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2025-07-23 00:00:00
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 20. März 2025.#SIA "A" gegen C u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Augstākā tiesa (Senāts).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 93/13/EWG – Anwendungsbereich – Art. 2 Buchst. b – Art. 3 Abs. 1 – Art. 4 Abs. 2 – Art. 5 – Art. 6 Abs. 1 – Art. 8a – Vorformulierter Standardvertrag – Vertrag, der zwischen einem Gewerbetreibenden, der Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere erbringt, und einem minderjährigen, durch seine Eltern vertretenen Nachwuchsspieler geschlossen wird – Klausel, die diesen Sportler verpflichtet, dem Gewerbetreibenden ein Entgelt in Höhe von 10 % der von ihm in den folgenden 15 Jahren erzielten Einnahmen zu zahlen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 17 und 24 – Eigentumsrecht – Rechte des Kindes.#Rechtssache C-365/23.
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62023CJ0365
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ECLI:EU:C:2025:192
| 2025-03-20T00:00:00 |
Rantos, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
20. März 2025(*)
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 93/13/EWG – Anwendungsbereich – Art. 2 Buchst. b – Art. 3 Abs. 1 – Art. 4 Abs. 2 – Art. 5 – Art. 6 Abs. 1 – Art. 8a – Vorformulierter Standardvertrag – Vertrag, der zwischen einem Gewerbetreibenden, der Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere erbringt, und einem minderjährigen, durch seine Eltern vertretenen Nachwuchsspieler geschlossen wird – Klausel, die diesen Sportler verpflichtet, dem Gewerbetreibenden ein Entgelt in Höhe von 10 % der von ihm in den folgenden 15 Jahren erzielten Einnahmen zu zahlen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 17 und 24 – Eigentumsrecht – Rechte des Kindes “
In der Rechtssache C‑365/23 [Arce](i)
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā tiesa (Senāts) (Oberstes Gericht, Lettland) mit Entscheidung vom 7. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juni 2023, in dem Verfahren
SIA „A“
gegen
C,
D,
E
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer I. Jarukaitis (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. Gratsias und E. Regan,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juni 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der SIA „A“, vertreten durch A. Bitāns, Advokāts,
– von C, vertreten durch I. Grunte, Advokāts,
– von D und E, vertreten durch G. Madelis, Jurists, und K. Salmgrieze, Advokāte,
– der lettischen Regierung, vertreten durch E. Bārdiņš, J. Davidoviča und K. Pommere als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Rubene und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Oktober 2024
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. b, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) und von Art. 8a der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 geänderten Fassung (ABl. 2011, L 304, S. 64) sowie von Art. 17 Abs. 1 und Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SIA „A“, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung lettischen Rechts, die das Ziel verfolgt, die Entwicklung von Sportlern in Lettland zu fördern, auf der einen Seite und C, D und E auf der anderen Seite wegen einer Forderung auf Zahlung eines Entgelts in Erfüllung eines Vertrags über Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Charta
3 Art. 17 („Eigentumsrecht“) Abs. 1 der Charta sieht vor:
„Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.“
4 Art. 24 („Rechte des Kindes“) Abs. 2 der Charta bestimmt:
„Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“
5 Art. 51 („Anwendungsbereich“) der Charta hat folgenden Wortlaut:
„(1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.
(2) Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“
Richtlinie 93/13
6 In den Erwägungsgründen 10, 13 und 16 der Richtlinie 93/13 heißt es:
„Durch die Aufstellung einheitlicher Rechtsvorschriften auf dem Gebiet missbräuchlicher Klauseln kann der Verbraucher besser geschützt werden. Diese Vorschriften sollten für alle Verträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern gelten. Von dieser Richtlinie ausgenommen sind daher insbesondere Arbeitsverträge sowie Verträge auf dem Gebiet des Erb‑, Familien- und Gesellschaftsrechts.
…
Bei Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, in denen direkt oder indirekt die Klauseln für Verbraucherverträge festgelegt werden, wird davon ausgegangen, dass sie keine missbräuchlichen Klauseln enthalten. Daher sind Klauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Grundsätzen oder Bestimmungen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft Vertragsparteien sind, nicht dieser Richtlinie zu unterwerfen; der Begriff ‚bindende Rechtsvorschriften‘ in Artikel 1 Absatz 2 umfasst auch Regeln, die nach dem Gesetz zwischen den Vertragsparteien gelten, wenn nichts anderes vereinbart wurde.
…
Die nach den generell festgelegten Kriterien erfolgende Beurteilung der Missbräuchlichkeit von Klauseln, insbesondere bei beruflichen Tätigkeiten des öffentlich-rechtlichen Bereichs, die ausgehend von einer Solidargemeinschaft der Dienstleistungsnehmer kollektive Dienste erbringen, muss durch die Möglichkeit einer globalen Bewertung der Interessenlagen der Parteien ergänzt werden. Diese stellt das Gebot von Treu und Glauben dar. Bei der Beurteilung von Treu und Glauben ist besonders zu berücksichtigen, welches Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien bestand, ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu der Klausel zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden. Dem Gebot von Treu und Glauben kann durch den Gewerbetreibenden Genüge getan werden, indem er sich gegenüber der anderen Partei, deren berechtigten Interessen er Rechnung tragen muss, loyal und billig verhält.“
7 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.“
8 Art. 2 der Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bedeuten:
a) missbräuchliche Klauseln: Vertragsklauseln, wie sie in Artikel 3 definiert sind;
b) Verbraucher: eine natürliche Person, die bei Verträgen, die unter diese Richtlinie fallen, zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann;
c) Gewerbetreibender: eine natürliche oder juristische Person, die bei Verträgen, die unter diese Richtlinie fallen, im Rahmen ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, auch wenn diese dem öffentlich-rechtlichen Bereich zuzurechnen ist.“
9 Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.
(2) Eine Vertragsklausel ist immer dann als nicht im Einzelnen ausgehandelt zu betrachten, wenn sie im Voraus abgefasst wurde und der Verbraucher deshalb, insbesondere im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags, keinen Einfluss auf ihren Inhalt nehmen konnte.
Die Tatsache, dass bestimmte Elemente einer Vertragsklausel oder eine einzelne Klausel im Einzelnen ausgehandelt worden sind, schließt die Anwendung dieses Artikels auf den übrigen Vertrag nicht aus, sofern es sich nach der Gesamtwertung dennoch um einen vorformulierten Standardvertrag handelt.
Behauptet ein Gewerbetreibender, dass eine Standardvertragsklausel im Einzelnen ausgehandelt wurde, so obliegt ihm die Beweislast.“
10 Art. 4 der Richtlinie 93/13 lautet:
„(1) Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.
(2) Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“
11 Art. 5 der Richtlinie sieht vor:
„Sind alle dem Verbraucher in Verträgen unterbreiteten Klauseln oder einige dieser Klauseln schriftlich niedergelegt, so müssen sie stets klar und verständlich abgefasst sein. Bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel gilt die für den Verbraucher günstigste Auslegung. Diese Auslegungsregel gilt nicht im Rahmen der in Artikel 7 Absatz 2 vorgesehenen Verfahren.“
12 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“
13 Art. 8 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten.“
14 Mit der Richtlinie 2011/83 wurde die Richtlinie 93/13 geändert, indem in sie ein Art. 8a eingefügt wurde. Art. 8a Abs. 1 sieht vor:
„Erlässt ein Mitgliedstaat Vorschriften nach Artikel 8, so setzt er die Kommission hiervon sowie von allen nachfolgenden Änderungen in Kenntnis, insbesondere wenn diese Vorschriften:
– die Missbräuchlichkeitsprüfung auf individuell ausgehandelte Vertragsklauseln oder auf die Angemessenheit des Preises oder des Entgelts ausdehnen;
– Listen mit Vertragsklauseln, die als missbräuchlich gelten, enthalten.“
Richtlinie 2005/29/EG
15 Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005, L 149, S. 22, berichtigt in ABl. 2009, L 253, S. 18) bestimmt:
„Geschäftspraktiken, die voraussichtlich in einer für den Gewerbetreibenden vernünftigerweise vorhersehbaren Art und Weise das wirtschaftliche Verhalten nur einer eindeutig identifizierbaren Gruppe von Verbrauchern wesentlich beeinflussen, die aufgrund von geistigen oder körperlichen Gebrechen, Alter oder Leichtgläubigkeit im Hinblick auf diese Praktiken oder die ihnen zugrunde liegenden Produkte besonders schutzbedürftig sind, werden aus der Perspektive eines durchschnittlichen Mitglieds dieser Gruppe beurteilt. Die übliche und rechtmäßige Werbepraxis, übertriebene Behauptungen oder nicht wörtlich zu nehmende Behauptungen aufzustellen, bleibt davon unberührt.“
Lettisches Recht
Zivilgesetzbuch
16 Art. 186 des Civillikums (Zivilgesetzbuch) sieht vor, dass die Eltern das Kind gemeinschaftlich in dessen persönlichen und vermögensrechtlichen Beziehungen vertreten (Gesamtvertretung).
17 Art. 223 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:
„Der Vater und die Mutter sind aufgrund ihres Sorgerechts die natürlichen Vormünder ihres minderjährigen Kindes.“
18 Art. 293 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:
„Der Vormund kann in den den Minderjährigen betreffenden Angelegenheiten und in dessen Interesse Verträge aller Art abschließen sowie Zahlungen annehmen und leisten. Alle diese Handlungen sind für den Minderjährigen verbindlich, sofern der Vormund nach Treu und Glauben gehandelt, sich im Rahmen einer ordnungsgemäßen Wirtschaftsführung gehalten und den Minderjährigen nicht ohne besondere Erfordernisse über den Zeitpunkt des Erreichens der Volljährigkeit hinaus gebunden hat.“
19 Art. 1408 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:
„Minderjährige sind nicht geschäftsfähig.“
Verbraucherschutzgesetz
20 Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Patērētāju tiesību aizsardzības likums (Verbraucherschutzgesetz) vom 1. April 1999 (Latvijas Vēstnesis, 1999, Nr. 104/105) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:
„Für die Zwecke dieses Gesetzes bezeichnet der Ausdruck:
…
„3. Verbraucher: jede natürliche Person, die den Willen äußert, Güter oder Dienstleistungen zu einem Zweck zu erwerben, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, oder die solche Güter oder Dienstleistungen erwirbt oder sie möglicherweise erwerben oder verwenden wird;
4. Erbringer von Dienstleistungen: jede Person, die in Ausübung ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit einem Verbraucher eine Dienstleistung erbringt;
…“
21 Art. 6 („Missbräuchliche Vertragsklauseln“) dieses Gesetzes sieht vor:
„…
(2) Die Klauseln des Vertrags müssen klar und verständlich abgefasst sein.
(3) Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist missbräuchlich, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.
…
(8) Missbräuchliche Klauseln in einem Vertrag zwischen einem Hersteller, einem Verkäufer oder einem Dienstleistungserbringer und einem Verbraucher sind vom Zeitpunkt des Vertragsabschlusses an nichtig; der Vertrag bleibt jedoch gültig, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.
…“
22 Durch das Gesetz vom 24. April 2014 (Latvijas Vēstnesis, 2014, Nr. 92) wurde in Art. 6 des Verbraucherschutzgesetzes ein Abs. 2 mit folgendem Wortlaut eingefügt:
„Die Bestimmungen dieses Artikels gelten nicht für Vertragsklauseln, die den Vertragsgegenstand festlegen oder die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und der Ware bzw. der Dienstleistung betreffen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
23 A bietet Sportlern eine Reihe von Dienstleistungen zur Unterstützung der Entwicklung ihrer beruflichen Fähigkeiten und ihrer Karriere an.
24 Am 14. Januar 2009 schloss A mit C, einem damals 17-jährigen minderjährigen Kind, vertreten durch D und E, seine Eltern, einen Vertrag über Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere von C, um ihm, der noch kein Berufssportler war, eine erfolgreiche berufliche Laufbahn im Basketball zu ermöglichen (im Folgenden: Vertrag vom 14. Januar 2009). Dieser Vertrag wurde über eine Laufzeit von 15 Jahren, d. h. bis zum 14. Januar 2024, abgeschlossen.
25 Der Vertrag vom 14. Januar 2009 sah vor, dass A dem C eine Reihe von Dienstleistungen anbietet, u. a. Ausbildungs- und Trainingsdienstleistungen, sportmedizinische Leistungen und die Begleitung durch einen Sportpsychologen, Maßnahmen zur Unterstützung der Karriere, Abschluss von Verträgen zwischen dem Sportler und den Vereinen, Marketing, Rechtsberatung und Buchhaltung. Im Gegenzug verpflichtete sich C nach Klausel 6.1 dieses Vertrags an A ein Entgelt in Höhe von 10 % sämtlicher während der Laufzeit des Vertrags erzielten Nettoeinnahmen zuzüglich der in Lettland geltenden Mehrwertsteuer zu zahlen, sofern diese Einnahmen mindestens 1 500 Euro pro Monat betrugen.
26 Am 29. Juni 2020 erhob A, die der Ansicht war, dass das im Vertrag vom 14. Januar 2009 vorgesehene Entgelt für die C erbrachten Dienstleistungen nicht gezahlt worden sei, bei den lettischen Gerichten Klage mit dem Antrag, die Beklagten des Ausgangsverfahrens zu verurteilen, an sie 1 663 777,99 Euro zu zahlen, was 10 % der Einnahmen von C aus Verträgen mit Sportvereinen entspreche.
27 Das erstinstanzliche Gericht und anschließend das Berufungsgericht wiesen die Klage von A mit der Begründung ab, dass der Vertrag vom 14. Januar 2009 nicht mit den nationalen Vorschriften über den Schutz der Verbraucherrechte vereinbar gewesen sei und dass insbesondere die Klausel, wonach C während der gesamten Vertragslaufzeit ein Entgelt in Höhe von 10 % seiner Einnahmen zu zahlen habe, missbräuchlich gewesen sei.
28 A legte Kassationsbeschwerde bei der Augstākā tiesa (Senāts) (Oberstes Gericht, Lettland), dem vorlegenden Gericht, ein. Die Gesellschaft machte geltend, dass die nationalen Bestimmungen über den Schutz der Verbraucherrechte im vorliegenden Fall nicht einschlägig seien, da der Vertrag vom 14. Januar 2009 zur Kategorie der Sportverträge für „Nachwuchssportler“ gehöre, auf die diese Bestimmungen nicht anwendbar seien. A beantragte auch, dem Gerichtshof ein Ersuchen um Vorabentscheidung vorzulegen.
29 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof den Begriff „Verbraucher“ zwar bereits mehrfach ausgelegt, sich bislang aber noch nicht mit der Frage befasst habe, ob die Vorschriften zum Schutz der Verbraucherrechte im Bereich des Sports anwendbar sind. Sollte dies der Fall sein, ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts der Umstand, dass die Tätigkeit eines jungen Sportlers, wie im vorliegenden Fall, nach Abschluss des in Rede stehenden Dienstleistungsvertrags beruflichen Charakter erlange, unerheblich und könne den Betroffenen nicht daran hindern, sich auf die Eigenschaft als „Verbraucher“ im Sinne der Richtlinie 93/13 zu berufen.
30 Das vorlegende Gericht weist auch auf die Unterschiede in der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten hin, die seiner Ansicht nach die Erforderlichkeit begründeten, zu diesem Thema Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
31 So habe die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Urteil vom 23. Mai 2019 entschieden, dass ein Basketballspieler, der in seiner Eigenschaft als zukünftiger Spieler einen Dienstleistungsvertrag mit einer Sportagentur geschlossen habe, in dem sich diese verpflichtet habe, für Rechnung des Spielers mit den Sportvereinen die Untervertragnahme des Betroffenen zu verhandeln, während sich dieser als Gegenleistung dazu verpflichtet habe, an die Agentur einen bestimmten Betrag, dessen Höhe sich nach den im Rahmen dieser Zusammenarbeit geschlossenen Verträgen richtete, zu zahlen, als Verbraucher und nicht als Gewerbetreibender gehandelt habe. Dagegen habe das Oberlandesgericht München (Deutschland) in einem Urteil vom 7. November 2002 in einem Rechtsstreit zwischen einem jungen Tennisspieler und einer Sportagentur, der einen ähnlichen Dienstleistungsvertrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden betroffen habe, die Verbraucherschutzvorschriften nicht auf dieses Rechtsverhältnis angewandt.
32 Das vorlegende Gericht wirft auch weitere Fragen auf, insbesondere die, ob eine Klausel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende als klar und verständlich abgefasst angesehen werden kann und ob sie ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner im Sinne von Art. 5 bzw. Art. 3 der Richtlinie 93/13 verursacht.
33 Unter diesen Umständen hat die Augstākā tiesa (Senāts) (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Fällt ein Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere eines Sportlers, der von einem Unternehmer in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit im Bereich der Entwicklung und des Trainings von Sportlern auf der einen und von einem durch seine Eltern vertretenen Minderjährigen, der bei Abschluss des Vertrags keine berufliche Tätigkeit im Bereich der betreffenden Sportart ausübt, auf der anderen Seite abgeschlossen wird, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13?
2. Falls die erste Frage verneint wird: Steht die Richtlinie 93/13 einer nationalen Rechtsprechung entgegen, die die Rechtsvorschriften, mit denen diese Richtlinie in die nationale Rechtsordnung umgesetzt wird, dahin auslegt, dass die in ihr enthaltenen Vorschriften zum Schutz der Verbraucherrechte auch auf solche Verträge anwendbar sind?
3. Falls die erste oder die zweite Frage bejaht wird: Kann ein nationales Gericht eine Vertragsklausel, in der sich der junge Sportler für die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere in einer bestimmten Sportart dazu verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der nächsten 15 Jahre erhält, zu zahlen, gemäß Art. 3 der Richtlinie 93/13 einer Prüfung der Missbräuchlichkeit unterziehen, ohne davon ausgehen zu müssen, dass diese Klausel zu den Klauseln gehört, die nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 von der Beurteilung der Missbräuchlichkeit ausgenommen sind?
4. Falls die dritte Frage bejaht wird: Ist eine Vertragsklausel, in der der junge Sportler sich verpflichtet, für die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere eines Sportlers ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der nächsten 15 Jahre erhält, zu zahlen, als im Sinne von Art. 5 der Richtlinie 93/13 klar und verständlich abgefasst anzusehen, wenn berücksichtigt wird, dass der junge Sportler zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses über keine klaren Informationen zum Wert der erbrachten Dienstleistung und zur für diese Dienstleistung zu zahlenden Summe verfügt hat, die es ihm erlaubt hätten, die sich daraus für ihn möglicherweise ergebenden wirtschaftlichen Folgen zu beurteilen?
5. Falls die dritte Frage bejaht wird: Ist davon auszugehen, dass eine Vertragsklausel, in der der junge Sportler sich verpflichtet, für die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere eines Sportlers ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der nächsten 15 Jahre erhält, zu zahlen, gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 eine Klausel ist, die zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht, wenn berücksichtigt wird, dass diese Bestimmung keine Verbindung zwischen dem Wert der erbrachten Dienstleistung und den dem Verbraucher entstehenden Kosten herstellt?
6. Falls die fünfte Frage bejaht wird: Verstieße eine Entscheidung eines nationalen Gerichts, mit der der Betrag, dessen Zahlung der Dienstleistungserbringer vom Verbraucher verlangen kann, auf die Kosten herabgesetzt würde, die dem Dienstleistungserbringer zur Erbringung der vertragsgegenständlichen Dienstleistungen an den Verbraucher tatsächlich entstanden sind, gegen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13?
7. Falls die dritte Frage verneint wird und die Vertragsklausel, in der sich der Verbraucher verpflichtet, für die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere eines Sportlers ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der nächsten 15 Jahre erhält, zu zahlen, gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 von der Beurteilung der Missbräuchlichkeit ausgenommen ist: Kann das nationale Gericht, wenn es festgestellt hat, dass die Höhe des Entgelts im Vergleich zu dem vom Erbringer der Dienstleistungen geleisteten Beitrag offensichtlich unverhältnismäßig ist, diese Vertragsklausel gleichwohl aufgrund des nationalen Rechts für missbräuchlich erklären?
8. Falls die siebte Frage bejaht wird: Sind bei einem mit einem Verbraucher vor dem Inkrafttreten von Art. 8a der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung abgeschlossenen Vertrag die seitens des Mitgliedstaats gemäß Art. 8a dieser Richtlinie an die Europäische Kommission übermittelten Informationen über die von dem Mitgliedstaat gemäß Art. 8 erlassenen Vorschriften zu berücksichtigen, und ist, sollte dies der Fall sein, die Zuständigkeit des nationalen Gerichts durch die von dem Mitgliedstaat nach Art. 8a der Richtlinie 93/13 in der durch die Richtlinie 2011/83 geänderten Fassung übermittelten Informationen beschränkt, wenn der Mitgliedstaat angegeben hat, dass seine Rechtsvorschriften nicht über die in dieser Richtlinie festgelegten Mindeststandards hinausgehen?
9. Falls die erste oder die zweite Frage bejaht wird: Welche Bedeutung hat im Licht von Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 24 der Charta für die Anwendung der Rechtsvorschriften, mit denen die Vorschriften der Richtlinie 93/13 in das nationale Recht umgesetzt werden, der Umstand, dass der junge Sportler bei Abschluss des betreffenden Vertrags über die Erbringung von Dienstleistungen mit einer Vertragsdauer von 15 Jahren noch minderjährig war und der Vertrag, in dem für ihn die Verpflichtung zur Zahlung eines Entgelts in Höhe von 10 % aller Einnahmen, die er während der nächsten 15 Jahre erhält, vereinbart wurde, deshalb von seinen Eltern im Namen des Minderjährigen abgeschlossen wurde?
10. Falls die erste oder die zweite Frage verneint wird: Verletzt, wenn berücksichtigt wird, dass sportliche Aktivitäten dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterfallen, ein mit einem minderjährigen jungen Sportler durch seine Eltern in seinem Namen abgeschlossener Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen mit einer Vertragsdauer von 15 Jahren, der diesen Minderjährigen verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % aller Einnahmen, die er während der nächsten 15 Jahre erhält, zu zahlen, die in Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechte?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
34 A macht die Unzulässigkeit bestimmter Vorlagefragen geltend.
35 Als Erstes seien die Fragen 3 bis 5 unzulässig, da mit ihnen das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen nicht um die Auslegung des Unionsrechts, sondern um dessen Anwendung auf einen konkreten Fall ersuche, insbesondere durch die Feststellung, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Klausel in den Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 falle und, wenn dies nicht der Fall sei, ob sie gegen Art. 5 und Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie verstoße.
36 Als Zweites werfe die siebte Frage ein rein hypothetisches Problem auf, da es im lettischen Recht keine Rechtsgrundlage gebe, um die Übermäßigkeit einer Investitionsrendite festzustellen.
37 Als Drittes seien die neunte und die zehnte Frage, die die Anwendbarkeit der Charta auf horizontale Beziehungen beträfen, unzulässig, erstens, weil sie zu abstrakt seien und im Wesentlichen einen Antrag auf ein Gutachten darstellten, und zweitens, weil die Charta in der vorliegenden Rechtssache nicht anwendbar sei.
38 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten des Ausgangsrechtsstreits die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Solange diese Fragen die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, über sie zu befinden. Folglich gilt für eine Vorlagefrage, die das Unionsrecht betrifft, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über eine solche Frage nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 29. Juni 2023, International Protection Appeals Tribunal u. a. [Anschlag in Pakistan], C‑756/21, EU:C:2023:523, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder das Problem hypothetischer Natur ist. Zudem beschreibt die Vorlageentscheidung den rechtlichen und tatsächlichen Rahmen, in den sich der Ausgangsrechtsstreit einfügt, hinreichend detailliert, so dass der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen zweckdienlich beantworten kann.
40 Insbesondere geht zum einen in Bezug auf die dritte bis fünfte, die neunte und die zehnte Frage aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht nach dem Sinn und der Tragweite mehrerer Bestimmungen der Richtlinie 93/13 gegebenenfalls in Verbindung mit bestimmten Bestimmungen der Charta fragt, um zu klären, ob es die im Ausgangsverfahren in Rede stehende streitige Klausel in Anwendung dieser Richtlinie auf ihre Missbräuchlichkeit überprüfen kann. Wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ersucht dieses Gericht den Gerichtshof weder darum, diese Bestimmungen der Richtlinie 93/13 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anzuwenden, noch darum, seine eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen des vorlegenden Gerichts zu setzen.
41 Was zum anderen die angeblich hypothetische Natur der siebten Frage betrifft, die sich nach Ansicht von A daraus ergeben soll, dass es im lettischen Recht keine Möglichkeit gebe, die Übermäßigkeit einer Investitionsrendite festzustellen, ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens die Aufgaben des Gerichtshofs und diejenigen des vorlegenden Gerichts klar getrennt sind und es ausschließlich Sache des Letztgenannten ist, das nationale Recht auszulegen (Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die von A vertretene Auslegung des nationalen Rechts in Bezug auf die Unmöglichkeit, die Übermäßigkeit einer Investitionsrendite festzustellen, reicht jedoch nicht aus, um die in Rn. 38 des vorliegenden Urteils erwähnte Vermutung der Entscheidungserheblichkeit zu widerlegen.
42 Daher sind die Fragen des vorlegenden Gerichts zulässig.
Zur Beantwortung der Fragen
Zur ersten Frage
43 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass ein Vertrag, der zwischen einem Gewerbetreibenden, der im Bereich der Förderung der Entwicklung von Sportlern tätig ist, auf der einen und einem durch seine Eltern vertretenen minderjährigen Nachwuchstalent, das bei Abschluss dieses Vertrags keine berufliche Tätigkeit im Bereich des Sports ausübte, auf der anderen Seite abgeschlossen wurde, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fällt.
44 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 in ihrem Art. 1 Abs. 1 definiert ist. Nach dieser Definition bezweckt die Richtlinie 93/13 die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern. Es handelt sich somit um eine in allen Wirtschaftszweigen anwendbare allgemeine Richtlinie zum Schutz der Verbraucher (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2017, Air Berlin, C‑290/16, EU:C:2017:523, Rn. 44).
45 Was die Begriffe „Verbraucher“ und „Gewerbetreibender“ in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 betrifft, so werden sie in Art. 2 Buchst. b und c dieser Richtlinie definiert als natürliche Person, die bei Verträgen, die unter die Richtlinie fallen, zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann bzw. als eine natürliche oder juristische Person, die bei Verträgen, die unter diese Richtlinie fallen, im Rahmen ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, auch wenn diese dem öffentlich-rechtlichen Bereich zuzurechnen ist.
46 Die Richtlinie 93/13 definiert somit die Verträge, auf die sie anwendbar ist, unter Bezugnahme auf die Eigenschaft der Vertragspartner, d. h. darauf, ob sie im Rahmen ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handeln oder nicht (Urteil vom 24. Oktober 2024, Zabitoń, C‑347/23, EU:C:2024:919, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Folglich ist die Richtlinie 93/13 in einer Situation anwendbar, in der ein Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden, der im Bereich der Förderung der Entwicklung von Sportlern tätig ist, und einem durch seine Eltern vertretenen minderjährigen Nachwuchstalent, das bei Vertragsabschluss die betreffende sportliche Tätigkeit nicht berufsmäßig ausübte, geschlossen wurde.
48 Diese Schlussfolgerung gilt auch dann, wenn, wie im Ausgangsverfahren, der Verbraucher nach Abschluss dieses Vertrags Berufssportler geworden ist.
49 Es ist nämlich entschieden worden, dass die Eigenschaft einer Person als „Verbraucher“ zum Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Vertrags zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juli 2020, Raiffeisen Bank und BRD Groupe Société Générale, C‑698/18 und C‑699/18, EU:C:2020:537, Rn. 73, sowie vom 24. Oktober 2024, Zabitoń, C‑347/23, EU:C:2024:919, Rn. 32).
50 Folglich verliert ein Minderjähriger, der zum Zeitpunkt des Abschlusses eines Vertrags über Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere die betreffende sportliche Betätigung nicht berufsmäßig betrieb, die Eigenschaft eines „Verbrauchers“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/13 nicht deshalb, weil er während der Vertragserfüllung Berufssportler geworden ist.
51 Zudem ändert der bloße Umstand, dass dieser Verbraucher in der Sportart, in der er später Berufsspieler wurde, als Nachwuchsspieler angesehen wird, nichts an der Eigenschaft, die er zum Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Vertrags besaß, ebenso wenig wie der Umstand, dass der Gegenstand dieses Vertrags mit der etwaigen künftigen beruflichen Laufbahn dieses Sportlers in Zusammenhang stand.
52 Desgleichen ist es für die Eigenschaft zum Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Vertrags unerheblich, dass der betreffende Verbraucher unter Umständen über möglicherweise wichtige Kenntnisse oder Informationen in der Sportart, in der er später zum Berufsspieler wurde, verfügen konnte.
53 Nach ständiger Rechtsprechung hat der Verbraucherbegriff im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/13 nämlich objektiven Charakter und ist unabhängig von den konkreten Kenntnissen, die die betreffende Person haben mag, oder den Informationen, über die sie tatsächlich verfügt (Urteil vom 3. September 2015, Costea, C‑110/14, EU:C:2015:538, Rn. 21).
54 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass ein Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere eines Sportlers, der zwischen einem Gewerbetreibenden, der im Bereich der Förderung der Entwicklung von Sportlern tätig ist, auf der einen und einem durch seine Eltern vertretenen minderjährigen Nachwuchstalent, das bei Abschluss dieses Vertrags noch keine berufliche Tätigkeit im Bereich des Sports ausübte und daher Verbraucher war, auf der anderen Seite abgeschlossen wurde, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fällt.
Zur zweiten Frage
55 Die zweite Frage braucht nicht beantwortet zu werden, da sie nur für den Fall der Verneinung der ersten Frage gestellt wurde.
Zur dritten Frage
56 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, in der sich der junge Sportler für die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere in einer bestimmten Sportart dazu verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, anhand von Art. 3 dieser Richtlinie beurteilen kann.
57 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 vorsieht, dass die Beurteilung der Missbräuchlichkeit weder die Klauseln zum Hauptgegenstand des Vertrags noch die Klauseln zur Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, betrifft, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.
58 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 92/13 genannten Klauseln, die zu dem von dieser Richtlinie geregelten Gebiet gehören, der Beurteilung in Bezug auf ihre Missbräuchlichkeit entzogen, sofern das zuständige nationale Gericht nach einer Einzelfallbeurteilung der Auffassung ist, dass sie vom Gewerbetreibenden klar und verständlich abgefasst wurden. Diese Bestimmung zielt somit nur darauf ab, die Modalitäten und den Umfang der Inhaltskontrolle der nicht im Einzelnen ausgehandelten Vertragsklauseln festzulegen, die die Hauptleistungen von Verträgen zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher bezeichnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2010, Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid, C‑484/08, EU:C:2010:309, Rn. 32 und 34). Zudem ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass der Umstand, dass eine Klausel nicht klar und verständlich abgefasst ist, für sich allein nicht geeignet ist, sie missbräuchlich zu machen (Urteil vom 13. Juli 2023, Banco Santander [Bezugnahme auf einen offiziellen Index], C‑265/22, EU:C:2023:578, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Wenn, wie im Ausgangsverfahren, ein Vertrag die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere in einer bestimmten Sportart zum Gegenstand hat, ist – wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge im Wesentlichen festgestellt hat – eine Klausel, nach der sich der junge Sportler als Vertragspartner für die Erbringung dieser Dienstleistungen dazu verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, für die Bestimmung sowohl des Hauptgegenstands des Vertrags als auch der Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 von Bedeutung.
