber eine solche auf einen Bereich wie den der Rückforderung von Ausfuhrerstattungen, die zulasten des Unionshaushalts zu Unrecht gezahlt wurden, anwendbare spezifische Vorschrift nicht vorhanden, steht der Grundsatz der Rechtssicherheit der Anwendung einer allgemeinen Verjährungsfrist des Zivilrechts, die länger als die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehene von vier Jahren ist, als solcher nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 33).
58 Eine solche Anwendung wahrt den Grundsatz der Rechtssicherheit jedoch nur, wenn sie hinreichend vorhersehbar war. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens festzustellen, ob eine solche Rechtsprechungspraxis besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 34).
59 Im Übrigen darf die Anwendung einer längeren nationalen Verjährungsfrist für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten im Sinne der Verordnung Nr. 2988/95, wie sie in deren Art. 3 Abs. 3 vorgesehen ist, nicht offensichtlich über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile AJD Tuna, C‑221/09, EU:C:2011:153, Rn. 79, sowie Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 38).
60 Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass eine sich aus einer zivilrechtlichen Vorschrift ergebende Verjährungsfrist von 20 Jahren im Hinblick auf das mit dieser Vorschrift verfolgte und vom nationalen Gesetzgeber definierte Ziel insbesondere im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen erforderlich und angemessen sein kann (vgl. in diesem Zusammenhang Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 41). Auch verstößt die Anwendung einer Verjährungsfrist von zehn Jahren, die sich aus einer zivilrechtlichen Bestimmung des betreffenden Mitgliedstaats ergibt, im Hinblick auf das Ziel des Schutzes der finanziellen Interessen der Union nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil Corman, EU:C:2010:825, Rn. 24, 31 und 49).
61 Hingegen hat der Gerichtshof bereits befunden, dass es im Hinblick auf das genannte Ziel, für das der Unionsgesetzgeber eine Verjährungsfrist von vier Jahren, ja sogar von drei Jahren, als solche schon als ausreichend angesehen hat, um den nationalen Behörden die Verfolgung einer die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigenden Unregelmäßigkeit zu ermöglichen und eine Maßnahme wie die Rückforderung eines zu Unrecht erlangten Vorteils zu ergreifen, über das für eine sorgfältige Verwaltung Erforderliche hinausginge, wenn den Behörden hierfür eine Frist von 30 Jahren eingeräumt würde (vgl. in diesem Sinne Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 43).
62 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang betont, dass der Verwaltung eine allgemeine Sorgfaltspflicht bei der Prüfung obliegt, ob die von ihr geleisteten, den Haushalt der Union belastenden Zahlungen ordnungsgemäß erfolgt sind, da die Mitgliedstaaten die allgemeine Sorgfaltspflicht aus Art. 4 Abs. 3 EU zu beachten haben, zu der es gehört, dass sie Maßnahmen zur raschen Behebung von Unregelmäßigkeiten ergreifen müssen. Den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zuzugestehen, der Verwaltung zum Tätigwerden einen viel längeren Zeitraum als den in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehenen einzuräumen, könnte daher in gewisser Weise einer Trägheit der nationalen Behörden bei der Verfolgung von „Unregelmäßigkeiten“ im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 Vorschub leisten und gleichzeitig die Wirtschaftsteilnehmer zum einen einer langen Zeit der Rechtsunsicherheit und zum anderen der Gefahr aussetzen, nach Ablauf eines solchen Zeitraums nicht mehr beweisen zu können, dass die fraglichen Vorgänge rechtmäßig waren (vgl. in diesem Sinne Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 44 und 45).
63 Gleiches gilt auch für die Anwendung einer sich aus einer zivilrechtlichen Bestimmung ergebenden Verjährungsfrist von 20 Jahren auf die Verfolgung einer Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95. Dem nationalen Gesetzgeber steht es nämlich, wenn eine Verjährungsfrist von vier Jahren zu kurz erscheinen sollte, um den nationalen Behörden die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten zu ermöglichen, die eine gewisse Komplexität aufweisen, nach Abs. 3 dieses Artikels jedenfalls weiterhin frei, eine längere Verjährungsfrist, wie etwa die des Art. 40 des Decreto-Lei Nr. 155/92, einzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, EU:C:2011:282, Rn. 46).
64 Zu beachten ist jedoch, dass in Ermangelung einer solchen Vorschrift Unregelmäßigkeiten wie die, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, nach der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als in vier Jahren ab ihrem Begehungszeitpunkt verjährt anzusehen sind, wobei die die Verjährung unterbrechenden Handlungen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 zu berücksichtigen sind und die in Unterabs. 4 dieses Absatzes festgelegte zeitliche Obergrenze zu wahren ist.
65 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 genannte Verjährungsfrist nicht nur für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten gilt, die zur Verhängung von verwaltungsrechtlichen Sanktionen im Sinne von Art. 5 dieser Verordnung führen, sondern auch für Verfolgungsmaßnahmen, die zum Ergreifen von verwaltungsrechtlichen Maßnahmen im Sinne von Art. 4 der Verordnung führen. Während Art. 3 Abs. 3 der Verordnung den Mitgliedstaaten erlaubt, längere Verjährungsfristen als die in Abs. 1 Unterabs. 1 dieses Artikels vorgesehenen Fristen von vier oder drei Jahren anzuwenden, die sich aus Bestimmungen des allgemeinen Rechts ergeben können, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Verordnung gegolten haben, geht die Anwendung einer Verjährungsfrist von 20 Jahren über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, erforderlich ist.
Kosten
66 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften ist dahin auszulegen, dass er auf Verfolgungsmaßnahmen anwendbar ist, die von den nationalen Behörden gegen Empfänger von Unionsbeihilfen eingeleitet werden, nachdem von der für die Zahlung von Ausfuhrerstattungen im Rahmen des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) zuständigen nationalen Stelle Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden.
2. Die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 genannte Verjährungsfrist gilt nicht nur für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten, die zur Verhängung von verwaltungsrechtlichen Sanktionen im Sinne von Art. 5 dieser Verordnung führen, sondern auch für Verfolgungsmaßnahmen, die zum Ergreifen von verwaltungsrechtlichen Maßnahmen im Sinne von Art. 4 der Verordnung führen. Während Art. 3 Abs. 3 der Verordnung den Mitgliedstaaten erlaubt, längere Verjährungsfristen als die in Abs. 1 Unterabs. 1 dieses Artikels vorgesehenen Fristen von vier oder drei Jahren anzuwenden, die sich aus Bestimmungen des allgemeinen Rechts ergeben können, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Verordnung gegolten haben, geht die Anwendung einer Verjährungsfrist von 20 Jahren über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, erforderlich ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Portugiesisch.
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Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Dritte Kammer) vom 17. September 2014.#Kari Wahlström gegen Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Frontex).#Öffentlicher Dienst – Personal von Frontex – Bediensteter auf Zeit – Nichtverlängerung eines befristeten Vertrags – Verfahren zur Verlängerung – Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anhörungsrecht – Missachtung – Einfluss auf den Inhalt der Entscheidung.#Rechtssache F‑117/13.
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62013FJ0117
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ECLI:EU:F:2014:215
| 2014-09-17T00:00:00 |
Gericht für den öffentlichen Dienst
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62013FJ0117
URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST
DER EUROPÄISCHEN UNION (Dritte Kammer)
17. September 2014 (*1)
„Öffentlicher Dienst — Personal von Frontex — Bediensteter auf Zeit — Nichtverlängerung eines befristeten Vertrags — Verfahren zur Verlängerung — Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Anhörungsrecht — Missachtung — Einfluss auf den Inhalt der Entscheidung“
In der Rechtssache F‑117/13
betreffend eine Klage nach Art. 270 AEUV,
Kari Wahlström, ehemaliger Bediensteter auf Zeit der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wohnhaft in Espoo (Finnland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt S. Pappas,
Kläger,
gegen
Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Frontex), vertreten durch S. Vuorensola und H. Caniard als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt D. Waelbroeck und Rechtsanwältin A. Duron,
Beklagte,
erlässt
DAS GERICHT FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Van Raepenbusch (Berichterstatter) sowie der Richter R. Barents und K. Bradley,
Kanzler: P. Cullen, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 2014
folgendes
Urteil
1 Mit Klageschrift, die am 30. November 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt Herr Wahlström die Aufhebung der Entscheidung des Exekutivdirektors der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Frontex) vom 19. Februar 2013, seinen Vertrag als Bediensteter auf Zeit nicht zu verlängern.
Rechtlicher Rahmen
2 Nach Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. L 349, S. 1) gelten die Bestimmungen des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) und die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union (im Folgenden: BSB) für das Personal von Frontex.
Die BSB
3 Art. 2 der BSB in seiner auf den Rechtsstreit anwendbaren Fassung lautet:
„Bediensteter auf Zeit im Sinne dieser Beschäftigungsbedingungen ist:
a)
der Bedienstete, der zur Besetzung einer Planstelle eingestellt wird, die in dem dem Einzelplan des Haushaltsplans für jedes Organ beigefügten Stellenplan aufgeführt und von den für die Feststellung des Haushaltsplans zuständigen Organen auf Zeit eingerichtet worden ist;
…“
4 Hinsichtlich der Beendigung des Vertrags legt Art. 47 der BSB in seiner auf den Rechtsstreit anwendbaren Fassung fest:
„Das Beschäftigungsverhältnis des Bediensteten auf Zeit endet, außer im Falle des Todes:
…
b)
bei Verträgen auf bestimmte Dauer:
i)
zu dem im Vertrag festgelegten Zeitpunkt;
ii)
nach Ablauf der im Vertrag festgelegten Kündigungsfrist, in der der Bedienstete oder das Organ den Vertrag vor Ablauf kündigen kann. …“
Das Verfahren zur Verlängerung der Verträge der Bediensteten auf Zeit bei Frontex
5 In dem maßgeblichen Zeitraum war das Verfahren zur Verlängerung der Verträge der Bediensteten auf Zeit bei Frontex durch Leitlinien geregelt, die dem Personal von Frontex am 26. Juli 2010 durch den Verwaltungsvermerk Nr. 40 mitgeteilt wurden, dessen Ziel u. a. darin bestand, die Kohärenz, Transparenz und Gerechtigkeit der Verfahrensabläufe zu gewährleisten (im Folgenden: Leitlinien). Nach Nr. 2 der Leitlinien besteht das Verfahren zur Verlängerung aus vier Abschnitten:
—
Nachdem der Bedienstete sein Interesse an der Verlängerung seines Vertrags bekundet hat, trägt der beurteilende Bedienstete seine Anmerkungen und seinen Vorschlag hinsichtlich der Verlängerung in ein hierfür vorgesehenes Formular ein;
—
der gegenzeichnende Bedienstete prüft den Vorschlag des beurteilenden Bediensteten und bringt in demselben Formular seine mit Gründen versehene Zustimmung oder Ablehnung zum Ausdruck; für den Fall der Meinungsverschiedenheit zwischen dem beurteilenden und dem gegenzeichnenden Bediensteten legt Letzterer seine Gründe für seine Ablehnung schriftlich nieder;
—
der Leiter der betreffenden Abteilung gibt in dem Formular eine Empfehlung ab;
—
der Exekutivdirektor trifft die endgültige Entscheidung.
6 In Nr. 3 Buchst. a der Leitlinien heißt es:
„Wenn der Exekutivdirektor entscheidet, den Vertrag für [fünf] Jahre zu verlängern, bereitet [die Hauptabteilung Personal] ein Schreiben vor, in dem dem Bediensteten eine Verlängerung des Vertrags für diesen Zeitraum vorgeschlagen wird …
Nachdem [die Hauptabteilung Personal] eine positive Antwort seitens des Bediensteten erhalten hat, bereitet sie eine Vertragsänderung vor, die [zwei] Monate vor dem Ablauf des laufenden Vertrags zur Genehmigung und Unterschrift durch den Bediensteten bereitliegt …“
7 Nr. 3 Buchst. c der Leitlinien bestimmt:
„Wenn der Exekutivdirektor entscheidet, den Vertrag nicht zu verlängern, bereitet [die Hauptabteilung Personal] ein Schreiben vor, in dem die von dem beurteilenden Bediensteten angeführten Argumente (Interesse des Dienstes, Leistung oder Kombination aus beiden) genannt werden. Dieses Schreiben wird vom Exekutivdirektor unterschrieben und dem Bediensteten [zwölf] Monate vor dem Ablauf des in Kraft befindlichen Vertrags übermittelt.“
Sachverhalt
8 Der Kläger trat seinen Dienst am 1. August 2006 bei Frontex als Bediensteter auf Zeit im Sinne von Art. 2 Buchst. a der BSB für einen verlängerbaren Zeitraum von fünf Jahren an. Er wurde zunächst zum Leiter des Referats für das Verwaltungspersonal von Frontex ernannt und in die Besoldungsgruppe A*12, Dienstaltersstufe 2, eingestuft.
9 Anfang 2008 wurde eine zusätzliche aus „Abteilungen“ bestehende Leitungsebene mit ihren „Abteilungsdirektoren“ an der Spitze zwischen den Referaten und dem Exekutivdirektor geschaffen. Im Frühjahr 2008 wurde mit einem Auswahlverfahren für mittlere Führungspositionen von Abteilungsdirektoren begonnen. Der Kläger, der damals vom Exekutivdirektor zur Teilnahme an dem Verfahren ermutigt wurde, reichte seine Bewerbung für die Stelle des Direktors der Verwaltungsabteilung ein, die jedoch nicht erfolgreich war, da Herr C. für die Besetzung dieser Stelle ausgewählt wurde.
10 Nach Durchführung eines internen Auswahlverfahrens und entsprechend einer am 22. Juni 2010 unterzeichneten Änderung seines Vertrags trat der Kläger mit Wirkung zum 1. August 2010 seinen Dienst als Leiter des operativen Büros von Frontex in Piräus (Griechenland) an. Seine Aufgaben als Leiter des Referats für das Verwaltungspersonal waren ab Juni 2010 auf Herrn C. als Direktor der Verwaltungsabteilung übertragen worden, der insoweit auch sein Vorgesetzter war.
11 Im Hinblick auf die Bewertung der beruflichen Leistungen des Klägers wurde im November 2009 eine Beurteilung für das Jahr 2008 fertiggestellt. In dieser Beurteilung stellten Herr C. als Direktor der Verwaltungsabteilung, der direkter Vorgesetzter und in dieser Eigenschaft den Kläger beurteilender Bediensteter war, und der stellvertretende Exekutivdirektor als gegenzeichnender Bediensteter fest, dass die Leistung des Klägers Niveau III entspreche, da er ihrer Ansicht nach „den Anforderungen im Bereich der Effizienz, Fähigkeit und Leitung im Dienst teilweise entsprochen“ habe. In der darauffolgenden, am 23. Juni 2010 fertiggestellten Beurteilung für das Jahr 2009 wurde das Leistungsniveau des Klägers von denselben beurteilenden und gegenzeichnenden Bediensteten dagegen auf Niveau II eingeordnet, weil der Kläger nach ihrer Auffassung „den Anforderungen im Bereich der Effizienz, Fähigkeit und Leitung im Dienst vollständig entsprochen“ habe. Schließlich wurde dem Kläger am 23. Februar 2011 ein das Jahr 2010 betreffender Entwurf einer Beurteilung mitgeteilt, in dem der beurteilende und der gegenzeichnende Bedienstete, die gewechselt hatten und bei denen es sich um den stellvertretenden Exekutivdirektor bzw. den Exekutivdirektor handelte, die Leistung des Klägers auf Niveau III einstuften.
12 Der Kläger legte am 28. April 2011 bei dem nach Art. 13 der Entscheidung des Exekutivdirektors von Frontex vom 27. August 2009 zur Einführung eines Verfahrens zur Beurteilung des Personals errichteten Gemeinsamen Evaluierungsausschuss einen Rechtsbehelf gegen den das Jahr 2010 betreffenden Beurteilungsentwurf ein. Am 13. Juni 2012 gab dieser Ausschuss seine Stellungnahme ab, in der er zu dem Ergebnis kam, dass es „angesichts des Fehlens von in der Beurteilung festgelegten Zielen und unzureichender Beweise zur Stützung bestimmter ihrer Bewertungen“ erforderlich sei, „die Unbefangenheit und die Objektivität [der Beurteilung] zu verbessern“, und dass „[a]ufgrund der langen Zeiträume der Beurlaubung des Klägers wegen Krankheit im Jahr 2011 und der Schwierigkeiten, die sich daraus für die Verwirklichung der gesamten Abschnitte des Beurteilungsverfahrens ergeben haben, … das anwendbare Verfahren zum einen … nicht eingehalten worden [sei], aber zum anderen die Verantwortung dafür nicht dem beurteilenden und/oder dem gegenzeichnenden Bediensteten zugerechnet werden [könne].“
13 Mit E‑Mail vom 11. Juli 2012 wurde der Kläger davon in Kenntnis gesetzt, dass der gegenzeichnende Bedienstete entschieden habe, die Beurteilung für das Jahr 2010 zu bestätigen und an ihr keine Änderung vorzunehmen. Der Kläger focht diese Beurteilung vor dem Gericht an, das mit Urteil vom 9. Oktober 2013, Wahlström/Frontex (F‑116/12, EU:F:2013:143, Rechtsmittel beim Gericht der Europäischen Union anhängig, Rechtssache T‑653/13 P), die Klage abwies.
14 Außerdem wollte die Hauptabteilung Personal hinsichtlich der Verlängerung des bis zum 31. Juli 2011 laufenden Vertrags des Klägers als Bediensteter auf Zeit mit E‑Mail vom 22. Juli 2010 vom Kläger wissen, ob er an der Verlängerung seines Vertrags interessiert sei, um zu klären, „ob sie das Verfahren zur Verlängerung zwölf Monate im Voraus einzuleiten hat“, wie dies die Leitlinien vorsähen. Mit E‑Mail vom selben Tag bestätigte der Kläger die Anfrage und gab an, er sei „mehr denn je … an den gegenwärtigen Aufgaben, den Umständen und den Zukunftsperspektiven dieser [Stelle] interessiert, was [ihm] ermöglich[e], Frontex zu dienen, indem er aus [s]einer Ausbildung zum Offizier der Küstenwache und aus [seinen] 20 Jahren Erfahrung bei der Grenzverwaltung Nutzen ziehe“. Die Hauptabteilung Personal antwortete dem Kläger umgehend per E‑Mail, dass sie das Verfahren zur Verlängerung des Vertrags „einleiten“ werde und dass eine Antwort in dieser Hinsicht Ende September oder Anfang Oktober 2010 zu erwarten sei.
15 Während eines Treffens am 9. Dezember 2010 unterrichtete der Exekutivdirektor als zum Abschluss von Dienstverträgen ermächtigte Behörde von Frontex (im Folgenden: AHCC) den Kläger über seine Absicht, seinen Vertrag nicht zu verlängern. Am nächsten Tag entschied der Exekutivdirektor entsprechend der Empfehlung des stellvertretenden Exekutivdirektors, der als den Kläger beurteilender Bediensteter in dem Vertragsverlängerungsformular betont hatte, dass die berufliche Leistung des Klägers im Lauf der letzten vier Jahre nicht den Anforderungen entsprochen habe, förmlich, den Vertrag des Klägers nicht zu verlängern. Diese Entscheidung wurde dem Kläger am darauffolgenden 16. Dezember bekannt gegeben.
16 Die Entscheidung des Exekutivdirektors von Frontex vom 10. Dezember 2010, den Vertrag des Klägers nicht zu verlängern, war Gegenstand eines außergerichtlichen Verwaltungsverfahrens und wurde danach vom Kläger vor dem Gericht angefochten, das mit Urteil vom 30. Januar 2013, Wahlström/Frontex (F‑87/11, EU:F:2013:10), diese Entscheidung wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften aufhob, da es feststellte, dass das Verfahren zur Verlängerung des Vertrags des Klägers von einem Zuständigkeitsmangel des zu Rate gezogenen gegenzeichnenden Bediensteten überschattet gewesen sei. Im Anschluss an diese Aufhebung erließ der Exekutivdirektor von Frontex als AHCC am 19. Februar 2013 eine neue Entscheidung über die Nichtverlängerung des Vertrags des Klägers (im Folgenden: angefochtene Entscheidung), die dem Kläger am darauffolgenden 22. Februar mit dem neuen, vom beurteilenden und vom gegenzeichnenden Bediensteten ausgefüllten Formular zur Verlängerung seines Vertrags bekannt gegeben wurde.
17 Am 23. April 2013 legte der Kläger gemäß Art. 90 Abs. 2 des Statuts Beschwerde gegen die angefochtene Entscheidung ein. Diese Beschwerde wurde durch Entscheidung der AHCC vom 21. August 2013 zurückgewiesen.
Anträge der Parteien
18 Der Kläger beantragt,
—
die angefochtene Entscheidung aufzuheben;
—
„das Gericht möge seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“ ausüben, „um die Wirksamkeit seiner Entscheidung zu gewährleisten“;
—
Frontex die Kosten aufzuerlegen.
19 Frontex beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zu den Aufhebungsanträgen
20 Zur Stützung seiner Aufhebungsanträge beruft sich der Kläger auf fünf Klagegründe, mit denen er erstens eine Verletzung der Verteidigungsrechte, zweitens einen Verstoß gegen Nr. 3 Buchst. c der Leitlinien, drittens einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, viertens die Nichtbeachtung der Fürsorgepflicht und fünftens einen offensichtlichen Beurteilungsfehler geltend macht.
21 Im Rahmen seines ersten Klagegrundes wirft der Kläger Frontex vor, ihn vor Erlass der angefochtenen Entscheidung ‐ einer beschwerenden Maßnahme, die schwerwiegende Folgen für seine berufliche Situation haben könne, weil sie ihn dadurch um das Bestehen seines Arbeitsverhältnisses bringe, dass sie auf einer Beurteilung seiner Qualitäten und Qualifikationen beruhe ‐ nicht angehört zu haben. Eine solche Entscheidung sei daher als eine nach Abschluss eines gegen den Kläger eingeleiteten Verfahrens getroffene Entscheidung anzusehen.
22 Der Kläger führt ferner aus, das Anhörungsrecht stelle einen elementaren Grundsatz des Unionsrechts dar, der den Leitlinien vorgehe, so dass, auch wenn diese keine Konsultation der betreffenden Bediensteten vorsähen, dies nicht dazu führen dürfe, dass die Anwendung dieses Grundsatzes vereitelt werde. Nur unter ganz besonderen Umständen, wenn es sich in der Praxis als unmöglich oder als mit dem Interesse des Dienstes unvereinbar erweise, eine vorherige Konsultation des Betroffenen durchzuführen, könnten die sich aus dem oben angeführten Grundsatz ergebenden Anforderungen durch eine möglichst rasche Anhörung nach Erlass der beschwerenden Entscheidung erfüllt werden. Im vorliegenden Fall habe Frontex den Kläger jedoch weder vor noch bei der ersten Gelegenheit nach Erlass der angefochtenen Entscheidung konsultiert.
23 Frontex stellt weder in Abrede, dass die angefochtene Entscheidung den Kläger beschwert, noch dass die Beachtung der Verteidigungsrechte in jedem gegen eine Person eingeleiteten Verfahren, das zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen kann, ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts ist, der selbst dann sichergestellt werden muss, wenn es keine einschlägigen Verfahrensregeln gibt. Sie macht allerdings geltend, der bloße Umstand, dass eine Entscheidung in verfahrensrechtlicher Hinsicht eine beschwerende Maßnahme darstelle, reiche nicht aus, um die Verwaltung zu verpflichten, den betreffenden Bediensteten vor Erlass dieser Entscheidung sachdienlich anzuhören. Vielmehr müsse das Verwaltungsverfahren, in dem die beschwerende Entscheidung ergangen sei, auch gegen den Betroffenen eingeleitet worden sein. Dies sei jedoch bei dem Verfahren zur Verlängerung des Vertrags eines Bediensteten auf Zeit nicht der Fall, das bei allen Bediensteten auf Zeit nach denselben Regeln und Bewertungskriterien zur Anwendung komme, deren Verträge in naher Zukunft ausliefen und die tatsächlich ihre Verlängerung wünschten. Unter diesen Umständen wäre es widersprüchlich, zu behaupten, dass ein solches Verfahren gegen den betreffenden Bediensteten eingeleitet worden sei.
24 In der mündlichen Verhandlung hat Frontex ferner vorgetragen, auch Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verpflichte sie nicht, den Kläger zur Verlängerung seines Vertrags anzuhören, weil eine solche Verlängerung ihn nicht beschweren könne.
25 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts ist und auch dann sichergestellt werden muss, wenn es keine einschlägigen Verfahrensregeln gibt (Urteile Belgien/Kommission, 234/84, EU:C:1986:302, Rn. 27, Deutschland/Kommission, C‑288/96, EU:C:2000:537, Rn. 99, und Kommission/De Bry, C‑344/05 P, EU:C:2006:710, Rn. 37).
26 Im vorliegenden Fall beruft sich der Kläger darauf, dass die angefochtene Entscheidung im Anschluss an ein Verfahren getroffen worden sei, das gegen ihn insoweit eingeleitet worden sei, als er mit dem Verlust seines Arbeitsverhältnisses auf der Grundlage einer Beurteilung seiner Qualitäten und Qualifikationen bestraft worden sei. Wie Frontex jedoch zu Recht feststellt, soll das Verfahren zur Verlängerung der Verträge der Bediensteten auf Zeit, wie es durch die Leitlinien geregelt wird, der AHCC, nachdem die betreffenden Bediensteten sich dafür ausgesprochen haben, gerade ermöglichen, zu prüfen, ob es eine Möglichkeit zur Verlängerung ihrer in Kürze auslaufenden Verträge nach Bestimmungen gibt, die ihnen eine identische Behandlung in einem Bereich gewähren, in dem die AHCC über ein weites Ermessen verfügt. Unter diesen Voraussetzungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Verfahren, das zur angefochtenen Entscheidung geführt hat, gegen den Kläger eingeleitet wurde, so dass dieser sich nicht aus diesem Grund auf seine Verteidigungsrechte berufen kann.
27 Auch wenn somit im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen ist, dass die angefochtene Entscheidung in einem gegen den Kläger eingeleiteten Verfahren getroffen worden ist, betrifft diese Entscheidung die Situation des Klägers doch insoweit nachteilig, als sie zu dem Ergebnis führt, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, sein Arbeitsverhältnis mit Frontex fortzusetzen. Die Verteidigungsrechte, wie sie nunmehr in Art. 41 der Charta verankert sind, der nach Auffassung des Unionsrichters allgemein anwendbar ist (Urteil L/Parlament, T‑317/10 P, EU:T:2013:413, Rn. 81), umfassen u. a. das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a vorgesehene Verfahrensrecht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran, C‑27/09 P, EU:C:2011:853, Rn. 65, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 81 bis 83, und Kommission/Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 98 und 99). Folglich oblag es Frontex nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta, dem Kläger zu ermöglichen, seine Einwände vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung sachdienlich geltend zu machen. Frontex bestreitet aber keineswegs, dem Kläger nicht ermöglicht zu haben, vor dem Erlass dieser Entscheidung angehört zu werden.
28 Damit eine Verletzung des Anhörungsrechts zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führen kann, ist es jedoch nach ständiger Rechtsprechung noch erforderlich, zu prüfen, ob das Verfahren bei Fehlen dieser Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Urteile G. und R., C‑383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, und CH/Parlament, F‑129/12, EU:F:2013:203, Rn. 38).
29 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem neuen Vertragsverlängerungsformular, dass die Empfehlung des beurteilenden Bediensteten, den Vertrag des Klägers nicht zu verlängern, auf dem Niveau seiner beruflichen Leistungen im Jahr 2009 beruht, wie sie in der am 23. Juni 2010 fertiggestellten Beurteilung bewertet worden waren. Diese Beurteilungen wurden nämlich im Wesentlichen, und sogar größtenteils wörtlich, in der angefochtenen Entscheidung vom beurteilenden Bediensteten wieder aufgegriffen, der „das unzureichende Leistungsniveau (Kompetenzen und Verhalten) in den für wesentlich, entscheidend und vorrangig gehaltenen Bereichen des Stelleninhabers“ betont, wobei die beiden nicht erreichten und in Abschnitt B („Umsetzung der Ziele im Laufe des Referenzzeitraums“) der angeführten Beurteilung genannten Ziele speziell hervorgehoben werden. Ebenso wurden die Schwierigkeiten in den zwischenmenschlichen Beziehungen mit bestimmten Referaten und das beharrliche Treffen unangemessener Maßnahmen, angeführt in Abschnitt D „Fähigkeiten (Kompetenzen und Qualifikationen) im Laufe des Referenzzeitraums“ dieses Berichts, in der angefochtenen Entscheidung in den Kommentaren des beurteilenden Bediensteten wörtlich wieder aufgegriffen. Es ist aber unstreitig, dass der Kläger im Rahmen der Beurteilung für das Jahr 2009 gehört worden ist.
30 Jedoch kann allein durch das zwischen dem Kläger und dem beurteilenden Bediensteten im Rahmen dieser Beurteilung geführte Gespräch nicht festgestellt werden, dass, auch wenn die oben in Rn. 27 festgestellte Regelwidrigkeit des Verfahrens nicht vorläge, d. h. auch wenn der Kläger vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung angehört worden wäre und daher in der Lage gewesen wäre, seine Verteidigung gegenüber der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes geltend zu machen, das Vertragsverlängerungsverfahren nicht zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, da die beiden fraglichen Verfahren, das eine betreffend die Erstellung einer Beurteilung, das andere betreffend die Verlängerung oder die Nichtverlängerung eines Vertrags, zwar ähnliche, aber dennoch unterschiedliche Ziele verfolgen und sich auf verschiedene Beurteilungskriterien stützen können. Insbesondere stellen das Leistungsniveau und die Kompetenzen des betreffenden Bediensteten nur eines der Elemente dar, die von der AHCC, die befugt ist, sich zur Verlängerung eines Vertrags zu äußern, berücksichtigt werden können.
31 Dies gilt umso mehr angesichts der Kommentare des gegenzeichnenden Bediensteten, d. h. des stellvertretenden Exekutivdirektors, der im Rahmen des neuen, nach dem Aufhebungsurteil des Gerichts eingeleiteten Vertragsverlängerungsverfahren ebenfalls konsultiert wurde. Diese Kommentare bezogen sich auf die beruflichen Leistungen des Klägers im Lauf des Jahres 2010, die bereits vom Erstgenannten beurteilt worden waren, dieses Mal in seiner Eigenschaft als den Kläger beurteilender Bediensteter im Rahmen des Beurteilungsjahrs 2011. In seinem Urteil Wahlström/Frontex (EU:F:2013:143, Rn. 38), in dem über die Klage gegen die im Rahmen des Beurteilungsjahrs 2011 erstellte Beurteilung entschieden wurde, hat das Gericht eindeutig festgestellt, dass zwischen dem beurteilenden Bediensteten und dem Kläger im Rahmen dieser Beurteilung kein Gespräch stattgefunden hatte.
32 Nach alledem kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Antrag der AHCC, den Vertrag des Klägers nicht zu verlängern, hätte anders sein können, wenn der Kläger in der Lage gewesen wäre, seinen Standpunkt zum Niveau seiner beruflichen Leistungen sowohl im Jahr 2009 als auch im Jahr 2010 im Zusammenhang mit der Perspektive der Aufrechterhaltung seines Arbeitsverhältnisses mit Frontex sachgerecht zu vertreten, und dass deshalb die Beachtung des Anhörungsrechts auf diese Weise einen Einfluss auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung hätte haben können.
33 Unter den Umständen des vorliegenden Falles anzunehmen, dass Frontex eine identische Entscheidung erlassen hätte, auch wenn der Kläger angehört worden wäre, liefe auf nichts anderes als die Aushöhlung der Substanz des in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankerten Grundrechts auf rechtliches Gehör hinaus, da der Inhalt dieses Rechts selbst impliziert, dass der Betroffene die Möglichkeit hat, den betreffenden Entscheidungsprozess zu beeinflussen (Urteil Marcuccio/Kommission, T‑236/02, EU:T:2005:417, Rn. 115).
34 Nach alledem ist der erste Klagegrund begründet, so dass die angefochtene Entscheidung aufzuheben ist, ohne dass es erforderlich ist, die anderen Klagegründe zu prüfen.
Zu dem Antrag, das Gericht möge seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ausüben
35 Da der Kläger der Auffassung ist, dass seine Klage, soweit sie auf die Aufhebung einer Entscheidung über die Nichtverlängerung des Vertrags als Bediensteter auf Zeit gerichtet ist, finanzielle Folgen beinhaltet, beantragt er beim Gericht, es möge seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ausüben, die ihm Art. 91 Abs. 1 des Statuts zuerkenne, und Frontex zur Zahlung des Betrags verurteilen, den es nach billigem Ermessen für erforderlich halte, um die Wirksamkeit seiner Entscheidung zu gewährleisten.
36 Nach Ansicht von Frontex gibt es für das Gericht keinen Grund, seine Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung auszuüben und sie zur Zahlung von Schadensersatz zu verurteilen.
37 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Aufhebung eines Rechtsakts durch den Unionsrichter zur Folge hat, dass dieser Akt rückwirkend aus der Rechtsordnung entfernt wird, und dass, wenn der aufgehobene Rechtsakt bereits vollzogen worden ist, die Beseitigung seiner Wirkungen verlangt, dass die Rechtsposition des Klägers, in der er sich vor dem Erlass des Rechtsakts befand, wiederhergestellt wird (Urteile Landgren/ETF, F‑1/05, EU:F:2006:112, Rn. 92, und Kalmár/Europol, F‑83/09, EU:F:2011:66, Rn. 88). Außerdem hat gemäß Art. 266 AEUV das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, „die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ergebenden Maßnahmen zu ergreifen“.
38 Ferner ist hervorzuheben, dass die angefochtene Entscheidung aufgehoben worden ist, weil der Kläger von der AHCC vor Erlass ihrer Entscheidung nicht sachdienlich angehört worden ist.
39 In diesem Zusammenhang kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass die AHCC zu dem Ergebnis kommt, nach einer erneuten Prüfung der Akte unter Berücksichtigung der Gründe des vorliegenden Urteils erneut eine Entscheidung über die Nichtverlängerung des Vertrags als Bediensteter auf Zeit erlassen zu können.
40 Selbst wenn im Übrigen der vorliegende Antrag dahin zu verstehen wäre, dass er auf Ersatz des immateriellen Schadens gerichtet ist, den der Kläger angeblich aufgrund der der AHCC im Rahmen seines Aufhebungsantrags vorgeworfenen Rechtswidrigkeiten erlitten hat, ist dennoch festzustellen, dass die Klageschrift nicht den geringsten Beleg dafür enthält, dass der geltend gemachte immaterielle Schaden nicht durch die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, in der er seine Ursache hatte, in vollem Umfang wiedergutgemacht werden könnte.
41 Folglich gibt es für das Gericht keinen Grund, durch Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung, über die es nach Art. 91 Abs. 1 des Statuts verfügt, für die praktische Wirksamkeit des vorliegenden Aufhebungsurteils zu sorgen.
Kosten
42 Nach Art. 87 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei vorbehaltlich der übrigen Bestimmungen des Achten Kapitels des Zweiten Titels der Verfahrensordnung auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 87 Abs. 2 kann das Gericht aus Gründen der Billigkeit entscheiden, dass eine unterliegende Partei zur Tragung nur eines Teils der Kosten oder gar nicht zur Tragung der Kosten zu verurteilen ist.
43 Aus den Gründen des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Frontex mit ihrer Klage unterlegen ist. Der Kläger hat außerdem ausdrücklich beantragt, Frontex zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Umstände des vorliegenden Falles die Anwendung von Art. 87 Abs. 2 der Verfahrensordnung nicht rechtfertigen, hat Frontex ihre eigenen Kosten und die Kosten zu tragen, die dem Kläger entstanden sind.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Entscheidung des Exekutivdirektors der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 19. Februar 2013, den Vertrag von Herrn Wahlström als Bediensteter auf Zeit nicht zu verlängern, wird aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten, die Herrn Wahlström entstanden sind.
Van Raepenbusch
Barents
Bradley
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. September 2014.
Die Kanzlerin
Der Präsident
W. Hakenberg
S. Van Raepenbusch
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 11. September 2014.#Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfen – Rückforderungspflicht – Art. 108 Abs. 2 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 14 Abs. 3 – Beschluss der Kommission – Von den Mitgliedstaaten zu ergreifende Maßnahmen.#Rechtssache C‑527/12.
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62012CJ0527
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ECLI:EU:C:2014:2193
| 2014-09-11T00:00:00 |
Wahl, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0527
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
11. September 2014 (*1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfen — Rückforderungspflicht — Art. 108 Abs. 2 AEUV — Verordnung (EG) Nr. 659/1999 — Art. 14 Abs. 3 — Beschluss der Kommission — Von den Mitgliedstaaten zu ergreifende Maßnahmen“
In der Rechtssache C‑527/12
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 108 Abs. 2 AEUV, eingereicht am 20. November 2012,
Europäische Kommission, vertreten durch T. Maxian Rusche und F. Erlbacher als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), A. Rosas, D. Šváby und C. Vajda,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Dezember 2013,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Februar 2014
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 108 Abs. 2 AEUV, Art. 288 AEUV, dem Effektivitätsgrundsatz, Art. 14 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. L 83, S. 1) sowie den Art. 1 bis 3 des Beschlusses 2011/471/EU der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die staatliche Beihilfe Deutschlands zugunsten der Biria-Gruppe (C 38/05 [ex NN 52/04]) (ABl. 2011, L 195, S. 55) verstoßen hat, dass sie nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um die sofortige und tatsächliche Vollstreckung dieses Beschlusses durch die Rückforderung der gewährten Beihilfen zu ermöglichen.
Unionsrecht
2 Der 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/1999 lautet:
„Bei rechtswidrigen Beihilfen, die mit dem Gemeinsamen Markt nicht vereinbar sind, muss wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt werden. Dazu ist es notwendig, die betreffende Beihilfe einschließlich Zinsen unverzüglich zurückzufordern. Die Rückforderung hat nach den Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu erfolgen. Die Anwendung dieser Verfahren sollte jedoch die Wiederherstellung eines wirksamen Wettbewerbs durch Verhinderung der sofortigen und tatsächlichen Vollstreckung der Kommissionsentscheidung nicht erschweren. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, sollten die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit der Kommissionsentscheidung treffen.“
3 Art. 14 („Rückforderung von Beihilfen“) dieser Verordnung bestimmt:
„(1) In Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen entscheidet die Kommission, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern (nachstehend ‚Rückforderungsentscheidung‘ genannt). Die Kommission verlangt nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen würde.
(2) Die aufgrund einer Rückforderungsentscheidung zurückzufordernde Beihilfe umfasst Zinsen, die nach einem von der Kommission festgelegten angemessenen Satz berechnet werden. Die Zinsen sind von dem Zeitpunkt, ab dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger zur Verfügung stand, bis zu ihrer tatsächlichen Rückzahlung zahlbar.
(3) Unbeschadet einer Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen [Union] nach Artikel [278 AEUV] erfolgt die Rückforderung unverzüglich und nach den Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats, sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglicht wird. Zu diesem Zweck unternehmen die betreffenden Mitgliedstaaten im Fall eines Verfahrens vor nationalen Gerichten unbeschadet des Gemeinschaftsrechts alle in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verfügbaren erforderlichen Schritte einschließlich vorläufiger Maßnahmen.“
4 Art. 23 („Nichtbefolgung von Entscheidungen und Urteilen“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Kommt der betreffende Mitgliedstaat mit Bedingungen und Auflagen verbundenen Entscheidungen oder Negativentscheidungen, insbesondere in den in Artikel 14 genannten Fällen, nicht nach, so kann die Kommission nach Artikel [108 Abs. 2 AEUV] den Gerichtshof … unmittelbar anrufen.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
5 Die MB System GmbH & Co. KG (im Folgenden: MB System) gehört zur Biria-Gruppe. Sie war in der Fahrradherstellung tätig, bis sie diese Ende 2005 einstellte und die dafür verwendeten materiellen Aktiva veräußerte. Seitdem besteht der Gesellschaftszweck von MB System in der Immobilienverwaltung.
6 Die Technologie-Beteiligungsgesellschaft mbH (im Folgenden: TBG) ist ein 100%iges Tochterunternehmen der Kreditanstalt für Wiederaufbau, einer öffentlichen Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland. Sie finanziert über Beteiligungen kleine und mittlere Unternehmen der Technologiebranche. Im Zuge mehrerer Umstrukturierungen übernahm TBG 2003 sämtliche Aktiva der gbb-Beteiligungs AG, die sich 2001 mit einer stillen Einlage am Kapital der Bike Systems GmbH & Co. Thüringer Zweiradwerk KG, der Rechtsvorgängerin von MB System, beteiligt hatte. Diese Beteiligung war der Kommission nicht als staatliche Beihilfe gemeldet worden. Die Parteien sind sich darüber einig, dass sie eine staatliche Beihilfe darstellte, da der als Entgelt vereinbarte Zinssatz unter dem Marktzins lag.
7 Die vorstehend genannte Beteiligung erfolgte im Wege eines zivilrechtlichen Vertrags.
8 Nach Eingang von Beschwerden mehrerer Wettbewerber leitete die Kommission am 20. Oktober 2005 im Einklang mit Art. 108 Abs. 2 AEUV ein förmliches Prüfverfahren ein.
9 Mit der Entscheidung 2007/492/EG vom 24. Januar 2007 über die staatliche Beihilfe C 38/2005 (ex NN 52/2004) Deutschlands an die Biria-Gruppe (ABl. L 183, S. 27) stellte die Kommission fest, dass die in Rede stehende Beteiligung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe darstelle, und gab der Bundesrepublik Deutschland auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sie zurückzufordern (im Folgenden: erste Entscheidung). Diese Entscheidung wurde am 3. März 2010 im Urteil des Gerichts Freistaat Sachsen/Kommission (T‑102/07 und T‑120/07, EU:T:2010:62) für nichtig erklärt.
10 Auf diese Entscheidung der Kommission hin forderte TBG am 16. Februar 2007 MB System zur Rückzahlung des Betrags der staatlichen Beihilfe auf, der dem aus der Anwendung eines unter dem Marktzinsniveau liegenden Zinssatzes erlangten Vorteil entsprach. MB System kam der Zahlungsaufforderung nicht nach.
11 Der endgültige Rückforderungsbetrag wurde im Oktober 2007 zwischen den Parteien festgelegt und belief sich auf 697456 Euro.
12 Nachdem MB System einer weiteren Rückzahlungsaufforderung nicht nachgekommen war, erhob TBG am 10. April 2008 vor dem Landgericht Mühlhausen Klage auf Zahlung des genannten Betrags. Sie stützte die Klage auf die erste Entscheidung und auf einen Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV und § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), da die in Rede stehende Beihilfe nicht angemeldet worden sei.
13 Nach ständiger Rechtsprechung der deutschen Gerichte ist ein unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV geschlossener Vertrag nach deutschem Recht gemäß § 134 BGB nichtig. Aus diesem Grund stand die Nichtigerklärung der ersten Entscheidung der beim Landgericht Mühlhausen anhängigen Klage nicht entgegen.
14 Die mündliche Verhandlung vor dem Landgericht Mühlhausen fand am 26. November 2008 in Abwesenheit des Bevollmächtigten von MB System statt. Das Gericht erließ daher ein vorläufig vollstreckbares Versäumnisurteil (im Folgenden: Versäumnisurteil), aufgrund dessen TBG wegen ihrer Forderung in das Vermögen von MB System vollstrecken kann. MB System legte am 19. Dezember 2008 gegen dieses Urteil Einspruch ein.
15 Mit Beschluss vom 9. Januar 2009 stellte das Landgericht Mühlhausen die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 840000 Euro ein, die MB System entweder in Form einer Hinterlegung beim Landgericht Mühlhausen oder einer Bürgschaft zu leisten hatte.
16 Mit Rücksicht auf das beim Gericht anhängige Verfahren setzte das Landgericht Mühlhausen am 17. März 2009 das bei ihm anhängige Verfahren aus.
17 TBG legte gegen diesen Aussetzungsbeschluss am 7. April 2009 sofortige Beschwerde zum Thüringer Oberlandesgericht ein, die am 25. Januar 2010 zurückgewiesen wurde. Am 25. Februar 2010 legte TBG Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof ein. Dieser stellte mit Beschluss vom 16. September 2010 fest, dass der Beschluss des Landgerichts Mühlhausen vom 17. März 2009 über die Aussetzung des Verfahrens und der die Aussetzung bestätigende Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 25. Januar 2010 nach der Nichtigerklärung der ersten Entscheidung durch das Gericht gegenstandslos geworden seien.
18 Im Anschluss an die Nichtigerklärung der ersten Entscheidung durch das Gericht erließ die Kommission den im vorliegenden Fall in Rede stehenden Beschluss 2011/471 (im Folgenden: in Rede stehender Beschluss) mit folgendem Tenor:
„Artikel 1
Die staatliche Beihilfe Deutschlands zugunsten von Bike Systems GmbH & Co. Thüringer Zweiradwerk KG (derzeit MB System) [im Folgenden: streitige Beihilfe] ist mit dem Binnenmarkt unvereinbar. Die Beihilfe umfasste folgende Maßnahmen:
a)
Maßnahme 1: eine stille Einlage in der Bike Systems GmbH & Co. Thüringer Zweiradwerk KG (derzeit MB System) in Höhe von 2070732 [Euro].
…
Artikel 2
(1) Deutschland fordert die in Artikel 1 genannte Beihilfe vom Begünstigten zurück.
(2) Die Rückforderung erfolgt unverzüglich nach den nationalen Verfahren, sofern diese die sofortige, tatsächliche Durchführung des Beschlusses ermöglichen.
…
Artikel 3
(1) Die in Artikel 1 genannte Beihilfe wird sofort und tatsächlich zurückgefordert.
(2) Deutschland stellt sicher, dass dieser Beschluss binnen vier Monaten nach seiner Bekanntgabe umgesetzt wird.
…
Artikel 5
Dieser Beschluss ist an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet.“
19 Die Klage von MB System gegen den in Rede stehenden Beschluss wurde am 3. Juli 2013 mit Urteil des Gerichts MB System/Kommission (T‑209/11, EU:T:2013:338) abgewiesen.
20 Am 21. März 2011 beantragte TBG beim Amtsgericht Nordhausen die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil durch Eintragung von Zwangshypotheken. Die beantragten Zwangshypotheken wurden am 1. Juni 2011 eingetragen. Am 21. Juli 2011 veranlasste das Amtsgericht Nordhausen auf Antrag von TBG auf Einleitung der Zwangsvollstreckung aus den Grundstücken von MB System ein Sachverständigengutachten über ihren Verkehrswert.
21 Im Verfahren zur Vollstreckung des in Rede stehenden Beschlusses setzte das Landgericht Mühlhausen auf Antrag von MB System das Verfahren durch Beschluss vom 30. März 2011 erneut aus. Am 14. April 2011 legte TBG wiederum sofortige Beschwerde zum Thüringer Oberlandesgericht ein, das sie mit Beschluss vom 28. Dezember 2011 zurückwies. Am 26. Januar 2012 legte TBG Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof ein, der die Beschlüsse der Vorinstanzen am 13. September 2012 aufhob. Daraufhin wurde das beim Landgericht Mühlhausen anhängige Verfahren am 27. März 2013 fortgesetzt.
22 Am 25. Juli 2012 setzte das Amtsgericht Nordhausen den Verkehrswert der Grundstücke von MB System aufgrund eines Sachverständigengutachtens vom 22. Mai 2012 auf 1893700 Euro fest. Als Termin zur Zwangsversteigerung dieser Grundstücke wurde der 10. April 2013 angesetzt. Bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof, dem 4. Dezember 2013, war die Zwangsversteigerung ergebnislos geblieben, so dass die streitige Beihilfe nicht hatte zurückerstattet werden können.
23 Da der in Rede stehende Beschluss fast zwei Jahre nach seinem Erlass noch nicht vollstreckt worden war, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben. Die Bundesrepublik Deutschland stellt die Begründetheit des Beschlusses und ihre Pflicht zur Rückforderung der streitigen Beihilfe von MB System nicht in Abrede. Die Parteien kamen überein, dass sich der Rückforderungsbetrag zum Zeitpunkt der Klageerhebung durch die Kommission auf insgesamt 816630 Euro belief.
Zur Klage
Vorbringen der Parteien
24 Die Kommission vertritt die Auffassung, dass die Beklagte nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um die Vollstreckung des in Rede stehenden Beschlusses durch die Rückforderung der streitigen Beihilfe zu ermöglichen.
25 Sie macht in erster Linie geltend, nach Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 bleibe es grundsätzlich dem betroffenen Mitgliedstaat überlassen, wie er in seinem nationalen Verfahrensrecht die Vollstreckung des Beschlusses der Kommission, mit dem die Rückforderung einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe angeordnet werde, sicherstelle; dabei müsse allerdings der Effektivitätsgrundsatz beachtet werden. Das im vorliegenden Fall von der Beklagten für die Rückforderung der Beihilfe gewählte Instrument einer bei den deutschen Zivilgerichten erhobenen Klage auf Rückerstattung sei jedoch nicht geeignet, die sofortige und tatsächliche Vollstreckung des in Rede stehenden Beschlusses zu ermöglichen. Aufgrund der üblichen Dauer gerichtlicher Verfahren sei es der Beklagten nicht möglich gewesen, die streitige Beihilfe innerhalb der in dem in Rede stehenden Beschluss festgelegten Frist von vier Monaten tatsächlich zurückzuerlangen.
26 Weil die sofortige und tatsächliche Vollstreckung des in Rede stehenden Beschlusses durch die Inanspruchnahme der deutschen zivilrechtlichen Verfahren nicht gewährleistet gewesen sei, müsse gemäß Art. 14 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 659/1999 das nationale Verfahrensrecht hinter das Unionsrecht zurücktreten, und die Beklagte müsse sich selbst durch den Erlass eines Verwaltungsakts einen vollstreckbaren Titel verschaffen, mit dem die Rückforderung der streitigen Beihilfe unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts angeordnet werde. Das Unionsrecht biete nämlich Rechtsgrundlagen, die die Beklagte zum Erlass eines solchen Verwaltungsakts ermächtigten. Der in Rede stehende Beschluss stelle dabei eine solche Ermächtigungsgrundlage dar, auch wenn er MB System nicht unmittelbar zur Rückzahlung der streitigen Beihilfe verpflichte. Auch bei Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 und Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV handele es sich um solche Ermächtigungsgrundlagen.
27 Allgemein macht die Kommission in diesem Zusammenhang geltend, dass im Fall einer Entscheidung, mit der die Rückforderung einer rechtswidrigen und mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe angeordnet werde, der betroffene Mitgliedstaat eine Erfolgspflicht habe, die ihn zwinge, diese Beihilfe innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist tatsächlich wiederzuerlangen, und keine Handlungspflicht, die darauf beschränkt wäre, innerhalb dieser Frist das Rückforderungsverfahren einzuleiten. Im vorliegenden Fall hätte die Wiedererlangung der streitigen Beihilfe innerhalb der in Art. 3 des in Rede stehenden Beschlusses gesetzten Frist erfolgen müssen. Die Beklagte hafte daher für den mangelnden Erfolgseintritt, da die Beihilfe vor Ablauf der gesetzten Frist tatsächlich den Einflussbereich des Beihilfeempfängers hätte verlassen müssen.
28 Hilfsweise macht die Kommission geltend, selbst wenn das vorläufig vollstreckbare Versäumnisurteil die sofortige und tatsächliche Vollstreckung des in Rede stehenden Beschlusses ermöglicht hätte, habe die Beklagte dieses Urteil jedenfalls nicht zur sofortigen und tatsächlichen Wiedererlangung der streitigen Beihilfe genutzt.
29 Obwohl der in Rede stehende Beschluss für die Rückforderung der streitigen Beihilfe eine Frist von vier Monaten vorsehe, habe die Beklagte einen Antrag auf Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil erst am 21. März 2011, d. h. mehr als drei Monate nach Erlass dieses Beschlusses, gestellt.
30 In ihrer Erwiderung hebt die Kommission zudem hervor, dass zwischen dem Zeitpunkt des vorstehend erwähnten Antrags auf Zwangsvollstreckung und dem 10. April 2013, an dem die Grundstücke des Beihilfeempfängers hätten zwangsversteigert werden sollen, fast zwei durch offensichtliche Untätigkeit der Beklagten gekennzeichnete Jahre vergangen seien.
31 Die deutsche Regierung weist darauf hin, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten nicht vorschreibe, in welcher Form sie eine staatliche Beihilfe gewähren müssten. Nach deutschem Recht, das die Gewährung staatlicher Beihilfen durch Verwaltungsakt, öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertrag ermögliche, sei die Form der Rückabwicklung einer Beihilfe durch die Wahl der Rechtsakts, mit dem sie gewährt werde, vorgegeben. Im vorliegenden Fall habe MB System die streitige Beihilfe von TBG, einer vom deutschen Staat gehaltenen privatrechtlichen Beteiligungsgesellschaft, im Rahmen eines privatrechtlichen Vertrags erhalten. Infolgedessen seien die Behörden, nachdem MB System der Aufforderung, die Beihilfe zurückzuzahlen, nicht Folge geleistet habe, nicht befugt gewesen, den in Rede stehenden Beschluss selbst zu vollstrecken, sondern hätten ihren Anspruch auf Rückzahlung der Beihilfe vor den Zivilgerichten geltend machen müssen.
32 Nach den Grundsätzen der Gesetzesbindung der Verwaltung und der Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichem und zivilrechtlichem Handeln ergebe sich aus dem deutschen Recht und insbesondere aus Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, dass die Behörden eine staatliche Beihilfe nur dann durch Verwaltungsakt zurückfordern dürften, wenn sie in Form eines Verwaltungsakts gewährt worden sei und eine Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines solchen Rechtsakts existiere. Nach deutschem Recht dürfe eine Behörde nicht eingreifen und einen privatrechtlichen Vertrag durch einen Hoheitsakt beenden. Auch sehe es keine allgemeine Ermächtigungsgrundlage für eine praktische Allzuständigkeit einer solchen Behörde vor.
33 Jedenfalls könne auch ein von einer deutschen Behörde erlassener Verwaltungsakt vom Beihilfeempfänger gerichtlich angefochten werden. Verzögerungen seien daher immer möglich. Dies sei schlicht Ausdruck des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Es sei deshalb nicht erwiesen, dass der Erlass eines Verwaltungsakts tatschlich schneller zur Rückforderung der streitigen Beihilfe führen würde als die Erhebung einer zivilrechtlichen Klage.
34 Auch die Bestimmungen des Unionsrechts könnten nicht als Ermächtigungsgrundlagen für den Erlass von Verwaltungsakten angesehen werden. Der in Rede stehende Beschluss richte sich an den betroffenen Mitgliedstaat, ohne die Art und Weise des nationalen Rückforderungsprozesses näher zu bestimmen. Darüber hinaus lasse sich Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 nichts über die Art und Weise des Verfahrens zur Rückforderung von Beihilfen entnehmen. Sowohl diese Vorschrift als auch Beschlüsse der Kommission wie der vorliegend in Rede stehende regelten lediglich das Verhältnis zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat und verwiesen im Übrigen auf das nationale Verfahrensrecht. Zudem sei Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV nicht hinreichend vollkommen, um eine unmittelbare Wirkung gegenüber Einzelnen zu entfalten, und bestimme, dass die Kommission im Voraus eine verbindliche Entscheidung über die Rückforderung einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe erlasse.
35 Ferner sei die von der Kommission in einem Beschluss wie dem vorliegenden gesetzte Frist nicht als Erfolgsfrist, sondern als Handlungsfrist zu verstehen. Der betroffene Mitgliedstaat sei lediglich verpflichtet, innerhalb dieser Frist alle Maßnahmen einzuleiten bzw. zu treffen, die erforderlich seien, um die Rückforderung der fraglichen Beihilfen zu ermöglichen und normale Wettbewerbsbedingungen wiederherzustellen. Diese Auslegung entspreche dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 659/1999, der auf die im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren verweise. Im vorliegenden Fall habe TBG alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um den in Rede stehenden Beschluss vor Ablauf der darin gesetzten Frist durchzuführen.
Würdigung durch den Gerichtshof
36 Auch wenn die Parteien in ihrem Vorbringen Umstände und Tatsachen aus der Zeit vor dem Erlass des in Rede stehenden Beschlusses anführen, betrifft die Klage der Kommission die Nichtbefolgung dieses Beschlusses, so dass sich auch die Prüfung durch den Gerichtshof darauf beziehen wird.
37 Nach Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 entscheidet die Kommission in Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern. Sie verlangt nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde.
38 Die Rückforderung erfolgt nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 659/1999 unverzüglich und nach den Verfahren des nationalen Rechts, sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglicht wird. Zu diesem Zweck unternehmen die betreffenden Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung unbeschadet des Unionsrechts alle in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verfügbaren erforderlichen Schritte einschließlich vorläufiger Maßnahmen.
39 Obwohl der Wortlaut dieses Artikels die Erfordernisse des Effektivitätsgrundsatzes widerspiegelt (Urteil Scott und Kimberly Clark, C‑210/09, EU:C:2010:294, Rn. 20), ergibt sich aus ihm auch, dass die Anwendung des Rechts des betroffenen Mitgliedstaats zum Zweck der Rückforderung mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie dieses Mitgliedstaats und unter Wahrung der Grundrechte, insbesondere des Rechts auf ein faires Verfahren, einschließlich der Verteidigungsrechte erfolgt. Daraus folgt, dass das Unionsrecht nicht verlangt, dass die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe vom Empfänger durch eine zuständige nationale Behörde allein auf der Grundlage der Rückforderungsentscheidung der Kommission erfolgt.
40 Der betroffene Mitgliedstaat ist in der Wahl der Mittel frei, mit denen er seiner Pflicht zur Rückforderung einer für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfe nachkommt, sofern die gewählten Mittel nicht die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen (Urteil Scott und Kimberly Clark, EU:C:2010:294, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Wahl der Mittel zur Rückforderung einer solchen Beihilfe hat der Gerichtshof insofern als begrenzt eingestuft, als diese Mittel die vom Unionsrecht verlangte Rückforderung nicht praktisch unmöglich machen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil Mediaset, C‑69/13, EU:C:2014:71, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Anwendung nationaler Verfahren hängt von der Bedingung ab, dass sie die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglichen; diese Bedingung spiegelt die Erfordernisse des in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Effektivitätsgrundsatzes wider (Urteil Kommission/Italien, C‑243/10, EU:C:2012:182, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen müssen zur Wiederherstellung der normalen Wettbewerbsbedingungen geeignet sein, die durch die Gewährung der rechtswidrigen Beihilfe, deren Rückforderung durch eine Kommissionsentscheidung angeordnet wird, verfälscht wurden (Urteil Scott und Kimberly Clark, EU:C:2010:294, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Daher ist die Frage, ob der betroffene Mitgliedstaat durch die Wahl dieser Mittel in Anbetracht des Effektivitätsgebots seinen Verpflichtungen zur Rückforderung einer für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfe nachgekommen ist, anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen.
44 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der Beklagten nicht vorgeworfen werden kann, zur Rückforderung der streitigen Beihilfe ihr Zivilrecht gewählt und vor den ordentlichen Gerichten geklagt zu haben. Kein Bestandteil der dem Gerichtshof vorliegenden Akten vermag von vornherein den Rückgriff auf das Zivilrecht und die ordentlichen Gerichte auszuschließen, vorbehaltlich jedoch der konkreten Umstände der Anwendung dieses Rechts durch die Beklagte und ihrer Sorgfalt bei der tatsächlichen Rückforderung der streitigen Beihilfe.
45 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Kontrolle eines zur Rückforderung einer rechtswidrigen staatlichen Beihilfe erlassenen vollstreckbaren Titels durch ein nationales Gericht und die mögliche Aufhebung eines solchen Titels als bloßer Ausfluss des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes anzusehen sind, der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Scott und Kimberly Clark, EU:C:2010:294, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Ferner ist festzustellen, dass die Beklagte ihre Pflicht zur Rückforderung der streitigen Beihilfe nie in Abrede gestellt hat und dass sie überdies konkrete Schritte zur Rückforderung unternommen hat.
47 Gleichwohl steht fest, dass die streitige Beihilfe weder zum Zeitpunkt der Klageerhebung durch die Kommission noch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof zurückgezahlt worden war, da sie sich noch im Vermögen des begünstigten Unternehmens befand.
48 Zur möglichen Rechtfertigung dieser erheblichen Verzögerung hat der Gerichtshof ausgeführt, dass ein Mitgliedstaat zur Verteidigung gegen eine von der Kommission gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV erhobene Vertragsverletzungsklage nur geltend machen kann, dass es völlig unmöglich gewesen sei, die in Rede stehende Entscheidung durchzuführen (Urteile Kommission/Deutschland, 94/87, EU:C:1989:46, Rn. 8, und Kommission/Frankreich, C‑441/06, EU:C:2007:616, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Diese völlige Unmöglichkeit kann, wie der Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge festgestellt hat, auch rechtlicher Art sein, wenn sie sich aus Entscheidungen der nationalen Gerichte ergibt, vorausgesetzt, diese Entscheidungen stehen mit dem Unionsrecht im Einklang.
50 Insoweit sind in der vorliegenden Rechtssache folgende Erwägungen anzustellen.
51 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Mitgliedstaat, der bei der Durchführung eines Beschlusses der Kommission, mit dem die Rückforderung einer Beihilfe angeordnet wird, auf Schwierigkeiten stößt, diese Probleme der Kommission zur Beurteilung vorlegen muss und dabei mit entsprechender Begründung eine Verlängerung der gesetzten Frist beantragen und geeignete Änderungen dieses Beschlusses vorschlagen kann, um es der Kommission zu ermöglichen, sich durch einen Beschluss fundiert zu äußern. In einem solchen Fall obliegen dem Mitgliedstaat und der Kommission im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit, um diese Schwierigkeiten zu überwinden (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Deutschland, EU:C:1989:46, Rn. 9, Kommission/Italien, EU:C:2012:182, Rn. 41 und 42, und Kommission/Griechenland, C‑263/12, EU:C:2013:673, Rn. 32).
52 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Beklagte nicht die notwendigen Schritte im Sinne dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs unternommen hat, die die Kommission zu einer Zusammenarbeit mit ihr hätten veranlassen können, um mögliche Schwierigkeiten bei der Anwendung des in Rede stehenden Beschlusses zu überwinden und bei der Suche nach einer angemessenen Lösung mitzuwirken. Insbesondere hat die Beklagte der Kommission die Probleme bei der Rückforderung der streitigen Beihilfe nicht innerhalb der gesetzten Frist zur Beurteilung vorgelegt und bei ihr auch keine Fristverlängerung beantragt.
53 Zweitens macht die Beklagte geltend, sie habe die streitige Beihilfe bis zur Klageerhebung durch die Kommission oder auch bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof nicht wiedererlangen können, weil es TBG als der öffentlichen Einrichtung, die diese Beihilfe gewährt habe, obliege, die erforderlichen Schritte zu ihrer Wiedererlangung zu unternehmen und weil nach deutschem Recht eine auf der Grundlage zivilrechtlicher Vorschriften gewährte Beihilfe nur nach den zivilrechtlichen Verfahren zurückgefordert werden könne.
54 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht zur Rückforderung der streitigen Beihilfe nicht nur TBG oblag, sondern allen Behörden dieses Mitgliedstaats in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich.
55 Zu dem die deutsche Rechtsordnung betreffenden Argument der Kommission ist festzustellen, dass die Beklagte nicht vorgetragen hat, dass nur die von ihr gewählte Vorgehensweise in Betracht gekommen sei, um die streitige Beihilfe wiederzuerlangen, und dass es keine anderen Mittel gegeben habe, die eine Rückerlangung innerhalb der in Art. 3 Abs. 2 des in Rede stehenden Beschlusses gesetzten Frist ermöglicht hätten. Sollten die zivilrechtlichen Vorschriften die tatsächliche Wiedererlangung der streitigen Beihilfe nicht sicherstellen können, könnte es nach den Umständen des konkreten Einzelfalls erforderlich sein, eine nationale Vorschrift unangewendet zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Frankreich, C‑232/05, EU:C:2006:651, Rn. 53) und andere Maßnahmen zu ergreifen, wobei Gründe, die im Zusammenhang mit der nationalen Rechtsordnung stehen, solche Maßnahmen nicht ausschließen können.
56 Schließlich ist festzustellen, dass Art. 4 Abs. 3 EUV nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften im Bereich staatlicher Beihilfen für die nationalen Gerichte ebenfalls eine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit mit der Kommission und den Unionsgerichten begründet, in deren Rahmen sie alle geeigneten allgemeinen oder speziellen Maßnahmen zur Erfüllung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Pflichten treffen und alle Maßnahmen unterlassen müssen, die die Verwirklichung der Ziele des Vertrags gefährden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Mediaset, EU:C:2014:71, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Darüber hinaus gelten, wie der Generalanwalt in Nr. 91 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die vom Gerichtshof in seinen Urteilen Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest (C‑143/88 und C‑92/89, EU:C:1991:65) und Atlanta Fruchthandelsgesellschaft u. a. (I) (C‑465/93, EU:C:1995:369) aufgestellten Erfordernisse auch für die Maßnahmen, mit denen auf nationaler Ebene die Aussetzung des Verfahrens zur Rückforderung einer Beihilfe angestrebt wird, deren Rückgewährung die Kommission angeordnet hat.
58 Im vorliegenden Fall wurden die in dieser Rechtsprechung aufgestellten Erfordernisse nicht beachtet, wie sich daran zeigt, dass der Bundesgerichtshof am 13. September 2012 die letzten Beschlüsse des Landgerichts Mühlhausen und des Thüringer Oberlandesgerichts zur Aussetzung des Rückforderungsverfahrens mit der Begründung aufgehoben hat, dass diese Gerichte die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgearbeiteten Kriterien nicht richtig beurteilt hätten.
59 In Anbetracht der Umstände der vorliegenden Rechtssache und der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die Verzögerung bei der Vollstreckung des in Rede stehenden Beschlusses nicht gerechtfertigt ist. Die Beklagte hat nicht nachgewiesen, dass es ihr rechtlich völlig unmöglich war, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um diesem Beschluss in vollem Umfang Wirksamkeit zu verleihen.
60 Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 288 AEUV, auf den die Kommission ihre Klage ebenfalls stützt, eine allgemeine Bestimmung darstellt, während staatliche Beihilfen speziell in Art. 108 AEUV und der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung dieses Artikels geregelt sind. Daher ist ein Verstoß auch gegen Art. 288 AEUV nicht festzustellen. Dasselbe gilt für den Grundsatz der Effektivität, der sich aus Art. 14 der Verordnung ergibt.
61 Folglich hat die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 108 Abs. 2 AEUV, aus Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 und aus den Art. 1 bis 3 des in Rede stehenden Beschlusses verstoßen, dass sie nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um die streitige Beihilfe, die Gegenstand dieses Beschlusses ist, von ihrem Empfänger zurückzufordern.
Kosten
62 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 108 Abs. 2 AEUV, aus Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] und aus den Art. 1 bis 3 des Beschlusses 2011/471/EU der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die staatliche Beihilfe Deutschlands zugunsten der Biria-Gruppe (C 38/05 [ex NN 52/04]) verstoßen, dass sie nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um die staatliche Beihilfe, die Gegenstand dieses Beschlusses ist, vom Empfänger zurückzufordern.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 11. September 2014.#A gegen B u. a.#Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Obersten Gerichtshof.#Art. 267 AEUV – Nationale Verfassung – Obligatorisches Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit – Prüfung der Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Gesetzes sowohl mit dem Unionsrecht als auch mit der innerstaatlichen Verfassung – Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Kein bekannter Wohnsitz oder Aufenthalt des Beklagten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – Vereinbarung über die Zuständigkeit bei Einlassung des Beklagten auf das Verfahren – Abwesenheitskurator.#Rechtssache C‑112/13.
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62013CJ0112
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ECLI:EU:C:2014:2195
| 2014-09-11T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0112
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
11. September 2014 (*1)
„Art. 267 AEUV — Nationale Verfassung — Obligatorisches Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit — Prüfung der Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Gesetzes sowohl mit dem Unionsrecht als auch mit der innerstaatlichen Verfassung — Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen — Kein bekannter Wohnsitz oder Aufenthalt des Beklagten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats — Vereinbarung über die Zuständigkeit bei Einlassung des Beklagten auf das Verfahren — Abwesenheitskurator“
In der Rechtssache C‑112/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 8. März 2013, in dem Verfahren
A
gegen
B u. a.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas, D. Šváby und C. Vajda,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von A, vertreten durch Rechtsanwalt T. Frad,
—
von B u. a., vertreten durch Rechtsanwalt A. Egger,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia, avvocato dello Stato,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger, H. Krämer und A.‑M. Rouchaud‑Joët als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. April 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 AEUV und Art. 24 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A und B u. a. wegen einer von Letzteren gegen A vor den österreichischen Gerichten erhobenen Schadensersatzklage.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 2, 11 und 12 der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:
„(2)
Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus den durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaaten zu vereinfachen.
…
(11) Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.
(12) Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten muss durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind.“
4 Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung lautet:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“
5 Art. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:
„(1) Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.
(2) Gegen diese Personen können insbesondere nicht die in Anhang I aufgeführten innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften geltend gemacht werden.“
6 In Abschnitt 7 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) des Kapitels II der Verordnung Nr. 44/2001 sieht Art. 24 vor:
„Sofern das Gericht eines Mitgliedstaats nicht bereits nach anderen Vorschriften dieser Verordnung zuständig ist, wird es zuständig, wenn sich der Beklagte vor ihm auf das Verfahren einlässt. Dies gilt nicht, wenn der Beklagte sich einlässt, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen oder wenn ein anderes Gericht aufgrund des Artikels 22 ausschließlich zuständig ist.“
7 In Abschnitt 8 („Prüfung der Zuständigkeit und der Zulässigkeit des Verfahrens“) dieses Kapitels der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es in Art. 26:
„(1) Lässt sich der Beklagte, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat und der vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt wird, auf das Verfahren nicht ein, so hat sich das Gericht von Amts wegen für unzuständig zu erklären, wenn seine Zuständigkeit nicht nach dieser Verordnung begründet ist.
(2) Das Gericht hat das Verfahren so lange auszusetzen, bis festgestellt ist, dass es dem Beklagten möglich war, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück so rechtzeitig zu empfangen, dass er sich verteidigen konnte oder dass alle hierzu erforderlichen Maßnahmen getroffen worden sind.
…“
8 In Kapitel III der Verordnung Nr. 44/2001, das die Überschrift „Anerkennung und Vollstreckung“ trägt, sieht Art. 34 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 vor, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, wenn „dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte“.
Österreichisches Recht
Bundes-Verfassungsgesetz
9 Nach Art. 89 Abs. 1 und 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) sind die ordentlichen Gerichte nicht befugt, Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Der Oberste Gerichtshof und die zur Entscheidung in zweiter Instanz zuständigen Gerichte haben, wenn sie ein Gesetz für verfassungswidrig erachten, einen Antrag auf Aufhebung dieses Gesetzes beim Verfassungsgerichtshof zu stellen.
10 Nach Art. 92 Abs. 1 B-VG ist der Oberste Gerichtshof die oberste Instanz in Zivil- und Strafrechtssachen.
11 Gemäß Art. 140 Abs. 1 B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof u. a. auf Antrag des Obersten Gerichtshofs und der in zweiter Instanz zuständigen Gerichte über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen. Nach Art. 140 Abs. 6 und 7 B-VG wirkt die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, mit der ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben wird, allgemein und bindet alle Gerichte und Verwaltungsbehörden.
Zivilprozessordnung
12 § 115 der Zivilprozessordnung (ZPO) sieht grundsätzlich vor, dass an Personen, deren Abgabestelle unbekannt ist, durch öffentliche Bekanntmachung, die durch Aufnahme einer Mitteilung in die Ediktsdatei erfolgt, zuzustellen ist.
13 § 116 ZPO sieht vor:
„Für Personen, an welche die Zustellung wegen Unbekanntheit des Aufenthaltes nur durch öffentliche Bekanntmachung geschehen könnte, hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen einen Kurator zu bestellen (§ 9 [ZPO]), wenn diese Personen infolge der an sie zu bewirkenden Zustellung zur Wahrung ihrer Rechte eine Prozesshandlung vorzunehmen hätten und insbesondere, wenn das zuzustellende Schriftstück eine Ladung derselben enthält.“
14 Gemäß § 117 ZPO ist die Bestellung des Kurators durch ein Edikt bekannt zu machen, dessen Inhalt in die Ediktsdatei aufgenommen wird.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 Am 12. Oktober 2009 erhoben B u. a. beim Landesgericht Wien eine Schadensersatzklage gegen A, mit der sie geltend machten, dieser habe in Kasachstan ihre Ehemänner bzw. Väter entführt.
16 Zur Zuständigkeit der österreichischen Gerichte trugen B u. a. vor, dass A seinen ordentlichen Wohnsitz im Sprengel des angerufenen Gerichts habe.
17 Das Landesgericht Wien unternahm mehrere Zustellungsversuche, bei denen sich ergab, dass A an der Zustelladresse keinen Wohnsitz mehr hatte. Am 27. August 2010 bestellte das Gericht auf Antrag von B u. a. gemäß § 116 ZPO für den Beklagten einen Abwesenheitskurator.
18 Nach Zustellung der Klage reichte der Abwesenheitskurator eine Klagebeantwortung ein, in der er die Abweisung der Klage beantragte und zahlreiche inhaltliche Einwendungen erhob, ohne indessen die fehlende internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte geltend zu machen.
19 Erst danach wurde in dem Verfahren eine von A bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei tätig und erhob die Einrede der internationalen Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte. Sie machte insoweit insbesondere geltend, dass das Auftreten des Abwesenheitskurators nicht die internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte begründen könne, da A keinen Kontakt zu dem Abwesenheitskurator gehabt habe und dieser auch keine Kenntnis von den maßgeblichen Ereignissen in Kasachstan habe. Zu seinem Wohnsitz erklärte A, er habe Österreich vor Erhebung der Klage gegen ihn auf Dauer verlassen. Er machte gegenüber dem Gericht keine Angaben zu seinem Wohnsitz, da sein Leben in Gefahr sei, ersuchte aber darum, alle Zustellungen künftig an die ihn vertretende Rechtsanwaltskanzlei vorzunehmen.
20 Das Landesgericht Wien erklärte sich für international unzuständig und wies die Klage zurück. Zur Begründung führte es aus, dass A sich im Hoheitsgebiet der Republik Malta aufhalte und die Einlassung des Abwesenheitskurators keine Streiteinlassung im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 darstelle.
21 Das Oberlandesgericht Wien gab dem von B u. a. gegen diese Entscheidung erhobenen Rekurs statt und verwarf die Einrede der internationalen Unzuständigkeit. Die nationalen Gerichte müssten eine Prüfung ihrer internationalen Zuständigkeit nur bei Nichtteilnahme des Beklagten gemäß Art. 26 der Verordnung Nr. 44/2001 vornehmen. Nach österreichischem Recht komme aber der Prozesshandlung des zur Wahrung der Interessen des Beklagten verpflichteten Abwesenheitskurators dieselbe Rechtswirkung zu wie jener eines rechtsgeschäftlich Bevollmächtigten.
22 Vor dem Obersten Gerichtshof, zu dem er Revisionsrekurs eingelegt hatte, hat A eine Verletzung seiner in Art. 6 der am 4. November 1950 unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierten Verteidigungsrechte geltend gemacht. Dagegen haben B u. a. eingewandt, dass diese Bestimmungen der EMRK und der Charta ebenfalls ihr Grundrecht auf ein effektives Gerichtsverfahren garantierten, das die Bestellung eines Abwesenheitskurators gemäß § 116 ZPO gebiete.
23 Nach Angaben des Obersten Gerichtshofs verfügte A bei Klageerhebung über einen Wohnsitz in Malta. Da der für A bestellte Abwesenheitskurator die internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte nicht in Zweifel gezogen habe, stelle sich die Frage, ob die von diesem Kurator eingebrachte Klagebeantwortung A zugerechnet werden könne und ein „Einlassen des Beklagten“ im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 bedeute. Insoweit führt der Oberste Gerichtshof aus, dass die umfassende Vertretungsbefugnis des Abwesenheitskurators gemäß § 116 ZPO zur Wahrung des Grundrechts von B u. a. auf einen wirksamen Rechtsbehelf geboten sein könne, aber zugleich mit dem Grundrecht von A auf rechtliches Gehör unvereinbar sein könnte.
24 In diesem Zusammenhang führt das vorlegende Gericht aus, dass es Rechtsvorschriften, die dem Unionsrecht zuwiderliefen, gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts im Einzelfall unangewandt lasse; dies sei ständige Rechtsprechung. In einer Entscheidung vom 14. März 2012 (U 466/11) habe der Verfassungsgerichtshof jedoch in Abweichung von dieser Rechtsprechung entschieden, dass seine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nationaler Gesetze im Rahmen des Verfahrens der generellen Normenkontrolle gemäß Art. 140 B-VG auf die Bestimmungen der Charta ausgedehnt werden müsse. Im Rahmen dieses Verfahrens könnten nämlich die von der EMRK gewährleisteten Rechte vor ihm als Rechte mit Verfassungsrang geltend gemacht werden. Somit verlange der Äquivalenzgrundsatz, wie er sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergebe, dass auch die von der Charta garantierten Rechte einen Prüfungsmaßstab im Rahmen der generellen Normenkontrolle bildeten.
25 Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs hat diese Entscheidung zur Folge, dass die österreichischen Gerichte ein gegen die Charta verstoßendes Gesetz nicht eigenständig unangewandt lassen dürften, sondern „unbeschadet der Möglichkeit zur Einholung von Vorabentscheidungsverfahren“ einen Antrag auf Aufhebung dieses Gesetzes beim Verfassungsgerichtshof stellen müssten. Dieser habe ferner ausgeführt, dass keine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bestehe, wenn ein von der österreichischen Verfassung garantiertes Recht denselben Anwendungsbereich habe wie ein von der Charta garantiertes Recht. In diesem Fall sei die Auslegung der Charta nicht entscheidungserheblich, da die Entscheidung über einen Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes dann auf der Grundlage der von der österreichischen Verfassung garantierten Rechte ergehen könne.
26 Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob der Äquivalenzgrundsatz gebiete, dass das Zwischenverfahren der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit auf die von der Charta garantierten Rechte ausgedehnt werde, da ein solcher Antrag die Verfahrensdauer verlängere und höhere Verfahrenskosten verursache. Das Ziel einer allgemeinen Rechtsbereinigung durch Aufhebung des gegen die Charta verstoßenden Gesetzes könne auch nach Abschluss des Verfahrens erreicht werden. Ferner könne der Umstand, dass ein von der österreichischen Verfassung garantiertes Grundrecht und ein sich aus der Charta ergebendes Recht denselben Anwendungsbereich hätten, die Vorlagepflicht nicht entfallen lassen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Auslegung dieses Grundrechts durch den Verfassungsgerichtshof sich von der des Gerichtshofs unterscheide und dass damit seine Entscheidung in Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 44/2001 eingreife.
27 Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen, und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist aus dem europarechtlichen „Äquivalenzprinzip“ bei der Durchsetzung des Rechts der Europäischen Union für ein Verfahrenssystem, in dem die zur Sachentscheidung berufenen ordentlichen Gerichte zwar auch die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu prüfen haben, ihnen aber die generelle Aufhebung der Gesetze verwehrt ist, sondern einem in besonderer Weise organisierten Verfassungsgerichtshof vorbehalten wurde, abzuleiten, dass die ordentlichen Gerichte beim Verstoß eines Gesetzes gegen Art. 47 der Charta während des Verfahrens auch den Verfassungsgerichtshof zur allgemeinen Aufhebung des Gesetzes anrufen müssen und nicht bloß das Gesetz im konkreten Fall unangewandt lassen können?
2. Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Verfahrensbestimmung entgegensteht, wonach ein international unzuständiges Gericht einen Abwesenheitskurator für eine Partei, deren Aufenthalt nicht festgestellt werden kann, bestellt und dieser dann durch seine „Einlassung“ verbindlich die internationale Zuständigkeit bewirken kann?
3. Ist Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass nur dann eine „Einlassung des Beklagten“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, wenn die entsprechende Prozesshandlung durch den Beklagten selbst oder einen von ihm bevollmächtigten Rechtsvertreter gesetzt wurde, oder gilt dies ohne Einschränkung auch bei einem nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats bestellten Abwesenheitskurator?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
28 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, und insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der die ordentlichen Gerichte, die auf ein Rechtsmittel hin oder in letzter Instanz entscheiden, im Rahmen eines bei ihnen anhängigen Verfahrens, wenn ihrer Auffassung nach ein nationales Gesetz gegen Art. 47 der Charta verstößt, das Verfassungsgericht mit einem Antrag auf allgemeine Aufhebung des Gesetzes zu befassen haben, statt sich darauf zu beschränken, das Gesetz im konkreten Fall unangewandt zu lassen.
29 Zwar nimmt das vorlegende Gericht in der ersten Frage allein auf den Grundsatz der Äquivalenz Bezug, da der Verfassungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung die Verpflichtung, ihn mit einem Antrag auf allgemeine Aufhebung eines gegen die Charta verstoßenden Gesetzes zu befassen, auf diesen Grundsatz gestützt hat. Jedoch lässt die Begründung der Vorlageentscheidung erkennen, dass das vorlegende Gericht insbesondere klären lassen möchte, ob diese Rechtsprechung mit den Verpflichtungen der ordentlichen Gerichte aus Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in Einklang steht.
30 In dieser Hinsicht geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass gemäß der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs die ordentlichen Gerichte, die auf ein Rechtsmittel hin oder in letzter Instanz entscheiden, den Verfassungsgerichtshof in dem Verfahren zur allgemein wirkenden Aufhebung von Gesetzen gemäß den Art. 89 und 140 B-VG anzurufen haben, wenn sie der Auffassung sind, dass ein Gesetz gegen die Charta verstößt. Da ein solcher Antrag auf allgemeine Aufhebung eines Gesetzes im Rahmen des vor diesen ordentlichen Gerichten anhängigen Verfahrens gestellt werden muss, ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass die Gerichte über den bei ihnen anhängigen Rechtsstreit in diesen Fällen nicht sofort entscheiden dürfen, indem sie ein ihrer Ansicht nach mit der Charta unvereinbares Gesetz unangewandt lassen.
31 Was ferner die Folgen dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung für die Verpflichtungen aus Art. 267 AEUV betrifft, beschränkt sich das vorlegende Gericht auf den Hinweis, dass die Verpflichtung, ein gegen die Charta verstoßendes Gesetz dem Verfassungsgerichtshof vorzulegen, nicht die Möglichkeit berührt, den Gerichtshof der Europäischen Union mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassen, ohne jedoch klarzustellen, ob diese Möglichkeit bestimmten Voraussetzungen unterliegt.
32 Allerdings ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, in denen sich die in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs befindet, dass ein solcher Antrag auf allgemeine Aufhebung von Gesetzen die Befugnis der ordentlichen Gerichte unberührt lässt, dem Gerichtshof – gemäß der vom Verfassungsgerichtshof aus dem Urteil Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 57) übernommenen Formulierung – in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, und selbst nach Abschluss eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die sie für erforderlich halten, jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens eine mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen. Dabei erachtet es der Verfassungsgerichtshof, wie aus Rn. 42 seiner Entscheidung hervorgeht, für maßgeblich, dass dem Gerichtshof nicht die Möglichkeit genommen wird, die Kontrolle der Gültigkeit von Sekundärrecht der Union am Maßstab des Primärrechts und der Charta auszuüben.
33 Die erste Frage ist im Licht dieser Aspekte zu beantworten.
34 Art. 267 AEUV verleiht dem Gerichtshof die Zuständigkeit, im Wege der Vorabentscheidung sowohl über die Auslegung der Verträge und der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union als auch über die Gültigkeit dieser Handlungen zu entscheiden. Nach Abs. 2 dieses Artikels kann ein einzelstaatliches Gericht derartige Fragen dem Gerichtshof vorlegen, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält, und nach Abs. 3 ist das einzelstaatliche Gericht hierzu verpflichtet, wenn seine Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.
35 Daraus folgt erstens, dass es zwar je nach der Gestaltung des Falls von Vorteil sein kann, wenn zum Zeitpunkt der Vorlage an den Gerichtshof der Sachverhalt der Rechtssache und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen geklärt sind (vgl. Urteile Irish Creamery Milk Suppliers Association u. a., 36/80 und 71/80, EU:C:1981:62, Rn. 6, Meilicke, C‑83/91, EU:C:1992:332, Rn. 26, sowie JämO, C‑236/98, EU:C:2000:173, Rn. 31), dass aber die nationalen Gerichte ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, dass ein bei ihnen anhängiges Verfahren Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen (vgl. u. a. Urteile Rheinmühlen-Düsseldorf, 166/73, EU:C:1974:3, Rn. 3, Mecanarte, C‑348/89, EU:C:1991:278, Rn. 44, Cartesio, C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 88, sowie Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 41).
36 Zweitens hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten ist, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. u. a. Urteile Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 21 und 24, Filipiak, C‑314/08, EU:C:2009:719, Rn. 81, Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 45).
37 Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen wäre nämlich jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (vgl. Urteile Simmenthal, EU:C:1978:49, Rn. 22, Factortame u. a., C‑213/89, EU:C:1990:257, Rn. 20, sowie Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies wäre dann der Fall, wenn bei einem Widerspruch zwischen einer unionsrechtlichen Bestimmung und einem staatlichen Gesetz die Lösung dieses Normenkonflikts einem über ein eigenes Beurteilungsermessen verfügenden anderen Organ als dem Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, vorbehalten wäre, selbst wenn das daraus folgende Hindernis für die volle Wirksamkeit dieses Rechts nur vorübergehender Art wäre (vgl. Urteile Simmenthal, EU:C:1978:49, Rn. 23, sowie Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 44).
38 Drittens hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein innerstaatliches Gericht, bei dem ein das Unionsrecht betreffender Rechtsstreit anhängig ist und das die Auffassung vertritt, dass eine innerstaatliche Vorschrift nicht nur gegen das Unionsrecht verstößt, sondern darüber hinaus verfassungswidrig ist, auch dann, wenn zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer innerstaatlichen Vorschrift ein Rechtsbehelf zum Verfassungsgericht zwingend vorgeschrieben ist, gemäß Art. 267 AEUV befugt bzw. verpflichtet ist, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen. Die Wirksamkeit des Unionsrechts wäre nämlich gefährdet, wenn der Umstand, dass ein Rechtsbehelf zum Verfassungsgericht zwingend vorgeschrieben ist, das innerstaatliche Gericht, bei dem ein nach Unionsrecht zu entscheidender Rechtsstreit anhängig ist, daran hindern könnte, von der ihm durch Art. 267 AEUV eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen, die die Auslegung und die Gültigkeit des Unionsrechts betreffen, um darüber entscheiden zu können, ob eine innerstaatliche Vorschrift mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht (Urteil Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Nach der in den Rn. 35 bis 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung machen es das Funktionieren des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Systems der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts notwendig, dass es dem nationalen Gericht freisteht, in jedem Moment des Verfahrens, den es für geeignet hält, und selbst nach Abschluss eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dem Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die es für erforderlich hält (vgl. in diesem Sinne Urteil Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 51 und 52).
40 Ferner hat, soweit das nationale Recht die Verpflichtung vorsieht, ein Zwischenverfahren zur allgemeinen Normenkontrolle einzuleiten, das Funktionieren des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Systems zur Voraussetzung, dass es dem nationalen Gericht freisteht, zum einen jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und zum anderen nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens die betreffende nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen, wenn es sie als unionsrechtswidrig ansieht (vgl. Urteil Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 53).
41 Was schließlich die parallele Anwendbarkeit der von einer nationalen Verfassung garantierten Grundrechte und der von der Charta garantierten Grundrechte auf nationale Rechtsvorschriften zur Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta betrifft, ist hervorzuheben, dass die Vorrangigkeit eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines nationalen Gesetzes, dessen Inhalt sich auf die Umsetzung zwingender Bestimmungen einer Unionsrichtlinie beschränkt, nicht die alleinige Zuständigkeit des Gerichtshofs beeinträchtigen darf, eine Handlung der Union und insbesondere eine Richtlinie für ungültig zu erklären, da diese Zuständigkeit Rechtssicherheit gewährleisten soll, indem sie die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile Foto-Frost, 314/85, EU:C:1987:452, Rn. 15 bis 20, IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 27, Lucchini, C‑119/05, EU:C:2007:434, Rn. 53, sowie Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 54).
42 Soweit die Vorrangigkeit eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dazu führt, dass ein nationales Gesetz, das auf die Umsetzung zwingender Bestimmungen einer Unionsrichtlinie beschränkt ist, wegen Unvereinbarkeit mit der nationalen Verfassung aufgehoben wird, könnte dem Gerichtshof nämlich in der Praxis die Möglichkeit genommen sein, auf Ersuchen der Tatgerichte des betreffenden Mitgliedstaats die Gültigkeit dieser Richtlinie im Hinblick auf die gleichen Gründe bezogen auf die Anforderungen des Primärrechts und insbesondere der Rechte aus der nach Art. 6 EUV mit den Verträgen rechtlich gleichrangigen Charta zu kontrollieren (Urteil Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 55).
43 Bevor im Zwischenverfahren die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, dessen Inhalt auf die Umsetzung zwingender Bestimmungen einer Unionsrichtlinie beschränkt ist, im Hinblick auf die gleichen Gründe, aus denen die Gültigkeit der Richtlinie in Frage steht, kontrolliert werden kann, sind die nationalen Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, grundsätzlich nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, den Gerichtshof zur Gültigkeit dieser Richtlinie zu befragen und anschließend die Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dem vom Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteil ergeben, sofern nicht das Gericht, das die im Zwischenverfahren erfolgende Kontrolle veranlasst hat, selbst dem Gerichtshof diese Frage gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV vorgelegt hat. Handelt es sich um ein nationales Umsetzungsgesetz mit einem derartigen Inhalt, ist nämlich die Frage, ob die Richtlinie gültig ist, angesichts der Verpflichtung zu deren Umsetzung als Vorfrage anzusehen (Urteil Melki und Abdeli, EU:C:2010:363, Rn. 56).
44 Im Übrigen steht es, wenn das Unionsrecht den Mitgliedstaaten bei der Durchführung eines Unionsrechtsakts einen Ermessensspielraum einräumt, den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei, die Einhaltung der durch die nationale Verfassung gewährleisteten Grundrechte sicherzustellen, sofern durch die Anwendung nationaler Schutzstandards für die Grundrechte weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60).
45 Was den Äquivalenzgrundsatz betrifft, auf den das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen Bezug nimmt, so dürfen nach diesem Grundsatz die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als diejenigen, die für entsprechende innerstaatliche Klagen gelten (Urteile Transportes Urbanos y Servicios Generales, C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 33, sowie Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Anwendung des Äquivalenzgrundsatzes kann jedoch nicht bewirken, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Befolgung der innerstaatlichen Verfahrensmodalitäten von der strikten Beachtung der sich aus Art. 267 AEUV ergebenden Anforderungen befreit sind.
46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass das Unionsrecht, und insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der die ordentlichen Gerichte, die auf ein Rechtsmittel hin oder in letzter Instanz entscheiden, im Rahmen eines bei ihnen anhängigen Verfahrens, wenn ihrer Auffassung nach ein nationales Gesetz gegen Art. 47 der Charta verstößt, das Verfassungsgericht mit einem Antrag auf allgemeine Aufhebung des Gesetzes zu befassen haben, statt sich darauf zu beschränken, das Gesetz im konkreten Fall unangewandt zu lassen, soweit die Vorrangigkeit dieses Verfahrens zur Folge hat, dass die ordentlichen Gerichte – sei es vor einer solchen Antragstellung bei dem für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zuständigen nationalen Gericht, sei es gegebenenfalls nach dessen Entscheidung über den Antrag – an der Wahrnehmung ihrer Befugnis oder der Erfüllung ihrer Verpflichtung gehindert sind, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dagegen ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen, dass es einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, soweit es den ordentlichen Gerichten freisteht,
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in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, und selbst nach Abschluss eines Zwischenverfahrens zur allgemeinen Normenkontrolle dem Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die sie für erforderlich halten,
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jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und
—
nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens die fragliche nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen, wenn sie sie als unionsrechtswidrig ansehen.
Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit diesen Anforderungen des Unionsrechts ausgelegt werden können.
Zur zweiten und zur dritten Frage
47 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass dann, wenn ein innerstaatliches Gericht für einen Beklagten, dessen Wohnsitz unbekannt ist und dem daher das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht zugestellt worden ist, nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einen Abwesenheitskurator bestellt hat und dieser sich auf das Verfahren einlässt, dies einer Einlassung des Beklagten auf das Verfahren im Sinne von Art. 24 dieser Verordnung gleichkommt, die die internationale Zuständigkeit des innerstaatlichen Gerichts begründet.
48 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass A nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts zu dem Zeitpunkt, zu dem der Ausgangsrechtsstreit vor den österreichischen Gerichten eingeleitet wurde, keinen Wohnsitz mehr in diesem Mitgliedstaat hatte. Gegenstand dieses Rechtsstreits ist zudem eine Schadensersatzklage wegen Entführungen, die sich nicht in Österreich, sondern in Kasachstan ereignet haben. Damit ergibt sich die internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte nicht aus Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001. Es ist nicht ersichtlich, dass der Ausgangsrechtsstreit einen wie auch immer gearteten Bezug zu dem österreichischen Hoheitsgebiet hat, der die Zuständigkeit der österreichischen Gerichte nach den Bestimmungen dieser Verordnung begründen könnte, wenn sich A nicht im Sinne von Art. 24 der Verordnung vor dem angerufenen Gericht auf das Verfahren eingelassen hat.
49 Hierzu geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass ein gemäß § 116 ZPO bestellter Abwesenheitskurator über eine umfassende Vertretungsbefugnis verfügt, die die Befugnis einschließt, sich für den abwesenden Beklagten auf das Verfahren einzulassen.
50 Nach ständiger Rechtsprechung jedoch sind die Vorschriften der Verordnung Nr. 44/2001 autonom unter Berücksichtigung vor allem ihrer Systematik und ihrer Zielsetzungen auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile Cartier parfums-lunettes und Axa Corporate Solutions Assurance, C‑1/13, EU:C:2014:109, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Hi Hotel HCF, C‑387/12, EU:C:2014:215, Rn. 24).
51 Ferner sind die Bestimmungen des Unionsrechts wie die der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht der Grundrechte auszulegen, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, und nun in der Charta verankert sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 68 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Insoweit ist zu beachten, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 insgesamt das Bestreben zum Ausdruck bringen, sicherzustellen, dass im Rahmen der Ziele der Verordnung die Verfahren, die zum Erlass gerichtlicher Entscheidungen führen, unter Wahrung der in Art. 47 der Charta verankerten Verteidigungsrechte durchgeführt werden (vgl. Urteile Hypoteční banka, C‑327/10, EU:C:2011:745, Rn. 48 und 49, und G, C‑292/10, EU:C:2012:142, Rn. 47 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die Einlassung eines Abwesenheitskurators als Einlassung des Beklagten auf das Verfahren im Sinne von Art. 24 dieser Verordnung anzusehen ist.
53 Insoweit ist zunächst daran zu erinnern, dass sich dieser Art. 24 in Abschnitt 7 des Kapitels II der Verordnung Nr. 44/2001 befindet, der die Überschrift „Vereinbarung über die Zuständigkeit“ trägt. Art. 24 Satz 1 der Verordnung sieht für alle Streitigkeiten, für die sich die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nicht aus anderen Vorschriften dieser Verordnung ergibt, eine Zuständigkeitsregel vor, die auf der Einlassung des Beklagten auf das Verfahren beruht. Diese Bestimmung findet auch in Fällen Anwendung, in denen das Gericht unter Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Verordnung angerufen worden ist, und beinhaltet, dass die Einlassung des Beklagten auf das Verfahren als stillschweigende Anerkennung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und somit als Vereinbarung von dessen Zuständigkeit betrachtet werden kann (vgl. Urteile ČPP Vienna Insurance Group, C‑111/09, EU:C:2010:290, Rn. 21, sowie Cartier parfums-lunettes und Axa Corporate Solutions Assurance, EU:C:2014:109, Rn. 34).
54 Somit ist, wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, die stillschweigende Vereinbarung der Zuständigkeit gemäß Art. 24 Satz 1 der Verordnung Nr. 44/2001 auf eine bewusste Entscheidung der Parteien des Rechtsstreits über diese Zuständigkeit gegründet, was voraussetzt, dass der Beklagte Kenntnis von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren hat. Bei einem nicht anwesenden Beklagten, dem der verfahrenseinleitende Schriftsatz nicht zugestellt worden ist und der von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis hat, kann dagegen nicht davon ausgegangen werden, dass er die Zuständigkeit des angerufenen Richters stillschweigend anerkannt hat.
55 Außerdem kann ein abwesender Beklagter, der keine Kenntnis von der gegen ihn erhobenen Klage und der Bestellung eines Abwesenheitskurators hat, diesem nicht die für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts erforderlichen Informationen mitteilen, und er kann es diesem nicht ermöglichen, dieser Zuständigkeit sachgerecht entgegenzutreten oder sie in Kenntnis der Sachlage anzuerkennen. Unter diesen Umständen kann die Einlassung des Abwesenheitskurators auch nicht als eine stillschweigende Zustimmung des Beklagten angesehen werden.
56 Zweitens ist zu bedenken, dass die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts im Rahmen der Verordnung Nr. 44/2001, wie aus deren Art. 26 und 34 Nr. 2 hervorgeht, nur dann Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung von Amts wegen oder auf Antrag des Beklagten ist, wenn dieser sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat. Unter diesen Umständen setzt die Wahrung der Verteidigungsrechte voraus, dass ein rechtlicher Vertreter sich für den Beklagten nur dann wirksam im Sinne der Verordnung Nr. 44/2001 auf das Verfahren einlassen kann, wenn er tatsächlich in der Lage ist, die Verteidigung der Rechte des abwesenden Beklagten sicherzustellen. Wie sich jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 27 Nr. 2 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der Übereinkommen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen sowie der Rechtsprechung zu Art. 34 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 ergibt, ist ein Beklagter, der von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis hat und für den ein von ihm nicht mandatierter Rechtsanwalt oder „Prozesspfleger“ erscheint, außerstande, sich wirksam zu verteidigen, und daher als ein Beklagter zu betrachten, der sich im Sinne dieser Vorschrift nicht auf das Verfahren eingelassen hat, selbst wenn das Verfahren kontradiktorischen Charakter angenommen hat (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf die Auslegung des genannten Übereinkommens vom 27. September 1968 in geänderter Fassung Urteil Hendrikman und Feyen, C‑78/95, EU:C:1996:380, Rn. 18, sowie Urteil Hypoteční banka, EU:C:2011:745, Rn. 53 und 54).
57 Drittens stünde eine Auslegung von Art. 24 der Verordnung, wonach sich ein Abwesenheitskurator für den abwesenden Beklagten einlassen könnte, nicht mit den Zielen der in dieser Verordnung aufgestellten Zuständigkeitsregeln in Einklang, die gemäß dem elften Erwägungsgrund der Verordnung in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten müssen. Denn in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der das verfahrenseinleitende Schriftstück A, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts hatte, nicht zugestellt wurde, kann die Begründung der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte durch die Einlassung des für A bestellten Abwesenheitskurators nicht als vorhersehbar angesehen werden.
58 Schließlich erfordert auch das von Art. 47 der Charta garantierte Recht des Klägers auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das im Rahmen der Verordnung Nr. 44/2001 unter gleichzeitiger Beachtung der Verteidigungsrechte des Beklagten zu berücksichtigen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Hypoteční banka, EU:C:2011:745, Rn. 48 und 49, sowie G, EU:C:2012:142, Rn. 47 und 48), entgegen dem Vorbringen von B u. a. in ihren vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen keine andere Auslegung von Art. 24 der Verordnung.
59 Insoweit heben B u. a. hervor, dass A im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits seinen gegenwärtigen Wohnsitz immer noch nicht angegeben habe und so die Bestimmung des zuständigen Gerichts und die Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf verhindere. In dieser Situation müsse es, um eine Justizverweigerung zu vermeiden und einen gerechten Ausgleich zwischen den Rechten des Klägers und des Beklagten zu gewährleisten, gemäß der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung als zulässig angesehen werden, dass sich ein Abwesenheitskurator im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 für den Beklagten auf das Verfahren einlassen könne.
60 Insoweit hat der Gerichtshof zwar unter den besonderen Umständen der Rechtssachen Hypoteční banka (EU:C:2011:745) und G (EU:C:2012:142) entschieden, dass die Verordnung Nr. 44/2001, im Licht von Art. 47 der Charta ausgelegt, einem Verfahren gegen einen abwesenden Beklagten, in dem diesem eine wirksame Verteidigung nicht möglich war, nicht entgegenstand. Er hat hierbei aber die Tatsache hervorgehoben, dass dieser Beklagte die Möglichkeit hat, die Wahrung seiner Verteidigungsrechte zu erwirken, indem er sich nach Art. 34 Nr. 2 der Verordnung gegen die Anerkennung der gegen ihn ergangenen Entscheidung wehrt (vgl. in diesem Sinne Urteile Hypoteční banka, EU:C:2011:745, Rn. 54 und 55, sowie G, C‑292/10, EU:C:2012:142, Rn. 57 und 58). Diese Möglichkeit eines Rechtsbehelfs auf der Grundlage von Art. 34 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 hat aber, wie in Rn. 56 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, zur Voraussetzung, dass sich der Beklagte nicht auf das Verfahren eingelassen hat und dass die Verfahrenshandlungen des Prozesspflegers oder Abwesenheitskurators nicht einer solchen Einlassung des Beklagten im Sinne der Verordnung gleichkommen. Im vorliegenden Fall bewirken dagegen die vom Abwesenheitskurator gemäß § 116 ZPO vorgenommenen Verfahrenshandlungen, dass A im Hinblick auf die innerstaatliche Regelung so zu behandeln ist, als hätte er sich vor dem angerufenen Gericht auf das Verfahren eingelassen. Es ist festzustellen, dass eine Auslegung von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001, wonach ein solcher Prozesspfleger oder Abwesenheitskurator sich für den Beklagten im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 auf das Verfahren einlassen kann, keinen gerechten Ausgleich zwischen den Rechten auf einen wirksamen Rechtsbehelf und den Verteidigungsrechten herstellt.
61 Daher ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass dann, wenn ein innerstaatliches Gericht für einen Beklagten, dessen Wohnsitz unbekannt ist und dem daher das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht zugestellt worden ist, nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einen Abwesenheitskurator bestellt hat und dieser sich auf das Verfahren einlässt, dies nicht einer Einlassung des Beklagten auf das Verfahren im Sinne von Art. 24 dieser Verordnung gleichkommt, die die internationale Zuständigkeit des innerstaatlichen Gerichts begründet.
Kosten
62 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Das Unionsrecht, und insbesondere Art. 267 AEUV, ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der die ordentlichen Gerichte, die auf ein Rechtsmittel hin oder in letzter Instanz entscheiden, im Rahmen eines bei ihnen anhängigen Verfahrens, wenn ihrer Auffassung nach ein nationales Gesetz gegen Art. 47 der Charta verstößt, das Verfassungsgericht mit einem Antrag auf allgemeine Aufhebung des Gesetzes zu befassen haben, statt sich darauf zu beschränken, das Gesetz im konkreten Fall unangewandt zu lassen, soweit die Vorrangigkeit dieses Verfahrens zur Folge hat, dass die ordentlichen Gerichte – sei es vor einer solchen Antragstellung bei dem für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zuständigen nationalen Gericht, sei es gegebenenfalls nach dessen Entscheidung über den Antrag – an der Wahrnehmung ihrer Befugnis oder der Erfüllung ihrer Verpflichtung gehindert sind, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dagegen ist das Unionsrecht, und insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen, dass es einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, soweit es den ordentlichen Gerichten freisteht,
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in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, und selbst nach Abschluss eines Zwischenverfahrens zur allgemeinen Normenkontrolle dem Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die sie für erforderlich halten,
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jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und
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nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens die fragliche nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen, wenn sie sie als unionsrechtswidrig ansehen.
Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit diesen Anforderungen des Unionsrechts ausgelegt werden können.
2. Art. 24 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass dann, wenn ein innerstaatliches Gericht für einen Beklagten, dessen Wohnsitz unbekannt ist und dem daher das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht zugestellt worden ist, nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einen Abwesenheitskurator bestellt hat und dieser sich auf das Verfahren einlässt, dies nicht einer Einlassung des Beklagten auf das Verfahren im Sinne von Art. 24 dieser Verordnung gleichkommt, die die internationale Zuständigkeit des innerstaatlichen Gerichts begründet.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 4. September 2014.#Damijan Vnuk gegen Zavarovalnica Triglav d.d.#Vorabentscheidungsersuchen des Vrhovno sodišče.#Vorabentscheidungsersuchen – Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung – Richtlinie 72/166/EWG – Art. 3 Abs. 1 – Begriff der ‚Benutzung eines Fahrzeugs‘ – Im Hof eines Bauernhofs durch einen Traktor mit Anhänger verursachter Unfall.#Rechtssache C‑162/13.
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62013CJ0162
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ECLI:EU:C:2014:2146
| 2014-09-04T00:00:00 |
Mengozzi, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0162
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
4. September 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung — Richtlinie 72/166/EWG — Art. 3 Abs. 1 — Begriff der ‚Benutzung eines Fahrzeugs‘ — Im Hof eines Bauernhofs durch einen Traktor mit Anhänger verursachter Unfall“
In der Rechtssache C‑162/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vrhovno sodišče (Slowenien) mit Entscheidung vom 11. März 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2013, in dem Verfahren
Damijan Vnuk
gegen
Zavarovalnica Triglav d.d.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Kemper und J. Möller als Bevollmächtigte,
—
von Irland, vertreten durch A. Joyce, E. Creedon und L. Williams als Bevollmächtigte im Beistand von C. Toland, BL,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Rous Demiri und K.‑P. Wojcik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Februar 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Vnuk und der Zavarovalnica Triglav d.d. (im Folgenden: Zavarovalnica Triglav) über eine Schadensersatzleistung aus der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (im Folgenden: Haftpflichtversicherung).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 5 bis 7 der Ersten Richtlinie wird ausgeführt:
„Es ist wünschenswert, dass … Maßnahmen zur weiteren Liberalisierung der Regeln für den Personen- und Kraftfahrzeugverkehr im Reiseverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ergriffen werden; …
Solche Erleichterungen im Reiseverkehr stellen einen neuen Schritt zur wechselseitigen Öffnung der Märkte der Mitgliedstaaten und zur Schaffung von binnenmarktähnlichen Bedingungen dar.
Die Kontrolle der grünen Karte kann bei Fahrzeugen, die ihren gewöhnlichen Standort in einem Mitgliedstaat haben und die in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats einreisen, … aufgehoben werden …“
4 Art. 1 der Ersten Richtlinie sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen unter:
1. Fahrzeug: jedes maschinell angetriebene Kraftfahrzeug, welches zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden ist, sowie die Anhänger, auch wenn sie nicht angekoppelt sind;
…“
5 Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Jeder Mitgliedstaat trifft vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 4 alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“
6 Art. 4 dieser Richtlinie sieht vor:
„Jeder Mitgliedstaat kann von Artikel 3 abweichen:
…
b)
bei gewissen Arten von Fahrzeugen oder Fahrzeugen mit besonderem Kennzeichen, die dieser Staat bestimmt und deren Kennzeichnung er den anderen Mitgliedstaaten sowie der [Europäischen] Kommission meldet.
…“
7 Art. 1 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 8, S. 17, im Folgenden: Zweite Richtlinie) bestimmt:
„Die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.“
8 Art. 1 Abs. 2 der Zweiten Richtlinie legte die Mindestdeckungssummen der Haftpflichtversicherung fest. Diese Beträge wurden durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 zur Änderung der Richtlinien 72/166/EWG, 84/5/EWG, 88/357/EWG und 90/232/EWG des Rates sowie der Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 149, S. 14) neu bewertet, durch die auch eine Vorschrift zur Sicherstellung der regelmäßigen Überprüfung dieser Beträge anhand der Entwicklung des Europäischen Verbraucherpreisindexes in die Zweite Richtlinie eingefügt wurde.
9 Nach Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 1 der Zweiten Richtlinie „[schafft] [j]eder Mitgliedstaat … eine Stelle oder erkennt eine Stelle an, die für Sach- oder Personenschäden, welche durch ein nicht ermitteltes oder nicht … versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen der Versicherungspflicht Ersatz zu leisten hat“. Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 4 sah außerdem vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … die Einschaltung dieser Stelle bei Sachschäden, die durch ein nicht ermitteltes Fahrzeug verursacht wurden, beschränken oder ausschließen [können]“. Diese Möglichkeit wurde jedoch später mit der Richtlinie 2005/14 für Fälle ausgeschlossen, in denen „die Stelle einem Opfer eines Unfalls, bei dem durch ein nicht ermitteltes Fahrzeug auch Sachschäden verursacht wurden, für beträchtliche Personenschäden Schadenersatz geleistet [hat]“.
10 Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat trifft zweckdienliche Maßnahmen, damit jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] ausgestellten Versicherungspolice, mit der die Nutzung oder Führung von Fahrzeugen durch
—
hierzu weder ausdrücklich noch stillschweigend ermächtigte Personen oder
—
Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, oder
—
Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind,
von der Versicherung ausgeschlossen werden, bei der Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten als wirkungslos gilt.
…“
11 Art. 3 der Zweiten Richtlinie sieht vor:
„Familienmitglieder des Versicherungsnehmers, des Fahrers oder jeder anderen Person, die bei einem Unfall haftbar gemacht werden kann und durch die in Artikel 1 Absatz 1 bezeichnete Versicherung geschützt ist, dürfen nicht aufgrund dieser familiären Beziehungen von der Personenschadenversicherung ausgeschlossen werden.“
12 Art. 1 der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 129, S. 33) in der durch die Richtlinie 2005/14 geänderten Fassung (im Folgenden: Dritte Richtlinie) sieht vor:
„[D]ie in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung [deckt] die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jede gesetzliche Bestimmung oder Vertragsklausel in einer Versicherungspolice, mit der ein Fahrzeuginsasse vom Versicherungsschutz ausgeschlossen wird, weil er wusste oder hätte wissen müssen, dass der Fahrer des Fahrzeugs zum Zeitpunkt des Unfalls unter dem Einfluss von Alkohol oder einem anderen Rauschmittel stand, bezüglich der Ansprüche eines solchen Fahrzeuginsassen als wirkungslos gilt.
…“
13 Art. 1a der Dritten Richtlinie bestimmt:
„Die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung deckt Personen- und Sachschäden von Fußgängern, Radfahrern und anderen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern, die nach einzelstaatlichem Zivilrecht einen Anspruch auf Schadenersatz aus einem Unfall haben, an dem ein Kraftfahrzeug beteiligt ist. …“
14 Art. 4c dieser Richtlinie lautet:
„Versicherungsunternehmen können sich gegenüber Unfallgeschädigten nicht auf Selbstbeteiligungen berufen, soweit die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung betroffen ist.“
15 Die Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Mai 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG des Rates (Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie) (ABl. L 181, S. 65) sieht in Art. 3 („Direktanspruch“) vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die … Geschädigten … einen Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen haben, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt.“
16 Außerdem sieht Art. 1 der Ersten Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) (ABl. L 288, S. 3) in der durch die Richtlinie 84/641/EWG des Rates vom 10. Dezember 1984 (ABl. L 339, S. 21) geänderten Fassung vor:
„(1) Diese Richtlinie betrifft die Aufnahme und Ausübung der selbständigen Tätigkeit der Direktversicherung … durch Unternehmen, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind oder sich dort niederzulassen wünschen.
…
(3) Die Einteilung der in diesem Artikel bezeichneten Tätigkeiten nach Zweigen ist im Anhang aufgeführt.“
17 Im Anhang dieser Richtlinie heißt es:
„A. Einteilung der Risiken nach Versicherungszweigen
…
10. Haftpflicht für Landfahrzeuge mit eigenem Antrieb
Haftpflicht aller Art (einschließlich derjenigen des Frachtführers), die sich aus der Verwendung von Landfahrzeugen mit eigenem Antrieb ergibt.
…“
Slowenisches Recht
18 Art. 15 des Gesetzes über die Pflichtversicherungen im Verkehrsbereich (Zakon o obveznih zavarovanjih v prometu, im Folgenden: ZOZP) sieht vor:
„Der Eigentümer eines Fahrzeugs hat einen Vertrag über eine Haftpflichtversicherung für Schäden abzuschließen, die er Dritten bei der Benutzung des Fahrzeugs verursacht: Tod, Körperverletzung, Beeinträchtigung der Gesundheit oder Zerstörung und Beschädigung von Sachen …; ausgenommen ist die Haftung für Schäden an Sachen, die er zum Transport übernommen hat. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
19 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass am 13. August 2007 ein Traktor mit Anhänger während des Einbringens von Heuballen auf den Dachboden einer Scheune bei einem Rückwärtsmanöver im Hof des Bauernhofs, mit dem der Anhänger in die Scheune gelenkt werden sollte, gegen die Leiter stieß, auf der Herr Vnuk stand, und dessen Sturz verursachte. Herr Vnuk erhob gegen Zavarovalnica Triglav, die Versicherungsgesellschaft, bei der der Traktoreigentümer einen Haftpflichtversicherungsvertrag abgeschlossen hatte, Klage auf Zahlung eines Betrags von 15944,10 Euro als Ersatz für seinen Nichtvermögensschaden nebst Verzugszinsen.
20 Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage ab. Das Berufungsgericht wies die von Herrn Vnuk gegen dieses Urteil eingelegte Berufung mit dem Hinweis zurück, dass die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungspolice den Schaden decke, der bei der Benutzung eines Traktors als Transportmittel entstanden sei, nicht aber jenen, der bei der Nutzung des Traktors als Arbeits- oder Antriebsmaschine verursacht worden sei.
21 Das vorlegende Gericht ließ die Revision von Herrn Vnuk gegen letztere Entscheidung zu, soweit es um die Frage geht, ob der Traktor als „Fahrzeug“ im Sinne von Art. 15 ZOZP benutzt wurde.
22 Vor dem vorlegenden Gericht macht Herr Vnuk geltend, dass der Begriff der „Benutzung eines Fahrzeugs im Verkehr“ nicht auf Fahrten auf öffentlichen Straßen beschränkt werden könne und dass außerdem der Traktor zusammen mit seinem Anhänger im Zeitpunkt des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Schadenseintritts sehr wohl ein auf der Fahrt befindliches Fahrzeug gewesen sei und es sich um das Fahrtende gehandelt habe. Zavarovalnica Triglav trägt hingegen vor, dass das Ausgangsverfahren die Benutzung eines Traktors nicht in seiner Funktion als für den Straßenverkehr bestimmtes Fahrzeug, sondern bei der Arbeit vor der Scheune eines Bauernhofs betreffe.
23 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im ZOZP nicht definiert sei, dass aber die Rechtsprechung diese Lücke geschlossen habe. Der Hauptzweck der Haftpflichtversicherung nach dem ZOZP bestehe im Risikoausgleich bzw. im Erfordernis, für die Bedürfnisse der Geschädigten und der Fahrzeuginsassen im Verkehr auf öffentlichen Straßen zu sorgen. Nach der slowenischen Rechtsprechung sei für die Beurteilung, ob ein bestimmter Schaden durch eine Haftpflichtversicherung gedeckt sei, jedoch nicht ausschlaggebend, ob dieser auf einer öffentlichen Straße entstanden sei. Kein Haftpflichtversicherungsschutz bestehe allerdings, wenn das Fahrzeug als Arbeitsmaschine verwendet werde, z. B. auf einer landwirtschaftlichen Fläche, denn in einem solchen Fall gehe es nicht um Straßenverkehr.
24 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die verschiedenen Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinien – d. h. die Erste, die Zweite und die Dritte Richtlinie, die Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie sowie die Richtlinie 2005/14 (im Folgenden zusammen: Haftpflichtversicherungsrichtlinien) – auf den „Verkehr“, den „Straßenverkehr“ oder auch die „Verkehrsteilnehmer“ Bezug nähmen, aber nicht erläuterten, was als Benutzung eines Fahrzeugs gelte und welches Kriterium dabei ausschlaggebend sei. Man könne somit die Meinung vertreten, dass die Haftpflichtversicherung nur diejenigen Schäden decke, die im Rahmen des Straßenverkehrs von einem Fahrzeug verursacht worden seien, oder aber, dass sie jeglichen Schaden decke, der in irgendeiner Weise mit der Benutzung oder dem Betrieb eines Fahrzeugs zusammenhänge, unabhängig davon, ob diese Situation als Verkehrssituation qualifiziert werden könne.
25 Vor diesem Hintergrund hat das Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist der Begriff „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne der Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen, dass er sich nicht auf den Sachverhalt des konkreten Falles – bei dem der Versicherte der Revisionsbeklagten den Revisionskläger, der sich auf einer Leiter befand, mit einem Traktor mit Anhänger bei der Einbringung von Heuballen in eine Scheune anfuhr – erstreckt, weil es sich nicht um eine Verkehrssituation handelte?
Zu den Anträgen auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
26 Mit Schriftsatz, der am 28. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat Irland beantragt, nach Art. 83 der Verfahrensordnung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen. Irland stützt seinen Antrag darauf, dass es erforderlich sei, die Wirkungen des zu erlassenden Urteils zeitlich zu begrenzen, falls der Gerichtshof den Schlussanträgen des Generalanwalts folge, und dass es daher notwendig sei, das mündliche Verfahren wiederzueröffnen, damit Irland Gelegenheit gegeben werde, seine Argumente zur Stützung seines Antrags auf zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils vorzutragen.
27 Mit Schriftsätzen, die am 15. bzw. 21. Mai 2014 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen sind, haben die Regierung des Vereinigten Königreichs und die deutsche Regierung ebenfalls beantragt, nach Art. 83 der Verfahrensordnung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen. Die Regierung des Vereinigten Königreichs stützt ihren Antrag darauf, dass die vom Generalanwalt vorgelegten Schlussanträge mehrere Fehler aufwiesen, zu denen sie eine Stellungnahme einreichen wolle. Die deutsche Regierung trägt ihrerseits vor, dass die Schlussanträge ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen ansprächen, nämlich das Vorliegen einer etwaigen Lücke in der Ersten Richtlinie, die auszufüllen sei, und dass der Gerichtshof nicht ausreichend unterrichtet sei, um zu entscheiden.
28 Der Gerichtshof kann gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
29 Im vorliegenden Fall geht der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts davon aus, dass er über alle erforderlichen Angaben verfügt, um die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage zu beantworten, und dass die Rechtssache nicht im Hinblick auf eine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung ist, oder im Hinblick auf ein vor ihm nicht erörtertes Vorbringen zu prüfen ist.
30 Außerdem ist hinsichtlich der an den Schlussanträgen des Generalanwalts geübten Kritik zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs und seine Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Beschluss Emesa Sugar, C‑17/98, EU:C:2000:69, Rn. 2, und Urteil Döhler Neuenkirchen, C‑262/10, EU:C:2012:559, Rn. 29).
31 Zum anderen hat der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist dabei weder an die Schlussanträge des Generalanwalts noch an ihre Begründung gebunden. Dass ein Beteiligter mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteile Hogan Lovells International, C‑229/09, EU:C:2010:673, Rn. 26, E.ON Energie/Kommission, C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 62, und Weber, C‑438/12, EU:C:2014:212, Rn. 30).
32 Die Anträge der deutschen Regierung, der Regierung von Irland und der Regierung des Vereinigten Königreichs auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens sind daher zurückzuweisen.
Zur Vorlagefrage
33 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff der „Benutzung eines Fahrzeugs“ Umstände wie die des Ausgangsverfahrens fallen, d. h. das Manöver, das ein Traktor im Hof eines Bauernhofs ausführt, um seinen Anhänger in eine Scheune zu fahren.
34 Die deutsche Regierung und Irland tragen vor, dass die Versicherungspflicht nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie nur Situationen im Straßenverkehr betreffe und daher nicht für Umstände wie die des Ausgangsverfahrens gelte.
35 Die Kommission ist hingegen der Ansicht, dass diese Vorschrift für die Benutzung von Fahrzeugen, gleichgültig ob als Transportmittel oder als Arbeitsmaschinen, auf jeder öffentlichen oder privaten Fläche gelte, auf der sich Gefahren verwirklichen könnten, die mit der Benutzung von Fahrzeugen verbunden seien, unabhängig davon, ob sich diese Fahrzeuge in Bewegung befänden.
36 Nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie trifft jeder Mitgliedstaat vorbehaltlich der Anwendung des Art. 4 dieser Richtlinie alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.
37 Der Begriff des Fahrzeugs wird in Art. 1 Nr. 1 dieser Richtlinie erläutert, wonach unter „Fahrzeug“ im Sinne dieser Richtlinie „jedes maschinell angetriebene Kraftfahrzeug, welches zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden ist, sowie die Anhänger, auch wenn sie nicht angekoppelt sind“, zu verstehen ist.
38 Es steht fest, dass ein Traktor mit Anhänger dieser Definition entspricht. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Definition unabhängig von dem Gebrauch ist, der vom jeweiligen Fahrzeug gemacht wird oder werden kann. Daher ändert die Tatsache, dass ein Traktor, der eventuell einen Anhänger führt, unter bestimmten Umständen als landwirtschaftliche Arbeitsmaschine benutzt werden kann, nichts an der Feststellung, dass ein solches Fahrzeug dem Begriff „Fahrzeug“ in Art. 1 Nr. 1 der Ersten Richtlinie entspricht.
39 Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass ein Traktor mit Anhänger der Haftpflichtversicherungspflicht nach Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie unterliegt. Denn zum einen ist es gemäß dieser Vorschrift erforderlich, dass dieses Fahrzeug seinen gewöhnlichen Standort im Gebiet eines Mitgliedstaats hat, eine Bedingung, deren Erfüllung im Ausgangsverfahren außer Streit steht. Zum anderen kann nach Art. 4 Buchst. b dieser Richtlinie jeder Mitgliedstaat bei gewissen Arten von Fahrzeugen oder Fahrzeugen mit besonderem Kennzeichen, die dieser Staat bestimmt und deren Kennzeichnung er den anderen Mitgliedstaaten sowie der Kommission meldet, von Art. 3 der Richtlinie abweichen.
40 Daher unterliegt ein Traktor mit Anhänger der Pflicht nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, wenn er seinen gewöhnlichen Standort im Gebiet eines Mitgliedstaats hat, der diese Art von Fahrzeug nicht vom Geltungsbereich dieser Vorschrift ausgenommen hat.
41 Zur Frage, ob das Manöver, das ein Traktor im Hof eines Bauernhofs ausführt, um seinen Anhänger in eine Scheune zu fahren, unter den Begriff der „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne dieser Vorschrift zu subsumieren ist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieser Begriff nicht dem Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen werden darf.
42 Weder Art. 1 der Ersten Richtlinie noch Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie, noch irgendeine andere Vorschrift dieser oder der anderen Haftpflichtversicherungsrichtlinien verweisen nämlich hinsichtlich dieses Begriffs auf das Recht der Mitgliedstaaten. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die nicht nur unter Berücksichtigung des Wortlauts, sondern auch unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und der Ziele gefunden werden muss, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Omejc, C‑536/09, EU:C:2011:398, Rn. 19 und 21 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Was erstens den Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie betrifft, ergibt eine vergleichende Prüfung der verschiedenen Sprachfassungen dieser Vorschrift, dass sie Divergenzen hinsichtlich der Art der Situation aufweist, die von der in ihr vorgesehenen Versicherungspflicht erfasst wird. Diese Divergenzen sind im Übrigen auch im Richtlinientitel selbst zu finden, insbesondere in der englischen und der französischen Sprachfassung.
44 So wird in der französischen sowie in der spanischen, der griechischen, der italienischen, der niederländischen, der polnischen und der portugiesischen Sprachfassung des Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie von der Pflicht zum Abschluss einer Versicherung für die Haftpflicht aufgrund des „Verkehrs“ von Fahrzeugen gesprochen und damit nahegelegt, dass diese Versicherungspflicht nur Straßenverkehrsunfälle betrifft, wie dies die deutsche Regierung und Irland vortragen.
45 Dagegen verwenden die englische sowie die bulgarische, die tschechische, die estnische, die lettische, die maltesische, die slowakische, die slowenische und die finnische Sprachfassung dieser Vorschrift ohne nähere Erläuterung den Begriff der „Benutzung“ von Fahrzeugen, während die dänische, die deutsche, die litauische, die ungarische, die rumänische und die schwedische Sprachfassung der Vorschrift noch allgemeiner von der Pflicht zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung für Fahrzeuge sprechen und somit offensichtlich die Pflicht zum Abschluss einer Versicherung für die Haftpflicht aufgrund der Benutzung oder des Betriebs eines Fahrzeugs unabhängig davon vorsehen, ob die Benutzung oder der Betrieb in einer Straßenverkehrssituation erfolgt.
46 Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch eine rein wörtliche Auslegung einer oder mehrerer Sprachfassungen eines in mehreren Sprachen vorhandenen unionsrechtlichen Textes unter Ausschluss der anderen Sprachfassungen nicht ausschlaggebend sein, da es die einheitliche Anwendung der Unionsvorschriften gebietet, diese u. a. im Licht aller Sprachfassungen auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile Jany u. a., C‑268/99, EU:C:2001:616, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Kommission/Spanien, C‑189/11, EU:C:2013:587, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstextes voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile ZVK, C‑300/05, EU:C:2006:735, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung, Haasová, C‑22/12, EU:C:2013:692, Rn. 48, sowie Drozdovs, C‑277/12, EU:C:2013:685, Rn. 39).
47 Zweitens sind daher die allgemeine Systematik und der Zweck der Unionsregelung im Bereich der Haftpflichtversicherung, zu der Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie gehört, zu prüfen.
48 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass keine der Haftpflichtversicherungsrichtlinien definiert, was unter den Begriffen „Unfall“, „Schaden“, „Verkehr“ oder „Benutzung eines Fahrzeugs“ im Sinne dieser Richtlinien zu verstehen ist.
49 Diese Begriffe sind jedoch im Licht der beiden von diesen Richtlinien verfolgten Ziele des Schutzes der Opfer von Unfällen, die durch ein Kraftfahrzeug verursacht werden, und der Liberalisierung des Personen- und Warenverkehrs im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarkts zu verstehen.
50 So gehört die Erste Richtlinie zu einer Reihe von Richtlinien, mit denen die Pflichten der Mitgliedstaaten im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung schrittweise präzisiert wurden. Der Gerichtshof hat zwar wiederholt entschieden, dass sich aus den Erwägungsgründen der Ersten und der Zweiten Richtlinie ergibt, dass diese den freien Verkehr der Fahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Union sowie der Fahrzeuginsassen gewährleisten sollen, er hat aber auch wiederholt entschieden, dass sie ebenso zum Ziel haben, den bei durch diese Fahrzeuge verursachten Unfällen Geschädigten unabhängig davon, wo in der Union sich der Unfall ereignet hat, eine vergleichbare Behandlung zu garantieren (vgl. u. a. in diesem Sinne Urteile Ruiz Bernáldez, C‑129/94, EU:C:1996:143, Rn. 13, sowie Csonka u. a., C‑409/11, EU:C:2013:512, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Auch wenn nämlich u. a. den Erwägungsgründen 5 bis 7 der Ersten Richtlinie zu entnehmen ist, dass diese die Regelung des Personen- und Kraftfahrzeugverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Schaffung eines Binnenmarkts durch Aufhebung der Kontrolle der Grünen Karte an den Grenzen der Mitgliedstaaten liberalisieren sollte, verfolgte sie auch schon das Ziel des Opferschutzes (vgl. in diesem Sinne Urteil Ruiz Bernáldez, EU:C:1996:143, Rn. 18).
52 Außerdem zeigt die Entwicklung der Unionsregelung im Bereich der Haftpflichtversicherung, dass das Ziel des Schutzes der Opfer von Unfällen, die durch Fahrzeuge verursacht werden, vom Unionsgesetzgeber ständig verfolgt und verstärkt wurde.
53 Dies geht zunächst insbesondere aus den Art. 1 bis 3 der Zweiten Richtlinie hervor. So bestimmte Art. 1 dieser Richtlinie, dass die in Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie bezeichnete Versicherung sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen hat. Weiter schrieb er vor, dass die Mitgliedstaaten Stellen schaffen, die für Schäden, die durch ein nicht ermitteltes oder nicht versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, Ersatz leisten, und legte Mindestdeckungssummen fest. Art. 2 dieser Richtlinie schränkte die Geltung bestimmter normativ oder vertraglich vorgesehener Ausschlussklauseln bezüglich der Ansprüche von Dritten ein, die bei einem aufgrund der Nutzung oder Führung des versicherten Fahrzeugs durch bestimmte Personen verursachten Unfall geschädigt wurden. Art. 3 dieser Richtlinie dehnte den Versicherungsschutz für Personenschäden auf die Familienmitglieder des Versicherungsnehmers, des Fahrers oder jeder anderen Person, die bei einem Unfall haftbar gemacht werden kann, aus.
54 Des Weiteren dehnte Art. 1 der Dritten Richtlinie u. a. den Versicherungsschutz auf die Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers aus, und die Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie führte u. a. in Art. 3 einen Direktanspruch der Geschädigten gegen das Versicherungsunternehmen ein, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt.
55 Schließlich passte die Richtlinie 2005/14 durch die Art. 2 und 4, mit denen die Zweite und die Dritte Richtlinie geändert wurden, u. a. die Mindestdeckungssummen an, sah deren regelmäßige Überprüfung vor und dehnte den Einsatzbereich der durch die Zweite Richtlinie eingeführten Stelle und den Versicherungsschutz nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie auf Personen- und Sachschäden von Fußgängern, Radfahrern und anderen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern aus. Sie führte zudem eine neue Beschränkung der Möglichkeit ein, bestimmte Klauseln über den Ausschluss des Versicherungsschutzes anzuwenden, und untersagte es Versicherungsunternehmen, sich gegenüber Unfallgeschädigten auf Selbstbeteiligungen zu berufen, soweit die in Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie genannte Versicherung betroffen ist.
56 Angesichts all dieser Umstände und insbesondere des Schutzziels der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie kann nicht angenommen werden, dass der Unionsgesetzgeber Personen, die durch einen Unfall geschädigt werden, der durch ein Fahrzeug bei dessen Benutzung verursacht wird, von dem durch diese Richtlinien gewährten Schutz ausschließen wollte, sofern die Benutzung der gewöhnlichen Funktion dieses Fahrzeugs entspricht.
57 In diesem Zusammenhang ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass nach Teil A des Anhangs der Richtlinie 73/239 in der durch die Richtlinie 84/641 geänderten Fassung der direkte Versicherungszweig hinsichtlich der „Haftpflicht für Landfahrzeuge mit eigenem Antrieb“ die „Haftpflicht aller Art (einschließlich derjenigen des Frachtführers), die sich aus der Verwendung von Landfahrzeugen mit eigenem Antrieb ergibt“, betrifft.
58 Im vorliegenden Fall hat zum einen die Republik Slowenien, wie aus den von der Kommission veröffentlichten Informationen ersichtlich, keine Art von Fahrzeug nach Art. 4 Buchst. b der Ersten Richtlinie vom Geltungsbereich des Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie ausgenommen. Zum anderen wurde nach den Angaben des vorlegenden Gerichts der Unfall, der zu dem Ausgangsrechtsstreit geführt hat, von einem Fahrzeug verursacht, das im Rückwärtsgang fuhr, um an eine bestimmte Stelle zu gelangen, und scheint somit durch eine Benutzung eines Fahrzeugs verursacht worden zu sein, die dessen gewöhnlicher Funktion entsprach, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.
59 Unter diesen Umständen ist in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der darin enthaltene Begriff der „Benutzung eines Fahrzeugs“ jede Benutzung eines Fahrzeugs umfasst, die dessen gewöhnlicher Funktion entspricht. Ein Manöver wie das im Ausgangsverfahren fragliche, das ein Traktor im Hof eines Bauernhofs ausführt, um seinen Anhänger in eine Scheune zu fahren, könnte somit unter diesen Begriff fallen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Kosten
60 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht ist dahin auszulegen, dass der darin enthaltene Begriff der „Benutzung eines Fahrzeugs“ jede Benutzung eines Fahrzeugs umfasst, die dessen gewöhnlicher Funktion entspricht. Ein Manöver wie das im Ausgangsverfahren fragliche, das ein Traktor im Hof eines Bauernhofs ausführt, um seinen Anhänger in eine Scheune zu fahren, könnte somit unter diesen Begriff fallen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Slowenisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 4. September 2014.#Air Baltic Corporation AS gegen Valsts robežsardze.#Vorabentscheidungsersuchen des Administratīvā apgabaltiesa.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 24 Abs. 1 und Art. 34 – Einheitliches Visum – Annullierung oder Aufhebung eines einheitlichen Visums – Gültigkeit eines einheitlichen Visums, das auf einem annullierten Reisedokument angebracht ist – Verordnung (EG) Nr. 562/2006 – Art. 5 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 – Grenzübertrittskontrollen – Einreisevoraussetzungen – Nationale Regelung, die ein auf einem gültigen Reisedokument angebrachtes gültiges Visum verlangt.#Rechtssache C‑575/12.
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62012CJ0575
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ECLI:EU:C:2014:2155
| 2014-09-04T00:00:00 |
Mengozzi, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0575
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
4. September 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Verordnung (EG) Nr. 810/2009 — Art. 24 Abs. 1 und Art. 34 — Einheitliches Visum — Annullierung oder Aufhebung eines einheitlichen Visums — Gültigkeit eines einheitlichen Visums, das auf einem annullierten Reisedokument angebracht ist — Verordnung (EG) Nr. 562/2006 — Art. 5 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 — Grenzübertrittskontrollen — Einreisevoraussetzungen — Nationale Regelung, die ein auf einem gültigen Reisedokument angebrachtes gültiges Visum verlangt“
In der Rechtssache C‑575/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Administratīvā apgabaltiesa (Lettland) mit Entscheidung vom 4. Dezember 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 2012, in dem Verfahren
Air Baltic Corporation AS
gegen
Valsts robežsardze
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter M. Safjan und J. Malenovský sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Air Baltic Corporation AS, vertreten durch I. Jansons und M. Freimane, Rechtsbeistände,
—
der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und D. Pelše als Bevollmächtigte,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,
—
der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski und J. Leppo als Bevollmächtigte,
—
der schweizerischen Regierung, vertreten durch D. Klingele als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und A. Sauka als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Mai 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 (ABl. L 85, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Schengener Grenzkodex) und der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. L 243, S. 1).
2 Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Luftfahrtgesellschaft Air Baltic Corporation AS (im Folgenden: Air Baltic) und der Valsts robežsardze (Grenzpolizei) über deren Entscheidung, gegen Air Baltic eine Verwaltungsgeldbuße zu verhängen, weil sie eine Person nach Lettland befördert hatte, die bei Grenzübertritt nicht über die notwendigen Reisedokumente verfügte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Schengener Grenzkodex
3 Die Erwägungsgründe 4, 6, 7, 8 und 19 des Schengener Grenzkodex lauten:
„(4)
Im Hinblick auf die Grenzkontrollen an den Außengrenzen ist die Aufstellung eines ‚gemeinsamen Bestands‘ an Rechtsvorschriften, insbesondere durch Konsolidierung und Weiterentwicklung des Besitzstands, eine wesentliche Komponente der gemeinsamen Politik für den Grenzschutz an den Außengrenzen …
…
(6) Grenzkontrollen liegen nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben. Grenzkontrollen sollten zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen.