60 Daraus folgt, dass die Klausel in den Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 fällt und dass ein nationales Gericht daher ihre Missbräuchlichkeit grundsätzlich nur dann beurteilen kann, wenn es zu dem Ergebnis gelangt, dass sie nicht klar und verständlich abgefasst ist.
61 Im vorliegenden Fall geht jedoch aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Republik Lettland zum Zeitpunkt des Abschlusses des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags, d. h. am 14. Januar 2009, einige Bestimmungen der Richtlinie 93/13, insbesondere deren Art. 4 Abs. 2 noch nicht in ihre Rechtsordnung umgesetzt hatte, da die Umsetzung dieser Bestimmung erst am 1. Juli 2014 wirksam wurde.
62 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 der Richtlinie 93/13 ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, dass die Mitgliedstaaten „auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen erlassen [können], um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten“.
63 Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert sein können, auf dem gesamten durch die Richtlinie geregelten Gebiet, in das die in Art. 4 Abs. 2 genannten Klauseln fallen, strengere Regeln als die in der Richtlinie selbst vorgesehenen zu erlassen oder beizubehalten, sofern sie auf einen besseren Schutz der Verbraucher abzielen (Urteil vom 3. Juni 2010, Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid, C‑484/08, EU:C:2010:309, Rn. 35 und 40).
64 Somit darf ein nationales Gericht, wenn das nationale Recht dies zulässt, im Rahmen eines Rechtsstreits betreffend einen zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossenen Vertrag die Missbräuchlichkeit einer nicht individuell ausgehandelten Klausel, die insbesondere den Hauptgegenstand des Vertrags betrifft, selbst in den Fällen beurteilen, in denen diese Klausel durch den Gewerbetreibenden klar und verständlich vorformuliert wurde.
65 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags vom 14. Januar 2009 das nationale Recht zuließ, die Missbräuchlichkeit einer Klausel, die in den Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 fällt, auch in den Fällen zu beurteilen, in denen diese Klausel klar und verständlich abgefasst war.
66 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass eine Vertragsklausel, in der sich der junge Sportler für die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere in einer bestimmten Sportart dazu verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt. Folglich darf ein nationales Gericht die Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel grundsätzlich nur dann anhand von Art. 3 dieser Richtlinie beurteilen, wenn es zu dem Ergebnis gelangt, dass sie nicht klar und verständlich abgefasst ist. Diese Bestimmungen stehen jedoch einer nationalen Regelung nicht entgegen, die eine gerichtliche Kontrolle der Missbräuchlichkeit dieser Klausel auch dann zulässt, wenn diese klar und verständlich abgefasst ist.
Zur vierten Frage
67 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Vertragsklausel, die ohne weitere Präzisierung lediglich vorsieht, dass sich ein Sportler als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, an den Leistungserbringer ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, als im Sinne dieser Bestimmung klar und verständlich abgefasst anzusehen ist.
68 Hierzu sieht Art. 5 der Richtlinie 93/13 zum einen vor, dass in Verträgen, in denen alle dem Verbraucher unterbreiteten Klauseln oder einige dieser Klauseln schriftlich niedergelegt sind, diese Klauseln stets klar und verständlich abgefasst sein müssen, und zum anderen, dass bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel die für den Verbraucher günstigste Auslegung gilt.
69 Zum sowohl in Art. 4 Abs. 2 als auch in Art. 5 der Richtlinie 93/13 vorgesehenen Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass dieses Erfordernis nicht auf die bloße Verständlichkeit der Vertragsklauseln in formeller und grammatikalischer Hinsicht beschränkt werden kann, sondern umfassend verstanden werden muss, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden u. a. einen geringeren Informationsstand besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2017, Andriciuc u. a., C‑186/16, EU:C:2017:703, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Dieses Transparenzgebot verlangt somit nicht nur, dass eine Klausel für den betroffenen Verbraucher in formeller und grammatikalischer Hinsicht verständlich ist, sondern auch, dass der Vertrag die konkrete Funktionsweise des Verfahrens, auf das die betreffende Klausel Bezug nimmt, und gegebenenfalls das Verhältnis zwischen diesem und dem durch andere Klauseln vorgeschriebenen Verfahren in transparenter Weise darstellen muss, damit der betroffene Verbraucher in der Lage ist, die sich für ihn daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
71 Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen zu prüfen, ob dieses Erfordernis erfüllt ist. Insbesondere hat es unter Berücksichtigung aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände zu prüfen, ob dem Verbraucher sämtliche Tatsachen mitgeteilt wurden, die sich auf den Umfang seiner Verpflichtung auswirken könnten und ihm erlauben, die finanziellen Folgen seiner Verpflichtung einzuschätzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Hierzu hat der Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsstreits, der eine Klausel über die Zahlung einer Rechtsanwaltsvergütung betraf, entschieden, dass, auch wenn von einem Gewerbetreibenden nicht verlangt werden kann, dass er den Verbraucher über die endgültigen finanziellen Folgen der von ihm eingegangenen Verpflichtung informiert, die von unvorhersehbaren zukünftigen Ereignissen abhängen, auf die der Gewerbetreibende keinen Einfluss hat, die Informationen, die der Gewerbetreibende vor Vertragsabschluss zu erteilen hat, den Verbraucher in die Lage versetzen müssen, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis zum einen des Umstands, dass solche Ereignisse eintreten können, und zum anderen der Folgen, die solche Ereignisse während der Dauer der Erbringung der betreffenden Rechtsdienstleistungen haben können, zu treffen (Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 43).
73 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung der Merkmale der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Klausel und aller den Abschluss des Vertrags vom 14. Januar 2009 begleitenden Umstände zu beurteilen, ob der Verbraucher durch die ihm vor Vertragsabschluss vom Gewerbetreibenden erteilten Informationen in die Lage versetzt worden ist, seine Entscheidung mit Bedacht und in voller Kenntnis der finanziellen Folgen des Vertragsabschlusses zu treffen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 44).
74 Zu den Merkmalen einer Klausel wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die die Höhe des Entgelts des Dienstleistungserbringers auf der Grundlage eines festen Prozentsatzes der künftigen Einnahmen des Vertragspartners für einen bestimmten Zeitraum vorsieht, ist festzustellen, dass eine solche Klausel für sich genommen nur dann als geeignet angesehen werden kann, dem Betroffenen zu erlauben, die sich daraus für ihn möglicherweise ergebenden wirtschaftlichen Folgen einzuschätzen, wenn sie die betreffenden Einnahmen genau beschreibt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Angabe im Vertrag vom 14. Januar 2009, die das Entgelt des Dienstleistungserbringers auf der Grundlage eines festen Prozentsatzes sämtlicher Nettoeinnahmen aus Sportveranstaltungen, Werbung, Marketing und Medienauftritten im Zusammenhang mit dem betreffenden Sport vorsieht, für sich genommen so betrachtet werden kann, dass sie einem solchen Grad an Genauigkeit genügt. Erforderlich ist auch, dass die Art der als Gegenleistung für das vorgesehene Entgelt erbrachten Dienstleistungen anhand des Vertrags als Ganzes angemessen verstanden oder daraus abgeleitet werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, Kiss und CIB Bank, C‑621/17, EU:C:2019:820, Rn. 43).
75 Es ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Betroffene zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags vom 14. Januar 2009 sowohl hinsichtlich der Art der vom Gewerbetreibenden zu erbringenden Dienstleistungen als auch hinsichtlich der Berechnungsgrundlage für die Höhe des als Gegenleistung zu zahlenden Entgelts über alle notwendigen Informationen verfügte, die ihm erlaubten, die wirtschaftlichen Folgen seiner Verpflichtung einzuschätzen.
76 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Vertragsklausel, die lediglich vorsieht, dass sich ein Sportler als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, an den Leistungserbringer ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, nicht im Sinne dieser Bestimmung klar und verständlich abgefasst ist, wenn dem Verbraucher vor Vertragsabschluss nicht alle notwendigen Informationen erteilt worden sind, die ihm erlaubten, die wirtschaftlichen Folgen seiner Verpflichtung einzuschätzen.
Zur fünften Frage
77 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Vertragsklausel, die vorsieht, dass sich ein junger Sportler als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner im Sinne dieser Bestimmung verursacht, wenn diese Klausel keinen Zusammenhang zwischen dem Wert der erbrachten Leistung und ihren Kosten für den Verbraucher herstellt.
78 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach seiner ständigen Rechtsprechung auf die Auslegung der Begriffe der Richtlinie 93/13 sowie auf die Kriterien erstreckt, die das nationale Gericht bei der Prüfung einer Vertragsklausel im Hinblick auf die Bestimmungen der Richtlinie anwenden darf oder muss, wobei es Sache des nationalen Gerichts ist, unter Berücksichtigung dieser Kriterien über die konkrete Bewertung einer bestimmten Vertragsklausel anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Infolgedessen muss sich der Gerichtshof darauf beschränken, dem vorlegenden Gericht Hinweise an die Hand zu geben, die dieses zu beachten hat (Urteil vom 13. Juli 2023, Banco Santander [Bezugnahme auf einen offiziellen Index], C‑265/22, EU:C:2023:578, Rn. 50).
79 Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 ist eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.
80 Im Rahmen der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer nicht im Einzelnen ausgehandelten Vertragsklausel, die das nationale Gericht nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vorzunehmen hat, hat es unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände der Rechtssache zunächst zu prüfen, ob ein Verstoß gegen das Gebot von Treu und Glauben vorliegt, und dann, ob zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis im Sinne dieser Bestimmung besteht (Urteil vom 13. Juli 2023, Banco Santander [Bezugnahme auf einen offiziellen Index], C‑265/22, EU:C:2023:578, Rn. 63).
81 Zur Klarstellung dieser Begriffe ist zum einen in Bezug auf die Frage, unter welchen Umständen ein solches Missverhältnis „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben“ verursacht wird, festzustellen, dass in Anbetracht des 16. Erwägungsgrundes der Richtlinie 93/13 das nationale Gericht prüfen muss, ob der Gewerbetreibende bei loyalem und billigem Verhalten gegenüber dem Verbraucher vernünftigerweise erwarten durfte, dass der Verbraucher sich nach individuellen Verhandlungen auf eine solche Klausel einlässt (Urteil vom 13. Juli 2023, Banco Santander [Bezugnahme auf einen offiziellen Index], C‑265/22, EU:C:2023:578, Rn. 64).
82 Zum anderen sind bei der Frage, ob eine Klausel ein „erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis“ der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner zum Nachteil des Verbrauchers verursacht, insbesondere diejenigen Vorschriften zu berücksichtigen, die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien in diesem Punkt keine Vereinbarung getroffen haben, um zu bewerten, ob – und gegebenenfalls inwieweit – der Vertrag für den Verbraucher eine weniger günstige Rechtslage schafft, als sie das geltende nationale Recht vorsieht (Urteil vom 13. Juli 2023, Banco Santander [Bezugnahme auf einen offiziellen Index], C‑265/22, EU:C:2023:578, Rn. 65).
83 Nur mit dieser vergleichenden Betrachtung kann das nationale Gericht bewerten, ob – und gegebenenfalls inwieweit – der Vertrag für den Verbraucher eine weniger günstige Rechtslage schafft, als sie das geltende nationale Recht vorsieht.
84 Allerdings können, wie der Generalanwalt in Nr. 91 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bei der Beurteilung, ob ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis vorliegt, auch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden, wie zum Zeitpunkt des Abschlusses des betreffenden Vertrags bestehende loyale und billige Marktpraktiken in Bezug auf das Entgelt im betreffenden Sportbereich oder die Verpflichtungen, bei denen ein durchschnittlich informierter Verbraucher davon ausgehen konnte, ihnen im Hinblick auf diese Praktiken unterworfen zu sein.
85 Schließlich hat das nationale Gericht nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrags sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrags oder eines anderen Vertrags, von dem dieser abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2024, Caixabank u. a. [Transparenzkontrolle bei Verbandsklagen], C‑450/22, EU:C:2024:577, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Im vorliegenden Fall wird das vorlegende Gericht, wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verschiedene Aspekte des Vertrags vom 14. Januar 2009 zu berücksichtigen haben, wie den Umstand, dass dieser Vertrag seinem Wesen nach mit einem erheblichen Risikofaktor für A einherging. Denn dieser Vertrag sah vor, dass das A geschuldete Entgelt nur unter der Voraussetzung fällig war, dass die Einkünfte mindestens 1 500 Euro monatlich erreichen, dass C diesen Vertrag einseitig beenden konnte, ohne eine Entschädigung zahlen zu müssen, wenn er u. a. beschlossen hätte, seine berufliche Laufbahn nicht fortzusetzen, oder dass die von A erbrachten Dienstleistungen keine Gewähr dafür boten, dass C das angestrebte Ergebnis, nämlich Berufssportler zu werden, erzielen würde (vgl. entsprechend Urteil vom 16. März 2010, Olympique Lyonnais, C‑325/08, EU:C:2010:143, Rn. 42).
87 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine Vertragsklausel, die vorsieht, dass sich ein junger Sportler als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, nicht allein deshalb ein zum Nachteil des Verbrauchers erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner im Sinne dieser Bestimmung verursacht, weil diese Klausel keinen Zusammenhang zwischen dem Wert der erbrachten Leistung und ihren Kosten für den Verbraucher herstellt. Ob ein solches Missverhältnis vorliegt, ist nämlich insbesondere anhand der Vorschriften, die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien in diesem Punkt keine Vereinbarung getroffen haben, der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden loyalen und billigen Marktpraktiken in Bezug auf das Entgelt im betreffenden Sportbereich sowie aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln dieses Vertrags oder eines Vertrags, von dem dieser abhängt, zu beurteilen.
Zur sechsten Frage
88 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht, das die Missbräuchlichkeit einer Klausel eines zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgestellt hat, daran hindert, den vom Verbraucher zu zahlenden Betrag auf die Höhe der Kosten herabzusetzen, die dem Dienstleistungserbringer im Rahmen der Erfüllung des Vertrags tatsächlich entstanden sind.
89 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten vorsehen, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften festlegen; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.
90 Diese Bestimmung ist eine zwingende Bestimmung, die darauf abzielt, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen (Urteil vom 30. Mai 2013, Asbeek Brusse und de Man Garabito, C‑488/11, EU:C:2013:341, Rn. 38).
91 Unter diesen Umständen ist diese Bestimmung als eine Norm zu betrachten, die den im nationalen Recht zwingenden innerstaatlichen Bestimmungen gleichwertig ist (Urteil vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 54), so dass eine missbräuchliche Klausel als von Anfang an nicht existent anzusehen ist.
92 Was die Möglichkeit eines nationalen Gerichts betrifft, das die Missbräuchlichkeit einer Klausel eines zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags festgestellt hat, den Inhalt dieser Klausel abzuändern anstatt schlicht deren Anwendung gegenüber dem Verbraucher auszuschließen, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 nicht dahin verstanden werden kann, dass er es dem nationalen Gericht gestattet, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 71).
93 Stünde es dem nationalen Gericht frei, den Inhalt der missbräuchlichen Klauseln in einem solchen Vertrag abzuändern, könnte eine derartige Befugnis nämlich die Verwirklichung des langfristigen Ziels gefährden, das mit Art. 7 der Richtlinie 93/13 verfolgt wird. Denn diese Befugnis trüge dazu bei, den Abschreckungseffekt zu beseitigen, der für die Gewerbetreibenden darin besteht, dass solche missbräuchlichen Klauseln gegenüber dem Verbraucher schlicht unangewendet bleiben, da diese nämlich versucht blieben, die betreffenden Klauseln zu verwenden, wenn sie wüssten, dass, selbst wenn die Klauseln für unwirksam erklärt werden sollten, der Vertrag gleichwohl im erforderlichen Umfang vom nationalen Gericht angepasst werden könnte, so dass das Interesse der Gewerbetreibenden auf diese Art und Weise gewahrt würde (Urteil vom 26. März 2019, Abanca Corporación Bancaria und Bankia, C‑70/17 und C‑179/17, EU:C:2019:250, Rn. 54).
94 Der betreffende Vertrag kann nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestehen bleiben, soweit ein solcher Fortbestand des Vertrags ohne die missbräuchlichen Klauseln nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts rechtlich möglich ist, was anhand eines objektiven Ansatzes zu prüfen ist (Urteil vom 3. Oktober 2019, Dziubak, C‑260/18, EU:C:2019:819, Rn. 39).
95 Nach alledem ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht, das die Missbräuchlichkeit einer Klausel eines zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgestellt hat, daran hindert, den vom Verbraucher zu zahlenden Betrag auf die Höhe der Kosten herabzusetzen, die dem Dienstleistungserbringer im Rahmen der Erfüllung des Vertrags tatsächlich entstanden sind.
Zur siebten und zur achten Frage
96 Die siebte und die achte Frage brauchen nicht beantwortet zu werden, da sie nur für den Fall der Verneinung der dritten Frage gestellt wurden.
Zur neunten Frage
97 Mit seiner neunten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 93/13 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem eine Vertragsklausel vorsieht, dass sich ein Verbraucher als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, der Umstand, dass der Verbraucher zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags minderjährig war und dieser Vertrag von den Eltern des Minderjährigen in dessen Namen geschlossen wurde, für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel relevant ist.
98 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta hinsichtlich des Handelns der Mitgliedstaaten in deren Art. 51 Abs. 1 definiert wird, wonach diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt.
99 Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof in Beantwortung der ersten Frage festgestellt, dass die Richtlinie 93/13 auf einen Vertrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, so dass der nationale Rechtsrahmen, in den sich der Ausgangsrechtsstreit einfügt, eine Umsetzung dieser Richtlinie und damit des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt.
100 Folglich ist das vorlegende Gericht bei der Anwendung der Richtlinie 93/13 verpflichtet, die in der Charta verankerten Grundrechte zu beachten, zu denen die in ihren Art. 17 und 24 vorgesehenen Grundrechte gehören, die das Eigentumsrecht und die Rechte des Kindes betreffen.
101 Was insbesondere die in Art. 24 der Charta garantierten Rechte des Kindes anbelangt, umfassen diese u. a. die Verpflichtung, bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen das Wohl des Kindes als vorrangige Erwägung zu berücksichtigen.
102 Folglich ergibt sich, auch wenn sich die Richtlinie 93/13 nicht auf minderjährige Verbraucher bezieht, aus Art. 24 Abs. 2 der Charta sowie aus Art. 3 Abs. 1 des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedeten Internationalen Übereinkommens über die Rechte des Kindes, auf den in den Erläuterungen zu Art. 24 der Charta ausdrücklich Bezug genommen wird, doch, dass das Kindeswohl nicht nur bei der Prüfung der Begründetheit von Anträgen, die Kinder betreffen, zu berücksichtigen ist, sondern auch durch besondere Verfahrensgarantien den dieser Beurteilung vorausgehenden Entscheidungsprozess beeinflussen muss. Denn der Ausdruck „Wohl des Kindes“ im Sinne dieses Art. 3 Abs. 1 nimmt, wie der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes ausgeführt hat, Bezug auf ein materielles Recht, ein Grundprinzip der Rechtsauslegung und eine Verfahrensregel (Urteil vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C‑646/21, EU:C:2024:487, Rn. 73).
103 Die insbesondere dem vorlegenden Gericht obliegende Verpflichtung, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, schließt jedoch nicht aus, dass dieses Gericht im vorliegenden Fall den Umstand berücksichtigen kann, dass die Eltern von C, die ihn bei dem Abschluss des Vertrags vom 14. Januar 2009 vertraten, selbst Kenntnisse des Berufssports hatten oder dass C zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses 17 Jahre alt war.
104 Nach alledem ist auf die neunte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 93/13 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem eine Vertragsklausel vorsieht, dass sich ein Verbraucher als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, der Umstand, dass der Verbraucher zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags minderjährig war und dieser Vertrag von den Eltern des Minderjährigen in dessen Namen geschlossen wurde, für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel relevant ist.
Zur zehnten Frage
105 Die zehnte Frage braucht nicht beantwortet zu werden, da sie nur für den Fall der Verneinung der ersten Frage gestellt wurde.
Kosten
106 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen
sind dahin auszulegen, dass
ein Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere eines Sportlers, der zwischen einem Gewerbetreibenden, der im Bereich der Förderung der Entwicklung von Sportlern tätig ist, auf der einen und einem durch seine Eltern vertretenen minderjährigen Nachwuchstalent, das bei Abschluss dieses Vertrags noch keine berufliche Tätigkeit im Bereich des Sports ausübte und daher Verbraucher war, auf der anderen Seite abgeschlossen wurde, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fällt.
2. Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 der Richtlinie 93/13
sind dahin auszulegen, dass
eine Vertragsklausel, in der sich der junge Sportler für die Erbringung der im Vertrag festgelegten Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklung und der Karriere in einer bestimmten Sportart dazu verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt. Folglich darf ein nationales Gericht die Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel grundsätzlich nur dann anhand von Art. 3 dieser Richtlinie beurteilen, wenn es zu dem Ergebnis gelangt, dass sie nicht klar und verständlich abgefasst ist. Diese Bestimmungen stehen jedoch einer nationalen Regelung nicht entgegen, die eine gerichtliche Kontrolle der Missbräuchlichkeit dieser Klausel auch dann zulässt, wenn diese klar und verständlich abgefasst ist.
3. Art. 5 der Richtlinie 93/13
ist dahin auszulegen, dass
eine Vertragsklausel, die lediglich vorsieht, dass sich ein Sportler als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, an den Leistungserbringer ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, nicht im Sinne dieser Bestimmung klar und verständlich abgefasst ist, wenn dem Verbraucher vor Vertragsabschluss nicht alle notwendigen Informationen erteilt worden sind, die ihm erlaubten, die wirtschaftlichen Folgen seiner Verpflichtung einzuschätzen.
4. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13
ist dahin auszulegen, dass
eine Vertragsklausel, die vorsieht, dass sich ein junger Sportler als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, nicht allein deshalb ein zum Nachteil des Verbrauchers erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner im Sinne dieser Bestimmung verursacht, weil diese Klausel keinen Zusammenhang zwischen dem Wert der erbrachten Leistung und ihren Kosten für den Verbraucher herstellt. Ob ein solches Missverhältnis vorliegt, ist nämlich insbesondere anhand der Vorschriften, die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien in diesem Punkt keine Vereinbarung getroffen haben, der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden loyalen und billigen Marktpraktiken in Bezug auf das Entgelt im betreffenden Sportbereich sowie aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln dieses Vertrags oder eines Vertrags, von dem dieser abhängt, zu beurteilen.
5. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13
ist dahin auszulegen, dass
er ein nationales Gericht, das die Missbräuchlichkeit einer Klausel eines zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossenen Vertrags im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgestellt hat, daran hindert, den vom Verbraucher zu zahlenden Betrag auf die Höhe der Kosten herabzusetzen, die dem Dienstleistungserbringer im Rahmen der Erfüllung des Vertrags tatsächlich entstanden sind.
6. Die Richtlinie 93/13 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
in einem Fall, in dem eine Vertragsklausel vorsieht, dass sich ein Verbraucher als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen zur Förderung der sportlichen Entwicklung und Karriere verpflichtet, ein Entgelt in Höhe von 10 % der Einnahmen, die er während der 15 Jahre nach Abschluss dieses Vertrags erhalten wird, zu zahlen, der Umstand, dass der Verbraucher zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags minderjährig war und dieser Vertrag von den Eltern des Minderjährigen in dessen Namen geschlossen wurde, für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel relevant ist.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Lettisch.
i Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
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Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 14. November 2024.#LE gegen Europäische Kommission.#Rechtssache C-781/22 P.
|
62022CJ0781
|
ECLI:EU:C:2024:960
| 2024-11-14T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
|
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 6. November 2024.#Portumo - Madeira - Montagem e Manutenção de Tubaria, SA (Zona Franca da Madeira) u. a. gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Freizone Madeira – Von Portugal angewandte Beihilferegelung – Beschluss, mit dem die Unvereinbarkeit der Regelung mit den Beschlüssen C(2007) 3037 final und C(2013) 4043 final festgestellt, diese Regelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und die Rückforderung der nach dieser Regelung gezahlten Beihilfen angeordnet wird – Begriff, bestehende Beihilfe‘ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung (EU) 2015/1589 – Rückforderung – Berechtigtes Vertrauen – Rechtssicherheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Niederlassungsfreiheit – Freizügigkeit der Arbeitnehmer.#Rechtssachen T-713/22 und T-720/22.
|
62022TJ0713
|
ECLI:EU:T:2024:775
| 2024-11-06T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62022TJ0713 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 4. September 2024.#International Management Group (IMG) gegen Europäische Kommission.#Haushaltsrecht der Union – Vollzug des Unionshaushalts im Wege der indirekten Mittelverwaltung durch eine internationale Organisation – Beschluss, mit dem einer juristischen Person die Anerkennung des Status einer internationalen Organisation verweigert wird – Nichtigkeitsklage – Ordnungsgemäßheit der den Anwälten der Klägerin erteilten Vollmacht – Zulässigkeit – Zur Durchführung eines Urteils des Gerichtshofs ergangener Beschluss – Art. 266 AEUV – Rechtskraft – Grundsatz der guten Verwaltung – Rechtssicherheit – Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 – Art. 58 – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 – Art. 43 – Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 – Art. 156 – Begriffe ‚Internationale Organisation‘ und ‚Internationales Abkommen‘ – Rechtsfehler – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Außervertragliche Haftung.#Rechtssache T-509/21.
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62021TJ0509
|
ECLI:EU:T:2024:590
| 2024-09-04T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62021TJ0509
URTEIL DES GERICHTS (Neunte erweiterte Kammer)
4. September 2024 (*1)
„Haushaltsrecht der Union – Vollzug des Unionshaushalts im Wege der indirekten Mittelverwaltung durch eine internationale Organisation – Beschluss, mit dem einer juristischen Person die Anerkennung des Status einer internationalen Organisation verweigert wird – Nichtigkeitsklage – Ordnungsgemäßheit der den Anwälten der Klägerin erteilten Vollmacht – Zulässigkeit – Zur Durchführung eines Urteils des Gerichtshofs ergangener Beschluss – Art. 266 AEUV – Rechtskraft – Grundsatz der guten Verwaltung – Rechtssicherheit – Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 – Art. 58 – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 – Art. 43 – Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 – Art. 156 – Begriffe ‚Internationale Organisation‘ und ‚Internationales Abkommen‘ – Rechtsfehler – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Außervertragliche Haftung“
In der Rechtssache T‑509/21,
International Management Group (IMG) mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten durch Rechtsanwältin L. Levi und Rechtsanwalt J.‑Y. de Cara,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz, J.‑F. Brakeland, S. Delaude und L. Puccio als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten L. Truchot (Berichterstatter) sowie des Richters H. Kanninen, der Richterin R. Frendo, des Richters M. Sampol Pucurull und der Richterin T. Perišin,
Kanzler: L. Ramette, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere der Entscheidung vom 11. Januar 2022, das Verfahren bis zur abschließenden Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache auszusetzen, die dem Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission (C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722), zugrunde lag,
auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2023
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin, die International Management Group (IMG), zum einen auf der Grundlage von Art. 263 AEUV die Nichtigerklärung des Beschlusses vom 8. Juni 2021, mit dem die Europäische Kommission sich geweigert hat, der Klägerin rückwirkend zum 16. Dezember 2014 den in der Finanzregelung der Europäischen Union vorgesehenen Status einer internationalen Organisation für die Ausführung von Unionsmitteln im Wege der indirekten Mittelverwaltung zuzuerkennen (im Folgenden: angefochtener Beschluss), und zum anderen auf der Grundlage von Art. 268 AEUV den Ersatz der ihr entstandenen materiellen und immateriellen Schäden.
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Verfahrensrechtliche Vorgeschichte
2 Die Klägerin, die ursprünglich International Management Group – Infrastructure for Bosnia and Herzegovina (IMG‑IBH) hieß und deren Hauptsitz sich nunmehr in Belgrad (Serbien) befindet, wurde am 25. November 1994 gegründet, um den am Wiederaufbau Bosnien-Herzegowinas beteiligten Staaten und internationalen Organisationen zu diesem Zweck eine spezialisierte Stelle zur Verfügung stellen zu können. Seitdem hat sie ihr Tätigkeitsfeld schrittweise in den Bereichen Wiederaufbau und Entwicklung ausgeweitet.
3 Am 7. November 2013 erließ die Kommission auf der Grundlage von Art. 84 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates (ABl. 2012, L 298, S. 1) den Durchführungsbeschluss C(2013) 7682 final über das Jahresaktionsprogramm 2013 für Myanmar/Burma zulasten des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union. Dieser Beschluss sah u. a. ein Programm zur Entwicklung des Handels vor, dessen Kosten, die auf 10 Mio. Euro veranschlagt wurden, von der Union finanziert werden sollten und dessen Durchführung in gemeinsamer Verwaltung mit der Klägerin sichergestellt werden sollte.
4 Am 17. Februar 2014 setzte das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) die Kommission davon in Kenntnis, dass es zum Status der Klägerin eine Untersuchung eröffnet habe. Am 15. Dezember 2014 erhielt die Kommission den vom OLAF nach Abschluss seiner Untersuchung erstellten Bericht (im Folgenden: OLAF‑Bericht) nebst einer Reihe von Empfehlungen. In diesem Bericht stellte das OLAF im Wesentlichen fest, dass die Klägerin keine internationale Organisation im Sinne der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2002, L 248, S. 1) und der Verordnung Nr. 966/2012 darstelle. Ferner empfahl das OLAF der Kommission, Sanktionen gegen die Klägerin zu verhängen und die in diesem Zusammenhang an sie gezahlten Beträge zurückzufordern.
5 Am 16. Dezember 2014 beschloss die Kommission, die Durchführung des im Durchführungsbeschluss C(2013) 7682 final vorgesehenen und oben in Rn. 3 erwähnten Programms zur Entwicklung des Handels im Wege der indirekten Mittelverwaltung einer anderen Organisation als der Klägerin zu übertragen (im Folgenden: Beschluss vom 16. Dezember 2014).
6 Am 8. Mai 2015 richtete die Kommission schließlich ein Schreiben an die Klägerin, um diese über die Konsequenzen zu informieren, die sie aus dem OLAF‑Bericht zu ziehen beabsichtige. In diesem Schreiben teilte sie mit, sie habe, obwohl sie die meisten Empfehlungen des OLAF nicht umsetzen werde, insbesondere beschlossen, dass ihre Dienststellen erst dann mit der Klägerin neue Übertragungsvereinbarungen nach dem in der Verordnung Nr. 966/2012 vorgesehenen Modus der indirekten Mittelverwaltung abschließen würden, wenn hinsichtlich ihres Status als internationale Organisation absolute Gewissheit bestehe (im Folgenden: Beschluss vom 8. Mai 2015).
B. Gerichtliche Vorgeschichte
7 Mit einer ersten Klageschrift, die am 21. Januar 2015 bei der Kanzlei des Gerichts einging und unter dem Aktenzeichen T‑29/15 in das Register eingetragen wurde, sowie mit einer zweiten Klageschrift, die am 14. Juli 2015 einging und unter dem Aktenzeichen T‑381/15 eingetragen wurde, erhob die Klägerin Klagen, mit denen sie im ersten Fall die Nichtigerklärung des Beschlusses vom 16. Dezember 2014 und im zweiten Fall die Nichtigerklärung des Beschlusses vom 8. Mai 2015 sowie den Ersatz des durch diesen Beschluss verursachten Schadens begehrte.
8 Mit den Urteilen vom 2. Februar 2017, International Management Group/Kommission (T‑29/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:56), und vom 2. Februar 2017, IMG/Kommission (T‑381/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:57), wies das Gericht die Klagen der Klägerin gegen die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 ab.
9 Mit zwei am 11. April 2017 eingelegten und unter den Aktenzeichen C‑183/17 P und C‑184/17 P in das Register eingetragenen Rechtsmitteln beantragte die Klägerin die Aufhebung der beiden oben in Rn. 8 genannten Urteile.
10 Mit Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), hob der Gerichtshof erstens die beiden oben in Rn. 8 genannten Urteile auf, erklärte zweitens die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 für nichtig und verwies drittens die Rechtssache T‑381/15 zur Entscheidung über den Antrag der Klägerin auf Ersatz der Schäden, die ihr durch den Beschluss vom 8. Mai 2015 entstanden sein sollen, an das Gericht zurück.
11 Mit einem Schriftsatz, der am 10. Januar 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs einging, ersuchte die Klägerin den Gerichtshof um Auslegung der Nrn. 1 bis 3 des Tenors des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78). Mit Beschluss vom 9. Juni 2020, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P‑INT, EU:C:2020:507), wies der Gerichtshof diesen Auslegungsantrag als offensichtlich unzulässig zurück.
C. Verwaltungsrechtliche Folgen des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P)
12 Mit Schreiben vom 6. Mai 2019 forderte die Kommission die Klägerin im Rahmen der Durchführung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), auf, bestimmte Unterlagen vorzulegen, um nachzuweisen, dass sie die notwendigen Anforderungen für eine mögliche Zusammenarbeit mit ihr nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung tatsächlich erfülle.
13 Mit Schreiben vom 25. Juni 2019 forderte die Klägerin die Kommission im Wesentlichen auf, ihren Status als internationale Organisation nicht mehr zu bestreiten.
14 Mit Schreiben vom 18. Juli 2019 (im Folgenden: Schreiben vom 18. Juli 2019) wandte die Kommission ein, dass die Durchführung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), nicht die „automatische Anerkennung [der Klägerin] als internationale Organisation, sondern eine Neubewertung ihres rechtlichen Status im Licht der verfügbaren Informationen und der einschlägigen Finanzvorschriften“ erfordere. Daher wiederholte die Kommission gegenüber der Klägerin ihre Aufforderung, die im Schreiben vom 6. Mai 2019 genannten Dokumente vorzulegen, auf die oben in Rn. 12 Bezug genommen wird, und stellte klar, dass sie sich im Fall einer Weigerung der Klägerin unmittelbar an die Staaten wenden werde, die diese zu ihren Mitgliedern zähle.
15 Am 26. November 2019 wandte sich die Kommission an Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich, Portugal, Finnland, Schweden, das Vereinigte Königreich, Kanada, Norwegen, Russland, die Schweiz und die Türkei mit der Frage, ob diese die Klägerin als internationale Organisation betrachteten, ob sie Mitglied dieser Organisation seien und ob sie ein internationales oder zwischenstaatliches Abkommen unterzeichnet hätten, mit dem die Klägerin als internationale Organisation gegründet worden sei. Falls dies zutreffe, forderte die Kommission die genannten Staaten auf, ihr eine beglaubigte Kopie dieses Abkommens sowie einen Nachweis darüber, dass die Unterzeichner über eine Vollmacht zu seiner Unterzeichnung verfügten, oder eine Kopie der Ratifikationsurkunde für dieses Abkommen zu übermitteln.
16 Am 27. Januar und erneut am 11. März 2020 wiederholte die Kommission das oben in Rn. 15 genannte Auskunftsersuchen vom 26. November 2019 gegenüber Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Österreich, Schweden, dem Vereinigten Königreich, Kanada und der Türkei.
17 Am 25. Mai 2020 wiederholte die Kommission erneut das oben in Rn. 15 genannte Auskunftsersuchen vom 26. November 2019 gegenüber Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Schweden, Kanada und der Türkei sowie schließlich am 14. Oktober 2020 gegenüber Deutschland und der Türkei.
18 Mit Schreiben vom 19. Februar 2021 teilte die Kommission der Klägerin mit, dass sie beabsichtige, einen Beschluss zu erlassen, mit dem ihr die Anerkennung des Status einer internationalen Organisation verweigert werde, und forderte sie auf, Stellung zu nehmen.
19 Am 5. und 30. März 2021 antwortete die Klägerin mit schriftlichen Stellungnahmen auf das oben in Rn. 18 genannte Schreiben der Kommission vom 19. Februar 2021.
20 Am 8. Juni 2021 erließ die Kommission den angefochtenen Beschluss.
D. Gerichtliche Folgen des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P)
21 Mit einer Klageschrift, die am 26. September 2019 bei der Kanzlei des Gerichts einging und unter dem Aktenzeichen T‑645/19 in das Register eingetragen wurde, erhob die Klägerin eine Klage, mit der sie zum einen die Nichtigerklärung des Schreibens vom 18. Juli 2019 und zum anderen Ersatz des ihr durch dieses Schreiben angeblich entstandenen materiellen und immateriellen Schadens begehrte.
22 Mit Beschluss vom 9. September 2020, IMG/Kommission (T‑645/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:388), wies das Gericht diese Klage als unzulässig ab.
23 Darüber hinaus wies das Gericht mit Urteil vom 9. September 2020, IMG/Kommission (T‑381/15 RENV, EU:T:2020:406), den Antrag der Klägerin auf Ersatz der Schäden zurück, die ihr durch den Beschluss vom 8. Mai 2015 entstanden sein sollen.
24 Am 19. November 2020 legte die Klägerin zwei Rechtsmittel ein, die unter den Aktenzeichen C‑619/20 P und C‑620/20 P in das Register eingetragen wurden und mit denen sie die Aufhebung des oben in Rn. 22 genannten Beschlusses und die Aufhebung des in Rn. 23 genannten Urteils begehrte.
II. Ereignisse nach Klageerhebung
25 Mit Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission (C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722), wies der Gerichtshof erstens das Rechtsmittel in der Rechtssache C‑619/20 P gegen den oben in Rn. 22 genannten Beschluss zurück, hob zweitens das oben in Rn. 23 genannte Urteil teilweise auf und verwies drittens die Rechtssache T‑381/15 RENV zur Entscheidung über den Antrag der Klägerin auf Ersatz des materiellen Schadens, der ihr durch den Beschluss vom 8. Mai 2015 entstanden sein soll, an das Gericht zurück.
III. Anträge der Parteien
26 Die Klägerin beantragt,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
–
die Kommission dazu zu verurteilen, ihr 23671903 Euro als Ersatz für verschiedene materielle und immaterielle Schäden zu zahlen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
27 Die Kommission beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
IV. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
28 Das Gericht hat zunächst die Frage der Ordnungsgemäßheit der von der Klägerin ihren Anwälten erteilten Prozessvollmacht zu prüfen und sodann die Zulässigkeit der Anlagen A.24 zur Klageschrift und C.1 zur Klageerwiderung zu beurteilen, deren Unzulässigkeit die Kommission geltend gemacht hat.
1. Zur Frage der Ordnungsgemäßheit der von der Klägerin ihren Anwälten erteilten Prozessvollmacht
29 In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission auf eine Frage des Gerichts nach dem für eine Klageerhebung zuständigen Gremium der Klägerin geltend gemacht, dass die in Anlage A.3 zur Klageschrift enthaltene, von der Klägerin ihren Anwälten erteilte Prozessvollmacht vom 12. August 2021 nicht auf einen Beschluss ihres Ständigen Ausschusses verweise, so dass Zweifel an der Existenz eines solchen Beschlusses bestünden.
30 Die Klägerin hält das Vorbringen der Kommission für unbegründet.
31 Bei den Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Klage handelt es sich um unverzichtbare Prozessvoraussetzungen, deren Vorliegen die Unionsgerichte jederzeit – auch von Amts wegen – zu prüfen haben (vgl. Urteil vom 21. September 2023, China Chamber of Commerce for Import and Export of Machinery and Electronic Products u. a./Kommission, C‑478/21 P, EU:C:2023:685, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Insbesondere müssen nach Art. 19 Abs. 3 und 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der nach Art. 53 Abs. 1 dieser Satzung und nach Art. 51 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts auf das Gericht anwendbar ist, juristische Personen – abgesehen von den Mitgliedstaaten, den Organen der Union, den Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3) oder der in diesem Abkommen genannten EFTA-Überwachungsbehörde – bei der Erhebung einer Klage bei den Unionsgerichten durch einen Anwalt vertreten sein, der berechtigt ist, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats oder eines anderen Staats aufzutreten, der Vertragsstaat dieses Abkommens ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2023, China Chamber of Commerce for Import and Export of Machinery and Electronic Products u. a./Kommission, C‑478/21 P, EU:C:2023:685, Rn. 91).
33 Wird gerügt, dass die Vollmacht eines Anwalts von einer Partei nicht ordnungsgemäß ausgestellt worden sei, hat die betreffende Partei also nachzuweisen, dass die Vollmacht ordnungsgemäß ausgestellt wurde, was das Gericht zu prüfen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2023, China Chamber of Commerce for Import and Export of Machinery and Electronic Products u. a./Kommission,C‑478/21 P, EU:C:2023:685, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Aber auch wenn die Unionsgerichte von einer Partei verlangen müssen, dass sie dartut, dass die Vollmacht ihres Anwalts ordnungsgemäß ausgestellt wurde, wenn dies von der gegnerischen Partei bestritten wird, gilt dies nur insoweit, als die gegnerische Partei hinreichend konkrete und bestimmte Anhaltspunkte vorbringt (Urteil vom 21. September 2023, China Chamber of Commerce for Import and Export of Machinery and Electronic Products u. a./Kommission, C‑478/21 P, EU:C:2023:685, Rn. 97).
35 Im vorliegenden Fall heißt es erstens in Art. 18 Buchst. d der Satzung der Klägerin ohne weitere Erläuterung, dass sie über die zur Ausübung ihrer Aufgaben und zur Erreichung ihrer Ziele erforderliche Rechtsfähigkeit, insbesondere über Prozessfähigkeit, verfüge.
36 Zweitens hat die Kommission, indem sie in der mündlichen Verhandlung lediglich geltend gemacht hat, dass die von der Klägerin ihren Anwälten erteilte Prozessvollmacht keinen Verweis auf einen Beschluss ihres Ständigen Ausschusses enthalte, nicht mit hinreichend konkreten und bestimmten Anhaltspunkten begründet, weshalb sie die Ordnungsgemäßheit dieser Prozessvollmacht bestreite.
37 Der Einwand, dass die von der Klägerin ihren Anwälten erteilte Prozessvollmacht nicht ordnungsgemäß sei, ist daher zurückzuweisen.
2. Zur Zulässigkeit von Anlage A.24 zur Klageschrift
38 In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission die Unzulässigkeit der Anlage A.24 zur Klageschrift insoweit geltend gemacht, als diese Anlage die Stellungnahme ihres Juristischen Dienstes vom 16. Januar 2015 enthalte, deren Verbreitung sie nicht genehmigt habe.
39 Die Klägerin hält diesen Unzulässigkeitseinwand für unbegründet.
40 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt, aus dem folgt, dass die Zulässigkeit eines Beweises, wenn er rechtmäßig erlangt worden ist, vor dem Gericht nicht in Frage gestellt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2018, Infineon Technologies/Kommission, C‑99/17 P, EU:C:2018:773, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Allerdings liefe es nach ständiger Rechtsprechung dem öffentlichen Interesse daran, dass die Organe die in völliger Unabhängigkeit abgegebenen Stellungnahmen ihrer Juristischen Dienste nutzen können, zuwider, wenn zugelassen würde, dass solche internen Dokumente in einem Rechtsstreit vor einem Unionsgericht vorgelegt werden, ohne dass ihre Vorlage von dem betreffenden Organ genehmigt oder von diesem Gericht angeordnet worden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2022, Nord Stream 2/Parlament und Rat, C‑348/20 P, EU:C:2022:548, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Durch die ungenehmigte Vorlage eines solchen Rechtsgutachtens konfrontiert die klagende Partei nämlich das betreffende Organ in dem Verfahren über die Gültigkeit eines angefochtenen Rechtsakts mit einer Stellungnahme, die sein eigener Juristischer Dienst bei der Ausarbeitung dieses Rechtsakts abgegeben hat. Ließe man zu, dass die klagende Partei ein von einem Organ erstelltes Rechtsgutachten, dessen Verbreitung von diesem Organ nicht genehmigt wurde, zu den Akten reichen könnte, so stünde dies grundsätzlich im Widerspruch zu den Erfordernissen eines fairen Verfahrens und liefe auf eine Umgehung des mit der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43) eingeführten Verfahrens hinaus, wonach der Zugang zu einem solchen Dokument beantragt werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Zwar ist der Grundsatz der Transparenz zu berücksichtigen, der in Art. 1 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 3 EUV sowie in Art. 15 Abs. 1 und Art. 298 Abs. 1 AEUV verankert ist und es u. a. ermöglicht, eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System zu gewährleisten. So trägt Transparenz dazu bei, das Vertrauen der Bürger dadurch zu stärken, dass sie es ermöglicht, Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern (vgl. Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Jedoch kann es der Grundsatz der Transparenz es nur ausnahmsweise rechtfertigen, ein von einem Organ erstelltes Dokument, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht wurde und ein Rechtsgutachten enthält, im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zu verbreiten. Deshalb ist es durch kein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt, ein Dokument, das ein Rechtsgutachten eines Organs enthält, in den Akten einer Rechtssache zu belassen, wenn dieses Gutachten zum einen kein Gesetzgebungsverfahren betrifft, in dem besondere Transparenz geboten ist, und zum anderen das Interesse an dieser Belassung in den Akten für die betroffene klagende Partei nur darin besteht, sich im Rahmen eines Rechtsstreits auf das Gutachten berufen zu können. In einem solchen Fall ist nämlich die Vorlage eines solchen Gutachtens augenscheinlich durch die eigenen Interessen der klagenden Partei an der Untermauerung ihrer Argumentation geleitet und nicht durch ein wie auch immer geartetes überwiegendes öffentliches Interesse wie etwa dasjenige, die Öffentlichkeit über das Verfahren zu informieren, das zu dem angefochtenen Rechtsakt geführt hat (vgl. Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass sich die oben in Rn. 38 genannte Stellungnahme des Juristischen Dienstes der Kommission vom 16. Januar 2015, deren Verbreitung von diesem Organ nicht genehmigt wurde, nicht auf ein Gesetzgebungsverfahren bezieht, für das eine besondere Transparenz geboten ist.
46 Zweitens hat die Klägerin in Erwiderung auf den von der Kommission erhobenen Einwand der Unzulässigkeit kein anderes Interesse als dasjenige, sich im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits auf dieses Rechtsgutachten berufen zu können, angeführt, so dass dessen Vorlage augenscheinlich nicht von einem überwiegenden öffentlichen Interesse, sondern von ihren eigenen Interessen geleitet ist.
47 Daher ist dem gegen die Anlage A.24 erhobenen Unzulässigkeitseinwand stattzugeben und diese Anlage für unzulässig zu erklären.
3. Zur Zulässigkeit von Anlage C.1 zur Erwiderung
48 Die Kommission macht geltend, dass die Klägerin die verspätete Vorlage der in Anlage C.1 zur Erwiderung enthaltenen Bescheinigung der Vorsitzenden ihres Ständigen Ausschusses vom 13. Oktober 2022 (im Folgenden: Bescheinigung vom 13. Oktober 2022) unter Verstoß gegen die Anforderungen von Art. 85 Abs. 2 der Verfahrensordnung nicht gerechtfertigt habe.
49 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 85 Abs. 2 der Verfahrensordnung die Hauptparteien für ihr Vorbringen noch in der Erwiderung oder in der Gegenerwiderung Beweise oder Beweisangebote vorlegen können, sofern die Verspätung der Vorlage gerechtfertigt ist.
50 Zwar müssen die Parteien gemäß der Präklusionsvorschrift in Art. 85 der Verfahrensordnung die verspätete Vorlage ihrer neuen Beweise oder Beweisangebote begründen; indessen ist es nach der Rechtsprechung Aufgabe des Gerichts, die Stichhaltigkeit der Begründung für die Verspätung, mit der diese Beweise oder Beweisangebote vorgelegt worden sind, zu prüfen und sie zurückzuweisen, wenn die verspätete Vorlage rechtlich nicht hinreichend gerechtfertigt oder begründet ist. Die verspätete Vorlage von Beweisen oder Beweisangeboten durch eine Partei kann u. a. dann gerechtfertigt sein, wenn diese Partei zuvor nicht über die fraglichen Beweise verfügen konnte oder wenn die Verspätung, mit der die Gegenpartei Beweise vorgelegt hat, es rechtfertigt, die Verfahrensakten zur Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens zu ergänzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2020, BP/FRA, C‑669/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:713, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in Rn. 51 der Erwiderung die verspätete Vorlage der von der Vorsitzenden ihres Ständigen Ausschusses erstellten Bescheinigung vom 13. Oktober 2022, die sie, „soweit erforderlich“, diesem Schriftsatz beigefügt hat, nicht gerechtfertigt.
52 Zwar wurde die Bescheinigung vom 13. Oktober 2022 ausgestellt, nachdem ihre Unterzeichnerin – eine ehemalige französische Diplomatin, die angibt, an der Genehmigung der Satzung der Klägerin im Jahr 1995 beteiligt gewesen zu sein – am 29. Juni 2022 zur Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses der Klägerin gewählt worden war, und ist somit nach dem Zeitpunkt der Klageerhebung am 18. August 2021 ausgestellt worden.
53 Allerdings führt die Klägerin in Rn. 25 fünfter Gedankenstrich der Klageschrift aus, dass sie dem OLAF und dem Gericht eine Erklärung und eine E‑Mail derselben Diplomatin vom 20. Mai bzw. 19. September 2014 vorgelegt habe, die deren Teilnahme an der Unterzeichnung der Satzung der Klägerin anlässlich deren Gründung belegten.
54 Darüber hinaus macht die Klägerin in Rn. 104 erster Gedankenstrich der Klageschrift geltend, dass frühere Erklärungen derselben Diplomatin bestätigt hätten, dass alle Staaten, die an der Sitzung vom 25. November 1994 teilgenommen hätten, die Gründungsakte der Klägerin unterzeichnet hätten, so dass sie sämtlich als deren Gründungsmitglieder angesehen werden müssten.
55 Mithin ist die Bescheinigung vom 13. Oktober 2022 von ihrer Unterzeichnerin nicht in Anbetracht eines neuen Gesichtspunkts im Zusammenhang mit ihrer neuen Funktion als Vorsitzende des Ständigen Ausschusses der Klägerin, sondern in Ansehung ihrer Mitwirkung an der Gründung der Klägerin in den Jahren 1994 und 1995 ausgestellt worden, so dass sie keinen neuen Gesichtspunkt enthält, von dem die Klägerin nicht schon vorher Kenntnis gehabt hätte.
56 Darüber hinaus stellt die Bescheinigung vom 13. Oktober 2022 auch keinen Gegenbeweis dar, der infolge eines neuen, von der Kommission zur Klageerwiderung beigefügten Beweises erbracht worden wäre.
57 Folglich ist die Anlage C.1 als verspätet und somit als unzulässig zurückzuweisen.
B. Zum Antrag auf Nichtigerklärung
58 Die Klägerin stützt ihren Antrag auf Nichtigerklärung auf vier Klagegründe: Mit dem ersten Klagegrund werden mehrere Rechtsfehler, insbesondere ein Verstoß gegen Art. 266 AEUV, gegen die Rechtskraft und gegen das Rückwirkungsverbot, geltend gemacht. Der zweite Klagegrund wird auf einen Verstoß gegen das Recht auf eine gute Verwaltung, insbesondere die Begründungs- und Sorgfaltspflicht, gestützt. Der dritte Klagegrund wird aus einem Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit hergeleitet, und mit dem vierten werden offensichtliche Beurteilungsfehler und andere Rechtsfehler gerügt.
59 Der zweite Klagegrund besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: Erstens wird ein Verstoß gegen die Begründungspflicht, zweitens ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht und drittens ein Verstoß gegen die Pflicht zur Unparteilichkeit gerügt.
60 Die Kommission hält diese Klagegründe für nicht stichhaltig.
61 Das Gericht wird den ersten Teil des zweiten Klagegrundes, der sich auf einen Verstoß gegen die Begründungspflicht stützt, und anschließend den ersten, den dritten und den vierten Klagegrund prüfen, bevor es den zweiten und den dritten Teil des zweiten Klagegrundes prüfen wird, die sich auf einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht bzw. die Pflicht zur Unparteilichkeit stützen.
1. Zum ersten Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen die Begründungspflicht
62 Die Klägerin rügt, dass der angefochtene Beschluss insoweit unzureichend begründet sei, als die Kommission nicht angegeben habe, dass sie trotz wiederholter Aufforderungen jegliche Zusammenkunft, jedwede Diskussion oder jeglichen Austausch mit der Klägerin verweigert habe. Sie wirft der Kommission ferner vor, nicht erläutert zu haben, warum die ihr vorliegenden Dokumente nicht mit dem erforderlichen Grad an Rechtssicherheit den Schluss zuließen, dass ihre mutmaßlichen Mitgliedstaaten der Gründung der Klägerin als internationale Organisation rechtsgültig zugestimmt hätten. Ebenso wirft sie der Kommission vor, nichts vorgebracht zu haben, was eine Neubewertung des Status der Klägerin rechtfertige, da sich deren tatsächliche und rechtliche Situation nicht geändert habe.
63 In diesem Zusammenhang ergibt sich aus Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), dass das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere die Verpflichtung der Verwaltung umfasst, ihre Entscheidungen zu begründen.
64 Nach gefestigter Rechtsprechung muss die nach Art. 296 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta erforderliche Begründung von Rechtsakten der Unionsorgane der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrolle ausüben kann. Das Begründungserfordernis ist anhand aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Inhalts des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten des Rechtsakts oder andere durch ihn unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung eines Rechtsakts brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung den Erfordernissen von Art. 296 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta genügt, nicht nur im Hinblick auf den Wortlaut des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch im Hinblick auf dessen Kontext und sämtliche Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juni 2020, Ungarn/Kommission, C‑456/18 P, EU:C:2020:421, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 3. Mai 2018, Malta/Kommission, T‑653/16, EU:T:2018:241, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Zudem kann das Fehlen einer Begründung unter Umständen selbst dann festgestellt werden, wenn der fragliche Beschluss bestimmte Begründungselemente enthält. So kommt eine in sich widersprüchliche oder unverständliche Begründung dem Fehlen einer Begründung gleich. Gleiches gilt, wenn die im fraglichen Beschluss enthaltenen Begründungselemente so lückenhaft sind, dass sie es dem Adressaten des Beschlusses im Kontext seines Erlasses in keiner Weise ermöglichen, die Überlegungen der Stelle nachzuvollziehen, die den Beschluss erlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2020, Kommission/Di Bernardo, C‑114/19 P, EU:C:2020:457, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Im vorliegenden Fall geht aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass er aus einem Schreiben der Kommission vom 8. Juni 2021 an die Klägerin und einer etwa 20 Seiten umfassenden Anlage mit dem Titel „Endgültige Bewertung des rechtlichen Status von IMG im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Betrauung mit indirekter Mittelverwaltung“ (im Folgenden: endgültige Beurteilung) besteht, wobei dieser Anlage wiederum zwei Anhänge beigefügt sind.
67 Erstens teilte die Kommission der Klägerin im Schreiben vom 8. Juni 2021 mit, dass sie nach der endgültigen Beurteilung zu dem Schluss gelangt sei, dass die Klägerin nicht als internationale Organisation nach den Finanzvorschriften für den Unionshaushalt und die Europäischen Entwicklungsfonds für eine Ausführung des Unionshaushalts nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung in Betracht komme.
68 Außerdem führte die Kommission aus, dass die endgültige Beurteilung und ihre Schlussfolgerung das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), umsetzten und dass der angefochtene Beschluss ab dem 16. Dezember 2014 gelte, dem Zeitpunkt, zu dem einer der durch dieses Urteil des Gerichtshofs für nichtig erklärten Beschlüsse seine Wirkungen entfaltet habe.
69 Zweitens besteht die endgültige Beurteilung aus vier Teilen, wobei sich deren erster auf die der Klägerin seitens der Kommission eingeräumte Möglichkeit bezieht, zum Entwurf des Beschlusses Stellung zu nehmen. Der zweite Teil betrifft die Bewertung der Stellungnahme der Klägerin, der dritte die Kommentare der Klägerin zu den Antworten der von der Kommission befragten Staaten und der vierte die Schlussfolgerung.
70 Als Erstes wurde in der endgültigen Beurteilung der Kommission – im ersten Unterabschnitt des ersten Teils dieser Beurteilung – ausgeführt, dass der Gerichtshof mit dem Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und 8. Mai 2015 hauptsächlich mit der Begründung für nichtig erklärt habe, dass die Zweifel der Kommission am Status der Klägerin als internationale Organisation durch Stellungnahmen einer Minderheit der Mitglieder der Klägerin, nämlich von fünf der 16 Staaten, hervorgerufen worden seien und dass daher eine umfassende Neubewertung ihres rechtlichen Status zur Durchführung dieses Urteils erforderlich sei, um festzustellen, ob sie als internationale Organisation für die Ausführung des Unionshaushalts in indirekter Mittelverwaltung in Betracht komme.
71 Als Zweites verwies die Kommission im dritten und vierten Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung auf die aufeinanderfolgenden Bestimmungen der Finanzregelung der Union, in denen die Bedingungen für die Berechtigung zur Ausführung von Unionsmitteln im Wege der indirekten Mittelverwaltung durch internationale Organisationen seit dem 16. Dezember 2014 festgelegt seien.
72 In diesem Zusammenhang vertrat die Kommission die Auffassung, dass die in der Finanzregelung der Union genannte Definition des Begriffs „internationale Organisation“ gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. i des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (Sammlung der Verträge der Vereinten Nationen, Bd. 1155, S. 331, im Folgenden: Wiener Übereinkommen) und gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Artikelentwurfs über die Verantwortlichkeit internationaler Organisationen, der von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen auf ihrer 63. Sitzung (2011) angenommen und der Generalversammlung als Bestandteil des Arbeitsberichts der Völkerrechtskommission über diese Sitzung übermittelt worden sei (A/66/10) (Jahrbuch der Völkerrechtskommission, 2011, Bd. II, Teil 2, im Folgenden: Artikelentwurf), ausgelegt werden müsse.
73 Die Kommission leitete daraus ab, dass eine internationale Organisation, um für die in der Unionsregelung vorgesehene indirekte Mittelverwaltung in Frage kommen zu können, durch ein zwischenstaatliches oder internationales Abkommen, wie es in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 7 Abs. 1 sowie den Art. 8 und 11 des Wiener Übereinkommens definiert sei, gegründet worden sein müsse.
74 Daher wies die Kommission darauf hin, dass die betreffende Organisation nur dann als internationale Organisation für die indirekte Mittelverwaltung in Frage komme, wenn sie als solche durch einen völkerrechtlichen Vertrag von mindestens zwei Staaten gegründet worden sei, die ihre Zustimmung durch mit Vollmacht ausgestattete Vertreter oder nach den in Art. 11 des Wiener Übereinkommens vorgesehenen Formalitäten erteilt hätten.
75 Als Drittes bezog sich die Kommission im fünften Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung auf die Rn. 94 und 95 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), und folgerte daraus, dass sie – wenn die mutmaßlichen Mitgliedstaaten einer Organisation erklärten, sie hätten keine gültige Zustimmung zum Beitritt zum Vertrag oder zu Gründungsabkommen dieser Organisation erteilt, oder erklärten, sie seien nicht oder nicht mehr Mitglieder dieser Organisation – nicht über eine Rechtsgrundlage verfüge, aufgrund derer sie von sich aus davon ausgehen könne, dass diese Einrichtung eine internationale Organisation im Sinne der Finanzregelung der Union darstelle.
76 Insbesondere reiche die Tatsache, dass ein einziger Staat seine Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation uneingeschränkt anerkenne oder bestätige, dass er zugestimmt habe, durch den Gründungsvertrag dieser Organisation gebunden zu sein, nicht aus, um es der Kommission zu ermöglichen, diese Einrichtung als internationale Organisation im Sinne der Finanzregelung der Union anzusehen, da die Existenz einer solchen Organisation und eines internationalen Abkommens die Beteiligung von mindestens zwei Staaten voraussetze.
77 Als Viertes führte die Kommission im sechsten Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung, der sich auf die Dokumente bezieht, die die Kommission erhalten und bei der Neubewertung des rechtlichen Status der Klägerin berücksichtigt hat, erneut aus, dass die Klägerin keine der Dokumente vorgelegt habe, die die Kommission in ihren oben in Rn. 12 bzw. Rn. 14 genannten Schreiben vom 6. Mai und 18. Juli 2019 angefordert habe, und dass sie, da sie anhand der ihr vorliegenden Dokumente nicht mit dem erforderlichen Grad an Rechtssicherheit darauf schließen könne, dass die mutmaßlichen Mitglieder der Klägerin ihrer Gründung als internationale Organisation wirksam zugestimmt hätten und ihre Mitglieder seien, im November 2019 die Behörden der Staaten befragt habe, die auf der Website der Klägerin als deren Mitglieder dargestellt seien.
78 Als Fünftes prüfte die Kommission im siebten Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung (im Folgenden: Unterabschnitt A.7), der sich auf die vorläufige Beurteilung dessen bezieht, ob die Klägerin als internationale Organisation für die indirekte Mittelverwaltung geeignet sei, zum einen die Frage, ob sie selbst an der Gründung der Klägerin beteiligt gewesen sei, und zum anderen die Antworten der Staaten, die sie unter den oben in den Rn. 15 bis 17 genannten Umständen befragt hatte.
79 Was zum einen die Frage ihrer Beteiligung an der Gründung der Klägerin betrifft, so stellte die Kommission fest, dass weder die Europäische Gemeinschaft noch die Union in ihrer Nachfolge ein internationales Abkommen gemäß den ursprünglich in Art. 228 Abs. 2 EGV vorgesehenen Bestimmungen geschlossen hätten, um die Klägerin als internationale Organisation zu gründen, und dass die Union daher nicht als Mitglied einer solchen Organisation angesehen werden könne. Die Kommission fügte hinzu, dass selbst dann, wenn sie ein Abkommen zur Gründung der Klägerin als internationale Organisation geschlossen hätte, ein solches Abkommen nur dann als internationales Abkommen angesehen werden könne, wenn mindestens zwei Staaten ihm beigetreten wären.
80 Was zum anderen die Antworten der Staaten betrifft, die Mitglieder der Klägerin sein sollen, so stellte die Kommission fest, dass keiner dieser Staaten bestätigt habe, ein internationales oder zwischenstaatliches Abkommen unterzeichnet zu haben, das die Klägerin als internationale öffentliche Organisation gegründet habe, mit Vollmachten ausgestattete Personen entsandt zu haben, um in ihrem Namen ein internationales oder zwischenstaatliches Abkommen mit einem solchen Zweck zu unterzeichnen, innerstaatliche Verfahren zur Ratifikation eines internationalen oder zwischenstaatlichen Abkommens zu diesem Zweck durchgeführt zu haben oder die Klägerin als internationale öffentliche Organisation gegründet zu haben.