(7) Grenzübertrittskontrollen sollten auf eine Weise durchgeführt werden, bei der die menschliche Würde in vollem Umfang gewahrt wird. Die Durchführung von Grenzkontrollen sollte auf professionelle und respektvolle Weise erfolgen und, gemessen an den verfolgten Zielen, verhältnismäßig sein.
(8) Die Grenzkontrollen umfassen nicht nur die Personenkontrollen an den Grenzübergangsstellen und die Überwachung zwischen diesen Grenzübergangsstellen sondern auch die Analyse des Risikos für die innere Sicherheit sowie die Analyse der Bedrohungen, die die Sicherheit der Außengrenzen beeinträchtigen können. Daher müssen die Voraussetzungen, Kriterien und Modalitäten sowohl der Kontrollen an den Grenzübergangsstellen als auch der Überwachung festgelegt werden.
…
(19) Da das Ziel dieser Verordnung, nämlich die Festlegung eines Regelwerks für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 [EUV] niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden …“.
4 Art. 1 („Gegenstand und Grundsätze“) dieses Kodex bestimmt:
„Diese Verordnung sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten.
Sie legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten.“
5 Nach Art. 2 Nr. 10 des Kodex bezeichnet der Ausdruck „Grenzübertrittskontrollen“ die „Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen“.
6 Art. 5 („Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige“) des Kodex sieht in Abs. 1 vor:
„Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten je Sechsmonatszeitraum gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:
a)
Er muss im Besitz eines oder mehrerer gültiger Reisedokumente sein, die ihn zum Überschreiten der Grenze berechtigen.
b)
Er muss im Besitz eines gültigen Visums sein, falls dies nach der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind [ABl. L 81, S. 1], vorgeschrieben ist, …
c)
Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben.
d)
Er darf nicht im SIS [Schengener Informationssystem] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.
e)
Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein.“
7 Art. 5 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex bestimmt, dass abweichend von Art. 5 Abs. 1 Drittstaatsangehörigen in einigen spezifischen Fällen die Einreise ins Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auch dann gestattet wird oder werden kann, wenn sie nicht alle Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllen.
8 Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 des Schengener Grenzkodex müssen die von den Grenzschutzbeamten zur Durchführung ihrer Aufgaben getroffenen Maßnahmen – gemessen an den damit verfolgten Zielen –verhältnismäßig sein.
9 Art. 7 („Grenzübertrittskontrollen von Personen“) dieses Kodex sieht in den Abs. 1 und 3 vor:
„(1) Der grenzüberschreitende Verkehr an den Außengrenzen unterliegt den Kontrollen durch die Grenzschutzbeamten. Die Kontrollen erfolgen nach Maßgabe dieses Kapitels.
…
(3) Drittstaatsangehörige werden bei der Ein- und Ausreise eingehend kontrolliert.
a)
Die eingehende Kontrolle bei der Einreise umfasst die Überprüfung der in Artikel 5 Absatz 1 festgelegten Einreisevoraussetzungen sowie gegebenenfalls der für den Aufenthalt und die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse. Hierzu gehört eine umfassende Prüfung von Folgendem:
i)
Überprüfung, ob der Drittstaatsangehörige über ein für den Grenzübertritt gültiges und nicht abgelaufenes Dokument verfügt und ob dem Dokument das gegebenenfalls erforderliche Visum oder der gegebenenfalls erforderliche Aufenthaltstitel beigefügt ist;
…
iii)
Prüfung der Ein- und Ausreisestempel im Reisedokument des betreffenden Drittstaatsangehörigen, um durch einen Vergleich der Ein- und Ausreisedaten festzustellen, ob die zulässige Höchstdauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bereits überschritten wurde;
…
…“
10 Nach Art. 8 Abs. 1 des Kodex können die Grenzübertrittskontrollen bei außergewöhnlichen und unvorhergesehenen Umständen gelockert werden.
11 In Art. 10 Abs. 1 und 3 des Schengener Grenzkodex heißt es:
„(1) Die Reisedokumente von Drittstaatsangehörigen werden bei der Einreise und bei der Ausreise systematisch abgestempelt. Ein Einreise- oder Ausreisestempel wird insbesondere angebracht in
a)
den Grenzübertrittspapieren von Drittstaatsangehörigen, in denen sich ein gültiges Visum befindet;
…
(3) …
Auf Antrag eines Drittstaatsangehörigen kann ausnahmsweise von der Anbringung des Ein- oder Ausreisestempels abgesehen werden, wenn der Stempelabdruck zu erheblichen Schwierigkeiten für den Drittstaatsangehörigen führen würde. In diesem Fall wird die Ein- oder Ausreise auf einem gesonderten Blatt unter Angabe des Namens und der Passnummer beurkundet. Dieses Blatt wird dem Drittstaatsangehörigen ausgehändigt.“
12 Art. 13 des Schengener Grenzkodex bestimmt:
„(1) Einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Artikels 5 Absatz 1 erfüllt und der nicht zu dem in Artikel 5 Absatz 4 genannten Personenkreis gehört, wird die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Davon unberührt bleibt die Anwendung besonderer Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz oder zur Ausstellung von Visa für längerfristige Aufenthalte.
(2) Die Einreiseverweigerung kann nur mittels einer begründeten Entscheidung unter genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung erfolgen. Die Entscheidung wird von einer nach nationalem Recht zuständigen Behörde erlassen. Die Entscheidung tritt unmittelbar in Kraft.
Die begründete Entscheidung mit genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung wird mit dem Standardformular nach Anhang V Teil B erteilt, das von der nach nationalem Recht zur Einreiseverweigerung berechtigten Behörde ausgefüllt wird. Das ausgefüllte Standardformular wird dem betreffenden Drittstaatsangehörigen ausgehändigt, der den Empfang der Entscheidung über die Einreiseverweigerung auf diesem Standardformular bestätigt.
(3) Personen, denen die Einreise verweigert wird, steht ein Rechtsmittel zu. Die Verfahren für die Einlegung des Rechtsmittels bestimmen sich nach nationalem Recht …
…
(6) Die Modalitäten der Einreiseverweigerung sind in Anhang V Teil A festgelegt.“
13 Nach Anhang V Teil A Nr. 1 Buchst. b des Kodex trägt der zuständige Grenzschutzbeamte im Fall einer Einreiseverweigerung mit dokumentenechter Tinte den oder die Kennbuchstaben ein, die dem Grund oder den Gründen für die Einreiseverweigerung entsprechen und die in dem Standardformular aufgeführt sind.
14 Das Formular in Anhang V Teil B des Kodex enthält u. a. eine Reihe von neun Kästchen, anhand deren die zuständigen Behörden die genauen Gründe für die Einreiseverweigerung an der Grenze angeben können.
Visakodex
15 Im dritten Erwägungsgrund des Visakodex heißt es:
„In Bezug auf die Visumpolitik ist die Aufstellung eines ‚gemeinsamen Bestands‘ an Rechtsvorschriften, insbesondere durch Konsolidierung und Weiterentwicklung des bestehenden Besitzstands auf diesem Gebiet (der entsprechenden Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 14. Juni 1985 [zwischen den Regierungen der Staaten der Wirtschaftsunion Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs (Benelux), der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19), unterzeichnet am 19. Juni 1990 in Schengen] und der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion …), eine wesentliche Komponente der … Weiterentwicklung der gemeinsamen Visumpolitik ‚als Teil eines vielschichtigen Systems, mit dem durch die weitere Harmonisierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und der Bearbeitungsgepflogenheiten bei den örtlichen konsularischen Dienststellen legale Reisen erleichtert und die illegale Einwanderung bekämpft werden sollen‘.“
16 Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 des Visakodex lautet:
„Die Gültigkeitsdauer des Visums und die zulässige Aufenthaltsdauer bestimmen sich nach der gemäß Artikel 21 vorgenommenen Prüfung.
Das Visum kann für eine, zwei oder mehrere Einreisen erteilt werden. Die Gültigkeitsdauer darf fünf Jahre nicht überschreiten.“
17 Art. 29 Abs. 1 und 2 des Visakodex sieht vor:
„(1) Die … bedruckte Visummarke wird auf dem Reisedokument … angebracht.
(2) Erkennt der ausstellende Mitgliedstaat das Reisedokument des Antragstellers nicht an, wird das gesonderte Blatt für die Anbringung eines Visums verwendet.“
18 Art. 30 des Visakodex legt fest, dass „[d]er bloße Besitz eines einheitlichen Visums … nicht automatisch zur Einreise [berechtigt]“.
19 Nach Art. 33 des Visakodex können unter bestimmten besonderen Umständen die Gültigkeitsdauer und/oder die Aufenthaltsdauer eines erteilten Visums verlängert werden.
20 Art. 34 Abs. 1 und 2 des Visakodex bestimmt:
„(1) Ein Visum wird annulliert, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für seine Erteilung zum Ausstellungszeitpunkt nicht erfüllt waren, insbesondere wenn es ernsthafte Gründe zu der Annahme gibt, dass das Visum durch arglistige Täuschung erlangt wurde. Das Visum wird grundsätzlich von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, der es erteilt hat, annulliert. Das Visum kann von den zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats annulliert werden …
(2) Ein Visum wird aufgehoben, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung des Visums nicht mehr erfüllt sind. Das Visum wird grundsätzlich von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, der es erteilt hat, aufgehoben. Das Visum kann von den zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats aufgehoben werden …“
Lettisches Recht
21 Das Einwanderungsgesetz (Imigrācijas likums) vom 20. November 2002 (Latvijas Vēstnesis, 2000, Nr. 169) sieht in Art. 4 Abs. 1 vor:
„Ein Ausländer ist berechtigt, in das Hoheitsgebiet der Republik Lettland einzureisen und sich dort aufzuhalten, wenn er gleichzeitig über Folgendes verfügt:
1)
ein gültiges Reisedokument …
2)
ein gültiges Visum in einem gültigen Reisedokument …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
22 Am 8. Oktober 2010 beförderte Air Baltic mit einem Flug von Moskau nach Riga einen indischen Staatsangehörigen in die Republik Lettland, der bei der Grenzkontrolle im Flughafen Riga einen gültigen indischen Reisepass ohne einheitliches Visum und einen annullierten indischen Reisepass mit einem von der Italienischen Republik erteilten einheitlichen Mehrfachvisum mit einer Gültigkeitsdauer vom 25. Mai 2009 bis zum 25. Mai 2014 vorlegte. Der annullierte Reisepass enthielt folgenden Vermerk: „Reisepass annulliert. Gültige Visa im Reisepass sind nicht annulliert“.
23 Dem indischen Staatsangehörigen wurde mit der Begründung, dass er nicht im Besitz eines gültigen Visums sei, die Einreise nach Lettland verweigert.
24 Mit Bescheid vom 14. Oktober 2010 verhängte die Valsts robežsardze gegen Air Baltic eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 2000 lettischen Lats (LVL), da sie durch den Transport dieses indischen Staatsangehörigen einen Ordnungswidrigkeitstatbestand erfüllt habe, der darin bestehe, eine Person ohne die für den Grenzübertritt erforderlichen Reisedokumente nach Lettland zu befördern.
25 Der gegen diesen Bescheid beim Leiter der Valsts robežsardze erhobene Einspruch von Air Baltic wurde mit Entscheidung vom 9. Dezember 2010 abgelehnt.
26 Air Baltic erhob daraufhin Klage gegen diese Entscheidung beim Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht). Mit Urteil vom 12. August 2011 wies dieses Gericht die Klage von Air Baltic ab.
27 Gegen dieses Urteil legte Air Baltic beim vorlegenden Gericht Berufung ein.
28 Das Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht) ist der Auffassung, dass die Auslegung des Schengener Grenzkodex und des Visakodex für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits erforderlich sei, und hat deshalb entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 5 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass das Vorliegen eines gültigen Visums, das in einem gültigen Reisedokument enthalten ist, eine zwingende Vorbedingung für die Einreise von Drittstaatsangehörigen ist?
2. Führt nach den Bestimmungen des Visakodex die Annullierung des Reisedokuments, auf dem die Visummarke angebracht ist, auch zur Ungültigkeit des erteilten Visums?
3. Sind die nationalen Vorschriften, nach denen das Vorliegen eines gültigen Visums, das in einem gültigen Reisedokument enthalten ist, eine zwingende Vorbedingung für die Einreise von Drittstaatsangehörigen ist, mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex und des Visakodex vereinbar?
Zu den Vorlagefragen
Zur zweiten Frage
29 Mit seiner zweiten Frage, die an erster Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 Abs. 1 und Art. 34 des Visakodex dahin auszulegen sind, dass die Annullierung eines Reisedokuments durch eine Behörde eines Drittlands automatisch zur Ungültigkeit eines auf diesem Dokument angebrachten einheitlichen Visums führt.
30 Hierzu ist festzustellen, dass die zuständige Behörde nach Art. 24 Abs. 1 des Visakodex bei der Erteilung eines einheitlichen Visums dessen Gültigkeitsdauer festlegt. In der Folge kann diese Dauer auf der Grundlage von Art. 33 des Visakodex unter bestimmten besonderen Umständen verlängert werden.
31 Hingegen wird nach Art. 34 Abs. 1 und 2 des Visakodex ein Visum annulliert, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für seine Erteilung zum Ausstellungszeitpunkt nicht erfüllt waren, und es wird aufgehoben, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für seine Erteilung nicht mehr erfüllt sind.
32 Ein einheitliches Visum bleibt daher wenigstens bis zum Ablauf der bei seiner Erteilung durch die zuständige Behörde des Erteilungsmitgliedstaats festgelegten Gültigkeitsdauer gültig, sofern es nicht vor deren Ablauf nach Art. 34 des Visakodex annulliert oder aufgehoben wird.
33 Aus den Abs. 1 und 2 dieses Artikels geht hervor, dass die Annullierung oder Aufhebung eines einheitlichen Visums eine darauf gerichtete spezifische Entscheidung der zuständigen Behörden des Erteilungsmitgliedstaats oder eines anderen Mitgliedstaats erfordert. Eine Behörde eines Drittstaats ist somit nicht befugt, ein einheitliches Visum zu annullieren.
34 Die von einer solchen Behörde erlassene Entscheidung, ein Reisedokument zu annullieren, auf dem ein einheitliches Visum angebracht ist, kann daher nicht automatisch die Annullierung oder Aufhebung dieses Visums zur Folge haben.
35 Im Übrigen ergibt sich aus Art. 34 des Visakodex, dass die zuständige Behörde ein einheitliches Visum nur dann annullieren kann, wenn sie sich auf einen Grund stützt, der einem der in Art. 32 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 6 des Visakodex genannten Verweigerungsgründe entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 42 und 43). Demnach besteht der einzige Grund für die Annullierung eines Visums, der unmittelbar das Reisedokument betrifft, nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Visakodex darin, dass das für die Visumserteilung vorgelegte Reisedokument falsch, verfälscht oder gefälscht war. Daraus folgt, dass die Annullierung des Reisedokuments, auf dem das Visum nach dessen Erteilung angebracht ist, nicht zu den Gründen gehört, die die Annullierung des Visums durch eine zuständige Behörde rechtfertigen können.
36 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 24 Abs. 1 und Art. 34 des Visakodex dahin auszulegen sind, dass die Annullierung eines Reisedokuments durch eine Behörde eines Drittlands nicht automatisch zur Ungültigkeit eines auf diesem Dokument angebrachten einheitlichen Visums führt.
Zur ersten Frage
37 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 dieses Kodex dahin auszulegen ist, dass die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten voraussetzt, dass bei der Grenzübertrittskontrolle das vorgelegte gültige Visum notwendigerweise auf einem gültigen Reisedokument angebracht ist.
38 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 13 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 dieses Kodex erfüllt und nicht zu dem in Art. 5 Abs. 4 genannten Personenkreis gehört, die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert wird.
39 Nach Art. 5 Abs. 1 dieses Kodex bestehen die ersten beiden Voraussetzungen für die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten im Besitz eines oder mehrerer gültiger Reisedokumente, die zum Überschreiten der Grenze berechtigen, und im Besitz eines gültigen Visums, falls nach der Verordnung Nr. 539/2001 erforderlich.
40 Es ist daher festzustellen, dass der Wortlaut dieser Vorschrift zwischen der Einreisevoraussetzung des Besitzes eines Reisedokuments nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a des Schengener Grenzkodex und der Einreisevoraussetzung des Besitzes eines Visums nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b dieses Kodex unterscheidet, ohne aber irgendeinen Hinweis auf eine Einreisevoraussetzung zu enthalten, die darin bestünde, dass das Visum auf einem zum Zeitpunkt des Grenzübertritts gültigen Reisedokument angebracht ist.
41 Dagegen bringen, wie die lettische und die finnische Regierung vorgetragen haben, einige Sprachfassungen von Art. 7 Abs. 3 Buchst. a Ziff. i des Schengener Grenzkodex – wie etwa die spanische, die estnische, die italienische und die lettische – zum Ausdruck, dass die zuständigen Behörden bei der Grenzübertrittskontrolle feststellen müssen, ob der Drittstaatsangehörige ein gültiges Reisedokument bei sich hat, auf dem ein Visum angebracht ist.
42 Die meisten anderen Sprachfassungen dieser Vorschrift des Schengener Grenzkodex – nämlich die dänische, die deutsche, die griechische, die englische, die französische, die litauische, die ungarische, die maltesische, die niederländische, die polnische, die portugiesische, die slowenische und die schwedische – sind jedoch so abgefasst, dass sie keinen Hinweis darauf enthalten, dass das Visum notwendigerweise auf einem zum Zeitpunkt des Grenzübertritts gültigen Reisedokument angebracht sein muss, während andere Sprachfassungen – wie etwa die tschechische und die finnische – insoweit eine gewisse Zweideutigkeit aufweisen.
43 Da eine Vorschrift des Unionsrechts aber einheitlich ausgelegt werden muss, ist die betreffende Vorschrift bei Abweichungen zwischen ihren Sprachfassungen nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung auszulegen, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile DR und TV2 Danmark, C‑510/10, EU:C:2012:244, Rn. 45, und Bark, C‑89/12, EU:C:2013:276, Rn. 40).
44 Was erstens den Zusammenhang betrifft, in dem die Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 3 Buchst. a Ziff. i des Schengener Grenzkodex stehen, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 zu Kapitel II („Grenzkontrollen an den Außengrenzen und Einreiseverweigerung“) des Titels II, Art. 5 aber zu Kapitel I („Überschreiten der Außengrenzen und Einreisevoraussetzungen“) dieses Titels gehört.
45 Im Übrigen ergibt sich sowohl aus der Überschrift von Art. 7 des Schengener Grenzkodex als auch aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 3 Buchst. a dieses Kodex, dass diese Vorschrift nicht Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige festlegen, sondern die einzelnen Aspekte der eingehenden Kontrolle erläutern soll, die die zuständigen Behörden durchführen müssen, um u. a. festzustellen, ob die Drittstaatsangehörigen die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 Abs. 1 dieses Kodex erfüllen.
46 Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass dem Drittstaatsangehörigen nach Art. 13 Abs. 2 des Kodex die genauen Gründe für die Entscheidung der Einreiseverweigerung mit dem Standardformular in Anhang V Teil B des Kodex mitgeteilt werden müssen.
47 Unter den neun Kästchen auf diesem Formular, die von den zuständigen Behörden angekreuzt werden, um die Gründe für die Entscheidung der Einreiseverweigerung mitzuteilen, finden sich mehrere Kästchen, die sich auf das vorgelegte Reisedokument bzw. das vorgelegte Visum beziehen. Dagegen enthält das Formular kein Kästchen, anhand dessen die Einreiseverweigerung damit begründet werden könnte, dass das vorgelegte gültige Visum nicht auf einem zum Zeitpunkt des Grenzübertritts gültigen Reisedokument angebracht sei.
48 Außerdem geht aus Art. 29 Abs. 2 des Visakodex hervor, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, jegliche Möglichkeit auszuschließen, ohne ein auf einem gültigen Reisedokument angebrachtes Visum in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen, da er ausdrücklich die Möglichkeit vorsah, ein Visum auf einem gesonderten Blatt anzubringen, falls der ausstellende Mitgliedstaat das ihm vorgelegte Reisedokument nicht anerkennt.
49 Überdies verlöre ein Visum, dessen Gültigkeitsdauer nicht abgelaufen ist und das auf einem nach seiner Erteilung annullierten Reisedokument angebracht ist, nach einer solchen Annullierung seine Wirkung, wenn es nicht mehr – auch nicht zusammen mit einem gültigen Reisedokument –vorgelegt werden könnte, um in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen. Eine solche Auslegung des Schengener Grenzkodex würde die Gültigkeit eines solchen Visums, die sich aus Art. 24 Abs. 1 und Art. 34 des Visakodex in der Auslegung nach Rn. 36 des vorliegenden Urteils ergibt, faktisch aushebeln.
50 Was zweitens die vom Schengener Grenzkodex verfolgten Ziele anbelangt, so ist seinem sechsten Erwägungsgrund zu entnehmen, dass die Grenzkontrollen zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen sollten. Außerdem soll nach Art. 2 Nr. 10 dieses Kodex mit den Grenzkontrollen festgestellt werden, ob Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder daraus ausreisen dürfen.
51 Zur Erreichung dieser Ziele sieht Art. 7 Abs. 3 dieses Kodex vor, dass die Drittstaatsangehörigen bei der Ein- und Ausreise einer eingehenden Kontrolle unterzogen werden, die u. a. eine Prüfung der Ein- und Ausreisestempel im Reisedokument des betreffenden Drittstaatsangehörigen umfasst, um festzustellen, ob die zulässige Höchstdauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bereits überschritten wurde.
52 Zwar ist diese Prüfung, wie die lettische und die finnische Regierung vorgetragen haben, bei gleichzeitiger Vorlage eines annullierten Reisedokuments, auf dem ein gültiges Visum angebracht ist, und eines gültigen Reisedokuments schwieriger.
53 Wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, versetzt die Vorlage von zwei verschiedenen Reisedokumenten die zuständigen Behörden jedoch nicht in eine Situation, in der sie nicht in der Lage wären, unter angemessenen Bedingungen die Kontrollen nach Art. 7 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex unter Berücksichtigung der Angaben in den beiden ihnen vorgelegten Reisedokumenten durchzuführen.
54 Diese Behörden werden im Übrigen in dem vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehenen Fall, dass eine Beurkundung der Ein- oder Ausreise auf einem gesonderten Blatt nach Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 des Schengener Grenzkodex an die Stelle der Anbringung des Einreise- oder Ausreisestempels auf dem Reisedokument tritt, mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert.
55 Ferner würde die Annahme, dass die praktischen Schwierigkeiten, die durch die Vorlage von zwei verschiedenen Reisedokumenten wie den im Ausgangsverfahren fraglichen hervorgerufen werden, ausreichten, um einem Drittstaatsangehörigen, dessen einheitliches Visum auf einem annullierten Reisedokument angebracht ist, die Einreise zu verweigern, zu einer Missachtung des Erfordernisses nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 des Schengener Grenzkodex in Verbindung mit dem siebten Erwägungsgrund dieses Kodex führen, wonach die Grenzkontrollen gemessen an den verfolgten Zielen verhältnismäßig sein müssen.
56 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 dieses Kodex dahin auszulegen ist, dass die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht voraussetzt, dass bei der Grenzübertrittskontrolle das vorgelegte gültige Visum notwendigerweise auf einem gültigen Reisedokument angebracht ist.
Zur dritten Frage
57 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 dieses Kodex dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens entgegensteht, nach der die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats voraussetzt, dass bei der Grenzübertrittskontrolle das vorgelegte gültige Visum notwendigerweise auf einem gültigen Reisedokument angebracht ist.
58 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage kann die dritte Frage offensichtlich nur dann verneint werden, wenn ein Mitgliedstaat über einen Wertungsspielraum verfügt, der es ihm erlaubt, einem Drittstaatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet unter Berufung auf eine nicht im Schengener Grenzkodex vorgesehene Einreisevoraussetzung zu verweigern.
59 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 5 Abs. 1 dieses Kodex bereits seinem Wortlaut nach die Voraussetzungen für die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufführt, nicht aber die Gründe, aus denen die Einreise von Drittstaatsangehörigen in dieses Hoheitsgebiet zumindest verweigert werden muss.
60 Außerdem bestimmt Art. 7 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex, dass die Grenzkontrollen nach Maßgabe des Kapitels II des Titels II dieses Kodex erfolgen.
61 Art. 7 Abs. 3 und Art. 8 des Kodex, die zu diesem Kapitel II gehören, sehen zwar die Verpflichtung der zuständigen Behörden, die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 Abs. 1 des Kodex zu prüfen, bzw. die Möglichkeit, die Grenzübertrittskontrollen zu lockern, vor, doch enthält dieses Kapitel keine Bestimmung, in der vorgesehen wäre, dass diese Behörden diese Kontrollen ausweiten können, indem sie die Einhaltung anderer Einreisevoraussetzungen als derjenigen verlangen, die in Art. 5 Abs. 1 des Kodex aufgeführt sind.
62 Außerdem spricht der Umstand, dass nach Art. 13 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 dieses Kodex erfüllt und nicht zu dem in Art. 5 Abs. 4 genannten Personenkreis gehört, die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert wird und nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 2 die genauen Gründe für die Einreiseverweigerung mit dem Standardformular in Anhang V Teil B dieses Kodex mitgeteilt werden müssen, für die Auslegung, dass die Liste der in Art. 5 Abs. 1 des Kodex aufgeführten Einreisevoraussetzungen abschließend ist (vgl. entsprechend Urteil Koushkaki, EU:C:2013:862, Rn. 38).
63 Das in diesem Anhang V Teil B vorgesehene Standardformular enthält im Übrigen neun Kästchen, die die zuständigen Behörden ankreuzen, um dem Drittstaatsangehörigen die Gründe für die Entscheidung der Einreiseverweigerung mitzuteilen. Das sechste Kästchen entspricht der Aufenthaltsdauer nach Art. 5 Abs. 1 erster Satzteil des Schengener Grenzkodex, während die anderen Kästchen auf die Voraussetzungen der Buchst. a bis e dieses Absatzes verweisen.
64 Nach Anhang V Teil A des Schengener Grenzkodex muss der zuständige Grenzschutzbeamte im Fall einer Einreiseverweigerung u. a. den oder die Kennbuchstaben eintragen, die dem Grund oder den Gründen für die Einreiseverweigerung entsprechen und die in dem Standardformular aufgeführt sind.
65 Überdies ergibt sich aus Art. 1 und den Erwägungsgründen 4, 8 und 19 dieses Kodex, dass dieser die Voraussetzungen, die Kriterien und die Modalitäten der Kontrollen an den Außengrenzen der Union festlegen soll, was von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend bewerkstelligt werden kann. Der sechste Erwägungsgrund dieses Kodex erläutert im Übrigen, dass Grenzkontrollen nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats liegen, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben, was eine gemeinsame Festlegung der Einreisevoraussetzungen bedeutet.
66 Daher ist die Auslegung, wonach sich der Schengener Grenzkodex darauf beschränke, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet in bestimmten spezifischen Fällen zu verweigern, ohne zugleich einheitliche Voraussetzungen für die Einreise in dieses Hoheitsgebiet festzulegen, mit dem ureigenen Ziel dieses Kodex unvereinbar (vgl. insbesondere Urteil Koushkaki, EU:C:2013:862, Rn. 50).
67 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die mit dem Schengener Übereinkommen vom 14. Juni 1985 geschaffene Regelung als Folge des freien Übertritts der Grenzen innerhalb des Schengen-Raums ein hohes einheitliches Kontroll- und Überwachungsniveau an den Außengrenzen gewährleisten soll (Urteil Kommission/Spanien, C‑503/03, EU:C:2006:74, Rn. 37), und zwar dadurch, dass die in den Art. 6 bis 13 des Schengener Grenzkodex festgelegten harmonisierten Vorschriften über die Kontrolle an den Außengrenzen eingehalten werden (vgl. in diesem Sinne Urteil ANAFE, C‑606/10, EU:C:2012:348, Rn. 26 und 29).
68 Zudem würde, auch wenn nach Art. 30 des Visakodex der Besitz eines einheitlichen Visums nicht automatisch zur Einreise berechtigt, das im dritten Erwägungsgrund des Visakodex erwähnte Ziel der Erleichterung legaler Reisen gefährdet, wenn die Mitgliedstaaten willkürlich entscheiden dürften, einem Drittstaatsangehörigen, der über ein einheitliches Visum verfügt, die Einreise zu verweigern, indem sie den in Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex aufgeführten Einreisevoraussetzungen eine Voraussetzung hinzufügen, obwohl der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht war, dass eine solche Voraussetzung für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten erfüllt sein müsse (vgl. insbesondere Urteil Koushkaki, EU:C:2013:862, Rn. 52).
69 Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat über keinen Wertungsspielraum verfügt, der es ihm erlauben würde, einem Drittstaatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet unter Berufung auf eine nicht im Schengener Grenzkodex vorgesehene Voraussetzung zu verweigern.
70 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 dieses Kodex dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens entgegensteht, nach der die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats voraussetzt, dass bei der Grenzübertrittskontrolle das vorgelegte gültige Visum notwendigerweise auf einem gültigen Reisedokument angebracht ist.
Kosten
71 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 24 Abs. 1 und Art. 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) sind dahin auszulegen, dass die Annullierung eines Reisedokuments durch eine Behörde eines Drittlands nicht automatisch zur Ungültigkeit eines auf diesem Dokument angebrachten einheitlichen Visums führt.
2. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht voraussetzt, dass bei der Grenzübertrittskontrolle das vorgelegte gültige Visum notwendigerweise auf einem gültigen Reisedokument angebracht ist.
3. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 in der durch die Verordnung Nr. 265/2010 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens entgegensteht, nach der die Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats voraussetzt, dass bei der Grenzübertrittskontrolle das vorgelegte gültige Visum notwendigerweise auf einem gültigen Reisedokument angebracht ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Lettisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 3. September 2014.#X.#Vorabentscheidungsersuchen des Korkein hallinto-oikeus.#Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 79/7/EWG – Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – Arbeitnehmerunfallversicherung – Höhe einer pauschalen Entschädigung für bleibende Schäden – Versicherungsmathematische Berechnung auf der Grundlage der durchschnittlichen Lebenserwartung je nach dem Geschlecht des Begünstigten der Entschädigung – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Unionsrecht.#Rechtssache C‑318/13.
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62013CJ0318
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ECLI:EU:C:2014:2133
| 2014-09-03T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0318
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
3. September 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Richtlinie 79/7/EWG — Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit — Arbeitnehmerunfallversicherung — Höhe einer pauschalen Entschädigung für bleibende Schäden — Versicherungsmathematische Berechnung auf der Grundlage der durchschnittlichen Lebenserwartung je nach dem Geschlecht des Begünstigten der Entschädigung — Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Unionsrecht“
In der Rechtssache C‑318/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Finnland) mit Entscheidung vom 7. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2013, in dem Verfahren
X
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: C. Strömholm, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. April 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von X, vertreten durch K. Kuusi, asianajaja,
—
der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch E.‑M. Mamouna und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und I. Koskinen als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. Mai 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Ministerium für Soziales und Gesundheit (im Folgenden: Ministerium) über die Gewährung einer aufgrund eines Arbeitsunfalls gezahlten Pauschalentschädigung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a findet die Richtlinie 79/7 Anwendung auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz u. a. gegen die Risiken von Arbeitsunfällen bieten.
4 Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:
—
den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,
—
die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,
—
die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen.“
Finnisches Recht
5 Die Durchführung der Unfallversicherung ist eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung, deren Ausführung in Finnland privaten Versicherungsgesellschaften anvertraut wurde. Um ihre Verpflichtung zu erfüllen, für die Sicherheit der Arbeitnehmer im Bereich Arbeitsunfälle Sorge zu tragen, müssen die Arbeitgeber eine Versicherung bei einer für die Abdeckung der Risiken gemäß dem Gesetz über die Unfallversicherung für Arbeitnehmer (Tapaturmavakuutuslaki) von 1982 in der 1992 geänderten Fassung (im Folgenden: Unfallversicherungsgesetz) zugelassenen Versicherungsgesellschaft abschließen. Die Kosten der gesetzlich vorgeschriebenen Unfallversicherung werden durch von den Arbeitgebern bezahlte Versicherungsprämien gedeckt.
6 Bei der Entschädigung für bleibende Schäden (Invalidengeld) handelt es sich um eine der Leistungen der Unfallversicherung. Sie gehört zum gesetzlichen System der sozialen Sicherheit. Ihr Ziel ist es, den Arbeitnehmer für einen Schaden der genannten Art infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit, d. h. einer lebenslangen Verringerung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit, zu entschädigen.
7 Nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 des Unfallversicherungsgesetzes wird als Entschädigung für eine durch einen Arbeitsunfall verursachte Verletzung oder Krankheit insbesondere Invalidengeld gewährt.
8 § 18b Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor, dass die Entschädigung in Form des Invalidengelds in Abhängigkeit vom Einzelfall als Einmalbetrag oder als Rente gezahlt wird. Gemäß § 18b Abs. 3 wird die als Einmalbetrag gewährte Entschädigung nach vom Ministerium genehmigten Kriterien als Kapitalbetrag, der dem Kapitalwert des Invalidengelds entspricht, unter Berücksichtigung des Alters des Arbeitnehmers berechnet.
9 Der Erlass Nr. 1662/453/82 des Ministeriums vom 30. Dezember 1982 über die Kriterien für die Kapitalwerte der Unfallrenten der Unfallversicherung und die Kriterien für die Zahlung einer Entschädigung als Einmalbetrag anstelle der Entschädigung in Form einer Rente legte die Kriterien fest, anhand deren diese Entschädigung zu berechnen ist.
10 In dieser Hinsicht legt der Anhang dieses Erlasses folgende Formeln fest:
„Die anzuwendende Sterblichkeit ist (TLE-82) mit einer Altersverschiebung von 3 Jahren, also
ux = 0,0000797 e 0,0875 (x+3)
(Mann)
ux = 0,0000168 e 0,1000 (y+3)
(Frau).“
11 Die durch Verletzungen oder Krankheiten hervorgerufenen Schäden werden zum Zweck der Quantifizierung des bleibenden allgemeinen Schadens in Abhängigkeit von ihrer medizinischen Natur und ihrem Schweregrad in 20 Klassen eingeteilt. Die Höhe der zuerkannten Entschädigung richtet sich nach der Schadensklasse. Die Entschädigung für weniger schwerwiegende Verletzungen und Krankheiten, die zu den Klassen 1 bis 10 gehören, wird grundsätzlich als Einmalbetrag gezahlt. Für die Schadensklassen 11 bis 20 können die Versicherten zwischen einer einmaligen Zahlung und einer lebenslangen monatlichen Rente wählen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 X, der 1953 geboren wurde, wurde am 27. August 1991 bei einem Arbeitsunfall verletzt. Das Vakuutusoikeus (Sozialgericht) stellte mit Entscheidung vom 18. Oktober 2005 fest, dass er Anspruch auf Invalidengeld nach dem Unfallversicherungsgesetz hat.
13 Infolge dieser Entscheidung setzte der zuständige Versicherungsträger mit Entscheidungen vom 16. Dezember 2005 das an X zu gewährende Invalidengeld auf einen Pauschalbetrag von 4197,98 Euro inklusive aller Aufschläge fest.
14 X legte einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung ein und berief sich darauf, dass das als Einmalbetrag gewährte Invalidengeld nach denselben Kriterien berechnet werden müsse, wie wenn es an eine Frau gezahlt würde. Der Rechtsbehelf wurde vom Beschwerdeausschuss für Arbeitsunfälle am 31. August 2006 zurückgewiesen. Diese Entscheidung wurde vom Vakuutusoikeus am 27. Mai 2008 bestätigt.
15 X trug in einem Schreiben an das Ministerium vom 13. Oktober 2008 vor, dass der ihm als Invalidengeld gezahlte Pauschalbetrag unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern festgesetzt worden sei. X forderte daher 278,89 Euro nebst Verzugszinsen. Dieser Betrag entspricht dem Unterschied zwischen der von X erhaltenen Entschädigung und der Entschädigung, die an eine gleichaltrige Frau in einer vergleichbaren Situation zu zahlen gewesen wäre. Das Ministerium lehnte die Zahlung des geforderten Betrags am 27. Mai 2009 ab.
16 Mit Klage, die am 17. Juni 2009 beim Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) einging, beantragte X, dem finnischen Staat aufzugeben, ihm den in Rede stehenden Betrag zu zahlen. Das Helsingin hallinto-oikeus wies die Klage mit Entscheidung vom 2. Dezember 2010 mit der Begründung, dass es nicht zuständig sei, als unzulässig ab.
17 X legte daraufhin gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) ein, das die Entscheidung des Helsingin hallinto-oikeus am 28. November 2012 aufhob.
18 In der Sache möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vorschriften des Unionsrechts über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern, insbesondere Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7, einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegenstehen, aufgrund deren die infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlende gesetzlich vorgeschriebene Leistung der sozialen Sicherheit wegen geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren für Frauen und Männer unterschiedlich hoch ist.
19 Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass zu entscheiden wäre, ob die Voraussetzungen für die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats für einen Verstoß gegen das Unionsrecht erfüllt sind, wenn Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen sein sollte, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift wie der, um die es in dem vor ihm anhängigen Rechtsstreit geht, entgegensteht.
20 Unter diesen Umständen hat das Korkein hallinto-oikeus beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, aufgrund deren die unterschiedliche Lebenserwartung für Männer und Frauen als versicherungsmathematisches Kriterium für die Berechnung der infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlenden gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen der sozialen Sicherheit herangezogen wird, wenn bei Verwendung dieses Kriteriums die an einen Mann zu zahlende einmalige Entschädigungsleistung niedriger ausfällt als die Entschädigung, die eine gleichaltrige Frau erhalten würde, die sich im Übrigen in einer vergleichbaren Situation befindet?
2. Wenn dies bejaht wird: Liegt in dieser Rechtssache als Voraussetzung für die Haftung des Mitgliedstaats ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht vor, wenn insbesondere berücksichtigt wird, dass
—
der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung nicht ausdrücklich dazu Stellung genommen hat, ob bei der Bemessung von Leistungen der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fallen, geschlechtsspezifische versicherungsmathematische Faktoren berücksichtigt werden dürfen,
—
der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C‑236/09, Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a. (C‑236/09, EU:C:2011:100), Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. L 373, S. 37), der die Berücksichtigung solcher Faktoren zulässt, für ungültig erklärt hat, aber eine Übergangszeit bis zum Eintritt der Ungültigkeit angeordnet hat, und
—
der Unionsgesetzgeber in den Richtlinien 2004/113 und 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. L 204, S. 23) die Berücksichtigung solcher Faktoren bei der Berechnung der Leistungen im Sinne dieser Richtlinien unter bestimmten Bedingungen zugelassen und der nationale Gesetzgeber auf dieser Grundlage angenommen hat, dass die fraglichen Faktoren auch im Bereich der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit im Sinne der vorliegenden Rechtssache berücksichtigt werden dürfen?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
21 Die finnische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass sich die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen, also der Arbeitsunfall von X, im Laufe des Jahres 1991 zugetragen hätten, d. h. vor dem Beitritt der Republik Finnland zur Europäischen Union. Auch wenn die in Rede stehende Pauschalentschädigung zum Ausgleich des durch den Arbeitsunfall hervorgerufenen bleibenden Schadens diene, komme es für die Anwendbarkeit des Unionsrechts allein auf den Zeitpunkt des schadensursächlichen Vorfalls an. Unter diesen Umständen geht die finnische Regierung davon aus, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts nicht zuständig sei.
22 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Rechtsakt, der den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits bildet, mit der Entscheidung des Vakuutusoikeus im Laufe des Jahres 2008 ergangen ist. Es steht ebenfalls fest, dass das Invalidengeld, um das es sich handelt, die Folgen des Unfalls von X während seines gesamten Lebens ausgleichen soll.
23 Daraus folgt, dass der Ausgangsrechtsstreit keinen Sachverhalt zum Gegenstand hat, dessen sämtliche Folgen bereits vor dem Beitritt der Republik Finnland zur Europäischen Union eingetreten wären.
24 Daher ist der Gerichtshof zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts zuständig.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
25 Zur Beantwortung der ersten Frage ist vorab darauf hinzuweisen, dass, auch wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entschädigung von einer privaten Versicherungsgesellschaft ausgezahlt wird, die Arbeitnehmerunfallversicherung in Finnland und die Kriterien für eine Gewährung dieser Entschädigung Teil der „gesetzlichen“ Systeme sind, die Schutz gegen die Risiken von Arbeitsunfällen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 79/7 bieten. Daher fällt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entschädigung in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie.
26 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 verbietet u. a. jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Hinblick auf die Berechnung der dort genannten Leistungen.
27 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass es im Ausgangsverfahren um die Berechnungsmethode für den Betrag einer Arbeitsunfallentschädigung geht, die als Einmalzahlung in Form einer Pauschalentschädigung gezahlt wird. Diese Berechnung muss nach Maßgabe u. a. des Alters des Arbeitnehmers sowie seiner durchschnittlichen verbleibenden Lebenserwartung vorgenommen werden. Für die Bestimmung des letztgenannten Faktors wird das Geschlecht des Arbeitnehmers berücksichtigt.
28 Es ist unstreitig, dass eine Frau gleichen Alters wie X, die am gleichen Tag wie X einen identischen Arbeitsunfall gehabt hätte, der die gleichen Schäden hervorgerufen hätte, nach der Berechnungsmethode für die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pauschalentschädigung einen Anspruch auf eine höhere Pauschalentschädigung gehabt hätte als diejenige, die X zusteht.
29 Die finnische Regierung macht jedoch geltend, dass sich eine solche Frau und X nicht in einer vergleichbaren Situation befänden. Sie führt dazu aus, dass die Berechnungsmethode für das in der nationalen Regelung vorgesehene, als einmalige Entschädigung gezahlte Invalidengeld eine Festsetzung seines Betrags in einer Höhe erlauben solle, die dem Gesamtbetrag des Invalidengelds im Fall seiner Zahlung in Form einer lebenslangen Rente entspreche. Da Männer und Frauen eine unterschiedliche Lebenserwartung hätten, würde die Anwendung eines einheitlichen Mortalitätskoeffizienten für beide Geschlechter dazu führen, dass die als Einmalbetrag an eine verunfallte Arbeitnehmerin gezahlte Entschädigung nicht mehr der durchschnittlichen verbleibenden Lebenserwartung der damit Begünstigten entspräche.
30 Die finnische Regierung präzisiert, dass die Differenzierung in Abhängigkeit vom Geschlecht notwendig sei, um eine Benachteiligung der Frauen gegenüber den Männern zu vermeiden. Da Frauen statistisch gesehen eine höhere Lebenserwartung hätten, müsse die Entschädigung, die dem pauschalisierten Ausgleich des erlittenen Schadens für die verbleibende Lebensdauer der geschädigten Person diene, für Frauen höher sein als für Männer. Somit liege keine Diskriminierung zwischen Männern und Frauen vor.
31 In dieser Hinsicht ist es, wie auch die Generalanwältin in Nr. 29 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich mit diesem Einwand höchstens die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Gewährung einer Entschädigung wie der im Ausgangsfall in Rede stehenden rechtfertigen ließe, nicht aber, wie die finnische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, in Abrede stellen ließe, dass Männer und Frauen nach den nationalen Rechtsvorschriften ungleich behandelt werden, soweit diese zur Folge haben, dass unter gleichen Bedingungen unterschiedliche Entschädigungen gewährt werden.
32 Es ist daher festzustellen, dass die Vorschriften des im Ausgangsfall in Rede stehenden Unfallversicherungssystems eine Ungleichbehandlung bewirken, die eine gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 verstoßende Diskriminierung darstellen kann.
33 Unter diesen Bedingungen ist zu klären, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann.
34 Zu den in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 genannten möglichen Gründen für eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung ist festzustellen, dass die Berücksichtigung eines Faktors auf der Grundlage der verbleibenden Lebenserwartung weder in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie, der Bestimmungen zum Schutz der Frau wegen Mutterschaft zum Inhalt hat, noch in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehen ist, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, von ihrem Anwendungsbereich eine bestimmte Anzahl von Regelungen, Vergünstigungen und Leistungen im Bereich der sozialen Sicherheit auszuschließen.
35 Im Übrigen folgt aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 nicht, dass die dort genannten Gründe für eine Abweichung nicht abschließend sind und dass die Mitgliedstaaten frei sind, andere Gründe für eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung vorzusehen. Die Tatsache, dass die Berücksichtigung eines solchen Faktors in den Bestimmungen dieser Richtlinie nicht ausdrücklich verboten wird, kann nicht dahin ausgelegt werden, dass sie es dem nationalen Gesetzgeber erlauben würde, diesen Faktor als Bestandteil der Berechnung für eine Entschädigung wie die des Ausgangsverfahrens vorzusehen.
36 Die finnische Regierung macht allerdings geltend, dass der Unterschied der Entschädigungsbeträge je nach dem Geschlecht des betroffenen Arbeitnehmers durch den objektiven Unterschied der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen gerechtfertigt werden könne. Sonst würden Frauen, die gegenüber Männern eine statistisch höhere Lebenserwartung hätten, benachteiligt, da mit der pauschalen Entschädigung die Unfallfolgen für den Rest des Lebens der geschädigten Person abgegolten werden sollten.
37 Dazu ist festzustellen, dass die Berechnung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pauschalentschädigung ungeachtet dessen, dass diese in einer Regelung vorgesehen ist, in der auch während des gesamten verbleibenden Lebens der geschädigten Person gezahlte Leistungen für einen Schaden aufgrund eines Arbeitsunfalls festgesetzt werden, nicht auf der Grundlage einer Verallgemeinerung zur durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen vorgenommen werden kann.
38 Eine solche Verallgemeinerung kann nämlich zu einer diskriminierenden Behandlung der Versicherten männlichen Geschlechts gegenüber den Versicherten weiblichen Geschlechts führen. Im Übrigen steht der Berücksichtigung allgemeiner geschlechtsspezifischer statistischer Daten entgegen, dass nicht sicher ist, dass eine Versicherte immer eine höhere Lebenserwartung hat als ein Versicherter gleichen Alters in einer vergleichbaren Situation.
39 Aus diesen Erwägungen folgt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht gerechtfertigt werden kann.
40 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, aufgrund deren die unterschiedliche Lebenserwartung für Männer und Frauen als versicherungsmathematisches Kriterium für die Berechnung der infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlenden gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen der sozialen Sicherheit herangezogen wird, wenn bei Verwendung dieses Kriteriums die an einen Mann zu zahlende einmalige Entschädigungsleistung niedriger ausfällt als die Entschädigung, die eine gleichaltrige Frau erhalten würde, die sich im Übrigen in einer vergleichbaren Situation befindet.
Zur zweiten Frage
41 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende als ein „hinreichend qualifizierter“ Verstoß gegen das Unionsrecht einzustufen ist, was eine der Voraussetzungen für die Haftung des betroffenen Mitgliedstaats darstellt.
42 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 56 seines Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79) dargelegt hat, dass zu den Gesichtspunkten, die das nationale Gericht gegebenenfalls zu berücksichtigen hat, das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder den Unionsbehörden belässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand gehören, dass die Verhaltensweisen eines Unionsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in unionsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden.
43 Der Gerichtshof hat auch hervorgehoben, dass die konkrete Anwendung der Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, entsprechend den vom Gerichtshof hierfür gegebenen Leitlinien grundsätzlich den nationalen Gerichten obliegt (vgl. Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation, C‑446/04, EU:C:2006:774, Rn. 210 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Daraus folgt, dass der Gerichtshof die Beurteilung durch die nationalen Gerichte nicht durch seine eigene ersetzen kann (vgl. Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, EU:C:1996:79, Rn. 58). Allerdings kann der Gerichtshof Letzteren Leitlinien und Hinweise zur konkreten Anwendung dieses Grundsatzes an die Hand geben (vgl. Urteil Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 100).
45 In Bezug auf die vorliegende Rechtssache sind drei Gesichtspunkte hervorzuheben, die zur Beantwortung der Frage zu berücksichtigen sind, ob die in Rede stehenden Vorschriften des nationalen Rechts als ein „hinreichend qualifizierter“ Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 angesehen werden müssen.
46 Erstens waren die Tragweite des in Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Grundsatzes der Gleichbehandlung und seine Auslegung bisher nicht Gegenstand eines Urteils des Gerichtshofs. Im Übrigen hat sich der oben festgestellte Verstoß gegen das Unionsrecht in Bezug auf X erst im Jahr 2008 mit der endgültigen Entscheidung des Vakuutusoikeus konkretisiert.
47 Zweitens wurde bisher weder gegen das in Rede stehende finnische Gesetz noch gegen irgendein anderes nationales Gesetz eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV wegen eines Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 erhoben.
48 Drittens ist hinsichtlich der vom Unionsgesetzgeber erlassenen Rechtsakte zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt hat, vor dem 21. Dezember 2007 proportionale Unterschiede bei den Prämien und Leistungen für Versicherte dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist. Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber zwar beschlossen, dass eine bestimmte Anzahl von auf das Geschlecht gestützten Regelungen im Bereich der betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt, in Art. 9 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2006/54 aber nichtsdestoweniger unter den Ausnahmen von diesem Grundsatz in bestimmten Fällen die Verwendung von nach dem Geschlecht unterschiedlichen versicherungsmathematischen Faktoren aufgeführt.
49 Zur ersten dieser Bestimmungen hat der Gerichtshof am 1. März 2011 in Rn. 32 des Urteils Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a. (EU:C:2011:100) entschieden, dass eine Erlaubnis für die Mitgliedstaaten, eine Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten, der Verwirklichung des mit der Richtlinie 2004/113 verfolgten Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwiderläuft, wobei er klargestellt hat, dass diese Bestimmung aufgrund ihres diskriminierenden Charakters als ungültig anzusehen ist.
50 Nach alledem obliegt es dem nationalen Gericht, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall der Verstoß gegen das Unionsrecht als „hinreichend qualifiziert“ anzusehen ist.
51 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass es dem vorlegenden Gericht obliegt, zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Haftung des Mitgliedstaats erfüllt sind. Im Hinblick auf die Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, wird dieses Gericht u. a. zu berücksichtigen haben, dass sich der Gerichtshof noch nicht dazu geäußert hat, ob bei der Bemessung einer Leistung, die nach dem gesetzlichen Sozialversicherungssystem gezahlt wird und in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fällt, ein auf die durchschnittliche Lebenserwartung je nach dem Geschlecht gestützter Faktor berücksichtigt werden darf. Das vorlegende Gericht wird ebenso der den Mitgliedstaaten vom Unionsgesetzgeber eingeräumten Möglichkeit, die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2006/54 Ausdruck gefunden hat, Rechnung zu tragen haben. Im Übrigen wird es zu berücksichtigen haben, dass der Gerichtshof am 1. März 2011 (C‑236/09, EU:C:2011:100) entschieden hat, dass die erste dieser Bestimmungen ungültig ist, da sie gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verstößt.
Kosten
52 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, aufgrund deren die unterschiedliche Lebenserwartung für Männer und Frauen als versicherungsmathematisches Kriterium für die Berechnung der infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlenden gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen der sozialen Sicherheit herangezogen wird, wenn bei Verwendung dieses Kriteriums die an einen Mann zu zahlende einmalige Entschädigungsleistung niedriger ausfällt als die Entschädigung, die eine gleichaltrige Frau erhalten würde, die sich im Übrigen in einer vergleichbaren Situation befindet.
2. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Haftung des Mitgliedstaats erfüllt sind. Im Hinblick auf die Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, wird dieses Gericht u. a. zu berücksichtigen haben, dass sich der Gerichtshof noch nicht dazu geäußert hat, ob bei der Bemessung einer Leistung, die nach dem gesetzlichen Sozialversicherungssystem gezahlt wird und in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fällt, ein auf die durchschnittliche Lebenserwartung je nach dem Geschlecht gestützter Faktor berücksichtigt werden darf. Das vorlegende Gericht wird ebenso der den Mitgliedstaaten vom Unionsgesetzgeber eingeräumten Möglichkeit, die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sowie in Art. 9 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen Ausdruck gefunden hat, Rechnung zu tragen haben. Im Übrigen wird es zu berücksichtigen haben, dass der Gerichtshof am 1. März 2011 (C‑236/09, EU:C:2011:100) entschieden hat, dass die erste dieser Bestimmungen ungültig ist, da sie gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verstößt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Finnisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 3. Juli 2014.#Liliana Tudoran u. a. gegen SC Suport Colect SRL.#Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht von der Judecătorie Câmpulung.#Vorlage zu Vorabentscheidung – Richtlinien 93/13/EWG und 2008/48/EG – Zeitlicher und sachlicher Anwendungsbereich – Vor dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union liegende Umstände – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Durchführung des Rechts der Union – Fehlen – Offensichtliche Unzuständigkeit – Art. 49 AEUV und 56 AEUV – Offensichtliche Unzulässigkeit.#Rechtssache C‑92/14.
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62014CO0092
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ECLI:EU:C:2014:2051
| 2014-07-03T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CO0092
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
3. Juli 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Richtlinien 93/13/EWG und 2008/48/EG — Zeitlicher und sachlicher Anwendungsbereich — Vor dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union liegende Umstände — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Durchführung des Rechts der Union — Fehlen — Offensichtliche Unzuständigkeit — Art. 49 AEUV und 56 AEUV — Offensichtliche Unzulässigkeit“
In der Rechtssache C‑92/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Judecătorie Câmpulung (Rumänien) mit Entscheidung vom 25. Februar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 5. März 2014, in dem Verfahren
Liliana Tudoran,
Florin Iulian Tudoran,
Ilie Tudoran
gegen
SC Suport Colect SRL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Borg Barthet, des Richters E. Levits (Berichterstatter) und der Richterin M. Berger,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV und 56 AEUV, von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 3 und 10 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29) sowie bestimmter Vorschriften der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133, S. 66).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Liliana Tudoran, Florin Iulian Tudoran und Ilie Tudoran einerseits und der SC Suport Colect SRL (im Folgenden: „Suport Colect“) andererseits über die Modalitäten der Beitreibung einer Forderung aus einem im Rahmen des Erwerbs einer Immobilie geschlossenen Kreditvertrags, für den eine Hypothek bestellt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„[Die] Vorschriften [der Richtlinie 93/13] gelten für alle Verträge, die nach dem 31. Dezember 1994 abgeschlossen werden.“
4 In Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/48 heißt es:
„Diese Richtlinie gilt nicht für:
a)
Kreditverträge, die entweder durch eine Hypothek oder eine vergleichbare Sicherheit, die in einem Mitgliedstaat gewöhnlich für unbewegliches Vermögen genutzt wird, oder durch ein Recht an unbeweglichem Vermögen gesichert sind;
b)
Kreditverträge, die für den Erwerb oder die Erhaltung von Eigentumsrechten an einem Grundstück oder einem bestehenden oder geplanten Gebäude bestimmt sind;
…“
Rumänisches Recht
5 Art. 372 des Cod de procedură civilă (Zivilprozessordnung) bestimmt:
„Die Zwangsvollstreckung erfolgt ausschließlich aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung oder eines anderen Schriftstücks, das nach dem Gesetz einen Vollstreckungstitel darstellt.“
6 In Art. 379 Abs. 1 der Zivilprozessordnung heißt es:
„Eine Zwangsvollstreckung in bewegliche oder unbewegliche Gegenstände ist nur wegen einer Forderung zulässig, die bestimmt, fällig und einredefrei ist.“
7 Art. 399 der Zivilprozessordnung bestimmt:
„Die Zwangsvollstreckung sowie jede Vollstreckungshandlung können vom Betroffenen oder demjenigen, der durch die Vollstreckung einen Schaden erleidet, mit der Beschwerde angefochten werden.“
8 Art. 120 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 99 vom 6. Dezember 2006 über Kreditinstitute und die angemessene Eigenkapitalausstattung (Monitorul Oficial al României, Nr. 1027, im Folgenden: Dringlichkeitsverordnung Nr. 99) lautet:
„Kreditverträge, einschließlich dinglich oder persönlich gesicherter Verträge, die von einem Kreditinstitut geschlossen werden, stellen Vollstreckungstitel dar.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9 Am 5. Oktober 2006 schlossen die Kläger des Ausgangsverfahrens mit der Banca Comercială Română einen Kreditvertrag über einen Betrag von 17200 Euro für den Kauf einer in Câmpulung (Rumänien) belegenen Immobilie.
10 Dieser Vertrag sieht vor, dass der Zinssatz im ersten Jahr der Zurverfügungstellung des Kredits unveränderlich ist. Nach Ablauf des ersten Jahres richtet er sich nach dem variablen Referenzzinssatz, der auf der Grundlage eines am Sitz der Bank ausgehängten Zinssatzes errechnet wird und sich um einen „Schuldendienst des Kreditnehmers“ genannten variablen Wert erhöht, der davon abhängt, welche Tilgungsleistungen er erbracht hat, und sich nach der Zahl der Tage des Zahlungsverzugs nach Eintritt der Fälligkeit bemisst.
11 Der Vertrag sieht ferner eine Erhöhung des Zinssatzes während der Vertragslaufzeit vor, die an die Rückzahlungsfähigkeit des Kreditnehmers gebunden ist. So erhöht sich der geänderte Zinssatz entsprechend dem Ausmaß des Zahlungsverzugs.
12 Am 11. Oktober 2006 schlossen Herr Florin Iulian Tudoran und Frau Tudoran mit der Bank einen Vertrag, mit dem eine erstrangige Hypothek auf die erworbene Immobilie als Sicherheit für die Erfüllung der aus dem Kreditvertrag vom 5. Oktober 2006 resultierenden Zahlungspflichten bestellt wurde.
13 Am 12. Mai 2009 übersandte die Bank den Klägern des Ausgangsverfahrens eine Mitteilung wegen der Nichterfüllung ihrer vertraglichen Pflichten, weil sie bestimmte Tilgungsraten des Kredits nicht gezahlt hätten. Sie wurden aufgefordert, innerhalb von sieben Tagen nach Erhalt der Mitteilung einen Betrag von 233,91 Euro zu zahlen. Andernfalls werde die gesamte Restschuld fällig, und die Bank werde Zwangsvollstreckungsmaßnahmen einleiten.
14 Die Darlehensforderung gegen die Kläger des Ausgangsverfahrens war Gegenstand zweier aufeinanderfolgender Abtretungen. Zuletzt wurde sie, mit Forderungsabtretungsvertrag vom 5. August 2009, von Suport Colect erworben.
15 Am 18. Mai 2012 leitete Suport Colect ein Zwangsvollstreckungsverfahren gegen die Kläger des Ausgangsverfahrens ein.
16 Am 15. März 2013 erließ ein von Suport Colect befasster Gerichtsvollzieher aufgrund des von den Klägern des Ausgangsverfahrens geschlossenen, durch eine Hypothek gesicherten Kreditvertrags einen Mahnbescheid zur Beitreibung eines Betrags von 16980,75 Euro.
17 Dieser Mahnbescheid war Grundlage von Vollstreckungsmaßnahmen in Form einer Gehaltspfändung und der Pfändung der in Rede stehenden Immobilie.
18 Am 13. Juni 2013 legten die Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Judecătorie Câmpulung einen Rechtsbehelf gegen sämtliche Vollstreckungsmaßnahmen ein. Sie verlangen die Aufhebung dieser Maßnahmen sowie des Mahnbescheids.
19 In der Sache machen die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, dass die Zwangsvollstreckung auf einer Forderung beruhe, die die Voraussetzungen des Art. 379 Abs. 1 der Zivilprozessordnung nicht erfülle, da sie nicht bestimmt, fällig und einredefrei sei. So seien keine Angaben zur genauen Höhe der Beträge gemacht worden, aus denen sich die Forderung zusammensetze.
20 Nachdem das vorlegende Gericht die Erstellung eines Gutachtens eines Wirtschaftsprüfers angeordnet hatte, um den genauen Umfang der Forderung zu bestimmen, befasste es sich mit der Frage der Vereinbarkeit der die Festlegung der Zinssätze betreffenden Klauseln des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kreditvertrags mit den Richtlinien 93/13 und 2008/48 sowie mit der Frage der Vereinbarkeit von Art. 120 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 99 mit den Art. 49 AEUV und 56 AEUV sowie mit Art. 47 der Charta.
21 Unter diesen Umständen hat die Judecătorie Câmpulung entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Bestimmungen der Richtlinien 93/13 und 2008/48 auf einen Kreditvertrag anwendbar, der am 5. Oktober 2006, vor dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union, geschlossen wurde, seine Wirkungen aber bis in die Gegenwart entfaltet, da aus ihm derzeit die Zwangsvollstreckung betrieben wird, nachdem die darin vorgesehene Darlehensforderung sukzessive abgetreten wurde?
2. Falls Frage 1 bejaht wird: Können Klauseln wie diejenigen betreffend den „Schuldendienst des Kreditnehmers“ bei Zahlungsverzug des Schuldners und betreffend die Zinserhöhung nach Ablauf eines Jahres, wonach sich der Zins nach dem in den Niederlassungen der Bank aushängenden variablen Referenzzins der Banca Comercială Română richtet, zuzüglich 1,90 Prozentpunkte, als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie 93/13 angesehen werden?
3. Steht der in Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen vom Unionsrecht verliehenen Rechte einer Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 120 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 99 entgegen, nach der ein ohne öffentliche Beurkundung und ohne Verhandlungsmöglichkeit des Schuldners geschlossener Bankkreditvertrag, auf dessen Grundlage der Gerichtsvollzieher nach einer summarischen Prüfung und Erteilung der Vollstreckbarerklärung in einem nicht streitigen Verfahren mit beschränkten Möglichkeiten des Gerichts, den Umfang der Forderung festzustellen, die Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Schuldners betreiben kann?
4. Ist die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie Art. 372 ff. der ehemaligen rumänischen Zivilprozessordnung entgegensteht, die es dem Gläubiger erlaubt, die Vollstreckung wegen Leistungen, die auf missbräuchlichen Vertragsklauseln beruhen, in der Weise vorzunehmen, dass er die Zwangsvollstreckung in den durch ein Pfandrecht belasteten Vermögensgegenstand betreibt, indem er die Immobilie trotz Widerspruchs des Verbrauchers ohne Prüfung der Vertragsklauseln durch ein unabhängiges Gericht veräußert?
5. Verstößt eine Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 120 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 99, nach der ein Bankkreditvertrag als Vollstreckungstitel anerkannt wird, gegen die in Art. 49 AEUV vorgesehene Niederlassungsfreiheit und die in Art. 56 AEUV vorgesehene Dienstleistungsfreiheit, indem sie Unionsbürger davon abhält, sich in einem Staat niederzulassen, in dem einem mit einer privaten Einrichtung geschlossenen Bankvertrag derselbe Wert beigemessen wird wie einem Vollstreckungstitel in Form eines gerichtlichen Urteils?
6. Falls die vorstehenden Fragen bejaht werden: Darf das nationale Gericht die Nichtvollstreckbarkeit eines solchen Titels, mit dem die Zwangsvollstreckung aus einer in einem solchen Vertrag enthaltenen Forderung betrieben wird, von Amts wegen prüfen?
Verfahren vor dem Gerichtshof
22 Das vorlegende Gericht hat in seinem Vorabentscheidungsersuchen beantragt, gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs das beschleunigte Verfahren anzuwenden.
23 Nach Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jedoch, wenn er für die Entscheidung über eine Rechtssache offensichtlich unzuständig ist oder wenn ein Ersuchen oder eine Klage offensichtlich unzulässig ist, nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen.
24 Da diese Vorschrift im vorliegenden Fall anzuwenden ist, ist über den Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens nicht zu entscheiden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinien 93/13 und 2008/48 dahin auszulegen sind, dass ihre Bestimmungen auf einen Immobilienkreditvertrag anwendbar sind, der vor dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union geschlossen wurde, und – der Sache nach – ob der Gerichtshof für die Beantwortung der zweiten und der vierten Frage zuständig ist.
26 Was erstens die Richtlinie 93/13 betrifft, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kreditvertrag am 5. Oktober 2006 geschlossen wurde und dass die Hypothek zu seiner Sicherung am 11. Oktober 2006 bestellt wurde, also vor dem 1. Januar 2007, an dem Rumänien der Union beitrat.
27 Zum einen ist der Gerichtshof für die Auslegung des Unionsrechts ausschließlich im Hinblick auf seine Anwendung in einem Mitgliedstaat ab dessen Beitritt zur Union zuständig (Beschluss Pohotovosť, C‑153/13, EU:C:2014:264, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Zum anderen ist, da die Richtlinie 93/13, wie sich aus ihrem Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 ergibt, nur auf Verträge anwendbar ist, die nach dem 31. Dezember 1994, an dem die Frist für ihre Umsetzung ablief, geschlossen wurden, das Datum des Abschlusses des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags zu berücksichtigen, um die Anwendbarkeit der Richtlinie auf diesen Vertrag zu bestimmen, während der Zeitraum, in dem Letzterer seine Wirkungen entfaltet, unerheblich ist.
29 Da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kreditvertrag am 5. Oktober 2006 geschlossen und für ihn am 11. Oktober 2006 eine Hypothek bestellt wurde, ist die Richtlinie 93/13 auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar.
30 Was zweitens die Richtlinie 2008/48 betrifft, so genügt die Feststellung, dass sie nach ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b für Kreditverträge, die durch eine Hypothek gesichert sind, sowie für Kreditverträge, die für den Erwerb oder die Erhaltung von Eigentumsrechten an einem bestehenden oder geplanten Gebäude bestimmt sind, nicht gilt.
31 Da sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag ein durch eine Hypothek gesicherter Kreditvertrag ist, der für den Erwerb eines Gebäudes bestimmt ist, findet die Richtlinie 2008/48 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens keine Anwendung.
32 Folglich sind weder die Vorschriften der Richtlinie 93/13 noch die Vorschriften der Richtlinie 2008/48 auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar.
Zur zweiten und zur vierten Frage
33 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die vierte Frage nicht zu beantworten.
Zur fünften Frage
34 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 49 AEUV und 56 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die einem Bankkreditvertrag den Charakter eines vollstreckbaren Titels beimisst.
35 Hierzu ist festzustellen, dass es dem Gerichtshof obliegt, zur Klärung seiner eigenen Zuständigkeit die Voraussetzungen zu prüfen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 39, sowie Susisalo u. a., C‑84/11, EU:C:2012:374, Rn. 16).
36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung einer Vorlagefrage nicht zuständig ist, wenn die ihm zur Auslegung vorgelegte unionsrechtliche Vorschrift offensichtlich keine Anwendung finden kann (Urteil Caixa d’Estalvis i Pensions de Barcelona, C‑139/12, EU:C:2014:174, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Zu den Regeln des Unionsrechts, um deren Auslegung gebeten wird, ist festzustellen, dass die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr nicht für Sachverhalte gelten, die sich ausschließlich innerhalb eines Mitgliedstaats abspielen (vgl. in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit Urteil Kommission/Frankreich, C‑389/05, EU:C:2008:411, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit Urteil Omalet, C‑245/09, EU:C:2010:808, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Unter bestimmten Voraussetzungen hindert der rein innerstaatliche Charakter des betreffenden Sachverhalts den Gerichtshof gleichwohl nicht daran, eine nach Art. 267 AEUV vorgelegte Frage zu beantworten.