81 Darüber hinaus erklärte die Kommission, dass nur Österreich bestätigt habe, Mitglied der Klägerin zu sein, und dass die Klägerin nach Angaben der Behörden dieses Staates zum Zeitpunkt ihrer Gründung eine unabhängige internationale Übergangseinrichtung mit beschränkter Rechtsfähigkeit und keine internationale Organisation gewesen sei.
82 Zudem seien einige internationale Organisationen zwar nicht förmlich durch einen Vertrag gegründet worden, hätten diesen Status aber in der Praxis erlangt; indessen würden diese Organisationen von den Staaten, die ihnen angehörten, und von verschiedenen internationalen Einrichtungen eindeutig und umfassend als internationale Organisationen anerkannt, was bei der Klägerin nicht der Fall sei.
83 Insbesondere unter Hinweis auf die von Belgien, Italien, Österreich und Finnland gegebenen Antworten hielt die Kommission außerdem die Erklärungen einiger der befragten Staaten, mit denen diese bestätigten, das Dokument vom 25. November 1994 über die Gründung der IMG‑IBH (im Folgenden: Resolution vom 25. November 1994) unterzeichnet zu haben, an der Sitzung vom selben Tag, auf der das Dokument angenommen worden sei, teilgenommen zu haben und Mitglieder des Lenkungsausschusses der Klägerin gewesen zu sein, nicht für geeignet, um zu beweisen, dass die Klägerin eine durch ein internationales Abkommen gegründete internationale Organisation sei.
84 Als Sechstes prüfte die Kommission im zweiten und dritten Teil der endgültigen Beurteilung die von der Klägerin in ihrem Schreiben vom 30. März 2021 vorgebrachten Einwände und stellte fest, dass keiner dieser Einwände geeignet sei, die vorläufige Schlussfolgerung in Frage zu stellen, dass die Klägerin den Status einer internationalen Organisation nicht nachgewiesen habe und folglich seit dem 16. Dezember 2014 nicht für die Ausführung von Unionsmitteln im Wege der indirekten Mittelverwaltung als internationale Organisation in Betracht komme.
85 Nach alledem ist festzustellen, dass im angefochtenen Beschluss die rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen, auf denen er beruht, hinreichend dargelegt sind und dass diese Erwägungen der Klägerin ermöglichen, seine Rechtmäßigkeit zu beurteilen, sowie dem Gericht erlauben, seine Kontrolle auszuüben.
86 Drittens sind die Behauptungen der Klägerin, dass einige der Gründe des angefochtenen Beschlusses nicht hinreichend bestimmt seien, nicht geeignet, die oben in Rn. 85 genannte Schlussfolgerung in Frage zu stellen.
87 Zunächst ist, was die im angefochtenen Beschluss fehlende Angabe betrifft, dass die Kommission trotz wiederholter Aufforderungen der Klägerin jegliche Zusammenkunft, Diskussion und jeglichen Austausch mit ihr verweigert habe – eine solche Haltung, selbst, wenn dies zuträfe – unerheblich für die Beurteilung, ob der Beschluss hinreichend begründet ist.
88 Denn die Angabe eines möglichen Austauschs zwischen der Kommission und der Klägerin vor Erlass des angefochtenen Beschlusses betrifft das Verfahren zum Erlass dieses Beschlusses und nicht seine Begründetheit. Da eine solche Angabe somit im Hinblick auf die tatsächlichen und rechtlichen Gründe der Schlussfolgerung, zu der die Kommission im angefochtenen Beschluss gelangt ist, ohne Belang ist, kann die Klägerin der Kommission nicht deshalb eine unzureichende Begründung vorwerfen, weil sie zu diesem Punkt geschwiegen habe.
89 Sodann geht in Bezug auf das Vorbringen der Klägerin, die Kommission habe nicht erläutert, weshalb die ihr vorliegenden Dokumente nicht ausreichten, um festzustellen, ob sie den Status einer internationalen Organisation besitze, aus dem angefochtenen Beschluss, insbesondere aus dem sechsten Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung, hervor, dass die Kommission der Ansicht war, diese in Fn. 23 der genannten Beurteilung aufgelisteten Dokumente wiesen aus ihrer Sicht nicht den erforderlichen Grad an Rechtssicherheit auf, was eine zwar kurze, aber ausreichende Begründung darstellt.
90 Schließlich geht in Bezug auf die Behauptung der Klägerin, die Kommission habe keine Anhaltspunkte vorgebracht, die eine Neubewertung ihres rechtlichen Status bei unveränderter Sach- und Rechtslage gerechtfertigt hätten, aus dem angefochtenen Beschluss, insbesondere aus dem ersten Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung, hervor, dass die Kommission eine solche Neubewertung für erforderlich hielt, um das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), durchzuführen.
91 Daher ist der erste Teil des zweiten Klagegrundes, der eine unzureichende Begründung des angefochtenen Beschlusses rügt, als unbegründet zurückzuweisen.
2. Zum ersten Klagegrund: mehrere Rechtsfehler, insbesondere Verstöße gegen Art. 266 AEUV, gegen die Rechtskraft und gegen das Rückwirkungsverbot
92 Der erste Klagegrund besteht im Wesentlichen aus drei Teilen, mit denen erstens ein Verstoß gegen Art. 266 AEUV und die Rechtskraft des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), zweitens ein Verstoß gegen die Finanzregelung der Union, die Leitlinien der Kommission vom 7. Januar 2015 zur Bewertung des Status internationaler Organisationen und der Möglichkeit, Organisationen ohne Erwerbszweck internationalen Organisationen gleichzustellen (im Folgenden: Leitlinien), sowie gegen verschiedene Grundsätze, insbesondere das Rückwirkungsverbot, und drittens ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz gerügt werden.
a)
Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 266 AEUV und gegen die Rechtskraft des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P)
93 Der erste Teil des ersten Klagegrundes besteht aus zwei Rügen, die erstens auf einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV und zweitens auf einen Verstoß gegen die Rechtskraft gestützt werden.
1) Zur ersten Rüge: Verstoß gegen Art. 266 AEUV
94 Die Klägerin trägt vor, dass Art. 266 AEUV das Organ, das einen für nichtig erklärten Rechtsakt erlassen habe, nur dann zum Erlass eines neuen rückwirkenden Rechtsakts verpflichte, wenn sich dieses Organ in der Situation einer gebundenen Entscheidung befinde, was der Gerichtshof in Rn. 113 des Urteils vom 22. September 2022, IMG/Kommission (C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722), bestätigt habe. Nach der Nichtigerklärung der Beschlüsse durch das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), durfte die Kommission nach Ansicht der Klägerin daher nicht nachträglich die ihr zuerkannte Eigenschaft als internationale Organisation wieder aberkennen.
95 Nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich aus Art. 266 AEUV, dass das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die sich aus dem Urteil, mit dem dieses Handeln für nichtig erklärt wurde, ergebenden Maßnahmen zu ergreifen hat. Um einem solchen Urteil nachzukommen und es vollständig durchzuführen, muss dieses Organ nicht nur dessen Tenor beachtet haben, sondern auch die Gründe, die ihn in dem Sinne tragen, dass sie zur Bestimmung seiner genauen Bedeutung unerlässlich sind (vgl. Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 In Art. 266 AEUV wird jedoch die Natur der Maßnahmen, die vom Urheber des für nichtig erklärten Handelns zu ergreifen sind, um der oben in Rn. 95 genannten Verpflichtung nachzukommen, nicht konkretisiert, so dass es ihm obliegt, sie zu bestimmen; er verfügt über ein weites Ermessen bei der Wahl dieser Maßnahmen, die allerdings mit dem Tenor des Urteils, mit dem das fragliche Handeln für nichtig erklärt wurde, und den ihn tragenden Gründen vereinbar sein müssen (vgl. Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).
97 Insbesondere geht aus der Rechtsprechung hervor, dass eine Maßnahme zur Durchführung eines Urteils, mit dem eine Handlung für nichtig erklärt wird, ausnahmsweise rückwirkend gelten kann, wenn das zu erreichende Ziel dies erfordert, d. h., wenn mit der rückwirkenden Entscheidung zumindest ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2016, Éditions Odile Jacob/Kommission, C‑514/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:55, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
98 So verfolgt eine rückwirkende Entscheidung, die zur Durchführung eines Nichtigkeitsurteils gefasst wurde und mit der die in diesem Urteil beanstandete Rechtswidrigkeit behoben werden soll, ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel, nämlich die Beachtung der Rechtmäßigkeit und der Rechtskraft durch die Verwaltung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2014, Éditions Odile Jacob/Kommission, T‑471/11, EU:T:2014:739, Rn. 106).
99 Denn aus der Rechtsprechung geht hervor, dass die Nichtigerklärung eines Rechtsakts durch den Unionsrichter zur Folge hat, dass dieser Akt rückwirkend aus der Rechtsordnung entfernt wird, und dass, falls der aufgehobene Rechtsakt bereits vollzogen wurde, die Beseitigung seiner Wirkungen verlangt, dass die Rechtsposition des Klägers, in der er sich vor dem Erlass des Rechtsakts befand, wiederhergestellt wird (vgl. Urteil vom 21. September 2022, Casanova/EIB, T‑266/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:566, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).
100 Darüber hinaus ist auch entschieden worden, dass die Tatsache, dass ein Rechtsakt durch ein Urteil rückwirkend für nichtig erklärt wird, die Verwaltung nicht dazu verpflichtet, einen neuen Beschluss zu fassen, der sich inhaltlich von dem für nichtig erklärten Beschluss unterscheidet, sofern dieser neue Beschluss und das Verfahren zu seinem Erlass nicht mit denselben Mängeln, die zur Nichtigerklärung des ersten Beschlusses geführt hatten, oder von neuen Mängeln behaftet sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2022, Darment/Kommission, T‑92/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:341, Rn. 49).
101 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Rn. 57 bis 59, 61 und 88 bis 90 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), dass die Kommission sich vergewissern muss, dass es sich bei den Einrichtungen, die sie nach den Finanzregelungen der Union über die indirekte Mittelverwaltung des Unionshaushalts durch internationale Organisationen mit Haushaltsvollzugsaufgaben betraut hat oder betrauen möchte, um internationale Organisationen im Sinne dieser Regelungen handelt. Zudem ist die Kommission, wenn insoweit Zweifel bestehen, verpflichtet, diese Zweifel auszuräumen und alle Informationen zu sammeln, die zur Rechtfertigung ihres Beschlusses sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht in Anbetracht seiner rechtlichen Folgen für die betreffende Einrichtung erforderlich sind (Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 111).
102 Außerdem geht aus den Rn. 92 bis 97 und 104 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), deren Inhalt in den Rn. 22 und 23 des Beschlusses vom 9. Juni 2020, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P‑INT, EU:C:2020:507), wiedergegeben wurde, hervor, dass die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht gerechtfertigt waren (Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 112).
103 In Anbetracht dieser Erwägungen und Feststellungen, die den Tenor des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), tragen, war die Kommission nicht verpflichtet, den von der Klägerin beanspruchten Status einer internationalen Organisation rückwirkend anzuerkennen, sondern konnte ihrer Verpflichtung zur Durchführung dieses Urteils dadurch nachkommen, dass sie das Verfahren betreffende Maßnahmen ergriff, die es ihr ermöglichen sollten, die vom Gerichtshof festgestellte Unregelmäßigkeit zu beseitigen und unter Umständen als Ersatz für die vom Gerichtshof für nichtig erklärten Beschlüsse einen neuen Rechtsakt zu erlassen, nachdem sie die Informationen erlangt hatte, die sie zur Stützung des neuen Rechtsakts in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für erforderlich hielt (Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 113).
104 So ergibt sich aus den Gründen des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), deren Bedeutung und Tragweite der Gerichtshof im Beschluss vom 9. Juni 2020, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P‑INT, EU:C:2020:507), erläutert hat, dass es der Kommission nach diesem Urteil nicht verwehrt war, später unter Berücksichtigung aller relevanten tatsächlichen und rechtlichen Umstände die Eigenschaft der Klägerin als internationale Organisation neu zu bewerten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 142).
105 Folglich hat die Kommission, indem sie eine rückwirkende Neubewertung des rechtlichen Status der Klägerin nach dem Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), vornahm, nicht gegen Art. 266 AEUV verstoßen, so dass die erste Rüge als unbegründet zurückzuweisen ist.
2) Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen die Rechtskraft
106 Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Rechtskraft der Rn. 94 und 104 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), einer Neubewertung ihres Status für die Vergangenheit entgegenstehe.
107 Insoweit umfasst nach ständiger Rechtsprechung die Rechtskraft nicht nur den Tenor der fraglichen gerichtlichen Entscheidung, sondern auch deren Gründe, die den Tenor tragen und von ihm daher nicht zu trennen sind (vgl. Urteil vom 17. September 2020, Alfamicro/Kommission, C‑623/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:734, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
108 Zudem erstreckt sich die Rechtskraft lediglich auf diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung waren (vgl. Urteil vom 17. September 2020, Alfamicro/Kommission, C‑623/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:734, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
109 Wie oben in Rn. 102 erwähnt, geht aus den Rn. 92 bis 97 und 104 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), hervor, dass die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht gerechtfertigt waren, so dass sie vom Gerichtshof für nichtig erklärt wurden.
110 Insbesondere hat der Gerichtshof in den Rn. 92 bis 97 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), den Gründen der beiden Rechtsmittel stattgegeben, mit denen sich die Klägerin gegen die Feststellung des Gerichts wandte, dass die Kommission keinen Rechtsfehler und keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe, als sie die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 mit gewissen Zweifeln an der Eigenschaft der Klägerin als internationale Organisation im Sinne der Finanzregelung der Union begründet habe.
111 Nach Auffassung des Gerichtshofs hat das Gericht einen Rechtsfehler begangen, indem es sich auf die Feststellung beschränkte, dass die von der Klägerin vorgebrachten Argumente und Beweise die Zweifel der Kommission an ihrem Status als internationale Organisation nicht in Frage stellten, und indem es nicht die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 im Hinblick auf den Begriff „internationale Organisation“ im Sinne der Finanzregelung der Union prüfte.
112 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass keiner der drei Gesichtspunkte, auf die sich die Kommission beim Erlass der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 gestützt hatte, rechtlich geeignet war, Zweifel an der Eigenschaft der Klägerin als internationale Organisation zu begründen.
113 Diese drei Gesichtspunkte waren folgende: Erstens betrachteten sich fünf Mitgliedstaaten der Union, die nach Angaben der Klägerin Mitglieder dieser Organisation waren, nicht als solche, zweitens habe der Generalsekretär der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) angegeben, dass die Klägerin keine Sonderorganisation der UNO sei, und drittens bestünden Ungewissheiten in Bezug auf die Vollmachten von Personen, die bestimmte Staaten bei der Unterzeichnung der Gründungsakte der Klägerin vertreten hätten.
114 Daher hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese drei Gesichtspunkte sich nur auf fünf nach Angaben der Klägerin zu ihren aktuellen oder ehemaligen Mitgliedern zählende Staaten sowie auf die Vollmachten von Personen, die diese Staaten bei der Unterzeichnung ihrer Gründungsakte vertreten hatten, und nicht auf alle Mitgliedstaaten der Klägerin oder auf ihre eigene Eigenschaft bezogen.
115 Namentlich in Rn. 94 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), hat der Gerichtshof wie folgt entschieden:
„Was den ersten dieser Gesichtspunkte betrifft, der die Frage betrifft, ob mehrere von IMG als Mitglied dargestellte Staaten tatsächlich Mitglieder der Organisation waren, geht nämlich aus den Feststellungen des Gerichts selbst hervor, dass die insoweit gehegten Zweifel der Kommission nur ‚bestimmte‘ Mitglieder von IMG betrafen, und zwar genauer fünf von insgesamt 16. Solche Zweifel, selbst wenn man unterstellt, dass sie begründet sind, führen aber völkerrechtlich nicht dazu, dass die Einrichtung, deren Mitglieder diese Staaten nicht – oder nicht mehr – sein sollen, ihre Eigenschaft als ,internationale Organisation‘ verliert, erst recht nicht, wenn die betreffenden Staaten, wie hier, nur eine kleine Minderheit der Mitglieder der fraglichen Einrichtung darstellen.“
116 Schließlich ist der Gerichtshof in den Rn. 98 bis 106 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), erstens zu dem Ergebnis gelangt, dass die festgestellten Rechtsfehler des Gerichts zur vollständigen Aufhebung der Urteile vom 2. Februar 2017, International Management Group/Kommission (T‑29/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:56), und vom 2. Februar 2017, IMG/Kommission (T‑381/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:57), führen mussten, dass zweitens die beiden Rechtsstreitigkeiten zur Entscheidung reif waren, soweit die Klägerin die Nichtigerklärung der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 begehrte, und dass drittens diese beiden Beschlüsse ebenso wie die oben genannten Urteile rechtswidrig und deshalb auch diese Beschlüsse insgesamt für nichtig zu erklären waren, wohingegen viertens der Antrag auf Ersatz der Schäden, die der Klägerin durch den Beschluss vom 8. Mai 2015 entstanden sein sollen, nicht zur Entscheidung reif war, so dass die Sache insoweit an das Gericht zurückzuverweisen war.
117 Daher hat der Gerichtshof in Rn. 104 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), wie folgt entschieden:
„Im vorliegenden Fall ist es angebracht, dass der Gerichtshof endgültig über die beiden Nichtigkeitsklagen entscheidet, die zur Entscheidung reif sind. Wie sich nämlich aus den Rn. 92 bis 96 des vorliegenden Urteils ergibt, sind die streitigen Beschlüsse rechtswidrig, da die von der Kommission zu ihrer Begründung angeführten Gesichtspunkte nicht geeignet sind, die Eigenschaft von IMG als internationale Organisation im Sinne der Finanzregelungen von 2002 und 2012 in Frage zu stellen. Diese Beschlüsse sind daher insgesamt für nichtig zu erklären.“
118 Erstens ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass die in den Rn. 94 und 104 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), enthaltenen Gründe nicht unabhängig von den Rn. 92 bis 96 desselben Urteils zu sehen sind, auf die Rn. 104 des Urteils verweist und die den Tenor tragen, mit dem der Gerichtshof die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 für nichtig erklärt hat. Daraus folgt, dass sich die Rechtskraft namentlich von Rn. 94 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), auch auf Rn. 104 dieses Urteils erstreckt.
119 Zweitens geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses, wie sie oben in den Rn. 66 bis 84 zusammengefasst wird, nicht hervor, dass dieser Beschluss auf einem der drei Gesichtspunkte beruhte, die die Zweifel der Kommission geweckt und sie zum Erlass der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 veranlasst hatten.
120 Da die Kommission den angefochtenen Beschluss somit auf andere Gründe gestützt hat als die, die den Beschlüssen vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 zugrunde lagen, welche der Gerichtshof mit Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), für rechtswidrig erklärt hat, macht die Klägerin zu Unrecht geltend, dass der angefochtene Beschluss gegen die Rechtskraft namentlich der Rn. 94 und 104 dieses Urteils verstoße. Daher ist diese Rüge, ebenso wie der erste Teil des vorliegenden Klagegrundes insgesamt, als unbegründet zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, den Grundsatz „nemo auditur propriam turpitudinem allegans“ und das Rückwirkungsverbot
121 Dieser Teil besteht aus zwei Rügen, die erstens einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben sowie den Grundsatz „nemo auditur propriam turpitudinem allegans“ (im Folgenden: Grundsatz „nemo auditur“) und zweitens einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot von Rechtsakten der Union zum Gegenstand haben.
122 Das Gericht prüft zunächst die zweite Rüge, mit der ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot von Rechtsakten der Union geltend gemacht wird, und anschließend die erste Rüge.
1) Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot von Rechtsakten der Union
123 Die Klägerin macht geltend, dass der angefochtene Beschluss das Rückwirkungsverbot von Rechtsakten der Union verletze, da es keine Rechtfertigung für die rückwirkende Neubewertung ihres Status gegeben habe. Darüber hinaus sei die Rückwirkung des angefochtenen Beschlusses nicht durch den in Rede stehenden Sachverhalt begründet worden, sondern durch neue Tatsachen, die im Hinblick auf neue Regelungen beurteilt worden seien.
124 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit in seinen verschiedenen Ausprägungen die Vorhersehbarkeit von unter das Unionsrecht fallenden Situationen und Rechtsverhältnissen gewährleisten soll. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es insbesondere, das Inkrafttreten eines Unionsrechtsakts auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Galeote und Watson/Parlament, C‑715/21 P und C‑716/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2023:190, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung).
125 Allerdings geht aus der oben in den Rn. 97 bis 99 angeführten Rechtsprechung hervor, dass eine Maßnahme zur Durchführung eines Urteils, mit dem eine Handlung für nichtig erklärt wurde, ausnahmsweise rückwirkend gelten kann, wenn einerseits das zu erreichende Ziel dies erfordert, d. h., wenn mit der rückwirkenden Entscheidung zumindest ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, und wenn andererseits das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet wird.
126 Somit ist zu prüfen, ob die beiden oben in Rn. 125 genannten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
127 Was zunächst die erste Voraussetzung – die Verfolgung eines im Allgemeininteresse liegenden Ziels – angeht, so ergibt sich aus der oben in den Rn. 98 und 99 angeführten Rechtsprechung, dass ein rückwirkender Beschluss, der zur Durchführung eines Nichtigkeitsurteils gefasst wurde und mit dem die in diesem Urteil beanstandete Rechtswidrigkeit behoben werden soll, ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt, da die Nichtigerklärung eines Rechtsakts durch die Unionsgerichte vom Urheber des Rechtsakts verlangt, die durch die Nichtigerklärung dieses Rechtsakts verursachte rechtliche Lücke zu schließen und die Rechtsposition, in der sich der Kläger vor dem Erlass des Rechtsakts befand, wiederherzustellen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 5. September 2014, Éditions Odile Jacob/Kommission, T‑471/11, EU:T:2014:739, Rn. 106).
128 Im vorliegenden Fall geht aus der Prüfung des ersten Teils dieses Klagegrundes, insbesondere aus der obigen Rn. 103, hervor, dass die Kommission ihrer Verpflichtung zur Durchführung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), dadurch nachkommen konnte, dass sie das Verfahren betreffende Maßnahmen ergriff, die es ihr ermöglichen sollten, die vom Gerichtshof festgestellte Unregelmäßigkeit zu beseitigen und unter Umständen als Ersatz für die von diesem für nichtig erklärten Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 einen neuen Rechtsakt zu erlassen, nachdem sie die Informationen erlangt hatte, die sie zur Stützung des neuen Rechtsakts in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für erforderlich hielt.
129 Da die Kommission den angefochtenen Beschluss also erließ, um die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 zu beheben und eine rechtliche Lücke nach der Nichtigerklärung dieser Beschlüsse durch den Gerichtshof zu vermeiden, befand sie sich in der Ausnahmesituation, in der sie dem angefochtenen Beschluss Rückwirkung verleihen durfte.
130 Darüber hinaus war diese Rückwirkung umso notwendiger, als der Gerichtshof, wie sich aus Rn. 23 des Beschlusses vom 9. Juni 2020, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P‑INT, EU:C:2020:507), ergibt, im Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), keineswegs darüber entschieden hatte, ob auf der Grundlage einer rechtsfehlerfreien Würdigung und aller relevanten Umstände davon auszugehen war, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 den Status einer internationalen Organisation innehatte oder ob dies vielmehr auszuschließen war.
131 Daher hätte die fehlende Rückwirkung des angefochtenen Beschlusses Zweifel daran gelassen, ob die Klägerin im Zeitraum zwischen dem 16. Dezember 2014 und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses den Status einer internationalen Organisation beanspruchen konnte, mit dem sie nach der Finanzregelung der Union den Unionshaushalt in indirekter Mittelverwaltung hätte ausführen können.
132 Allerdings ergibt sich eindeutig aus den Rn. 57 bis 59, 61 und 88 bis 90 des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), sowie aus Rn. 111 des Urteils vom 22. September 2022, IMG/Kommission (C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722), dass die Kommission sich vergewissern muss, dass es sich bei den Einrichtungen, die sie gemäß der Finanzregelung der Union über die indirekte Mittelverwaltung des Unionshaushalts durch internationale Organisationen mit Haushaltsvollzugsaufgaben betraut hat oder betrauen möchte, um internationale Organisationen im Sinne dieser Regelungen handelt.
133 Denn in Anbetracht der Rolle und der Verantwortung, die Art. 310 Abs. 5, Art. 317 Abs. 1 AEUV sowie die Finanzregelung der Union der Kommission im Zusammenhang mit der Ausführung des Unionshaushalts übertragen, hat die Kommission für die Einhaltung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung zu sorgen. Folglich muss die Kommission, wenn sie sich für eine Art des Haushaltsvollzugs entscheidet, die mit der Heranziehung eines Dritten verbunden ist, während der gesamten Dauer des Haushaltsvollzugs und der Erfüllung der damit verbundenen Aufgaben auf die Einhaltung der einschlägigen Voraussetzungen achten, insbesondere soweit sie die Gewährung und anschließende Verwendung der entsprechenden Mittel betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 151 und die dort angeführte Rechtsprechung).
134 Folglich stellten die Klärung des rechtlichen Status der Klägerin und die Verpflichtung, die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 zu beheben, im Allgemeininteresse liegende Ziele dar, aufgrund deren die Kommission einen neuen Beschluss erlassen durfte, der rückwirkend ab dem Beschluss vom 16. Dezember 2014 galt, womit die erste der oben in Rn. 125 genannten Voraussetzungen erfüllt ist.
135 Was sodann die zweite Voraussetzung, den Schutz des berechtigten Vertrauens, angeht, so setzt die Feststellung eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass dem Betroffenen von den zuständigen Unionsbehörden klare, unbedingte und übereinstimmende, aus befugten und zuverlässigen Quellen stammende Zusicherungen gemacht worden sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 2. Juni 2022, Arnautu/Parlament, C‑573/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:448, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
136 In diesem Rahmen hat das Gericht zu prüfen, ob die Handlungen einer Verwaltungsbehörde in der Vorstellung eines umsichtigen und besonnenen Betroffenen vernünftige Erwartungen begründet haben und, wenn dies der Fall ist, ob diese Erwartungen berechtigt sind (vgl. Beschluss vom 2. Juni 2022, Arnautu/Parlament, C‑573/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:448, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
137 Aus den Akten geht jedoch nicht hervor, dass die Kommission der Klägerin nach Erlass des Urteils vom 31. Dezember 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), klare, unbedingte und übereinstimmende Zusicherungen hinsichtlich des Erlasses eines Beschlusses gemacht hätte, mit dem ihr rückwirkend ab dem 16. Dezember 2014 der Status einer internationalen Organisation hätte zuerkannt werden sollen.
138 Folglich ist der angefochtene Beschluss nicht unter Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes erlassen worden, weshalb, weil die beiden oben in Rn. 125 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, der angefochtene Beschluss nicht gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen konnte.
139 Was schließlich das Argument angeht, die Rückwirkung des angefochtenen Beschlusses sei nicht durch den in Rede stehenden Sachverhalt begründet worden, sondern durch neue Tatsachen, die im Hinblick auf neue Regelungen beurteilt worden seien, trifft es zwar zu, dass die Kommission die Neubewertung des rechtlichen Status der Klägerin formal nach Erlass des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), vornahm und dass die Antworten der im Rahmen dieses Verfahrens befragten Staaten daher nach dem Erlass der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und 8. Mai 2015 erfolgten.
140 In dieser Hinsicht geht aus der Rechtsprechung hervor, dass beim Erlass eines rückwirkenden Beschlusses die Beachtung der Grundsätze über das intertemporale Recht sowie die Anforderungen an die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes die Anwendung der in zeitlicher Hinsicht für den fraglichen Sachverhalt geltenden materiell-rechtlichen Vorschriften vorschreiben, selbst wenn diese Vorschriften zum Zeitpunkt des Erlasses des genannten Beschlusses nicht mehr in Kraft sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2016, Kommission/McBride u. a., C‑361/14 P, EU:C:2016:434, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
141 Insbesondere hat das betreffende Organ im Rahmen eines Verfahrens zur Ersetzung eines für nichtig erklärten Rechtsakts für den Erlass des ersetzenden Rechtsakts auf den Zeitpunkt zurückzugehen, an dem es den für nichtig erklärten Rechtsakt erlassen hatte, auch wenn die Möglichkeit unberührt bleibt, in seinem neuen Beschluss andere Gründe als diejenigen anzuführen, auf die es seinen ersten Beschluss gestützt hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2014, Éditions Odile Jacob/Kommission, T‑471/11, EU:T:2014:739, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
142 Daher macht die Klägerin zu Recht geltend, dass das Rückwirkungsverbot, das einen der Bestandteile des Grundsatzes der Rechtssicherheit darstellt, ein Organ bei der Durchführung eines Nichtigkeitsurteils daran hindert, einen rückwirkenden Beschluss zu erlassen, indem es sich auf Tatsachen stützt, die für den zeitlichen Anwendungsbereich dieses Beschlusses nicht relevant waren, oder auf materiell-rechtliche Vorschriften, die während des von diesem Beschluss betroffenen Zeitraums nicht in Kraft waren.
143 Im vorliegenden Fall tut die Klägerin jedoch nicht dar, dass der angefochtene Beschluss, soweit er rückwirkend ist, auf materiell-rechtlichen Vorschriften beruhe, die während des von diesem Beschluss betroffenen Zeitraums nicht in Kraft gewesen seien, oder auf Tatsachen, die nach den Beschlüssen vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 entstanden seien.
144 Zum einen geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses hervor, dass sich die Kommission auf die am 16. Dezember 2014 für die Klägerin geltenden Bestimmungen der Finanzregelung der Union und anschließend auf die für den Zeitraum nach diesem Datum geltenden Bestimmungen derselben Regelung gestützt hat.
145 Aus dem dritten Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung ergibt sich nämlich, dass die Kommission für den Zeitraum vom 16. Dezember 2014 bis zum 31. Dezember 2015 Art. 58 der Verordnung Nr. 966/2012 und Art. 43 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 der Kommission vom 29. Oktober 2012 über die Anwendungsbestimmungen für die Verordnung Nr. 966/2012 angewandt hat, für den Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum 1. August 2018 dieselben Verordnungen in der durch die Verordnung (EU, Euratom) 2015/1929 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Oktober 2015 (ABl. 2015, L 286, S. 1) bzw. die Delegierte Verordnung (EU) 2015/2462 der Kommission vom 30. Oktober 2015 (ABl. 2015, L 342, S. 7) geänderten Fassung und für den Zeitraum ab dem 2. August 2018 die Art. 62 und 156 der Verordnung 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1).
146 Zum anderen weist die Klägerin nicht nach, dass sich die von der Kommission beim Erlass des angefochtenen Beschlusses berücksichtigten Stellungnahmen derjenigen Staaten, die nach dem Vorbringen der Klägerin ihre Mitglieder seien oder gewesen seien, zwischen dem 16. Dezember 2014 und dem Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses in Bezug auf die Frage, ob sie eine internationale Organisation sei, geändert hätten.
147 Zwar hat die Kommission für den Erlass des angefochtenen Beschlusses nach Verkündung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), die Staaten befragt, von denen sie annahm, dass sie Mitglieder der Klägerin seien oder gewesen seien. Allerdings geht aus der Prüfung der Antworten dieser Staaten hervor, dass sie zwar nicht exakt denselben Wortlaut haben wie die Antworten, die dieselben Staaten gaben, als sie 2014 vom OLAF befragt wurden, dass ihr Inhalt jedoch im Wesentlichen identisch ist.