39 Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn das nationale Recht dem vorlegenden Gericht vorschreibt, einem Angehörigen des Mitgliedstaats, in dem sich dieses Gericht befindet, die gleichen Rechte zuzuerkennen, wie sie dem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats in der gleichen Lage aufgrund des Unionsrechts zustünden (vgl. in diesem Sinne Urteile Guimont, C‑448/98, EU:C:2000:663, Rn. 23, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, EU:C:2006:208, Rn. 29, sowie Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 30), oder wenn das Vorabentscheidungsersuchen Vorschriften des Unionsrechts betrifft, auf die das nationale Recht eines Mitgliedstaats zur Bestimmung der auf einen rein innerstaatlichen Sachverhalt anwendbaren Vorschriften verweist (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile Dzodzi, C‑297/88 und C‑197/89, EU:C:1990:360, Rn. 36, Poseidon Chartering, C‑3/04, EU:C:2006:176, Rn. 15, sowie Romeo, C‑313/12, EU:C:2013:718, Rn. 21).
40 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass sämtliche Elemente des Ausgangsrechtsstreits innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats liegen, da der Rechtsstreit das Verfahren der Zwangsvollstreckung wegen einer durch eine Hypothek gesicherten Forderung betrifft, die auf einem Kreditvertrag beruht, der zwischen rumänischen Staatsangehörigen und einer rumänischen Bank geschlossen wurde, und von einer rumänischen Gesellschaft geltend gemacht wird, der diese Forderung zusteht.
41 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht auch nicht hervor, dass das vorlegende Gericht den Parteien des Ausgangsverfahrens nach nationalem Recht eine Behandlung zu gewähren hätte, die sich danach richten würde, wie ein in der gleichen Lage befindlicher Wirtschaftsteilnehmer eines anderen Mitgliedstaats nach dem Unionsrecht behandelt würde. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass sich das vorlegende Gericht auf eine Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften stützen müsste, um den Inhalt des im vorliegenden Fall anwendbaren nationalen Rechts zu bestimmen.
42 Da die Vorlageentscheidung offensichtlich keine konkreten Anhaltspunkte für die Annahme eines Zusammenhangs zwischen den Art. 49 und 56 AEUV und den unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften enthält und da sich dieser Rechtsstreit ausschließlich innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats abspielt, ist die fünfte Frage unzulässig.
Zur dritten Frage
43 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen vom Unionsrecht verliehenen Rechte dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift wie Art. 120 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 99 entgegensteht, wonach die von einem Kreditinstitut geschlossenen Darlehensverträge Vollstreckungstitel darstellen.
44 In allen Fällen, in denen die Mitgliedstaaten zur Anwendung des Unionsrechts berufen sind, haben sie nach ständiger Rechtsprechung die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes zu beachten (vgl. Beschlüsse Asparuhov Estov u. a., C‑339/10, EU:C:2010:680, Rn. 13, sowie Chartry, C‑457/09, EU:C:2011:101, Rn. 22).
45 Ferner bestimmt Art. 51 Abs. 1 der Charta, dass diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 51 Abs. 2 der Charta stellen klar, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner Weise ausgedehnt werden.
46 Zum einen sind aber, wie sich aus den Rn. 32 und 42 des vorliegenden Beschlusses ergibt, weder die Vorschriften der Richtlinien 93/13 und 2008/48 noch die Art. 49 AEUV und 56 AEUV auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar.
47 Zum anderen enthält die Vorlageentscheidung keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass der Gegenstand des Ausgangsverfahrens einen Bezug zu anderen Vorschriften des Unionsrechts aufwiese oder eine nationale Regelung zur Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta beträfe.
48 Somit ist der Gerichtshof für die Beantwortung der dritten ihm vom vorlegenden Gericht gestellten Frage offensichtlich unzuständig.
49 Ohne dass die sechste Frage zu prüfen wäre, folgt aus den vorstehenden Erwägungen, dass in Ansehung von Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung zum einen der Gerichtshof für die Beantwortung der dritten Vorlagefrage offensichtlich unzuständig ist und zum anderen die fünfte Frage offensichtlich unzulässig ist.
Kosten
50 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) beschlossen:
Die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen sowie die Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates sind auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar.
Überdies ist der Gerichtshof der Europäischen Union zum einen für die Beantwortung der dritten Frage, die ihm von der Judecătorie Câmpulung (Rumänien) mit Entscheidung vom 25. Februar 2014 zur Vorabentscheidung vorgelegt worden ist, offensichtlich unzuständig; zum anderen ist die fünfte Frage, die ihm dieses Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, offensichtlich unzulässig.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 10. Juli 2014.#Ewaen Fred Ogieriakhi gegen Minister for Justice and Equality u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court [Irland].#Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 16 Abs. 2 – Daueraufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Drittlands besitzen – Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft – Unmittelbar anschließendes Zusammenleben mit anderen Partnern innerhalb des ununterbrochenen fünf Jahre langen Aufenthalts – Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 – Art. 10 Abs. 3 – Voraussetzungen – Verletzung des Unionsrechts durch einen Mitgliedstaat – Prüfung der Art des fraglichen Verstoßes – Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens.#Rechtssache C‑244/13.
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62013CJ0244
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ECLI:EU:C:2014:2068
| 2014-07-10T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0244
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
10. Juli 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Richtlinie 2004/38/EG — Art. 16 Abs. 2 — Daueraufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Drittlands besitzen — Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft — Unmittelbar anschließendes Zusammenleben mit anderen Partnern innerhalb des ununterbrochenen fünf Jahre langen Aufenthalts — Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 — Art. 10 Abs. 3 — Voraussetzungen — Verletzung des Unionsrechts durch einen Mitgliedstaat — Prüfung der Art des fraglichen Verstoßes — Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens“
In der Rechtssache C‑244/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Irland) mit Entscheidung vom 19. April 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 30. April 2013, in dem Verfahren
Ewaen Fred Ogieriakhi
gegen
Minister for Justice and Equality,
Irland,
Attorney General,
An Post
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. März 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Ogieriakhi persönlich,
—
des Minister for Justice and Equality, Irlands, des Attorney General und von An Post, vertreten durch E. Creedon und B. Lydon als Bevollmächtigte im Beistand von R. Barron, SC, E. Brennan, BL, und R. Barrett, Adviser,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Enegren, C. Tufvesson und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Mai 2014
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Auslegung von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35) sowie von Art. 10 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) und zum anderen die Bestimmung der Wirkungen, die die Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage zum Daueraufenthaltsrecht für die Beurteilung durch dieses Gericht im Rahmen einer Schadensersatzklage hat, ob der betroffene Mitgliedstaat einen offensichtlichen Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Ogieriakhi auf der einen und dem Minister for Justice and Equality, Irland, dem Attorney General und An Post auf der anderen Seite wegen einer Klage auf Schadensersatz, die der Kläger gestützt auf die mit dem Urteil Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428) begründete Rechtsprechung gegen diesen Mitgliedstaat erhoben hat, weil Irland seinen Verpflichtungen zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 angeblich nicht nachgekommen ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Richtlinie 2004/38
3 Der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 lautet:
„Wenn Unionsbürger, die beschlossen haben, sich dauerhaft in dem Aufnahmemitgliedstaat niederzulassen, das Recht auf Daueraufenthalt erhielten, würde dies ihr Gefühl der Unionsbürgerschaft verstärken und entscheidend zum sozialen Zusammenhalt – einem grundlegenden Ziel der Union – beitragen. Es gilt daher, für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich gemäß den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und gegen die keine Ausweisungsmaßnahme angeordnet wurde, ein Recht auf Daueraufenthalt vorzusehen.“
4 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;
2. ‚Familienangehöriger‘
a)
den Ehegatten;
…
3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“
5 Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“
6 In Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a)
Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist …
…
(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“
7 Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie lautet:
„Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn
a)
die Ehe oder die eingetragene Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens oder bis zur Beendigung der eingetragenen Partnerschaft mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, oder
b)
dem Ehegatten oder dem Lebenspartner im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b), der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund einer Vereinbarung der Ehegatten oder der Lebenspartner oder durch gerichtliche Entscheidung das Sorgerecht für die Kinder des Unionsbürgers übertragen wird oder
c)
es aufgrund besonders schwieriger Umstände erforderlich ist, wie etwa bei Opfern von Gewalt im häuslichen Bereich während der Ehe oder der eingetragenen Partnerschaft, oder
d)
dem Ehegatten oder dem Lebenspartner im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b), der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund einer Vereinbarung der Ehegatten oder der Lebenspartner oder durch gerichtliche Entscheidung das Recht zum persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind zugesprochen wird, sofern das Gericht zu der Auffassung gelangt ist, dass der Umgang – solange er für nötig erachtet wird – ausschließlich im Aufnahmemitgliedstaat erfolgen darf.
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge.
Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“
8 In Kapitel IV („Recht auf Daueraufenthalt“) der Richtlinie 2004/38 lautet Art. 16 („Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen“):
„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.
(3) Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.
(4) Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“
9 Art. 18 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„Unbeschadet des Artikels 17 erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, auf die Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 13 Absatz 2 Anwendung finden und die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.“
Die Verordnung Nr. 1612/68
10 Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 lautet:
„(1) Bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit Wohnung nehmen:
a)
sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird;
b)
seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt.
(2) Die Mitgliedstaaten begünstigen den Zugang aller nicht in Absatz 1 genannten Familienangehörigen, denen der betreffende Arbeitnehmer Unterhalt gewährt oder mit denen er im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft lebt.
(3) Voraussetzung für die Anwendung der Absätze 1 und 2 ist, dass der Arbeitnehmer für seine Familie über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht; diese Bestimmung darf nicht zu Diskriminierungen zwischen den inländischen Arbeitnehmern und den Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten führen.“
Irisches Recht
11 Mit den European Communities (Free Movement of Persons) Regulations von 2006 (Verordnung von 2006 über die Freizügigkeit in den Europäischen Gemeinschaften) (SI 2006 Nr. 656, im Folgenden: Regulations von 2006) werden die Vorschriften der Richtlinie 2004/38 in irisches Recht umgesetzt.
12 Art. 12 der Regulations von 2006 dient der Umsetzung von Art. 16 dieser Richtlinie.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
13 Herr Ogieriakhi, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste im Mai 1998 nach Irland ein und beantragte dort im selben Monat politisches Asyl. Im Mai 1999 heiratete er eine französische Staatsangehörige, Frau Georges. Er nahm daraufhin seinen Asylantrag zurück und erhielt für die Zeit vom 11. Oktober 1999 bis zum 11. Oktober 2000 einen Aufenthaltstitel. Am Ende dieses Zeitraums beantragte er, diesen zu verlängern, was ihm für die Zeit vom 11. Oktober 2000 bis zum 11. Oktober 2004 gewährt wurde.
14 Herr Ogieriakhi und seine Ehefrau lebten zwischen 1999 und 2001 zusammen in Mietwohnungen mit verschiedenen Anschriften in Dublin (Irland).
15 Kurz nach August 2001 verließ Frau Georges die gemeinsame Wohnung, um mit einem anderen Mann zusammenzuleben. In der Folge verließ auch Herr Ogieriakhi diese Wohnung, um mit einer irischen Staatsangehörigen, Frau Madden, zusammenzuziehen, mit der er ein Kind hat, das im Dezember 2003 geboren wurde. Es steht fest, dass Frau Georges seit 2002 an der Beschaffung oder Zurverfügungstellung von Wohnraum für Herrn Ogieriakhi nicht beteiligt war.
16 Von Oktober 1999 bis Oktober 2004, mit Ausnahme eines Monats, war Frau Georges entweder erwerbstätig oder erhielt Sozialleistungen, die an die Bedingung geknüpft waren, dass sie nach einer Beschäftigung suchte. Im Dezember 2004 verließ sie Irland und kehrte endgültig nach Frankreich zurück.
17 Frau Georges und Herr Ogieriakhi ließen sich im Januar 2009 scheiden. Im Juli desselben Jahres heiratete Herr Ogieriakhi Frau Madden und erhielt schließlich 2012 im Wege der Einbürgerung die irische Staatsangehörigkeit.
18 Im September 2004 beantragte Herr Ogieriakhi die Verlängerung seines Aufenthaltstitels. Dieser Antrag wurde jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, er habe nicht nachgewiesen, dass Frau Georges derzeit ihre Rechte aus dem EU-Vertrag ausübe, indem sie in diesem Staat arbeite oder wohne, denn nach den dem Minister for Justice and Equality vorliegenden Unterlagen sei sie im Dezember 2004 nach Paris (Frankreich) zurückgekehrt, um dort einer Beschäftigung nachzugehen.
19 Nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38 stellte Herr Ogieriakhi Mitte 2007 einen Antrag auf Daueraufenthalt in Irland, und zwar mit der Begründung, dass er aufgrund seiner Eheschließung mit Frau Georges von 1999 bis 2004 eine ununterbrochene fünfjährige Aufenthaltszeit zurückgelegt habe.
20 Der Minister for Justice and Equality wies diesen Antrag im September 2007 mit der Begründung zurück, Herr Ogieriakhi habe in Irland kein Aufenthaltsrecht nach den Regulations von 2006, da er nicht nachgewiesen habe, dass seine Ehefrau in Irland im genannten Zeitraum ihre auf dem EU-Vertrag beruhenden Rechte noch immer ausgeübt habe.
21 Im Oktober 2007 wurde Herr Ogieriakhi von An Post, dem staatlichen Postdienst, bei dem er als Sortierer gearbeitet hatte, mit der Begründung entlassen, dass er in Irland kein Aufenthaltsrecht habe.
22 Da Herr Ogieriakhi der Auffassung war, dass er in diesem Staat ein Daueraufenthaltsrecht habe, erhob er gegen die Entscheidung des Minister for Justice and Equality Klage. Diese wurde im Januar 2008 vom High Court mit der Begründung abgewiesen, die Regulations von 2006 seien auf vor ihrem Erlass liegende Aufenthaltszeiten nicht anwendbar.
23 Herr Ogieriakhi legte gegen dieses Urteil nicht unmittelbar ein Rechtsmittel ein. Nach dem Urteil Lassal (C‑162/09, EU:C:2010:592) jedoch, demzufolge ein Aufenthalt vor dem Jahr 2006 grundsätzlich so aufgefasst werden kann, dass er das Kriterium eines ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalts erfüllt, beantragte er beim Supreme Court eine Verlängerung der Rechtsmittelfrist, um dort Rechtsmittel einlegen zu können. Mit Entscheidung vom 18. Februar 2011 lehnte der Supreme Court diesen Antrag ab, wies jedoch darauf hin, dass sich der Minister for Justice and Equality bereit erklärt habe, seine vorherige Entscheidung zu überprüfen, und dass es Herrn Ogieriakhi frei stehe, weitere Schritte, die er für zweckdienlich halte, einschließlich solcher unionsrechtlicher Art zu unternehmen.
24 Nachdem er seine Entscheidung vom September 2007 überprüft hatte, gewährte der Minister for Justice and Equality Herrn Ogieriakhi am 7. November 2011 ein Daueraufenthaltsrecht mit der Begründung, dass er sämtliche nach den Regulations von 2006 vorgesehenen einschlägigen Voraussetzungen erfülle.
25 Daraufhin klagte Herr Ogieriakhi gestützt auf die mit dem Urteil Francovich u. a. (EU:C:1991:428) begründete Rechtsprechung vor dem High Court auf Ersatz des Schadens, der ihm dadurch entstanden sei, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 nicht ordnungsgemäß ins nationale Recht umgesetzt worden seien. Mit dieser Forderung machte er insbesondere die Verluste geltend, die ihm dadurch entstanden seien, dass ihm am 24. Oktober 2007 sein Arbeitsvertrag mit der Begründung gekündigt worden sei, dass er in Irland kein Aufenthaltsrecht mehr habe.
26 Bei der Untersuchung dieses Vorgangs hat das vorlegende Gericht festgestellt, die von Herrn Ogieriakhi auf die mit dem Urteil Francovich u. a. (EU:C:1991:428) begründete Rechtsprechung gestützte Klage wegen fehlerhafter Umsetzung (und Anwendung) des Unionsrechts setze voraus, dass er nachweise, dass er zum Zeitpunkt seiner Kündigung durch An Post im Oktober 2007 über eine ununterbrochene Zeit von mindestens fünf Jahren ein Aufenthaltsrecht gehabt habe (in Gänze oder teilweise vor oder nach dem Jahr 2006) und sich dieses Aufenthaltsrecht aus dem Unionsrecht ergebe.
27 Unter diesen Umständen hat der High Court beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Hat sich der Ehegatte einer Unionsbürgerin, der im betreffenden Zeitraum selbst nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besaß, im Sinne von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 „rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit de[r] Unionsbürger[in] im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten“, wenn das Paar im Mai 1999 heiratete, ein Aufenthaltsrecht im Oktober 1999 gewährt wurde, die Parteien spätestens Anfang 2002 übereinkamen, getrennt zu leben, und beide Ehegatten ab Ende 2002 mit ganz anderen Partnern zusammenlebten?
2. Bei Bejahung der ersten Frage und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger, der ein Recht auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 aufgrund eines ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalts vor dem Jahr 2006 geltend macht, auch nachweisen muss, dass sein Aufenthalt u. a. den Anforderungen von Art. 10 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1612/68 entsprach: Bedeutet der Umstand, dass die Unionsbürgerin die gemeinsame Wohnung innerhalb dieses behaupteten Zeitraums von fünf Jahren verließ und der Drittstaatsangehörige dann mit einer anderen Person in einer neuen gemeinsamen Wohnung zusammenlebte, die nicht von der (einstigen) Ehefrau, die Unionsbürgerin war, beschafft oder zur Verfügung gestellt wurde, dass dadurch den genannten Anforderungen nicht entsprochen wurde?
3. Bei Bejahung der ersten und Verneinung der zweiten Frage: Ist für die Beurteilung der Frage, ob ein Mitgliedstaat Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nicht ordnungsgemäß umgesetzt oder anderweitig nicht ordnungsgemäß angewandt hat, die Tatsache, dass das nationale Gericht, das mit einer Schadensersatzklage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht befasst ist, es für notwendig gehalten hat, die materielle Frage, ob der Kläger ein Recht auf Daueraufenthalt besitzt, zur Vorabentscheidung vorzulegen, als solche ein Faktor, den dieses Gericht bei der Klärung der Frage berücksichtigen kann, ob der Verstoß gegen das Unionsrecht offensichtlich war?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
28 Mit den ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich vor dem Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie fünf Jahre lang ununterbrochen in einem Mitgliedstaat als Ehegatte eines in diesem Staat arbeitenden Unionsbürgers aufgehalten hat, als eine Person anzusehen ist, die das in dieser Vorschrift vorgesehene Daueraufenthaltsrecht erlangt hat, selbst wenn sich die Ehegatten in dem genannten Zeitraum getrennt und jeweils mit einem anderen Partner zusammengelebt haben und die von dem Drittstaatsangehörigen genutzte Wohnung diesem nicht mehr von seiner Ehefrau, einer Unionsbürgerin, beschafft oder zur Verfügung gestellt wurde.
29 Zunächst ist an die Entscheidung des Gerichtshofs zu erinnern, dass für die Zwecke des Erwerbs des in Art. 16 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Rechts auf Daueraufenthalt ununterbrochene Aufenthaltszeiten von fünf Jahren, die vor dem Datum für die Umsetzung dieser Richtlinie, also dem 30. April 2006, in Einklang mit vor diesem Datum geltenden Rechtsvorschriften der Union zurückgelegt wurden, zu berücksichtigen sind (Urteil Lassal, EU:C:2010:592, Rn. 40).
30 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Wendung „vor [der Richtlinie 2004/38] bestehende Rechtsvorschriften der Union“ in Rn. 40 des Urteils Lassal (EU:C:2010:592) so zu verstehen ist, dass sie sich auf die Rechtsvorschriften bezieht, die mit dieser Richtlinie kodifiziert, überarbeitet und aufgehoben wurden (Urteil Alarape und Tijani, C‑529/11, EU:C:2013:290, Rn. 47).
31 Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass nur Aufenthaltszeiten, die die in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne dieser Richtlinie durch Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, berücksichtigt werden können (Urteil Alarape und Tijani, EU:C:2013:290, Rn. 42).
32 Wurde die ununterbrochene Zeit von fünf Jahren in Gänze oder teilweise vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38 zurückgelegt, kann ein Daueraufenthaltsrecht nach Art. 16 Abs. 2 dieser Richtlinie folglich nur dann geltend gemacht werden, wenn der genannte Zeitraum sowohl die in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen als auch die Voraussetzungen erfüllt, die nach dem in der Zeit dieses Aufenthalts geltenden Unionsrecht vorgesehen waren.
33 Da die Verordnung Nr. 1612/68 die zur maßgeblichen Zeit geltende Regelung war, ist zunächst zu prüfen, ob die von Herrn Ogieriakhi zurückgelegte ununterbrochene Zeit von fünf Jahren die nach der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, und anschließend, ob die genannte Zeit auch die Voraussetzungen der Verordnung Nr. 1612/68 erfüllt.
34 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bei der Prüfung von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 festgestellt, dass der Erwerb des Rechts der Familienangehörigen des Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, auf Daueraufenthalt in jedem Fall davon abhängt, dass der Unionsbürger selbst die in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt und dass sie sich im betreffenden Zeitraum im Aufnahmemitgliedstaat mit ihm aufgehalten haben (Urteil Alarape und Tijani, EU:C:2013:290, Rn. 34).
35 Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass Frau Georges im gesamten fraglichen Zeitraum die Voraussetzungen nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erfüllte.
36 Da jedoch Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts durch Familienangehörige eines Unionsbürgers an die Voraussetzung knüpft, dass sich der jeweilige Familienangehörige rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen „mit“ dem Unionsbürger aufgehalten hat, stellt sich die Frage, ob die Trennung der Ehegatten im betreffenden Zeitraum die Annahme ausschließt, dass die genannte Voraussetzung erfüllt ist, da es nicht nur an einem Zusammenleben fehlt, sondern insbesondere an einer tatsächlichen ehelichen Lebensgemeinschaft.
37 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass das eheliche Band nicht als aufgelöst angesehen werden kann, solange dies nicht durch die zuständige Stelle ausgesprochen worden ist, was bei Ehegatten, die lediglich voneinander getrennt leben, nicht der Fall ist, selbst wenn sie die Absicht haben, sich später scheiden zu lassen, so dass der Ehegatte nicht notwendigerweise ständig bei dem Unionsbürger wohnen muss, um Inhaber eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zu sein (Urteile Diatta, 267/83, EU:C:1985:67, Rn. 20 und 22, sowie Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 58).
38 Folglich ist die Tatsache, dass die Ehegatten in der Zeit vom 11. Oktober 1999 bis zum 11. Oktober 2004 nicht nur ihr Zusammenleben beendet, sondern auch zusammen mit anderen Partnern gelebt haben, für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 durch Herrn Ogieriakhi unerheblich.
39 Da die Ehegatten nämlich in dem Mitgliedstaat, in dem Frau Georges von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, bis Januar 2009 verheiratet waren, hat Herr Ogieriakhi seine Eigenschaft als Ehegatte einer Unionsbürgerin, der diese begleitet oder ihr in den Aufnahmemitgliedstaat nachzieht, in dem genannten Zeitraum nicht verloren und erfüllt somit die in Art. 7 Abs. 2 der genannten Richtlinie vorgesehenen Kriterien.
40 Außerdem entspricht diese Auslegung der Notwendigkeit, die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 nicht eng auszulegen und diese nicht ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Drittstaatsangehörige im Fall einer wörtlichen Auslegung von Art. 16 Abs. 2 der genannten Richtlinie von seinem Ehegatten einseitig ergriffenen Maßnahmen schutzlos ausgesetzt sein könnte, was gegen den Geist dieser Richtlinie verstieße. Denn eines ihrer Ziele besteht gemäß ihrem 15. Erwägungsgrund gerade darin, dass den Familienangehörigen des Unionsbürgers, die sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, das Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage erhalten bleibt.
41 Eine Auslegung von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 jedoch, wonach im Hinblick auf den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt die Verpflichtung, sich mit dem Unionsbürger aufzuhalten, nur in dem konkreten Fall erfüllt wäre, dass der Ehegatte, der mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat wohnt, die mit diesem Unionsbürger bestehende eheliche Lebensgemeinschaft nicht völlig aufgehoben hat, stünde offensichtlich nicht im Einklang mit dem genannten Ziel dieser Richtlinie und insbesondere mit den in den Art. 13 und 18 der genannten Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen anerkannten Aufenthaltsrechten für ehemalige Ehegatten nach einer Scheidung.
42 Eine solche Auslegung hätte nämlich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 49 bis 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zur Folge, dass im Fall einer Ehescheidung für die betroffenen Drittstaatsangehörigen eine günstigere Regelung gelten würde als im Fall einer Trennung, obwohl der Drittstaatsangehörige im letztgenannten Fall noch die Ehe aufrecht erhält und demnach auch weiterhin Familienangehöriger des Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie 2004/38 ist.
43 Was die nach der Verordnung Nr. 1612/68 vorgesehenen Voraussetzungen angeht, stellt sich insbesondere die Frage, ob die für den Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, in Art. 10 Abs. 3 der genannten Verordnung geltende Voraussetzung, für seine Familie über eine Wohnung zu verfügen, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für inländische Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht, erfüllt ist, wenn dieser Arbeitnehmer die gemeinsame Wohnung verlassen hat und sein Ehegatte weggezogen ist, um mit einem anderen Partner in einer neuen gemeinsamen Wohnung zu leben, die diesem Ehegatten von dem genannten Arbeitnehmer weder beschafft noch zur Verfügung gestellt wurde.
44 Der Gerichtshof hat bereits die Tragweite von Art. 10 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1612/68 im Licht der mit dieser Verordnung angestrebten Zielsetzung, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu fördern, erläutert.
45 In Rn. 18 des Urteils Diatta (EU:C:1985:67) hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass der genannte Artikel, soweit er bestimmt, dass der Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers bei dem Arbeitnehmer Wohnung nehmen darf, nicht verlangt, dass der betreffende Familienangehörige dort ständig wohnen muss, sondern nur, dass die Wohnung, über die der Arbeitnehmer verfügt, normalen Anforderungen für die Aufnahme seiner Familie entsprechen muss, und dass somit nicht anerkannt werden kann, dass darin das Erfordernis einer einzigen ständigen Familienwohnung mitenthalten ist.
46 Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 10 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen ist, dass eine angemessene Wohnung nur Voraussetzung für die Aufnahme eines jeden Familienangehörigen bei dem Wanderarbeitnehmer ist (Urteil Kommission/Deutschland, 249/86, EU:C:1989:204, Rn. 12), so dass die Einhaltung dieser Voraussetzung jedenfalls erst zu dem Zeitpunkt beurteilt werden kann, in dem der Drittstaatsangehörige mit dem Ehegatten aus der Union im Aufnahmemitgliedstaat ein gemeinsames Leben angefangen hat, d. h. im vorliegenden Fall im Laufe des Jahres 1999.
47 Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich vor dem Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie fünf Jahre lang ununterbrochen in einem Mitgliedstaat als Ehegatte eines in diesem Staat arbeitenden Unionsbürgers aufgehalten hat, als eine Person anzusehen ist, die das in dieser Vorschrift vorgesehene Daueraufenthaltsrecht erlangt hat, selbst wenn sich die Ehegatten in dem genannten Zeitraum getrennt und jeweils mit einem anderen Partner zusammengelebt haben und die von dem Drittstaatsangehörigen genutzte Wohnung diesem nicht mehr von seiner Ehefrau, einer Unionsbürgerin, beschafft oder zur Verfügung gestellt wurde.
Zur dritten Frage
48 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Tatsache, dass ein nationales Gericht, das mit einer Schadensersatzklage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht befasst ist, es für notwendig gehalten hat, zum im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Unionsrecht eine Vorabentscheidungsfrage zu stellen, ein entscheidender Faktor für die Beurteilung ist, ob ein offensichtlicher Verstoß gegen dieses Recht durch den Mitgliedstaat vorliegt.
49 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch die dem Staat zurechenbaren Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, aus dem Wesen der mit dem Vertrag geschaffenen Rechtsordnung folgt (Urteile Francovich u. a., EU:C:1991:428, Rn. 35, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 31, sowie British Telecommunications, C‑392/93, EU:C:1996:131, Rn. 38).
50 Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Unionsrecht einen Entschädigungsanspruch anerkennt, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich dass die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und schließlich dass zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht (Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, EU:C:1996:79, Rn. 51).
51 Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung hat der Gerichtshof zunächst festgestellt, dass das entscheidende Kriterium für die Annahme eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht gegeben ist, wenn ein Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat, und sodann die Kriterien genannt, die die nationalen Gerichte, die allein für die Feststellung des Sachverhalts der Ausgangsverfahren und die Qualifizierung der betreffenden Verstöße gegen das Unionsrecht zuständig sind, berücksichtigen können, z. B. das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift (Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, EU:C:1996:79, Rn. 55, 56 und 58).
52 Allerdings hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass die nationalen Gerichte ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft (Urteil Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 64).
53 Außerdem kann, wie der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, durch die bloße Tatsache, dass eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt wird, die Freiheit des Richters des Ausgangsverfahrens nicht beschränkt werden. Die Antwort auf die Frage, ob ein Verstoß gegen das Unionsrecht hinreichend qualifiziert ist, ergibt sich nämlich nicht daraus, ob von der nach Art. 267 AEUV vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, sondern aus der vom Gerichtshof gegebenen Auslegung.
54 Allerdings ist festzustellen, dass die den nationalen Gerichten eingeräumte Möglichkeit, sich, wenn sie es für erforderlich halten, an den Gerichtshof zu wenden, um ihn um die Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift zu ersuchen, selbst wenn über die aufgeworfene Frage bereits entschieden wurde, zweifellos eingeschränkt wäre, wenn die Ausübung einer solchen Möglichkeit für die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens eines offensichtlichen Verstoßes gegen das Unionsrecht maßgeblich wäre, um gegebenenfalls über die durch den Verstoß gegen das Unionsrecht ausgelöste Haftung des betroffenen Mitgliedstaats entscheiden zu können. Eine solche Wirkung würde das System, den Zweck und die Merkmale des Vorabentscheidungsverfahrens in Frage stellen.
55 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Tatsache, dass ein nationales Gericht, das mit einer Schadensersatzklage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht befasst ist, es für notwendig gehalten hat, zum im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Unionsrecht eine Vorabentscheidungsfrage zu stellen, kein entscheidender Faktor für die Beurteilung ist, ob ein offensichtlicher Verstoß gegen dieses Recht durch den Mitgliedstaat vorliegt.
Kosten
56 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich vor dem Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie fünf Jahre lang ununterbrochen in einem Mitgliedstaat als Ehegatte eines in diesem Staat arbeitenden Unionsbürgers aufgehalten hat, als eine Person anzusehen ist, die das in dieser Vorschrift vorgesehene Daueraufenthaltsrecht erlangt hat, selbst wenn sich die Ehegatten in dem genannten Zeitraum getrennt und jeweils mit einem anderen Partner zusammengelebt haben und die von dem Drittstaatsangehörigen genutzte Wohnung diesem nicht mehr von seiner Ehefrau, einer Unionsbürgerin, beschafft oder zur Verfügung gestellt wurde.
2. Die Tatsache, dass ein nationales Gericht, das mit einer Schadensersatzklage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht befasst ist, es für notwendig gehalten hat, zum im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Unionsrecht eine Vorabentscheidungsfrage zu stellen, ist kein entscheidender Faktor für die Beurteilung, ob ein offensichtlicher Verstoß gegen dieses Recht durch den Mitgliedstaat vorliegt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Beschluss des Gerichts für den öffentlichen Dienst (Dritte Kammer) vom 25. Juni 2014. # Willy Buschak gegen Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Euorfound). # Rechtssache F-47/08 DEP.
|
62008FO0047(01)
|
ECLI:EU:F:2014:175
| 2014-06-25T00:00:00 |
Gericht für den öffentlichen Dienst
|
EUR-Lex - CELEX:62008FO0047(01) - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 26. Juni 2014.#Quimitécnica.com - Comércio e Indústria Química, SA und José de Mello - Sociedade Gestora de Participações Sociais, SA gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt der Futterphosphate – Geldbußen – Ratenzahlung – Entscheidung der Kommission, mit der die Stellung einer Bankgarantie angeordnet wird – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑564/10.
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62010TJ0564
|
ECLI:EU:T:2014:583
| 2014-06-26T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62010TJ0564 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 8. Mai 2014.#Ferdinand Stefan gegen Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft.#Vorabentscheidungsersuchen des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien.#Art. 99 der Verfahrensordnung – Richtlinie 2003/4/EG – Gültigkeit – Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen – Ausnahme von der Verpflichtung zur Bekanntgabe von Umweltinformationen, wenn die Bekanntgabe negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten, hätte – Fakultativer Charakter dieser Ausnahme – Art. 6 EUV – Art. 47 Abs. 2 der Charta.#Rechtssache C‑329/13.
|
62013CO0329
|
ECLI:EU:C:2014:815
| 2014-05-08T00:00:00 |
Gerichtshof, Jääskinen
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CO0329
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
8. Mai 2014 (*1)
„Art. 99 der Verfahrensordnung — Richtlinie 2003/4/EG — Gültigkeit — Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen — Ausnahme von der Verpflichtung zur Bekanntgabe von Umweltinformationen, wenn die Bekanntgabe negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten, hätte — Fakultativer Charakter dieser Ausnahme — Art. 6 EUV — Art. 47 Abs. 2 der Charta“
In der Rechtssache C‑329/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 12. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juni 2013, in dem Verfahren
Ferdinand Stefan
gegen
Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und K. Jürimäe,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Stefan,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch G. Karipsiadis als Bevollmächtigten,
—
der französischen Regierung, vertreten durch C. Diégo und S. Menez als Bevollmächtigte,
—
der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz und C. Hagerman als Bevollmächtigte,
—
des Europäischen Parlaments, vertreten durch L. Visaggio und P. Schonard als Bevollmächtigte,
—
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch J. Herrmann und M. Moore als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und H. Krämer als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit und die Auslegung der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (ABl. L 41, S. 26).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Stefan und dem Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft (im Folgenden: Bundesministerium) über dessen Weigerung, Herrn Stefan Umweltinformationen zu übermitteln.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2003/4 ist bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚Umweltinformationen‘ sämtliche Informationen in schriftlicher, visueller, akustischer, elektronischer oder sonstiger materieller Form über
a)
den Zustand von Umweltbestandteilen wie … Wasser …
…“
4 Art. 3 („Zugang zu Umweltinformationen auf Antrag“) Abs. 1 der Richtlinie 2003/4 lautet:
„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Behörden gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie verpflichtet sind, die bei ihnen vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen Umweltinformationen allen Antragstellern auf Antrag zugänglich zu machen, ohne dass diese ein Interesse geltend zu machen brauchen.“
5 In Art. 4 („Ausnahmen“) Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 ist bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass ein Antrag auf Zugang zu Umweltinformationen abgelehnt wird, wenn die Bekanntgabe negative Auswirkungen hätte auf:
…
c)
laufende Gerichtsverfahren, die Möglichkeiten einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten …
…“
Österreichisches Recht
6 Das Bundesgesetz über den Zugang zu Informationen über die Umwelt (Umweltinformationsgesetz) (BGBl. 495/1993) in der zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung (im Folgenden: UIG) dient der Umsetzung der Richtlinie 2003/4.
7 Nach § 4 Abs. 2 UIG unterliegen dem freien Zugang u. a. Informationen über den Zustand von Umweltbestandteilen wie Wasser.
8 In § 6 Abs. 2 UIG ist bestimmt:
„Andere als die in § 4 Abs. 2 genannten Umweltinformationen sind … mitzuteilen, sofern ihre Bekanntgabe keine negativen Auswirkungen hätte auf:
…
7. laufende Gerichtsverfahren, die Möglichkeit einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9 In der ersten Hälfte des Monats November 2012 führte die Drau in ihrem österreichischen Abschnitt infolge starker Regenfälle Hochwasser. Verheerende Überschwemmungen richteten insbesondere in den ufernahen Wohngebieten große Sachschäden an.
10 Aufgrund von Behauptungen in den Medien, eine unsachgemäße Betätigung der Schleusen habe maßgeblich zu den Überschwemmungen beigetragen, wurde von der Staatsanwaltschaft Klagenfurt gegen den betreffenden Schleusenwart ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
11 Um Aufschluss über die Bedingungen der Entstehung des Hochwassers zu erhalten, beantragte Herr Stefan am 26. November 2012 beim Bundesministerium, ihm die Pegel- und Durchflussdaten der Draukraftwerke Rosegg – St. Jakob, Feistritz – Ludmannsdorf, Ferlach – Maria Rain und Annabrücke für die Zeit vom 30. Oktober 2012 bis zum 12. November 2012 zu übermitteln.
12 Mit Bescheid vom 8. März 2013 lehnte das Bundesministerium dies ab. Es begründete seine Entscheidung u. a. mit möglichen negativen Auswirkungen einer Bekanntgabe der begehrten Informationen auf das eingeleitete Strafverfahren und die Möglichkeit der betroffenen Personen, ein faires Verfahren zu erhalten; solange das Strafverfahren nicht abgeschlossen sei, könnten die Umweltinformationen deshalb nicht übermittelt werden.
13 Das vorlegende Gericht, bei dem gegen diesen Bescheid Berufung erhoben worden ist, führt aus, dass der Antrag von Herrn Stefan auf Übermittlung der begehrten Informationen nach österreichischem Recht nicht gemäß § 6 Abs. 2 Ziff. 7 UIG abgelehnt werden könne, da dieser Ablehnungsgrund nach der genannten Bestimmung nicht für Umweltinformationen im Sinne von § 4 Abs. 2 UIG, auf die sich der Antrag von Herrn Stefan vom 26. November 2012 beziehe, gelte. Der österreichische Gesetzgeber habe somit nur beschränkt von der den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4 eingeräumten Ermächtigung zur Regelung der Verweigerung der Bekanntgabe von Umweltinformationen Gebrauch gemacht.
14 Obwohl die zuständige nationale Behörde dem Antrag von Herrn Stefan nach § 4 Abs. 2 UIG zwingend stattgeben müsse, sei erwiesen, dass die Übermittlung der begehrten Daten negative Auswirkungen auf die Möglichkeit des betreffenden Schleusenwarts habe, ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bzw. Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu erhalten.
15 Da die Richtlinie 2003/4 die Mitgliedstaaten aber nicht verpflichte, in Fällen, in denen die Bekanntgabe von Umweltinformationen negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten, hätte, einen Antrag auf Zugang zu Umweltinformationen, abzulehnen, sondern ihr Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dies nur erlaube, ermächtige die Richtlinie die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu erlassen, die mit den in der Europäischen Union geschützten Grundrechten unvereinbar seien, so dass sie selbst mit Art. 47 Abs. 2 der Charta unvereinbar sei.
16 Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Zur Gültigkeit der Richtlinie 2003/4:
Sind die gesamte Richtlinie 2003/4 bzw. alle ihre Teile insbesondere im Hinblick auf die Vorgaben des Art. 47 Abs. 2 der Charta gültig?
2. Zur Auslegung der Richtlinie 2003/4 (für den Fall, dass der Gerichtshof die Gültigkeit der gesamten Richtlinie 2003/4 oder von Teilen von ihr bejaht):
Inwiefern und unter welchen Annahmen sind die Bestimmungen der Richtlinie 2003/4 mit den Bestimmungen der Charta und den Vorgaben des Art. 6 EUV vereinbar?
Zu den Vorlagefragen
17 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.
18 Im vorliegenden Fall ist von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.
Zulässigkeit
19 Die französische Regierung äußert Zweifel an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens. Die Vorlagefragen seien für die Entscheidung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits nicht zweckdienlich.
20 Das Ausgangsverfahren ginge nicht anders aus, wenn der auf die Möglichkeiten einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten, abstellende Ablehnungsgrund nach österreichischem Recht auf die Übermittlung von Umweltinformationen wie die vorliegend betroffenen Pegel- und Durchflussdaten für den Fluss Drau anwendbar wäre.
21 Nicht die Übermittlung der genannten Informationen als solche, sondern allenfalls ihre missbräuchliche Verwendung durch die Medien könnten in diesem Verfahren nämlich negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Beschuldigten haben, ein faires Verfahren zu erhalten.
22 Es verstoße nicht gegen den Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren, dass die Medien korrekte und verlässliche Informationen auf der Grundlage zutreffender, im Zusammenhang mit einem laufenden Strafverfahren stehender Tatsachen verbreiten könnten, sofern sie diesen Grundsatz bei ihren Äußerungen berücksichtigten. Die französische Regierung beruft sich insofern auf die Rn. 110 bis 112 des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 28. September 2012, Ressiot u. a./Frankreich (Nrn. 15054/07 und 15066/07).
23 Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens sei aber nicht erwiesen, dass die Verbreitung der fraglichen Umweltinformationen das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigen könnte, zumal die Informationen nicht für eine Beschuldigung der betreffenden Person ausreichten.
24 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann für unzulässig erklärt werden kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil Belvedere Costruzioni, C‑500/10, EU:C:2012:186, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Die Argumentation der französischen Regierung zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens beruht jedoch auf der Annahme, dass das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta durch die Bekanntgabe von Umweltinformationen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht verletzt wird.
26 Dies zu beurteilen, ist allerdings Sache des vorlegenden Gerichts. Für diese Beurteilung ist zudem eine Auslegung der genannten Bestimmung der Charta erforderlich, zu der dieses Gericht den Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht befragt hat.
27 Es kann daher nicht angenommen werden, dass die Fragen offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünden oder dass das Problem hypothetischer Natur wäre.
28 Das Vorabentscheidungsersuchen ist also zulässig.
Beantwortung der Vorlagefragen
29 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2003/4 im Hinblick auf Art. 6 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta gültig ist.
30 Insoweit ist festzustellen, dass nach Art. 51 Abs. 1 der Charta, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 21).
31 Folglich haben die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/4 u. a. Art. 47 Abs. 2 der Charta zu beachten.
32 Was die Frage angeht, ob die Richtlinie 2003/4, insbesondere ihr Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c, es den Mitgliedstaaten gestattet, die genannte, sich aus dem Primärrecht der Union ergebende Verpflichtung nicht zu beachten, ist festzustellen, dass eine Vorschrift des abgeleiteten Unionsrechts möglichst so auszulegen ist, dass sie mit den Verträgen und den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts vereinbar ist (vgl. u. a. Urteil Lietuvos geležinkeliai, C‑250/11, EU:C:2012:496, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Mit der Bezugnahme auf die Möglichkeiten einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten, ermächtigt Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/4 die Mitgliedstaaten gerade deshalb dazu, eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Bekanntgabe der Umweltinformationen vorzusehen, um es ihnen zu ermöglichen, gegebenenfalls das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta zu wahren.
34 Selbst wenn ein Mitgliedstaat eine solche Ausnahme in der Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2003/4 nicht vorsieht, obwohl dies nach den Umständen zur Beachtung von Art. 47 Abs. 2 der Charta erforderlich ist, ist darüber hinaus zu beachten, dass die Mitgliedstaaten jedenfalls verpflichtet sind, von dem ihnen durch Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraum in einer mit den Erfordernissen des genannten Artikels der Charta in Einklang stehenden Weise Gebrauch zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil Parlament/Rat, C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 104).
35 Da die Verpflichtung, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Einhaltung des Unionsrechts zu gewährleisten, aber für alle Stellen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Verwaltungsbehörden und der Gerichte, gilt, sind Letztere in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, wenn die Voraussetzungen für eine Anwendung von Art. 47 Abs. 2 der Charta erfüllt sind, verpflichtet, die Beachtung des durch diesen Artikel gewährten Grundrechts zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 64).
36 Die Richtlinie 2003/4 kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass sie es den Mitgliedstaaten gestattete, Maßnahmen zu erlassen, die mit Art. 47 Abs. 2 der Charta oder Art. 6 EUV unvereinbar sind. Sie ist deshalb nicht ungültig im Hinblick auf diese beiden Bestimmungen.
37 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass ihre Prüfung nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Richtlinie 2003/4 berühren könnte.
Kosten
38 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der Vorlagefragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates berühren könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 27. März 2014.#UPC Telekabel Wien GmbH gegen Constantin Film Verleih GmbH und Wega Filmproduktionsgesellschaft mbH.#Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs.#Vorabentscheidungsersuchen – Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Informationsgesellschaft – Richtlinie 2001/29/EG – Website, mit der Filme ohne Zustimmung der Inhaber eines dem Urheberrecht verwandten Schutzrechts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – Art. 8 Abs. 3 – Begriff ‚Vermittler, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden‘ – Anbieter von Internetzugangsdiensten – Anordnung gegenüber einem Anbieter von Internetzugangsdiensten, mit der ihm untersagt wird, seinen Kunden Zugang zu einer Website zu gewähren – Grundrechtsabwägung.#Rechtssache C‑314/12.
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62012CJ0314
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ECLI:EU:C:2014:192
| 2014-03-27T00:00:00 |
Cruz Villalón, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0314
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
27. März 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Rechtsangleichung — Urheberrecht und verwandte Schutzrechte — Informationsgesellschaft — Richtlinie 2001/29/EG — Website, mit der Filme ohne Zustimmung der Inhaber eines dem Urheberrecht verwandten Schutzrechts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden — Art. 8 Abs. 3 — Begriff ‚Vermittler, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden‘ — Anbieter von Internetzugangsdiensten — Anordnung gegenüber einem Anbieter von Internetzugangsdiensten, mit der ihm untersagt wird, seinen Kunden Zugang zu einer Website zu gewähren — Grundrechtsabwägung“
In der Rechtssache C‑314/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 11. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juni 2012, in dem Verfahren
UPC Telekabel Wien GmbH
gegen
Constantin Film Verleih GmbH,
Wega Filmproduktionsgesellschaft mbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richter M. Safjan und J. Malenovský (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der UPC Telekabel Wien GmbH, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Bulgarini und T. Höhne,
—
der Constantin Film Verleih GmbH und der Wega Filmproduktionsgesellschaft mbH, vertreten durch die Rechtsanwälte A. Manak und N. Kraft,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Schillemans und C. Wissels als Bevollmächtigte,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von S. Malynicz, Barrister,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Samnadda und F. W. Bulst als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. November 2013
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 und 2 Buchst. b und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. L 167, S. 10) sowie bestimmter im Unionsrecht verankerter Grundrechte.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der UPC Telekabel Wien GmbH (im Folgenden: UPC Telekabel) einerseits und der Constantin Film Verleih GmbH (im Folgenden: Constantin Film) sowie der Wega Filmproduktionsgesellschaft mbH (im Folgenden: Wega) andererseits wegen eines Antrags, mit der Erstere verpflichtet werden soll, den Zugang ihrer Kunden zu einer Website zu sperren, auf der Filme der beiden Letztgenannten ohne deren Zustimmung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 9 und 59 der Richtlinie 2001/29 lauten:
„(9)
Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. … Das geistige Eigentum ist daher als Bestandteil des Eigentums anerkannt worden.
…
(59) Insbesondere in der digitalen Technik können die Dienste von Vermittlern immer stärker von Dritten für Rechtsverstöße genutzt werden. Oftmals sind diese Vermittler selbst am besten in der Lage, diesen Verstößen ein Ende zu setzen. Daher sollten die Rechtsinhaber – unbeschadet anderer zur Verfügung stehender Sanktionen und Rechtsbehelfe – die Möglichkeit haben, eine gerichtliche Anordnung gegen einen Vermittler zu beantragen, der die Rechtsverletzung eines Dritten in Bezug auf ein geschütztes Werk oder einen anderen Schutzgegenstand in einem Netz überträgt. … Die Bedingungen und Modalitäten für eine derartige gerichtliche Anordnung sollten im nationalen Recht der Mitgliedstaaten geregelt werden.“
4 Art. 1 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht in seinem Abs. 1 vor:
„Gegenstand dieser Richtlinie ist der rechtliche Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte im Rahmen des Binnenmarkts, insbesondere in Bezug auf die Informationsgesellschaft.“
5 Art. 3 („Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände“) der Richtlinie bestimmt in seinem Abs. 2:
„Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, zu erlauben oder zu verbieten, dass die nachstehend genannten Schutzgegenstände drahtgebunden oder drahtlos in einer Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind:
…
c)
für die Hersteller der erstmaligen Aufzeichnungen von Filmen in Bezug auf das Original und auf Vervielfältigungsstücke ihrer Filme;
…“
6 Art. 8 („Sanktionen und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie sieht in seinem Abs. 3 vor:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Rechtsinhaber gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden.“
Österreichisches Recht
7 § 18a Abs. 1 des Urheberrechtsgesetzes vom 9. April 1936 (BGBl 111/1936) in der durch die Urheberrechtsgesetz-Novelle 2003 (BGBl I 32/2003) geänderten Fassung (im Folgenden: UrhG) lautet:
„Der Urheber hat das ausschließliche Recht, das Werk der Öffentlichkeit drahtgebunden oder drahtlos in einer Weise zur Verfügung zu stellen, dass es Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich ist.“
8 § 81 Abs. 1 und 1a UrhG sieht vor:
„(1) Wer in einem auf dieses Gesetz gegründeten Ausschließungsrecht verletzt worden ist oder eine solche Verletzung zu besorgen hat, kann auf Unterlassung klagen. Der Inhaber eines Unternehmens kann hierauf auch dann geklagt werden, wenn eine solche Verletzung im Betrieb seines Unternehmens von einem Bediensteten oder Beauftragten begangen worden ist oder droht; § 81 Abs. 1a gilt sinngemäß.
(1a) Bedient sich derjenige, der eine solche Verletzung begangen hat oder von dem eine solche Verletzung droht, hiezu der Dienste eines Vermittlers, so kann auch dieser auf Unterlassung nach Abs. 1 geklagt werden. …“
9 § 355 Abs. 1 der Exekutionsordnung bestimmt:
„Die Exekution gegen den zur Unterlassung einer Handlung oder zur Duldung der Vornahme einer Handlung Verpflichteten geschieht dadurch, dass wegen eines jeden Zuwiderhandelns nach Eintritt der Vollstreckbarkeit des Exekutionstitels auf Antrag vom Exekutionsgericht anlässlich der Bewilligung der Exekution eine Geldstrafe verhängt wird. Wegen eines jeden weiteren Zuwiderhandelns hat das Exekutionsgericht auf Antrag eine weitere Geldstrafe oder eine Haft bis zur Gesamtdauer eines Jahres zu verhängen. …“
10 Den Ausführungen des vorlegenden Gerichts im Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass der Verbotsadressat, um einer Haftung zu entgehen, im Exekutionsverfahren geltend machen kann, dass er alle zumutbaren Maßnahmen zur Verhinderung des verbotenen Ergebnisses ergriffen habe.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Constantin Film und Wega, zwei Filmproduktionsgesellschaften, stellten fest, dass auf einer Website bestimmte von ihnen produzierte Filme ohne ihre Zustimmung heruntergeladen oder per Streaming angesehen werden konnten. Sie riefen deshalb den für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter an, um auf der Grundlage von § 81 Abs. 1a UrhG einen Beschluss zu erwirken, mit dem UPC Telekabel, ein Anbieter von Internetzugangsdiensten (im Folgenden auch: Access-Provider), verpflichtet werden sollte, den Zugang ihrer Kunden zu der in Rede stehenden Website zu sperren, da ohne ihre Zustimmung Filmwerke, an denen sie ein dem Urheberrecht verwandtes Schutzrecht innehätten, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden.
12 Mit Beschluss vom 13. Mai 2011 untersagte das Handelsgericht Wien (Österreich) UPC Telekabel, ihren Kunden Zugang zu der beanstandeten Website zu gewähren, wobei dieses Verbot insbesondere durch Blockieren des Domainnamens und der aktuellen sowie der in Zukunft von dieser Gesellschaft nachgewiesenen IP-Adressen dieser Website umzusetzen sei.
13 Im Juni 2011 stellte die beanstandete Website nach Tätigwerden der deutschen Strafverfolgungsbehörden gegen ihre Betreiber den Betrieb ein.
14 Das Oberlandesgericht Wien (Österreich) als Rekursgericht änderte den Beschluss des erstinstanzlichen Gerichts mit Beschluss vom 27. Oktober 2011 insoweit ab, als dieses zu Unrecht die Mittel benannt habe, die UPC Telekabel ergreifen müsse, um die beanstandete Website zu blockieren und so den Beschluss zu befolgen. Zu diesem Ergebnis gelangte das Oberlandesgericht Wien, indem es zunächst feststellte, dass § 81 Abs. 1a UrhG im Licht von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 auszulegen sei. Sodann führte es aus, dass UPC Telekabel, indem sie ihren Kunden Zugang zu den unrechtmäßig im Internet verfügbar gemachten Inhalten gewähre, als Vermittler anzusehen sei, dessen Dienste zur Verletzung eines dem Urheberrecht verwandten Schutzrechts genutzt worden seien, so dass Constantin Film und Wega berechtigt gewesen seien, den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen diese Gesellschaft zu beantragen. Hinsichtlich des Schutzes des Urheberrechts könne UPC Telekabel jedoch nur ein Erfolgsverbot in der Form auferlegt werden, dass sie ihren Kunden den Zugang zu der beanstandeten Website verwehren müsse, wobei ihr aber die Wahl der dabei anzuwendenden Mittel freistehe.
15 Hiergegen legte UPC Telekabel beim Obersten Gerichtshof (Österreich) Revisionsrekurs ein.
16 Zur Stützung ihres Revisionsrekurses macht UPC Telekabel u. a. geltend, die von ihr erbrachten Dienste würden nicht im Sinne des Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt, da sie mit den Betreibern der beanstandeten Website nicht in einer Geschäftsbeziehung stehe und nicht erwiesen sei, dass ihre eigenen Kunden rechtswidrig gehandelt hätten. Jedenfalls könne jede der möglichen Sperren technisch umgangen werden, und einige dieser Sperren seien übermäßig kostspielig.
17 Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen, dass eine Person, die ohne Zustimmung des Rechteinhabers Schutzgegenstände im Internet zugänglich macht (Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29), die Dienste der Access-Provider jener Personen nutzt, die auf diese Schutzgegenstände zugreifen?
Wenn Frage 1 verneint wird:
2. Sind eine Vervielfältigung zum privaten Gebrauch (Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29) und eine flüchtige und begleitende Vervielfältigung (Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29) nur dann zulässig, wenn die Vorlage der Vervielfältigung rechtmäßig vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich zugänglich gemacht wurde?
Wenn Frage 1 oder Frage 2 bejaht wird und daher gegen den Access-Provider des Nutzers gerichtliche Anordnungen nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 zu erlassen sind:
3. Ist es mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der danach erforderlichen Abwägung zwischen den Grundrechten der Beteiligten, vereinbar, einem Access-Provider ganz allgemein (also ohne Anordnung konkreter Maßnahmen) zu verbieten, seinen Kunden den Zugang zu einer bestimmten Website zu ermöglichen, solange dort ausschließlich oder doch weit überwiegend Inhalte ohne Zustimmung der Rechteinhaber zugänglich gemacht werden, wenn der Access-Provider Beugestrafen wegen Verletzung dieses Verbots durch den Nachweis abwenden kann, dass er ohnehin alle zumutbaren Maßnahmen gesetzt hat?
Wenn Frage 3 verneint wird:
4. Ist es mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der danach erforderlichen Abwägung zwischen den Grundrechten der Beteiligten, vereinbar, einem Access-Provider bestimmte Maßnahmen aufzutragen, um seinen Kunden den Zugang zu einer Website mit einem rechtswidrig zugänglich gemachten Inhalt zu erschweren, wenn diese Maßnahmen einen nicht unbeträchtlichen Aufwand erfordern, aber auch ohne besondere technische Kenntnisse leicht umgangen werden können?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen
18 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Website ihren Betrieb eingestellt hat, nicht die Unzulässigkeit der Vorlagefragen zur Folge hat.
19 Nach ständiger Rechtsprechung ist es nämlich im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2013, Aziz, C‑415/11, Rn. 34).
20 Ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts kann demnach nur dann zurückgewiesen werden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil Aziz, Rn. 35).
21 Dies ist im Ausgangsrechtsstreit jedoch nicht der Fall, da aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass das vorlegende Gericht seine Entscheidung nach österreichischem Recht auf der Grundlage der in der erstinstanzlichen Entscheidung dargestellten Sachlage zu treffen hat, also hinsichtlich eines Zeitpunkts, zu dem die in Rede stehende Website noch zugänglich war.
22 Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist.
Zur ersten Frage
23 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die ohne Zustimmung des Rechtsinhabers Schutzgegenstände im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie auf einer Website öffentlich zugänglich macht, die Dienste des als Vermittler im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie anzusehenden Anbieters von Internetzugangsdiensten der auf diese Schutzgegenstände zugreifenden Personen nutzt.
24 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass im Ausgangsverfahren unstreitig ist, dass den Nutzern einer Website Schutzgegenstände ohne Zustimmung der in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie angeführten Rechtsinhaber zur Verfügung gestellt wurden.
25 Da den Rechtsinhabern nach dieser Vorschrift das ausschließliche Recht zusteht, das öffentliche Zugänglichmachen zu erlauben oder zu verbieten, ist festzustellen, dass eine Handlung, mit der ein Schutzgegenstand auf einer Website ohne Zustimmung der Rechtsinhaber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte verletzt.
26 Zur Beseitigung einer solchen Verletzung der in Rede stehenden Rechte sieht Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 vor, dass die Rechtsinhaber gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines ihrer Rechte genutzt werden.
27 Da nämlich, wie im 59. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29 ausgeführt wird, die Dienste von Vermittlern immer stärker für Verstöße gegen das Urheberrecht oder verwandte Schutzrechte genutzt werden, sind diese Vermittler oft selbst am besten in der Lage, solchen Verstößen ein Ende zu setzen.
28 Im vorliegenden Fall hat zunächst das Handelsgericht Wien und dann das Oberlandesgericht Wien UPC Telekabel, den in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden einstweiligen Verfügung benannten Anbieter von Internetzugangsdiensten, verpflichtet, den Verstößen gegen die Rechte von Constantin Film und Wega ein Ende zu setzen.
29 UPC Telekabel bestreitet jedoch, dass sie als Vermittler, dessen Dienste für Verstöße gegen ein Urheberrecht oder ein verwandtes Schutzrecht genutzt würden, im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 eingestuft werden könne.
30 Insoweit ist dem 59. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29 zu entnehmen, dass sich der in Art. 8 Abs. 3 dieser Richtlinie verwendete Begriff „Vermittler“ auf jede Person bezieht, die die Rechtsverletzung eines Dritten in Bezug auf ein geschütztes Werk oder einen anderen Schutzgegenstand in einem Netz überträgt.
31 In Anbetracht des u. a. aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29 hervorgehenden Ziels dieser Richtlinie, den Rechtsinhabern ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten, ist der dabei verwendete Begriff der Rechtsverletzung so zu verstehen, dass er den Fall eines ohne Zustimmung der betreffenden Rechtsinhaber im Internet öffentlich zugänglich gemachten Schutzgegenstands umfasst.
32 Der Anbieter von Internetzugangsdiensten ist an jeder Übertragung einer Rechtsverletzung im Internet zwischen einem seiner Kunden und einem Dritten zwingend beteiligt, da er durch die Gewährung des Zugangs zum Netz diese Übertragung möglich macht (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 19. Februar 2009, LSG-Gesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten, C-557/07, Slg. 2009, I-1227, Rn. 44). Infolgedessen ist davon auszugehen, dass ein Anbieter von Internetzugangsdiensten wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, der seinen Kunden den Zugang zu Schutzgegenständen ermöglicht, die von einem Dritten im Internet öffentlich zugänglich gemacht werden, ein Vermittler ist, dessen Dienste zur Verletzung eines Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 genutzt werden.
33 Bestätigt wird dieses Ergebnis durch das mit der Richtlinie 2001/29 verfolgte Ziel. Nähme man nämlich die Anbieter von Internetzugangsdiensten vom Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 aus, würde der mit der Richtlinie angestrebte Schutz der Rechtsinhaber erheblich verringert (vgl. in diesem Sinne Beschluss LSG-Gesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten, Rn. 45).
34 Das gefundene Ergebnis kann auch nicht durch den Einwand in Frage gestellt werden, dass die Anwendbarkeit von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 ein Vertragsverhältnis zwischen dem Anbieter von Internetzugangsdiensten und demjenigen voraussetze, der ein Urheberrecht oder ein verwandtes Schutzrecht verletzt habe.
35 Weder aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 3 noch aus einer anderen Bestimmung der Richtlinie 2001/29 geht nämlich hervor, dass ein besonderes Verhältnis zwischen der das Urheberrecht oder ein verwandtes Schutzrecht verletzenden Person und dem Vermittler bestehen muss. Im Übrigen lässt sich ein solches Erfordernis auch nicht aus den mit dieser Richtlinie verfolgten Zielen ableiten, da seine Bejahung den Rechtsschutz der betreffenden Rechtsinhaber schmälern würde, während das Ziel der Richtlinie, wie sich u. a. aus deren neuntem Erwägungsgrund ergibt, gerade darin besteht, ein hohes Schutzniveau der Rechtsinhaber zu gewährleisten.
36 Dem Ergebnis, zu dem der Gerichtshof in Rn. 30 des vorliegenden Urteils gelangt ist, steht auch nicht das Vorbringen entgegen, wonach die Inhaber eines Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts, um eine Anordnung gegen einen Anbieter von Internetzugangsdiensten zu erwirken, nachweisen müssten, dass bestimmte Kunden dieses Anbieters tatsächlich auf der betreffenden Website auf die der Öffentlichkeit ohne Zustimmung der Rechtsinhaber zugänglich gemachten Schutzgegenstände zugriffen.
37 Die Richtlinie 2001/29 verlangt nämlich, dass die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten treffen müssen, um ihr nachzukommen, nicht nur zum Ziel haben, Verstöße gegen das Urheberrecht oder verwandte Schutzrechte abzustellen, sondern auch, solchen Verstößen vorzubeugen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. November 2011, Scarlet Extended, C-70/10, Slg. 2011, I-11959, Rn. 31, und vom 16. Februar 2012, SABAM, C‑360/10, Rn. 29).
38 Eine solche vorbeugende Wirkung setzt aber voraus, dass die Inhaber eines Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts tätig werden können, ohne nachweisen zu müssen, dass die Kunden eines Anbieters von Internetzugangsdiensten tatsächlich auf die der Öffentlichkeit ohne Zustimmung dieser Rechtsinhaber zugänglich gemachten Schutzgegenstände zugreifen.
39 Dies gilt umso mehr, als eine Handlung, mit der ein Werk öffentlich zugänglich gemacht wird, schon dann vorliegt, wenn dieses Werk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ohne dass es darauf ankäme, dass deren Mitglieder tatsächlich Zugang zu diesem Werk hatten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Dezember 2006, SGAE, C-306/05, Slg. 2006, I-11519, Rn. 43).
40 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die ohne Zustimmung des Rechtsinhabers Schutzgegenstände im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie auf einer Website öffentlich zugänglich macht, die Dienste des als Vermittler im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie anzusehenden Anbieters von Internetzugangsdiensten der auf diese Schutzgegenstände zugreifenden Personen nutzt.
Zur zweiten Frage
41 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Zur dritten Frage
42 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die durch das Unionsrecht anerkannten Grundrechte dahin auszulegen sind, dass sie einer gerichtlichen Anordnung entgegenstehen, mit der einem Anbieter von Internetzugangsdiensten verboten wird, seinen Kunden den Zugang zu einer Website zu ermöglichen, auf der ohne Zustimmung der Rechtsinhaber Schutzgegenstände online zugänglich gemacht werden, wenn die Anordnung keine Angaben dazu enthält, welche Maßnahmen dieser Anbieter ergreifen muss, und wenn er Beugestrafen wegen eines Verstoßes gegen die Anordnung durch den Nachweis abwenden kann, dass er alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat.
43 Wie insoweit aus dem 59. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29 hervorgeht, sind die Modalitäten der von den Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 3 dieser Richtlinie vorzusehenden Anordnungen, wie z. B. Anordnungen in Bezug auf die zu erfüllenden Voraussetzungen und das einzuhaltende Verfahren, im nationalen Recht zu regeln.
44 Allerdings sind bei diesen nationalen Regeln sowie bei deren Anwendung durch die nationalen Gerichte die Beschränkungen zu beachten, die sich aus der Richtlinie 2001/29 sowie aus den Rechtsquellen ergeben, auf die in ihrem dritten Erwägungsgrund Bezug genommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Scarlet Extended, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Bei der Beurteilung der Vereinbarkeit einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 ergangen ist, mit dem Unionsrecht ist somit insbesondere, im Einklang mit Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), den Anforderungen Rechnung zu tragen, die sich aus dem Schutz der anwendbaren Grundrechte ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil Scarlet Extended, Rn. 41).
46 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass es im Fall mehrerer kollidierender Grundrechte Sache der Mitgliedstaaten ist, bei der Umsetzung einer Richtlinie darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung dieser Richtlinie stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den durch die Unionsrechtsordnung geschützten anwendbaren Grundrechten sicherzustellen. Ferner haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit ihr auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinie stützen, die mit den genannten Grundrechten oder mit den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Januar 2008, Promusicae, C-275/06, Slg. 2008, I-271, Rn. 68).
47 Vorliegend ist darauf hinzuweisen, dass eine Anordnung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 ergangen ist, hauptsächlich erstens mit den Urheberrechten und den verwandten Schutzrechten, die Teil des Rechts des geistigen Eigentums und damit durch Art. 17 Abs. 2 der Charta geschützt sind, zweitens mit der unternehmerischen Freiheit, die Wirtschaftsteilnehmer wie die Anbieter von Internetzugangsdiensten nach Art. 16 der Charta genießen, und drittens mit der durch Art. 11 der Charta geschützten Informationsfreiheit der Internetnutzer kollidiert.
48 Die unternehmerische Freiheit wird durch den Erlass einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkt.
49 Das Recht auf unternehmerische Freiheit umfasst nämlich u. a. das Recht jedes Unternehmens, in den Grenzen seiner Verantwortlichkeit für seine eigenen Handlungen frei über seine wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können.
50 Eine Anordnung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende erlegt ihrem Adressaten aber einen Zwang auf, der die freie Nutzung der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen einschränkt, da sie ihn verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die für ihn unter Umständen mit erheblichen Kosten verbunden sind, beträchtliche Auswirkungen auf die Ausgestaltung seiner Tätigkeiten haben oder schwierige und komplexe technische Lösungen erfordern.
51 Indessen lässt eine solche Anordnung den Wesensgehalt des Rechts auf unternehmerische Freiheit eines Anbieters von Internetzugangsdiensten wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unangetastet.
52 Zum einen überlässt es eine Anordnung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ihrem Adressaten, die konkreten Maßnahmen zu bestimmen, die zur Erreichung des angestrebten Ziels zu treffen sind, so dass er sich für die Umsetzung derjenigen Maßnahmen entscheiden kann, die seinen Ressourcen und Möglichkeiten am besten entsprechen und mit den übrigen von ihm bei der Ausübung seiner Tätigkeit zu erfüllenden Pflichten und Anforderungen vereinbar sind.
53 Zum anderen ermöglicht eine solche Anordnung es ihrem Adressaten, sich von seiner Haftung zu befreien, indem er nachweist, dass er alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat. Diese Befreiungsmöglichkeit hat aber ganz offensichtlich zur Folge, dass der Adressat dieser Anordnung nicht verpflichtet ist, untragbare Opfer zu erbringen, was u. a. im Hinblick darauf gerechtfertigt erscheint, dass nicht er es war, der die zum Erlass der Anordnung führende Verletzung des Grundrechts des geistigen Eigentums begangen hat.