148 Folglich enthalten die Stellungnahmen der Staaten in Reaktion auf das dem Erlass des angefochtenen Beschlusses vorausgegangene Konsultationsverfahren keine neuen Tatsachen, auf die sich die Kommission rückwirkend gestützt hätte. Sie spiegeln in gleicher Weise die Auffassungen dieser Staaten zu der Frage dazu wider, ob die Klägerin eine internationale Organisation sei, wie sie auch vor dem Erlass des Beschlusses vom 16. Dezember 2014 gegenüber dem OLAF geäußert worden waren.
149 Daher ist die zweite Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
2) Zur ersten Rüge: Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben sowie den Grundsatz „nemo auditur“
150 Mit der ersten Rüge macht die Klägerin geltend, dass der angefochtene Beschluss insofern, als er ihr seit dem 16. Dezember 2014 den Status einer internationalen Organisation verweigere, gegen den Grundsatz von Treu und Glauben sowie den Grundsatz „nemo auditur“ verstoße.
151 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung die im ersten Rechtszug eingereichte Klageschrift „die geltend gemachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung der Klagegründe“ enthalten muss. Mithin müssen nach ständiger Rechtsprechung die Unionsgerichte nicht auf das Vorbringen einer Partei eingehen, das nicht hinreichend klar und bestimmt ist, soweit es nicht anderweitig besonders ausgeführt und von einer spezifischen Argumentation, die es stützt, begleitet wird (vgl. Urteil vom 18. November 2021, Griechenland/Kommission, C‑107/20 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:937, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
152 Erstens ist festzustellen, dass die Klägerin keine Erklärungen dazu abgegeben hat, wie sich der Grundsatz „nemo auditur“, nach dem sich „niemand auf sein eigenes rechtswidriges Verhalten berufen kann“, auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses auswirken soll.
153 Somit ist das Vorbringen eines Verstoßes gegen den Grundsatz „nemo auditur“ im Hinblick auf die Anforderungen, die sich aus Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung ergeben, nicht ausreichend substantiiert.
154 Unterstellt, die Klägerin habe geltend machen wollen, dass die Kommission einen Fehler begangen habe, indem sie sich auf das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), gestützt habe, um die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 nachträglich zu begründen, ergibt sich jedenfalls aus der Prüfung einerseits der zweiten Rüge des ersten Teils des ersten Klagegrundes, dass der angefochtene Beschluss nicht auf denselben Gründen wie diese Beschlüsse beruht, und andererseits aus der zweiten Rüge des vorliegenden Teils, dass die Kommission nicht gegen das Rückwirkungsverbot für Unionsrechtsakte verstoßen hat.
155 Daher ist das Vorbringen, es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz „nemo auditur“ vor, zurückzuweisen.
156 Zweitens ist in Bezug auf den Grundsatz von Treu und Glauben ebenfalls festzustellen, dass die Klägerin weder die Tragweite dieses Grundsatzes noch die Regelungen, die ihm zugrunde liegen sollen, definiert hat.
157 Zunächst ist, wenn man unterstellt, die Klägerin habe sich auf die die Parteien eines Vertrags treffende Verpflichtung beziehen wollen, die Bestimmungen ihres Vertrags nach Treu und Glauben zu erfüllen, festzustellen, dass der angefochtene Beschluss nicht im Rahmen eines Vertrags ergangen ist, den die Klägerin mit der Kommission geschlossen hätte.
158 Auch hat die Nichtigerklärung der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 durch den Gerichtshof keine Auswirkungen auf das Fehlen vertraglicher Beziehungen zwischen der Klägerin und der Kommission seit dem 16. Dezember 2014.
159 Denn der Beschluss vom 16. Dezember 2014 bezweckte, der Klägerin ihren Status als Adressaten des Durchführungsbeschlusses C(2013) 7682 final über das Jahresaktionsprogramm 2013 für Myanmar/Burma zu nehmen und damit den Abschluss einer diesbezüglichen Vereinbarung zwischen ihr und der Kommission zu verhindern.
160 Auch der Beschluss vom 8. Mai 2015 hatte zum Ziel, die Beteiligung der Klägerin an neuen unionsfinanzierten Projekten auszusetzen, bis die Kommission den rechtlichen Status der Klägerin geklärt hat.
161 Somit hatte die Nichtigerklärung der Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und vom 8. Mai 2015 nicht die Wiederherstellung vertraglicher Beziehungen zwischen der Kommission und der Klägerin zur Folge, sondern eröffnete lediglich die Möglichkeit, dass Klägerin und Kommission eine Vereinbarung über die Durchführung des Programms zur Entwicklung des Handels in Myanmar/Burma und gegebenenfalls weitere Vereinbarungen im Bereich des Wiederaufbaus und der Entwicklung unter der Voraussetzung miteinander schließen, dass die Kommission nach einer Neubewertung ihres rechtlichen Status die Klägerin als internationale Organisation anerkennen würde.
162 Sodann ist, unterstellt, die Klägerin habe sich auf den Grundsatz von Treu und Glauben insofern beziehen wollen, als er einem gewohnheitsrechtlichen Grundsatz des Völkerrechts entspricht, darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz, wie er in Art. 18 des Wiener Übereinkommens niedergelegt ist, einen Staat verpflichtet, sich aller Handlungen zu enthalten, die Ziel und Zweck eines Vertrags vor seinem Inkrafttreten vereiteln würden, wenn er unter Vorbehalt der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung den Vertrag unterzeichnet oder Urkunden ausgetauscht hat, die einen Vertrag bilden, solange er seine Absicht nicht klar zu erkennen gegeben hat, nicht Vertragspartei zu werden, oder wenn er seine Zustimmung, durch den Vertrag gebunden zu sein, ausgedrückt hat.
163 Zwar gilt der Grundsatz von Treu und Glauben für die Organe der Union (vgl. Urteil vom 17. Januar 2007, Griechenland/Kommission, T‑231/04, EU:T:2007:9, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung), doch hat die Klägerin in ihren Schriftsätzen zum vorliegenden Klagegrund nicht nachgewiesen oder auch nur behauptet, dass die Union unter Vorbehalt der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung einen Vertrag über die Gründung der Klägerin als internationale Organisation unterzeichnet oder Urkunden ausgetauscht habe, die einen solchen Vertrag bildeten, oder ihre Zustimmung, durch den Vertrag gebunden zu sein, ausgedrückt habe.
164 In dieser Hinsicht ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die klagende Partei verpflichtet ist, das rechtliche und tatsächliche Vorbringen zur Begründung jedes von ihr geltend gemachten Klagegrundes hinreichend klar darzulegen, und das Gericht nicht wegen fehlender Struktur der Klageschrift oder einer unzureichenden Genauigkeit oder Prägnanz der Argumentation verpflichtet ist, den Klagegrund unter Bündelung verschiedener über die Klageschrift verteilter Gesichtspunkte zusammenzusuchen, was die Gefahr mit sich brächte, den Klagegrund in einer Weise zu rekonstruieren, der ihm eine Tragweite verliehe, die er in der Vorstellung der klagenden Partei nicht hat. Ein anderes Ergebnis widerspräche sowohl einer geordneten Rechtspflege als auch dem Beibringungsgrundsatz und den Verteidigungsrechten des Beklagten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. November 2020, Fleig/EAD, C‑446/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:918, Rn. 60 und 61).
165 Folglich ist das Vorbringen eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben hinsichtlich der Anforderungen aus Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung als nicht ausreichend substantiiert und somit die erste Rüge des vorliegenden Teils insgesamt zurückzuweisen.
c)
Zum dritten Teil: Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
166 In der Klageerwiderung macht die Klägerin geltend, dass sie aufgrund der Zweifel der Kommission im Anschluss an die sie betreffende Untersuchung des OLAF – im Gegensatz zu zahlreichen Rechtssubjekten, die von der Kommission nicht als internationale Organisationen anerkannt würden, aber öffentliche Einrichtungen seien – keinen Vertrag mehr nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung und auch keinen Vertrag in freihändiger Vergabe gemäß anderen Bestimmungen der Finanzregelung, die für Krisen- oder Notsituationen vorgesehen seien, erhalten habe, ohne die Gründe für diese diskriminierende Behandlung zu erfahren.
167 Außerdem sei die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weder von allen Staaten, die an ihrer Gründung und ihren Arbeiten beteiligt gewesen seien, als internationale Organisation anerkannt worden noch verfüge sie über einen rechtlichen Gründungsakt nach dem Völkerrecht; dennoch hätten diese Umstände die Kommission nicht davon abgehalten, ihren Status als internationale Organisation anzuerkennen.
168 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz, wie er in Art. 20 der Charta verankert ist, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, nach dem vergleichbare Situationen nicht unterschiedlich und unterschiedliche Situationen nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).
169 Das für die Feststellung einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltende Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen ist anhand aller die betreffenden Situationen kennzeichnenden Faktoren zu beurteilen, insbesondere im Hinblick auf den Gegenstand und das Ziel des Rechtsakts, mit dem die Unterscheidung vorgenommen wird; dabei sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den der Rechtsakt fällt. Soweit sich die Situationen nicht miteinander vergleichen lassen, verstößt ihre unterschiedliche Behandlung nicht gegen die in Art. 20 der Charta garantierte Gleichheit vor dem Gesetz (vgl. Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).
170 Erstens ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss nur bezweckt, der Klägerin die Anerkennung des Status einer internationalen Organisation zu versagen, der in der Finanzregelung der Union für die Ausführung von Unionsmitteln nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung vorgesehen ist, wobei der Klägerin die Möglichkeit unbenommen bleibt, im Hinblick auf ihre etwaige Beteiligung an der Ausführung des genannten Haushalts andere in dieser Regelung festgelegte Modalitäten in Anspruch zu nehmen.
171 Da der angefochtene Beschluss die Klägerin somit nicht daran hindert, sich an der indirekten Mittelverwaltung des Unionshaushalts gemäß anderen als den in der Finanzregelung der Union zugunsten internationaler Organisationen vorgesehenen Bestimmungen zu beteiligen, kann sie nicht mit Erfolg rügen, dass dieser Beschluss zu einer diskriminierenden Behandlung, wie oben in Rn. 166 beschrieben, geführt habe.
172 Daher wirkt sich das oben in Rn. 166 zusammengefasste Vorbringen der Klägerin, selbst wenn man es als stichhaltig ansieht, nicht auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses aus und geht daher ins Leere.
173 Zweitens ist, abgesehen davon, dass aus den Akten nicht hervorgeht, dass die OSZE von der Kommission als internationale Organisation im Hinblick auf die indirekte Mittelverwaltung des Unionshaushalts anerkannt worden wäre, festzustellen, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, sich in einer mit dieser Organisation vergleichbaren Situation zu befinden.
174 Denn die Klägerin hat das Vorbringen der Kommission nicht bestritten, wonach die OSZE – im Gegensatz zur Klägerin – von zahlreichen Völkerrechtssubjekten, insbesondere von einer Mehrheit der Mitglieder dieser Organisation, als internationale Organisation anerkannt werde.
175 Ohne dass es einer Entscheidung über seine Zulässigkeit bedarf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2022, TK/Kommission, T‑435/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:303, Rn. 42; vgl. auch entsprechend Urteil vom 26. Februar 2002, Rat/Boehringer, C‑23/00 P, EU:C:2002:118, Rn. 52), ist mithin der dritte Teil und folglich auch der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
176 Die Klägerin macht geltend, dass die Kommission gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen habe, indem sie vor Erlass des angefochtenen Beschlusses ein Verfahren zur Befragung bestimmter, als ihre Mitglieder angegebener Staaten durchgeführt habe, obwohl sie über die sachdienlichen Dokumente und die in den Leitlinien festgelegte Bewertungsmethode verfügt habe.
177 In diesem Zusammenhang verfolgt, wie oben in Rn. 124 erwähnt, das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit in seinen verschiedenen Erscheinungsformen erstens das Ziel, die Vorhersehbarkeit von unter das Unionsrecht fallenden Situationen und Rechtsverhältnissen zu gewährleisten.
178 Auch wenn dieses Erfordernis grundsätzlich verbietet, dass ein Rechtsakt der Union vor seiner Veröffentlichung in Kraft tritt, ergibt sich indes aus der Prüfung des ersten Klagegrundes, insbesondere aus der obigen Rn. 149, dass der angefochtene Beschluss nicht unter Missachtung des Rückwirkungsverbots, das eine besondere Ausprägung des Grundsatzes der Rechtssicherheit darstellt, erlassen wurde.
179 Falls die Klägerin einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit insofern geltend machen wollte, als er den Grundsatz des Rückwirkungsverbots für Handlungen der Unionsorgane umfasst, ist der vorliegende Klagegrund daher als unbegründet zurückzuweisen.
180 Zweitens ergibt sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit auch, dass die Vorschriften des Unionsrechts eindeutig sein müssen und dass ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar sein muss, wobei dieses Gebot der Rechtssicherheit in besonderem Maß gilt, wenn es sich um Vorschriften handelt, die finanzielle Konsequenzen haben können, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen durch diese Vorschriften auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen (vgl. Urteil vom 9. Juli 2015, Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C‑144/14, EU:C:2015:452, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
181 Im vorliegenden Fall jedoch fällt der angefochtene Beschluss nicht unter die Rechtsvorschriften oder die Regelung der Union im Sinne der oben in Rn. 180 angeführten Rechtsprechung, sondern stellt einen Beschluss zur Regelung eines Einzelfalls dar, der in Anwendung des Finanzrechts bzw. der Finanzregelung der Union erlassen wurde.
182 Außerdem geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die von der Kommission vorgenommene Neubewertung des rechtlichen Status der Klägerin weder auf eine wesentliche Änderung der Finanzregelung der Union über die Bedingungen für die Ausführung des Unionshaushalts in indirekter Mittelverwaltung noch auf eine neue Auslegung dieser Regelung durch die Kommission zurückzuführen war.
183 Nach Art. 53 Buchst. c und Art. 53d der Verordnung Nr. 1605/2002 sowie Art. 58 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 966/2012 und Art. 62 der Verordnung 2018/1046 ist nämlich die Kommission für die Ausführung des Haushalts der Union verantwortlich, wobei mehrere Arten des Haushaltsvollzugs vorgesehen sind. Eine von ihnen, die in der erstgenannten Verordnung als „gemeinsame Verwaltung mit internationalen Organisationen“ und in den zwei anderen als „indirekte Mittelverwaltung“ bezeichnet wird, ermöglicht es der Kommission, Haushaltsvollzugsaufgaben auf solche Organisationen zu übertragen. Im Rahmen dieser Befugnis verfügt sie über ein weites Ermessen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 148).
184 Der in Art. 53 Buchst. c und Art. 53d der Verordnung Nr. 1605/2002, in Art. 58 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii und Abs. 8 der Verordnung Nr. 966/2012 sowie in Art. 62 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der Verordnung 2018/1046 genannte Begriff „internationale Organisation“ wurde mit nahezu identischem Wortlaut in Art. 43 Abs. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2342/2002 der Kommission vom 23. Dezember 2002 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1605/2002 (ABl. 2002, L 357, S. 1), dann in Art. 43 Abs. 1 der Delegierten Verordnung Nr. 1268/2012, mit der die Verordnung Nr. 2342/2002 aufgehoben und ersetzt wurde, und in Art. 156 der Verordnung 2018/1046 definiert. Demnach umfasst dieser Begriff nach den drei letztgenannten Bestimmungen internationale öffentliche Einrichtungen, die durch zwischenstaatliche bzw. internationale Abkommen geschaffen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission, C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78, Rn. 91).
185 Falls die Klägerin einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, wie er oben in Rn. 180 definiert wird, geltend machen wollte, kann sie daher nicht mit Recht behaupten, dass der angefochtene Beschluss aus uneindeutigen Rechtsvorschriften oder aus einer uneindeutigen Regelung der Union hervorgegangen wäre oder eine unvorhersehbare Anwendung des Finanzrechts bzw. der Finanzregelung der Union darstellte.
186 Drittens ergibt sich aus der oben in Rn. 101 genannten Rn. 111 des Urteils vom 22. September 2022, IMG/Kommission (C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722), sowie aus dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung, dass die Kommission sich vergewissern muss, dass es sich bei den Einrichtungen, die sie gemäß der Finanzregelung über die indirekte Mittelverwaltung des Unionshaushalts durch internationale Organisationen mit Haushaltsvollzugsaufgaben betraut hat oder betrauen möchte, um internationale Organisationen im Sinne dieser Regelung handelt.
187 Indessen hat die Klägerin aber zum einen nicht erläutert, weshalb der Grundsatz der Rechtssicherheit es in einem Fall wie dem vorliegenden der Kommission verbieten sollte, gemäß dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung die Staaten, die Mitglieder einer internationalen Organisation sein sollen, zu befragen, um zu ermitteln, ob die fragliche Organisation diese Eigenschaft tatsächlich besitzt und den Anforderungen der Finanzregelung der Union in Bezug auf die indirekte Mittelverwaltung des Unionshaushalts entspricht.
188 Zum anderen ergibt sich – falls die Klägerin mit der Berufung auf den Grundsatz der Rechtssicherheit den Grundsatz des Vertrauensschutzes gemeint haben sollte – aus der Prüfung des ersten Klagegrundes, dass der angefochtene Beschluss nicht unter Verstoß gegen diesen Grundsatz erlassen wurde.
189 Daher ist der vorliegende Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
4. Zum vierten Klagegrund: offensichtliche Beurteilungsfehler und andere Rechtsfehler
190 Der vierte Klagegrund besteht im Wesentlichen aus drei Teilen, mit denen offensichtliche Beurteilungsfehler und Rechtsfehler geltend gemacht werden: Was den ersten Teil betrifft, sollen sich diese Fehler daraus ergeben, dass die Kommission nicht korrekt ermittelt habe, wer die Mitglieder der Klägerin seien. Was den zweiten Teil anbelangt, sollen sich diese Fehler daraus ergeben, dass die Kommission sich geweigert habe, den Gründungsakt der Klägerin als internationales Abkommen zur Gründung einer internationalen Organisation anzusehen, und, was den dritten Teil angeht, daraus, dass sie es abgelehnt habe, der Klägerin den Status einer internationalen Organisation zuzuerkennen, obwohl ihre Mitglieder dies später getan hätten und dieser Status von der Union und einigen Drittstaaten anerkannt worden sei.
191 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wie oben in Rn. 183 ausgeführt, über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, wenn sie ihre Verantwortung für die Ausführung des Unionshaushalts wahrnimmt, und zwar insbesondere dann, wenn sie sich dafür entscheidet, den Haushalt nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung auszuführen, und wenn sie, indem diese Art der Ausführung herangezogen wird, internationale Organisationen mit Aufgaben des Haushaltsvollzugs betraut.
192 Wenn die Kommission also die oben in Rn. 191 dargelegten Befugnisse ausübt, unterliegen die beschwerenden Beschlüsse, die sie in diesem Rahmen erlässt, einer auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkten Kontrolle durch das Gericht, wobei die Prüfung der anderen Rechtswidrigkeitsgründe, die im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV geltend gemacht werden können, unberührt bleibt.
193 Wenn sich die Kommission jedoch wie im vorliegenden Fall weigert, einer Organisation Aufgaben zur Ausführung des Haushalts nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung zu übertragen, und zur Begründung ausführt, dass diese Organisation nicht den Status einer internationalen Organisation besitze, so unterliegt die Rechtmäßigkeit eines solchen Beschlusses einer Kontrolle durch das Gericht, die sowohl Rechtsfehler als auch offensichtliche Beurteilungsfehler betrifft.
194 Denn zum einen ist in einem solchen Fall die Anwendung der allgemeinen Normen durch die Kommission, anhand deren internationale Organisationen definiert und ermittelt werden können, einer Kontrolle auf Rechtsfehler zu unterziehen.
195 Zum anderen unterliegen die Auslegung der eigenen Regeln derjenigen Organisation, die vorträgt, im Hinblick auf die Ausführung des Unionshaushalts nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung eine internationale Organisation zu sein, sowie die Auslegung der Stellungnahmen ihrer Mitglieder, die eine gewisse Komplexität aufweisen können, einer auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkten Kontrolle.
196 Nach diesen Klarstellungen hat das Gericht vor der Prüfung des Vorbringens der Klägerin zunächst die Definition des Begriffs „internationale Organisation“ klarzustellen, wie sie in der Finanzregelung der Union über die Ausführung des Unionshaushalts nach dem Modus der indirekten Mittelverwaltung vorgesehen ist.
a)
Zur Definition des in der Finanzregelung der Union enthaltenen Begriffs „internationale Organisation“
197 Einleitend ist festzuhalten, dass der Begriff „internationale Organisation“, wie er in den oben in Rn. 184 genannten aufeinanderfolgenden Bestimmungen der Finanzregelung der Union definiert ist, die durch internationale Abkommen geschaffenen internationalen Organisationen umfasst.
198 In Ermangelung einer genaueren Definition der Begriffe „internationale Organisation“ und „internationales Abkommen“ ist davon auszugehen, dass diese in der Finanzregelung der Union verwendeten Begriffe denjenigen des Völkerrechts entsprechen (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache IMG/Kommission, C‑620/20 P, EU:C:2022:158, Nr. 50).
199 Nach ständiger Rechtsprechung ist das Unionsrecht nämlich im Licht der einschlägigen Normen des Völkerrechts auszulegen, das Bestandteil der Rechtsordnung der Union und für deren Organe bindend ist (vgl. Urteil vom 15. Januar 2015, Evans, C‑179/13, EU:C:2015:12, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
200 Soweit die Begriffe „internationale Organisation“ und „internationales Abkommen“ in der Finanzregelung der Union für den spezifischen Zweck der Ausführung ihres Haushalts verwendet werden, sind sie jedoch zum Schutz der finanziellen Interessen der Union eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteile vom 2. Juli 2015, Demmer, C‑684/13, EU:C:2015:439, Rn. 85, und vom 20. Dezember 2017, Erzeugerorganisation Tiefkühlgemüse, C‑516/16, EU:C:2017:1011, Rn. 58; vgl. in diesem Sinne auch Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache IMG/Kommission, C‑620/20 P, EU:C:2022:158, Nr. 51).
201 Somit hat das Gericht in einem Rechtsstreit wie dem vorliegenden die Begriffe des Völkerrechts, auf die sich die Finanzregelung der Union bezieht, anzuwenden, indem es auf die Instrumente dieses Rechts, die diese Begriffe definieren, in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung zurückgreift.
202 Insbesondere sind in der vorliegenden Rechtssache die in der Finanzregelung der Union für die Ausführung ihres Haushalts in indirekter Mittelverwaltung vorgesehenen Begriffe „internationale Organisation“ und „internationales Abkommen“ im Licht der hergebrachten Grundsätze des Völkerrechts auszulegen, die insbesondere im Wiener Übereinkommen und im Artikelentwurf enthalten sind.
203 Insoweit geht aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. i des Wiener Übereinkommens hervor, dass unter dem Begriff „internationale Organisation“ eine zwischenstaatliche Organisation zu verstehen ist. Darüber hinaus stellt Art. 2 Buchst. a des Artikelentwurfs klar, dass dieser Ausdruck jede Organisation bezeichnet, die durch einen Vertrag oder ein anderes völkerrechtliches Instrument gegründet wurde und eine eigene internationale Rechtspersönlichkeit besitzt, und dass eine internationale Organisation neben Staaten auch andere Rechtsträger zu ihren Mitgliedern zählen kann.
204 Was erstens die Voraussetzung der Gründung der Organisation durch einen Vertrag oder ein anderes völkerrechtliches Instrument betrifft, so ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Wiener Übereinkommens, dass „Vertrag“ eine in Schriftform geschlossene und vom Völkerrecht bestimmte internationale Übereinkunft zwischen Staaten bedeutet, gleichviel ob sie in einer oder in mehreren zusammengehörigen Urkunden enthalten ist und welche besondere Bezeichnung sie hat.
205 Diese Urkunde bzw. Urkunden können somit Ausdruck der Willensübereinstimmung von zwei oder mehreren Völkerrechtssubjekten sein, die sie formalisieren (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/13 [Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen] vom 14. Oktober 2014, EU:C:2014:2303, Rn. 37).
206 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung der internationalen Gerichte, dass ein von Staaten unterzeichnetes Dokument unabhängig von seiner politischen Bedeutung kein internationales Abkommen darstellt, wenn es keine Bestimmungen enthält, die Rechte oder Pflichten begründen, denen diese Staaten zugestimmt haben (vgl. Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 1. Oktober 2018, Obligation to Negotiate Access to the Pacific Ocean [Bolivia v. Chile], ICJ Reports 2018, S. 507, Rn. 105 und 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).
207 Was zweitens die Bedingung betrifft, eine eigene internationale Rechtspersönlichkeit zu besitzen, so folgt zunächst aus der Rechtsprechung der internationalen Gerichte, dass die Anerkennung einer internationalen Organisation davon abhängt, dass die betreffende Organisation als juristische Person Rechtspersönlichkeit besitzt.
208 Eine von Staaten oder gegebenenfalls von einer oder mehreren internationalen Organisationen gegründete Einrichtung hat nämlich mangels einer ihr eigenen Rechtspersönlichkeit nicht den Status einer internationalen Organisation, sondern den einer Einrichtung, die entweder von den Staaten, die sie gegründet haben (vgl. in diesem Sinne Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 26. Juni 1992, Certain Phosphate Lands in Nauru [Nauru v. Australia], Preliminary Objections, ICJ Reports 1992, S. 240, Rn. 47), oder von einer internationalen Organisation abhängig ist, der diese Einrichtung zugeordnet ist (vgl. in diesem Sinne Advisory Opinion (Rechtsgutachten) des Internationalen Gerichtshofs vom 1. Februar 2012, Judgment No 2867 of the Administrative Tribunal of the International Labour Organisation upon a Complaint Filed against the International Fund for Agricultural Development, ICJ Reports 2012, S. 10, Rn. 57 und 61).
209 Sodann geht ebenfalls aus der Rechtsprechung der internationalen Gerichte hervor, dass internationale Organisationen grundsätzlich die Vorrechte und Immunitäten genießen, die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil des Ständigen Schiedsgerichtshofs vom 22. November 2002, Dr. Reineccius and Others v. Bank for International Settlements, Rechtssache Nr. 2000-04, Rn. 108, Advisory Opinion (Rechtsgutachten) des Internationalen Gerichtshofs vom 1. Februar 2012, Judgment No 2867 of the Administrative Tribunal of the International Labour Organisation upon a Complaint Filed against the International Fund for Agricultural Development, ICJ Reports 2012, S. 10, Rn. 58, und Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 20. April 2010, Pulp Mills on the River Uruguay [Argentina v. Uruguay], ICJ Reports 2010, S. 14, Rn. 88).
210 Denn im Unterschied zur Staatenimmunität, die sich auf den Grundsatz „par in parem non habet imperium“ stützt, werden die Immunitäten internationaler Organisationen grundsätzlich durch die Gründungsverträge dieser Organisationen verliehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2020, Supreme Site Services u. a., C‑186/19, EU:C:2020:638, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung) und haben einen funktionalen Charakter, da durch sie eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der betreffenden Organisationen verhindert werden soll (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Slowenien [EZB-Archiv], C‑316/19, EU:C:2020:1030, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
211 Schließlich ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Gründungsakte internationaler Organisationen insofern Verträge besonderer Art sind, als sie darauf abzielen, neue Rechtssubjekte zu schaffen, die mit einer gewissen Autonomie ausgestattet sind und denen die Vertragsparteien die Aufgabe übertragen, gemeinsame Ziele zu erreichen. Daher unterliegen internationale Organisationen dem Grundsatz der Spezialität, d. h., sie werden von den Gründungsstaaten mit begrenzten Einzelermächtigungen ausgestattet, die durch die gemeinsamen Interessen eingegrenzt sind, deren Förderung die Staaten ihnen zur Aufgabe machen und die in der Regel in ihrem Gründungsakt ausdrücklich formuliert sind (vgl. in diesem Sinne Advisory Opinion (Rechtsgutachten) des Internationalen Gerichtshofs vom 8. Juli 1996, Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict, ICJ Reports 1996, S. 66, Rn. 19 und 25; Urteile des Internationalen Gerichtshofs vom 11. Juni 1998, Land and Maritime Boundary between Cameroon and Nigeria, Preliminary Objections, ICJ Reports 1998, S. 275, Rn. 64 bis 67, und vom 20. April 2010, Pulp Mills on the River Uruguay [Argentina v. Uruguay], ICJ Reports 2010, S. 14, Rn. 89).
212 Deshalb kann eine internationale Organisation nicht auf einen reinen fakultativen Mechanismus reduziert werden, der den Vertragsparteien zur Verfügung steht und den jede von ihnen nach Belieben nutzen könnte. Denn indem ihre Gründer eine internationale Organisation schaffen und sie mit allen für ihr Funktionieren erforderlichen Mitteln ausstatten, bekunden sie ihren Willen, der Ausübung der dieser Organisation übertragenen Aufgaben beste Gewähr für Stabilität, Kontinuität und Wirksamkeit zu bieten, so dass sie diesem Rahmen nicht einseitig und zu einem ihnen geeignet erscheinenden Zeitpunkt den Rücken kehren oder ihn durch andere Kommunikationskanäle ersetzen können (vgl. in diesem Sinne Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 20. April 2010, Pulp Mills on the River Uruguay [Argentina v. Uruguay], ICJ Reports 2010, S. 14, Rn. 90 und 91).
213 Im Licht dieser Definitionen und Grundsätze hat das Gericht zu prüfen, ob das von der Klägerin zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes ausgeführte Vorbringen begründet ist.
b)
Zum ersten Teil: offensichtliche Beurteilungsfehler und Rechtsfehler bei der Bestimmung der Mitglieder der Klägerin
214 Der erste Teil besteht im Wesentlichen aus drei Rügen, mit denen erstens mit der Begründung, dass die Kommission eine künstliche Unterscheidung zwischen den Gründungsstaaten der Klägerin, den beitragenden Staaten, den Mitgliedern ihres Lenkungsausschusses und den Mitgliedern der Government Support Group (im Folgenden: GSG) getroffen habe, ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht wird, zweitens ein offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission im Rahmen der Auslegung der Stellungnahmen Belgiens und Österreichs und drittens Rechtsfehler sowie ein offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission, da sie die Union nicht als Mitglied der Klägerin angesehen habe.
1) Zur ersten Rüge: offensichtlicher Beurteilungsfehler aufgrund einer künstlichen Unterscheidung zwischen den Gründungsstaaten der Klägerin, den beitragenden Staaten und den Mitgliedern ihres Lenkungsausschusses
215 Die Klägerin wirft der Kommission im Wesentlichen vor, ihre Mitglieder falsch bestimmt zu haben, indem sie eine künstliche Unterscheidung zwischen ihren Gründungsstaaten, den beitragenden Staaten, den Mitgliedern ihres Lenkungsausschusses und den Mitgliedern der GSG getroffen habe. So seien alle Staaten und internationale oder regionale Organisationen, die finanziell oder in Form von Sachleistungen zu den von ihr durchgeführten Tätigkeiten beitrügen, sowie die Mitglieder der GSG, die ihre Gründungsmitglieder seien, als Mitglieder ihres Lenkungsausschusses und damit als ihre Mitglieder anzusehen, auch wenn sie tatsächlich nicht in diesem Ausschuss säßen.
216 Erstens geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses nicht hervor, dass die Kommission ausdrücklich zwischen den Gründungsstaaten der Klägerin, den beitragenden Staaten, den Mitgliedern ihres Lenkungsausschusses, der im Zuge der Änderung ihrer Satzung im Jahr 2012 zum Ständigen Ausschuss wurde, und den Mitgliedern der GSG unterschieden hätte.
217 Die Kommission beschränkt sich im angefochtenen Beschluss auf die Feststellung, dass mit Ausnahme von Österreich keiner der Staaten, die sie im Anschluss an das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), befragt habe, anerkannt habe, seit dem 16. Dezember 2014 Mitglied der klagenden Organisation zu sein.
218 Zweitens ist – selbst wenn der angefochtene Beschluss dahin gehend ausgelegt werden könnte, dass er zwischen den Gründungsstaaten der Klägerin, den beitragenden Staaten, den Mitgliedern ihres Lenkungsausschusses und den Mitgliedern der GSG unterscheidet – zunächst darauf hinzuweisen, dass nach der Resolution vom 25. November 1994 nur die Mitglieder des Lenkungsausschusses der Klägerin die Verpflichtung hatten, einen finanziellen Beitrag zu ihrem Haushalt bzw. zu ihren Tätigkeiten zu leisten, und nicht etwa alle Mitglieder der GSG, die zur Unterzeichnung dieser Resolution aufgefordert worden waren.
219 Die Resolution vom 25. November 1994 verpflichtete die Unterzeichner mithin nicht dazu, Mitglieder des Lenkungsausschusses der Klägerin zu werden oder ihm beizutreten, sondern ließ ihnen diesbezüglich jedwede Freiheit.
220 Sodann wird diese Freiheit der Staaten und internationalen Organisationen, die die Resolution vom 25. November 1994 unterzeichnet haben, der Klägerin beizutreten, durch die vom Leiter der Sitzung vom 25. November 1994, in der die Resolution vom selben Tag verabschiedet wurde, gemachten Ausführungen, die im Protokoll dieser Sitzung vom 29. November 1994 (im Folgenden: Protokoll vom 29. November 1994) niedergelegt sind, bestätigt.
221 Denn aus dem Protokoll vom 29. November 1994 geht hervor, dass der Leiter der Sitzung vom 25. November 1994, in der die Resolution vom selben Tag verabschiedet wurde, betonte, dass die Staaten, die als Mitglieder der GSG an dieser Sitzung teilnahmen, mit der Unterzeichnung dieses Dokuments nicht automatisch Mitglieder des Lenkungsausschusses der Klägerin würden.
222 Folglich kann die Klägerin nicht mit Recht behaupten, dass allein die Tatsache, dass ein Staat oder eine internationale Organisation Mitglied der GSG gewesen sei und durch die Unterzeichnung der Resolution vom 25. November 1994 an ihrer Gründung teilgenommen habe, diesen Staat oder diese Organisation zu einem ihrer Mitglieder mache.
223 Schließlich legt die Satzung der Klägerin weder die Eigenschaft als Mitglied der Klägerin noch das Verfahren für den Beitritt zur Klägerin oder das Verfahren fest, nach dem ein Staat oder eine internationale Organisation die Eigenschaft als Mitglied der Klägerin verlieren würde.
224 Allerdings richtete die Satzung der Klägerin mit dem Lenkungsausschuss, der 2012 zum Ständigen Ausschuss wurde, ein Entscheidungsgremium ein, in dem Staaten und internationale Organisationen vertreten sein können, sowie ein Verfahren für die Aufnahme in dieses Gremium und eines für die Überprüfung der Mitgliedschaft in diesem Gremium.
225 Insbesondere Art. 5 der Satzung der Klägerin in seiner Fassung nach der Änderung im Jahr 2012 definiert die Mitglieder des Ständigen Ausschusses, ein Verfahren für die Aufnahme von Mitgliedern in dieses Entscheidungsgremium sowie ein Verfahren für die Überprüfung und den Entzug der Mitgliedschaft in diesem Gremium.
226 Somit ergibt sich aus der Satzung der Klägerin, dass das Verfahren zur Aufnahme eines Staates oder einer internationalen Organisation in ihren Lenkungsausschuss, der zum Ständigen Ausschuss wurde, für den betreffenden Staat oder die betreffende internationale Organisation einem Verfahren zum Beitritt zur Klägerin gleichkommt.
227 Darüber hinaus ist die Satzung der Klägerin dahin auszulegen, dass es unbeschadet der Verfahren zur Überprüfung und zum Entzug der Mitgliedschaft im Ständigen Ausschuss den Staaten und internationalen Organisationen, die in den Ausschuss aufgenommen worden waren, freigestellt war, nicht mehr im Ausschuss vertreten zu sein, ohne eine besondere Formalität zu erfüllen.
228 Daraus, dass die Satzung der Klägerin keine Klausel enthält, die ein Verfahren für den freiwilligen Verzicht auf die Mitgliedschaft in ihrem Lenkungsausschuss festlegt, kann nämlich nicht abgeleitet werden, dass für die Staaten oder internationalen Organisationen, die in dieses Gremium aufgenommen wurden, diese Aufnahme endgültig sei und ihnen keine Möglichkeit verbliebe, diese Organisation zu verlassen.
229 Diese Auslegung wird im Übrigen durch die Stellungnahmen mehrerer Staaten bestätigt, die erklärt haben, dass sie nicht länger Mitglieder des Lenkungsausschusses der Klägerin seien, obwohl die Satzung der Klägerin keine Klausel enthält, die eine besondere Formalität für den freiwilligen Verzicht auf die Mitgliedschaft in ihrem Lenkungsausschuss festlegt.
230 Daher waren nur diejenigen Staaten und internationalen Organisationen, die ihre Aufnahme in den Lenkungsausschuss bzw. den Ständigen Ausschuss der Klägerin beantragt hatten, gegen deren Antrag die Mitglieder dieses Entscheidungsgremiums keine Einwände erhoben hatten und die am 16. Dezember 2014 und gegebenenfalls darüber hinaus weiterhin in diesem Gremium vertreten waren, zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des angefochtenen Beschlusses als Mitglieder der Klägerin anzusehen.
231 Mithin kann die Klägerin der Kommission nicht mit Recht vorwerfen, dass diese bestimmte Staaten und internationale Organisationen nicht als ihre Mitglieder angesehen habe, wenn diese Staaten oder Organisationen seit dem 16. Dezember 2014 nicht in ihrem Lenkungsausschuss bzw. ihrem Ständigen Ausschuss vertreten waren, selbst wenn sie an der GSG teilgenommen haben oder finanziell bzw. in Form von Sachleistungen zum Haushalt oder zu den Tätigkeiten der Klägerin beitragen oder beigetragen haben.
232 Diese Rüge ist somit als unbegründet zurückzuweisen.
2) Zur zweiten Rüge: offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Auslegung der Stellungnahmen Belgiens und Österreichs
233 Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, dass die Auswertung der Antworten der befragten Staaten ergebe, dass mindestens zwei von ihnen, nämlich Belgien und Österreich, sie als internationale Organisation anerkennten und Gründungsmitglieder seien oder gewesen seien, womit sie belegen könne, dass sie mindestens zwei Staaten zu ihren Mitgliedern zähle und als internationale Organisation anzuerkennen sei.
234 Die Argumente, aus denen sich diese Rüge zusammensetzt und die sich auf die Auslegung der Antworten der belgischen und österreichischen Behörden beziehen, sind getrennt zu prüfen.
i) Zum ersten Argument: offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Auslegung der Antwort der österreichischen Behörden
235 Aus der Antwort Österreichs vom 8. April 2020 auf die Anfrage der Kommission geht hervor, dass dieser Staat anerkannt hat, Mitglied der Klägerin zu sein.
236 Aus der oben in Rn. 81 wiedergegebenen Begründung des angefochtenen Beschlusses geht jedoch hervor, dass die Kommission diese Stellungnahme der österreichischen Behörden nicht in Frage gestellt hat.
237 Darüber hinaus ergibt sich ferner aus der Antwort der österreichischen Behörden vom 8. April 2020, dass sie der Ansicht waren, die Klägerin sei gemäß der Resolution vom 25. November 1994, die nach Auffassung dieser Behörden kein internationales Abkommen darstellt, bei ihrer Gründung eine unabhängige internationale Übergangseinrichtung mit beschränkter Rechtsfähigkeit und keine internationale Organisation gewesen. Allerdings vertraten dieselben Behörden auch die Ansicht, dass die spätere Übung, die darin bestanden habe, Sitzabkommen und andere internationale Abkommen zu schließen, sowie der nunmehr dauerhaft verfestigte Charakter der Klägerin offenbar darauf hindeuteten, dass sie in dem für die Ausübung ihrer Aufgaben erforderlichen Umfang völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit besitze. Auf dieser Grundlage vertraten sie die Auffassung, dass die Klägerin eine internationale Organisation sei.
238 Aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses geht jedoch hervor, dass die Kommission den Inhalt der Antwort der österreichischen Behörden korrekt wiedergegeben hat, dabei aber der Ansicht war, dass diese Antwort die Schlussfolgerung nicht in Frage stelle, zu der sie in Unterabschnitt A.7 Buchst. b der endgültigen Beurteilung gelangt sei, wonach die Klägerin nicht die in der Finanzregelung der Union vorgesehenen Voraussetzungen für die indirekte Mittelverwaltung erfülle. Denn die Klägerin sei zum einen nicht durch ein internationales Abkommen als internationale Organisation gegründet worden, und zum anderen ergebe sich aus den Antworten der von der Kommission befragten Staaten, dass die spätere Übung keine umfassende und eindeutige Anerkennung ihres Status als internationale Organisation durch die Staaten und internationalen Organisationen, die ihre Mitglieder sein sollen, belege.
239 Folglich hat die Kommission bei ihrer Auslegung der Antwort der österreichischen Behörden vom 8. April 2020 keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen. Dieses erste Argument ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
ii) Zum zweiten Argument: offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Auslegung der Antwort der belgischen Behörden
240 Erstens geht aus der Antwort der belgischen Behörden vom 30. Juni 2020 hervor, dass diese zwar ihre Teilnahme an der Sitzung vom 25. November 1994, auf der die Klägerin gegründet wurde, bestätigt haben, Belgien sich jedoch nicht als Mitglied der klagenden Organisation betrachtet habe. Die belgischen Behörden haben darüber hinaus erklärt, dass die Klägerin aus ihrer Sicht als internationale Organisation angesehen werden könne, weshalb Belgien und die Klägerin am 13. Juni 2012 ein Sitzabkommen unterzeichnet hätten, das der Klägerin jedoch nicht sämtliche Steuerprivilegien eingeräumt habe, die internationalen Organisationen üblicherweise gewährt würden.
241 Aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses geht jedoch hervor, dass die Kommission den Inhalt der Antwort der belgischen Behörden korrekt wiedergegeben hat, dabei aber der Ansicht war, dass diese Antwort die Schlussfolgerung, wie sie oben in Rn. 238 zusammengefasst ist, nicht in Frage stelle, zu der sie in Unterabschnitt A.7 Buchst. b der endgültigen Beurteilung gelangt sei.
242 Insbesondere war die Kommission der Ansicht, dass die Anerkennung des Status der Klägerin als internationale Organisation in Form eines namentlich von Belgien geschlossenen Sitzabkommens kein Nachweis dafür sei, dass diese Organisation eine internationale Organisation darstelle, da die belgischen Behörden der Kommission mitgeteilt hätten, dass Belgien nicht ihr Mitglied sei.
243 Zweitens beruft sich die Klägerin zur Stützung ihrer Argumentation, dass Belgien als eines ihrer Mitglieder anzusehen sei, auf einen Vermerk der Rechtsabteilung des belgischen Außenministeriums vom 9. November 2009, der dem OLAF‑Bericht als Anlage beigefügt war.
244 Aus diesem Vermerk geht zwar hervor, dass Belgien damals der Ansicht war, dass die Klägerin als internationale Organisation einzustufen sei, allerdings äußert sich der Vermerk nicht zu der Frage, ob dieser Staat zum Zeitpunkt des 9. November 2009 Mitglied der Klägerin war.
245 Darüber hinaus rügt die Klägerin, dass die Kommission nicht ausreichend berücksichtigt habe, dass Belgien einerseits an der Sitzung vom 25. November 1994, bei der sie gegründet worden sei, und andererseits bis 2013 an den Sitzungen ihres Lenkungsausschusses teilgenommen habe.
246 Da der angefochtene Beschluss jedoch zum 16. Dezember 2014 wirksam wurde, sind die Teilnahme der belgischen Behörden an der Gründung der Klägerin am 25. November 1994 sowie an den Sitzungen ihres Lenkungsausschusses und später ihres Ständigen Ausschusses bis 2013 kein Nachweis dafür, dass Belgien zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des genannten Beschlusses und gegebenenfalls später Mitglied dieser Organisation war.
247 Vor diesem Hintergrund hat die Kommission im angefochtenen Beschluss keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler dadurch begangen, dass sie aufgrund der Antwort der belgischen Behörden vom 30. Juni 2020 die Auffassung vertreten hat, dass Belgien zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des angefochtenen Beschlusses und danach nicht Mitglied der Klägerin gewesen sei.
248 Folglich ist dieses zweite Argument und somit die zweite Rüge insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
3) Zur dritten Rüge: Rechtsfehler und offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission durch ihre Weigerung, den Beitritt der Union zur Klägerin anzuerkennen
249 Die dritte Rüge besteht im Wesentlichen aus drei Argumenten. Zur Stützung des ersten Arguments macht die Klägerin geltend, die Kommission habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass die Union einer internationalen Organisation nicht beitreten könne, wenn diese nicht mindestens zwei Staaten zu ihren Mitgliedern zähle. Zur Stützung des zweiten Arguments beruft sie sich auf einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, den die Kommission bei der Annahme begangen habe, dass die Union nie zu einem ihrer Mitglieder geworden sei. Zur Stützung des dritten Arguments macht die Klägerin geltend, die Kommission habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass die Union der Resolution vom 25. November 1994 nicht wirksam beigetreten sei, da sie das damals in den Verträgen vorgesehene Verfahren für den Abschluss internationaler Abkommen nicht durchgeführt habe.
250 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass keine Bestimmung der Verträge die Unionsgerichte dazu verpflichtet, in jedem Fall die Stichhaltigkeit der Klagegründe oder Argumente zu prüfen, die zur Stützung der bei ihnen anhängigen Klagen vorgebracht werden. Vielmehr können die Unionsgerichte insbesondere aus Gründen einer effizienten Rechtspflege davon absehen, die Stichhaltigkeit der Klagegründe zu prüfen, die als unzulässig oder ins Leere gehend zurückzuweisen sind (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 29. September 2022, HIM/Kommission, C‑500/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:741, Rn. 72 und 73).
251 Insbesondere ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass Rügen gegen nicht tragende Gründe des Rechtsakts, dessen Rechtmäßigkeit in Abrede gestellt wird, nicht zur Nichtigerklärung dieses Rechtsakts führen können und daher ins Leere gehen (vgl. entsprechend Beschluss vom 28. September 2023, QI/Kommission, C‑32/23 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2023:722, Rn. 4 [Stellungnahme des Generalanwalts, Nr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung]).
252 Im vorliegenden Fall möchte die Klägerin im Rahmen dieser Rüge ihren Status als internationale Organisation dadurch nachweisen, dass sie sich darauf beruft, dass ihr zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des angefochtenen Beschlusses mindestens zwei Mitglieder angehörten, nämlich zum einen Österreich und zum anderen die Union, die der Resolution vom 25. November 1994 ordnungsgemäß beigetreten sowie in ihrem Lenkungsausschuss und später in ihrem Ständigen Ausschuss vertreten gewesen sei.
253 Ohne dass die Frage geprüft zu werden braucht, ob die Kommission der Resolution vom 25. November 1994 ordnungsgemäß beigetreten ist, geht indessen zum einen aus den übereinstimmenden Angaben der Parteien hervor, dass die Kommission seit dem 20. Mai 2003 nicht mehr im Lenkungsausschuss der Klägerin vertreten war.
254 Wie sich aus der Prüfung der ersten Rüge des vorliegenden Teils ergibt, kann die Union daher in dem Zeitraum, in dem der angefochtene Beschluss wirksam war, nicht als Mitglied der Klägerin angesehen werden.
255 Zum anderen legt die Klägerin weder dar noch trägt sie vor, dass sie zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des angefochtenen Beschlusses eine andere internationale Organisation zu ihren Mitgliedern gezählt hätte.
256 In dieser Hinsicht ist zwar in der Resolution vom 25. November 1994 und in Art. 5 Abs. 1 der Satzung der Klägerin vorgesehen, dass der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) von Rechts wegen Mitglied des Lenkungsausschusses der Klägerin ist, jedoch geht aus einem Schreiben des Generalsekretärs des UNHCR vom 25. Februar 2014 hervor, dass der UNHCR ab dem Jahr 2000 nicht mehr zu den von der Klägerin durchgeführten Projekten finanziell beigetragen hat, nicht mehr an den Sitzungen des genannten Lenkungsausschusses teilgenommen hat und ab dem Jahr 2010 nicht mehr in diesem Gremium vertreten war.
257 Da weder die Union noch eine andere internationale Organisation, insbesondere nicht der UNHCR, ab dem 16. Dezember 2014 als Mitglieder der klagenden Organisation angesehen werden können, hat somit die vorliegende Rüge – selbst wenn man sie als begründet unterstellt – keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses und ist daher zurückzuweisen. Daher ist auch der erste Teil des vorliegenden Klagegrundes insgesamt zurückzuweisen.
c)
Zum zweiten Teil: Rechtsfehler der Kommission durch ihre Weigerung, die Resolution vom 25. November 1994 als internationales Abkommen zur Gründung einer internationalen Organisation anzusehen
258 Der zweite Teil besteht im Wesentlichen aus zwei Rügen, mit deren erster geltend gemacht wird, dass die Kommission sich rechtsfehlerhaft geweigert habe, die Resolution vom 25. November 1994 als internationales Abkommen anzusehen, und mit deren zweiter die Absicht der Unterzeichner dieser Resolution, der Klägerin den Status einer internationalen Organisation zu verleihen, fehlerhaft ausgelegt worden sei.
1) Zur ersten Rüge: Rechtsfehler der Kommission durch ihre Weigerung, die Resolution vom 25. November 1994 als internationales Abkommen anzusehen
259 Die erste Rüge besteht im Wesentlichen aus drei Argumenten, mit denen geltend gemacht wird, dass die Kommission erstens einen Rechtsfehler in Bezug auf die Rechtsverbindlichkeit der Resolution vom 25. November 1994, zweitens einen Rechtsfehler in Bezug auf das Erfordernis der Unterzeichnung der genannten Resolution durch mit entsprechenden Befugnissen ausgestattete Vertreter und drittens einen Rechtsfehler in Bezug darauf, dass Unterzeichnungs- bzw. Ratifikationsurkunden für die genannte Resolution erforderlich seien, begangen habe.
i) Zum ersten Argument: Rechtsfehler in Bezug auf die Rechtsverbindlichkeit der Resolution vom 25. November 1994
260 Zur Stützung dieses Arguments macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass die Kommission den angefochtenen Beschluss dadurch rechtsfehlerhaft erlassen habe, dass sie den Standpunkt Österreichs, Finnlands und Schwedens übernommen habe, wonach die Resolution vom 25. November 1994 eine politische Erklärung ohne Rechtsverbindlichkeit darstelle und daher nicht als internationales Abkommen angesehen werden könne.
261 Insoweit ergibt sich aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses, insbesondere aus Unterabschnitt A.7 Buchst. c der endgültigen Beurteilung, dass sich die Kommission bei ihrer Schlussfolgerung, die Resolution vom 25. November 1994 sei kein internationales Abkommen, auf die Stellungnahmen Österreichs und Finnlands vom 8. April bzw. vom 23. Januar 2020 gestützt hat.
262 So geht aus der Antwort Österreichs vom 8. April 2020 hervor, dass die Vertreter dieses Staates die Resolution vom 25. November 1994 zwar unterzeichnet hätten, die österreichischen Behörden aber der Ansicht seien, dass die Resolution kein internationales Abkommen darstelle.
263 Die finnischen Behörden wiesen zudem in ihrer Antwort vom 23. Januar 2020 darauf hin, dass die Vertreter Finnlands auf der Sitzung vom 25. November 1994 die Resolution vom selben Tag unterzeichnet hätten und dabei davon ausgegangen seien, dass es sich um eine politische Erklärung ohne Rechtsverbindlichkeit handle.
264 Auch wenn aus dem angefochtenen Beschluss nicht hervorgeht, dass sich die Kommission ausdrücklich auf die Stellungnahme der schwedischen Behörden zu der Frage berufen hat, ob die Resolution vom 25. November 1994 ein internationales Abkommen darstellt, ergibt sich aus der Antwort Schwedens vom 2. Juli 2020, dass diese Behörden ebenso wie die österreichischen und finnischen Behörden der Auffassung waren, die genannte Resolution sei kein internationales Abkommen.
265 Wie oben in Rn. 206 ausgeführt, stellt ein von Staaten unterzeichnetes Dokument kein internationales Abkommen dar, wenn es keine Bestimmungen enthält, die Rechte oder Pflichten begründen, denen diese Staaten zugestimmt haben. Daher obliegt es im vorliegenden Fall dem Gericht, den Inhalt und die Reichweite der Resolution vom 25. November 1994 zu prüfen, um festzustellen, ob dieses Dokument rechtsverbindliche Verpflichtungen für seine Unterzeichner enthält (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 6. November 2008, Griechenland/Kommission, C‑203/07 P, EU:C:2008:606, Rn. 56).
266 Erstens wird in Nr. 1 der Resolution vom 25. November 1994 darauf verwiesen, dass die Vertreter der Regierungen und internationalen Organisationen, die an der Sitzung vom selben Tag teilnahmen, vereinbart haben, die Errichtung der Klägerin ab diesem Datum, wie in den seit Juli 1993 in Genf abgehaltenen vorbereitenden Sitzungen geplant und in Übereinstimmung mit dem der Resolution beigefügten Protokoll, zu formalisieren.
267 Zweitens bestätigte die Resolution vom 25. November 1994 in Nr. 2 die Ernennung des Geschäftsführers der Klägerin.
268 Drittens sah die Resolution vom 25. November 1994 in Nr. 3 die Einrichtung eines Lenkungsausschusses vor, dem die Regierungen und die internationalen Organisationen beitreten konnten, die regelmäßig finanziell oder durch Sachleistungen zum Haushalt oder zu den Tätigkeiten der Klägerin beitrugen, und an dem der UNHCR und die Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR) von Rechts wegen teilnahmen. Darüber hinaus war dieser Ausschuss u. a. dafür zuständig, mit Zweidrittelmehrheit seine eigenen Vorschriften zu erlassen, Leitlinien festzulegen, den Haushalt der Klägerin zu verabschieden und über ihren Personalbedarf zu entscheiden, mit absoluter Mehrheit den Geschäftsführer zu ernennen, Sachverständige oder Vertreter anderer internationaler Organisationen einzuladen sowie alle sechs Monate neu zu bewerten, ob die Tätigkeit der Klägerin aufrechtzuerhalten sei. Schließlich sollte die GSG zweimal im Jahr zusammenkommen, um die Einsätze und Tätigkeiten der Klägerin zu überprüfen.
269 Viertens stellte die Resolution vom 25. November 1994 in Nr. 4 klar, dass die Unterzeichnung dieses Dokuments keine Verpflichtung nach sich ziehe, zum Haushalt oder zu den Tätigkeiten der Klägerin beizutragen, da eine solche Verpflichtung von den Mitgliedern ihres Lenkungsausschusses übernommen werden sollte.
270 Fünftens wurde in Nr. 5 der Resolution vom 25. November 1994 festgehalten, dass die Teilnehmer der Sitzung vom selben Tag darin übereinstimmten, dass die Klägerin, sobald ein umfassender Rahmen für den Wiederaufbau von Bosnien-Herzegowina geschaffen werde, gemäß einem entsprechenden Beschluss der GSG in diesen umfassenden Rahmen integriert werden oder ihre Tätigkeit schrittweise beenden sollte. Bis dahin sollten die Aktivitäten der Klägerin in die des UNHCR integriert und in enger Verbindung mit denen von UNPROFOR durchgeführt werden.
271 Somit geht aus dem Wortlaut der Resolution vom 25. November 1994 hervor, dass ihre Unterzeichner insbesondere durch die Bestätigung des Geschäftsführers der Klägerin und die Entscheidung, einen Lenkungsausschuss bei ihr einzurichten, organisatorische Regelungen für die Klägerin genehmigt haben.
272 Auch wenn die Resolution vom 25. November 1994 ihre Unterzeichner nicht verpflichtete, Mitglieder der Klägerin zu werden, sah Nr. 5 der Resolution gleichwohl insbesondere die Verpflichtung der GSG-Mitgliedstaaten vor, zu entscheiden, ob sie die Klägerin in den umfassenden Rahmen für den Wiederaufbau von Bosnien-Herzegowina integrieren oder ihre Aktivitäten schrittweise beenden wollten.
273 Mithin enthielt die Resolution vom 25. November 1994 durchaus zumindest eine rechtsverbindliche Verpflichtung für ihre Unterzeichner, so dass sie nicht als eine Erklärung mit ausschließlich politischer Reichweite angesehen werden kann.
274 Daher hat die Kommission den angefochtenen Beschluss insofern rechtsfehlerhaft erlassen, als sie den Standpunkt Österreichs und Finnlands übernommen hat, der, wie sich aus der obigen Rn. 264 ergibt, auch dem Standpunkt Schwedens entsprach, wonach die Resolution vom 25. November 1994 eine politische Erklärung ohne Rechtsverbindlichkeit darstelle. Somit ist diesem ersten Argument zuzustimmen.
ii) Zum zweiten Argument: Rechtsfehler in Bezug auf das Erfordernis der Unterzeichnung der Resolution vom 25. November 1994 durch Vertreter mit entsprechenden Vollmachten
275 Zur Stützung des zweiten Arguments macht die Klägerin geltend, dass der Kommission in formaler Hinsicht in dem angefochtenen Beschluss ein Rechtsfehler im Hinblick auf die in Art. 7 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens niedergelegten Regeln unterlaufen sei, indem sie von den Staaten, die sie zum rechtlichen Status der Klägerin befragt habe, die Vorlage der Vollmachten verlangt habe, die die Verhandlungsführer zur Annahme der Resolution vom 25. November 1994 ermächtigt hätten.
276 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das Völkervertragsrecht im Wesentlichen durch das Wiener Übereinkommen kodifiziert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2015, Oberto und O’Leary, C‑464/13 und C‑465/13, EU:C:2015:163, Rn. 35).
277 Insbesondere sieht Art. 7 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens in Bezug auf die Vollmacht vor, dass eine Person hinsichtlich des Annehmens des Textes eines Vertrags oder der Festlegung seines authentischen Textes oder der Abgabe der Zustimmung eines Staates, durch einen Vertrag gebunden zu sein, als Vertreter eines Staates gilt, wenn sie eine gehörige Vollmacht vorlegt oder wenn aus der Übung der beteiligten Staaten oder aus anderen Umständen hervorgeht, dass sie die Absicht hatten, diese Person als Vertreter des Staates für die genannten Zwecke anzusehen und keine Vollmacht zu verlangen.
278 Abweichend von Art. 7 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens befreit Abs. 2 desselben Artikels jedoch Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister vom Erfordernis der Vorlage der Vollmacht zur Vornahme aller sich auf den Abschluss eines Vertrags beziehenden Handlungen, Chefs diplomatischer Missionen zum Annehmen des Textes eines Vertrags zwischen Entsende- und Empfangsstaat sowie die von Staaten bei einer internationalen Konferenz oder bei einer internationalen Organisation oder einem ihrer Organe beglaubigten Vertreter zum Annehmen des Textes eines Vertrags im Rahmen der Konferenz, der Organisation oder des Organs.
279 Wenn also ein Dokument von Personen unterzeichnet wird, die nicht über die erforderliche Befugnis verfügen, ihre Staaten gemäß Art. 7 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens zu verpflichten, kann ein solches Dokument nicht als rechtsverbindliches internationales Abkommen angesehen werden, es sei denn, diese Personen sind gemäß Abs. 2 dieses Artikels befugt, die genannten Staaten zu verpflichten, ohne eine Vollmacht vorlegen zu müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Internationalen Seegerichtshofs vom 14. März 2012, Delimitation of the maritime boundary in the Bay of Bengal [Bangladesh/Myanmar], ITLOS Reports 2012, S. 4, Rn. 96 und 98).
280 Darüber hinaus ist nach Art. 8 des Wiener Übereinkommens, den die Kommission im vierten Unterabschnitt des ersten Teils der endgültigen Beurteilung angeführt hat, eine sich auf den Abschluss eines Vertrags beziehende Handlung, die von einer Person vorgenommen wird, welche nicht nach Art. 7 als zur Vertretung eines Staates zu diesem Zweck ermächtigt angesehen werden kann, ohne Rechtswirkung, sofern sie nicht nachträglich von dem Staat bestätigt wird.
281 In dieser Hinsicht geht aus den Anmerkungen der Völkerrechtskommission zu dem Artikelentwurf über das Recht der Verträge (Jahrbuch der Völkerrechtskommission, 1966, Bd. II, S. 210 und 211), die gemäß den Auslegungsregeln für Verträge in den Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens bei der Auslegung von Art. 8 des genannten Übereinkommens berücksichtigt werden können, hervor, dass der Staat trotz der ursprünglich fehlenden Bevollmächtigung seines Vertreters die vorgenommene Handlung später bestätigen und damit seine Zustimmung ausdrücken kann, durch den Vertrag gebunden zu sein, und dass dies auch als stillschweigend erfolgt gilt, wenn er sich auf die Bestimmungen des Vertrags beruft oder auf eine Art und Weise handelt, als betrachte er die Handlung seines Vertreters als gültig.
282 Erstens geht aus den Antworten derjenigen von der Kommission befragten Staaten, die Vertreter zur Sitzung vom 25. November 1994 entsandt hatten, hervor, dass keiner dieser Staaten in der Lage war, die Vollmachten vorzulegen, die diese Vertreter gemäß Art. 7 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens zur Unterzeichnung der Resolution vom selben Tag ermächtigt hätten.
283 Darüber hinaus ergibt sich aus diesen Antworten weder eine Übung dieser Staaten noch andere Umstände, die ihre Absicht belegen, die Teilnehmer der Sitzung vom 25. November 1994 im Hinblick auf die Unterzeichnung der Resolution vom selben Tag als ihre Vertreter anzusehen und nicht die Vorlage von Vollmachten zu verlangen.
284 Zweitens geht zwar aus der Antwort Schwedens vom 2. Juli 2020 hervor, dass die Resolution vom 25. November 1994 später vom schwedischen Außenminister unterzeichnet wurde, so dass davon ausgegangen werden kann, dass dieser Staat gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. a des Wiener Übereinkommens vom Erfordernis der Vollmacht befreit war.
285 Drittens ergibt sich allerdings aus der Einladung zur Sitzung vom 25. November 1994, die der UNHCR am 15. November 1994 an den Leiter der ständigen Vertretung der Kommission bei den internationalen Organisationen in Genf gerichtet hat, sowie aus der in Anlage A.43 zur Klageschrift enthaltenen Bescheinigung eines ehemaligen Beamten der Kommission vom 16. Januar 2020 und aus der in Anlage A.44 zur Klageschrift enthaltenen Bescheinigung eines ehemaligen Beamten der dänischen Regierung vom 30. Juli 2019, dass die Resolution vom 25. November 1994 von den Vertretern der Staaten aus der Arbeitsgruppe für humanitäre Fragen der Internationalen Konferenz über das ehemalige Jugoslawien in einer Sitzung dieser Arbeitsgruppe verhandelt und angenommen worden sei.