54 Insoweit muss der Adressat einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, sobald die von ihm ergriffenen Durchführungsmaßnahmen bekannt sind, und bevor gegebenenfalls eine Entscheidung ergeht, mit der ihm eine Sanktion auferlegt wird, nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit vor Gericht geltend machen können, dass er die Maßnahmen ergriffen hat, die von ihm erwartet werden konnten, damit das verbotene Ergebnis nicht eintritt.
55 Der Adressat einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende muss bei der Wahl der Maßnahmen, die er zu ergreifen hat, um der Anordnung nachzukommen, aber auch für die Beachtung des Grundrechts der Internetnutzer auf Informationsfreiheit Sorge tragen.
56 Dabei müssen die Maßnahmen, die der Anbieter von Internetzugangsdiensten ergreift, in dem Sinne streng zielorientiert sein, dass sie dazu dienen müssen, der Verletzung des Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts durch einen Dritten ein Ende zu setzen, ohne dass Internetnutzer, die die Dienste dieses Anbieters in Anspruch nehmen, um rechtmäßig Zugang zu Informationen zu erlangen, dadurch beeinträchtigt werden. Andernfalls wäre der Eingriff des Anbieters in die Informationsfreiheit dieser Nutzer gemessen am verfolgten Ziel nicht gerechtfertigt.
57 Die nationalen Gerichte müssen prüfen können, ob dies der Fall ist. Bei einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden haben sie aber, wenn der Anbieter von Internetzugangsdiensten Maßnahmen ergreift, die es ihm ermöglichen, das vorgeschriebene Verbot umzusetzen, nicht die Möglichkeit, eine solche Kontrolle im Stadium des Vollstreckungsverfahrens vorzunehmen, wenn keine dahin gehende Beanstandung erfolgt. Damit die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte dem Erlass einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, ist es deshalb erforderlich, dass die nationalen Verfahrensvorschriften die Möglichkeit für die Internetnutzer vorsehen, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen, sobald die vom Anbieter von Internetzugangsdiensten getroffenen Durchführungsmaßnahmen bekannt sind.
58 Zum Recht des geistigen Eigentums ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nicht ausgeschlossen ist, dass die Durchführung einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht zu einer vollständigen Beendigung der Verletzung des Rechts des geistigen Eigentums der Betroffenen führt.
59 Wie bereits ausgeführt, hat nämlich zum einen der Adressat einer solchen Anordnung die Möglichkeit, sich von seiner Haftung zu befreien und somit bestimmte, möglicherweise durchführbare Maßnahmen nicht zu ergreifen, sofern sie nicht als zumutbar eingestuft werden können.
60 Zum anderen ist nicht ausgeschlossen, dass keine technische Möglichkeit zur vollständigen Beendigung der Verletzung des Rechts des geistigen Eigentums besteht oder in der Praxis realisierbar ist, was zur Folge hätte, dass bestimmte getroffene Maßnahmen gegebenenfalls auf die eine oder andere Weise umgangen werden könnten.
61 Es ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 17 Abs. 2 der Charta nicht ergibt, dass das Recht des geistigen Eigentums schrankenlos und sein Schutz daher notwendigerweise bedingungslos zu gewährleisten wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil Scarlet Extended, Rn. 43).
62 Gleichwohl müssen die Maßnahmen, die vom Adressaten einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bei deren Durchführung getroffen werden, hinreichend wirksam sein, um einen wirkungsvollen Schutz des betreffenden Grundrechts sicherzustellen, d. h., sie müssen bewirken, dass unerlaubte Zugriffe auf die Schutzgegenstände verhindert oder zumindest erschwert werden und dass die Internetnutzer, die die Dienste des Adressaten der Anordnung in Anspruch nehmen, zuverlässig davon abgehalten werden, auf die ihnen unter Verletzung des genannten Grundrechts zugänglich gemachten Schutzgegenstände zuzugreifen.
63 Auch wenn die Maßnahmen zur Durchführung einer Anordnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht geeignet sein sollten, die Verletzung des Rechts des geistigen Eigentums gegebenenfalls vollständig abzustellen, können sie demnach gleichwohl nicht als unvereinbar mit dem Erfordernis angesehen werden, im Einklang mit Art. 52 Abs. 1 letzter Satzteil der Charta ein angemessenes Gleichgewicht zwischen allen anwendbaren Grundrechten herzustellen; dies setzt allerdings voraus, dass sie zum einen den Internetnutzern nicht unnötig die Möglichkeit vorenthalten, in rechtmäßiger Weise Zugang zu den verfügbaren Informationen zu erlangen, und zum anderen bewirken, dass unerlaubte Zugriffe auf die Schutzgegenstände verhindert oder zumindest erschwert werden und dass die Internetnutzer, die die Dienste des Adressaten der Anordnung in Anspruch nehmen, zuverlässig davon abgehalten werden, auf die ihnen unter Verletzung des Rechts des geistigen Eigentums zugänglich gemachten Schutzgegenstände zuzugreifen.
64 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die durch das Unionsrecht anerkannten Grundrechte dahin auszulegen sind, dass sie einer gerichtlichen Anordnung nicht entgegenstehen, mit der einem Anbieter von Internetzugangsdiensten verboten wird, seinen Kunden den Zugang zu einer Website zu ermöglichen, auf der ohne Zustimmung der Rechtsinhaber Schutzgegenstände online zugänglich gemacht werden, wenn die Anordnung keine Angaben dazu enthält, welche Maßnahmen dieser Anbieter ergreifen muss, und wenn er Beugestrafen wegen eines Verstoßes gegen die Anordnung durch den Nachweis abwenden kann, dass er alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat; dies setzt allerdings voraus, dass die ergriffenen Maßnahmen zum einen den Internetnutzern nicht unnötig die Möglichkeit vorenthalten, in rechtmäßiger Weise Zugang zu den verfügbaren Informationen zu erlangen, und zum anderen bewirken, dass unerlaubte Zugriffe auf die Schutzgegenstände verhindert oder zumindest erschwert werden und dass die Internetnutzer, die die Dienste des Adressaten der Anordnung in Anspruch nehmen, zuverlässig davon abgehalten werden, auf die ihnen unter Verletzung des Rechts des geistigen Eigentums zugänglich gemachten Schutzgegenstände zuzugreifen, was die nationalen Behörden und Gerichte zu prüfen haben.
Zur vierten Frage
65 Angesichts der Antwort auf die dritte Frage ist die vierte Frage nicht zu beantworten.
Kosten
66 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ist dahin auszulegen, dass eine Person, die ohne Zustimmung des Rechtsinhabers Schutzgegenstände im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie auf einer Website öffentlich zugänglich macht, die Dienste des als Vermittler im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie anzusehenden Anbieters von Internetzugangsdiensten der auf diese Schutzgegenstände zugreifenden Personen nutzt.
2. Die durch das Unionsrecht anerkannten Grundrechte sind dahin auszulegen, dass sie einer gerichtlichen Anordnung nicht entgegenstehen, mit der einem Anbieter von Internetzugangsdiensten verboten wird, seinen Kunden den Zugang zu einer Website zu ermöglichen, auf der ohne Zustimmung der Rechtsinhaber Schutzgegenstände online zugänglich gemacht werden, wenn die Anordnung keine Angaben dazu enthält, welche Maßnahmen dieser Anbieter ergreifen muss, und wenn er Beugestrafen wegen eines Verstoßes gegen die Anordnung durch den Nachweis abwenden kann, dass er alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat; dies setzt allerdings voraus, dass die ergriffenen Maßnahmen zum einen den Internetnutzern nicht unnötig die Möglichkeit vorenthalten, in rechtmäßiger Weise Zugang zu den verfügbaren Informationen zu erlangen, und zum anderen bewirken, dass unerlaubte Zugriffe auf die Schutzgegenstände verhindert oder zumindest erschwert werden und dass die Internetnutzer, die die Dienste des Adressaten der Anordnung in Anspruch nehmen, zuverlässig davon abgehalten werden, auf die ihnen unter Verletzung des Rechts des geistigen Eigentums zugänglich gemachten Schutzgegenstände zuzugreifen, was die nationalen Behörden und Gerichte zu prüfen haben.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 27. März 2014.#Emiliano Torralbo Marcos gegen Korota SA und Fondo de Garantía Salarial.#Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Social nº 2 de Terrassa.#Vorabentscheidungsersuchen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Gerichtsgebühren bei Einlegung eines Rechtsmittels im Sozialrecht – Durchführung des Rechts der Union – Fehlen – Anwendungsbereich des Unionsrechts – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.#Rechtssache C‑265/13.
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62013CJ0265
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ECLI:EU:C:2014:187
| 2014-03-27T00:00:00 |
Gerichtshof, Jääskinen
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0265
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
27. März 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 47 — Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf — Gerichtsgebühren bei Einlegung eines Rechtsmittels im Sozialrecht — Durchführung des Rechts der Union — Fehlen — Anwendungsbereich des Unionsrechts — Unzuständigkeit des Gerichtshofs“
In der Rechtssache C‑265/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Social no 2 de Terrassa (Spanien) mit Entscheidung vom 3. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Mai 2013, in dem Verfahren
Emiliano Torralbo Marcos
gegen
Korota SA,
Fondo de Garantía Salarial
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts (Berichterstatter) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral und H. Krämer als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Torralbo Marcos einerseits und der Korota SA (im Folgenden: Korota) sowie dem Fondo de Garantía Salarial (Lohngarantiefonds, im Folgenden: Fogasa) andererseits über die Zahlung einer Abfindung, die Herrn Torralbo Marcos aufgrund seiner Entlassung durch Korota, die sich im Insolvenzverfahren befindet, zusteht.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 36) bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.“
4 Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde
a)
die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat; oder
b)
festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen.“
5 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich des Artikels 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.“
Spanisches Recht
6 Art. 2 („Persönlicher Geltungsbereich“) der Ley 1/1996 de asistencia jurídica gratuita (Gesetz 1/1996 über die Prozesskostenhilfe) vom 10. Januar 1996 (BOE Nr. 11 vom 12. Januar 1996, S. 793, im Folgenden: Gesetz 1/1996) sieht vor:
„Im Rahmen der Voraussetzungen und Grenzen der Vorschriften dieses Gesetzes und der einschlägigen internationalen Verträge und Übereinkommen, die von Spanien geschlossen worden sind, haben das Recht auf Kostenfreistellung durch Prozesskostenhilfe
…
d)
in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit auch Arbeitnehmer und Sozialversicherte, sowohl zur gerichtlichen Verteidigung als auch zur Erhebung von Klagen zur Durchsetzung ihrer arbeitsrechtlichen Ansprüche in Insolvenzverfahren.“
7 Art. 6 („Materiell-rechtlicher Inhalt des Rechts“) des Gesetzes 1/1996 lautet:
„Das Recht auf Prozesskostenhilfe umfasst folgende Leistungen:
…
(5) Befreiung von Gerichtsgebühren und Vorschüssen für die Einlegung von Rechtsmitteln“.
8 Art. 1 („Geltungsbereich der Gebühr für die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt durch die Gerichte der Zivil-, Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit“) der Ley 10/2012 por la que se regulan determinadas tasas en el ámbito de la Administración de Justicia y del Instituto Nacional de Toxicología y Ciencias Forenses (Gesetz 10/2012 über bestimmte Gebühren im Bereich der Rechtspflege und des Nationalen Instituts für Toxikologie und Forensik) vom 20. November 2012 (BOE Nr. 280 vom 21. November 2012, S. 80820, im Folgenden: Gesetz 10/2012) sieht vor:
„Die Gebühr für die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt durch die Gerichte der Zivil‑, Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit ist staatlicher Natur und wird in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen im gesamten Hoheitsgebiet in gleicher Weise erhoben …“
9 Art. 2 („Gebührentatbestand“) dieses Gesetzes lautet:
„Der Gebührentatbestand besteht in der Ausübung der rechtsprechenden Gewalt, die ihren Ursprung in der Vornahme einer der folgenden Prozesshandlungen hat:
…
f)
Einlegung von Rechtsbeschwerden (‚recurso de suplicación‘, Rechtsmittel gegen Urteile und Beschlüsse der Arbeits- und Sozialgerichte) und Kassationsbeschwerden in der Sozialgerichtsbarkeit“.
10 Art. 3 („Gebührenschuldner“) des Gesetzes 10/2012 sieht in Abs. 1 vor:
„Gebührenschuldner ist, wer die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt veranlasst und den entsprechenden Gebührentatbestand erfüllt.“
11 Art. 4 des Gesetzes 10/2012, der die Gebührenbefreiung zum Gegenstand hat, sieht in den Abs. 2 und 3 Folgendes vor:
„(2) Von der Zahlung der Gebühren sind in jedem Fall befreit
a)
Personen, denen aufgrund des Nachweises, dass sie die nach den geltenden Vorschriften dafür vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen, Prozesskostenhilfe bewilligt wurde.
…
(3) In der Sozialgerichtsbarkeit steht abhängig beschäftigten und selbständigen Erwerbstätigen bei der Einlegung einer Rechts- oder Kassationsbeschwerde eine Befreiung von 60 % der dafür anfallenden Gebühr zu.“
12 Art. 5 Abs. 3 des Gesetzes 10/2012, der das Entstehen der Gebührenschuld betrifft, lautet:
„In Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit fällt die Gebühr mit der Einlegung der Rechts- oder Kassationsbeschwerde an.“
13 Art. 6 dieses Gesetzes bestimmt die Bemessungsgrundlage der Gebühr. Art. 7 des Gesetzes, der die Bestimmung der Gebührenhöhe betrifft, setzt diese für die Einreichung einer Rechtsbeschwerde in einem sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich auf 500 Euro fest. Ist der Gebührenschuldner eine natürliche Person, kommt ein Betrag von 0,1 % der Bemessungsgrundlage hinzu, der einen Höchstbetrag von 2000 Euro nicht übersteigt. Art. 8 des Gesetzes betrifft das Verfahren der „Selbstabführung“ und die Entrichtung der Gebühr.
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
14 Korota befindet sich seit dem 16. Juni 2008 im Insolvenzverfahren.
15 Am 16. Juni 2010 erließ der Juzgado de lo Mercantil no 4 de Barcelona (Handelsgericht Nr. 4, Barcelona) ein Urteil mit folgendem Tenor:
„Der von Korota am 9. April 2010 vorgelegte und von den Gläubigern angenommene Insolvenzplan wird bestätigt; Korota muss über seine Erfüllung alle sechs Monate Rechenschaft vor diesem Gericht ablegen. Die Insolvenzverwaltung wird mit Wirkung des Datums dieses Urteils beendet.“
16 In einer Vergleichsvereinbarung zwischen Herrn Torralbo Marcos und Korota, die am 25. Juni 2012 von der Geschäftsstelle des vorlegenden Gerichts bestätigt wurde (im Folgenden: Vergleich), heißt es:
„1.
[Korota] hält an den Gründen für die Kündigung fest und erkennt die Unrechtmäßigkeit der Kündigung lediglich zum Zweck einer gütlichen Einigung an. Als Abfindung bietet sie einen Betrag in Höhe von 14090 Euro an, zu dem 992,66 Euro wegen Nichteinhaltung der Kündigungsfrist und 6 563 Euro Nettobeträge, die in dem vorliegenden Rechtsstreit geltend gemacht wurden, hinzukommen.
2. [Herr Torralbo Marcos] nimmt diese Beträge an, und beide Parteien vereinbaren, dass der zwischen ihnen geschlossene Arbeitsvertrag mit Wirkung vom 27. Februar 2012 aufgelöst ist.
…“
17 Herr Torralbo Marcos beantragte am 3. Oktober 2012 beim vorlegenden Gericht die Vollstreckung des Vergleichs, da Korota ihre Verpflichtungen nicht erfüllt hatte.
18 Das vorlegende Gericht ordnete mit Beschluss vom 13. November 2012 die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich gegen Korota an. Allerdings wurde die Vollstreckung am selben Tag mit der Begründung ausgesetzt, dass Korota ein Insolvenzplan zugutekomme und es keine vor der Insolvenz gepfändeten Gegenstände gebe.
19 Mit einer Entscheidung vom selben Tag teilte die Geschäftsstelle des vorlegenden Gerichts Herrn Torralbo Marcos mit, dass er seine Ansprüche gegen Korota vor dem zuständigen Juzgado de lo Mercantil (Handelsgericht) geltend machen könne.
20 Herr Torralbo Marcos erhob gegen diesen Beschluss Einspruch („recurso de reposición“). Da das Juzgado de lo Mercantil no4 de Barcelona den Insolvenzplan bestätigt und die Beendigung der Insolvenzverwaltung angeordnet habe, sei gemäß Art. 239 der Ley Reguladora de la Jurisdicción Social (Sozialgerichtsgesetz) die Vollstreckung durchzuführen.
21 Das vorlegende Gericht wies den Einspruch mit Beschluss vom 3. Januar 2013 mit der Begründung zurück, dass der genannte Beschluss vom 13. November 2012 fortgelte, solange kein Beschluss über die Beendigung der Insolvenz erlassen worden sei.
22 Herr Torralbo Marcos kündigte an, er werde gegen den Beschluss vom 3. Januar 2013 Rechtsbeschwerde beim Tribunal Supérior de Justicia de Cataluña (Oberstes Gericht von Katalonien) einlegen.
23 Da Herr Torralbo Marcos keine Bestätigung der Staatskasse über die Zahlung der Gerichtsgebühr gemäß dem Gesetz 10/2012 vorgelegt hatte, wurde er durch gerichtliche Verfügung vom 13. März 2013 aufgefordert, diesen Nachweis binnen einer Frist von fünf Tagen zu erbringen.
24 Gegen diese Verfügung legte Herr Torralbo Marcos am 22. März 2013 Einspruch ein, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er die Gebühr nicht zahlen müsse, weil ihm zum einen als Arbeitnehmer und Sozialversicherten nach Art. 2 Buchst. d des Gesetzes 1/1996 das Recht auf Prozesskostenhilfe einzuräumen sei und zum anderen das Gesetz 10/2012 mit Art. 47 der Charta unvereinbar sei, da es ein unangemessenes Hindernis darstelle, das mit dem durch diese Vorschrift gewährleisteten Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz unvereinbar sei.
25 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die dem Arbeitnehmer die Verpflichtung zur Entrichtung einer Gebühr für die Einlegung eines Rechtsmittels im Rahmen eines Zwangsvollstreckungsverfahrens auferlegt, um die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers durch das Gericht zu erlangen, die dem Arbeitnehmer Zugang zu den Leistungen der zuständigen Garantieeinrichtung gemäß der Richtlinie 2008/94 verschafft, mit Art. 47 der Charta vereinbar ist.
26 Unter diesen Umständen hat das Juzgado de lo Social no 2 de Terrassa (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 2, Terrassa) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stehen Art. 1, Art. 2 Buchst. f, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2 Buchst. a, Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 3, Art. 6, Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 und 2 des Gesetzes 10/2012 in Widerspruch zu Art. 47 der Charta, soweit sie es dem nationalen Gericht nicht ermöglichen, (a) eine Änderung der gerichtlichen Gebühren vorzunehmen oder Aspekte der Verhältnismäßigkeit (bei der Rechtfertigung des Staates für ihre Erhebung und bei ihrer Höhe – als Hindernis beim Zugang zu einem wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf) zum Zweck einer Gebührenbefreiung zu prüfen, (b) den Grundsatz der effektiven Anwendung des Unionsrechts zu berücksichtigen und (c) die Bedeutung des Rechtsstreits für die Parteien unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu würdigen, wenn ohne die Gebührenzahlung die eingelegte Rechtsbeschwerde nicht bearbeitet wird?
2. Stehen Art. 1, Art. 2 Buchst. f, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2 Buchst. a, Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 3, Art. 6, Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 und 2 des Gesetzes 10/2012 in Widerspruch zu Art. 47 der Charta, soweit sie auf ein besonderes Verfahren wie den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit anzuwenden sind, in dem regelmäßig das Unionsrecht als ein grundlegender Faktor für eine ausgewogene wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Europäischen Union anzuwenden ist?
3. In Anknüpfung an die vorstehenden Fragen: Darf ein Gericht wie das vorlegende Gericht von der Anwendung einer Regelung wie der hier fraglichen absehen, die es dem nationalen Gericht nicht ermöglicht, (a) eine Änderung der gerichtlichen Gebühren vorzunehmen oder Aspekte der Verhältnismäßigkeit (bei der Rechtfertigung des Staates für ihre Erhebung und bei ihrer Höhe – als Hindernis beim Zugang zu einem wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf) zum Zweck einer Gebührenbefreiung zu prüfen, (b) den Grundsatz der effektiven Anwendung des Unionsrechts zu berücksichtigen und (c) die Bedeutung des Rechtsstreits für die Parteien unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu würdigen, wenn ohne die Gebührenzahlung die eingelegte Rechtsbeschwerde nicht bearbeitet wird?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
27 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann dieser im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil McB., C‑400/10 PPU, EU:C:2010:582, Rn. 51, sowie Beschlüsse Cholakova, C‑14/13, EU:C:2013:374, Rn. 21, und Schuster & Co Ecologic, C‑371/13, EU:C:2013:748, Rn. 14).
28 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17).
29 Art. 51 Abs. 1 der Charta bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (vgl. Urteil Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 19, und Beschluss Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio, C‑258/13, EU:C:2013:810, Rn. 19).
30 Wird eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine entsprechende Zuständigkeit begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 22, Beschlüsse Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio, EU:C:2013:810, Rn. 20, Dutka und Sajtos, C‑614/12 und C‑10/13, EU:C:2014:30, Rn. 15, sowie Weigl, C‑332/13, EU:C:2014:31, Rn. 14).
31 Es ist daher zu prüfen, ob die der Ausgangsrechtssache zugrunde liegende rechtliche Situation in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
32 Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens regelt die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung allgemein bestimmte Gebühren im Bereich der Rechtspflege. Mit ihr wird nicht bezweckt, Bestimmungen des Unionsrechts durchzuführen. Im Übrigen enthält dieses keine spezielle Regelung in diesem Bereich und keine Regelung, die sich auf diese nationale Regelung auswirken könnte.
33 Ferner betrifft der Gegenstand des Ausgangsverfahrens nicht die Auslegung oder Anwendung einer Unionsrechtsnorm außer derjenigen, die in der Charta steht (vgl. entsprechend Beschluss Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio, EU:C:2013:810, Rn. 21).
34 Zudem geht im Unterschied zu der Rechtssache, in der das vom vorlegenden Gericht erwähnte Urteil DEB (C‑279/09, EU:C:2010:811) ergangen ist, das einen Antrag auf Prozesskostenhilfe im Rahmen eines auf der Grundlage des Unionsrechts eingeleiteten Staatshaftungsverfahrens betraf, aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Gerichtsgebühren die Einreichung einer Rechtsbeschwerde gegen den genannten Beschluss vom 3. Januar 2013 betreffen, mit dem das vorlegende Gericht den von Herrn Torralbo Marcos auf der Grundlage des nationalen Rechts, nämlich Art. 239 der Ley Reguladora de la Jurisdicción Social, gestellten Antrag auf Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich zurückgewiesen hat.
35 Zwar führt das vorlegende Gericht aus, dass das Ziel des gerichtlichen Vorgehens von Herrn Torralbo Marcos letztlich darin bestehe, gemäß Art. 3 der Richtlinie 2008/94 bei Zahlungsunfähigkeit von Korota Zugang zu den Leistungen des Fogasa zu erhalten.
36 Jedoch fällt die fragliche Situation im gegenwärtigen Stadium des Ausgangsverfahrens weder in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie noch allgemein den des Unionsrechts.
37 Wie die Europäische Kommission festgestellt hat, ergibt sich nämlich aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94, dass für die Frage, ob ein Arbeitgeber im Sinne dieser Richtlinie als zahlungsunfähig gelten muss, das nationale Recht sowie eine Entscheidung oder Feststellung der zuständigen nationalen Behörde maßgeblich sind.
38 Selbst wenn nach den Angaben in der Vorlageentscheidung im Juni 2008 das Insolvenzverfahren über Korota eröffnet worden ist, enthält die Entscheidung gleichwohl keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass das Unternehmen im gegenwärtigen Stadium des Ausgangsverfahrens nach den einschlägigen Vorschriften des spanischen Rechts zahlungsunfähig wäre.
39 Vielmehr lässt sich der Angabe des vorlegenden Gerichts, dass der Einspruch von Herrn Torralbo Marcos in Bezug auf die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich auf eine gerichtliche Feststellung der Zahlungsunfähigkeit von Korota gerichtet sei, entnehmen, dass dieses Unternehmen im gegenwärtigen Stadium nach spanischem Recht nicht als zahlungsunfähig gelten kann.
40 Der Umstand, dass Herr Torralbo Marcos nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts mit seinem Vorgehen eine solche Feststellung der Zahlungsunfähigkeit begehrt, damit ihm gemäß Art. 3 der Richtlinie 2008/94 die Leistungen des Fogasa zugutekommen, genügt allein noch nicht für die Annahme, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Situation bereits in diesem Stadium des Verfahrens in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie und daher des Unionsrechts fällt.
41 Ferner geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass es in seinem von Herrn Torralbo Marcos mit einer Rechtsbeschwerde angefochtenen Beschluss vom 3. Januar 2013 dessen Antrag auf Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt hat, dass die Durchführung dieser Zwangsvollstreckung von einer Entscheidung des zuständigen Handelsgerichts abhänge, vor dem Herr Torralbo Marcos seine Rechte geltend machen solle.
42 Mit dem Beschluss wurde weder über die Frage der Zahlungsunfähigkeit von Korota noch darüber entschieden, ob der Betroffene einen Anspruch darauf hat, dass die zuständige Garantieeinrichtung – sollte Korota nach den einschlägigen nationalen Vorschriften für zahlungsunfähig erklärt werden – seine nicht erfüllten arbeitsrechtlichen Ansprüche gemäß der Richtlinie 2008/94 befriedigt.
43 Nach alledem fällt die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende rechtliche Situation nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Der Gerichtshof ist daher für die Beantwortung der Fragen des Juzgado de lo Social no 2 de Terrassa nicht zuständig.
Kosten
44 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Juzgado de lo Social no 2 de Terrassa (Spanien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 27. März 2014. # Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) gegen National Lottery Commission. # Rechtsmittel - Gemeinschaftsmarke - Verordnung (EG) Nr. 40/94 - Art. 52 Abs. 2 Buchst. c - Antrag auf Nichtigerklärung auf der Grundlage eines älteren, nach nationalem Recht erworbenen Urheberrechts - Anwendung des nationalen Rechts durch das HABM - Aufgabe des Unionsrichters. # Rechtssache C-530/12 P.
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62012CJ0530
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ECLI:EU:C:2014:186
| 2014-03-27T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0530
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
27. März 2014 (*1)
„Rechtsmittel — Gemeinschaftsmarke — Verordnung (EG) Nr. 40/94 — Art. 52 Abs. 2 Buchst. c — Antrag auf Nichtigerklärung auf der Grundlage eines älteren, nach nationalem Recht erworbenen Urheberrechts — Anwendung des nationalen Rechts durch das HABM — Aufgabe des Unionsrichters“
In der Rechtssache C‑530/12 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 21. November 2012,
Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM), vertreten durch P. Bullock und F. Mattina als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
National Lottery Commission mit Sitz in London (Vereinigtes Königreich), Prozessbevollmächtigte: R. Cardas, advocate, und B. Brandreth, Barrister,
Klägerin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, des Präsidenten des Gerichtshofs V. Skouris in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, des Richters A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) und des Richters S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. September 2013,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. November 2013
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 13. September 2012, National Lottery Commission/HABM – Mediatek Italia und De Gregorio (Darstellung einer Hand) (T‑404/10, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht der Klage der National Lottery Commission (im Folgenden: NLC) auf Aufhebung der Entscheidung der Ersten Beschwerdekammer des HABM vom 9. Juni 2010 (Sache R 1028/2009-1) betreffend ein Nichtigkeitsverfahren zwischen der Mediatek Italia Srl und Herrn Giuseppe De Gregorio (im Folgenden: Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens) auf der einen Seite sowie der NLC auf der anderen Seite (im Folgenden: streitige Entscheidung) stattgegeben hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EG) Nr. 40/94
2 Die Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1994, L 11, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1891/2006 des Rates vom 18. Dezember 2006 (ABl. L 386, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 40/94) enthält einen Art. 52 („Relative Nichtigkeitsgründe“), dessen Abs. 2 lautet:
„Die Gemeinschaftsmarke wird auf Antrag beim [HABM] oder auf Widerklage im Verletzungsverfahren ebenfalls für nichtig erklärt, wenn ihre Benutzung aufgrund eines sonstigen älteren Rechts und insbesondere eines
…
c)
Urheberrechts,
…
gemäß dem für dessen Schutz maßgebenden Gemeinschaftsrecht oder nationalen Recht untersagt werden kann.“
3 Art. 63 der Verordnung Nr. 40/94 über die Klage beim Gerichtshof der Europäischen Union sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Die Entscheidungen der Beschwerdekammern, durch die über eine Beschwerde entschieden wird, sind mit der Klage beim Gerichtshof anfechtbar.
(2) Die Klage ist zulässig wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages, dieser Verordnung oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs.“
4 Art. 74 („Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen“) der Verordnung Nr. 40/94 bestimmt in Abs. 1:
„In dem Verfahren vor dem [HABM] ermittelt das [HABM] den Sachverhalt von Amts wegen. Soweit es sich jedoch um Verfahren bezüglich relativer Eintragungshindernisse handelt, ist das [HABM] bei dieser Ermittlung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt.“
Verordnung (EG) Nr. 207/2009
5 Die Verordnung Nr. 40/94 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. L 78, S. 1) aufgehoben und kodifiziert, die am 13. April 2009 in Kraft trat.
6 Die Art. 52, 63 und 74 der Verordnung Nr. 40/94 sind ohne wesentliche Änderung zu den Art. 53, 65 und 76 der Verordnung Nr. 207/2009 geworden.
Verordnung (EG) Nr. 2868/95
7 Die Verordnung (EG) Nr. 2868/95 der Kommission vom 13. Dezember 1995 zur Durchführung der Verordnung Nr. 40/94 (ABl. L 303, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1041/2005 der Kommission vom 29. Juni 2005 (ABl. L 172, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung) enthält u. a. die Regeln für die Durchführung von Verfahren zur Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke vor dem HABM.
8 Regel 37 der Durchführungsverordnung bestimmt:
„Der Antrag beim [HABM] auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke … muss folgende Angaben enthalten:
…
b)
hinsichtlich der Gründe für den Antrag,
…
iii)
bei Anträgen gemäß Artikel 52 Absatz 2 der Verordnung [Nr. 40/94] Angaben, aus denen hervorgeht, auf welches Recht sich der Antrag auf Erklärung der Nichtigkeit stützt, und Angaben, die beweisen, dass der Antragsteller Inhaber eines in Artikel 52 Absatz 2 der Verordnung genannten älteren Rechts ist oder dass er nach einschlägigem nationalen Recht berechtigt ist, dieses Recht geltend zu machen“.
Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Entscheidung
9 Am 2. Oktober 2007 wurde für die NLC beim HABM die folgende Gemeinschaftsbildmarke (im Folgenden: angefochtene Marke) eingetragen:
10 Am 20. November 2007 reichten die Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens beim HABM gemäß Art. 52 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 40/94 einen Antrag auf Nichtigerklärung der angefochtenen Marke ein, den sie auf das Bestehen eines älteren Urheberrechts stützten, das Herr De Gregorio an dem folgenden Bildzeichen besitzen soll (im Folgenden: mano portafortuna):
11 Mit Entscheidung vom 16. Juli 2009 gab die Nichtigkeitsabteilung des HABM diesem Antrag statt und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Antragsteller nachgewiesen hätten, dass ein im italienischen Recht geschütztes, mit der angefochtenen Marke quasiidentisches Urheberrecht bestehe und dass dieses Recht gegenüber dieser Marke das ältere Recht sei.
12 Gegen diese Entscheidung legte die NLC Beschwerde ein.
13 Mit der streitigen Entscheidung wies die Erste Beschwerdekammer des HABM diese Beschwerde mit der Begründung zurück, dass alle Voraussetzungen des Art. 53 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 erfüllt seien.
14 Die Beschwerdekammer war hinsichtlich des Bestehens eines im italienischen Recht geschützten Urheberrechts erstens der Ansicht, die Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens hätten den Beweis für die Herstellung eines Werks und ihre Inhaberschaft des Urheberrechts an diesem Werk durch Vorlage der Fotokopie einer privatschriftlichen Vertragsurkunde vom 16. September 1986 (im Folgenden: Vertrag von 1986) erbracht, in der ein Dritter, der sich als Urheber der mano portafortuna bezeichne, bestätige, dass er seine Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte an diesem Werk, das mit anderen Zeichen in der Anlage dieses Vertrags abgebildet sei, an einen von ihnen abgetreten habe.
15 Zweitens vertrat die Beschwerdekammer die Auffassung, dass die von der NLC genannten Anomalien, nämlich die Angabe einer maximalen Schutzdauer von 70 Jahren für das Urheberrecht, obwohl eine solche Frist erst seit 1996 existiere, das Datum des Poststempels, das einem Sonntag entspreche, einem Tag, an dem die Postämter geschlossen seien, sowie der qualitative und konzeptuelle Unterschied zwischen der Abbildung der mano portafortuna und den anderen Abbildungen in der Anlage des Vertrags von 1986 nicht geeignet seien, Zweifel an der Echtheit dieses Vertrags hervorzurufen. In diesem Zusammenhang stellte die Beschwerdekammer fest, auch wenn nach Art. 2702 des italienischen Zivilgesetzbuchs die privatschriftliche Urkunde die Herkunft der Erklärungen von denjenigen, die sie unterzeichnet hätten, bis zur Anfechtung der Echtheit voll und ganz beweise, ergebe sich aus dem Wortlaut dieses Artikels, dass sie befugt sei, ihren Inhalt frei zu würdigen.
16 Nach Abschluss ihrer Prüfung des Vertrags von 1986 bestätigte die Beschwerdekammer das Bestehen eines im italienischen Recht geschützten Urheberrechts.
Klage beim Gericht und angefochtenes Urteil
17 Mit Klageschrift, die am 8. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die NLC eine Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung. Sie stützte ihre Klage auf drei Klagegründe, und zwar erstens auf einen Verstoß gegen Art. 53 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 207/2009, soweit die Beschwerdekammer zu dem Schluss gekommen sei, die Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens hätten das Bestehen eines älteren Urheberrechts bewiesen, zweitens auf die Rechtswidrigkeit der Weigerung der Beschwerdekammer, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und die Vorlage des Originals des Vertrags von 1986 anzuordnen, und drittens auf eine fehlerhafte Beurteilung ihrer Befugnis, die Echtheit dieses Vertrags zu prüfen.
18 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht dem ersten und dem dritten Klagegrund der NLC und damit der Klage stattgegeben.
19 Das Gericht hat zunächst in den Rn. 14 bis 21 des angefochtenen Urteils auf die Regeln und Grundsätze hingewiesen, die von der Beschwerdekammer bei der Prüfung anzuwenden seien, ob der Beweis für das Bestehen eines im nationalen Recht geschützten Urheberrechts erbracht worden sei. Unter Berufung auf das Urteil des Gerichtshofs vom 5. Juli 2011, Edwin/HABM (C-263/09 P, Slg. 2011, I-5853, Rn. 50 bis 52), hat es in Rn. 18 entschieden, dass es dem Antragsteller nicht nur obliege, vor dem HABM die Angaben vorzubringen, die bewiesen, dass er die nach den nationalen Rechtsvorschriften, deren Anwendung er begehre, erforderlichen Voraussetzungen erfülle, um die Benutzung einer Gemeinschaftsmarke aufgrund eines älteren Rechts untersagen lassen zu können, sondern auch, die Angaben vorzubringen, aus denen sich der Inhalt dieser Rechtsvorschriften ergebe.
20 Anschließend hat das Gericht in Rn. 20 des angefochtenen Urteils ausgeführt, nach seiner eigenen Rechtsprechung müsse sich das HABM von Amts wegen mit den ihm hierzu zweckdienlich erscheinenden Mitteln über das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats informieren, soweit entsprechende Kenntnisse für die Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen eines vor ihm geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes und insbesondere für die Würdigung der vorgetragenen Tatsachen oder der Beweiskraft der vorgelegten Unterlagen erforderlich seien. Die Beschränkung der Tatsachengrundlage der Prüfung durch das HABM schließe zudem nicht aus, dass dieses neben den von den Beteiligten des Nichtigkeitsverfahrens ausdrücklich vorgetragenen Tatsachen offenkundige Tatsachen berücksichtige, d. h. Tatsachen, die jeder kennen könne oder die allgemein zugänglichen Quellen entnommen werden könnten.
21 Im Licht dieser Grundsätze hat das Gericht schließlich in den Rn. 23 und 24 des angefochtenen Urteils entschieden, dass sich die Beschwerdekammer zwar zu Recht auf die italienischen Rechtsvorschriften gestützt habe, nach denen sich die Beweiskraft des Vertrags von 1986 bestimme, dass es ihm jedoch obliege, zu prüfen, ob sie die maßgeblichen Vorschriften des italienischen Rechts korrekt ausgelegt habe, als sie entschieden habe, dass nach den Art. 2702 und 2703 des italienischen Zivilgesetzbuchs der Vertrag von 1986 die Herkunft der Erklärungen von denjenigen, die sie unterzeichnet hätten, bis zur Einleitung eines Verfahrens zur Anfechtung der Echtheit voll und ganz beweise.
22 Insoweit hat das Gericht in den Rn. 25 bis 32 des angefochtenen Urteils die Bestimmungen des italienischen Rechts geprüft, insbesondere Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs, wie er von der Corte suprema di cassazione (dem italienischen Kassationsgerichtshof) in ihrem Urteil Nr. 13912 vom 14. Juni 2007 (im Folgenden: Urteil vom 14. Juni 2007) ausgelegt worden ist. In Rn. 33 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass die streitige Entscheidung keinen Verweis auf Art. 2704 enthalte, und in Rn. 35 die Auffassung vertreten, dass es der NLC nach der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione freigestanden habe, den Beweis dafür zu erbringen, dass der Vertrag von 1986 in Wirklichkeit zu einem anderen Zeitpunkt als dem Datum des Poststempels abgefasst worden sei, ohne dass sie dafür ein Verfahren zur Anfechtung der Echtheit hätte anstrengen müssen. Das Gericht hat daraus in Rn. 36 des angefochtenen Urteils den Schluss gezogen, dass die Beschwerdekammer das gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 anwendbare nationale Recht fehlerhaft ausgelegt und somit den genauen Umfang ihrer Kompetenzen nicht richtig beurteilt habe.
23 In Rn. 40 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass sich diese fehlerhafte Auslegung des nationalen Rechts auf den Inhalt der streitigen Entscheidung habe auswirken können, und hat daraus in Rn. 41 geschlossen, dass die streitige Entscheidung aufzuheben sei, ohne dass der zweite Klagegrund der NLC geprüft werden müsse.
Anträge der Parteien
24 Das HABM beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und der NLC die ihm entstandenen Kosten aufzuerlegen.
25 Die NLC beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.
Zum Rechtsmittel
26 Das HABM stützt sein Rechtsmittel auf drei Gründe. Es rügt erstens einen Verstoß gegen Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und gegen Regel 37 der Durchführungsverordnung, zweitens einen Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, da das Recht des HABM, zu dem Urteil vom 14. Juni 2007 gehört zu werden, verletzt worden sei, und drittens eine offensichtliche Inkohärenz sowie eine Tatsachenverfälschung, die beide die Argumentation und das Ergebnis des Gerichts beeinträchtigten.
Zum ersten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
27 Mit dem ersten Rechtsmittelgrund, der in zwei Teile untergliedert ist, macht das HABM geltend, dass sich das Gericht weder auf Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs (erster Teil) noch auf das Urteil vom 14. Juni 2007 (zweiter Teil) habe stützen dürfen, da diese beiden Punkte von den Beteiligten nicht geltend gemacht worden seien und deshalb nicht Teil des vor der Beschwerdekammer verhandelten Streitgegenstands gewesen seien.
28 Da das HABM der Ansicht ist, dass aus den Ausführungen des Gerichts nicht eindeutig hervorgehe, ob es das anwendbare nationale Recht als eine Rechtsfrage oder als eine offenkundige Tatsache ansehe, trägt es alternative Argumentationen vor. Falls das Gericht der Ansicht gewesen sei, die Anwendung des nationalen Rechts stelle eine Rechtsfrage dar, habe es den in Regel 37 Buchst. b Ziff. iii der Durchführungsverordnung niedergelegten Grundsatz, wonach es dem Beteiligten, der sich auf das nationale Recht berufe, obliege, vor dem HABM Angaben zum Inhalt der Rechtsvorschriften und zu der Frage zu machen, inwiefern sie auf den gegebenen Fall anwendbar seien, verletzt und die Entscheidung in der Rechtssache Edwin/HABM, aus der sich ergebe, dass das nationale Recht eine Tatsachenfrage sei, die von den Beteiligten dargelegt und bewiesen werden müsse, nicht beachtet. Falls das Gericht der Ansicht gewesen sei, die Anwendung des nationalen Rechts stelle eine Tatsachenfrage dar, habe es die nationalen Rechtsvorschriften zu Unrecht als „offenkundige Tatsache“ eingestuft, die als solche vom HABM aus eigener Initiative ermittelt und geltend gemacht werden könne. Es habe außerdem seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung der Beschwerdekammer gesetzt und Gesichtspunkte gewürdigt, zu denen sich diese Kammer nicht geäußert habe.
29 Die NLC entgegnet auf dieses Vorbringen erstens, Regel 37 der Durchführungsverordnung und das Urteil Edwin/HABM beträfen die dem Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens obliegende Beweislast und bezögen sich nicht auf den Antragsgegner. Dieser befinde sich in einer nachteiligen Situation, wenn eine Entscheidung des HABM auf der Grundlage einer Behauptung beanstandet werde, die sich auf ein Recht stütze, das ihm vollkommen fremd sein könne. Zudem erstrecke sich die Beweislast, die nach Regel 37 und dem Urteil Edwin/HABM beim Antragsteller liege, nicht auf Fragen des nationalen Verfahrensrechts.
30 Zweitens trägt die NLC vor, die Beschwerdekammer habe sich nicht auf eine Tatsachenwürdigung beschränkt, sondern eine Rechtsentscheidung getroffen. Eine Auslegung von Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 in dem Sinne, dass die Prüfung der Beschwerdekammer auf die vom Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens dargelegten relativen Eintragungshindernisse beschränkt sei, liefe der Anwendung der tragenden Rechtsgrundsätze zuwider, die vom HABM berücksichtigt werden müssten, worauf u. a. im 13. Erwägungsgrund und in Art. 83 dieser Verordnung hingewiesen werde.
31 Drittens führt die NLC aus, der Fehler der Beschwerdekammer beruhe darauf, dass sie die Art. 2702 und 2703 des italienischen Zivilgesetzbuchs, auf die sie aufmerksam gemacht worden sei, fehlerhaft ausgelegt habe, und die Frage der Beweiskraft des Vertrags von 1986 sei vor der Beschwerdekammer und dem Gericht aufgeworfen worden. Sollte das Gericht Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs und die dazu ergangene Rechtsprechung zu Unrecht zum Gegenstand der Erörterung gemacht haben, habe sich dieser Fehler folglich nicht auf das Ergebnis seiner Analyse ausgewirkt, so dass der Rechtsmittelgrund ins Leere gehe und daher zurückzuweisen sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
32 Zunächst ist festzustellen, dass die angefochtene Marke am 2. Oktober 2007 eingetragen worden ist und die Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens ihren Antrag am 20. November 2007 beim HABM eingereicht haben und dass daher der vorliegende Rechtsmittelgrund anhand der Bestimmungen der Verordnung Nr. 40/94 zu beurteilen ist, weil die Verordnung Nr. 207/2009 zu diesen Zeitpunkten nicht in Kraft war (vgl. u. a. Urteil vom 3. Oktober 2013, Rintisch/HABM, C‑122/12 P, Rn. 2).
33 Der erste Rechtsmittelgrund betrifft im Wesentlichen die verfahrensrechtliche Regelung, der die Anwendung des nationalen Rechts im Rahmen eines beim HABM gestellten Antrags auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke und im Rahmen einer beim Gericht erhobenen Klage gegen die Entscheidung über diesen Antrag unterliegt, wenn der Rechtsstreit gemäß Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 40/94 auf das Bestehen eines durch eine nationale Rechtsvorschrift geschützten älteren Rechts gestützt wird. Um die Begründetheit dieses Rechtsmittelgrundes zu beurteilen, ist zunächst zu klären, wie die Rollen zwischen dem Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens, den zuständigen Stellen des HABM und dem Gericht in einem solchen Kontext verteilt sind.
34 Zur Rolle des Antragstellers hat der Gerichtshof entschieden, dass es diesem nach Regel 37 der Durchführungsverordnung nicht nur obliegt, vor dem HABM die Angaben vorzubringen, die beweisen, dass er die nach den nationalen Rechtsvorschriften, deren Anwendung er begehrt, erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, um die Benutzung einer Gemeinschaftsmarke aufgrund eines älteren Rechts untersagen lassen zu können, sondern auch, die Angaben vorzubringen, aus denen sich der Inhalt dieser Rechtsvorschriften ergibt (Urteil Edwin/HABM, Rn. 50).
35 Hinsichtlich der zuständigen Stellen des HABM hat der Gerichtshof festgestellt, dass es ihre Sache ist, die Aussagekraft und die Tragweite der vom Antragsteller vorgebrachten Angaben zu beurteilen, mit denen der Inhalt der von ihm angeführten nationalen Rechtsvorschrift dargetan werden soll (Urteil Edwin/HABM, Rn. 51).
36 Zur Aufgabe des Gerichts hat der Gerichtshof unter Verweis auf Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 40/94, der die Fälle festlegt, in denen eine Klage gegen die Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM statthaft ist, ausgeführt, dass das Gericht dafür zuständig ist, die vom HABM vorgenommene Beurteilung der vom Antragsteller vorgebrachten Angaben, mit denen der Inhalt der nationalen Rechtsvorschriften, deren Schutz er geltend macht, dargetan werden soll, einer vollen Rechtmäßigkeitsprüfung zu unterziehen (Urteil Edwin/HABM, Rn. 52).
37 Entgegen dem Vorbringen des HABM ist den Rn. 50 bis 52 des Urteils Edwin/HABM nicht zu entnehmen, dass eine nationale Rechtsvorschrift, die über eine Verweisung wie diejenige in Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 40/94 zur Anwendung kommt, als eine bloße Tatsache zu behandeln wäre, auf deren Feststellung anhand der ihnen vorgelegten Beweise sich das HABM und das Gericht beschränken würden.
38 Aus den genannten Randnummern ergibt sich vielmehr, dass der Gerichtshof die Bedeutung der Kontrolle hervorheben wollte, der die Anwendung des nationalen Rechts in einem Rechtsstreit, dem ein Antrag auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke zugrunde liegt, sowohl vor den zuständigen Stellen des HABM als auch vor dem Gericht zu unterliegen hat.
39 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob das HABM und das Gericht in einem solchen verfahrensrechtlichen Kontext verpflichtet sind, sich streng auf die Prüfung der Unterlagen zu beschränken, die der Antragsteller als Nachweis für den Inhalt des anwendbaren nationalen Rechts vorlegt, oder ob sie befugt sind, die Erheblichkeit des behaupteten Rechts zu prüfen und dabei gegebenenfalls von Amts wegen die Tatbestandsvoraussetzungen und die Tragweite der angeführten nationalen Rechtsvorschriften zu ermitteln.
40 Hierzu ist festzustellen, dass die Kontrolle durch das HABM und das Gericht unter Berücksichtigung des vom Generalanwalt in Nr. 91 seiner Schlussanträge genannten Erfordernisses zu erfolgen hat, wonach die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 40/94 sicherzustellen ist, die in der Gewährleistung des Schutzes der Gemeinschaftsmarke liegt.
41 Da die Anwendung des nationalen Rechts dazu führen kann, dass das Vorliegen eines Grundes für die Ungültigerklärung einer ordnungsgemäß eingetragenen Gemeinschaftsmarke bejaht wird, erscheint es vor diesem Hintergrund notwendig, dass das HABM und das Gericht, bevor sie dem Antrag auf Nichtigerklärung einer solchen Marke stattgeben, die Erheblichkeit der Belege überprüfen dürfen, die der Antragsteller beibringt, um den ihm obliegenden Beweis für den Inhalt dieses nationalen Rechts zu führen.
42 Die Kontrolle durch die zuständigen Stellen des HABM und das Gericht muss außerdem den Erfordernissen der Funktion entsprechen, die sie in einer Streitigkeit über eine Gemeinschaftsmarke ausüben.
43 Wenn die zuständigen Stellen des HABM in einem ersten Schritt über einen Antrag auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke, der auf ein durch eine nationale Rechtsvorschrift geschütztes älteres Recht gestützt wird, zu entscheiden haben, kann ihre Entscheidung bewirken, dass dem Markeninhaber ein ihm gewährtes Recht entzogen wird. Die Tragweite einer solchen Entscheidung setzt zwangsläufig voraus, dass die Stelle, die sie erlässt, nicht auf die Rolle beschränkt ist, das nationale Recht, wie es vom Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens dargestellt wird, lediglich zu bestätigen.
44 Die in einem zweiten Schritt vom Gericht durchgeführte gerichtliche Kontrolle muss, wie der Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge ausführt, den Anforderungen des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes entsprechen. Da die Anwendung des nationalen Rechts im fraglichen verfahrensrechtlichen Kontext bewirken kann, dass dem Inhaber einer Gemeinschaftsmarke sein Recht entzogen wird, ist es zwingend erforderlich, dass dem Gericht nicht wegen einer etwaigen Lückenhaftigkeit der zum Beweis des anwendbaren nationalen Rechts vorgelegten Dokumente die reale Möglichkeit genommen wird, eine effektive Kontrolle durchzuführen. Dafür muss das Gericht folglich über die vorgelegten Dokumente hinaus den Inhalt, die Tatbestandsvoraussetzungen und die Tragweite der vom Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens geltend gemachten Rechtsvorschriften prüfen dürfen.
45 Somit ist die Feststellung des Gerichts in Rn. 20 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei, dass „sich das HABM, wenn es veranlasst sein kann, insbesondere das nationale Recht des Mitgliedstaats zu berücksichtigen, in dem ein älteres Recht geschützt ist, auf das der Antrag auf Nichtigerklärung gestützt wird, von Amts wegen mit den ihm hierzu zweckdienlich erscheinenden Mitteln über das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats informieren muss, soweit entsprechende Kenntnisse für die Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen des fraglichen Nichtigkeitsgrundes und vor allem für die Würdigung der vorgetragenen Tatsachen oder der Beweiskraft der vorgelegten Unterlagen erforderlich sind“.
46 Im vorliegenden Fall hat das Gericht nach dem Hinweis in Rn. 24 des angefochtenen Urteils, dass das HABM für die Beurteilung der Beweiskraft des Vertrags von 1986 die Art. 2702 und 2703 des italienischen Zivilgesetzbuchs angewandt habe, in den Rn. 27 bis 32 des angefochtenen Urteils auch Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs über das Feststehen des Datums einer privatschriftlichen Vertragsurkunde und die nationale Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung dieses Artikels berücksichtigt. Damit hat das Gericht nicht die Grenzen seiner Befugnis überschritten, sich von Amts wegen zu informieren, um den Inhalt, die Tatbestandsvoraussetzungen und die Tragweite der nationalen Rechtsvorschriften prüfen zu können, die der Antragsteller des Nichtigkeitsverfahrens als Beleg für die Beweiskraft des Vertrags angeführt hat, auf den er sein Recht stützt, das älter als die angefochtene Marke sei.
47 Der erste Rechtsmittelgrund ist daher in beiden Teilen zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
48 Das HABM verweist auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, wonach die Adressaten amtlicher Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigten, Gelegenheit erhalten müssten, ihren Standpunkt gebührend darzulegen, und macht geltend, dass es diese Möglichkeit im vorliegenden Fall hinsichtlich des Urteils vom 14. Juni 2007, das von den Parteien im Verwaltungsverfahren nicht angeführt worden sei und folglich nicht Teil des vor der Beschwerdekammer verhandelten Streitgegenstands gewesen sei, nicht gehabt habe. Hätte es diese Möglichkeit gehabt, hätten die Argumentation und das Ergebnis des Gerichts anders gelautet.
49 Das HABM zieht daraus den Schluss, dass das Gericht seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe.
50 Die NLC entgegnet, dass die Rechtsfrage, für die das Urteil der Corte suprema di cassazione relevant sei, vor der mündlichen Verhandlung aufgeworfen worden sei, denn das Gericht habe gemäß Art. 64 seiner Verfahrensordnung das HABM mit Schreiben vom 7. Februar 2012 aufgefordert, auf Fragen zur Tragweite von Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs zu antworten. Das HABM habe somit die Möglichkeit gehabt, sowohl schriftlich als auch in der mündlichen Verhandlung zu dieser Frage gehört zu werden, und es könne nicht argumentiert werden, dass, wenn nicht vorab auf jede einschlägige oder potenziell einschlägige Rechtsprechung hingewiesen werde, ein Urteil, das auf diese Rechtsprechung Bezug nehme, die Verteidigungsrechte verletze.
51 Sollte das Gericht einen Rechtsfehler begangen haben, indem es dem HABM nicht die Möglichkeit gegeben habe, zu der von ihr angeführten nationalen Rechtsprechung Stellung zu nehmen, habe dieser Rechtsfehler jedenfalls keine Auswirkungen auf die Entscheidung des Rechtsstreits durch das Gericht gehabt.
Würdigung durch den Gerichtshof
52 Das Recht auf ein faires Verfahren ist ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts, der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.
53 Um die Anforderungen dieses Rechts zu erfüllen, müssen die Unionsgerichte dafür Sorge tragen, dass der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der für jedes Verfahren gilt, das zu einer Entscheidung eines Unionsorgans führen kann, durch die Interessen eines Dritten spürbar beeinträchtigt werden, vor ihnen und von ihnen selbst beachtet wird (Urteile vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C-89/08 P, Slg. 2009, I-11245, Rn. 51 und 53, sowie vom 17. Dezember 2009, Überprüfung M/EMEA, C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Rn. 41 und 42).
54 Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verleiht nicht nur jedem Verfahrensbeteiligten das Recht, die Schriftstücke und Erklärungen, die die Gegenpartei dem Gericht vorgelegt hat, zur Kenntnis zu nehmen und zu erörtern. Es umfasst auch das Recht der Verfahrensbeteiligten, die Gesichtspunkte, die das Gericht von Amts wegen aufgeworfen hat und auf die es seine Entscheidung gründen möchte, zur Kenntnis zu nehmen und zu erörtern. Für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren kommt es nämlich darauf an, dass die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind, kennen und kontradiktorisch erörtern können (Urteile Kommission/Irland u. a., Rn. 55 und 56, sowie vom 21. Februar 2013, Banif Plus Bank, C‑472/11, Rn. 30).
55 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass das Urteil vom 14. Juni 2007 weder in dem Verfahren vor dem HABM noch in den beim Gericht eingereichten Schriftsätzen erwähnt wurde, sondern dass es vom Gericht nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens von Amts wegen eingeführt worden ist.
56 Folglich ist zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Parteien im Verlauf des Verfahrens vor dem Gericht die Möglichkeit hatten, zu diesem Urteil Stellung zu nehmen.
57 Die Parteien konnten zwar, wie sich aus den an sie gerichteten Schreiben des Gerichts vom 7. Februar 2012 und den diesen beigefügten Fragen ergibt, ihren Standpunkt zu Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs darlegen, doch hatten sie keine Gelegenheit, zum Urteil vom 14. Juni 2007 Stellung zu nehmen, das in diesen Schreiben nicht erwähnt worden ist.
58 Wie der Generalanwalt in Nr. 117 seiner Schlussanträge ausführt, ist den Rn. 32, 35, 36, 39 und 40 des angefochtenen Urteils klar zu entnehmen, dass der Inhalt des Urteils vom 14. Juni 2007 in der Argumentation des Gerichts eine entscheidende Rolle gespielt hat. Weil es festgestellt hat, dass die Beschwerdekammer dieses Urteil nicht berücksichtigt habe, wonach der Beweis der fehlenden Echtheit des Datums des Poststempels erbracht werden könne, ohne dass ein Verfahren zur Anfechtung der Echtheit durchgeführt werden müsse, war das Gericht der Ansicht, dass die Beschwerdekammer den von der NLC behaupteten Anomalien mehr Bedeutung hätte beimessen können und dass folglich die streitige Entscheidung aufzuheben sei.
59 Nach alledem hat das Gericht den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verletzt, der sich aus den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren ergibt.
60 Daher ist dem zweiten Rechtsmittelgrund des HABM stattzugeben.
Zum dritten Rechtsmittelgrund
61 In Anbetracht des Verfahrensfehlers bei der Anwendung der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione zu Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs durch das Gericht ist der dritte Rechtsmittelgrund des HABM, mit dem es eine offensichtliche Inkohärenz und eine Tatsachenverfälschung rügt, die beide die Stichhaltigkeit der vom Gericht auf der Grundlage dieser Rechtsprechung vorgenommenen Argumentation beeinträchtigten, in diesem Verfahrensstadium nicht zu prüfen.
62 Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben.
Zur Klage vor dem Gericht
63 Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann dieser im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit entweder selbst endgültig entscheiden, wenn er zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.
64 Im vorliegenden Fall ist der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif, weil die Parteien zuvor die Möglichkeit erhalten müssen, sich kontradiktorisch zu bestimmten Gesichtspunkten des nationalen Rechts zu äußern, die das Gericht von Amts wegen festgestellt hat.
65 Die Sache ist daher zur Entscheidung über die Begründetheit der Klage an das Gericht zurückzuverweisen.
Kosten
66 Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens vorzubehalten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 13. September 2012, National Lottery Commission/HABM – Mediatek Italia und De Gregorio (Darstellung einer Hand) (T‑404/10), wird aufgehoben.
2. Die Sache wird zur Entscheidung über die Begründetheit der Klage an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 13. März 2014.#Società Italiana Commercio e Servizi srl (SICES) u. a. gegen Agenzia Dogane Ufficio delle Dogane di Venezia.#Vorabentscheidungsersuchen der Commissione tributaria regionale di Venezia-Mestre.#Landwirtschaft – Verordnung (EG) Nr. 341/2007 – Art. 6 Abs. 4 – Zollkontingente – Knoblauch mit Ursprung in China – Einfuhrlizenzen – Keine Übertragbarkeit der Rechte, die sich aus bestimmten Einfuhrlizenzen ergeben – Umgehung – Rechtsmissbrauch.#Rechtssache C‑155/13.
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62013CJ0155
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ECLI:EU:C:2014:145
| 2014-03-13T00:00:00 |
Gerichtshof, Sharpston
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0155
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
13. März 2014 (*1)
„Landwirtschaft — Verordnung (EG) Nr. 341/2007 — Art. 6 Abs. 4 — Zollkontingente — Knoblauch mit Ursprung in China — Einfuhrlizenzen — Keine Übertragbarkeit der Rechte, die sich aus bestimmten Einfuhrlizenzen ergeben — Umgehung — Rechtsmissbrauch“
In der Rechtssache C‑155/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria regionale di Venezia‑Mestre (Italien) mit Entscheidung vom 12. Februar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2013, in dem Verfahren
Società Italiana Commercio e Servizi srl (SICES) in Liquidation,
Agrima KG D. Gritsch Herbert & Gritsch Michael & Co.,
Agricola Lusia srl,
Romagnoli Fratelli SpA,
Agrimediterranea srl,
Francesco Parini,
Duoccio srl,
Centro di Assistenza Doganale Triveneto Service srl,
Novafruit srl,
Evergreen Fruit Promotion srl
gegen
Agenzia Dogane Ufficio delle Dogane di Venezia
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter M. Safjan und J. Malenovský sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Agrima KG D. Gritsch Herbert & Gritsch Michael & Co., der Agricola Lusia srl, der Romagnoli Fratelli SpA und der Agrimediterranea srl sowie von Herrn Francesco Parini, vertreten durch M. Moretto, avvocato,
—
der Duoccio srl, vertreten durch M. Camilli, avvocato,
—
der Novafruit srl und der Evergreen Fruit Promotion srl, vertreten durch W. Viscardini und G. Doná, avvocati,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Rossi und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 6 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 341/2007 der Kommission vom 29. März 2007 zur Eröffnung und Verwaltung von Zollkontingenten sowie zur Einführung einer Einfuhrlizenz- und Ursprungsbescheinigungsregelung für aus Drittländern eingeführten Knoblauch und bestimmte andere landwirtschaftliche Erzeugnisse (ABl. L 90, S. 12).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Società Italiana Commercio e Servizi srl (SICES) in Liquidation, der Agrima KG D. Gritsch Herbert & Gritsch Michael & Co., der Agricola Lusia srl, der Romagnoli Fratelli SpA, der Agrimediterranea srl, Herrn Francesco Parini, der Duoccio srl (im Folgenden: Duoccio), der Centro di Assistenza Doganale Triveneto Service srl, der Novafruit srl sowie der Evergreen Fruit Promotion srl einerseits und der Agenzia Dogane Ufficio delle Dogane di Venezia (Zollagentur Venedig, im Folgenden: Agenzia Dogane) andererseits über Berichtigungs‑ und Festsetzungsbescheide, die die Agenzia Dogane gegenüber den genannten Firmen und Herrn Parini wegen Einfuhren von Knoblauch des KN‑Codes 0703 20 00 mit Ursprung in China unter Anwendung des Präferenzzolls erlassen hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 341/2007
3 Die Erwägungsgründe 1, 7 bis 10 und 13 bis 15 der Verordnung Nr. 341/2007 lauten:
„(1)
Seit dem 1. Juni 2001 setzt sich der normale Zollsatz bei der Einfuhr von Knoblauch des KN‑Codes 0703 20 00 aus einem Wertzoll von 9,6 % und einem festen Betrag von 1200 [Euro]/Tonne Nettogewicht zusammen. …
…
(7) Da für die nicht unter das GATT‑Kontingent fallenden nicht präferenziellen Einfuhren ein besonderer Zoll gilt, erfordert die Verwaltung des GATT‑Kontingents die Einführung einer Einfuhrlizenzregelung. Eine solche Regelung sollte die genaue Überwachung aller Knoblaucheinfuhren ermöglichen. …
(8) Für die möglichst genaue Überwachung sämtlicher Einfuhren muss – namentlich angesichts der jüngst aufgetretenen Fälle von Betrug durch falsche Ursprungsangaben oder Produktbeschreibungen – für sämtliche Einfuhren von Knoblauch oder anderen Erzeugnissen, die für eine falsche Produktbeschreibung von Knoblauch in Frage kommen, eine Einfuhrlizenz vorgelegt werden. Es sollten zwei Kategorien von Einfuhrlizenzen bestehen, eine für Einfuhren im Rahmen des GATT‑Kontingents und die zweite für alle sonstigen Einfuhren.
(9) Im Interesse der etablierten Einführer, die in der Regel erhebliche Mengen Knoblauch einführen, wie auch im Interesse neuer Einführer, die den Markt betreten und ebenfalls eine faire Möglichkeit haben sollten, im Rahmen der Zollkontingente Einfuhrlizenzen für eine bestimmte Menge Knoblauch zu beantragen, ist zwischen traditionellen Einführern und neuen Einführern zu unterscheiden. Beide Kategorien von Einführern sind klar zu definieren und zudem sind bestimmte Kriterien betreffend den Status der Antragsteller und die Verwendung der zugeteilten Einfuhrlizenzen festzulegen.
(10) Die diesen beiden Kategorien von Einführern zuzuteilenden Mengen sollten anhand der tatsächlich eingeführten Mengen festgesetzt werden und nicht anhand der erteilten Einfuhrlizenzen.
…
(13) Die von Einführern beider Kategorien eingereichten Anträge auf Einfuhrlizenzen für die Einfuhr von Knoblauch aus Drittländern sollten bestimmten Einschränkungen unterliegen. Diese Einschränkungen sollen sicherstellen, dass der Wettbewerb zwischen den Einführern gewahrt wird, dass alle Einführer, die tatsächlich mit Obst und Gemüse handeln, die Möglichkeit haben, ihre legitime Marktstellung gegenüber anderen Einführern zu verteidigen, und dass kein einzelner Einführer den Markt beherrschen kann.
(14) Zur Wahrung des Wettbewerbs zwischen den tatsächlichen Einführern und zur Vermeidung von Spekulationen bei der Zuteilung von Einfuhrlizenzen für Knoblauch im Rahmen des GATT‑Kontingents sowie jeglichen Missbrauchs der Regelung, der den legitimen Marktstellungen der neuen und der traditionellen Einführer zuwiderlaufen würde, sollte die ordnungsgemäße Verwendung von Einfuhrlizenzen strenger kontrolliert werden. Deswegen sollte die Übertragung von Einfuhrlizenzen verboten und für die Einreichung von Mehrfachanträgen eine Geldbuße eingeführt werden.
(15) Ferner sollten spekulative Anträge auf Einfuhrlizenzen, die eine unvollständige Ausschöpfung der Zollkontingente bewirken könnten, durch geeignete Maßnahmen auf ein Minimum reduziert werden. Angesichts der Art und des Wertes des betroffenen Erzeugnisses sollte für jede Tonne Knoblauch, für die eine Einfuhrlizenz beantragt wird, eine Sicherheit geleistet werden. Diese Sicherheit sollte einerseits hoch genug sein, um spekulativen Anträgen entgegenzuwirken, andererseits aber nicht so hoch, dass sie Einführer, die tatsächlich mit Knoblauch handeln, von der Antragstellung abhält. …“
4 Art. 1 („Eröffnung von Zollkontingenten und anzuwendende Zölle“) dieser Verordnung bestimmt:
„(1) … Zollkontingente für Einfuhren von frischem oder gekühltem Knoblauch des KN‑Codes 0703 20 00 … in die Gemeinschaft [werden] eröffnet. Der Umfang der einzelnen Kontingente, der Kontingentszeitraum und dessen Teilzeiträume sowie die laufende Nummer sind in Anhang I dieser Verordnung festgelegt.
(2) Der Wertzollsatz für eingeführten Knoblauch im Rahmen der in Absatz 1 genannten Kontingente beträgt 9,6 %.“
5 Art. 4 („Kategorien von Einführern“) Abs. 2 und 3 dieser Verordnung lautet:
„(2) ‚Traditionelle Einführer‘ sind Einführer, die nachweisen können, dass sie
a)
in jedem der drei vorangegangenen Kontingentszeiträume Lizenzen … erhalten und verwendet haben und
b)
in dem ihrem Antrag vorangegangenen vollständigen Kontingentszeitraum mindestens 50 Tonnen Obst und Gemüse … eingeführt haben.
…
(3) ‚Neue Einführer‘ sind andere als die in Absatz 2 genannten Einführer, die in jedem der beiden vorangegangenen vollständigen Kontingentszeiträume oder in jedem der beiden vorangegangenen Kalenderjahre mindestens 50 Tonnen Obst und Gemüse … in die Gemeinschaft eingeführt haben.
…“
6 Art. 5 („Vorlage von Einfuhrlizenzen“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 2:
„Die Einfuhrlizenzen für Knoblauch, der im Rahmen der in Anhang I genannten Kontingente in den zollrechtlich freien Verkehr überführt wird, werden nachstehend ‚A‑Lizenzen‘ genannt.
Die übrigen Einfuhrlizenzen werden nachstehend ‚B‑Lizenzen‘ genannt.“
7 Art. 6 („Allgemeine Bestimmungen für Anträge auf A‑Lizenzen und die A‑Lizenzen selbst“) Abs. 2 und 4 der Verordnung Nr. 341/2007 lautet:
„(2) Die Sicherheit … beläuft sich auf 50 [Euro]/t.