286 Da die Resolution vom 25. November 1994 nicht von allen Vertretern der bei der Internationalen Konferenz über das ehemalige Jugoslawien akkreditierten Staaten genehmigt wurde, kann diese in einer Arbeitsgruppe angenommene Resolution somit nicht als ein im Rahmen dieser Konferenz angenommener Vertrag im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Buchst. c des Wiener Übereinkommens angesehen werden.
287 Viertens ergibt sich jedenfalls aus den Akten und insbesondere aus den Antworten der von der Kommission befragten Staaten, dass außer der durch Österreich erfolgten Anerkennung seiner Eigenschaft als Mitglied der Klägerin einige dieser Staaten am 10. März 1995 an der Annahme der Satzung der Klägerin (im Folgenden: ursprüngliche Satzung) beteiligt waren, namentlich Frankreich, dessen Vertreterin diese Satzung in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Lenkungsausschusses unterzeichnet hat, sowie Finnland, und dass einige dieser Staaten im Lenkungsausschuss oder Ständigen Ausschuss der Klägerin vertreten waren, namentlich Dänemark, Frankreich, die Niederlande, Schweden und Norwegen, wobei die Vertreter der beiden letztgenannten Staaten die 2008 und 2012 angenommene Satzung der Klägerin in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende ihres Lenkungsausschusses – später Ständiger Ausschuss – unterzeichnet haben.
288 Somit haben die oben in Rn. 287 genannten Staaten durch ihre Beteiligung an der Annahme der ursprünglichen bzw. späteren Satzung der Klägerin oder dadurch, dass sie in deren Lenkungsausschuss oder Ständigem Ausschuss vertreten waren, in einer Art und Weise gehandelt, als betrachteten sie die Unterzeichnung der Resolution vom 25. November 1994 durch ihre Vertreter als gültig, und haben damit im Sinne von Art. 8 des Wiener Übereinkommens nachträglich die Unterzeichnung dieser Resolution, die die Gründung der Klägerin bezweckte, bestätigt.
289 Folglich hat die Kommission den angefochtenen Beschluss insoweit rechtsfehlerhaft erlassen, als sie sich wegen fehlender Vollmachten der Teilnehmer der Sitzung desselben Tages geweigert hat, die Resolution vom 25. November 1994 als internationales Abkommen einzustufen, da die Unterzeichnung der genannten Resolution nachträglich von mindestens zwei Staaten bestätigt worden ist. Somit ist diesem Argument zuzustimmen.
iii) Zum dritten Argument: Rechtsfehler in Bezug auf das Erfordernis von Unterzeichnungs- oder Ratifikationsurkunden für die Resolution vom 25. November 1994
290 Zur Stützung des dritten Arguments macht die Klägerin geltend, dass die Kommission den angefochtenen Beschluss im Hinblick auf bestimmte im Wiener Übereinkommen niedergelegte Grundsätze des Völkerrechts rechtsfehlerhaft erlassen habe, indem sie von den zum rechtlichen Status der Klägerin befragten Staaten den Nachweis der Unterzeichnung der Gründungsurkunde der Klägerin oder die Vorlage einer Ratifikationsurkunde verlangt habe, obwohl aus den der Kommission vorliegenden Akten hervorgehe, dass die Resolution vom 25. November 1994 von ihren Gründungsstaaten ordnungsgemäß genehmigt und unterzeichnet worden sei und obwohl eine internationale Organisation in der Praxis nicht immer durch ein förmliches Abkommen gegründet werde.
291 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 11 des Wiener Übereinkommens die Zustimmung eines Staates, durch einen Vertrag gebunden zu sein, durch Unterzeichnung, Austausch von Urkunden, die einen Vertrag bilden, Ratifikation, Annahme, Genehmigung oder Beitritt oder auf eine andere vereinbarte Art ausgedrückt werden kann.
292 Insbesondere sieht Art. 12 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens vor, dass die Zustimmung eines Staates, durch einen Vertrag gebunden zu sein, durch Unterzeichnung seitens seines Vertreters ausgedrückt wird, wenn der Vertrag vorsieht, dass der Unterzeichnung diese Wirkung zukommen soll, wenn anderweitig feststeht, dass die Verhandlungsstaaten der Unterzeichnung einvernehmlich diese Wirkung beilegen wollten, oder wenn die Absicht des Staates, der Unterzeichnung diese Wirkung beizulegen, aus der Vollmacht seines Vertreters hervorgeht oder während der Verhandlung zum Ausdruck gebracht wurde.
293 Darüber hinaus sieht Art. 12 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens vor, dass im Sinne von Abs. 1 desselben Artikels die Paraphierung des Textes als Unterzeichnung des Vertrags gilt, wenn feststeht, dass die Verhandlungsstaaten dies so vereinbart haben, und dass die Unterzeichnung eines Vertrags ad referendum durch den Vertreter eines Staates als unbedingte Vertragsunterzeichnung gilt, wenn sie von dem Staat bestätigt wird.
294 Im vorliegenden Fall geht aus Nr. 6 der Resolution vom 25. November 1994 und dem Protokoll vom 29. November 1994 hervor, dass die Teilnehmer der Sitzung vom 25. November 1994 aufgefordert wurden, die Resolution zu unterzeichnen.
295 Soweit die Unterzeichnung eines Abkommens nach dem Wiener Übereinkommen eine der Modalitäten darstellt, mit denen ein Staat seine Zustimmung ausdrücken kann, durch dieses Abkommen gebunden zu sein, hat die Kommission im Hinblick auf Art. 12 dieses Übereinkommens also keinen Rechtsfehler begangen, indem sie die Staaten, die Mitglieder der Klägerin sein sollen, hierzu befragte und die Vorlage etwaiger Unterzeichnungsurkunden verlangte.
296 Zweitens sieht Art. 14 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens vor, dass die Zustimmung eines Staates, durch einen Vertrag gebunden zu sein, durch Ratifikation ausgedrückt wird, wenn der Vertrag vorsieht, dass diese Zustimmung durch Ratifikation ausgedrückt wird, wenn anderweitig feststeht, dass die Verhandlungsstaaten die Ratifikation einvernehmlich für erforderlich hielten, wenn der Vertreter des Staates den Vertrag unter Vorbehalt der Ratifikation unterzeichnet hat oder wenn die Absicht des Staates, den Vertrag unter Vorbehalt der Ratifikation zu unterzeichnen, aus der Vollmacht seines Vertreters hervorgeht oder während der Verhandlungen zum Ausdruck gebracht wurde.
297 Im vorliegenden Fall geht weder aus der Resolution vom 25. November 1994 noch dem Protokoll vom 29. November 1994 hervor, dass die Teilnehmer der Sitzung vom 25. November 1994 vorgesehen hätten, die Resolution zu ratifizieren.
298 Der Wille, eine Ratifikation vorzunehmen, hätte jedoch entsprechend den in Art. 14 Abs. 1 Buchst. b bis d des Wiener Übereinkommens vorgesehenen Fällen von den Vertretern der betroffenen Staaten und internationalen Organisationen während der Verhandlungen oder bei der Unterzeichnung ausgedrückt werden können.
299 Folglich kann die Klägerin der Kommission auch nicht vorwerfen, dass sie die Staaten, die die Klägerin als ihre Mitglieder betrachtete, nach einer Ratifikationsurkunde befragt hat, um festzustellen, ob sie zugestimmt hatten, durch die Resolution vom 25. November 1994 gebunden zu sein.
300 Folglich ist dieses dritte Argument als unbegründet zurückzuweisen.
iv) Zur Auswirkung der Begründetheit des ersten und des zweiten Arguments der vorliegenden Rüge auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses
301 Aus den vorstehenden Rn. 274 und 289 ergibt sich, dass die Kommission den angefochtenen Beschluss insoweit rechtsfehlerhaft erlassen hat, als sie die Resolution vom 25. November 1994 nicht als internationales Abkommen angesehen hat.
302 Diese Rechtsfehler haben jedoch in diesem Stadium der Prüfung des Vorbringens der Klägerin keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses, da sie die in der Finanzregelung der Union vorgesehene Voraussetzung unberührt lassen, nach der die Klägerin, um den Unionshaushalt nach dem für internationale Organisationen vorgesehenen Modus der indirekten Mittelverwaltung ausführen zu können, durch ein internationales Abkommen gegründet worden sein muss, das die Errichtung der Klägerin in Form einer internationalen Organisation bezweckte.
303 Daher könnten die oben in den Rn. 274 und 289 festgestellten Rechtsfehler für sich genommen nicht zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen.
2) Zur zweiten Rüge: Auslegungsfehler in Bezug auf die Absicht der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994, der Klägerin den Status einer internationalen Organisation zu verleihen
304 Zur Begründung dieser Rüge macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass die Kommission den angefochtenen Beschluss in Bezug auf den Inhalt der Resolution vom 25. November 1994 rechtsfehlerhaft erlassen habe, indem sie angenommen habe, dass dieser Rechtsakt nicht die Errichtung einer internationalen Organisation, sondern eines gemeinsam finanzierten Übergangsmechanismus zum Ziel gehabt habe.
305 Insofern ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens, der Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts ist, ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist (vgl. Urteil vom 11. März 2015, Oberto und O’Leary, C‑464/13 und C‑465/13, EU:C:2015:163, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
306 Erstens ist festzustellen, dass die Resolution vom 25. November 1994 die Klägerin nicht als internationale Organisation bezeichnet und auch nicht ihren rechtlichen Status festlegt.
307 Zweitens hat die Resolution vom 25. November 1994 der Klägerin nicht einmal Rechtspersönlichkeit durch eine Klausel verliehen, der zufolge sie befugt wäre, Abkommen zu schließen oder vor Gericht aufzutreten.
308 Drittens hat die Resolution vom 25. November 1994 auch nicht vorgesehen, dass die Klägerin für die Ausübung ihrer Tätigkeiten Immunität genieße, wohingegen nach der oben in den Rn. 209 und 210 angeführten Rechtsprechung internationale Organisationen bei der Ausübung ihrer Aufgaben grundsätzlich Immunität genießen und diese in ihren Gründungsverträgen vorgesehen ist.
309 Viertens geht aus dem Wortlaut der Resolution vom 25. November 1994 hervor, dass ihre Unterzeichner mit der Gründung der Klägerin nicht beabsichtigten, eine Organisation zu schaffen, die mit allen für ihr Funktionieren erforderlichen Mitteln und den besten Garantien für Stabilität, Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit bei der Ausübung ihrer Aufgaben ausgestattet ist, sondern einen fakultativen Mechanismus, der den Vertragsparteien zur Verfügung steht und den jede von ihnen nach Belieben nutzen kann.
310 Was zunächst die Stabilität und Dauerhaftigkeit der Aufgaben der Klägerin betrifft, so sah Nr. 3 der Resolution vom 25. November 1994 vor, dass der Lenkungsausschuss alle sechs Monate neu bewerten sollte, ob die Notwendigkeit bestehe, die Tätigkeit der Klägerin aufrechtzuerhalten, während nach Nr. 5 derselben Resolution die an ihm beteiligten Staaten entscheiden sollten, die Klägerin entweder in den umfassenden Rahmen für den Wiederaufbau von Bosnien-Herzegowina zu integrieren oder die Tätigkeit der Klägerin schrittweise zu beenden.
311 Was sodann die Wirksamkeit der Aufgaben der Klägerin betrifft, so erwähnt Nr. 3 der Resolution vom 25. November 1994 zwar die regelmäßige Zahlung von Beiträgen zu ihren Gunsten seitens der Staaten und internationalen Organisationen, die Parteien dieser Resolution sind, doch erlegt sie den genannten Staaten und Organisationen keine Pflichtbeiträge auf, um den Haushalt der Klägerin zu decken. Im Gegenteil: Die Resolution sieht ausdrücklich die Freiwilligkeit von finanziellen Beiträgen oder Sachleistungen der Mitglieder der Klägerin vor.
312 Schließlich sah die Resolution vom 25. November 1994 keine Übertragung bindender Befugnisse durch die an der Resolution beteiligten Staaten und Organisationen auf die Klägerin vor; vielmehr blieb es diesen Staaten und Organisationen freigestellt, der Resolution beizutreten, ihr einseitig und zu einem ihnen geeignet erscheinenden Zeitpunkt den Rücken zu kehren und sie durch andere Kommunikationskanäle zu ersetzen.
313 Fünftens wird die Auslegung des Wortlauts und des Zwecks der Resolution vom 25. November 1994, nach der ihre Verfasser nicht die Absicht hatten, mit der Klägerin eine internationale Organisation zu gründen, durch den Zusammenhang bestätigt, in dem die Resolution verabschiedet wurde, wie aus mehreren Dokumenten in der Akte hervorgeht.
314 Zunächst geht aus dem Protokoll vom 29. November 1994 hervor, dass auf der Sitzung der Arbeitsgruppe für humanitäre Fragen der Konferenz über das ehemalige Jugoslawien vom 25. November 1994 mehrere Staaten, darunter Deutschland, Finnland, Norwegen und Russland, sowie das Amt für humanitäre Hilfe der Europäischen Gemeinschaft (ECHO) Vorbehalte gegen eine Initiative geäußert haben, die zur Schaffung eines neuen institutionalisierten Gremiums geführt hätte, und den Übergangscharakter der Tätigkeit der Klägerin betont haben. Zudem hat keiner der Teilnehmer an dieser Sitzung die Klägerin als internationale Organisation bezeichnet.
315 Sodann beruft sich die Klägerin auf ein Dokument mit dem englischen Titel „Terms of reference of IMG‑IBH“ (Auftragsbeschreibung der IMG‑IBH), welches nach dem Verständnis des Gerichts eine Anlage zur Resolution vom 25. November 1994 darstellt. Insbesondere werden in diesem Dokument die Aufgaben der Klägerin genannt, die im Hoheitsgebiet von Bosnien-Herzegowina in den Bereichen Energie, Leistungsverwaltung, Unterbringung und Wohnraum darin bestanden, Informationen zu sammeln, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu ermitteln, vorrangige Bereiche zu bestimmen, die eine rasche internationale Unterstützung erforderten, Programme oder Projekte zu identifizieren und auszuarbeiten, die von der internationalen Gemeinschaft finanziert werden konnten, und die Staaten und internationalen Institutionen bei der Finanzierung von Programmen oder Projekten zu unterstützen.
316 Diese Auftragsbeschreibung der IMG‑IBH äußert sich jedoch nicht zum rechtlichen Status der Klägerin und verleiht ihr auch nicht die Befugnis, internationale Abkommen zu schließen.
317 Des Weiteren beschränkt sich die Bestätigung vom 14. Dezember 1994 des Koordinators der UNHCR-Sonderoperation im ehemaligen Jugoslawien, der die Sitzung vom 25. November 1994 geleitet hatte, in deren Verlauf die Resolution vom selben Tag verabschiedet wurde, darauf, die formelle Gründung der Klägerin in dieser Sitzung festzuhalten, ohne näher darauf einzugehen, ob diese Initiative der Klägerin Rechtspersönlichkeit und gegebenenfalls den Status einer internationalen Organisation verleihen sollte.
318 Schließlich geht aus der Einladung zur Sitzung vom 25. November 1994 hervor, dass der Zweck dieser Sitzung darin bestand, die Umstrukturierung der Vorgängereinrichtung der Klägerin sowie ihren künftigen Status zu prüfen, und nicht darin, eine internationale Organisation zu gründen.
319 Folglich ist der Kommission in dem angefochtenen Beschluss kein Rechtsfehler unterlaufen, als sie davon ausging, dass die Resolution vom 25. November 1994 weder bezweckte noch bewirkte, der Klägerin den Status einer internationalen Organisation zu verleihen; somit ist die vorliegende Rüge und ist folglich der zweite Teil des vierten Klagegrundes insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
d)
Zum dritten Teil: Rechtsfehler in Bezug auf die spätere Übung der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 und die Anerkennung des Status einer internationalen Organisation durch die Union und bestimmte Staaten
320 Der dritte Teil des vierten Klagegrundes besteht im Wesentlichen aus drei Rügen, mit denen erster ein Rechtsfehler der Kommission insoweit geltend gemacht wird, als diese es abgelehnt habe, der Klägerin ungeachtet der späteren Übung ihrer Mitglieder den Status einer internationalen Organisation zuzuerkennen. Mit der zweiten Rüge wird ein Rechtsfehler der Kommission dahin gehend geltend gemacht, dass sie nicht berücksichtigt habe, dass die Union und einige Staaten die Klägerin als internationale Organisation anerkannt hätten, und mit der dritten Rüge ein Rechtsfehler der Kommission dahin gehend, dass sie nicht berücksichtigt habe, dass die Mitglieder der Klägerin sie nicht aufgelöst hätten und sie den Grundsatz der Spezialität erfülle.
1) Zur ersten Rüge: Rechtsfehler in Bezug auf die spätere Übung der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994
321 Zur Begründung dieser Rüge macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass – selbst wenn sie nicht durch ihren Gründungsakt als internationale Organisation errichtet worden sei – die Kommission dadurch einen Rechtsfehler begangen habe, dass sie sich geweigert habe, anzuerkennen, dass die Klägerin unter Berücksichtigung der späteren Übung der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 und insbesondere ihrer Mitglieder schrittweise den Status einer ständigen internationalen Organisation erlangt habe. Ihre ursprüngliche Satzung sei in den Jahren 2008 und 2012 nämlich geändert worden, um sie mit den Mitteln und Vorrechten einer internationalen Organisation auszustatten, die für die Fortsetzung ihrer Tätigkeit und die Durchführung ihrer Aktivitäten angemessen gewesen seien.
322 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in dem angefochtenen Beschluss die Auffassung vertreten hat, aus den Antworten der befragten Staaten gehe hervor, dass die spätere Übung nach der Annahme der Resolution vom 25. November 1994 keine umfassende und eindeutige Anerkennung des Status der Klägerin als internationale Organisation durch die Staaten und die internationalen Organisationen, die ihre Mitglieder sein sollten, belege.
323 In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass sich aus Art. 31 Abs. 3 Buchst. a und b des Wiener Übereinkommens ergibt, dass bei der Auslegung eines Vertrags außer seinem Zusammenhang in gleicher Weise insbesondere jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen und jede spätere Übung bei der Anwendung dieses Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, Rat/Polisario-Front,C‑104/16 P, EU:C:2016:973, Rn. 120).
324 Insbesondere kann nach der Rechtsprechung nicht davon ausgegangen werden, dass Instrumente eine spätere Übereinkunft oder Übung darstellen, die die Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung eines Vertrags im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Buchst. a und b des Wiener Übereinkommens belegen, wenn diese Instrumente ohne die Unterstützung seitens aller Vertragsstaaten dieses Vertrags angenommen worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 31. März 2014, Whaling in the Antarctic [Australia v. Japan; New Zealand intervening], ICJ Reports 2014, S. 226, Rn. 83).
325 Darüber hinaus können nach Art. 32 des Wiener Übereinkommens ergänzende Auslegungshilfen, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, herangezogen werden, um die sich unter Anwendung von Art. 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Art. 31 insbesondere die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.
326 In einem solchen Fall besteht nach den Schlussfolgerungen der Völkerrechtskommission zu späteren Übereinkünften und späterer Praxis in der Anlage zur Resolution 73/202 der Generalversammlung vom 20. Dezember 2018 (von der Völkerrechtskommission auf ihrer 70. Tagung im Jahr 2018 angenommener, der Generalversammlung im Rahmen ihres Berichts über die Arbeiten dieser Tagung [A/73/10] vorgelegter Text) eine spätere Praxis aus einem Verhalten einer oder mehrerer Parteien bei der Anwendung des Vertrags nach dessen Abschluss.
327 Anhand dieser Bestimmungen und Grundsätze hat das Gericht zu prüfen, ob sich die Klägerin zur Stützung der vorliegenden Rüge auf die spätere Übung ihrer Mitglieder berufen kann, wie sie sich aus ihrer ursprünglichen Satzung und deren Änderungen in den Jahren 2008 und 2012 ergibt.
328 Aus der Prüfung der zweiten Rüge im zweiten Teil des vierten Klagegrundes geht hervor, dass die Bestimmungen der Resolution vom 25. November 1994 insofern, als sie die Klägerin nicht als internationale Organisation errichtet haben, weder dunkel noch mehrdeutig sind und auch nicht zu einer offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Auslegung im Sinne von Art. 32 des Wiener Übereinkommens führen.
329 Daher kommt es für den Nachweis, dass spätere Übereinkünfte oder eine spätere Praxis der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 die Auslegung der Bestimmungen dieser Resolution geändert hätten, um der Klägerin den Status einer internationalen Organisation zu verleihen, darauf an, ob alle Unterzeichner dieser Resolution oder zumindest alle Mitglieder der Klägerin eine solche Änderung genehmigt haben, und zwar im Einklang mit der oben in Rn. 324 angeführten Rechtsprechung.
330 Im vorliegenden Fall verlieh zwar zum einen die ursprüngliche Satzung der Klägerin Rechtspersönlichkeit und sah vor, dass ein Teil ihrer Mitarbeiter von den Reglungen zur Immunität profitieren sollte, die der UNHCR genießt, und zum anderen bezeichnete Art. 1 ihrer Satzung aus dem Jahr 2012 sie als internationale Organisation.
331 Allerdings hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass ihre ursprüngliche Satzung und ihre Satzung von 2012 den Willen aller Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 oder zumindest ihrer Mitglieder zum Ausdruck brächten, ihr den Status einer internationalen Organisation zu verleihen, was zur Folge gehabt hätte, dass die Kommission diese Instrumente als spätere Übereinkünfte oder spätere Übung im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Buchst. a und b des Wiener Übereinkommens hätte anerkennen müssen.
332 Vielmehr geht erstens in Bezug auf die ursprüngliche Satzung aus dem Protokoll der Sitzung des Lenkungsausschusses vom 13. Februar 1995, an der unter der Schirmherrschaft des UNHCR Vertreter Dänemarks, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Finnlands, Schwedens, des Vereinigten Königreichs, Norwegens sowie der Europäischen Gemeinschaft zur Ausarbeitung dieser Satzung teilnahmen, hervor, dass auf eine Frage Finnlands hin ein Vertreter des UNHCR betont hat, dass die Klägerin für eine zeitlich begrenzte Aufgabe gegründet worden sei, dass nicht beabsichtigt sei, eine vollwertige internationale Organisation zu schaffen, und dass die Satzung der Klägerin für die Staaten, die sie genehmigten, nicht denselben rechtsverbindlichen Charakter hätte wie derjenige, der sich im Fall einer Ratifikation der Gründungsurkunde durch alle betroffenen Staaten ergeben hätte.
333 Darüber hinaus geht aus einem Schreiben der finnischen Behörden vom 29. April 2014 hervor, dass auf der Sitzung des Lenkungsausschusses vom 10. März 1995, auf der die ursprüngliche Satzung mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Mitglieder dieses Ausschusses genehmigt wurde, der Vertreter Finnlands die Satzung aufgrund von Zweifeln an der Rechtsnatur dieses Dokuments nicht unterzeichnet hat und dass Finnland schließlich aufgrund der Zusicherungen des oben in Rn. 332 genannten UNHCR-Vertreters die Satzung auf der Sitzung des Lenkungsausschusses vom 19. Juni 1995 unterzeichnet und dabei eine Erklärung abgegeben hat, der zufolge Finnland davon ausgehe, dass die Satzung der Klägerin politischer Natur sei.
334 Angesichts der Stellungnahmen des UNHCR und Finnlands bei der Annahme der ursprünglichen Satzung der Klägerin geht somit aus den Umständen, unter denen die Satzung angenommen wurde, nicht hervor, dass sie den Willen aller Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 oder der Mitglieder der Klägerin widerspiegele, ihr den Status einer internationalen Organisation zu verleihen.
335 Zweitens hat die Klägerin in Bezug auf die 2012 verabschiedete Satzung in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, dass diese von Frankreich, Italien, Finnland, Schweden und Norwegen unterzeichnet worden sei.
336 Zunächst ist jedoch festzustellen, dass sich daraus – selbst wenn man die Behauptung der Klägerin als erwiesen ansieht – ergibt, dass die Satzung von 2012 nicht mit der Unterstützung aller Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 angenommen wurde.
337 Sodann geht aus den Akten auch nicht hervor, dass bei Annahme der Satzung der Klägerin im Jahr 2012 nur Frankreich, Italien, Finnland, Schweden und Norwegen Mitglieder der Klägerin gewesen wären, so dass diese Satzung als Ausdruck des einstimmigen Einvernehmens der Mitglieder der Klägerin zu diesem Zeitpunkt, ihr den Status einer internationalen Organisation zuzuerkennen, angesehen werden müsste.
338 Selbst wenn man schließlich davon ausgeht, dass die Klägerin bei der Annahme der Satzung von 2012 nur die fünf oben in Rn. 335 genannten Staaten als Mitglieder gehabt hätte, geht aus den Stellungnahmen dieser Staaten als Reaktion auf die Untersuchung des OLAF und das von der Kommission im Hinblick auf den Erlass des angefochtenen Beschlusses eingeleitete Konsultationsverfahren hervor, dass sie der Klausel der Satzung von 2012 widersprechen, mit der der Klägerin der Status einer internationalen Organisation zuerkannt wurde.
339 Denn zum einen geht aus dem Schreiben der schwedischen Behörden an das OLAF vom 23. Juni 2014 sowie aus der Antwort dieser Behörden an die Kommission vom 2. Juli 2020 hervor, dass Schweden der Auffassung war, die Klägerin sei keine internationale Organisation, und zwar obwohl der schwedische Botschafter in Belgrad die Satzung der Klägerin von 2012 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender ihres Lenkungsausschusses – später Ständiger Ausschuss – unstreitig unterzeichnet hatte.
340 Zum anderen geht aus den Antworten, die Frankreich, Italien, Finnland und Norwegen im Rahmen der OLAF‑Untersuchung gegeben haben, sowie aus ihren Antworten an die Kommission vom 22. Juli, 13. März, 14. Januar 2020 bzw. 20. Dezember 2019 hervor, dass diese Staaten der Auffassung sind, dass die Klägerin keine internationale Organisation sei.
341 Angesichts der Stellungnahmen von Frankreich, Italien, Finnland, Schweden und Norwegen geht somit aus den Akten nicht hervor, dass die Klausel in der Satzung von 2012, wonach die Klägerin eine internationale Organisation sei, den klaren und unmissverständlichen Willen dieser Staaten widerspiegele, ihr einen solchen Status zu verleihen.
342 Drittens ist festzustellen, dass selbst unter der Annahme, dass die ursprüngliche Satzung der Klägerin und ihre Satzung von 2012 mit der Unterstützung aller Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 oder zumindest ihrer Mitglieder angenommen worden wären, aus der Entwicklung dieser Satzung hervorgeht, dass diese Mitglieder der Klägerin bei der Annahme der neuen Satzungen in den Jahren 2008 und 2012 zwar beabsichtigten, der Klägerin eine gewisse Stabilität und die Kontinuität ihrer Tätigkeit zu garantieren, sie jedoch nicht ihre Eigenschaft als fakultativen, gemeinsam finanzierten Mechanismus, den jedes Mitglied nach Belieben nutzen kann, abänderten.
343 Insbesondere haben die Mitglieder der Klägerin bei der Annahme der Satzungen von 2008 und 2012 weder die auf freiwilligen Beiträgen beruhende Art der Finanzierung der Klägerin geändert noch haben sie ihr bindende Befugnisse übertragen, so dass es ihnen weiterhin freigestellt ist, ihr zu einem ihnen geeignet erscheinenden Zeitpunkt einseitig den Rücken zu kehren und sie durch andere Kommunikationskanäle zu ersetzen.
344 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Bedeutung der Klauseln der ursprünglichen Satzung bezüglich der Immunitäten und der Rechtspersönlichkeit der Klägerin sowie die Bedeutung der Klausel der Satzung von 2012, wonach die Klägerin eine internationale Organisation sei, mehrdeutig im Sinne von Art. 32 des Wiener Übereinkommens ist.
345 Darüber hinaus geht aus den Antworten der von der Kommission befragten Staaten hervor, dass von den Mitgliedern der Klägerin nur Österreich der Ansicht ist, dass die Klägerin als internationale Organisation anerkannt werden könne.
346 Folglich ist der Kommission kein Rechtsfehler unterlaufen, als sie in dem angefochtenen Beschluss die Auffassung vertrat, dass die spätere Übung nach der Annahme der Resolution vom 25. November 1994 und der anschließenden Annahme der ursprünglichen Satzung sowie der Satzung von 2012 keine ausreichend umfassende und eindeutige Anerkennung der Eigenschaft der Klägerin als internationale Organisation sowohl durch die Unterzeichner dieser Resolution als auch durch die Mitglieder der Klägerin belege.
347 Daher ist die vorliegende Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
2) Zur zweiten Rüge: Rechtsfehler der Kommission wegen Nichtberücksichtigung der Anerkennung der Klägerin als internationale Organisation durch die Union und einige Staaten
348 Diese Rüge setzt sich aus zwei Argumenten zusammen, die sich erstens auf einen Verstoß gegen die Art. 27 und 46 des Wiener Übereinkommens stützen und zweitens auf einen Rechtsfehler der Kommission, indem diese die von der Klägerin geschlossenen Sitzabkommen nicht berücksichtigt habe.
i) Zum ersten Argument: Verstoß der Kommission gegen die Art. 27 und 46 des Wiener Übereinkommens, indem sie die Klägerin nicht mehr als internationale Organisation anerkannt habe
349 Zur Stützung des ersten Arguments macht die Klägerin geltend, dass der Abschluss von Vereinbarungen zwischen ihr und der Kommission über die gemeinsame oder indirekte Mittelverwaltung zwangsläufig der Kommission die Verpflichtung auferlege, ihren Status als internationale Organisation in Anwendung der Art. 27 und 46 des Wiener Übereinkommens anzuerkennen.
350 In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass das Wiener Übereinkommen gemäß Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. a internationale Übereinkünfte regelt, die in Schriftform zwischen Staaten geschlossen und vom Völkerrecht bestimmt werden. So findet das Wiener Übereinkommen nach Art. 3 keine Anwendung auf internationale Übereinkünfte zwischen Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten wie der Union.
351 Folglich kann die Klägerin der Kommission zur Stützung dieses Arguments nicht mit Erfolg vorwerfen, gegen die Art. 27 und 46 des Wiener Übereinkommens verstoßen zu haben, dessen Bestimmungen nicht unmittelbar auf die Union anwendbar sind.
352 Sollte die Klägerin zweitens beabsichtigt haben, sich auf die in den Art. 27 und 46 des Wiener Übereinkommens enthaltenen Grundsätze des Völkerrechts zu berufen, insbesondere auf Art. 27 Abs. 2 und 3 und Art. 46 Abs. 2 und 3 des Wiener Übereinkommens vom 21. März 1986 über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen (Official Records of the United Nations Conference on the Law of Treaties between States and International Organizations or between International Organizations, Bd. II, S. 91), so ergibt sich aus diesen Grundsätzen zum einen, dass eine internationale Organisation, die Vertragspartei eines Vertrags ist, sich nicht auf die Vorschriften der Organisation berufen kann, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen, und zum anderen nicht darauf, dass ihre Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, unter Verletzung der Vorschriften der Organisation über die Zuständigkeit zum Abschluss von Verträgen ausgedrückt wurde und daher ungültig sei, sofern nicht die Verletzung offenkundig war und eine Vorschrift von grundlegender Bedeutung betraf.