…
(4) [D]ie Rechte, die sich aus A‑Lizenzen ergeben, [sind] nicht übertragbar.“
8 Art. 8 („Referenzmenge traditioneller Einführer“) dieser Verordnung lautet:
„Für die Zwecke dieses Kapitels gilt als ‚Referenzmenge‘ die nachstehend genannte Menge Knoblauch, die von einem traditionellen Einführer im Sinne von Artikel 4 eingeführt wurde:
a)
für traditionelle Einführer, die zwischen 1998 und 2000 Knoblauch in die Gemeinschaft in ihrer Zusammensetzung vom 1. Januar 1995 eingeführt haben, die Höchstmenge Knoblauch, die während eines der Kalenderjahre 1998, 1999 und 2000 eingeführt wurde;
b)
für traditionelle Einführer, die zwischen 2001 und 2003 Knoblauch in die Tschechische Republik, nach Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien oder in die Slowakei eingeführt haben, die Höchstmenge der Knoblaucheinfuhren während
i)
entweder eines der Kalenderjahre 2001, 2002 und 2003
ii)
oder eines der Kontingentszeiträume 2001/02, 2002/03 und 2003/04;
c)
für traditionelle Einführer, die zwischen 2003 und 2005 Knoblauch nach Bulgarien oder Rumänien eingeführt haben, die Höchstmenge der Knoblaucheinfuhren während
i)
entweder eines der Kalenderjahre 2003, 2004 und 2005
ii)
oder eines der Kontingentszeiträume 2003/04, 2004/05 und 2005/06;
d)
für traditionelle Einführer, die nicht unter die Buchstaben a, b oder c fallen, die Höchstmenge der Knoblaucheinfuhren während eines der ersten drei vollständigen Kontingentszeiträume, in denen sie Einfuhrlizenzen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 565/2002 …, der Verordnung (EG) Nr. 1870/2005 oder der vorliegenden Verordnung erhalten haben.
…“
9 Art. 9 („Einschränkungen für Anträge auf A‑Lizenzen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 341/2007 lautet:
„Die Gesamtmenge, für die ein traditioneller Einführer in einem Kontingentszeitraum A‑Lizenzen beantragt, darf die Referenzmenge dieses Einführers nicht überschreiten. Anträge, die unter Verstoß gegen diese Vorschrift gestellt werden, werden von den zuständigen Behörden zurückgewiesen.“
Die Verordnung (EG) Nr. 1291/2000
10 Die Verordnung (EG) Nr. 1291/2000 der Kommission vom 9. Juni 2000 mit gemeinsamen Durchführungsvorschriften für Einfuhr‑ und Ausfuhrlizenzen sowie Vorausfestsetzungsbescheinigungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse (ABl. L 152, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1423/2007 der Kommission vom 4. Dezember 2007 (ABl. L 317, S. 36) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1291/2000) gilt gemäß Art. 2 der Verordnung Nr. 341/2007 für die nach dieser eröffneten Zollkontingente.
11 Nach dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1291/2000 verfällt die Sicherheitsleistung des Einführers ganz oder teilweise, wenn die Einfuhr oder Ausfuhr nicht oder nur zum Teil während der Gültigkeitsdauer der Lizenz erfolgt.
12 Art. 35 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1291/2000 lautet:
„[D]ie Sicherheit [verfällt] bei Nichterfüllung der Verpflichtung zur Ein‑ bzw. Ausfuhr für eine Menge, die dem Unterschied zwischen
a)
95 v. H. der in der Lizenz angegebenen Menge und
b)
der tatsächlich ein‑ bzw. ausgeführten Menge entspricht.
…
Beträgt die [eingeführte] Menge jedoch weniger als 5 v. H. der in der Lizenz angegebenen Menge, so verfällt die Sicherheit vollständig.
…“
Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95
13 Art. 4 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1) bestimmt:
„(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils
—
durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;
—
durch vollständigen oder teilweisen Verlust der Sicherheit, die für einen Antrag auf Gewährung eines Vorteils oder bei Zahlung eines Vorschusses geleistet wurde.
(2) Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können.
(3) Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.
(4) Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
14 Das Ausgangsverfahren betrifft kommerzielle Einfuhren von Knoblauch mit Ursprung in China in die Europäische Union Ende 2007 und Anfang 2008 durch die SICES, die Agrima KG D. Gritsch Herbert & Gritsch Michael & Co., die Agricola Lusia srl, die Romagnoli Fratelli SpA, die Agrimediterranea srl, Herrn Francesco Parini, die Novafruit srl und die Evergreen Fruit Promotion srl. Diese Einführer, die die Rechtsstellung neuer Einführer im Sinne des Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 341/2007 hatten, waren Inhaber von nach dieser Verordnung erteilten A‑Lizenzen. Daher waren die betreffenden Einfuhren vom spezifischen Zoll in Höhe von 1200 Euro je Tonne Nettogewicht befreit.
15 Infolge nachträglicher Prüfungen der Zollanmeldungen für diese Einfuhren von Knoblauch erließ die Agenzia Dogane Ende 2010 Berichtigungs‑ und Festsetzungsbescheide. Diese Bescheide beinhalten den Widerruf der Befreiung vom spezifischen Zoll in Höhe von 1200 Euro je Tonne Nettogewicht nach Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95, da mit den Einfuhren der spezifische Zoll umgangen worden sei.
16 Die Agenzia Dogane beanstandete insbesondere den folgenden Mechanismus, den sie als betrügerisch einstufte:
—
Zunächst kaufte Duoccio oder die Tico srl (im Folgenden: Tico) Knoblauch von einem chinesischen Lieferanten;
—
danach verkauften Duoccio und Tico die Waren vor der Einfuhr in die Union an die Einführer des Ausgangsverfahrens, die Inhaber von A‑Lizenzen waren und sodann die Einfuhr durchführten, und
—
schließlich verkauften die genannten Einführer die betreffende Ware nach der Einfuhr wieder an Duoccio.
17 Duoccio war sowohl auf dem Markt der Knoblauchimporte, nämlich als traditioneller Einführer im Sinne des Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 341/2007, als auch auf dem Markt des Knoblauchvertriebs innerhalb der Union auf Großhandelsstufe tätig. Zu der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit musste Duoccio die Nachfrage der Unionsverbraucher abdecken, hatte aber ihre eigenen A‑Lizenzen erschöpft, so dass sie nicht mehr in der Lage war, Knoblauch zum Präferenzzoll einzuführen. Außerdem war der spezifische Zoll in einer Höhe festgelegt, mit der die Einfuhr von Knoblauch außerhalb des Zollkontingents nicht rentabel war.
18 Nach Ansicht der Agenzia Dogane bezweckten die beiden aufeinanderfolgenden Verkäufe von Duoccio und von Tico an die Einführer des Ausgangsverfahrens und dann von diesen wieder an Duoccio, das in Art. 6 Abs. 4 der Verordnung Nr. 341/2007 genannte Verbot der Übertragung der Rechte aus den A‑Lizenzen zu umgehen. Die Umgehung ergebe sich daraus, dass Duoccio, sogar noch bevor die Einfuhren erfolgt seien, vereinbart habe, den Knoblauch im freien Verkehr zu kaufen. Diese Gesellschaft müsse daher als tatsächlicher Einführer betrachtet werden, die durch den Präferenzzoll begünstigt worden sei, obwohl sie keinen Anspruch darauf habe.
19 Die Berufungskläger des Ausgangsverfahrens erhoben gegen die Berichtigungs‑ und Festsetzungsbescheide bei der Commissione tributaria provinciale di Venezia Klagen. Diese verband sie und wies sie ab. Sie führte aus, dass zwar die einzelnen Verkäufe gültig seien, jedoch Duoccio – und nicht die Einführer im Ausgangsverfahren, die Inhaber der A‑Lizenzen waren – tatsächlich Einführer gewesen sei. Es lägen gravierende, konkrete und übereinstimmende – und damit hinreichende – Anhaltspunkte dafür vor, dass die Rechtsgeschäfte nur zum Schein geschlossen worden seien, um die zollbegünstigte Einfuhr von Knoblauch zu ermöglichen, und dass das Verbot der Übertragung der Rechte aus den A‑Lizenzen umgangen worden sei. Nach Ansicht der Commissione tributaria provinciale di Venezia liegt damit ein Fall des Rechtsmissbrauchs vor.
20 Die Commissione tributaria regionale di Venezia‑Mestre, die mit der Berufung der Berufungskläger des Ausgangsverfahrens gegen das Urteil der Commissione tributaria provinciale di Venezia befasst ist, hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage vorzulegen:
Ist Art. 6 der Verordnung Nr. 341/2007 dahin auszulegen, dass es eine rechtswidrige Übertragung von Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr von Knoblauch mit Ursprung in China im Rahmen des GATT‑Kontingents darstellt, wenn der Inhaber dieser Lizenzen nach Entrichtung des geschuldeten Zolls den fraglichen Knoblauch durch Veräußerung an einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, der Inhaber von Einfuhrlizenzen ist und von dem er den Knoblauch vor dessen Einfuhr erworben hatte, auf den Markt bringt?
21 Mit Entscheidung vom 28. Mai 2013 hat das vorlegende Gericht entschieden, seine Vorlageentscheidung vom 12. Februar 2013 zu ergänzen. Es hat klargestellt, dass es mit der Vorlagefrage vom Gerichtshof wissen will, ob es für die rechtmäßige Verwendung von Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr ausreicht, dass der Inhaber solcher Lizenzen den in Rede stehenden Knoblauch in den zollrechtlich freien Verkehr überführt, ohne dass es auf die Handelstätigkeiten ankommt, die diesem Inverkehrbringen vorangehen oder nachfolgen.
Zur Vorlagefrage
22 Es ist daran zu erinnern, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen (vgl. insbesondere Urteil vom 15. September 2011, DP grup, C-138/10, Slg. 2011, I-8369, Rn. 28).
23 Im Rahmen dieses Verfahrens ist es jedoch Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (vgl. insbesondere Urteil DP grup, Rn. 29).
24 Insoweit ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass es in dem Ausgangsverfahren keine Übertragung von A‑Lizenzen oder von Rechten aus solchen Lizenzen gegeben hat. Nur die Ware ist veräußert worden, und zwar zunächst von einem Wirtschaftsteilnehmer an einen Einführer und dann, nach der Einfuhr in die Union, von diesem Einführer wieder an eben diesen Wirtschaftsteilnehmer.
25 Da Art. 6 Abs. 4 der Verordnung Nr. 341/2007 nur ein Verbot der Übertragung der Rechte aus den A‑Lizenzen vorsieht, regelt diese Bestimmung nicht die Fallkonstellation, in der ein Inhaber von Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr eine Ware vor ihrer Einfuhr von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer kauft und sie dann, nachdem er sie in die Union eingeführt hat, wieder an diesen verkauft.
26 Ferner ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die im Ausgangsverfahren betroffenen Erwerbs‑, Einfuhr‑ und Weiterveräußerungsvorgänge rechtsgültig waren. Insbesondere in Bezug auf die Einfuhren waren alle formalen Voraussetzungen für die Gewährung des Präferenzzolls erfüllt, da die im Ausgangsverfahren betroffenen Einführer die betreffenden Waren mittels rechtmäßig erhaltener A‑Lizenzen verzollt hatten.
27 Gleichwohl geht aus den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen hervor, dass der vom Käufer in der Union – der zugleich traditioneller Einführer im Sinne des Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 341/2007 war – mit diesen Transaktionen verfolgte Zweck darin bestand, sich Knoblauch zu verschaffen, der im Rahmen des durch diese Verordnung vorgesehenen Zollkontingents eingeführt worden war. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte dieser Umstand herangezogen werden, um das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs festzustellen.
28 Demnach ist die Vorlagefrage im Sinne der Frage zu verstehen, ob Art. 6 Abs. 4 der Verordnung Nr. 341/2007, obwohl er als solcher keine Handelstätigkeiten regelt, durch die ein Einführer, der Inhaber von Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr ist, eine Ware vor ihrer Einfuhr in die Union von einem Wirtschaftsteilnehmer kauft, der selbst traditioneller Einführer im Sinne des Art. 4 Abs. 2 dieser Verordnung ist, aber seine eigenen Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr ausgeschöpft hat, und die Ware dann, nachdem er sie in die Union eingeführt hat, wieder an diesen Wirtschaftsteilnehmer verkauft, dennoch so auszulegen ist, dass er solchen Handelstätigkeiten entgegensteht, weil sie einen Rechtsmissbrauch darstellen.
29 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt (vgl. insbesondere Urteile vom 12. Mai 1998, Kefalas u. a., C-367/96, Slg. 1998, I-2843, Rn. 20, vom 23. März 2000, Diamantis, C-373/97, Slg. 2000, I-1705, Rn. 33, und vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, Slg. 2006, I-1609, Rn. 68).
30 Die Anwendung des Unionsrechts kann nämlich nicht so weit gehen, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich aus dem Unionsrecht Vorteile zu ziehen (vgl. insbesondere Urteil Halifax u. a., Rn. 69).
31 Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis verlangt das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements.
32 Im Hinblick auf das objektive Element muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde (vgl. insbesondere Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland‑Stärke, C-110/99, Slg. 2000, I-11569, Rn. 52, und vom 21. Juli 2005, Eichsfelder Schlachtbetrieb, C-515/03, Slg. 2005, I-7355, Rn. 39).
33 Eine solche Feststellung macht auch ein subjektives Element in dem Sinne erforderlich, dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein muss, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils bezweckt wird. Denn das Missbrauchsverbot ist nicht relevant, wenn die fraglichen Umsätze eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung eines Vorteils (Urteil Halifax u. a., Rn. 75). Der Beweis für das Vorliegen dieses subjektiven Elements kann u. a. durch den Nachweis des rein künstlichen Charakters der Umsätze erbracht werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Emsland‑Stärke, Rn. 53, und vom 21. Februar 2008, Part Service, C-425/06, Slg. 2008, I-897, Rn. 62).
34 Obschon der Gerichtshof, wenn er auf Vorlage entscheidet, gegebenenfalls Klarstellungen vornehmen kann, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (Urteil Halifax u. a., Rn. 77), obliegt es diesem Gericht, festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind (vgl. insbesondere Urteile Eichsfelder Schlachtbetrieb, Rn. 40, und vom 11. Januar 2007, Vonk Dairy Products, C-279/05, Slg. 2007, I-239, Rn. 34). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Prüfung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis verlangt, dass das vorlegende Gericht alle relevanten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls berücksichtigt, und zwar einschließlich der der betreffenden Einfuhr vorangehenden und nachfolgenden Handelstätigkeiten.
35 Hierzu ergibt sich, erstens, in Bezug auf das Ziel der Verordnung Nr. 341/2007 aus deren Erwägungsgründen 13 und 14 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 9 und 10, dass bei der Verwaltung der Zollkontingente der Wettbewerb zwischen den tatsächlichen Einführern zu wahren ist, damit kein einzelner Einführer den Markt beherrschen kann.
36 Im Rahmen von Handelstätigkeiten wie den im Ausgangsverfahren streitigen wird aber dieses Ziel nicht erreicht. Wie sich aus den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen ergibt, erwirbt der Käufer in der Union, der auch ein traditionelle Einführer ist, zwar nicht das Recht, seine Referenzmenge, wie sie in Art. 8 der Verordnung Nr. 341/2007 definiert ist, auf einer Grundlage festsetzen zu lassen, die auch die Warenmengen einschlösse, welche er bei Einführern nach deren Verzollung gekauft hat. Diese Handelstätigkeiten erlauben es ihm also nicht, die Warenmengen erhöhen zu lassen, für die er nach Art. 9 dieser Verordnung A‑Lizenzen beantragen kann. Doch ändert dies nichts daran, dass solche Handelstätigkeiten es dem Käufer in der Union, der zugleich ein traditioneller Einführer ist und infolge der Erschöpfung seiner eigenen A‑Lizenzen Knoblauch nicht mehr zum Präferenzzoll einführen kann, ermöglichen, sich gleichwohl zum Präferenzzoll eingeführten Knoblauch zu beschaffen und seinen Einfluss auf den Markt über den Teil des Zollkontingents, der ihm gewährt wurde, hinaus auszuweiten.
37 Zweitens ist in Bezug auf das in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannte subjektive Element festzustellen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, um annehmen zu können, dass mit den betreffenden Handelstätigkeiten im Wesentlichen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils für den Käufer in der Union bezweckt war, auf Seiten der Einführer der Vorsatz bestanden haben muss, dem Käufer einen solchen Vorteil zu verschaffen, während die Handelstätigkeiten jeglicher wirtschaftlicher oder kommerzieller Rechtfertigung für diese Einführer entbehrten, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Die Feststellung dieses Gerichts, dass solche Handelstätigkeiten nicht der wirtschaftlichen oder kommerziellen Rechtfertigung entbehrten, könnte sich z. B. auf den Umstand stützen, dass der Verkaufspreis der Ware auf einem Niveau festgelegt wurde, das es den Einführern erlaubte, einen bedeutenden Gewinn aus den betroffenen Verkäufen zu ziehen. Ebenso kann die Tatsache berücksichtigt werden, dass nach Art. 35 der Verordnung Nr. 1291/2000 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 341/2007 die Einführer unter Androhung von Sanktionen verpflichtet sind, die ihnen erteilten A‑Lizenzen zu verwenden, und sie daher ein tatsächliches Interesse an der Durchführung von Einfuhren haben, einschließlich derjenigen im Rahmen von Handelstätigkeiten wie den im Ausgangsverfahren fraglichen.
38 In diesem Kontext können derartige Handelstätigkeiten, auch wenn sie durch den Willen des Käufers motiviert sind, in den Genuss des Präferenzzolls zu kommen, und die betreffenden Einführer sich dessen bewusst sind, nicht von vornherein dahin bewertet werden, dass sie jeder wirtschaftlichen oder kommerziellen Rechtfertigung für diese Einführer entbehren.
39 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass unter gewissen Umständen Handelstätigkeiten wie die im Ausgangsverfahren betroffenen künstlich mit dem wesentlichen Ziel geschaffen werden, vom Vorzugstarif zu profitieren. So fällt – wie die Europäische Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt hat – unter die Gesichtspunkte, durch die der künstliche Charakter der Handelstätigkeiten festgestellt werden könnte, der Umstand, dass der Einführer, der Inhaber von A‑Lizenzen ist, kein Geschäftsrisiko trägt, da dieses tatsächlich von seinem Käufer getragen wird, der zugleich ein traditioneller Einführer ist. Ein solcher künstlicher Charakter könnte sich auch aus dem Umstand ergeben, dass die Gewinnspanne der Einführer geringfügig ist oder die Preise des Verkaufs des Knoblauchs durch die Einführer an den Käufer in der Union unter dem Marktpreis liegen.
40 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 4 der Verordnung Nr. 341/2007 in dem Sinne auszulegen ist, dass er grundsätzlich keinen Handelstätigkeiten entgegensteht, durch die ein Einführer, der Inhaber von Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr ist, eine Ware außerhalb der Union von einem Wirtschaftsteilnehmer kauft, der selbst traditioneller Einführer im Sinne des Art. 4 Abs. 2 dieser Verordnung ist, aber seine eigenen Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr ausgeschöpft hat, und die Ware dann, nachdem er sie in die Union eingeführt hat, wieder an diesen Wirtschaftsteilnehmer verkauft. Solche Handelstätigkeiten stellen jedoch einen Rechtsmissbrauch dar, wenn sie künstlich mit dem wesentlichen Ziel geschaffen wurden, in den Genuss des Vorzugstarifs zu gelangen. Die Prüfung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis verlangt, dass das vorlegende Gericht alle relevanten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls berücksichtigt, und zwar einschließlich der betreffenden Einfuhr vorangehender und nachfolgender Handelstätigkeiten.
Kosten
41 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 6 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 341/2007 der Kommission vom 29. März 2007 zur Eröffnung und Verwaltung von Zollkontingenten sowie zur Einführung einer Einfuhrlizenz- und Ursprungsbescheinigungsregelung für aus Drittländern eingeführten Knoblauch und bestimmte andere landwirtschaftliche Erzeugnisse ist in dem Sinne auszulegen, dass er grundsätzlich keinen Handelstätigkeiten entgegensteht, durch die ein Einführer, der Inhaber von Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr ist, eine Ware außerhalb der Union von einem Wirtschaftsteilnehmer kauft, der selbst traditioneller Einführer im Sinne des Art. 4 Abs. 2 dieser Verordnung ist, aber seine eigenen Lizenzen zur zollbegünstigten Einfuhr ausgeschöpft hat, und die Ware dann, nachdem er sie in die Union eingeführt hat, wieder an diesen Wirtschaftsteilnehmer verkauft. Solche Handelstätigkeiten stellen jedoch einen Rechtsmissbrauch dar, wenn sie künstlich mit dem wesentlichen Ziel geschaffen wurden, in den Genuss des Vorzugstarifs zu gelangen. Die Prüfung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis verlangt, dass das vorlegende Gericht alle relevanten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls berücksichtigt, und zwar einschließlich der betreffenden Einfuhr vorangehender und nachfolgender Handelstätigkeiten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Beschluss des Gerichts (Vierte Kammer) vom 19. Januar 2012.#Deutsche Bahn AG u. a. gegen Europäische Kommission.#Streithilfe – Sprachenregelung – EFTA-Überwachungsbehörde – Vertraulichkeit.#Rechtssache T-289/11.
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62011TO0289
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ECLI:EU:T:2012:20
| 2012-01-19T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62011TO0289
BESCHLUSS DES GERICHTS (Vierte Kammer)
19. Januar 2012 (*1)
„Streithilfe — Sprachenregelung — EFTA-Überwachungsbehörde — Vertraulichkeit“
In der Rechtssache T-289/11
Deutsche Bahn AG mit Sitz in Berlin (Deutschland),
DB Mobility Logistics AG mit Sitz in Berlin,
DB Energie GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main (Deutschland),
DB Schenker Rail GmbH mit Sitz in Mainz (Deutschland),
DB Schenker Rail Deutschland AG mit Sitz in Mainz,
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. Deselaers, O. Mross und J. Brückner,
Klägerinnen,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch L. Malferrari, N. von Lingen und R. Sauer als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses K(2011) 1774 der Kommission vom 14. März 2011 in einem Verfahren nach Art. 102 AEUV und Art. 54 des EWR-Abkommens betreffend den Schienenverkehrssektor und Nebenleistungen (Sachen COMP/39.678 und COMP/39.731), mit dem der Deutsche Bahn AG, der DB Mobility Logistics AG, der DB Energie GmbH, der DB Schenker Rail GmbH und der DB Schenker Rail Deutschland AG aufgegeben wurde, Nachprüfungen gemäß Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zu dulden,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin I. Pelikánová, der Richterin K. Jürimäe und des Richters M. van der Woude (Berichterstatter),
Kanzler: E. Coulon,
folgenden
Beschluss
1 Mit Klageschrift, die am 7. Juni 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen, die Deutsche Bahn AG, die DB Mobility Logistics AG, die DB Energie GmbH, die DB Schenker Rail GmbH und die DB Schenker Rail Deutschland AG eine Klage erhoben, die sich erstens auf Nichtigerklärung des Beschlusses K(2011) 1774 der Kommission vom 14. März 2011 richtet, mit dem ihnen aufgegeben wurde, Nachprüfungen gemäß Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zu dulden (Sachen COMP/39.678 und COMP/39.731), zweitens auf Nichtigerklärung jeder Maßnahme, die auf der Grundlage der Nachprüfung getroffen wurde, die aufgrund dieses Beschlusses durchgeführt wurde, und drittens auf Verurteilung der Europäischen Kommission zur Rückgabe sämtlicher Kopien der Dokumente, die im Rahmen dieser Nachprüfung angefertigt wurden.
2 Mit Schreiben, das am 13. September 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Überwachungsbehörde der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) (im Folgenden: EFTA-Behörde) beantragt, in der vorliegenden Rechtssache auf der Grundlage von Art. 115 der Verfahrensordnung des Gerichts und Art. 40 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der nach Art. 53 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, als Streifhelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Außerdem hat sie auf der Grundlage von Art. 35 § 3 Abs. 5 der Verfahrensordnung beantragt, ihr zu gestatten, sich sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Verfahren des Englischen als Verfahrenssprache zu bedienen.
3 Der Streithilfeantrag ist gemäß Art. 116 § 1 der Verfahrensordnung den Parteien zugestellt worden.
4 Mit Schreiben vom 21. und 24. Oktober 2011 haben die Klägerinnen und die Kommission mitgeteilt, dass sie zum Streithilfeantrag der EFTA-Behörde nichts zu bemerken hätten. Sie haben jedoch beantragt, ihr gegenüber einige Aktenstücke vertraulich zu behandeln.
5 Die Präsidentin der Vierten Kammer hat die Entscheidung über den Streithilfeantrag nach Art. 116 § 1 Abs. 3 der Verfahrensordnung dem Gericht (Vierte Kammer) übertragen.
Zum Streithilfeantrag
6 Nach Art. 40 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs können die Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl. 1994, L 1, S. 3), die nicht Mitgliedstaaten sind, und die EFTA-Behörde unbeschadet des Art. 40 Abs. 2 einem beim Gericht anhängigen Rechtsstreit beitreten, wenn dieser einen der Anwendungsbereiche jenes Abkommens betrifft.
7 Nach Art. 40 Abs. 2 der Satzung können natürliche oder juristische Personen, einschließlich der EFTA-Behörde, einem beim Gericht anhängigen Rechtsstreit beitreten, sofern sie ein berechtigtes Interesse an seinem Ausgang glaubhaft machen können, es sei denn, es handelt sich um Rechtssachen zwischen Mitgliedstaaten, zwischen Organen der Union oder zwischen Mitgliedstaaten und Organen der Union.
8 Die vorliegende Rechtssache als Rechtsstreit zwischen einem Unternehmen und einem Organ der Union gehört zum einen nicht zu den Arten von Rechtssachen, bei denen nach dieser Vorschrift ein Beitritt von natürlichen und juristischen Personen als Streithelfer ausdrücklich ausgeschlossen ist.
9 Zum anderen legt Art. 40 Abs. 3 der Satzung fest, unter welchen – außer den nach Art. 40 Abs. 2 ausgeschlossenen – Umständen die Vertragsstaaten des EWR-Abkommens, die nicht Mitgliedstaaten sind, und die EFTA-Behörde ein berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits haben, nämlich dann, wenn der Rechtsstreit einen der Anwendungsbereiche jenes Abkommens betrifft (vgl. entsprechend Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. Juli 2010, Kommission/Portugal, C-493/09, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 11).
10 In diesem Zusammenhang weist die EFTA-Behörde erstens darauf hin, dass der Rechtsstreit insbesondere die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1), der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1) und der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) betreffe. Zweitens falle die Kontrolle von wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen in einen der Anwendungsbereiche des EWR-Abkommens, da der Wortlaut der Art. 53 und 54 des EWR-Abkommens im Wesentlichen dem der Art. 101 AEUV und 102 AEUV entspreche und Art. 55 des EWR-Abkommens die EFTA-Behörde mit der Aufgabe betraue, wettbewerbswidrige Verhaltensweisen ebenso zu prüfen wie die Kommission dies in der Union tue. Außerdem entspreche Kapitel II des Protokolls 4 des Abkommens der EWR-Staaten zur Errichtung einer Überwachungsbehörde und eines Gerichtshofs im Wesentlichen der Verordnung Nr. 1/2003. Ferner gehe aus der Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs hervor, dass die Bestimmungen des EWR-Abkommens im Licht der Grundrechte auszulegen seien, für die die EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wichtige Auslegungsquellen darstellten.
11 Diesen Erwägungen ist zu folgen.
12 Dem Streithilfeantrag der EFTA-Behörde ist daher stattzugeben.
13 Da die in Art. 24 § 6 der Verfahrensordnung erwähnte Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union am 13. August 2011 veröffentlicht wurde, ist der Streithilfeantrag innerhalb der in Art. 115 § 1 der Verfahrensordnung vorgesehenen Frist gestellt worden, und der Streithelferin stehen die Rechte aus Art. 116 § 2 bis 4 dieser Verordnung zu.
14 Was die Anträge auf vertrauliche Behandlung betrifft, ist die Übermittlung der Verfahrensunterlagen in diesem Verfahrensstadium auf die von den Parteien eingereichten nichtvertraulichen Fassungen zu beschränken. Über die Begründetheit der Anträge auf vertrauliche Behandlung wird gegebenenfalls später unter Berücksichtigung etwaiger Einwände oder Stellungnahmen entschieden.
Zum Antrag auf Abweichung von der Sprachenregelung
15 Nach Art. 35 § 3 Abs. 5 der Verfahrensordnung kann den Vertragsstaaten des EWR-Abkommens, die nicht Mitgliedstaaten sind, und der EFTA-Überwachungsbehörde gestattet werden, sich einer anderen als den in Art. 35 § 1 genannten Sprachen zu bedienen, wenn sie einem beim Gericht anhängigen Rechtsstreit als Streithelfer beitreten. Dies gilt sowohl für Schriftstücke als auch für mündliche Erklärungen.
16 Im vorliegenden Fall ist die englische Sprache, deren Verwendung die EFTA-Behörde beantragt, in Art. 35 § 1 der Verfahrensordnung genannt.
17 Außerdem haben die anderen Beteiligten zum Antrag der EFTA-Behörde auf Abweichung von der Sprachenregelung nicht Stellung genommen.
18 Unter diesen Umständen ist es der EFTA-Behörde zu gestatten, sich im schriftlichen und mündlichen Verfahren der englischen Sprache zu bedienen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
beschlossen:
1. Die Überwachungsbehörde der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) wird in der Rechtssache T-289/11 als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Europäischen Kommission zugelassen.
2. Der Kanzler übermittelt der EFTA-Überwachungsbehörde eine nichtvertrauliche Fassung sämtlicher Verfahrensunterlagen.
3. Der EFTA-Überwachungsbehörde wird eine Frist zur Stellungnahme zu den Anträgen auf vertrauliche Behandlung gesetzt. Die Entscheidung über die Begründetheit dieser Anträge bleibt vorbehalten.
4. Der EFTA-Überwachungsbehörde wird eine Frist zur Einreichung eines Streithilfeschriftsatzes gesetzt, unbeschadet der Möglichkeit, diesen später, nach einer Entscheidung über die Begründetheit der Anträge auf vertrauliche Behandlung, gegebenenfalls zu ergänzen.
5. Der EFTA-Überwachungsbehörde wird gestattet, sich im schriftlichen und mündlichen Verfahren der englischen Sprache zu bedienen.
6. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Luxemburg, den 19. Januar 2012
Der Kanzler
E. Coulon
Die Präsidentin
I. Pelikánová
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofes (Achte Kammer) vom 12. Dezember 2013. # Europäische Kommission gegen Italienische Republik. # Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Staatliche Beihilfen - Vorzugsstromtarif - Beschluss 2011/746/EU - Mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfen - Rückforderung - Keine Umsetzung innerhalb der festgesetzten Frist. # Rechtssache C-411/12.
|
62012CJ0411
|
ECLI:EU:C:2013:832
| 2013-12-12T00:00:00 |
Gerichtshof, Sharpston
|
Sammlung der Rechtsprechung 2013 -00000
|
EUR-Lex - CELEX:62012CJ0411 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 13. Dezember 2013. # Ungarn gegen Europäische Kommission. # Rechtssache T-240/10.
|
62010TJ0240
|
ECLI:EU:T:2013:645
| 2013-12-13T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑240/10
Ungarn, vertreten durch M. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
Kläger,
unterstützt durch
Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues und S. Menez als Bevollmächtigte,
durch
Großherzogtum Luxemburg, vertreten zunächst durch C. Schiltz, dann durch P. Frantzen und schließlich durch L. Delvaux und D. Holderer als Bevollmächtigte,
durch
Republik Österreich, vertreten durch C. Pesendorfer und E. Riedl als Bevollmächtigte,
und durch
Republik Polen, vertreten zunächst durch M. Szpunar, B. Majczyna und J. Sawicka, dann durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
gegen
Europäische Kommission, vertreten zunächst durch A. Sipos und L. Pignataro-Nolin, dann durch A. Sipos und D. Bianchi als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses 2010/135/EU der Kommission vom 2. März 2010 über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses ( Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 53, S. 11) sowie des Beschlusses 2010/136/EU der Kommission vom 2. März 2010 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Futtermitteln, die aus der genetisch veränderten Kartoffelsorte EH92‑527‑1 (BPS‑25271‑9) gewonnen werden, und des zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandenseins dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 53, S. 15)
erlässt
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin I. Labucka in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, des Richters S. Frimodt Nielsen und der Richterin M. Kancheva (Berichterstatterin),
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rechtlicher Rahmen
Genehmigungsverfahren für das Inverkehrbringen genetisch veränderter Organismen
1. Die unionsrechtliche Regelung für die Genehmigung des Inverkehrbringens genetisch veränderter Organismen (im Folgenden: GVO) beruht auf dem Vorsorgeprinzip und insbesondere auf dem Grundsatz, dass diese Organismen bzw. die Erzeugnisse, die sie enthalten, nur dann in die Umwelt freigesetzt oder in den Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie Gegenstand einer Genehmigung sind, die nach einer wissenschaftlichen Risikobewertung im Einzelfall im Hinblick auf spezifische Verwendungen und unter bestimmten Voraussetzungen erteilt wurde.
2. Diese Regelung umfasst zwei maßgebliche Rechtsakte. Der erste betrifft die absichtliche Freisetzung von GVO in die Umwelt im Allgemeinen und der zweite speziell genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel.
3. Der erstgenannte Rechtsakt ist die Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. L 106, S. 1).
4. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/18 lautet:
„Vor der Anmeldung gemäß Teil B [Absichtliche Freisetzung von GVO zu anderen Zwecken als dem Inverkehrbringen] oder Teil C [Inverkehrbringen von GVO als Produkte oder in Produkten] hat der Verantwortliche eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen. Die zur Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung gegebenenfalls erforderlichen Informationen sind in Anhang III aufgeführt. Die Mitgliedstaaten und die Kommission sorgen dafür, dass GVO, die Gene enthalten, welche Resistenz gegen in der ärztlichen oder tierärztlichen Behandlung verwendete Antibiotika vermitteln, bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung besonders berücksichtigt werden, und zwar im Hinblick auf die Identifizierung und schrittweise Einstellung der Verwendung von Antibiotikaresistenzmarkern in GVO, die schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt haben können. Diese schrittweise Einstellung der Verwendung erfolgt im Falle von gemäß Teil C in den Verkehr gebrachten GVO bis zum 31. Dezember 2004 und im Falle von gemäß Teil B zugelassenen GVO bis zum 31. Dezember 2008.“
5. In Anhang II der geänderten Richtlinie 2001/18 werden allgemein das zu erreichende Ziel, die zu bedenkenden Faktoren sowie die zu befolgenden Grundprinzipien und die Methodik zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung, wie in Art. 4 der Richtlinie erwähnt, beschrieben. Diese Richtlinie ist im Zusammenhang zu sehen mit der Entscheidung 2002/623/EG der Kommission vom 24. Juli 2002 über Leitlinien zur Ergänzung des Anhangs II der Richtlinie 2001/18 (ABl. L 200, S. 22).
6. Das durch die Richtlinie 2001/18, insbesondere ihre Art. 13 bis 19, harmonisierte Verfahren geht von dem Grundsatz aus, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, die von einem Unternehmen eine Anmeldung erhalten hat, die eine Umweltverträglichkeitsprüfung umfasst, eine Genehmigung erteilt, zu der die zuständigen Behörden der übrigen Mitgliedstaaten oder die Europäische Kommission Bemerkungen oder Einwände vortragen können.
7. Art. 18 („Gemeinschaftsverfahren im Falle von Einwänden“) Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2001/18 bestimmt:
„In Fällen, in denen ein Einwand geltend gemacht und von einer zuständigen Behörde oder der Kommission gemäß den Artikeln 15, 17 und 20 aufrechterhalten wird, wird nach dem Verfahren des Artikels 30 Absatz 2 innerhalb von 120 Tagen eine Entscheidung getroffen und veröffentlicht. …“
8. Art. 30 („Ausschussverfahren“) Abs. 2 der Richtlinie 2001/18 verweist auf das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (ABl. L 184, S. 23) vorgesehene Verfahren, den so genannten „Komitologiebeschluss“, in der durch den Beschluss 2006/512/EG des Rates vom 17. Juli 2006 (ABl. L 200, S. 11) geänderten Fassung.
9. Der zweite maßgebliche Unionsrechtsakt zur Genehmigungsregelung für das Inverkehrbringen von GVO ist die Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel (ABl. L 268, S. 1). Mit dieser Verordnung wurde eine einheitliche, im Verhältnis zu der allgemeinen harmonisierten Regelung der Richtlinie 2001/18 spezielle Regelung für die Genehmigung von genetisch veränderten Lebensmitteln (Kapitel II) und genetisch veränderten Futtermitteln (Kapitel III) eingeführt. Nach dieser einheitlichen Regelung wird ein Genehmigungsantrag unmittelbar auf Unionsebene in Absprache mit den Mitgliedstaaten beurteilt, und der endgültige Beschluss über die Genehmigung wird von der Kommission oder gegebenenfalls vom Rat der Europäischen Union getroffen.
10. Die Kommission und der Rat stützen ihre Beschlüsse auf wissenschaftliche Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31, S. 1) unterliegt. In dieser Verordnung sind die allgemeinen Grundsätze der Risikobewertung in allen Bereichen festgelegt, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit auswirken, unter Einbeziehung von GVO. Die EFSA ist auch dafür zuständig, im Rahmen des Gemeinschaftsverfahrens im Fall von Einwänden gemäß der Richtlinie 2001/18 Risikobewertungen durchzuführen.
11. Art. 7 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 1829/2003 sind wortgleich und stehen in den Kapiteln II bzw. III der Verordnung. Sie lauten:
„(1) Die Kommission legt dem in Artikel 35 genannten Ausschuss innerhalb von drei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme der [EFSA] einen Entwurf für eine Entscheidung über den Antrag vor, wobei die Stellungnahme der [EFSA], die einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und andere legitime Faktoren berücksichtigt werden, die für den jeweils zu prüfenden Sachverhalt relevant sind. Stimmt der Entscheidungsentwurf nicht mit der Stellungnahme der [EFSA] überein, erläutert die Kommission die betreffenden Unterschiede.
…
(3) Die endgültige Entscheidung über den Antrag wird nach dem in Artikel 35 Absatz 2 genannten Verfahren getroffen.“
12. Art. 35 („Ausschussverfahren“) Abs. 2 der Verordnung Nr. 1829/2003 verweist ebenso wie die Richtlinie 2001/18 (siehe oben, Randnr. 8) auf das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 vorgesehene Verfahren.
Regelungsverfahren
13. Art. 5 („Regelungsverfahren“) des Beschlusses 1999/468 in der durch den Beschluss 2006/512 geänderten Fassung lautet:
„(1) Die Kommission wird von einem Regelungsausschuss unterstützt, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt und in dem der Vertreter der Kommission den Vorsitz führt.
(2) Der Vertreter der Kommission unterbreitet dem Ausschuss einen Entwurf der zu treffenden Maßnahmen. Der Ausschuss gibt seine Stellungnahme zu diesem Entwurf innerhalb einer Frist ab, die der Vorsitzende unter Berücksichtigung der Dringlichkeit der betreffenden Frage festsetzen kann. Die Stellungnahme wird mit der Mehrheit abgegeben, die in Artikel 205 Absätze 2 und 4 des Vertrags für die Annahme der vom Rat auf Vorschlag der Kommission zu fassenden Beschlüsse vorgesehen ist. Bei der Abstimmung im Ausschuss werden die Stimmen der Vertreter der Mitgliedstaaten gemäß dem vorgenannten Artikel gewogen. Der Vorsitzende nimmt an der Abstimmung nicht teil.
(3) Die Kommission erlässt unbeschadet des Artikels 8 die beabsichtigten Maßnahmen, wenn sie mit der Stellungnahme des Ausschusses übereinstimmen.
(4) Stimmen die beabsichtigten Maßnahmen mit der Stellungnahme des Ausschusses nicht überein oder liegt keine Stellungnahme vor, so unterbreitet die Kommission dem Rat unverzüglich einen Vorschlag für die zu treffenden Maßnahmen und unterrichtet das Europäische Parlament.
(5) Ist das Europäische Parlament der Auffassung, dass ein Vorschlag, den die Kommission auf der Grundlage eines gemäß Artikel 251 des Vertrags erlassenen Basisrechtsakts unterbreitet hat, über die in diesem Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgeht, so unterrichtet es den Rat über seinen Standpunkt.
(6) Der Rat kann, gegebenenfalls in Anbetracht eines solchen etwaigen Standpunkts, innerhalb einer Frist, die in jedem Basisrechtsakt festzulegen ist, die keinesfalls aber drei Monate von der Befassung des Rates an überschreiten darf, mit qualifizierter Mehrheit über den Vorschlag befinden.
Hat sich der Rat innerhalb dieser Frist mit qualifizierter Mehrheit gegen den Vorschlag ausgesprochen, so überprüft die Kommission den Vorschlag. Die Kommission kann dem Rat einen geänderten Vorschlag vorlegen, ihren Vorschlag erneut vorlegen oder einen Vorschlag für einen Rechtsakt auf der Grundlage des Vertrags vorlegen.
Hat der Rat nach Ablauf dieser Frist weder den vorgeschlagenen Durchführungsrechtsakt erlassen noch sich gegen den Vorschlag für die Durchführungsmaßnahmen ausgesprochen, so wird der vorgeschlagene Durchführungsrechtsakt von der Kommission erlassen.“
14. Die Regelungsausschüsse, die zuständig sind, um an der Ausübung der der Kommission gemäß der Richtlinie 2001/18 und der Verordnung Nr. 1829/2003 übertragenen Durchführungsbefugnisse mitzuwirken, sind der nach Art. 30 Abs. 1 der genannten Richtlinie eingeführte Regelungsausschuss betreffend die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und der Ständige Ausschuss für die Lebensmittelkette und die Tiergesundheit nach Art. 35 Abs. 1 der genannten Verordnung, der gemäß Art. 58 der Verordnung Nr. 178/2002 eingeführt wurde.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Das genehmigte Erzeugnis
15. Die genetisch veränderte Kartoffel mit der Bezeichnung „Amflora“ ( Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) ist eine Kartoffel mit verändertem Stärkegehalt. Sie ist gekennzeichnet durch einen erhöhten Amylopectingehalt, so dass ihre Stärke nahezu ausschließlich aus Amylopectin besteht. Dadurch unterscheidet sie sich von einer genetisch nicht veränderten Kartoffel, deren Stärke sich aus etwa 15 % bis 20 % Amylose und etwa 80 % bis 85 % Amylopectin zusammensetzt. Sie ermöglicht eine optimierte Extraktion von Amylopectin für industrielle Anwendungen, insbesondere die Herstellung von Papier, Textilien oder Klebstoff.
16. Die genetische Veränderung erfolgt durch die Einführung eines sogenannten nptII-Gens (Neomycin-Phosphotransferase II) (im Folgenden: nptII-Gen). Das nptII-Gen gehört zur Kategorie der Antibiotikaresistenz-Markergene (ARMG). Bei der genetischen Veränderung besteht die Aufgabe der Markergene darin, zusammen mit dem Gen, das das gewünschte Merkmal trägt, die Zellen zu markieren, in denen die Operation geglückt ist. Die ARMG üben ihre Funktion mit Hilfe der Antibiotikaresistenz aus. Das nptII-Gen weist insbesondere Resistenz gegenüber den Antibiotika Neomycin, Kanamycin und Geneticin auf, die zur Familie der Aminoglykoside gehören.
Zulassungsanträge
17. Am 5. August 1996 erhielt die zuständige schwedische Behörde von einer Tochtergesellschaft der BASF Plant Science GmbH (im Folgenden: BASF), der Amylogene HB, jetzt Plant Science Sweden AB, eine Anmeldung gemäß der Richtlinie 90/220. Diese Anmeldung enthielt einen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen der Kartoffel Amflora, um diese zu industriellen Zwecken anzubauen (Stärkeherstellung) und um Folgeerzeugnisse (Kartoffelteig) zu gewinnen, verbunden mit dem Hinweis auf die Erzeugung von Futtermitteln und darauf, dass Spuren dieser Kartoffel in Lebensmitteln enthalten sein könnten.
18. Nach Inkrafttreten der Richtlinie 2001/18 am 17. April 2001 und der Verordnung Nr. 1829/2003 am 7. November 2003 teilte BASF ihre Anmeldung bei der zuständigen schwedischen Behörde in zwei Teile auf: Der erste betraf den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen der Kartoffel Amflora zum Zweck ihres Anbaus und ihrer Verwendung zu industriellen Zwecken, und der zweite bezog sich auf den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen zur Erzeugung von Futtermitteln und auf das Vorhandensein von Spuren in Lebensmitteln. BASF zog den zweiten Teil ihrer Anmeldung bei der genannten Behörde zurück, um den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen nach dem in der Verordnung Nr. 1829/2003 vorgesehenen einheitlichen Verfahren zu stellen. Den ersten Teil ihrer bei dieser Behörde nach der Richtlinie 2001/18 vorgenommenen Anmeldung hielt sie jedoch aufrecht. Im Dezember 2003 fügte sie diesem ersten Teil eine Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß Anhang II der Richtlinie 2001/18 bei.
19. Am 8. April 2004 verabschiedete die zuständige schwedische Behörde ihren Bewertungsbericht und übermittelte ihn der Kommission. Sie stellte darin fest, dass eine Verwendung des Erzeugnisses zu industriellen Zwecken zwar sicher sei, doch sei es wichtig, es nicht in die Lebensmittelkette gelangen zu lassen, weil seine Verwendung zu Ernährungszwecken keiner umfassenden Bewertung unterzogen worden sei. Im Ergebnis stellte sie fest, dass die Amflora-Kartoffel unter den festgelegten Bedingungen und zu den von der Anmelderin vorgesehenen Zwecken in den Verkehr gebracht werden könne.
20. Die Kommission übermittelte den Bewertungsbericht der zuständigen schwedischen Behörde an die zuständigen Behörden der übrigen Mitgliedstaaten, von denen mehrere, darunter Ungarn, schriftliche Erklärungen abgaben. Ungarn machte in seinen Erklärungen vom 3. Juli 2004 geltend, der Anmelder müsse zum einen, bevor die Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt werde, ein quantitatives Nachweisverfahren durchführen und zum anderen weitere Untersuchungen hinsichtlich der Verwendung der Amflora-Kartoffel als Futtermittel und ihrer etwaigen schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit vornehmen. Dabei sei die Gefahr einer Kontamination der Lebensmittelkette zu berücksichtigen.
21. Am 9. Februar 2005 beauftragte die Kommission die EFSA gemäß Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 sowie den Art. 22 und 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 178/2002 mit einer Risikobewertung.
22. Gleichzeitig stellte BA SF am 28. Februar 2005 bei der zuständigen Behörde des Vereinigten Königreichs einen Genehmigungsantrag bezüglich der Produktion von Futtermitteln und Lebensmitteln gemäß den Art. 5 und 17 der Verordnung Nr. 1829/2003. Am 25. April 2005 wurde diese Anmeldung der Kommission gemäß Art. 6 Abs. 4 und Art. 18 Abs. 4 derselben Verordnung übermittelt.
Risikobewertungen und Ausschussverfahren
23. Am 2. April 2004 erstellte das wissenschaftliche Gremium für GVO der EFSA (im Folgenden: GVO-Gremium) auf eigene Initiative ein Gutachten über die Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen (EFSA-Anfrage Q-2003-109, The EFSA Journal [2004] 48, 1‑18, im Folgenden: Gutachten von 2004). Darin präsentierte die EFSA ein auf verschiedene Kriterien gestütztes System zur Klassifizierung der ARMG in drei Gruppen. Insbesondere enthielt die Gruppe I die ungefährlichsten ARMG ‐ diejenigen, die in der Erde und enterischen Bakterien bereits weit verbreitet sind ‐, die gegen Antibiotika, die keine oder lediglich geringe therapeutische Bedeutung in der Human‑ und der Veterinärmedizin haben, Resistenz verleihen. Außerdem nahm die EFSA nach diesem Klassifizierungssystem in drei Gruppen eine Einteilung der bekannten ARMG vor, die erhebliche Auswirkungen im Hinblick auf die (für die Gruppen I und II, nicht jedoch für die Gruppe III empfohlene) Genehmigung dieser Gene zu experimentellen Zwecken und das (lediglich für die Gruppe I, nicht jedoch für die Gruppen II und III empfohlene) Inverkehrbringen hatte. Das nptII-Gen, das von den ARMG am häufigsten für die Auswahl von genetisch veränderten Pflanzen verwendet wird, wurde in die Gruppe I eingestuft.
24. Am 7. Dezember 2005 erstellte das GVO-Gremium zwei inhaltlich sehr ähnliche Gutachten. In dem ersten über das Inverkehrbringen der Amflora-Kartoffel zum Zweck des Anbaus und der industriellen Herstellung von Stärke, das am 24. Februar 2006 veröffentlicht wurde (EFSA-Anfrage Q-2005-023, The EFSA Journal [2006] 323, 1-20, im Folgenden: Gutachten von 2005), kam die EFSA im Wesentlichen zu dem Ergebnis, es sei unwahrscheinlich, dass das Inverkehrbringen der genannten Kartoffel im Rahmen der vorgeschlagenen Verwendungszwecke schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf die Umwelt haben könnte. In dem zweiten Gutachten über die Vermarktung dieser Kartoffel zur Verwendung in Lebens- oder Futtermitteln, das am 10. November 2006 veröffentlicht wurde (EFSA-Anfrage Q-2005-070, The EFSA Journal [2006] 324, 1-20), kam die EFSA ebenfalls zu dem Ergebnis, dass im Rahmen der vorgeschlagenen Verwendungszwecke schädliche Auswirkungen unwahrscheinlich seien.
25. Am 4. Dezember 2006 wurde im Regelungsausschuss betreffend die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt gemäß Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 1999/468 ein von der Kommission unterbreiteter Entwurf eines Beschlusses über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses ( Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18 erörtert. In dem genannten Ausschuss ergab sich keine qualifizierte Mehrheit für oder gegen diesen von der Kommission vorgelegten Entwurf von Maßnahmen. Das Abstimmungsergebnis lautete 134 gegen 109 Stimmen bei 78 Stimmenthaltungen.
26. Am 25. Januar 2007 bat die Kommission die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) zu prüfen, ob ‐ angesichts der Stellungnahme der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Aminoglykoside (zu denen Neomycin und Kanamycin gehören) als überaus wichtige Antibiotika eingestuft hatte ‐ die derzeitigen oder für die Zukunft in Betracht kommenden Verwendungen dieser Antibiotika noch immer mit dem Gutachten der EFSA von 2004 im Einklang stünden, wonach diese Antibiotika keine oder lediglich geringe therapeutische Bedeutung hätten.
27. Am 22. Februar 2007 erließ die EMA eine Erklärung (im Folgenden: Erklärung der EMA von 2007), wonach die Verwendung von Neomycin und Kanamycin in der Human‑ und Veterinärmedizin wichtig sei und die derzeitigen oder für die Zukunft in Betracht kommenden Verwendungen dieser Antibiotika nicht als eine Verwendung eingestuft werden könnten, die keine oder lediglich geringe therapeutische Bedeutung habe.
28. Am 23. März 2007 erließ das von der Kommission konsultierte GVO-Gremium eine Erklärung (im Folgenden: Erklärung der EFSA von 2007), in der es vorab seine Übereinstimmung mit der EMA zum Ausdruck brachte, dass es wichtig sei, das therapeutische Potenzial der Aminoglykoside, d. h. auch von Neomycin und Kanamycin, zu erhalten. Anschließend bekräftigte es unter Hinweis insbesondere auf die äußerst geringe Wahrscheinlichkeit eines horizontalen Transfers des nptII-Gens von Pflanzen auf Bakterien seine Auffassung, dass die Verwendung des nptII-Gens in GVO und deren Folgeerzeugnissen mit keinen Risiken für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt verbunden sei.
29. Mangels einer qualifizierten Mehrheit im Ausschuss für oder gegen die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen (siehe oben, Randnr. 25) unterbreitete die Kommission dem Rat am 13. Juni 2007 einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses ( Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18. Am 16. Juli 2007 wurde in der Sitzung des Rates die zur Annahme oder zur Zurückweisung dieses von der Kommission unterbreiteten Vorschlags erforderliche qualifizierte Mehrheit nicht erreicht.
30. Am 10. Oktober 2007 erörterte der Ständige Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit gemäß Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 1999/468 einen von der Kommission vorgelegten Entwurf für eine Genehmigung des Inverkehrbringens der Kartoffel Amflora zur Verwendung in Lebens- oder Futtermitteln gemäß der Verordnung Nr. 1829/2003. Im Ausschuss fand sich keine qualifizierte Mehrheit für oder gegen diesen von der Kommission vorgelegten Entwurf von Maßnahmen. Das Abstimmungsergebnis lautete 123 gegen 133 Stimmen bei 89 Stimmenthaltungen. Am 18. Dezember 2007 unterbreitete die Kommission dem Rat mangels einer qualifizierten Mehrheit im Ausschuss einen Vorschlag für einen Beschluss zum selben Thema.
31. Am 13. Februar 2008 sandte eine Nichtregierungsorganisation (NRO) dem für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständigen Kommissar im Hinblick auf die Sitzung des Rates ein Schreiben, dem zufolge der Vorschlag der Kommission Unstimmigkeiten enthielt. In dem Vorschlag werde nämlich zum einen nicht erwähnt, dass die EFSA die Antibiotika, die von der genetisch veränderten Kartoffel betroffen seien, in ihrem Gutachten von 2004 zu Unrecht als für die Human‑ und die Veterinärmedizin unerheblich eingestuft habe, während die EMA und die WHO sie als überaus wichtig ansähen. Zum anderen habe die EFSA ihren diesbezüglichen Fehler in ihrer Erklärung von 2007 zugegeben, es jedoch versäumt, daraus die gebotenen logischen Schlüsse zu ziehen und demzufolge das nptII-Gen aus der Gruppe I auszuschließen und gemäß der im Gutachten der EFSA von 2004 vorgesehenen Klassifizierung in die Gruppe II oder III einzustufen.
32. Am 18. Februar 2008 wurde in der Sitzung des Rates die zur Annahme oder zur Zurückweisung des von der Kommission unterbreiteten Vorschlags erforderliche qualifizierte Mehrheit nicht erreicht.
33. Am 14. März 2008 übermittelten die dänischen Minister für Ernährung, für Landwirtschaft und für Fischerei sowie für Umwelt den für Gesundheitsfragen und für die Umwelt zuständigen Kommissionsmitgliedern ein Schreiben, in dem sie darauf hinwiesen, dass die dänischen Sachverständigen mit der EFSA zwar darin übereinstimmten, dass das nptII-Gen ungefährlich sei, doch bestehe zwischen dem Gutachten der EFSA von 2004 und der Erklärung der EFSA von 2007 im Hinblick auf die Einstufung des nptII-Gens nach den Kriterien des Gutachtens von 2004 eine Unstimmigkeit, die die Kommission und die EFSA klären sollten.
34. Am 14. Mai 2008 erteilte die Kommission der EFSA gestützt auf Art. 29 der Verordnung Nr. 178/2002 ein „Mandat für die Erstellung eines konsolidierten Gutachtens über die Verwendung von antibiotikaresistenten Genen als Markergene in genetisch veränderten Pflanzen“. Gemäß diesem Mandat wollte die Kommission hinsichtlich der Frage der Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen, die Gegenstand zweier Sicherheitsbewertungen der EFSA waren ‐ im Gutachten von 2004 und, auf die Erklärung der EMA von 2007 hin, in der Erklärung vom März 2007 ‐, „jegliches Missverständnis ausschließen“. In dem Mandat verlangte die Kommission von der EFSA erstens, ein konsolidiertes wissenschaftliches Gutachten unter Berücksichtigung früherer Gutachten und Erklärungen zu erstellen mit Angabe der Gründe, auf denen die Schlussfolgerungen der EFSA beruhten, und zweitens, anzugeben, welche Auswirkungen dieses neue Gutachten auf die früheren Bewertungen haben könnte, die die EFSA bei genetisch veränderten Pflanzen mit ARMG gemacht habe. Die Kommission forderte die EFSA ausdrücklich auf, mit der EMA eng zusammenzuarbeiten, und fügte diesem neuen Mandat die Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung bei.
35. Mit Klageschrift, die am 24. Juli 2008 bei der Kanzlei des Gerichts einging, reichten BASF, die Plant Science Sweden AB, die Amylogene HB und die BASF Plant Science Holding GmbH eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission ein, um feststellen zu lassen, dass diese dadurch, dass sie es unterlassen hat, einen Beschluss über die Anmeldung betreffend das Inverkehrbringen der genetisch veränderten Kartoffel Amflora zu erlassen, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 und Art. 5 des Beschlusses 1999/468 verstoßen hat.
36. Am 11. bzw. am 26. März 2009 erließen das GVO-Gremium und das wissenschaftliche Gremium der EFSA für biologische Gefahren (im Folgenden: BIOHAZ-Gremium) auf das erste Ersuchen der Kommission hin eine Gemeinsame Stellungnahme mit dem Titel „Verwendung von Antibiotikaresistenzgenen als Markergene in genetisch veränderten Pflanzen“ (EFSA-Anfragen Q-2008-411 und Q‑2008-706, The EFSA Journal [2009] 1034, 1-82, im Folgenden: Gemeinsame Stellungnahme von 2009). Die EFSA räumte zwar ein, dass die Antibiotika Kanamycin und Neomycin von überaus großer therapeutischer Bedeutung seien, verwies jedoch insbesondere darauf, dass der Nachweis für einen horizontalen Transfer von ARMG genetisch veränderter Pflanzen auf in der Umwelt enthaltene Bakterien nicht nachgewiesen sei. Sie kam zu dem Ergebnis, dass nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand ‐ trotz der Ungewissheiten, insbesondere in Bezug auf die Probenahme, die Erkennung, die Schwierigkeit, das Ausmaß der Exposition zu schätzen, und die Unmöglichkeit, die übertragbaren Resistenzgene einer bestimmten Quelle zuzuordnen ‐ schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen oder auf die Umwelt infolge der Verwendung genetisch veränderter Pflanzen und des Transfers des ARMG nptII von diesen Pflanzen auf Bakterien unwahrscheinlich seien.
37. Zwei Mitglieder des BIOHAZ-Gremiums vertraten jedoch eine Minderheitsauffassung, insbesondere im Hinblick auf die wissenschaftlichen Ungewissheiten im Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit eines horizontalen Transfers des nptII-Gens auf Bakterien. Die Vertreter dieser Auffassungen schlugen im Wesentlichen vor, festzustellen, dass es unklug wäre, eine Antibiotikaresistenz als belanglos oder als von geringfügiger Bedeutung zu bezeichnen, und dass es allgemein nicht möglich sei, bei einem etwaigen Transfer die schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen und die Umwelt einzuschätzen.
38. Am 25. März 2009 erließ das GVO-Gremium auf das zweite Ersuchen der Kommission hin eine Stellungnahme mit dem Titel „Auswirkungen der Stellungnahme zur Verwendung von Antibiotikaresistenzgenen als Markergene in genetisch veränderten Pflanzen auf frühere von der EFSA durchgeführte Bewertungen einzelner (genetisch veränderter) Pflanzen“ (EFSA-Anfrage Q-2008-04977, The EFSA Journal [2009] 1035, 1-9), in der sie im Ergebnis feststellte, dass keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlägen, die ihr Anlass zu einer Änderung ihres früheren Gutachtens gäben.
39. Am 28. April 2009 fragte die Leiterin der EFSA die Vorsitzenden des GVO-Gremiums und des BIOHAZ-Gremiums sowie der Gemeinsamen Arbeitsgruppe, ob aufgrund der beiden Minderheitsauffassungen zusätzliche wissenschaftliche Arbeiten erforderlich seien. Am 25. Mai 2009 antworteten die genannten Vorsitzenden, dass der Inhalt der beiden Minderheitsauffassungen bei der Erstellung der Gemeinsamen Stellungnahme von 2009 weitgehend berücksichtigt worden sei, so dass die Gemeinsame Stellungnahme von 2009 in wissenschaftlicher Hinsicht weder ergänzender Erläuterungen noch zusätzlicher wissenschaftlicher Arbeiten bedürfe.
40. Am 11. Juni 2009 nahm die EFSA ein konsolidiertes wissenschaftliches Gutachten an, bestehend aus der Gemeinsamen Stellungnahme von 2009, der Stellungnahme vom 25. März 2009, dem Schreiben vom 28. April 2009 und dem Schreiben vom 25. Mai 2009 (EFSA-Anfragen Q‑2009-00589 und Q-2009-00593, The EFSA Journal [2009] 1108, 1-8, im Folgenden: Konsolidiertes Gutachten von 2009).
41. Nach diesem konsolidierten wissenschaftlichen Gutachten wurden die zuständigen Regelungsausschüsse von der Kommission mit keinen neuen Projekten für den Erlass von Zulassungsbeschlüssen befasst.
Zulassungsbeschlüsse
42. Am 2. März 2010 erließ die Kommission gestützt auf Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2001/18 den Beschluss 2010/135/EU über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses ( Solanum tuberosum L. Linie EH92-527-1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18 (ABl. L 53, S. 11). Dieser Beschluss erlaubt im Wesentlichen das Inverkehrbringen der Amflora-Kartoffel zum Zweck ihres Anbaus und zur Produktion von Stärke zu industriellen Zwecken.
43. Die Erwägungsgründe 11 und 12 des Beschlusses 2010/135 lauten:
„(11) Am 14. Mai 2008 ersuchte die Kommission die EFSA um Folgendes: i) ein konsolidiertes wissenschaftliches Gutachten zu erstellen, wobei sie das frühere Gutachten und die Stellungnahme über die Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen berücksichtigen sollte, die in Verkehr gebracht werden sollen oder bereits in Verkehr gebracht werden dürfen, sowie ihre Verwendung für Einfuhr, Verarbeitung und Anbau in Betracht ziehen sollte; ii) die Auswirkungen zu erläutern, die dieses konsolidierte Gutachten auf die früheren Bewertungen der EFSA zu einzelnen GVO mit ARMG haben könnte. Im Rahmen des Ersuchens wurde die EFSA u. a. auf Schreiben von Dänemark und [einer NRO] an die Kommission hingewiesen.
(12) Am 11. Juni 2009 veröffentlichte die EFSA eine Stellungnahme über die Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen und kam darin zu dem Schluss, dass die frühere Bewertung der EFSA zu Solanum tuberosum L. Linie EH92-527-1 mit der in der Stellungnahme dargelegten Risikobewertungsstrategie übereinstimmt und dass keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die die EFSA zu einer Änderung ihres früheren Gutachtens veranlassen würden.“
44. Art. 1 („Zustimmung“) des Beschlusses 2010/135 sieht vor:
„Unbeschadet sonstiger Rechtsvorschriften der [Union], insbesondere der Verordnung … Nr. 1829/2003, erteilt die zuständige Behörde Schwedens gemäß dem vorliegenden Beschluss die schriftliche Zustimmung zum Inverkehrbringen des in Artikel 2 genannten Erzeugnisses, das das Unternehmen BASF Plant Science angemeldet hat (Aktenzeichen C/SE/96/3501).
Gemäß Artikel 19 Absatz 3 der Richtlinie 2001/18/EG enthält die Zustimmung ausdrücklich die Bedingungen für deren Erteilung gemäß den Artikeln 3 und 4 des vorliegenden Beschlusses.“
45. Art. 2 („Erzeugnis“) Abs. 1 des Beschlusses 2001/135 lautet:
„Bei den [GVO], die als Erzeugnisse oder in Erzeugnissen in Verkehr gebracht werden sollen, nachstehend ‚Erzeugnis‘ genannt, handelt es sich um Kartoffeln/Erdäpfel[(1) ] ( Solanum tuberosum L.), die zur Erzielung eines erhöhten Amylopectingehalts in der Stärke mittels Agrobacterium tumefaciens unter Verwendung des Vektors pHoxwG die Linie EH92-527-1 ergaben. Das Erzeugnis enthält folgende DNS-Sequenzen in zwei Genkassetten:
a) … Ein von Tn5 stammendes nptII -Gen, das die Resistenz gegen Kanamycin verleiht …;
b) … Ein Segment des gbss-Gens der Kartoffel/des Erdapfels, das an Körner gebundenes Stärkesynthase-Protein kodiert …“
46. Art. 3 des Beschlusses 2010/135 bestimmt im Rahmen der Zustimmungsbedingungen u. a., dass die Geltungsdauer der Zustimmung ab dem Zeitpunkt ihrer Erteilung zehn Jahre beträgt, dass der Zustimmungsinhaber dafür Sorge trägt, dass die Knollen der Amflora-Kartoffel bei Anpflanzung, Anbau, Ernte, Transport, Lagerung und Handhabung in der Umwelt von Kartoffeln/Erdäpfeln räumlich getrennt sind, die zur Verwendung als Lebensmittel oder Futtermittel bestimmt sind, und ausschließlich an ausgewiesene Stärkeherstellungsbetriebe geliefert werden, die bei der zuständigen einzelstaatlichen Behörde für die Herstellung industrieller Stärke in einem geschlossenen System … angemeldet sind.
47. Art. 4 des Beschlusses 2010/135 sieht u. a. vor, dass der Zustimmungsinhaber während der gesamten Geltungsdauer der Zustimmung sicherstellt, dass der Plan zur Überwachung auf etwaige schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier oder auf die Umwelt durch die Handhabung oder die Verwendung des Erzeugnisses vorgelegt und umgesetzt wird. Dieser Überwachungsplan umfasst die spezifische und die allgemeine Überwachung sowie ein Identitätssicherungssystem.
48. Gemäß Art. 5 des Beschlusses 2010/135 ist dieser Beschluss an das Königreich Schweden gerichtet.
49. Am 2. März 2010 nahm die Kommission gestützt auf Art. 7 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1829/2003 auch den Beschluss 2010/136 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Futtermitteln, die aus der genetisch veränderten Kartoffelsorte EH92‑527‑1 (BPS‑25271‑9) gewonnen werden, und des zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandenseins dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln gemäß der [Verordnung Nr. 1829/2003] (ABl. L 53, S. 15) an. Dieser Beschluss erlaubt im Wesentlichen das Inverkehrbringen von Futtermitteln, die aus der Amflora-Kartoffel gewonnen werden, und das zufällige Vorhandensein von Spuren dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln.
50. Die Erwägungsgründe 7 und 8 des Beschlusses 2010/136 stimmen mit den Erwägungsgründen 11 und 12 des Beschlusses 2010/135 (siehe oben, Randnr. 43) wörtlich überein.
51. Art. 2 („Zulassung“) des Beschlusses 2010/136 sieht vor:
„Folgende Erzeugnisse werden für die Zwecke von Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 16 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 gemäß den in diesem Beschluss aufgeführten Bedingungen zugelassen:
a) Futtermittel, die aus der Kartoffelsorte [Amflora] gewonnen werden.
b) Lebensmittel, die die Kartoffelsorte [Amflora] enthalten, aus dieser bestehen oder aus dieser gewonnen werden, mit einem zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandensein dieses GVO, das nicht mehr ausmacht als 0,9 % der einzelnen Lebensmittelzutaten oder des Lebensmittels, wenn dieses aus einer einzigen Zutat besteht.
c) Futtermittel, die die Kartoffelsorte [Amflora] enthalten oder aus dieser bestehen, mit einem zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandensein dieses GVO, das nicht mehr ausmacht als 0,9 % des Futtermittels und der Futtermittelbestandteile, aus denen es zusammengesetzt ist.“
52. Zulassungsinhaber ist gemäß Art. 6 des Beschlusses 2010/136 die BASF Plant Science GmbH, Deutschland.
53. Die Erste Kammer des Gerichts, in anderer Besetzung als in der vorliegenden Rechtssache, erließ zu den von der Kommission am 9. Juni 2010 angenommenen Beschlüssen 2010/135 und 2010/136 einen Beschluss (Beschluss des Gerichts vom 9. Juni 2010, BASF Plant Science u. a./Kommission, T‑293/08, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), wonach der Rechtsstreit über die gegen die Kommission erhobene Untätigkeitsklage in der Hauptsache erledigt ist.
Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten
54. Mit Klageschrift, die am 27. Mai 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Unga rn die vorliegende Klage erhoben.
55. Mit Schriftsätzen, die am 21., am 14., am 3. bzw. am 21. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge Ungarns zugelassen zu werden.
56. Mit Beschluss vom 8. November 2010 hat der Präsident der Siebten Kammer des Gerichts die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen als Streithelfer zugelassen.
57. Am 24. Januar 2011 haben die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen ihre Streithilfeschriftsätze eingereicht.
58. Am 2. Mai 2011 hat die Kommission ihre Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen eingereicht.
59. Am 24. Mai 2012 hat die Kanzlei des Gerichts die Parteien davon in Kenntnis gesetzt, dass die vorliegende Rechtssache infolge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern der Ersten Kammer des Gerichts zugewiesen worden ist.
60. Am 7. Dezember 2012 hat die Kanzlei des Gerichts den Verfahrensbeteiligten den Beschluss des Gerichts mitgeteilt, die vorliegende Rechtssache der Ersten erweiterten Kammer des Gerichts zuzuweisen. Am selben Tag hat die Kanzlei des Gerichts die Parteien im Wege verfahrensleitender Maßnahmen gemäß Art. 64 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts aufgefordert, eine Reihe von Unterlagen vorzulegen und schriftliche Fragen zu beantworten. Die Parteien haben innerhalb der gesetzten Fristen diese Unterlagen vorgelegt und auf die Fragen geantwortet.
61. Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Erste erweiterte Kammer) am 4. März 2013 beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
62. Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 18. April 2013 mündlich verhandelt und die mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet. Insbesondere sind sie vom Gericht zum Ablauf des Verfahrens befragt worden, das im Anschluss an die Annahme des Konsolidierten Gutachtens von 2009 durch die EFSA zur Annahme der Beschlüsse 2010/135 und 2010/136 (im Folgenden zusammenfassend: angefochtene Beschlüsse) geführt hatte, und zur Einhaltung wesentlicher Formvorschriften durch die Kommission im Rahmen dieses Verfahrens. Bei derselben Gelegenheit hat das Gericht die Kommission zusätzlich aufgefordert, Unterlagen zu den Schreiben vorzulegen, die sie dem Gericht in der Rechtssache, die zum Beschluss BASF Plant Science u. a./Kommission (siehe oben, Randnr. 53) führte, vorgelegt hatte. Daraufhin ist die Kommission dieser Aufforderung nachgekommen; die anderen Beteiligten haben sich zu den vorgelegten Unterlagen nicht geäußert.
63. Da der Kammerpräsident nach Ablauf seiner Amtszeit am 16. September 2013 daran gehindert war, an der Beratung teilzunehmen, hat gemäß Art. 32 der Verfahrensordnung der in der Rangordnung im Sinne von Art. 6 der Verfahrensordnung niedrigste Richter an der Beratung nicht teilgenommen. Die Beratungen des Gerichts sind von den drei Richtern fortgesetzt worden, die das vorliegende Urteil unterzeichnet haben, und der in der Rangordnung im Sinne der letztgenannten Vorschrift höchste Richter hat die Aufgaben des Kammerpräsidenten wahrgenommen.
64. Ungarn, unterstützt, hinsichtlich der Haupt‑ und Hilfsanträge, durch das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen sowie, hinsichtlich der Hilfsanträge, durch die Französische Republik, beantragt,
– die angefochtenen Beschlüsse für nichtig zu erklären;
– hilfsweise, falls der Antrag auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2010/136 zurückgewiesen wird, Art. 2 Buchst. b und c dieses Beschlusses für nichtig zu erklären;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
65. Die Kommission beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– Ungarn die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
66. Ungarn stützt seine Klage auf zwei Gründe.
67. Erstens macht es einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip sowie gegen Art. 4 Abs. 2 und Anhang II der Richtlinie 2001/18 geltend, da die Beschlüsse über den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen von GVO auf einer fehlerhaften, inkohärenten und unvollständigen Risikobewertung beruhten.
68. Mit dem zweiten Klagegrund macht es hilfsweise geltend, Art. 2 Buchst. b und c des Beschlusses 2010/136 verstoße dadurch gegen die Verordnung Nr. 1829/2003, insbesondere deren Art. 4 Abs. 2 und Art. 16 Abs. 2, dass dieser Artikel für das zufällige oder technisch nicht zu vermeidende Vorhandensein von Spuren von GVO in Lebensmitteln und Futtermitteln eine nach der genannten Verordnung nicht vorgesehene und nicht einmal zulässige Toleranzgrenze von 0,9 % festsetze.
69. Die Kommission tritt dem Vorbringen Ungarns entgegen.
70. Vorab ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne von Art. 263 AEUV eine Rüge zwingenden Rechts darstellt, die der Unionsrichter von Amts wegen prüfen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, Slg. 1998, I‑1719, Randnr. 67, und vom 30. März 2000, VBA/Florimex u. a., C‑265/97 P, Slg. 2000, I‑2061, Randnr. 114; vgl. Urteil des Gerichts vom 6. März 2003, Westdeutsche Landesbank Girozentrale und Land Nordrhein-Westfalen/Kommission, T‑228/99 und T‑233/99, Slg. 2003, II‑435, Randnr. 143 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gleiche gilt für die Unzuständigkeit gemäß derselben Vorschrift (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 10. Mai 1960, Deutschland/Hohe Behörde, 19/58, Slg. 1960, 483, 500, und vom 13. Juli 2000, Salzgitter/Kommission, C‑210/98 P, Slg. 2000, I‑5843, Randnr. 56; Urteil des Gerichts vom 28. Januar 2003, Laboratoires Servier/Kommission, T‑147/00, Slg. 2003, II‑85, Randnr. 45).
71. Im Übrigen muss der Unionsrichter seine Pflicht, einen Grund der öffentlichen Ordnung von Amts wegen zu berücksichtigen, im Licht des kontradiktorischen Verfahrens erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, Slg. 2009, I‑11245, Randnrn. 59 und 60).
72. Im vorliegenden Fall sind die Parteien sowohl im Rahmen des schriftlichen Verfahrens als auch in der mündlichen Verhandlung aufgefordert worden, sich dazu zu äußern, ob die Kommission die wesentlichen Formvorschriften des für die Annahme der angefochtenen Beschlüsse geltenden Verfahrens beachtet hat und ob sie zum Erlass dieser Beschlüsse befugt war. Insbesondere hat das Gericht den Parteien im Rahmen prozessleitender Maßnahmen zwei schriftliche Fragen folgenden Wortlauts vorgelegt:
– „Die Kommission möge erläutern, weshalb sie nicht die Durchführungsmaßnahmen nach Art. 5 Abs. 6 Unterabs. 3 des Beschlusses 1999/468/EG erlassen hat, die sie dem Rat, unmittelbar nachdem sich bei diesem für die Annahme der beiden ihm von der Kommission unterbreiteten Vorschläge keine qualifizierte Mehrheit gefunden hatte, vorgeschlagen hat (vgl. 22. Erwägungsgrund des Beschlusses [2010/135] und 17. Erwägungsgrund des Beschlusses [2010/136]). Des Weiteren möge sie in diesem Zusammenhang begründen, weshalb sie, nachdem sich im Rat keine qualifizierte Mehrheit gefunden hatte, es für zweckmäßig hielt, die EFSA erneut zu konsultieren, was im Wesentlichen der Frage entspricht, die im Rahmen der Untätigkeitsklage BASF Plant Science GmbH u. a./Kommission (T‑293/08) erörtert wurde.“
– „Aus den Akten ergibt sich nicht, ob die Kommission infolge des im elften Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/135/EU und im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/136/EU erwähnten Konsolidierten Gutachtens der EFSA vom 11. Juni 2009 a) den nach Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18/EG eingesetzten Ausschuss und den nach Art. 58 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 eingesetzten (und in Art. 35 Abs. 1 der Verordnung [EG] Nr. 1829/2003 erwähnten) Ausschuss erneut konsultiert hat und b) dem Rat unter Einbeziehung sowohl der Erwägungsgründe 11 und 12 des Beschlusses 2010/135/EU als auch der Erwägungsgründe 7 und 8 des Beschlusses 2010/136/EU geänderte Vorschläge unterbreitet hat. Falls das nicht der Fall ist, werden die Parteien aufgefordert, anzugeben, 1. ob die unterlassene Vorlage eines geänderten Vorschlags an den zuständigen Ausschuss und an den Rat einen Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift darstellt, und 2. ob die Kommission, nachdem sie von der EFSA neue wissenschaftliche Erkenntnisse erlangt hatte, die sie dem Rat nicht mitgeteilt hatte, befugt war, namentlich im Hinblick auf die Bestimmungen des Art. 5 Abs. 6 des Beschlusses 1999/468/EG, die angefochtenen Beschlüsse am 2. März 2010 anzunehmen.“
73. Die Kommission ist der Aufforderung des Gerichts nachgekommen und hat auf diese zwei Fragen geantwortet. Ungarn hat das gleiche hinsichtlich der zweiten Frage getan, während sich die Streithelfer hierzu nicht geäußert haben.
Zur Einhaltung wesentlicher Formvorschriften des Regelungsverfahrens
74. Die Kommission ist der Ansicht, sie habe im Rahmen der Verfahren zur Erarbeitung und zur Annahme der angefochtenen Beschlüsse keinen Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften begangen. Sie habe sowohl beim Beschluss 2010/135 als auch beim Beschluss 2010/136 das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 vorgesehene Regelungsverfahren eingehalten, indem sie den Ausschüssen und anschließend, nachdem diese keine Stellungnahmen abgegeben hätten, dem Rat die ersten Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen unterbreitet habe. Sie sei in diesem Zusammenhang nicht verpflichtet gewesen, den genannten Ausschüssen die geänderten Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen erneut vorzulegen, weil erstens der normative Teil der ersten geänderten Entwürfe identisch gewesen sei, zweitens die geänderten Entwürfe keine inhaltlichen Änderungen enthalten hätten und drittens sie die beiden Zulassungsbeschlüsse, nachdem der Rat zu den vorgeschlagenen Maßnahmen keine Stellungnahme abgegeben habe, unverzüglich angenommen habe.
75. Ungarn tritt dem Vorbringen der Kommission entgegen.
Zum Sachverhalt
76. Erstens ist festzustellen, dass die Kommission, nachdem sie die Gutachten der EFSA von 2005 erhalten hatte (siehe oben, Randnr. 24), den zuständigen Regelungsausschüssen die ersten Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen übermittelt hat (siehe oben, Randnrn. 25 und 30). Da diese Ausschüsse keine Stellungnahme abgaben, unterbreitete sie dem Rat die ursprünglichen Vorschläge für Zulassungsbeschlüsse (siehe oben, Randnrn. 29 und 30).
77. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen, obwohl sich für diese im Rat keine qualifizierte Mehrheit gefunden hatte, nicht ergriffen hat. Nachdem sie nämlich zwischenzeitlich Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung erhalten hatte, in denen geltend gemacht wurde, dass zwischen den wissenschaftlichen Gutachten der EFSA, auf denen die genannten Maßnahmen beruhten (siehe oben, Randnrn. 31 und 33), einige Unstimmigkeiten bestünden, entschloss sich die Kommission stattdessen, die EFSA mit Mandat vom 14. Mai 2008 (siehe oben, Randnr. 34) erneut zu konsultieren. Am 11. Juni 2009 gab die EFSA ihr konsolidiertes Gutachten ab, das die Gemeinsame Stellungnahme des GVO-Gremiums vom 11. März 2009 und die des BIOHAZ-Gremiums vom 26. März 2009 sowie die Schlussfolgerungen in Bezug auf die Unwahrscheinlichkeit schädlicher Auswirkungen des nptII-Gens zusammen mit den Minderheitsauffassungen zweier Mitglieder des BIOHAZ-Gremiums enthielt (siehe oben, Randnrn. 36 bis 40). Es steht fest, dass dieses konsolidierte Gutachten nicht den Regelungsausschüssen übermittelt wurde, die vorher mit den ersten Entwürfen befasst waren, und dass diesen Ausschüssen kein neuer Entwurf für einen Antrag auf Genehmigung des Inverkehrbringens der Amflora-Kartoffel vorgelegt wurde.
78. Drittens ist festzustellen, dass die Kommission die angefochtenen Beschlüsse am 2. März 2010 angenommen hat (siehe oben, Randnrn. 42 und 49). Der verfügende Teil dieser Beschlüsse ist eine vollständige Wiedergabe, ohne jeden Zusatz, der Artikel, die den Regelungsausschüssen und dem Rat in den Entwürfen und Vorschlägen für Zulassungsbeschlüsse ursprünglich übermittelt worden waren (im Folgenden: vorherige Entwürfe und Vorschläge), und in der jeweiligen Begründung dieser Artikel werden die Erwägungsgründe der vorherigen Entwürfe und Vorschläge ebenfalls umfassend wiedergegeben. Allerdings weichen diese Beschlüsse von den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen insofern ab, als ihre Präambeln neue Erwägungsgründe in Bezug auf das Mandat, das die Kommission der EFSA am 14. Mai 2008 erteilt hatte, und die Schlussfolgerungen des Konsolidierten Gutachtens der EFSA vom 11. Juni 2009 enthalten. Es handelt sich um die Erwägungsgründe 11 und 12 des Beschlusses 2010/135 sowie die Erwägungsgründe 7 und 8 des Beschlusses 2010/136, deren Wortlaut identisch ist (siehe oben, Randnrn. 43 und 50, im Folgenden: zusätzliche Erwägungsgründe).
79. Unter diesen Gesichtspunkten ist zu prüfen, ob die Kommission die Verfahrensvorschriften für die Annahme der angefochtenen Beschlüsse eingehalten hat.
Zur Einhaltung der Verpflichtung, die geänderten Entwürfe der angefochtenen Beschlüsse den zuständigen Regelungsausschüssen vorzulegen
80. Es steht fest, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen nach dem in Art. 5 des Beschlusses 1999/468 festgelegten Regelungsverfahren anzunehmen waren. Nach diesem Verfahren ist die Kommission verpflichtet, dem zuständigen Regelungsausschuss einen Entwurf der zu treffenden Maßnahmen zu unterbreiten. Liegt keine mit qualifizierter Mehrheit angenommene Stellungnahme des Ausschusses vor, so hat die Kommission dem Rat unverzüglich einen Vorschlag für die zu treffenden Maßnahmen zu unterbreiten.
81. Außerdem ist festzustellen, dass die Kommission den zuständigen Regelungsausschüssen vor Annahme der Beschlüsse 2010/135 und 2010/136 nicht die geänderten Entwürfe dieser Beschlüsse zusammen mit dem Konsolidierten Gutachten von 2009 und den Minderheitsauffassungen vorgelegt hat.
82. Der verfügende Teil der angefochtenen Beschlüsse stimmt zwar mit dem überein, der in den den zuständigen Ausschüssen und dem Rat ursprünglich vorgelegten Entwürfen vorgesehen war, doch gilt dies nicht für die von der Kommission für den Erlass dieser Beschlüsse gewählte wissenschaftliche Grundlage, die Teil der Begründung der genannten Beschlüsse ist.
83. Daher ist festzustellen, dass die Kommission von dem nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468, insbesondere nach Abs. 2 dieser Vorschrift, vorgeschriebenen Regelungsverfahren abgewichen ist, indem sie die EFSA infolge der Erklärungen einer NRO und der dänischen Regierung zur Erstellung eines konsolidierten Gutachtens aufgefordert und die angefochtenen Beschlüsse insbesondere auf dieses Gutachten gestützt hat, ohne den zuständigen Ausschüssen Gelegenheit zu geben, zu dem Gutachten und zu den im Hinblick auf ihre Begründung geänderten Entwürfen von Beschlüssen Stellung zu nehmen.
84. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Nichtbeachtung einer Verfahrensvorschrift insbesondere dann einen Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften darstellt, wenn das Verfahren oder der Inhalt des erlassenen Rechtsakts bei Einhaltung dieser Vorschrift wesentlich anders hätte ausfallen können (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 10. Juli 1980, Distillers Company/Kommission, 30/78, Slg. 1980, 2229, Randnr. 26, vom 29. Oktober 1980, van Landewyck u. a./Kommission, 209/78 bis 215/78 und 218/78, Slg. 1980, 3125, Randnr. 47, und vom 23. April 1986, Bernardi/Parlament, 150/84, Slg. 1986, 1375, Randnr. 28).
85. Im vorliegenden Fall fielen die Abstimmungen in den Ausschüssen über die vorherigen Entwürfe sehr unterschiedlich aus (siehe oben, Randnrn. 25 und 30), und die Schlussfolgerungen im Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009 brachten noch mehr Unsicherheit zum Ausdruck als die vorherigen Gutachten der EFSA, insbesondere die Erklärung der EFSA von 2007, und ihnen waren Anhänge über Minderheitsauffassungen beigefügt (siehe oben, Randnrn. 28, 36 und 37). Unter allen diesen Gesichtspunkten war daher nicht auszuschließen, dass die Ausschussmitglieder ihren Standpunkt ändern und zu einer qualifizierten Mehrheit für oder gegen die Entwürfe von Maßnahmen gelangen würden. Außerdem wäre die Kommission gemäß Art. 5 Abs. 4 des Beschlusses 1999/468 im Fall einer ablehnenden oder einer fehlenden Stellungnahme verpflichtet gewesen, die vorgeschlagenen Maßnahmen unverzüglich dem Rat zu unterbreiten, der sie mit qualifizierter Mehrheit binnen drei Monaten hätte annehmen oder förmlich ablehnen können. Erst nach Abschluss dieses Verfahrens und bei Fehlen einer qualifizierten Mehrheit im Rat hätte die Kommission die vorgeschlagenen streitigen Maßnahmen annehmen können. Demzufolge ist festzustellen, dass das Ergebnis des Verfahrens oder der Inhalt der angefochtenen Beschlüsse wesentlich anders hätte ausfallen können, wenn die Kommission das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 vorgesehene Verfahren eingehalten hätte.
86. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Regelungsverfahren gemäß Art. 202 dritter Gedankenstrich EG eine Durchführungsbefugnis der Kommission regelt, die ihr vom Rat in dem von ihm erlassenen Basisrechtsakt übertragen wurde. Es trägt somit zum institutionellen Gleichgewicht innerhalb der Union bei, insbesondere zwischen den Befugnissen des Rates und des Parlaments auf der einen und denen der Kommission auf der anderen Seite. Wird dieses Verfahren von der Kommission nicht beachtet, so kann dies das institutionelle Gleichgewicht innerhalb der Union beeinträchtigen.
87. Die Kommission hat daher, als sie die angefochtenen Beschlüsse annahm, ohne die geänderten Entwürfe dieser Zulassungsbeschlüsse den zuständigen Regelungsausschüssen vorzulegen, gegen die ihr obliegenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 sowie der Richtlinie 2001/18 und der Verordnung Nr. 1829/2003, in denen auf den genannten Beschluss Bezug genommen wird, verstoßen. Gleichzeitig hat sie mit den in Rede stehenden Beschlüssen gegen wesentliche Formvorschriften im Sinne von Art. 263 Abs. 2 AEUV verstoßen, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigen muss. Deshalb sind diese Beschlüsse gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV insgesamt nichtig.
Zur Übereinstimmung oder der fehlenden inhaltlichen Änderung der angefochtenen Beschlüsse gegenüber den vorherigen Entwürfen
88. Die vorstehenden Feststellungen können durch das Vorbringen der Kommission nicht entkräftet werden.
89. Erstens macht die Kommission geltend, die angefochtenen Beschlüsse stimmten mit den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen insofern überein, als ihre normativen Teile i dentisch seien. Die Präambeln dieser Beschlüsse seien demgegenüber jedoch nicht Teil der durch diese Beschlüsse erlassenen „Maßnahmen“ im Sinne von Art. 5 des Beschlusses 1999/468.
90. Dazu genügt die Feststellung, dass dieses Vorbringen der Kommission der ständigen Rechtsprechung zuwiderläuft, wonach der verfügende Teil eines Rechtsakts unter Berücksichtigung der Gründe auszulegen ist, die zu seinem Erlass geführt haben, und nicht von seiner Begründung getrennt werden kann, da sie ein Ganzes darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 26. April 1988, Asteris u. a./Kommission, 97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, Slg. 1988, 2181, Randnr. 27, und vom 15. Mai 1997, TWD/Kommission, C‑355/95 P, Slg. 1997, I‑2549, Randnr. 21; vgl. Urteil des Gerichts vom 7. Oktober 1999, Irish Sugar/Kommission, T‑228/97, Slg. 1999, II‑2969, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91. Entgegen dem damit zusammenhängenden Vorbringen der Kommission, wonach die wissenschaftlichen Gutachten der EFSA, insbesondere das vom 11. Juni 2009, nicht zur Begründung der angefochtenen Beschlüsse gehörten, ist festzustellen, dass die Kommission dadurch, dass sie ihre Beschlüsse auf die Stellungnahmen einer wissenschaftlichen Behörde stützt, den Tenor dieser Stellungnahmen in die zur Annahme dieser Beschlüsse führende Beurteilung und in die Begründung dieser Beschlüsse einfließen lässt. Da die Kommission in den genannten Beschlüssen angibt, sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Gutachten der EFSA von 2005 und 2009 zu stützen, ohne das Gutachten der EFSA von 2004 zu erwähnen, und in einigen Erwägungsgründen auf diese Erkenntnisse verweist, stellt der Inhalt dieser Gutachten einen Bestandteil der Begründung dieser Beschlüsse dar (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichts vom 18. Dezember 2003, Fern Olivieri/Kommission und EMEA, T‑326/99, Slg. 2003, II‑6053, Randnr. 55).
92. Somit stellt in den Entwürfen der angefochtenen Beschlüsse das Hinzufügen von Erwägungsgründen, in denen als wissenschaftliche Grundlage auf ein neues EFSA-Gutachten verwiesen wird, eine Änderung dar, die jegliche Behauptung, dass die in Rede stehenden Beschlüsse mit den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen übereinstimmten, widerlegt.
93. Zweitens macht die Kommission geltend, das Hinzufügen zusätzlicher Erwägungsgründe in die geänderten Entwürfe stelle keine inhaltliche Änderung dar, sondern diene lediglich dazu, die Begründung der angefochtenen Beschlüsse unter Hinweis auf das Konsolidierte Gutachten der EFSA von 2009 zu untermauern. Dieses Gutachten bestätige nämlich die früheren Gutachten der EFSA, in denen diese im Wesentlichen festgestellt habe, dass das nptII-Gen unbedenklich sei.
94. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der im Mai 2008 eingeleitete neue Konsultationsprozess mit der EFSA nach dem eigenen Vorbringen der Kommission „teilweise darauf zurückzuführen [war], dass in dem Schreiben [einer NRO] von Februar 2008 und dem Schreiben [der] dänischen Minister… [für Ernährung und] für Landwirtschaft sowie für Umwelt von März 2008 Zweifel geäußert wurden“ und dass insofern wissenschaftliche Ungewissheiten bestanden hätten. Diese Zweifel bezogen sich auf die Unstimmigkeiten zwischen den spezifischen Gutachten der EFSA zur Amflora-Kartoffel und dem allgemeinen Gutachten der EFSA von 2004 über ARMG in Verbindung mit der Erklärung der EMA von 2007 über die therapeutische Bedeutung von Antibiotika, gegen die das nptII-Gen resistent ist.
95. Daraus folgt, dass das Hinzufügen zusätzlicher Erwägungsgründe nicht nur dazu diente, die Begründung der angefochtenen Beschlüsse zu untermauern, sondern auch dazu, im Einklang mit dem neuen Mandat, das die Kommission der EFSA am 14. Mai 2008 erteilt hatte, einige Unstimmigkeiten zwischen den früheren Gutachten zu klären und die bestehende wissenschaftliche Ungewissheit zu verringern, und zwar durch den Versuch, auf die in den Schreiben einer NRO und der dänischen Minister geäußerten inhaltlichen Einwände einzugehen. Es ist festzustellen, dass die begründete oder nicht begründete Antwort der EFSA auf derartige inhaltliche Einwände einen wesentlichen Bestandteil der Begründung der in Rede stehenden Beschlüsse darstellt, die eine inhaltliche Änderung des Rechtsakts und seines Regelungsgehalts bewirkt.
96. Außerdem ist dem Vorbringen der Kommission, wonach das Konsolidierte Gutachten der EFSA vom 11. Juni 2009 lediglich die in den früheren Gutachten der EFSA genannten Risikobewertungen (die auch in den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen für Zulassungsbeschlüsse der Kommission bei ihrer Vorlage an die Ausschüsse und den Rat erwähnt worden seien) bestätigt und im Ergebnis ebenfalls festgestellt habe, dass das nptII-Gen unbedenklich sei, entgegenzuhalten, dass das genannte Gutachten eine neue sachliche Prüfung darstellt und nicht bloß eine formale Bestätigung der in den EFSA-Gutachten von 2004 und 2005 sowie in der Erklärung der EFSA von 2007 enthaltenen Risikobewertungen. Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut des der EFSA erteilten neuen Mandats als auch aus den großen Unterschieden zwischen dem neuen und den früheren EFSA-Gutachten.
97. Zum einen ist dem Wortlaut des der EFSA von der Kommission am 14. Mai 2008 erteilten neuen Mandats, das im elften Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/135 und im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/136 erwähnt wird, zu entnehmen, dass das bei der EFSA angefragte neue Gutachten nicht bloß einer Bestätigung dienen konnte. Erstens oblag es der EFSA, „unter Berücksichtigung“ der früheren Gutachten und Erklärungen „die Gründe zu erläutern“ und „die Überlegungen darzulegen“, die zu diesen Schlussfolgerungen führten. Diese Formulierung zeigt, dass die Kommission die EFSA zur Vorlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse aufgefordert hat und dass diese ihre Begründung unter Berücksichtigung der früheren Gutachten und Erklärungen erläutern und ergänzen, d. h. ihre Schlussfolgerungen ändern sollte. Die Notwendigkeit für die EFSA, ihre früheren wissenschaftlichen Analysen zu überprüfen, kam im Übrigen auch durch die in der Folge für die Erstellung des Konsolidierten Gutachtens von der EFSA erbetene und von der Kommission akzeptierte sechsmonatige Fristverlängerung gegenüber dem ursprünglichen Mandat zum Ausdruck. Zweitens war es Sache der EFSA, anzugeben, welche Auswirkungen dieses neue Gutachten auf die früheren Bewertungen haben könnte, die sie in Bezug auf einzelne genetisch veränderte Pflanzen mit ARMG gemacht hatte. Daran zeigt sich auch, dass die Kommission von der EFSA, in enger Zusammenarbeit mit der EMA, eine überarbeitete wissenschaftliche Analyse erwartete, die für die Bewertung anderer GVO neue Konsequenzen haben könnte. Drittens hatte die Kommission als Anlage die Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung beigefügt. Das spricht dafür, dass es Aufgabe der EFSA war, die in diesen Schreiben beanstandeten Unstimmigkeiten zu klären.
98. Zum anderen ist auf drei große Unterschiede zwischen dem im elften Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/135 und im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/136 erwähnten Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009 und den früheren Gutachten der EFSA hinzuweisen, ohne dass die Richtigkeit der in diesen Gutachten jeweils vorgenommenen Risikobewertungen geprüft zu werden braucht. Im vorliegenden Fall beziehen sich diese Unterschiede auf den Verfasser der wissenschaftlichen Gutachten, auf denen jeweils die geänderten früheren Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen beruhen, auf den Inhalt der in diesen Gutachten gezogenen Schlussfolgerungen und auf das Vorhandensein von Minderheitsauffassungen im Rahmen der genannten Gutachten. Erstens stehen hinter dem Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009, verglichen mit den Gutachten und Erklärungen von 2004, 2005 und 2007, die allein vom GVO-Gremium erstellt wurden, weitere Verfasser, denn es stammt auch vom BIOHAZ-Gremium und wurde gemäß dem neuen Mandat der Kommission in enger Zusammenarbeit mit der EMA erstellt. Zweitens werden in den Schlussfolgerungen im Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009, auf denen die geänderten Vorschläge beruhen, die wissenschaftliche Unsicherheit („nicht ganz verstanden“, „Grenzen“, „Unsicherheiten“, „unwahrscheinlich“) und die Gefahren („Anlass weltweiter Sorge“) stärker hervorgehoben als in den Schlussfolgerungen des Gutachtens der EFSA von 2005 („kein Grund, anzunehmen“, „wäre kein zusätzliches Risiko“, „kein signifikantes Risiko“, „eine Schädigung der Umwelt wurde nicht festgestellt bzw. wäre unwahrscheinlich“) und in der Erklärung der EFSA von 2007 („wird nicht beeinträchtigt“, „Wahrscheinlichkeit ist äußerst gering“, „sehr unwahrscheinlich“, „stellt kein Risiko dar“), auf denen die vorherigen Entwürfe beruhten. Drittens enthält das Konsolidierte Gutachten der EFSA von 2009 Minderheitsauffassungen zweier Mitglieder des BIOHAZ-Gremiums, die die wissenschaftliche Unsicherheit hervorheben, während das EFSA-Gutachten von 2005 und die Erklärung der EFSA von 2007 keine Minderheitsauffassungen enthalten.
99. Insofern geht das Vorbringen der Kommission, wonach das Konsolidierte Gutachten der EFSA von 2009 lediglich die früheren Gutachten der EFSA bestätige, in tatsächlicher Hinsicht fehl.
100. Im Übrigen widerspricht diese Behauptung anderen Behauptungen der Kommission, die sie im vorliegenden Verfahren in ihren Schriftsätzen sowie in dem Verfahren vorgetragen hat, das zu dem Beschluss BASF Plant Science u. a./Kommission (siehe oben, Randnr. 53) geführt hat.
101. Zum einen steht das genannte Vorbringen im Widerspruch zu Randnr. 25 der Klagebeantwortung, worin die Kommission selbst einräumt, die EFSA-Gutachten, die vor dem von 2009 erstellt wurden, seien nicht ganz klar und „unmissverständlich“ gewesen und „mit Widersprüchen behaftet“. In zahlreichen Randnummern ihrer Klagebeantwortung und ihrer Gegenerwiderung hebt die Kommission jedoch den „umfassenden“ Charakter des Konsolidierten Gutachtens der EFSA von 2009 und die „Vollständigkeit“ der darin enthaltenen Risikobewertung hervor. Deshalb ist das EFSA-Gutachten von 2009 nach Ansicht der Kommission viel mehr als eine Bestätigung der früheren Risikobewertungen, denn es sei umfassend und vollständig, während die vorherigen Gutachten missverständlich und widersprüchlich gewesen seien.
102. Zum anderen steht das genannte Vorbringen der Kommission im Widerspruch zu dem, was sie in dem Rechtsstreit, der zu dem Beschluss BASF Plant Science u. a./Kommission, T‑293/08 (siehe oben, Randnr. 53), geführt hat, in ihrer Klagebeantwortung vorgetragen hat, die den Akten des vorliegenden Rechtsstreits beigefügt worden ist. Darin verwies die Kommission zunächst auf den „Kern“ des Rechtsstreits, d. h. auf ihre „Pflichten bei Vorliegen von Informationen, die auf … Unstimmigkeiten zwischen wissenschaftlichen Gutachten hinweisen“. Danach machte sie geltend, „die EFSA ha[be] in ihrer Erklärung von 2007 das Kriterium der therapeutischen Bedeutung außer Acht gelassen, indem sie [in Abweichung von den im EFSA-Gutachten von 2004 befürworteten Kriterien] weder die Stellungnahme der [EMA] noch die der WHO berücksichtigt ha[be]“. Damit kam sie zu der Feststellung, dass „es im Grunde genommen darum geh[e], ob die Erwägungen und Gründe, die den im Gutachten von 2004 getroffenen Schlussfolgerungen zugrunde [lägen], mit der Erklärung von 2007 im Einklang [stünden]“. Schließlich berief sie sich auf ihre „das Vorsorgeprinzip betreffende Pflicht, diese Unstimmigkeiten zu klären, und [machte geltend, dass] sie hierzu die [EFSA] konsultiert“ habe, so dass ihr keinerlei Untätigkeit vorgeworfen werden könne.
103. Diesem Vorbringen der Kommission ist zu entnehmen, dass sie zumindest nach Erhalt der Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung der Ansicht war, dass die Erklärung der EFSA von 2007, da sie gegenüber dem EFSA-Gutachten von 2004 in Verbindung mit der Erklärung der EMA von 2007 eine Unstimmigkeit aufwies, eine für die Annahme der bereits den Regelungsausschüssen und dem Rat unterbreiteten Beschlussvorschläge zu unsichere wissenschaftliche Grundlage bildete und dass sie in Anbetracht der bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheit gemäß dem Vorsorgeprinzip erneut die EFSA konsultieren müsse, damit diese hinsichtlich der wissenschaftlichen Risikobewertung im Zusammenhang mit der Amflora-Kartoffel, insbesondere mit dem nptII-Gen, Klarstellungen vornehme.
104. Demzufolge ist das Vorbringen der Kommission, wonach die angefochtenen Beschlüsse mit den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen übereinstimmten oder zumindest inhaltlich nicht geändert worden seien, als unbegründet zurückzuweisen.
105. Außerdem ist festzustellen, dass der dem Urteil des Gerichts vom 13. September 2006, Sinaga/Kommission (T‑217/99, T‑321/00 und T‑222/01, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 90 bis 96), zugrunde liegende Sachverhalt, auf den die Kommission verweist, um geltend zu machen, dass die in den zusätzlichen Erwägungsgründen hinzugefügte Begründung „keine inhaltliche Änderung des Rechtsakts“ (Urteil Sinaga/Kommission, Randnr. 95) bewirke, vom hier vorliegenden Sachverhalt zu unterscheiden ist. Zunächst betraf die Rechtssache, die zum letztgenannten Urteil führte, das Verwaltungsverfahren im Sinne von Art. 4 des Beschlusses 1999/468 und nicht das Regelungsverfahren im Sinne von Art. 5 dieses Beschlusses. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens erlässt die Kommission Maßnahmen, die unmittelbar gelten. Stimmen diese Maßnahmen jedoch mit der Stellungnahme des Ausschusses nicht überein, so werden sie sofort von der Kommission dem Rat mitgeteilt, der binnen drei Monaten einen anderen Beschluss fassen kann. Das Gleiche gilt für das Regelungsverfahren, wo die Kommission, falls die beabsichtigten Maßnahmen mit der Stellungnahme des Ausschusses nicht übereinstimmen oder, wie im vorliegenden Fall, keine Stellungnahme vorliegt, keine Maßnahmen ergreift, sondern dem Rat unverzüglich einen Vorschlag unterbreitet. Außerdem ging es in dem Rechtsstreit, der zum Urteil Sinaga/Kommission führte, um die Phase des Verfahrens, nachdem der Ausschuss (Verwaltungsausschuss für Zucker) befasst wurde, und nicht, wie im vorliegenden Fall, um die Phase nach Befassung des Rates. Schließlich hatte der Ausschuss in dem Rechtsstreit, der zum Urteil Sinaga/Kommission führte, bevor die zusätzliche Begründung hinzugefügt wurde, die keine wesentliche Änderung des Rechtsakts bewirkte, eine „befürwortende Stellungnahme“ abgegeben und damit die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen „gebilligt“ (Urteil Sinaga/Kommission, Randnrn. 91 bis 95), im Gegensatz zum vorliegenden Rechtsstreit, wo der Ausschuss keine befürwortende Stellungnahme abgeben konnte.
106. Drittens macht die Kommission geltend, sie habe, nachdem der Rat zu den vorgeschlagenen Maßnahmen keine Stellungnahme abgegeben habe, die beiden Zulassungsbeschlüsse unverzüglich angenommen. Sie habe daher eine Frist gehabt, um ein zusätzliches wissenschaftliches Gutachten einzuholen, und Art. 5 Abs. 6 des Beschlusses 1999/468 enthalte im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 4 dieses Beschlusses nicht den Ausdruck „unverzüglich“.
107. Dazu ist zunächst festzustellen, dass der die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Beschlüsse beeinträchtigende Mangel nicht die Frist betrifft, die für den Erlass der genannten Beschlüsse in Anspruch genommen wurde, nachdem die ursprünglichen Vorschläge dem Rat in dessen Sitzungen am 16. Juli 2007 und 18. Februar 2008 unterbreitet worden waren. Er bezieht sich vielmehr auf die den zuständigen Regelungsausschüssen und, gegebenenfalls, dem Rat gegenüber unterlassene Vorlage der geänderten Entwürfe der Zulassungsbeschlüsse.
108. Deshalb ist das Vorbringen der Kommission, wonach die angefochtenen Beschlüsse ohne Verzögerung angenommen worden seien, als nicht stichhaltig zurückzuweisen.
109. Überdies ist der zur Stützung dieses Arguments vorgebrachte Hinweis der Kommission auf das Urteil des Gerichtshofs vom 18. November 1999, Pharos/Kommission (C‑151/98 P, Slg. 1999, I‑8157), im vorliegenden Fall unerheblich. Der Rechtsstreit, der zum Urteil Pharos/Kommission führte, bezog sich nämlich auf die Phase des Verfahrens zwischen der Befassung des Ausschusses und der des Rates. Zu dieser Phase hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Kommission über einen gewissen Zeitraum verfügte, um, bevor sie dem Rat einen Vorschlag unterbreitete, ein neues wissenschaftliches Gutachten in Auftrag zu geben und vorab eine Kompromisslösung zu finden, damit der Vorschlag letztlich nicht vom Rat abgelehnt wird (Urteil Pharos/Kommission, Randnrn. 22 bis 27). Im vorliegenden Rechtsstreit betrifft das Vorbringen der Kommission jedoch die Phase des Verfahrens, nachdem der Rat keine Stellungnahme abgegeben hatte. In dieser Phase war es nach Art. 5 Abs. 6 Unterabs. 3 des Beschlusses 1999/468 Sache der Kommission, Maßnahmen der vorgeschlagenen Art zu ergreifen, doch ändern konnte sie diese nicht mehr.
110. Schließlich sind zwar, der Kommission folgend, die „große politische Sensibilität“ und die „Komplexität der Materie“ im Zusammenhang mit einem Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen von GVO hervorzuheben, doch sprechen derartige Gesichtspunkte gerade für die Verpflichtung der Kommission, geänderte Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen für die Amflora-Kartoffel den zuständigen Regelungsausschüssen und gegebenenfalls dem Rat vorzulegen.
111. Aufgrund all dieser Erwägungen kann das Vorbringen der Kommission, da es unbegründet bzw. nicht stichhaltig ist, das Gericht nicht daran hindern, von Amts wegen zu prüfen und festzustellen, dass die angefochtenen Beschlüsse mit einem Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften behaftet sind, was ihre Rechtmäßigkeit beeinträchtigt. Im Übrigen stand die Befugnis der Kommission zum Erlass der genannten Beschlüsse unter dem Vorbehalt, dass sie das Regelungsverfahren einhält, und die Kommission hat die geänderten Entwürfe von Maßnahmen, die zu diesen Beschlüssen geführt haben, nicht gemäß Art. 5 Abs. 3 und 6 des Beschlusses 1999/468 den Regelungsausschüssen unterbreitet. Somit folgt aus der vorstehend in Randnr. 87 festgestellten Verletzung wesentlicher Formvorschriften, dass die Kommission nicht zum Erlass der fraglichen Beschlüsse befugt war.
Zur Nichtigkeitsklage
112. Nach alledem ist der Nichtigkeitsklage, ohne dass die Stichhaltigkeit der von Ungarn geltend gemachten Klagegründe geprüft zu werden braucht, wie von Ungarn beantragt, stattzugeben.
113. Demzufolge sind die angefochtenen Beschlüsse gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV für nichtig zu erklären.
Kosten
114. Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag Ungarns die Kosten aufzuerlegen.
115. Nach Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen tragen daher ihre eigenen Kosten.
(1) .
(1) 1 – Österreichischer Ausdruck gemäß Protokoll Nr. 10 zur Beitrittsakte 1994.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss 2010/135/EU der Kommission vom 2. März 2010 über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses ( Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Beschluss 2010/136/EU der Kommission vom 2. März 2010 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Futtermitteln, die aus der genetisch veränderten Kartoffelsorte EH92‑527‑1 (BPS‑25271‑9) gewonnen werden, und des zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandenseins dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates werden für nichtig erklärt.
2. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten Ungarns.
3. Die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen tragen ihre eigenen Kosten.
URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
13. Dezember 2013 (*1)
„Angleichung der Rechtsvorschriften — Absichtliche Freisetzung von GVO in die Umwelt — Genehmigungsverfahren für das Inverkehrbringen — Wissenschaftliche Gutachten der EFSA — Ausschussverfahren — Regelungsverfahren — Verletzung wesentlicher Formvorschriften — Prüfung von Amts wegen“
In der Rechtssache T‑240/10
Ungarn, vertreten durch M. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
Kläger,
unterstützt durch
Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues und S. Menez als Bevollmächtigte,
durch
Großherzogtum Luxemburg, vertreten zunächst durch C. Schiltz, dann durch P. Frantzen und schließlich durch L. Delvaux und D. Holderer als Bevollmächtigte,
durch
Republik Österreich, vertreten durch C. Pesendorfer und E. Riedl als Bevollmächtigte,
und durch
Republik Polen, vertreten zunächst durch M. Szpunar, B. Majczyna und J. Sawicka, dann durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
gegen
Europäische Kommission, vertreten zunächst durch A. Sipos und L. Pignataro-Nolin, dann durch A. Sipos und D. Bianchi als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses 2010/135/EU der Kommission vom 2. März 2010 über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses (Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 53, S. 11) sowie des Beschlusses 2010/136/EU der Kommission vom 2. März 2010 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Futtermitteln, die aus der genetisch veränderten Kartoffelsorte EH92‑527‑1 (BPS‑25271‑9) gewonnen werden, und des zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandenseins dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 53, S. 15)
erlässt
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin I. Labucka in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, des Richters S. Frimodt Nielsen und der Richterin M. Kancheva (Berichterstatterin),
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. April 2013
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
Genehmigungsverfahren für das Inverkehrbringen genetisch veränderter Organismen
1 Die unionsrechtliche Regelung für die Genehmigung des Inverkehrbringens genetisch veränderter Organismen (im Folgenden: GVO) beruht auf dem Vorsorgeprinzip und insbesondere auf dem Grundsatz, dass diese Organismen bzw. die Erzeugnisse, die sie enthalten, nur dann in die Umwelt freigesetzt oder in den Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie Gegenstand einer Genehmigung sind, die nach einer wissenschaftlichen Risikobewertung im Einzelfall im Hinblick auf spezifische Verwendungen und unter bestimmten Voraussetzungen erteilt wurde.
2 Diese Regelung umfasst zwei maßgebliche Rechtsakte. Der erste betrifft die absichtliche Freisetzung von GVO in die Umwelt im Allgemeinen und der zweite speziell genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel.
3 Der erstgenannte Rechtsakt ist die Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. L 106, S. 1).
4 Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/18 lautet:
„Vor der Anmeldung gemäß Teil B [Absichtliche Freisetzung von GVO zu anderen Zwecken als dem Inverkehrbringen] oder Teil C [Inverkehrbringen von GVO als Produkte oder in Produkten] hat der Verantwortliche eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen. Die zur Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung gegebenenfalls erforderlichen Informationen sind in Anhang III aufgeführt. Die Mitgliedstaaten und die Kommission sorgen dafür, dass GVO, die Gene enthalten, welche Resistenz gegen in der ärztlichen oder tierärztlichen Behandlung verwendete Antibiotika vermitteln, bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung besonders berücksichtigt werden, und zwar im Hinblick auf die Identifizierung und schrittweise Einstellung der Verwendung von Antibiotikaresistenzmarkern in GVO, die schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt haben können. Diese schrittweise Einstellung der Verwendung erfolgt im Falle von gemäß Teil C in den Verkehr gebrachten GVO bis zum 31. Dezember 2004 und im Falle von gemäß Teil B zugelassenen GVO bis zum 31. Dezember 2008.“
5 In Anhang II der geänderten Richtlinie 2001/18 werden allgemein das zu erreichende Ziel, die zu bedenkenden Faktoren sowie die zu befolgenden Grundprinzipien und die Methodik zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung, wie in Art. 4 der Richtlinie erwähnt, beschrieben. Diese Richtlinie ist im Zusammenhang zu sehen mit der Entscheidung 2002/623/EG der Kommission vom 24. Juli 2002 über Leitlinien zur Ergänzung des Anhangs II der Richtlinie 2001/18 (ABl. L 200, S. 22).
6 Das durch die Richtlinie 2001/18, insbesondere ihre Art. 13 bis 19, harmonisierte Verfahren geht von dem Grundsatz aus, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, die von einem Unternehmen eine Anmeldung erhalten hat, die eine Umweltverträglichkeitsprüfung umfasst, eine Genehmigung erteilt, zu der die zuständigen Behörden der übrigen Mitgliedstaaten oder die Europäische Kommission Bemerkungen oder Einwände vortragen können.
7 Art. 18 („Gemeinschaftsverfahren im Falle von Einwänden“) Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2001/18 bestimmt:
„In Fällen, in denen ein Einwand geltend gemacht und von einer zuständigen Behörde oder der Kommission gemäß den Artikeln 15, 17 und 20 aufrechterhalten wird, wird nach dem Verfahren des Artikels 30 Absatz 2 innerhalb von 120 Tagen eine Entscheidung getroffen und veröffentlicht. …“
8 Art. 30 („Ausschussverfahren“) Abs. 2 der Richtlinie 2001/18 verweist auf das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (ABl. L 184, S. 23) vorgesehene Verfahren, den so genannten „Komitologiebeschluss“, in der durch den Beschluss 2006/512/EG des Rates vom 17. Juli 2006 (ABl. L 200, S. 11) geänderten Fassung.
9 Der zweite maßgebliche Unionsrechtsakt zur Genehmigungsregelung für das Inverkehrbringen von GVO ist die Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel (ABl. L 268, S. 1). Mit dieser Verordnung wurde eine einheitliche, im Verhältnis zu der allgemeinen harmonisierten Regelung der Richtlinie 2001/18 spezielle Regelung für die Genehmigung von genetisch veränderten Lebensmitteln (Kapitel II) und genetisch veränderten Futtermitteln (Kapitel III) eingeführt. Nach dieser einheitlichen Regelung wird ein Genehmigungsantrag unmittelbar auf Unionsebene in Absprache mit den Mitgliedstaaten beurteilt, und der endgültige Beschluss über die Genehmigung wird von der Kommission oder gegebenenfalls vom Rat der Europäischen Union getroffen.
10 Die Kommission und der Rat stützen ihre Beschlüsse auf wissenschaftliche Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31, S. 1) unterliegt. In dieser Verordnung sind die allgemeinen Grundsätze der Risikobewertung in allen Bereichen festgelegt, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit auswirken, unter Einbeziehung von GVO. Die EFSA ist auch dafür zuständig, im Rahmen des Gemeinschaftsverfahrens im Fall von Einwänden gemäß der Richtlinie 2001/18 Risikobewertungen durchzuführen.
11 Art. 7 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 1829/2003 sind wortgleich und stehen in den Kapiteln II bzw. III der Verordnung. Sie lauten:
„(1) Die Kommission legt dem in Artikel 35 genannten Ausschuss innerhalb von drei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme der [EFSA] einen Entwurf für eine Entscheidung über den Antrag vor, wobei die Stellungnahme der [EFSA], die einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und andere legitime Faktoren berücksichtigt werden, die für den jeweils zu prüfenden Sachverhalt relevant sind. Stimmt der Entscheidungsentwurf nicht mit der Stellungnahme der [EFSA] überein, erläutert die Kommission die betreffenden Unterschiede.
…
(3) Die endgültige Entscheidung über den Antrag wird nach dem in Artikel 35 Absatz 2 genannten Verfahren getroffen.“
12 Art. 35 („Ausschussverfahren“) Abs. 2 der Verordnung Nr. 1829/2003 verweist ebenso wie die Richtlinie 2001/18 (siehe oben, Randnr. 8) auf das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 vorgesehene Verfahren.
Regelungsverfahren
13 Art. 5 („Regelungsverfahren“) des Beschlusses 1999/468 in der durch den Beschluss 2006/512 geänderten Fassung lautet:
„(1) Die Kommission wird von einem Regelungsausschuss unterstützt, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt und in dem der Vertreter der Kommission den Vorsitz führt.
(2) Der Vertreter der Kommission unterbreitet dem Ausschuss einen Entwurf der zu treffenden Maßnahmen. Der Ausschuss gibt seine Stellungnahme zu diesem Entwurf innerhalb einer Frist ab, die der Vorsitzende unter Berücksichtigung der Dringlichkeit der betreffenden Frage festsetzen kann. Die Stellungnahme wird mit der Mehrheit abgegeben, die in Artikel 205 Absätze 2 und 4 des Vertrags für die Annahme der vom Rat auf Vorschlag der Kommission zu fassenden Beschlüsse vorgesehen ist. Bei der Abstimmung im Ausschuss werden die Stimmen der Vertreter der Mitgliedstaaten gemäß dem vorgenannten Artikel gewogen. Der Vorsitzende nimmt an der Abstimmung nicht teil.
(3) Die Kommission erlässt unbeschadet des Artikels 8 die beabsichtigten Maßnahmen, wenn sie mit der Stellungnahme des Ausschusses übereinstimmen.
(4) Stimmen die beabsichtigten Maßnahmen mit der Stellungnahme des Ausschusses nicht überein oder liegt keine Stellungnahme vor, so unterbreitet die Kommission dem Rat unverzüglich einen Vorschlag für die zu treffenden Maßnahmen und unterrichtet das Europäische Parlament.
(5) Ist das Europäische Parlament der Auffassung, dass ein Vorschlag, den die Kommission auf der Grundlage eines gemäß Artikel 251 des Vertrags erlassenen Basisrechtsakts unterbreitet hat, über die in diesem Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgeht, so unterrichtet es den Rat über seinen Standpunkt.
(6) Der Rat kann, gegebenenfalls in Anbetracht eines solchen etwaigen Standpunkts, innerhalb einer Frist, die in jedem Basisrechtsakt festzulegen ist, die keinesfalls aber drei Monate von der Befassung des Rates an überschreiten darf, mit qualifizierter Mehrheit über den Vorschlag befinden.
Hat sich der Rat innerhalb dieser Frist mit qualifizierter Mehrheit gegen den Vorschlag ausgesprochen, so überprüft die Kommission den Vorschlag. Die Kommission kann dem Rat einen geänderten Vorschlag vorlegen, ihren Vorschlag erneut vorlegen oder einen Vorschlag für einen Rechtsakt auf der Grundlage des Vertrags vorlegen.
Hat der Rat nach Ablauf dieser Frist weder den vorgeschlagenen Durchführungsrechtsakt erlassen noch sich gegen den Vorschlag für die Durchführungsmaßnahmen ausgesprochen, so wird der vorgeschlagene Durchführungsrechtsakt von der Kommission erlassen.“
14 Die Regelungsausschüsse, die zuständig sind, um an der Ausübung der der Kommission gemäß der Richtlinie 2001/18 und der Verordnung Nr. 1829/2003 übertragenen Durchführungsbefugnisse mitzuwirken, sind der nach Art. 30 Abs. 1 der genannten Richtlinie eingeführte Regelungsausschuss betreffend die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und der Ständige Ausschuss für die Lebensmittelkette und die Tiergesundheit nach Art. 35 Abs. 1 der genannten Verordnung, der gemäß Art. 58 der Verordnung Nr. 178/2002 eingeführt wurde.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Das genehmigte Erzeugnis
15 Die genetisch veränderte Kartoffel mit der Bezeichnung „Amflora“ (Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) ist eine Kartoffel mit verändertem Stärkegehalt. Sie ist gekennzeichnet durch einen erhöhten Amylopectingehalt, so dass ihre Stärke nahezu ausschließlich aus Amylopectin besteht. Dadurch unterscheidet sie sich von einer genetisch nicht veränderten Kartoffel, deren Stärke sich aus etwa 15 % bis 20 % Amylose und etwa 80 % bis 85 % Amylopectin zusammensetzt. Sie ermöglicht eine optimierte Extraktion von Amylopectin für industrielle Anwendungen, insbesondere die Herstellung von Papier, Textilien oder Klebstoff.
16 Die genetische Veränderung erfolgt durch die Einführung eines sogenannten nptII-Gens (Neomycin-Phosphotransferase II) (im Folgenden: nptII-Gen). Das nptII-Gen gehört zur Kategorie der Antibiotikaresistenz-Markergene (ARMG). Bei der genetischen Veränderung besteht die Aufgabe der Markergene darin, zusammen mit dem Gen, das das gewünschte Merkmal trägt, die Zellen zu markieren, in denen die Operation geglückt ist. Die ARMG üben ihre Funktion mit Hilfe der Antibiotikaresistenz aus. Das nptII-Gen weist insbesondere Resistenz gegenüber den Antibiotika Neomycin, Kanamycin und Geneticin auf, die zur Familie der Aminoglykoside gehören.
Zulassungsanträge
17 Am 5. August 1996 erhielt die zuständige schwedische Behörde von einer Tochtergesellschaft der BASF Plant Science GmbH (im Folgenden: BASF), der Amylogene HB, jetzt Plant Science Sweden AB, eine Anmeldung gemäß der Richtlinie 90/220. Diese Anmeldung enthielt einen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen der Kartoffel Amflora, um diese zu industriellen Zwecken anzubauen (Stärkeherstellung) und um Folgeerzeugnisse (Kartoffelteig) zu gewinnen, verbunden mit dem Hinweis auf die Erzeugung von Futtermitteln und darauf, dass Spuren dieser Kartoffel in Lebensmitteln enthalten sein könnten.
18 Nach Inkrafttreten der Richtlinie 2001/18 am 17. April 2001 und der Verordnung Nr. 1829/2003 am 7. November 2003 teilte BASF ihre Anmeldung bei der zuständigen schwedischen Behörde in zwei Teile auf: Der erste betraf den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen der Kartoffel Amflora zum Zweck ihres Anbaus und ihrer Verwendung zu industriellen Zwecken, und der zweite bezog sich auf den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen zur Erzeugung von Futtermitteln und auf das Vorhandensein von Spuren in Lebensmitteln. BASF zog den zweiten Teil ihrer Anmeldung bei der genannten Behörde zurück, um den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen nach dem in der Verordnung Nr. 1829/2003 vorgesehenen einheitlichen Verfahren zu stellen. Den ersten Teil ihrer bei dieser Behörde nach der Richtlinie 2001/18 vorgenommenen Anmeldung hielt sie jedoch aufrecht. Im Dezember 2003 fügte sie diesem ersten Teil eine Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß Anhang II der Richtlinie 2001/18 bei.
19 Am 8. April 2004 verabschiedete die zuständige schwedische Behörde ihren Bewertungsbericht und übermittelte ihn der Kommission. Sie stellte darin fest, dass eine Verwendung des Erzeugnisses zu industriellen Zwecken zwar sicher sei, doch sei es wichtig, es nicht in die Lebensmittelkette gelangen zu lassen, weil seine Verwendung zu Ernährungszwecken keiner umfassenden Bewertung unterzogen worden sei. Im Ergebnis stellte sie fest, dass die Amflora-Kartoffel unter den festgelegten Bedingungen und zu den von der Anmelderin vorgesehenen Zwecken in den Verkehr gebracht werden könne.
20 Die Kommission übermittelte den Bewertungsbericht der zuständigen schwedischen Behörde an die zuständigen Behörden der übrigen Mitgliedstaaten, von denen mehrere, darunter Ungarn, schriftliche Erklärungen abgaben. Ungarn machte in seinen Erklärungen vom 3. Juli 2004 geltend, der Anmelder müsse zum einen, bevor die Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt werde, ein quantitatives Nachweisverfahren durchführen und zum anderen weitere Untersuchungen hinsichtlich der Verwendung der Amflora-Kartoffel als Futtermittel und ihrer etwaigen schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit vornehmen. Dabei sei die Gefahr einer Kontamination der Lebensmittelkette zu berücksichtigen.
21 Am 9. Februar 2005 beauftragte die Kommission die EFSA gemäß Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 sowie den Art. 22 und 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 178/2002 mit einer Risikobewertung.
22 Gleichzeitig stellte BASF am 28. Februar 2005 bei der zuständigen Behörde des Vereinigten Königreichs einen Genehmigungsantrag bezüglich der Produktion von Futtermitteln und Lebensmitteln gemäß den Art. 5 und 17 der Verordnung Nr. 1829/2003. Am 25. April 2005 wurde diese Anmeldung der Kommission gemäß Art. 6 Abs. 4 und Art. 18 Abs. 4 derselben Verordnung übermittelt.
Risikobewertungen und Ausschussverfahren
23 Am 2. April 2004 erstellte das wissenschaftliche Gremium für GVO der EFSA (im Folgenden: GVO-Gremium) auf eigene Initiative ein Gutachten über die Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen (EFSA-Anfrage Q-2003-109, The EFSA Journal [2004] 48, 1‑18, im Folgenden: Gutachten von 2004). Darin präsentierte die EFSA ein auf verschiedene Kriterien gestütztes System zur Klassifizierung der ARMG in drei Gruppen. Insbesondere enthielt die Gruppe I die ungefährlichsten ARMG ‐ diejenigen, die in der Erde und enterischen Bakterien bereits weit verbreitet sind ‐, die gegen Antibiotika, die keine oder lediglich geringe therapeutische Bedeutung in der Human‑ und der Veterinärmedizin haben, Resistenz verleihen. Außerdem nahm die EFSA nach diesem Klassifizierungssystem in drei Gruppen eine Einteilung der bekannten ARMG vor, die erhebliche Auswirkungen im Hinblick auf die (für die Gruppen I und II, nicht jedoch für die Gruppe III empfohlene) Genehmigung dieser Gene zu experimentellen Zwecken und das (lediglich für die Gruppe I, nicht jedoch für die Gruppen II und III empfohlene) Inverkehrbringen hatte. Das nptII-Gen, das von den ARMG am häufigsten für die Auswahl von genetisch veränderten Pflanzen verwendet wird, wurde in die Gruppe I eingestuft.
24 Am 7. Dezember 2005 erstellte das GVO-Gremium zwei inhaltlich sehr ähnliche Gutachten. In dem ersten über das Inverkehrbringen der Amflora-Kartoffel zum Zweck des Anbaus und der industriellen Herstellung von Stärke, das am 24. Februar 2006 veröffentlicht wurde (EFSA-Anfrage Q-2005-023, The EFSA Journal [2006] 323, 1-20, im Folgenden: Gutachten von 2005), kam die EFSA im Wesentlichen zu dem Ergebnis, es sei unwahrscheinlich, dass das Inverkehrbringen der genannten Kartoffel im Rahmen der vorgeschlagenen Verwendungszwecke schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf die Umwelt haben könnte. In dem zweiten Gutachten über die Vermarktung dieser Kartoffel zur Verwendung in Lebens- oder Futtermitteln, das am 10. November 2006 veröffentlicht wurde (EFSA-Anfrage Q-2005-070, The EFSA Journal [2006] 324, 1-20), kam die EFSA ebenfalls zu dem Ergebnis, dass im Rahmen der vorgeschlagenen Verwendungszwecke schädliche Auswirkungen unwahrscheinlich seien.
25 Am 4. Dezember 2006 wurde im Regelungsausschuss betreffend die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt gemäß Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 1999/468 ein von der Kommission unterbreiteter Entwurf eines Beschlusses über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses (Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18 erörtert. In dem genannten Ausschuss ergab sich keine qualifizierte Mehrheit für oder gegen diesen von der Kommission vorgelegten Entwurf von Maßnahmen. Das Abstimmungsergebnis lautete 134 gegen 109 Stimmen bei 78 Stimmenthaltungen.
26 Am 25. Januar 2007 bat die Kommission die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) zu prüfen, ob ‐ angesichts der Stellungnahme der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Aminoglykoside (zu denen Neomycin und Kanamycin gehören) als überaus wichtige Antibiotika eingestuft hatte ‐ die derzeitigen oder für die Zukunft in Betracht kommenden Verwendungen dieser Antibiotika noch immer mit dem Gutachten der EFSA von 2004 im Einklang stünden, wonach diese Antibiotika keine oder lediglich geringe therapeutische Bedeutung hätten.
27 Am 22. Februar 2007 erließ die EMA eine Erklärung (im Folgenden: Erklärung der EMA von 2007), wonach die Verwendung von Neomycin und Kanamycin in der Human‑ und Veterinärmedizin wichtig sei und die derzeitigen oder für die Zukunft in Betracht kommenden Verwendungen dieser Antibiotika nicht als eine Verwendung eingestuft werden könnten, die keine oder lediglich geringe therapeutische Bedeutung habe.
28 Am 23. März 2007 erließ das von der Kommission konsultierte GVO-Gremium eine Erklärung (im Folgenden: Erklärung der EFSA von 2007), in der es vorab seine Übereinstimmung mit der EMA zum Ausdruck brachte, dass es wichtig sei, das therapeutische Potenzial der Aminoglykoside, d. h. auch von Neomycin und Kanamycin, zu erhalten. Anschließend bekräftigte es unter Hinweis insbesondere auf die äußerst geringe Wahrscheinlichkeit eines horizontalen Transfers des nptII-Gens von Pflanzen auf Bakterien seine Auffassung, dass die Verwendung des nptII-Gens in GVO und deren Folgeerzeugnissen mit keinen Risiken für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt verbunden sei.
29 Mangels einer qualifizierten Mehrheit im Ausschuss für oder gegen die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen (siehe oben, Randnr. 25) unterbreitete die Kommission dem Rat am 13. Juni 2007 einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses (Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18. Am 16. Juli 2007 wurde in der Sitzung des Rates die zur Annahme oder zur Zurückweisung dieses von der Kommission unterbreiteten Vorschlags erforderliche qualifizierte Mehrheit nicht erreicht.
30 Am 10. Oktober 2007 erörterte der Ständige Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit gemäß Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses 1999/468 einen von der Kommission vorgelegten Entwurf für eine Genehmigung des Inverkehrbringens der Kartoffel Amflora zur Verwendung in Lebens- oder Futtermitteln gemäß der Verordnung Nr. 1829/2003. Im Ausschuss fand sich keine qualifizierte Mehrheit für oder gegen diesen von der Kommission vorgelegten Entwurf von Maßnahmen. Das Abstimmungsergebnis lautete 123 gegen 133 Stimmen bei 89 Stimmenthaltungen. Am 18. Dezember 2007 unterbreitete die Kommission dem Rat mangels einer qualifizierten Mehrheit im Ausschuss einen Vorschlag für einen Beschluss zum selben Thema.
31 Am 13. Februar 2008 sandte eine Nichtregierungsorganisation (NRO) dem für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständigen Kommissar im Hinblick auf die Sitzung des Rates ein Schreiben, dem zufolge der Vorschlag der Kommission Unstimmigkeiten enthielt. In dem Vorschlag werde nämlich zum einen nicht erwähnt, dass die EFSA die Antibiotika, die von der genetisch veränderten Kartoffel betroffen seien, in ihrem Gutachten von 2004 zu Unrecht als für die Human‑ und die Veterinärmedizin unerheblich eingestuft habe, während die EMA und die WHO sie als überaus wichtig ansähen. Zum anderen habe die EFSA ihren diesbezüglichen Fehler in ihrer Erklärung von 2007 zugegeben, es jedoch versäumt, daraus die gebotenen logischen Schlüsse zu ziehen und demzufolge das nptII-Gen aus der Gruppe I auszuschließen und gemäß der im Gutachten der EFSA von 2004 vorgesehenen Klassifizierung in die Gruppe II oder III einzustufen.
32 Am 18. Februar 2008 wurde in der Sitzung des Rates die zur Annahme oder zur Zurückweisung des von der Kommission unterbreiteten Vorschlags erforderliche qualifizierte Mehrheit nicht erreicht.
33 Am 14. März 2008 übermittelten die dänischen Minister für Ernährung, für Landwirtschaft und für Fischerei sowie für Umwelt den für Gesundheitsfragen und für die Umwelt zuständigen Kommissionsmitgliedern ein Schreiben, in dem sie darauf hinwiesen, dass die dänischen Sachverständigen mit der EFSA zwar darin übereinstimmten, dass das nptII-Gen ungefährlich sei, doch bestehe zwischen dem Gutachten der EFSA von 2004 und der Erklärung der EFSA von 2007 im Hinblick auf die Einstufung des nptII-Gens nach den Kriterien des Gutachtens von 2004 eine Unstimmigkeit, die die Kommission und die EFSA klären sollten.
34 Am 14. Mai 2008 erteilte die Kommission der EFSA gestützt auf Art. 29 der Verordnung Nr. 178/2002 ein „Mandat für die Erstellung eines konsolidierten Gutachtens über die Verwendung von antibiotikaresistenten Genen als Markergene in genetisch veränderten Pflanzen“. Gemäß diesem Mandat wollte die Kommission hinsichtlich der Frage der Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen, die Gegenstand zweier Sicherheitsbewertungen der EFSA waren ‐ im Gutachten von 2004 und, auf die Erklärung der EMA von 2007 hin, in der Erklärung vom März 2007 ‐, „jegliches Missverständnis ausschließen“. In dem Mandat verlangte die Kommission von der EFSA erstens, ein konsolidiertes wissenschaftliches Gutachten unter Berücksichtigung früherer Gutachten und Erklärungen zu erstellen mit Angabe der Gründe, auf denen die Schlussfolgerungen der EFSA beruhten, und zweitens, anzugeben, welche Auswirkungen dieses neue Gutachten auf die früheren Bewertungen haben könnte, die die EFSA bei genetisch veränderten Pflanzen mit ARMG gemacht habe. Die Kommission forderte die EFSA ausdrücklich auf, mit der EMA eng zusammenzuarbeiten, und fügte diesem neuen Mandat die Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung bei.
35 Mit Klageschrift, die am 24. Juli 2008 bei der Kanzlei des Gerichts einging, reichten BASF, die Plant Science Sweden AB, die Amylogene HB und die BASF Plant Science Holding GmbH eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission ein, um feststellen zu lassen, dass diese dadurch, dass sie es unterlassen hat, einen Beschluss über die Anmeldung betreffend das Inverkehrbringen der genetisch veränderten Kartoffel Amflora zu erlassen, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 und Art. 5 des Beschlusses 1999/468 verstoßen hat.
36 Am 11. bzw. am 26. März 2009 erließen das GVO-Gremium und das wissenschaftliche Gremium der EFSA für biologische Gefahren (im Folgenden: BIOHAZ-Gremium) auf das erste Ersuchen der Kommission hin eine Gemeinsame Stellungnahme mit dem Titel „Verwendung von Antibiotikaresistenzgenen als Markergene in genetisch veränderten Pflanzen“ (EFSA-Anfragen Q-2008-411 und Q‑2008-706, The EFSA Journal [2009] 1034, 1-82, im Folgenden: Gemeinsame Stellungnahme von 2009). Die EFSA räumte zwar ein, dass die Antibiotika Kanamycin und Neomycin von überaus großer therapeutischer Bedeutung seien, verwies jedoch insbesondere darauf, dass der Nachweis für einen horizontalen Transfer von ARMG genetisch veränderter Pflanzen auf in der Umwelt enthaltene Bakterien nicht nachgewiesen sei. Sie kam zu dem Ergebnis, dass nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand ‐ trotz der Ungewissheiten, insbesondere in Bezug auf die Probenahme, die Erkennung, die Schwierigkeit, das Ausmaß der Exposition zu schätzen, und die Unmöglichkeit, die übertragbaren Resistenzgene einer bestimmten Quelle zuzuordnen ‐ schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen oder auf die Umwelt infolge der Verwendung genetisch veränderter Pflanzen und des Transfers des ARMG nptII von diesen Pflanzen auf Bakterien unwahrscheinlich seien.
37 Zwei Mitglieder des BIOHAZ-Gremiums vertraten jedoch eine Minderheitsauffassung, insbesondere im Hinblick auf die wissenschaftlichen Ungewissheiten im Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit eines horizontalen Transfers des nptII-Gens auf Bakterien. Die Vertreter dieser Auffassungen schlugen im Wesentlichen vor, festzustellen, dass es unklug wäre, eine Antibiotikaresistenz als belanglos oder als von geringfügiger Bedeutung zu bezeichnen, und dass es allgemein nicht möglich sei, bei einem etwaigen Transfer die schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen und die Umwelt einzuschätzen.
38 Am 25. März 2009 erließ das GVO-Gremium auf das zweite Ersuchen der Kommission hin eine Stellungnahme mit dem Titel „Auswirkungen der Stellungnahme zur Verwendung von Antibiotikaresistenzgenen als Markergene in genetisch veränderten Pflanzen auf frühere von der EFSA durchgeführte Bewertungen einzelner (genetisch veränderter) Pflanzen“ (EFSA-Anfrage Q-2008-04977, The EFSA Journal [2009] 1035, 1-9), in der sie im Ergebnis feststellte, dass keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlägen, die ihr Anlass zu einer Änderung ihres früheren Gutachtens gäben.
39 Am 28. April 2009 fragte die Leiterin der EFSA die Vorsitzenden des GVO-Gremiums und des BIOHAZ-Gremiums sowie der Gemeinsamen Arbeitsgruppe, ob aufgrund der beiden Minderheitsauffassungen zusätzliche wissenschaftliche Arbeiten erforderlich seien. Am 25. Mai 2009 antworteten die genannten Vorsitzenden, dass der Inhalt der beiden Minderheitsauffassungen bei der Erstellung der Gemeinsamen Stellungnahme von 2009 weitgehend berücksichtigt worden sei, so dass die Gemeinsame Stellungnahme von 2009 in wissenschaftlicher Hinsicht weder ergänzender Erläuterungen noch zusätzlicher wissenschaftlicher Arbeiten bedürfe.
40 Am 11. Juni 2009 nahm die EFSA ein konsolidiertes wissenschaftliches Gutachten an, bestehend aus der Gemeinsamen Stellungnahme von 2009, der Stellungnahme vom 25. März 2009, dem Schreiben vom 28. April 2009 und dem Schreiben vom 25. Mai 2009 (EFSA-Anfragen Q‑2009-00589 und Q-2009-00593, The EFSA Journal [2009] 1108, 1-8, im Folgenden: Konsolidiertes Gutachten von 2009).
41 Nach diesem konsolidierten wissenschaftlichen Gutachten wurden die zuständigen Regelungsausschüsse von der Kommission mit keinen neuen Projekten für den Erlass von Zulassungsbeschlüssen befasst.
Zulassungsbeschlüsse
42 Am 2. März 2010 erließ die Kommission gestützt auf Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2001/18 den Beschluss 2010/135/EU über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses (Solanum tuberosum L. Linie EH92-527-1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18 (ABl. L 53, S. 11). Dieser Beschluss erlaubt im Wesentlichen das Inverkehrbringen der Amflora-Kartoffel zum Zweck ihres Anbaus und zur Produktion von Stärke zu industriellen Zwecken.
43 Die Erwägungsgründe 11 und 12 des Beschlusses 2010/135 lauten:
„(11)
Am 14. Mai 2008 ersuchte die Kommission die EFSA um Folgendes: i) ein konsolidiertes wissenschaftliches Gutachten zu erstellen, wobei sie das frühere Gutachten und die Stellungnahme über die Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen berücksichtigen sollte, die in Verkehr gebracht werden sollen oder bereits in Verkehr gebracht werden dürfen, sowie ihre Verwendung für Einfuhr, Verarbeitung und Anbau in Betracht ziehen sollte; ii) die Auswirkungen zu erläutern, die dieses konsolidierte Gutachten auf die früheren Bewertungen der EFSA zu einzelnen GVO mit ARMG haben könnte. Im Rahmen des Ersuchens wurde die EFSA u. a. auf Schreiben von Dänemark und [einer NRO] an die Kommission hingewiesen.
(12) Am 11. Juni 2009 veröffentlichte die EFSA eine Stellungnahme über die Verwendung von ARMG in genetisch veränderten Pflanzen und kam darin zu dem Schluss, dass die frühere Bewertung der EFSA zu Solanum tuberosum L. Linie EH92-527-1 mit der in der Stellungnahme dargelegten Risikobewertungsstrategie übereinstimmt und dass keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die die EFSA zu einer Änderung ihres früheren Gutachtens veranlassen würden.“
44 Art. 1 („Zustimmung“) des Beschlusses 2010/135 sieht vor:
„Unbeschadet sonstiger Rechtsvorschriften der [Union], insbesondere der Verordnung … Nr. 1829/2003, erteilt die zuständige Behörde Schwedens gemäß dem vorliegenden Beschluss die schriftliche Zustimmung zum Inverkehrbringen des in Artikel 2 genannten Erzeugnisses, das das Unternehmen BASF Plant Science angemeldet hat (Aktenzeichen C/SE/96/3501).
Gemäß Artikel 19 Absatz 3 der Richtlinie 2001/18/EG enthält die Zustimmung ausdrücklich die Bedingungen für deren Erteilung gemäß den Artikeln 3 und 4 des vorliegenden Beschlusses.“
45 Art. 2 („Erzeugnis“) Abs. 1 des Beschlusses 2001/135 lautet:
„Bei den [GVO], die als Erzeugnisse oder in Erzeugnissen in Verkehr gebracht werden sollen, nachstehend ‚Erzeugnis‘ genannt, handelt es sich um Kartoffeln/Erdäpfel[1 – Österreichischer Ausdruck gemäß Protokoll Nr. 10 zur Beitrittsakte 1994.] (Solanum tuberosum L.), die zur Erzielung eines erhöhten Amylopectingehalts in der Stärke mittels Agrobacterium tumefaciens unter Verwendung des Vektors pHoxwG die Linie EH92-527-1 ergaben. Das Erzeugnis enthält folgende DNS-Sequenzen in zwei Genkassetten:
a)
… Ein von Tn5 stammendes nptII-Gen, das die Resistenz gegen Kanamycin verleiht …;
b)
… Ein Segment des gbss-Gens der Kartoffel/des Erdapfels, das an Körner gebundenes Stärkesynthase-Protein kodiert …“
46 Art. 3 des Beschlusses 2010/135 bestimmt im Rahmen der Zustimmungsbedingungen u. a., dass die Geltungsdauer der Zustimmung ab dem Zeitpunkt ihrer Erteilung zehn Jahre beträgt, dass der Zustimmungsinhaber dafür Sorge trägt, dass die Knollen der Amflora-Kartoffel bei Anpflanzung, Anbau, Ernte, Transport, Lagerung und Handhabung in der Umwelt von Kartoffeln/Erdäpfeln räumlich getrennt sind, die zur Verwendung als Lebensmittel oder Futtermittel bestimmt sind, und ausschließlich an ausgewiesene Stärkeherstellungsbetriebe geliefert werden, die bei der zuständigen einzelstaatlichen Behörde für die Herstellung industrieller Stärke in einem geschlossenen System … angemeldet sind.
47 Art. 4 des Beschlusses 2010/135 sieht u. a. vor, dass der Zustimmungsinhaber während der gesamten Geltungsdauer der Zustimmung sicherstellt, dass der Plan zur Überwachung auf etwaige schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier oder auf die Umwelt durch die Handhabung oder die Verwendung des Erzeugnisses vorgelegt und umgesetzt wird. Dieser Überwachungsplan umfasst die spezifische und die allgemeine Überwachung sowie ein Identitätssicherungssystem.
48 Gemäß Art. 5 des Beschlusses 2010/135 ist dieser Beschluss an das Königreich Schweden gerichtet.
49 Am 2. März 2010 nahm die Kommission gestützt auf Art. 7 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1829/2003 auch den Beschluss 2010/136 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Futtermitteln, die aus der genetisch veränderten Kartoffelsorte EH92‑527‑1 (BPS‑25271‑9) gewonnen werden, und des zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandenseins dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln gemäß der [Verordnung Nr. 1829/2003] (ABl. L 53, S. 15) an. Dieser Beschluss erlaubt im Wesentlichen das Inverkehrbringen von Futtermitteln, die aus der Amflora-Kartoffel gewonnen werden, und das zufällige Vorhandensein von Spuren dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln.
50 Die Erwägungsgründe 7 und 8 des Beschlusses 2010/136 stimmen mit den Erwägungsgründen 11 und 12 des Beschlusses 2010/135 (siehe oben, Randnr. 43) wörtlich überein.
51 Art. 2 („Zulassung“) des Beschlusses 2010/136 sieht vor:
„Folgende Erzeugnisse werden für die Zwecke von Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 16 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 gemäß den in diesem Beschluss aufgeführten Bedingungen zugelassen:
a)
Futtermittel, die aus der Kartoffelsorte [Amflora] gewonnen werden.
b)
Lebensmittel, die die Kartoffelsorte [Amflora] enthalten, aus dieser bestehen oder aus dieser gewonnen werden, mit einem zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandensein dieses GVO, das nicht mehr ausmacht als 0,9 % der einzelnen Lebensmittelzutaten oder des Lebensmittels, wenn dieses aus einer einzigen Zutat besteht.
c)
Futtermittel, die die Kartoffelsorte [Amflora] enthalten oder aus dieser bestehen, mit einem zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandensein dieses GVO, das nicht mehr ausmacht als 0,9 % des Futtermittels und der Futtermittelbestandteile, aus denen es zusammengesetzt ist.“
52 Zulassungsinhaber ist gemäß Art. 6 des Beschlusses 2010/136 die BASF Plant Science GmbH, Deutschland.
53 Die Erste Kammer des Gerichts, in anderer Besetzung als in der vorliegenden Rechtssache, erließ zu den von der Kommission am 9. Juni 2010 angenommenen Beschlüssen 2010/135 und 2010/136 einen Beschluss (Beschluss des Gerichts vom 9. Juni 2010, BASF Plant Science u. a./Kommission, T‑293/08, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), wonach der Rechtsstreit über die gegen die Kommission erhobene Untätigkeitsklage in der Hauptsache erledigt ist.
Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten
54 Mit Klageschrift, die am 27. Mai 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Ungarn die vorliegende Klage erhoben.
55 Mit Schriftsätzen, die am 21., am 14., am 3. bzw. am 21. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge Ungarns zugelassen zu werden.
56 Mit Beschluss vom 8. November 2010 hat der Präsident der Siebten Kammer des Gerichts die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen als Streithelfer zugelassen.
57 Am 24. Januar 2011 haben die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen ihre Streithilfeschriftsätze eingereicht.
58 Am 2. Mai 2011 hat die Kommission ihre Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen eingereicht.
59 Am 24. Mai 2012 hat die Kanzlei des Gerichts die Parteien davon in Kenntnis gesetzt, dass die vorliegende Rechtssache infolge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern der Ersten Kammer des Gerichts zugewiesen worden ist.
60 Am 7. Dezember 2012 hat die Kanzlei des Gerichts den Verfahrensbeteiligten den Beschluss des Gerichts mitgeteilt, die vorliegende Rechtssache der Ersten erweiterten Kammer des Gerichts zuzuweisen. Am selben Tag hat die Kanzlei des Gerichts die Parteien im Wege verfahrensleitender Maßnahmen gemäß Art. 64 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts aufgefordert, eine Reihe von Unterlagen vorzulegen und schriftliche Fragen zu beantworten. Die Parteien haben innerhalb der gesetzten Fristen diese Unterlagen vorgelegt und auf die Fragen geantwortet.
61 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Erste erweiterte Kammer) am 4. März 2013 beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
62 Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 18. April 2013 mündlich verhandelt und die mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet. Insbesondere sind sie vom Gericht zum Ablauf des Verfahrens befragt worden, das im Anschluss an die Annahme des Konsolidierten Gutachtens von 2009 durch die EFSA zur Annahme der Beschlüsse 2010/135 und 2010/136 (im Folgenden zusammenfassend: angefochtene Beschlüsse) geführt hatte, und zur Einhaltung wesentlicher Formvorschriften durch die Kommission im Rahmen dieses Verfahrens. Bei derselben Gelegenheit hat das Gericht die Kommission zusätzlich aufgefordert, Unterlagen zu den Schreiben vorzulegen, die sie dem Gericht in der Rechtssache, die zum Beschluss BASF Plant Science u. a./Kommission (siehe oben, Randnr. 53) führte, vorgelegt hatte. Daraufhin ist die Kommission dieser Aufforderung nachgekommen; die anderen Beteiligten haben sich zu den vorgelegten Unterlagen nicht geäußert.
63 Da der Kammerpräsident nach Ablauf seiner Amtszeit am 16. September 2013 daran gehindert war, an der Beratung teilzunehmen, hat gemäß Art. 32 der Verfahrensordnung der in der Rangordnung im Sinne von Art. 6 der Verfahrensordnung niedrigste Richter an der Beratung nicht teilgenommen. Die Beratungen des Gerichts sind von den drei Richtern fortgesetzt worden, die das vorliegende Urteil unterzeichnet haben, und der in der Rangordnung im Sinne der letztgenannten Vorschrift höchste Richter hat die Aufgaben des Kammerpräsidenten wahrgenommen.
64 Ungarn, unterstützt, hinsichtlich der Haupt‑ und Hilfsanträge, durch das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen sowie, hinsichtlich der Hilfsanträge, durch die Französische Republik, beantragt,
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die angefochtenen Beschlüsse für nichtig zu erklären;
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hilfsweise, falls der Antrag auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2010/136 zurückgewiesen wird, Art. 2 Buchst. b und c dieses Beschlusses für nichtig zu erklären;
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der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
65 Die Kommission beantragt,
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die Klage abzuweisen;
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Ungarn die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
66 Ungarn stützt seine Klage auf zwei Gründe.
67 Erstens macht es einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip sowie gegen Art. 4 Abs. 2 und Anhang II der Richtlinie 2001/18 geltend, da die Beschlüsse über den Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen von GVO auf einer fehlerhaften, inkohärenten und unvollständigen Risikobewertung beruhten.
68 Mit dem zweiten Klagegrund macht es hilfsweise geltend, Art. 2 Buchst. b und c des Beschlusses 2010/136 verstoße dadurch gegen die Verordnung Nr. 1829/2003, insbesondere deren Art. 4 Abs. 2 und Art. 16 Abs. 2, dass dieser Artikel für das zufällige oder technisch nicht zu vermeidende Vorhandensein von Spuren von GVO in Lebensmitteln und Futtermitteln eine nach der genannten Verordnung nicht vorgesehene und nicht einmal zulässige Toleranzgrenze von 0,9 % festsetze.
69 Die Kommission tritt dem Vorbringen Ungarns entgegen.
70 Vorab ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne von Art. 263 AEUV eine Rüge zwingenden Rechts darstellt, die der Unionsrichter von Amts wegen prüfen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C-367/95 P, Slg. 1998, I-1719, Randnr. 67, und vom 30. März 2000, VBA/Florimex u. a., C-265/97 P, Slg. 2000, I-2061, Randnr. 114; vgl. Urteil des Gerichts vom 6. März 2003, Westdeutsche Landesbank Girozentrale und Land Nordrhein-Westfalen/Kommission, T-228/99 und T-233/99, Slg. 2003, II-435, Randnr. 143 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gleiche gilt für die Unzuständigkeit gemäß derselben Vorschrift (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 10. Mai 1960, Deutschland/Hohe Behörde, 19/58, Slg. 1960, 483, 500, und vom 13. Juli 2000, Salzgitter/Kommission, C-210/98 P, Slg. 2000, I-5843, Randnr. 56; Urteil des Gerichts vom 28. Januar 2003, Laboratoires Servier/Kommission, T-147/00, Slg. 2003, II-85, Randnr. 45).
71 Im Übrigen muss der Unionsrichter seine Pflicht, einen Grund der öffentlichen Ordnung von Amts wegen zu berücksichtigen, im Licht des kontradiktorischen Verfahrens erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C-89/08 P, Slg. 2009, I-11245, Randnrn. 59 und 60).
72 Im vorliegenden Fall sind die Parteien sowohl im Rahmen des schriftlichen Verfahrens als auch in der mündlichen Verhandlung aufgefordert worden, sich dazu zu äußern, ob die Kommission die wesentlichen Formvorschriften des für die Annahme der angefochtenen Beschlüsse geltenden Verfahrens beachtet hat und ob sie zum Erlass dieser Beschlüsse befugt war. Insbesondere hat das Gericht den Parteien im Rahmen prozessleitender Maßnahmen zwei schriftliche Fragen folgenden Wortlauts vorgelegt:
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„Die Kommission möge erläutern, weshalb sie nicht die Durchführungsmaßnahmen nach Art. 5 Abs. 6 Unterabs. 3 des Beschlusses 1999/468/EG erlassen hat, die sie dem Rat, unmittelbar nachdem sich bei diesem für die Annahme der beiden ihm von der Kommission unterbreiteten Vorschläge keine qualifizierte Mehrheit gefunden hatte, vorgeschlagen hat (vgl. 22. Erwägungsgrund des Beschlusses [2010/135] und 17. Erwägungsgrund des Beschlusses [2010/136]). Des Weiteren möge sie in diesem Zusammenhang begründen, weshalb sie, nachdem sich im Rat keine qualifizierte Mehrheit gefunden hatte, es für zweckmäßig hielt, die EFSA erneut zu konsultieren, was im Wesentlichen der Frage entspricht, die im Rahmen der Untätigkeitsklage BASF Plant Science GmbH u. a./Kommission (T‑293/08) erörtert wurde.“
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„Aus den Akten ergibt sich nicht, ob die Kommission infolge des im elften Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/135/EU und im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/136/EU erwähnten Konsolidierten Gutachtens der EFSA vom 11. Juni 2009 a) den nach Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18/EG eingesetzten Ausschuss und den nach Art. 58 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 eingesetzten (und in Art. 35 Abs. 1 der Verordnung [EG] Nr. 1829/2003 erwähnten) Ausschuss erneut konsultiert hat und b) dem Rat unter Einbeziehung sowohl der Erwägungsgründe 11 und 12 des Beschlusses 2010/135/EU als auch der Erwägungsgründe 7 und 8 des Beschlusses 2010/136/EU geänderte Vorschläge unterbreitet hat. Falls das nicht der Fall ist, werden die Parteien aufgefordert, anzugeben, 1. ob die unterlassene Vorlage eines geänderten Vorschlags an den zuständigen Ausschuss und an den Rat einen Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift darstellt, und 2. ob die Kommission, nachdem sie von der EFSA neue wissenschaftliche Erkenntnisse erlangt hatte, die sie dem Rat nicht mitgeteilt hatte, befugt war, namentlich im Hinblick auf die Bestimmungen des Art. 5 Abs. 6 des Beschlusses 1999/468/EG, die angefochtenen Beschlüsse am 2. März 2010 anzunehmen.“
73 Die Kommission ist der Aufforderung des Gerichts nachgekommen und hat auf diese zwei Fragen geantwortet. Ungarn hat das gleiche hinsichtlich der zweiten Frage getan, während sich die Streithelfer hierzu nicht geäußert haben.
Zur Einhaltung wesentlicher Formvorschriften des Regelungsverfahrens
74 Die Kommission ist der Ansicht, sie habe im Rahmen der Verfahren zur Erarbeitung und zur Annahme der angefochtenen Beschlüsse keinen Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften begangen. Sie habe sowohl beim Beschluss 2010/135 als auch beim Beschluss 2010/136 das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 vorgesehene Regelungsverfahren eingehalten, indem sie den Ausschüssen und anschließend, nachdem diese keine Stellungnahmen abgegeben hätten, dem Rat die ersten Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen unterbreitet habe. Sie sei in diesem Zusammenhang nicht verpflichtet gewesen, den genannten Ausschüssen die geänderten Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen erneut vorzulegen, weil erstens der normative Teil der ersten geänderten Entwürfe identisch gewesen sei, zweitens die geänderten Entwürfe keine inhaltlichen Änderungen enthalten hätten und drittens sie die beiden Zulassungsbeschlüsse, nachdem der Rat zu den vorgeschlagenen Maßnahmen keine Stellungnahme abgegeben habe, unverzüglich angenommen habe.
75 Ungarn tritt dem Vorbringen der Kommission entgegen.
Zum Sachverhalt
76 Erstens ist festzustellen, dass die Kommission, nachdem sie die Gutachten der EFSA von 2005 erhalten hatte (siehe oben, Randnr. 24), den zuständigen Regelungsausschüssen die ersten Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen übermittelt hat (siehe oben, Randnrn. 25 und 30). Da diese Ausschüsse keine Stellungnahme abgaben, unterbreitete sie dem Rat die ursprünglichen Vorschläge für Zulassungsbeschlüsse (siehe oben, Randnrn. 29 und 30).
77 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen, obwohl sich für diese im Rat keine qualifizierte Mehrheit gefunden hatte, nicht ergriffen hat. Nachdem sie nämlich zwischenzeitlich Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung erhalten hatte, in denen geltend gemacht wurde, dass zwischen den wissenschaftlichen Gutachten der EFSA, auf denen die genannten Maßnahmen beruhten (siehe oben, Randnrn. 31 und 33), einige Unstimmigkeiten bestünden, entschloss sich die Kommission stattdessen, die EFSA mit Mandat vom 14. Mai 2008 (siehe oben, Randnr. 34) erneut zu konsultieren. Am 11. Juni 2009 gab die EFSA ihr konsolidiertes Gutachten ab, das die Gemeinsame Stellungnahme des GVO-Gremiums vom 11. März 2009 und die des BIOHAZ-Gremiums vom 26. März 2009 sowie die Schlussfolgerungen in Bezug auf die Unwahrscheinlichkeit schädlicher Auswirkungen des nptII-Gens zusammen mit den Minderheitsauffassungen zweier Mitglieder des BIOHAZ-Gremiums enthielt (siehe oben, Randnrn. 36 bis 40). Es steht fest, dass dieses konsolidierte Gutachten nicht den Regelungsausschüssen übermittelt wurde, die vorher mit den ersten Entwürfen befasst waren, und dass diesen Ausschüssen kein neuer Entwurf für einen Antrag auf Genehmigung des Inverkehrbringens der Amflora-Kartoffel vorgelegt wurde.
78 Drittens ist festzustellen, dass die Kommission die angefochtenen Beschlüsse am 2. März 2010 angenommen hat (siehe oben, Randnrn. 42 und 49). Der verfügende Teil dieser Beschlüsse ist eine vollständige Wiedergabe, ohne jeden Zusatz, der Artikel, die den Regelungsausschüssen und dem Rat in den Entwürfen und Vorschlägen für Zulassungsbeschlüsse ursprünglich übermittelt worden waren (im Folgenden: vorherige Entwürfe und Vorschläge), und in der jeweiligen Begründung dieser Artikel werden die Erwägungsgründe der vorherigen Entwürfe und Vorschläge ebenfalls umfassend wiedergegeben. Allerdings weichen diese Beschlüsse von den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen insofern ab, als ihre Präambeln neue Erwägungsgründe in Bezug auf das Mandat, das die Kommission der EFSA am 14. Mai 2008 erteilt hatte, und die Schlussfolgerungen des Konsolidierten Gutachtens der EFSA vom 11. Juni 2009 enthalten. Es handelt sich um die Erwägungsgründe 11 und 12 des Beschlusses 2010/135 sowie die Erwägungsgründe 7 und 8 des Beschlusses 2010/136, deren Wortlaut identisch ist (siehe oben, Randnrn. 43 und 50, im Folgenden: zusätzliche Erwägungsgründe).
79 Unter diesen Gesichtspunkten ist zu prüfen, ob die Kommission die Verfahrensvorschriften für die Annahme der angefochtenen Beschlüsse eingehalten hat.
Zur Einhaltung der Verpflichtung, die geänderten Entwürfe der angefochtenen Beschlüsse den zuständigen Regelungsausschüssen vorzulegen
80 Es steht fest, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen nach dem in Art. 5 des Beschlusses 1999/468 festgelegten Regelungsverfahren anzunehmen waren. Nach diesem Verfahren ist die Kommission verpflichtet, dem zuständigen Regelungsausschuss einen Entwurf der zu treffenden Maßnahmen zu unterbreiten. Liegt keine mit qualifizierter Mehrheit angenommene Stellungnahme des Ausschusses vor, so hat die Kommission dem Rat unverzüglich einen Vorschlag für die zu treffenden Maßnahmen zu unterbreiten.
81 Außerdem ist festzustellen, dass die Kommission den zuständigen Regelungsausschüssen vor Annahme der Beschlüsse 2010/135 und 2010/136 nicht die geänderten Entwürfe dieser Beschlüsse zusammen mit dem Konsolidierten Gutachten von 2009 und den Minderheitsauffassungen vorgelegt hat.
82 Der verfügende Teil der angefochtenen Beschlüsse stimmt zwar mit dem überein, der in den den zuständigen Ausschüssen und dem Rat ursprünglich vorgelegten Entwürfen vorgesehen war, doch gilt dies nicht für die von der Kommission für den Erlass dieser Beschlüsse gewählte wissenschaftliche Grundlage, die Teil der Begründung der genannten Beschlüsse ist.
83 Daher ist festzustellen, dass die Kommission von dem nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468, insbesondere nach Abs. 2 dieser Vorschrift, vorgeschriebenen Regelungsverfahren abgewichen ist, indem sie die EFSA infolge der Erklärungen einer NRO und der dänischen Regierung zur Erstellung eines konsolidierten Gutachtens aufgefordert und die angefochtenen Beschlüsse insbesondere auf dieses Gutachten gestützt hat, ohne den zuständigen Ausschüssen Gelegenheit zu geben, zu dem Gutachten und zu den im Hinblick auf ihre Begründung geänderten Entwürfen von Beschlüssen Stellung zu nehmen.
84 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Nichtbeachtung einer Verfahrensvorschrift insbesondere dann einen Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften darstellt, wenn das Verfahren oder der Inhalt des erlassenen Rechtsakts bei Einhaltung dieser Vorschrift wesentlich anders hätte ausfallen können (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom10. Juli 1980, Distillers Company/Kommission, 30/78, Slg. 1980, 2229, Randnr. 26, vom 29. Oktober 1980, van Landewyck u. a./Kommission, 209/78 bis 215/78 und 218/78, Slg. 1980, 3125, Randnr. 47, und vom 23. April 1986, Bernardi/Parlament, 150/84, Slg. 1986, 1375, Randnr. 28).
85 Im vorliegenden Fall fielen die Abstimmungen in den Ausschüssen über die vorherigen Entwürfe sehr unterschiedlich aus (siehe oben, Randnrn. 25 und 30), und die Schlussfolgerungen im Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009 brachten noch mehr Unsicherheit zum Ausdruck als die vorherigen Gutachten der EFSA, insbesondere die Erklärung der EFSA von 2007, und ihnen waren Anhänge über Minderheitsauffassungen beigefügt (siehe oben, Randnrn. 28, 36 und 37). Unter allen diesen Gesichtspunkten war daher nicht auszuschließen, dass die Ausschussmitglieder ihren Standpunkt ändern und zu einer qualifizierten Mehrheit für oder gegen die Entwürfe von Maßnahmen gelangen würden. Außerdem wäre die Kommission gemäß Art. 5 Abs. 4 des Beschlusses 1999/468 im Fall einer ablehnenden oder einer fehlenden Stellungnahme verpflichtet gewesen, die vorgeschlagenen Maßnahmen unverzüglich dem Rat zu unterbreiten, der sie mit qualifizierter Mehrheit binnen drei Monaten hätte annehmen oder förmlich ablehnen können. Erst nach Abschluss dieses Verfahrens und bei Fehlen einer qualifizierten Mehrheit im Rat hätte die Kommission die vorgeschlagenen streitigen Maßnahmen annehmen können. Demzufolge ist festzustellen, dass das Ergebnis des Verfahrens oder der Inhalt der angefochtenen Beschlüsse wesentlich anders hätte ausfallen können, wenn die Kommission das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 vorgesehene Verfahren eingehalten hätte.
86 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Regelungsverfahren gemäß Art. 202 dritter Gedankenstrich EG eine Durchführungsbefugnis der Kommission regelt, die ihr vom Rat in dem von ihm erlassenen Basisrechtsakt übertragen wurde. Es trägt somit zum institutionellen Gleichgewicht innerhalb der Union bei, insbesondere zwischen den Befugnissen des Rates und des Parlaments auf der einen und denen der Kommission auf der anderen Seite. Wird dieses Verfahren von der Kommission nicht beachtet, so kann dies das institutionelle Gleichgewicht innerhalb der Union beeinträchtigen.
87 Die Kommission hat daher, als sie die angefochtenen Beschlüsse annahm, ohne die geänderten Entwürfe dieser Zulassungsbeschlüsse den zuständigen Regelungsausschüssen vorzulegen, gegen die ihr obliegenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 sowie der Richtlinie 2001/18 und der Verordnung Nr. 1829/2003, in denen auf den genannten Beschluss Bezug genommen wird, verstoßen. Gleichzeitig hat sie mit den in Rede stehenden Beschlüssen gegen wesentliche Formvorschriften im Sinne von Art. 263 Abs. 2 AEUV verstoßen, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigen muss. Deshalb sind diese Beschlüsse gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV insgesamt nichtig.
Zur Übereinstimmung oder der fehlenden inhaltlichen Änderung der angefochtenen Beschlüsse gegenüber den vorherigen Entwürfen
88 Die vorstehenden Feststellungen können durch das Vorbringen der Kommission nicht entkräftet werden.
89 Erstens macht die Kommission geltend, die angefochtenen Beschlüsse stimmten mit den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen insofern überein, als ihre normativen Teile identisch seien. Die Präambeln dieser Beschlüsse seien demgegenüber jedoch nicht Teil der durch diese Beschlüsse erlassenen „Maßnahmen“ im Sinne von Art. 5 des Beschlusses 1999/468.
90 Dazu genügt die Feststellung, dass dieses Vorbringen der Kommission der ständigen Rechtsprechung zuwiderläuft, wonach der verfügende Teil eines Rechtsakts unter Berücksichtigung der Gründe auszulegen ist, die zu seinem Erlass geführt haben, und nicht von seiner Begründung getrennt werden kann, da sie ein Ganzes darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 26. April 1988, Asteris u. a./Kommission, 97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, Slg. 1988, 2181, Randnr. 27, und vom15. Mai 1997, TWD/Kommission, C-355/95 P, Slg. 1997, I-2549, Randnr. 21; vgl. Urteil des Gerichts vom 7. Oktober 1999, Irish Sugar/Kommission, T-228/97, Slg. 1999, II-2969, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Entgegen dem damit zusammenhängenden Vorbringen der Kommission, wonach die wissenschaftlichen Gutachten der EFSA, insbesondere das vom 11. Juni 2009, nicht zur Begründung der angefochtenen Beschlüsse gehörten, ist festzustellen, dass die Kommission dadurch, dass sie ihre Beschlüsse auf die Stellungnahmen einer wissenschaftlichen Behörde stützt, den Tenor dieser Stellungnahmen in die zur Annahme dieser Beschlüsse führende Beurteilung und in die Begründung dieser Beschlüsse einfließen lässt. Da die Kommission in den genannten Beschlüssen angibt, sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Gutachten der EFSA von 2005 und 2009 zu stützen, ohne das Gutachten der EFSA von 2004 zu erwähnen, und in einigen Erwägungsgründen auf diese Erkenntnisse verweist, stellt der Inhalt dieser Gutachten einen Bestandteil der Begründung dieser Beschlüsse dar (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichts vom 18. Dezember 2003, Fern Olivieri/Kommission und EMEA, T-326/99, Slg. 2003, II-6053, Randnr. 55).
92 Somit stellt in den Entwürfen der angefochtenen Beschlüsse das Hinzufügen von Erwägungsgründen, in denen als wissenschaftliche Grundlage auf ein neues EFSA-Gutachten verwiesen wird, eine Änderung dar, die jegliche Behauptung, dass die in Rede stehenden Beschlüsse mit den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen übereinstimmten, widerlegt.
93 Zweitens macht die Kommission geltend, das Hinzufügen zusätzlicher Erwägungsgründe in die geänderten Entwürfe stelle keine inhaltliche Änderung dar, sondern diene lediglich dazu, die Begründung der angefochtenen Beschlüsse unter Hinweis auf das Konsolidierte Gutachten der EFSA von 2009 zu untermauern. Dieses Gutachten bestätige nämlich die früheren Gutachten der EFSA, in denen diese im Wesentlichen festgestellt habe, dass das nptII-Gen unbedenklich sei.
94 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der im Mai 2008 eingeleitete neue Konsultationsprozess mit der EFSA nach dem eigenen Vorbringen der Kommission „teilweise darauf zurückzuführen [war], dass in dem Schreiben [einer NRO] von Februar 2008 und dem Schreiben [der] dänischen Minister… [für Ernährung und] für Landwirtschaft sowie für Umwelt von März 2008 Zweifel geäußert wurden“ und dass insofern wissenschaftliche Ungewissheiten bestanden hätten. Diese Zweifel bezogen sich auf die Unstimmigkeiten zwischen den spezifischen Gutachten der EFSA zur Amflora-Kartoffel und dem allgemeinen Gutachten der EFSA von 2004 über ARMG in Verbindung mit der Erklärung der EMA von 2007 über die therapeutische Bedeutung von Antibiotika, gegen die das nptII-Gen resistent ist.
95 Daraus folgt, dass das Hinzufügen zusätzlicher Erwägungsgründe nicht nur dazu diente, die Begründung der angefochtenen Beschlüsse zu untermauern, sondern auch dazu, im Einklang mit dem neuen Mandat, das die Kommission der EFSA am 14. Mai 2008 erteilt hatte, einige Unstimmigkeiten zwischen den früheren Gutachten zu klären und die bestehende wissenschaftliche Ungewissheit zu verringern, und zwar durch den Versuch, auf die in den Schreiben einer NRO und der dänischen Minister geäußerten inhaltlichen Einwände einzugehen. Es ist festzustellen, dass die begründete oder nicht begründete Antwort der EFSA auf derartige inhaltliche Einwände einen wesentlichen Bestandteil der Begründung der in Rede stehenden Beschlüsse darstellt, die eine inhaltliche Änderung des Rechtsakts und seines Regelungsgehalts bewirkt.
96 Außerdem ist dem Vorbringen der Kommission, wonach das Konsolidierte Gutachten der EFSA vom 11. Juni 2009 lediglich die in den früheren Gutachten der EFSA genannten Risikobewertungen (die auch in den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen für Zulassungsbeschlüsse der Kommission bei ihrer Vorlage an die Ausschüsse und den Rat erwähnt worden seien) bestätigt und im Ergebnis ebenfalls festgestellt habe, dass das nptII-Gen unbedenklich sei, entgegenzuhalten, dass das genannte Gutachten eine neue sachliche Prüfung darstellt und nicht bloß eine formale Bestätigung der in den EFSA-Gutachten von 2004 und 2005 sowie in der Erklärung der EFSA von 2007 enthaltenen Risikobewertungen. Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut des der EFSA erteilten neuen Mandats als auch aus den großen Unterschieden zwischen dem neuen und den früheren EFSA-Gutachten.
97 Zum einen ist dem Wortlaut des der EFSA von der Kommission am 14. Mai 2008 erteilten neuen Mandats, das im elften Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/135 und im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/136 erwähnt wird, zu entnehmen, dass das bei der EFSA angefragte neue Gutachten nicht bloß einer Bestätigung dienen konnte. Erstens oblag es der EFSA, „unter Berücksichtigung“ der früheren Gutachten und Erklärungen „die Gründe zu erläutern“ und „die Überlegungen darzulegen“, die zu diesen Schlussfolgerungen führten. Diese Formulierung zeigt, dass die Kommission die EFSA zur Vorlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse aufgefordert hat und dass diese ihre Begründung unter Berücksichtigung der früheren Gutachten und Erklärungen erläutern und ergänzen, d. h. ihre Schlussfolgerungen ändern sollte. Die Notwendigkeit für die EFSA, ihre früheren wissenschaftlichen Analysen zu überprüfen, kam im Übrigen auch durch die in der Folge für die Erstellung des Konsolidierten Gutachtens von der EFSA erbetene und von der Kommission akzeptierte sechsmonatige Fristverlängerung gegenüber dem ursprünglichen Mandat zum Ausdruck. Zweitens war es Sache der EFSA, anzugeben, welche Auswirkungen dieses neue Gutachten auf die früheren Bewertungen haben könnte, die sie in Bezug auf einzelne genetisch veränderte Pflanzen mit ARMG gemacht hatte. Daran zeigt sich auch, dass die Kommission von der EFSA, in enger Zusammenarbeit mit der EMA, eine überarbeitete wissenschaftliche Analyse erwartete, die für die Bewertung anderer GVO neue Konsequenzen haben könnte. Drittens hatte die Kommission als Anlage die Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung beigefügt. Das spricht dafür, dass es Aufgabe der EFSA war, die in diesen Schreiben beanstandeten Unstimmigkeiten zu klären.
98 Zum anderen ist auf drei große Unterschiede zwischen dem im elften Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/135 und im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/136 erwähnten Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009 und den früheren Gutachten der EFSA hinzuweisen, ohne dass die Richtigkeit der in diesen Gutachten jeweils vorgenommenen Risikobewertungen geprüft zu werden braucht. Im vorliegenden Fall beziehen sich diese Unterschiede auf den Verfasser der wissenschaftlichen Gutachten, auf denen jeweils die geänderten früheren Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen beruhen, auf den Inhalt der in diesen Gutachten gezogenen Schlussfolgerungen und auf das Vorhandensein von Minderheitsauffassungen im Rahmen der genannten Gutachten. Erstens stehen hinter dem Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009, verglichen mit den Gutachten und Erklärungen von 2004, 2005 und 2007, die allein vom GVO-Gremium erstellt wurden, weitere Verfasser, denn es stammt auch vom BIOHAZ-Gremium und wurde gemäß dem neuen Mandat der Kommission in enger Zusammenarbeit mit der EMA erstellt. Zweitens werden in den Schlussfolgerungen im Konsolidierten Gutachten der EFSA von 2009, auf denen die geänderten Vorschläge beruhen, die wissenschaftliche Unsicherheit („nicht ganz verstanden“, „Grenzen“, „Unsicherheiten“, „unwahrscheinlich“) und die Gefahren („Anlass weltweiter Sorge“) stärker hervorgehoben als in den Schlussfolgerungen des Gutachtens der EFSA von 2005 („kein Grund, anzunehmen“, „wäre kein zusätzliches Risiko“, „kein signifikantes Risiko“, „eine Schädigung der Umwelt wurde nicht festgestellt bzw. wäre unwahrscheinlich“) und in der Erklärung der EFSA von 2007 („wird nicht beeinträchtigt“, „Wahrscheinlichkeit ist äußerst gering“, „sehr unwahrscheinlich“, „stellt kein Risiko dar“), auf denen die vorherigen Entwürfe beruhten. Drittens enthält das Konsolidierte Gutachten der EFSA von 2009 Minderheitsauffassungen zweier Mitglieder des BIOHAZ-Gremiums, die die wissenschaftliche Unsicherheit hervorheben, während das EFSA-Gutachten von 2005 und die Erklärung der EFSA von 2007 keine Minderheitsauffassungen enthalten.
99 Insofern geht das Vorbringen der Kommission, wonach das Konsolidierte Gutachten der EFSA von 2009 lediglich die früheren Gutachten der EFSA bestätige, in tatsächlicher Hinsicht fehl.
100 Im Übrigen widerspricht diese Behauptung anderen Behauptungen der Kommission, die sie im vorliegenden Verfahren in ihren Schriftsätzen sowie in dem Verfahren vorgetragen hat, das zu dem Beschluss BASF Plant Science u. a./Kommission (siehe oben, Randnr. 53) geführt hat.
101 Zum einen steht das genannte Vorbringen im Widerspruch zu Randnr. 25 der Klagebeantwortung, worin die Kommission selbst einräumt, die EFSA-Gutachten, die vor dem von 2009 erstellt wurden, seien nicht ganz klar und „unmissverständlich“ gewesen und „mit Widersprüchen behaftet“. In zahlreichen Randnummern ihrer Klagebeantwortung und ihrer Gegenerwiderung hebt die Kommission jedoch den „umfassenden“ Charakter des Konsolidierten Gutachtens der EFSA von 2009 und die „Vollständigkeit“ der darin enthaltenen Risikobewertung hervor. Deshalb ist das EFSA-Gutachten von 2009 nach Ansicht der Kommission viel mehr als eine Bestätigung der früheren Risikobewertungen, denn es sei umfassend und vollständig, während die vorherigen Gutachten missverständlich und widersprüchlich gewesen seien.
102 Zum anderen steht das genannte Vorbringen der Kommission im Widerspruch zu dem, was sie in dem Rechtsstreit, der zu dem Beschluss BASF Plant Science u. a./Kommission, T‑293/08 (siehe oben, Randnr. 53), geführt hat, in ihrer Klagebeantwortung vorgetragen hat, die den Akten des vorliegenden Rechtsstreits beigefügt worden ist. Darin verwies die Kommission zunächst auf den „Kern“ des Rechtsstreits, d. h. auf ihre „Pflichten bei Vorliegen von Informationen, die auf … Unstimmigkeiten zwischen wissenschaftlichen Gutachten hinweisen“. Danach machte sie geltend, „die EFSA ha[be] in ihrer Erklärung von 2007 das Kriterium der therapeutischen Bedeutung außer Acht gelassen, indem sie [in Abweichung von den im EFSA-Gutachten von 2004 befürworteten Kriterien] weder die Stellungnahme der [EMA] noch die der WHO berücksichtigt ha[be]“. Damit kam sie zu der Feststellung, dass „es im Grunde genommen darum geh[e], ob die Erwägungen und Gründe, die den im Gutachten von 2004 getroffenen Schlussfolgerungen zugrunde [lägen], mit der Erklärung von 2007 im Einklang [stünden]“. Schließlich berief sie sich auf ihre „das Vorsorgeprinzip betreffende Pflicht, diese Unstimmigkeiten zu klären, und [machte geltend, dass] sie hierzu die [EFSA] konsultiert“ habe, so dass ihr keinerlei Untätigkeit vorgeworfen werden könne.
103 Diesem Vorbringen der Kommission ist zu entnehmen, dass sie zumindest nach Erhalt der Schreiben einer NRO und der dänischen Regierung der Ansicht war, dass die Erklärung der EFSA von 2007, da sie gegenüber dem EFSA-Gutachten von 2004 in Verbindung mit der Erklärung der EMA von 2007 eine Unstimmigkeit aufwies, eine für die Annahme der bereits den Regelungsausschüssen und dem Rat unterbreiteten Beschlussvorschläge zu unsichere wissenschaftliche Grundlage bildete und dass sie in Anbetracht der bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheit gemäß dem Vorsorgeprinzip erneut die EFSA konsultieren müsse, damit diese hinsichtlich der wissenschaftlichen Risikobewertung im Zusammenhang mit der Amflora-Kartoffel, insbesondere mit dem nptII-Gen, Klarstellungen vornehme.
104 Demzufolge ist das Vorbringen der Kommission, wonach die angefochtenen Beschlüsse mit den vorherigen Entwürfen und Vorschlägen übereinstimmten oder zumindest inhaltlich nicht geändert worden seien, als unbegründet zurückzuweisen.
105 Außerdem ist festzustellen, dass der dem Urteil des Gerichts vom 13. September 2006, Sinaga/Kommission (T‑217/99, T‑321/00 und T‑222/01, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 90 bis 96), zugrunde liegende Sachverhalt, auf den die Kommission verweist, um geltend zu machen, dass die in den zusätzlichen Erwägungsgründen hinzugefügte Begründung „keine inhaltliche Änderung des Rechtsakts“ (Urteil Sinaga/Kommission, Randnr. 95) bewirke, vom hier vorliegenden Sachverhalt zu unterscheiden ist. Zunächst betraf die Rechtssache, die zum letztgenannten Urteil führte, das Verwaltungsverfahren im Sinne von Art. 4 des Beschlusses 1999/468 und nicht das Regelungsverfahren im Sinne von Art. 5 dieses Beschlusses. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens erlässt die Kommission Maßnahmen, die unmittelbar gelten. Stimmen diese Maßnahmen jedoch mit der Stellungnahme des Ausschusses nicht überein, so werden sie sofort von der Kommission dem Rat mitgeteilt, der binnen drei Monaten einen anderen Beschluss fassen kann. Das Gleiche gilt für das Regelungsverfahren, wo die Kommission, falls die beabsichtigten Maßnahmen mit der Stellungnahme des Ausschusses nicht übereinstimmen oder, wie im vorliegenden Fall, keine Stellungnahme vorliegt, keine Maßnahmen ergreift, sondern dem Rat unverzüglich einen Vorschlag unterbreitet. Außerdem ging es in dem Rechtsstreit, der zum Urteil Sinaga/Kommission führte, um die Phase des Verfahrens, nachdem der Ausschuss (Verwaltungsausschuss für Zucker) befasst wurde, und nicht, wie im vorliegenden Fall, um die Phase nach Befassung des Rates. Schließlich hatte der Ausschuss in dem Rechtsstreit, der zum Urteil Sinaga/Kommission führte, bevor die zusätzliche Begründung hinzugefügt wurde, die keine wesentliche Änderung des Rechtsakts bewirkte, eine „befürwortende Stellungnahme“ abgegeben und damit die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen „gebilligt“ (Urteil Sinaga/Kommission, Randnrn. 91 bis 95), im Gegensatz zum vorliegenden Rechtsstreit, wo der Ausschuss keine befürwortende Stellungnahme abgeben konnte.
106 Drittens macht die Kommission geltend, sie habe, nachdem der Rat zu den vorgeschlagenen Maßnahmen keine Stellungnahme abgegeben habe, die beiden Zulassungsbeschlüsse unverzüglich angenommen. Sie habe daher eine Frist gehabt, um ein zusätzliches wissenschaftliches Gutachten einzuholen, und Art. 5 Abs. 6 des Beschlusses 1999/468 enthalte im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 4 dieses Beschlusses nicht den Ausdruck „unverzüglich“.
107 Dazu ist zunächst festzustellen, dass der die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Beschlüsse beeinträchtigende Mangel nicht die Frist betrifft, die für den Erlass der genannten Beschlüsse in Anspruch genommen wurde, nachdem die ursprünglichen Vorschläge dem Rat in dessen Sitzungen am 16. Juli 2007 und 18. Februar 2008 unterbreitet worden waren. Er bezieht sich vielmehr auf die den zuständigen Regelungsausschüssen und, gegebenenfalls, dem Rat gegenüber unterlassene Vorlage der geänderten Entwürfe der Zulassungsbeschlüsse.
108 Deshalb ist das Vorbringen der Kommission, wonach die angefochtenen Beschlüsse ohne Verzögerung angenommen worden seien, als nicht stichhaltig zurückzuweisen.
109 Überdies ist der zur Stützung dieses Arguments vorgebrachte Hinweis der Kommission auf das Urteil des Gerichtshofs vom 18. November 1999, Pharos/Kommission (C-151/98 P, Slg. 1999, I-8157), im vorliegenden Fall unerheblich. Der Rechtsstreit, der zum Urteil Pharos/Kommission führte, bezog sich nämlich auf die Phase des Verfahrens zwischen der Befassung des Ausschusses und der des Rates. Zu dieser Phase hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Kommission über einen gewissen Zeitraum verfügte, um, bevor sie dem Rat einen Vorschlag unterbreitete, ein neues wissenschaftliches Gutachten in Auftrag zu geben und vorab eine Kompromisslösung zu finden, damit der Vorschlag letztlich nicht vom Rat abgelehnt wird (Urteil Pharos/Kommission, Randnrn. 22 bis 27). Im vorliegenden Rechtsstreit betrifft das Vorbringen der Kommission jedoch die Phase des Verfahrens, nachdem der Rat keine Stellungnahme abgegeben hatte. In dieser Phase war es nach Art. 5 Abs. 6 Unterabs. 3 des Beschlusses 1999/468 Sache der Kommission, Maßnahmen der vorgeschlagenen Art zu ergreifen, doch ändern konnte sie diese nicht mehr.
110 Schließlich sind zwar, der Kommission folgend, die „große politische Sensibilität“ und die „Komplexität der Materie“ im Zusammenhang mit einem Genehmigungsantrag für das Inverkehrbringen von GVO hervorzuheben, doch sprechen derartige Gesichtspunkte gerade für die Verpflichtung der Kommission, geänderte Entwürfe von Zulassungsbeschlüssen für die Amflora-Kartoffel den zuständigen Regelungsausschüssen und gegebenenfalls dem Rat vorzulegen.
111 Aufgrund all dieser Erwägungen kann das Vorbringen der Kommission, da es unbegründet bzw. nicht stichhaltig ist, das Gericht nicht daran hindern, von Amts wegen zu prüfen und festzustellen, dass die angefochtenen Beschlüsse mit einem Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften behaftet sind, was ihre Rechtmäßigkeit beeinträchtigt. Im Übrigen stand die Befugnis der Kommission zum Erlass der genannten Beschlüsse unter dem Vorbehalt, dass sie das Regelungsverfahren einhält, und die Kommission hat die geänderten Entwürfe von Maßnahmen, die zu diesen Beschlüssen geführt haben, nicht gemäß Art. 5 Abs. 3 und 6 des Beschlusses 1999/468 den Regelungsausschüssen unterbreitet. Somit folgt aus der vorstehend in Randnr. 87 festgestellten Verletzung wesentlicher Formvorschriften, dass die Kommission nicht zum Erlass der fraglichen Beschlüsse befugt war.
Zur Nichtigkeitsklage
112 Nach alledem ist der Nichtigkeitsklage, ohne dass die Stichhaltigkeit der von Ungarn geltend gemachten Klagegründe geprüft zu werden braucht, wie von Ungarn beantragt, stattzugeben.
113 Demzufolge sind die angefochtenen Beschlüsse gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV für nichtig zu erklären.
Kosten
114 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag Ungarns die Kosten aufzuerlegen.
115 Nach Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen tragen daher ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss 2010/135/EU der Kommission vom 2. März 2010 über das Inverkehrbringen eines genetisch veränderten Kartoffelerzeugnisses (Solanum tuberosum L. Linie EH92‑527‑1) mit erhöhtem Amylopectingehalt in der Stärke gemäß der Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Beschluss 2010/136/EU der Kommission vom 2. März 2010 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Futtermitteln, die aus der genetisch veränderten Kartoffelsorte EH92‑527‑1 (BPS‑25271‑9) gewonnen werden, und des zufälligen oder technisch nicht zu vermeidenden Vorhandenseins dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates werden für nichtig erklärt.
2. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten Ungarns.
3. Die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Österreich und die Republik Polen tragen ihre eigenen Kosten.
Labucka
Frimodt Nielsen
Kancheva
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Dezember 2013.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Rechtlicher Rahmen
Genehmigungsverfahren für das Inverkehrbringen genetisch veränderter Organismen
Regelungsverfahren
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Das genehmigte Erzeugnis
Zulassungsanträge
Risikobewertungen und Ausschussverfahren
Zulassungsbeschlüsse
Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten
Rechtliche Würdigung
Zur Einhaltung wesentlicher Formvorschriften des Regelungsverfahrens
Zum Sachverhalt
Zur Einhaltung der Verpflichtung, die geänderten Entwürfe der angefochtenen Beschlüsse den zuständigen Regelungsausschüssen vorzulegen
Zur Übereinstimmung oder der fehlenden inhaltlichen Änderung der angefochtenen Beschlüsse gegenüber den vorherigen Entwürfen
Zur Nichtigkeitsklage
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 12. Dezember 2013.#Dirextra Alta Formazione srl gegen Regione Puglia.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per la Puglia.#Vorabentscheidungsersuchen – Freier Dienstleistungsverkehr – Vom Europäischen Sozialfonds kofinanzierte staatliche Subventionen zugunsten von Studenten, die in einem postgradualen Spezialisierungskurs eingeschrieben sind – Regionale Regelung zur Verbesserung des lokalen Unterrichtsstandards, nach der die Stipendienvergabe von Anforderungen an die Veranstalter der Postgraduiertenkurse abhängig gemacht wird – Voraussetzung einer ununterbrochenen Erfahrung von zehn Jahren.#Rechtssache C‑523/12.
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62012CJ0523
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ECLI:EU:C:2013:831
| 2013-12-12T00:00:00 |
Wathelet, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0523
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
12. Dezember 2013 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Freier Dienstleistungsverkehr — Vom Europäischen Sozialfonds kofinanzierte staatliche Subventionen zugunsten von Studenten, die in einem postgradualen Spezialisierungskurs eingeschrieben sind — Regionale Regelung zur Verbesserung des lokalen Unterrichtsstandards, nach der die Stipendienvergabe von Anforderungen an die Veranstalter der Postgraduiertenkurse abhängig gemacht wird — Voraussetzung einer ununterbrochenen Erfahrung von zehn Jahren“
In der Rechtssache C‑523/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per la Puglia (Italien) mit Entscheidung vom 17. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 19. November 2012, in dem Verfahren
Dirextra Alta Formazione srl
gegen
Regione Puglia
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters G. Arestis in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer sowie der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Regione Puglia, vertreten durch S. O. Di Lecce und V. Triggiani, avvocati,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 56 AEUV, 101 AEUV und 107 AEUV, der Art. 9 und 10 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), des Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK sowie der Art. 11 und 14 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen des Rechtsstreits zwischen der Dirextra Alta Formazione srl (im Folgenden: Dirextra), einer Einrichtung der Postgraduiertenausbildung, und der Regione Puglia (Region Apulien) über deren Entscheidungen, die Vergabe von u. a. vom Europäischen Sozialfonds (ESF) finanzierten Universitätsstipendien von bestimmten Anforderungen insbesondere an die Dauer des Bestehens der Ausbildungseinrichtung abhängig zu machen, bei der sich die Studenten, die diese Stipendien beantragen, einschreiben wollen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Nach dem 22. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. L 210, S. 25) sollten die Tätigkeiten der Fonds und die Vorhaben, die sie mitfinanzieren, in einem kohärenten Verhältnis zu den anderen Gemeinschaftspolitiken stehen und dem Gemeinschaftsrecht entsprechen.
4 Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 lautet:
„Die aus den Fonds finanzierten Vorhaben müssen den Bestimmungen des Vertrags und den aufgrund des Vertrags erlassenen Rechtsakten entsprechen.“
Regelung der Regione Puglia
5 Die Unterstützungsmaßnahmen für postgraduale Studien im Rahmen der Bestimmungen des regionalen operationellen Programms der Regione Puglia für den ESF wurden im Regionalgesetz Nr. 12 vom 26. Mai 2009 zur Regelung von Stipendien festgelegt, mit deren Hilfe die Studienabsolventen dieser Region neue akademische Qualifikationen erwerben können sollen (legge regionale no 12 – Misure in tema di borse di studio a sostegno della qualificazione delle laureate e dei laureati pugliesi) (Bollettino Ufficiale della Regione Puglia Nr. 78 vom 29. Mai 2009, S. 9856, im Folgenden: Regionalgesetz).
6 Nach Art. 2 des Regionalgesetzes müssen die Ausbildungseinrichtungen für Postgraduierte verschiedene Voraussetzungen erfüllen, damit der Besuch der entsprechenden Kurse durch die angebotenen Stipendien finanziert werden kann.
7 Diese Voraussetzungen richten sich danach, ob sie italienische oder ausländische öffentliche oder private Universitäten, die nach nationalem Recht anerkannt sind, private oder öffentliche Hochschuleinrichtungen, die anerkannte Master verleihen, oder schließlich sonstige Hochschuleinrichtungen, die besondere Anforderungen u. a. an die Dauer ihrer im Postgraduiertenunterricht erworbenen Erfahrung erfüllen, betreffen.
8 Zu dieser letzten Gruppe heißt es in Art. 2 Abs. 3 des Regionalgesetzes:
„Die von den Betroffenen gewählten Masterstudiengänge müssen von privaten oder öffentlichen Hochschuleinrichtungen angeboten werden, die für die letzten zehn Kalenderjahre vor Bekanntmachung der Stipendienvergabe eine ununterbrochene Tätigkeit in der Postgraduiertenausbildung vorweisen können. Als ‚Tätigkeit in der Postgraduiertenausbildung‘ gilt jeder Kurs, der ausschließlich für die Inhaber eines ‚laurea‘-Diploms bestimmt ist und mindestens 800 Stunden umfasst. Die Einrichtung muss die Tätigkeit als für die Durchführung Verantwortlicher und nicht bloß als Partner ausgeübt haben. Auch in diesem Fall dürfen die von den Betroffenen gewählten Masterstudiengänge die Gesamtdauer von 800 Stunden, davon mindestens 500 Stunden Hörsaalausbildung und jedenfalls ein Praktikum von mindestens 30 % der für den Masterstudiengang vorgesehenen Gesamtdauer, nicht unterschreiten.“
9 Mit Verfügung vom 2. Dezember 2009 genehmigte der Leiter des Dienstes für berufliche Bildung der Region Apulien die Bekanntmachung der Eröffnung des Verfahrens zur Vergabe der in dem Regionalgesetz vorgesehenen Stipendien.
10 In dieser Bekanntmachung hieß es insbesondere, dass die Stipendien u. a. für ein postgraduales Masterstudium gewährt werden können, das von privaten oder öffentlichen Hochschuleinrichtungen angeboten wird, die für den Zeitraum vom 3. Dezember 1999 bis zum 3. Dezember 2009 eine ununterbrochene Tätigkeit in der Postgraduiertenausbildung vorweisen können (im Folgenden: Voraussetzung einer Erfahrung von zehn Jahren).
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
11 Dirextra ist eine private Hochschuleinrichtung, die eine Tätigkeit in der Postgraduiertenausbildung von mehr als 8000 Stunden in einem Zeitraum von nur fünf statt, wie von dem Regionalgesetz verlangt, zehn Jahren vor Bekanntmachung der Eröffnung des Verfahrens zur Stipendienvergabe vorweist.
12 Dirextra stellte mit der bei dem vorlegenden Gericht erhobenen Klage auf Nichtigerklärung der Verfügung vom 2. Dezember 2009 und der Bekanntgabe der Verfahrenseröffnung die Rechtmäßigkeit der Voraussetzung einer Erfahrung von zehn Jahren in Frage.
13 Sie trug vor, dass eine solche Forderung mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Grundsätzen des freien Wettbewerbs, der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung unvereinbar sei und gegen die Art. 56 ff. AEUV, 101 ff. AEUV sowie die Bestimmungen der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. L 134, S. 1), der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114) und der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376, S. 36) verstoße.
14 Das vorlegende Gericht hat diese Richtlinien im vorliegenden Fall für nicht anwendbar erklärt und ist im Wesentlichen der Auffassung, dass die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs, die sich aus der Voraussetzung einer Erfahrung von zehn Jahren ergäben, zu einer Ungleichbehandlung führten, die mit den Zielen der Maßnahmen des ESF zur Verbesserung der Qualität sämtlicher Ausbildungssysteme unvereinbar sei. Dass die Auswahl der Dienstleistungseinrichtungen von dieser Voraussetzung abhängig gemacht werde, sei unverhältnismäßig und nicht auf die konkrete Dauer der finanzierungsfähigen Kurse, nämlich mindestens 800 Stunden jährlich, abgestimmt sowie angesichts der Ratio der Maßnahme der Europäischen Union überzogen.
15 Die Auswahl könne – ohne Verfälschung des Wettbewerbs und ohne Beeinträchtigung der Unterrichtsqualität und zugleich unter Wahrung der Unterrichtsfreiheit und der Ideenvielfalt, die durch die Art. 9 und 10 EMRK sowie die Art. 11 und 14 der Charta geschützt seien – anhand von Voraussetzungen vorgenommen werden, die den Wettbewerb weniger beschränkten und in einem angemessenen Verhältnis zur Dauer der Masterstudiengänge stünden, die von Einrichtungen durchzuführen seien, die auf jeden Fall ein hohes Maß an Professionalität für sich in Anspruch nehmen könnten.
16 Das Tribunale amministrativo regionale per la Puglia hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist eine Bestimmung wie in Art. 2 Abs. 3 des Regionalgesetzes, die für die Erbringung bestimmter spezifischer Dienstleistungen zur Verbesserung des Bildungsstandards auf lokaler Ebene (Angebot von postgradualen Masterstudiengängen) den Zugang zum Markt restriktiv regelt, indem er von der Erfüllung einer einzigen, im Verhältnis zur Ratio der Gemeinschaftsmaßnahme (Verbesserung der Ausbildungsqualität und folglich Auswahl von Einrichtungen, die die erforderlichen Qualifikationen aufweisen) willkürlich ausgewählten und formulierten Voraussetzung (Stundenmenge, die sich über einen unangemessen langen Zeitraum erstreckt) abhängig gemacht wird, die nicht auf die konkrete Dauer der fraglichen Dienstleistung abgestimmt ist, mit den Art. 56 ff. AEUV, 101 ff. AEUV und Art. 107 ff. AEUV sowie mit den sich aus diesen Rechtsvorschriften ergebenden Grundsätzen des Wettbewerbs, der Verhältnismäßigkeit, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung sowie den Art. 9 und 10 EMRK, Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK und den Art. 11 und 14 der Charta vereinbar?
Zur Vorlagefrage
Vorbemerkungen
17 Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Vereinbarkeit von Vorschriften des nationalen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern. Dagegen ist er befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissonal und Bwin International, C-42/07, Slg. 2009, I-7633, Randnr. 37).
18 Mit seiner Frage, ob eine Voraussetzung zu weit geht, durch die bestimmte Hochschuleinrichtungen daran gehindert werden, Studenten, die ein u. a. vom ESF finanziertes Regionalstipendium beantragen, ihre Dienstleistungen zu erbringen, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Erfordernisse des freien Dienstleistungsverkehrs nach Art. 56 AEUV einer solchen Voraussetzung entgegenstehen. Daher sind seine Ausführungen zu den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung dahin zu verstehen, dass sie in den Ausführungen zu diesen Erfordernissen aufgehen, und folglich nicht separat zu beantworten.
19 Darüber hinaus enthält die Vorlageentscheidung, was den Verweis in der Frage des vorlegenden Gerichts auf die Art. 101 ff. AEUV über den Wettbewerb und die Art. 107 ff. über staatliche Beihilfen sowie auf die Art. 11 und 14 der Charta betrifft, keine hinreichende Begründung, anhand deren der Gerichtshof die Entscheidungserheblichkeit prüfen und folglich über das Ersuchen des vorlegenden Gerichts, soweit es sich auf diese Bestimmungen bezieht, befinden könnte.
20 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht nicht das Verhältnis zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten regelt und auch nicht bestimmt, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer Regelung des nationalen Rechts zu ziehen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. April 2012, Kamberaj, C‑571/10, Randnr. 62, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, Randnr. 44). Der Gerichtshof hat über das Ersuchen des vorlegenden Gerichts daher nicht zu befinden, soweit es die EMRK und deren Zusatzprotokoll betrifft.
Zum freien Dienstleistungsverkehr
21 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der freie Dienstleistungsverkehr nach Art. 56 EG nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen – selbst wenn sie unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten –, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Citroën Belux, C‑265/12, Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Im vorliegenden Fall lässt sich nicht ausschließen, dass Bildungseinrichtungen, die in einem anderen Mitgliedstaat als der Italienischen Republik ansässig sind, die Möglichkeit, ihre Dienstleistungen Studenten zu erbringen, die ein Regionalstipendium in Anspruch nehmen können, allein aus dem Grund verwehrt wird, dass diese Einrichtungen nicht die nach dem Regionalgesetz vorgeschriebene Voraussetzung einer Erfahrung von zehn Jahren erfüllen.
23 Im Übrigen hält eine Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche dadurch, dass sie die Gewährung des Stipendiums von der Voraussetzung abhängig macht, dass die Bildungseinrichtung, bei der sich der Student einschreiben möchte, nachweislich ununterbrochen seit zehn Jahren besteht, diesen möglicherweise davon ab, sich bei Einrichtungen einzuschreiben, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, und macht daher deren Tätigkeit weniger attraktiv.
24 Eine solche Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs ist nur zulässig, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, soweit sie in einem solchen Fall geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. u. a. Urteil Citroën Belux, Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, dass das Ziel des fraglichen Regionalgesetzes darin besteht, einen hohen Standard der Postgraduiertenausbildung, zu der der Zugang durch die Gewährung eines Stipendiums erleichtert wird, sicherzustellen, um jungen Diplominhabern, die nie in einem Arbeitsverhältnis gestanden oder die ihre Arbeit verloren haben, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Unbestreitbar entspricht es einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses, dass die Finanzierung einer Hochschulausbildung auf diese Weise von einer Voraussetzung abhängig gemacht wird, die die Qualität dieser Ausbildung gewährleisten soll. Das Ziel, einen hohen Standard der Hochschulausbildung sicherzustellen, erscheint legitim und damit geeignet, Beschränkungen der Grundfreiheiten zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2003, Neri, C-153/02, Slg. 2003, I-13555, Randnr. 46).
26 Die Forderung, dass Bildungseinrichtungen einen Mindeststandard an Erfahrung aufweisen, stellt als solche eine für das verfolgte Ziel geeignete Maßnahme dar.
27 Zudem ist angesichts der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen nicht ersichtlich, dass eine solche Voraussetzung dadurch, dass die Dauer der Erfahrung, die erforderlich ist, um zu den Einrichtungen zu gehören, bei denen sich die betroffenen Studenten einschreiben können, auf zehn ununterbrochene Jahre festgelegt ist, über das hinausgeht, was zur Erreichung des gesetzten Ziels erforderlich ist.
28 Es steht nämlich fest, dass das fragliche Regionalgesetz nach seinem Art. 2 den Studenten die Möglichkeit eröffnet, sich nicht nur bei italienischen oder ausländischen öffentlichen oder privaten Universitäten, die nach nationalem Recht anerkannt sind, einzuschreiben, sondern auch bei privaten oder öffentlichen Hochschuleinrichtungen, die anerkannte Master verleihen, oder bei anderen Einrichtungen, deren Master nicht anerkannt sind. Es erscheint nicht unverhältnismäßig, für die Letztgenannten – die allein von der Voraussetzung einer Erfahrung von zehn Jahren betroffen sind – zu verlangen, dass sie eine hinreichend lange Erfahrung vorweisen, die ohne staatliche Kontrolle und ohne Anerkennung vermuten lässt, dass ihr Unterricht dieselbe Qualität aufweist wie derjenige von Hochschuleinrichtungen, die nach nationalem Recht anerkannt sind, und von Einrichtungen, deren Master anerkannt sind.
29 Insoweit erscheint angesichts der Zeiträume, nach denen Universitäten ihre Anerkennung nach nationalem Recht erlangen oder in anderen Einrichtungen der Postgraduiertenausbildung verliehene Master anerkannt werden, die erforderliche Dauer von zehn Jahren nicht als zu lang.
30 Nach alledem ist auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, nach der Hochschuleinrichtungen, bei denen sich Studenten, die ein u. a. vom ESF finanziertes Stipendium beantragen, einschreiben wollen, eine Erfahrung von zehn Jahren vorweisen müssen, wenn es sich bei diesen Einrichtungen weder um Universitäten handelt, die nach nationalem Recht anerkannt sind, noch um Einrichtungen, die anerkannte Master verleihen.
Kosten
31 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, nach der Hochschuleinrichtungen, bei denen sich Studenten, die ein u. a. vom Europäischen Sozialfonds finanziertes Stipendium beantragen, einschreiben wollen, eine Erfahrung von zehn Jahren vorweisen müssen, wenn es sich bei diesen Einrichtungen weder um Universitäten handelt, die nach nationalem Recht anerkannt sind, noch um Einrichtungen, die anerkannte Master verleihen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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