353 Da die Resolution vom 25. November 1994 ihre Unterzeichner weder verpflichtete, der Klägerin beizutreten, noch diese als internationale Organisation einstufte, kann der Kommission zunächst nicht vorgeworfen werden, dass sie durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses die Resolution nicht befolgt hätte, selbst wenn sie sie ordnungsgemäß genehmigt oder unterzeichnet hätte.
354 Zudem ergibt sich aus der Prüfung der ersten Rüge dieses Teils, dass die Klägerin nicht berechtigt ist, sich auf den Status einer internationalen Organisation aufgrund späterer Übung nach Annahme der Resolution vom 25. November 1994 oder der Satzung zu berufen.
355 Jedenfalls ergibt sich aus der vorstehenden Rn. 253, dass die Union während des Zeitraums, in dem der angefochtene Beschluss wirksam war, nicht mehr Mitglied des Lenkungsausschusses der Klägerin war, da die Kommission ab dem 20. Mai 2003 nicht mehr in diesem Ausschuss vertreten war.
356 Daher war die Kommission, selbst wenn sie der Klägerin im Jahr 1994 oder später ordnungsgemäß beigetreten wäre, zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des angefochtenen Beschlusses von jeder Verpflichtung entbunden, ihr den Status einer internationalen Organisation zuzuerkennen, der sich aus einer etwaigen späteren Übung nach Annahme der Resolution vom 25. November 1994 oder ihrer Satzung ergeben hätte.
357 Sodann geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses nicht hervor, dass die Kommission – auch wenn sie bestreitet, der Resolution vom 25. November 1994 ordnungsgemäß beigetreten zu sein – den genannten Beschluss mit der Begründung erlassen hätte, dass ihre Zustimmung, durch die Resolution gebunden zu sein, unter Verletzung der Vorschriften der Union über die Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Verträge erklärt worden wäre.
358 Insbesondere geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses nicht hervor, dass er auf die in Art. 46 des Wiener Übereinkommens und in Art. 46 Abs. 2 und 3 des Wiener Übereinkommens vom 21. März 1986 über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen niedergelegten Grundsätze gestützt wäre.
359 Folglich ist das vorliegende Argument zurückzuweisen.
ii) Zum zweiten Argument: Rechtsfehler der Kommission wegen Nichtberücksichtigung der von der Klägerin geschlossenen Sitzabkommen
360 Zur Stützung des zweiten Arguments macht die Klägerin geltend, dass der Kommission in dem angefochtenen Beschluss dadurch ein Rechtsfehler unterlaufen sei, dass sie es abgelehnt habe, die Antworten Belgiens und Österreichs insoweit zu berücksichtigen, als diese Staaten sich auf die von der Klägerin geschlossenen Sitzabkommen bezögen, da solche Abkommen die Anerkennung ihres Status als internationale Organisation durch die Unterzeichnerstaaten unabhängig davon zum Ausdruck brächten, ob sie Mitglieder dieser Organisation seien oder nicht. So beruft sich die Klägerin auf die Unterzeichnung von Sitzabkommen mit Belgien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Myanmar/Burma und Serbien.
361 In diesem Zusammenhang hat Österreich in seiner Antwort an die Kommission vom 8. April 2020 zwar angegeben, dass die spätere Übung nach Annahme der Resolution vom 25. November 1994 und der Satzung der Klägerin, insbesondere der Abschluss von Sitzabkommen, darauf hindeute, dass die Klägerin internationale Rechtspersönlichkeit in dem für die Ausübung ihrer Aufgaben erforderlichen Umfang erlangt habe. Außerdem hat Belgien in seiner Antwort an die Kommission vom 30. Juni 2020 das Sitzabkommen erwähnt, das es mit der Klägerin geschlossen habe.
362 Indessen geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission der Ansicht war, dass die Anerkennung des Status der Klägerin als internationale Organisation durch Staaten, die nicht Mitglieder dieser Einrichtung seien, nicht ausreiche, um festzustellen, dass die Klägerin die Kriterien für die Definition internationaler Organisationen erfülle, die im Völkerrecht, insbesondere durch die im Artikelentwurf niedergelegten Grundsätze, festgelegt seien.
363 Insoweit geht aus den vorstehenden Rn. 204 bis 212 und 323 bis 325 hervor, dass sich die Anerkennung des Status einer internationalen Organisation aus der Willensübereinstimmung der Staaten und gegebenenfalls der internationalen Organisationen ergibt, die Vertragsparteien des Abkommens zur Gründung der betreffenden Organisation sind, wobei diese Absicht eindeutig aus diesem Gründungsabkommen, aus späteren Abkommen oder aus der späteren Übung zu diesem Gründungsabkommen hervorgehen muss, vorausgesetzt, dass diese späteren Abkommen und diese spätere Übung eine solche Anerkennung durch alle Parteien des Gründungsabkommens zum Ausdruck bringen.
364 Der Umstand, dass Staaten, die dem Gründungsabkommen einer Organisation nicht beigetreten und nicht oder nicht mehr Mitglieder dieser Organisation sind, diese als internationale Organisation betrachten, kann somit keine Verpflichtung für die Kommission nach sich ziehen, dieser Organisation den Status einer internationalen Organisation zuzuerkennen, um ihr insbesondere zu gestatten, den Unionshaushalt in indirekter Mittelverwaltung auszuführen.
365 Folglich ist der Kommission kein Rechtsfehler unterlaufen, als sie bei Erlass des angefochtenen Beschlusses die Sitzabkommen, die die Klägerin mit den oben in Rn. 360 genannten Staaten geschlossen hat, nicht berücksichtigte; somit ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
3) Zur dritten Rüge: Rechtsfehler der Kommission wegen Nichtberücksichtigung dessen, dass die Mitglieder der Klägerin sie nicht aufgelöst hätten und sie den Grundsatz der Spezialität erfülle
366 Zur Stützung der dritten Rüge macht die Klägerin geltend, die Kommission habe den angefochtenen Beschluss dadurch rechtsfehlerhaft erlassen, dass sie zum einen nicht berücksichtigt habe, dass die Staaten, die sie gegründet hätten, sie trotz ihres ursprünglich vorübergehenden Charakters nie aufgelöst hätten, und zum anderen nicht berücksichtigt habe, dass sie dem Grundsatz der Spezialität entspreche.
367 In dieser Hinsicht haben die Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994, die der Klägerin beigetreten sind, bei der Annahme der Satzungen von 2008 und 2012 zwar beabsichtigt, der Klägerin eine gewisse Stabilität zu verleihen und ihr spezielle Aufgaben in den Bereichen Wiederaufbau und Entwicklung zu übertragen, die über das Hoheitsgebiet von Bosnien-Herzegowina hinausgingen.
368 Jedoch ergibt sich aus der Prüfung der zweiten Rüge des zweiten Teils des vorliegenden Klagegrundes und der ersten Rüge des vorliegenden Teils, dass weder die Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 noch die Mitglieder der Klägerin einstimmig oder zumindest mehrheitlich die Absicht geäußert hätten, der Klägerin den Status einer internationalen Organisation zu verleihen.
369 Dass die Mitglieder der Klägerin diese nicht aufgelöst haben und dass sie dem Grundsatz der Spezialität entspricht, reicht nicht aus, um eine solche Absicht zu belegen, und ist daher für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses unerheblich.
370 Daher ist die vorliegende Rüge und sind infolgedessen der dritte Teil sowie der vierte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
5. Zum zweiten und zum dritten Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht bzw. die Pflicht zur Unparteilichkeit
a)
Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht
371 Zur Stützung des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes rügt die Klägerin im Wesentlichen sieben Fehler der Kommission: erstens bei der Bestimmung der Staaten, die zum rechtlichen Status der Klägerin befragt werden sollten, zweitens in Bezug auf die Tragweite des Sitzabkommens, das die Klägerin mit den belgischen Behörden geschlossen habe, drittens bei der Definition des Begriffs „internationale Organisation“, viertens, dass sie ihr bereits vorliegende Unterlagen nicht berücksichtigt habe, fünftens Fehler aufgrund der Unvollständigkeit des Fragebogens, den die Kommission an die Staaten gerichtet habe, die Mitglieder der Klägerin gewesen sein sollen, sechstens, dass ihre Aufforderung an die befragten Staaten, das ordnungsgemäß unterzeichnete Gründungsabkommen vorzulegen, nicht zweckdienlich gewesen sei, und siebtens, dass die Kommission die befragten Staaten nicht ein zweites Mal konsultiert habe, nachdem sie die Stellungnahmen der Klägerin vom 5. und 30. März 2021 erhalten habe.
372 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Sorgfaltspflicht, die dem in Art. 41 der Charta verankerten Grundsatz der guten Verwaltung innewohnt und allgemein für das Handeln der Unionsverwaltung in ihren Beziehungen zur Öffentlichkeit gilt, die Unionsorgane verpflichtet, sorgsam und umsichtig zu handeln und alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 168 und die dort angeführte Rechtsprechung).
373 In Anbetracht des Inhalts der Sorgfaltspflicht überschneidet sich der Klagegrund der Verletzung dieser Pflicht häufig mit dem Klagegrund, mit dem ein offensichtlicher Beurteilungsfehler beanstandet wird (Urteil vom 16. Juni 2022, SGL Carbon u. a./Kommission, C‑65/21 P und C‑73/21 P bis C‑75/21 P, EU:C:2022:470, Rn. 32).
374 Denn die Sorgfaltspflicht ist von den Unionsorganen bei der Ausübung ihres Ermessens zu beachten. Wenn sich eine Partei darauf beruft, das zuständige Organ habe einen offensichtlichen Ermessensfehler begangen, hat der Unionsrichter mithin zu kontrollieren, ob dieses Organ sorgsam und umsichtig alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2022, SGL Carbon u. a./Kommission, C‑65/21 P und C‑73/21 P bis C‑75/21 P, EU:C:2022:470, Rn. 30 und 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
375 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin im Rahmen des vierten Klagegrundes der Kommission vorgeworfen, mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler begangen zu haben; dieses Vorbringen überschneidet sich mit dem Vorbringen zur Stützung des vorliegenden Teils.
376 Da sich aber aus vorstehender Rn. 370 ergibt, dass der vierte Klagegrund, mit dem u. a. mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler geltend gemacht werden, als unbegründet zurückzuweisen ist, kann die Klägerin folglich der Kommission nicht vorwerfen, sie habe ihre Situation nicht sorgsam und umsichtig geprüft und habe dadurch beim Erlass des angefochtenen Beschlusses gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen.
377 Hinsichtlich der ersten Rüge, die Kommission habe zum einen zu Unrecht die Türkei zum rechtlichen Status der Klägerin befragt und zum anderen Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Myanmar/Burma sowie Serbien nicht befragt, ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass sich die Klägerin nach der Verkündung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), geweigert hat, der Kommission mitzuteilen, wer ihre Mitglieder sind.
378 In diesem Zusammenhang kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kommission ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe, indem sie die Staaten befragte, die die Klägerin am 26. November 2019 auf ihrer eigenen Website als ihre Mitglieder aufgeführt hatte und zu denen die Türkei gehörte.
379 In Bezug auf Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Myanmar/Burma und Serbien, die unstreitig keine Mitglieder der Klägerin sind, ergibt sich aus der Prüfung des zweiten Arguments der zweiten Rüge im dritten Teil des vierten Klagegrundes, dass etwaige Stellungnahmen dieser Staaten zu der Frage, ob die Klägerin eine internationale Organisation sei, für den Erlass des angefochtenen Beschlusses unerheblich waren.
380 Hinsichtlich der zweiten Rüge, mit der ein Fehler der Kommission in Bezug auf die Tragweite des zwischen den belgischen Behörden und der Klägerin geschlossenen Sitzabkommens geltend gemacht wird, ergibt sich ebenfalls aus der Prüfung des zweiten Arguments der zweiten Rüge im dritten Teil des vierten Klagegrundes, dass die Tragweite dieses Abkommens für den Erlass des angefochtenen Beschlusses unerheblich war, da Belgien zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des angefochtenen Beschlusses nicht mehr Mitglied der Klägerin war, wie aus der Prüfung des zweiten Arguments der zweiten Rüge im ersten Teil des vierten Klagegrundes hervorgeht.
381 Hinsichtlich der dritten Rüge, mit der ein Fehler der Kommission in Bezug auf die Definition des Begriffs „internationale Organisation“ geltend gemacht wird, die von der in den Leitlinien vorgesehenen Definition abweiche, ergibt sich aus der Prüfung des vierten Klagegrundes, dass die Kommission den angefochtenen Beschluss nicht dadurch rechtsfehlerhaft erlassen hat, dass sie die sich insbesondere aus dem Wiener Übereinkommen und dem Artikelentwurf ergebende Definition dieses Begriffs herangezogen hat.
382 Zudem geht aus den Leitlinien nicht hervor, dass sich die Definition des Begriffs „internationale Organisation“ in diesem Dokument von derjenigen unterscheidet, auf die sich die Kommission beim Erlass des angefochtenen Beschlusses gestützt hat.
383 Hinsichtlich der vierten Rüge, die Kommission habe die ihr bereits vorliegenden Unterlagen nicht berücksichtigt, ergibt sich aus der Prüfung des vierten Klagegrundes, dass die verschiedenen von der Klägerin vorgelegten Dokumente, die zumeist dem Untersuchungsbericht des OLAF als Anlage beigefügt sind, nicht die einstimmige oder mehrheitliche Absicht der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 oder zumindest der Mitglieder der Klägerin belegen, ihr den Status einer internationalen Organisation zu verleihen.
384 Hinsichtlich der fünften Rüge, mit der die Unvollständigkeit des Fragebogens geltend gemacht wird, den die Kommission an die angeblichen Mitgliedstaaten der Klägerin gerichtet hat, geht aus diesem Fragebogen hervor, dass die Kommission die betreffenden Staaten nicht nur danach gefragt hat, ob sie Mitglieder der Klägerin seien oder gewesen seien und ob sie ein internationales oder zwischenstaatliches Abkommen unterzeichnet hätten, mit dem die Klägerin als internationale Organisation gegründet worden sei, sondern auch, ob sie der Ansicht seien, dass die Klägerin die Voraussetzungen erfülle, um als internationale Organisation im Sinne der Finanzregelung der Union angesehen zu werden, so dass diese Rüge im Hinblick auf die oben in den Rn. 197 bis 212 wiedergegebene Definition des Begriffs „internationale Organisation“ als unbegründet zurückzuweisen ist.
385 Auch die sechste Rüge, dass die Aufforderung der Kommission an die befragten Staaten, das ordnungsgemäß unterzeichnete Gründungsabkommen der Klägerin vorzulegen, nicht zweckdienlich gewesen sei, ist als unbegründet zurückzuweisen, wie sich aus der Prüfung des dritten Arguments der ersten Rüge im zweiten Teil des vierten Klagegrundes ergibt.
386 Hinsichtlich der siebten Rüge, dass die Kommission die befragten Staaten nicht ein zweites Mal konsultiert habe, nachdem sie die Stellungnahmen der Klägerin vom 5. und 30. März 2021 erhalten habe, ergibt sich aus der Prüfung des vierten Klagegrundes, dass diese in der Klageschrift wiederholten Stellungnahmen nicht geeignet waren, die Schlussfolgerung der Kommission zu entkräften, wonach die Klägerin keine internationale Organisation sei.
387 Folglich hat die Kommission nicht gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen, indem sie es unterließ, die von ihr befragten Staaten nach Erhalt der Stellungnahmen der Klägerin ein zweites Mal zu konsultieren; daher ist diese Rüge unbegründet.
388 Nach alledem ist der zweite Teil des dritten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
b)
Zum dritten Teil: Verstoß gegen die Pflicht zur Unparteilichkeit
389 Zur Stützung des dritten Teils trägt die Klägerin im Wesentlichen vier Rügen vor, mit denen sie geltend macht, dass die Kommission gegen die Pflicht zur Unparteilichkeit in ihrer objektiven Dimension verstoßen habe: erstens, indem sie an die zur Befragung ausgewählten Staaten Fragen gerichtet habe, die nicht erheblich, zweckdienlich oder mit der Rechts- bzw. der Aktenlage vereinbar gewesen seien, zweitens, indem sie dem Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), eine ihm offensichtlich nicht zukommende Bedeutung beigemessen und vorgetragen habe, sie sei verpflichtet, eine Neubewertung des rechtlichen Status der Klägerin vorzunehmen, wodurch die Antworten dieser Staaten beeinflusst worden seien, drittens, indem sie gegenüber der Klägerin unzutreffende Äußerungen gemacht habe, und viertens, indem sie Druck auf diese Staaten ausgeübt habe, um Antworten zu erhalten, die ihre Position stärker stützen würden.
390 In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass es den Organen obliegt, dem Erfordernis der Unparteilichkeit in seinen beiden Ausprägungen Rechnung zu tragen, nämlich zum einen der subjektiven Unparteilichkeit, wonach kein Mitglied des befassten Organs Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen darf, und zum anderen der objektiven Unparteilichkeit, wonach das Organ hinreichende Garantien bieten muss, um jeden berechtigten Zweifel im Hinblick auf etwaige Vorurteile auszuschließen (vgl. Beschluss vom 24. Mai 2022, Puigdemont i Casamajó u. a./Parlament und Spanien, C‑629/21 P(R), EU:C:2022:413, Rn. 199 und die dort angeführte Rechtsprechung).
391 Insbesondere wenn die klagende Partei einen Verstoß gegen die objektive Unparteilichkeit geltend macht, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass es nicht erforderlich ist, eine mangelnde Unparteilichkeit darzutun, um nachzuweisen, dass die Organisation eines Verwaltungsverfahrens keine hinreichenden Garantien bietet, um jeden berechtigten Zweifel in Bezug auf etwaige Vorurteile auszuschließen, sondern es genügt, dass insoweit ein berechtigter Zweifel besteht und nicht ausgeräumt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2019, August Wolff und Remedia/Kommission, C‑680/16 P, EU:C:2019:257, Rn. 37).
392 Was zunächst die erste Rüge betrifft, dass die Kommission an die befragten Staaten nicht zweckdienliche, unerhebliche und nicht mit dem Recht bzw. der Aktenlage vereinbare Fragen gerichtet habe, geht aus den Akten nicht hervor, dass im Hinblick auf die oben in den Rn. 197 bis 212 genannte Definition des Begriffs der „internationalen Organisation“ die Fragen der Kommission an die zur Befragung ausgewählten Staaten, die sich auf eine etwaige Unterzeichnung oder Ratifikation des Gründungsabkommens der Klägerin sowie auf Vollmachten bezogen, die den Unterzeichnern dieses Abkommens möglicherweise gewährt wurden, nicht zweckdienlich, unerheblich oder nicht mit der Rechts- bzw. der Aktenlage vereinbar gewesen wären.
393 Was ferner die anderen Formen betrifft, in denen die Staaten ihre Zustimmung, durch die Resolution vom 25. November 1994 gebunden zu sein, zum Ausdruck bringen konnten, nennt die Kommission in ihren Schreiben an die befragten Staaten zwar keine anderen Formen als die Unterzeichnung und Ratifikation dieser Urkunde.
394 Dennoch vermag dieser Umstand nicht zu belegen, dass das Konsultationsverfahren der Kommission mit den von ihr als Mitglieder oder ehemalige Mitglieder der Klägerin angenommenen Staaten keine hinreichenden Garantien geboten hätte, um jeden berechtigten Zweifel im Hinblick auf etwaige Vorurteile oder auf ein etwaiges parteiisches Verhalten ihrerseits auszuschließen.
395 Denn in den Schreiben an die genannten Staaten hat die Kommission eine allgemeine Frage gestellt, um zu erfahren, ob diese sich als Mitglieder der Klägerin betrachteten. Daher stand es den befragten Staaten frei, anzugeben, ob sie dem Gründungsabkommen der Klägerin in anderer Form zugestimmt hatten, sofern sie es nicht unterzeichnet oder ratifiziert hatten.
396 Im Übrigen ergibt sich aus der oben in den Rn. 197 bis 212 genannten Definition des Begriffs „internationale Organisation“ und aus der Prüfung des zweiten Arguments der zweiten Rüge im dritten Teil des vierten Klagegrundes, dass die Klägerin der Kommission nicht vorwerfen kann, sie habe die von ihr befragten Staaten nicht danach gefragt, ob sie die Klägerin unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in dieser Organisation als internationale Organisation betrachteten, behandelten oder einstuften.
397 Folglich ist die erste Rüge des dritten Teils des zweiten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
398 Sodann ist auch die zweite Rüge, mit der geltend gemacht wird, die Kommission habe dem Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), eine ihm nicht zukommende Bedeutung beigemessen, als unbegründet zurückzuweisen, nachdem der erste Teil des ersten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen Art. 266 AEUV und ein Verstoß gegen die Rechtskraft des genannten Urteils geltend gemacht wird, sowie die zweite Rüge des zweiten Teils desselben Klagegrundes, mit der ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot für Unionsrechtsakte geltend gemacht wird, zurückgewiesen wurden.
399 Denn aus den vorstehenden Rn. 105, 120 und 149 ergibt sich, dass die Kommission keinen Fehler bei der Auslegung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), gemacht hat, als sie davon ausging, die ordnungsgemäße Durchführung des Urteils verpflichte sie dazu, den rechtlichen Status der Klägerin neu zu bewerten.
400 Zur Stützung der dritten Rüge, mit der geltend gemacht wird, dass der Kommission in ihrem Schriftverkehr mit den von ihr befragten Staaten mehrere Ungenauigkeiten unterlaufen seien, wirft schließlich die Klägerin erstens der Kommission vor, sowohl in den Schreiben vom 26. November 2019 an die genannten Staaten als auch in den Erinnerungsschreiben vom 11. März 2020 darauf hingewiesen zu haben, dass sie verpflichtet sei, den Status der Klägerin nach Art. 266 AEUV zu bewerten.
401 Jedoch kann die Klägerin angesichts der Zurückweisung der ersten Rüge im ersten Teil des ersten Klagegrundes, mit der ein Verstoß gegen Art. 266 AEUV geltend gemacht wird, auch nicht mit Erfolg einwenden, diese Angabe sei fehlerhaft.
402 Zweitens wirft die Klägerin der Kommission vor, in den Schreiben vom 26. November 2019 darauf hingewiesen zu haben, dass die Klägerin sich geweigert habe, der Kommission ihr Gründungsabkommen vorzulegen.
403 Tatsächlich hatte die Kommission die Klägerin mit Schreiben vom 6. Mai 2019 aufgefordert, ihr u. a. „eine beglaubigte Kopie des (unterzeichneten) internationalen Abkommens über die Gründung von IMG als internationale Organisation“ sowie „jedes Dokument, das sich noch nicht in [ihrem] Besitz befindet … und das den Status von IMG als internationale Organisation und die Identität [ihrer] derzeitigen oder früheren Mitglieder bestätigt“, zu übermitteln.
404 In ihrer Antwort vom 25. Juni 2019 ist die Klägerin jedoch der Aufforderung der Kommission aus grundsätzlichen Erwägungen mit der Begründung entgegengetreten, dass ihre frühere Anerkennung als internationale Organisation, insbesondere durch die Union, in Anwendung der Regeln des Völkerrechts nicht in Frage gestellt werden könne. Sie ist dieser Aufforderung also nicht nachgekommen.
405 Zudem hat die Klägerin nicht auf das Erinnerungsschreiben der Kommission vom 18. Juli 2019 geantwortet.
406 Daher ist die Angabe nicht unzutreffend, dass die Klägerin sich geweigert habe, der Kommission das Abkommen, mit dem sie gegründet worden sei, vorzulegen.
407 Sofern die Klägerin außerdem vorbringt, die Weigerung zu kooperieren sei dadurch gerechtfertigt gewesen, dass die Kommission bereits über ihre Gründungsdokumente verfüge, ist eine solche Rechtfertigung in ihrer Antwort vom 25. Juni 2019 nicht enthalten.
408 Folglich stand es der Kommission frei, den von ihr zur Befragung ausgewählten Staaten mitzuteilen, dass die Klägerin sich geweigert habe, ihr das Gründungsabkommen vorzulegen, ohne dass dies als Beleg dafür geeignet wäre, dass dieses Konsultationsverfahren keine hinreichenden Garantien böte, um jeden berechtigten Zweifel im Hinblick auf etwaige Vorurteile oder ein etwaiges parteiisches Verhalten seitens der Kommission auszuschließen.
409 Drittens wirft die Klägerin der Kommission vor, u. a. im E‑Mail-Verkehr mit den türkischen und italienischen Behörden ausgeführt zu haben, dass das Gericht mit seinem Beschluss vom 9. September 2020, IMG/Kommission (T‑645/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:388), erklärt habe, dass die Kommission das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), ordnungsgemäß durchführe.
410 Insoweit hat das Gericht in Rn. 69 des Beschlusses vom 9. September 2020, IMG/Kommission (T‑645/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:388), im Wesentlichen entschieden, dass das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die Kommission zur Durchführung des Urteils keine erneute Prüfung des Status der Klägerin als internationale Organisation durchführen dürfte, nachdem sie die von ihr als notwendig erachteten Informationen erhalten hat, sondern im Gegenteil dahin ausgelegt werden muss, dass eine erneute Prüfung als notwendige Folge dieses Urteils angesehen werden kann.
411 Darüber hinaus hat der Gerichtshof mit Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission (C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722), das von der Klägerin gegen den Beschluss vom 9. September 2020, IMG/Kommission (T‑645/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:388), eingelegte Rechtsmittel zurückgewiesen.
412 Daher ist der in verschiedenen Erinnerungsmails der Kommission enthaltene Hinweis, das Gericht habe entschieden, dass die Kommission das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), ordnungsgemäß durchführe, offenbar nicht unzutreffend, so dass diese dritte Rüge als unbegründet zurückzuweisen ist.
413 Zuletzt beruft sich die Klägerin zur Stützung der vierten Rüge, die Kommission habe auf einige der befragten Staaten Druck ausgeübt, um Antworten zu erhalten, die ihre Position stärker stützen würden, auf den Schriftwechsel zwischen der Kommission und den dänischen Behörden vom 5. und 12. Juni 2020, in denen die Kommission diese Behörden um eine Erklärung gebeten habe, ob Dänemark ein internationales Abkommen zur Gründung der Klägerin als internationale Organisation unterzeichnet habe, da die Kommission befürchtet habe, dass die erste Antwort der genannten Behörden im Fall einer Klage vom Gericht oder vom Gerichtshof als nicht hinreichend schlüssig angesehen werden könne.
414 In diesem Zusammenhang geht aus dem Schreiben des Ständigen Vertreters Dänemarks bei der Union vom 4. Juni 2020 hervor, dass die dänischen Behörden auf die Frage, ob Dänemark ein internationales Abkommen zur Gründung der Klägerin als internationale Organisation unterzeichnet habe, zunächst geantwortet haben, dass sie ein entsprechend unterzeichnetes Dokument nicht hätten finden können. Im Anschluss an den oben in Rn. 413 genannten E‑Mail-Austausch zwischen der Kommission und den besagten Behörden vom 5. und 12. Juni 2020 hat die Ständige Vertretung Dänemarks bei der Union am 18. Juni 2020 dann ein weiteres Schreiben übersandt, das in dem von der Kommission erbetenen Sinne abgeändert war.
415 Die oben in Rn. 414 dargestellten Umstände belegen jedoch das Anliegen der Kommission, von den dänischen Behörden eine klare Antwort auf die Frage zu erhalten, ob Dänemark ein internationales Abkommen zur Gründung der Klägerin als internationale Organisation unterzeichnet habe. Folglich bieten sie keinen Anlass für berechtigte Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Kommission in Bezug auf die Frage nach dem Status der Klägerin.
416 Folglich ist die dritte Rüge im dritten Teil des zweiten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen, weshalb auch der dritte Teil insgesamt sowie der zweite Klagegrund insgesamt zurückzuweisen sind.
417 Nach alledem sind die Anträge auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zurückzuweisen.
C. Zum Antrag auf Schadensersatz
418 Zur Begründung des Schadensersatzanspruchs macht die Klägerin zwei Schadenspositionen geltend, die zwei verschiedene Teile darstellen. Im Rahmen des ersten Teils beantragt sie Schadensersatz in Höhe von 20000 Euro aufgrund der unangemessenen Verfahrensdauer für den Erlass des angefochtenen Beschlusses. Im Rahmen des zweiten Teils beantragt sie Schadensersatz in Höhe von 23651903 Euro als Ausgleich für finanzielle und immaterielle Schäden, die sie auf die Rechtsverstöße im angefochtenen Beschluss zurückführt, der die Beschlüsse vom 16. Dezember 2014 und 8. Mai 2015 ersetzt habe.
419 Die Kommission hält das Vorbringen der Klägerin für unbegründet.
1. Zu den Voraussetzungen der Haftung der Unionsorgane
420 Vorab ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die außervertragliche Haftung der Union in einem konkreten Fall nur dann ausgelöst werden kann, wenn – neben weiteren Voraussetzungen – die Person, die den Ersatz des Schadens oder der Schäden verlangt, die sie durch ein Verhalten oder einen Rechtsakt der Union erlitten zu haben glaubt, den Nachweis erbringt, dass ein Verstoß gegen eine Rechtsnorm vorliegt, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen (vgl. Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 145 und die dort angeführte Rechtsprechung).
421 Außerdem muss der Verstoß hinreichend qualifiziert sein; dieses Erfordernis hängt wiederum von dem Wertungsspielraum des Organs der Union, dem der Verstoß angelastet wird, sowie davon ab, ob die Grenzen dieses Spielraums in Anbetracht u. a. des Grades an Klarheit und Präzision der betreffenden Norm, etwaiger bei ihrer Auslegung oder Anwendung auftretender Schwierigkeiten sowie der Komplexität des zu regelnden Sachverhalts in offenkundiger und schwerwiegender Weise überschritten wurden (vgl. Urteil vom 22. September 2022, IMG/Kommission, C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722, Rn. 146 und die dort angeführte Rechtsprechung).
422 Zweitens muss jeder Schaden, dessen Wiedergutmachung im Rahmen einer Klage wegen außervertraglicher Haftung der Union nach Art. 340 Abs. 2 AEUV begehrt wird, tatsächlich und sicher sein. In jedem Fall ist es Sache der Partei, die sich auf die außervertragliche Haftung der Union beruft, insbesondere schlüssige Beweise sowohl für das Vorliegen als auch für den Umfang des von ihr geltend gemachten Schadens zu erbringen (vgl. Urteil vom 5. September 2019, Europäische Union/Guardian Europe und Guardian Europe/Europäische Union, C‑447/17 P und C‑479/17 P, EU:C:2019:672, Rn. 135 und die dort angeführte Rechtsprechung).
423 Daher kann das Vorliegen eines tatsächlichen und sicheren Schadens von den Unionsgerichten nicht abstrakt beurteilt werden, sondern ist vielmehr anhand der konkreten tatsächlichen Umstände zu prüfen, die den jeweiligen ihnen unterbreiteten Fall kennzeichnen (vgl. Urteil vom 18. November 2021, Mahmoudian/Rat, C‑681/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:933, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
424 Drittens bezieht sich die Voraussetzung des Kausalzusammenhangs darauf, dass ein hinreichend unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verhalten des betroffenen Organs und dem Schaden in der Weise besteht, dass das gerügte Verhalten die entscheidende Ursache für den Schaden sein muss, wobei die klagende Partei die Beweislast für diesen Zusammenhang trägt (vgl. Urteil vom 27. April 2023, Fondazione Cassa di Risparmio di Pesaro u. a./Kommission, C‑549/21 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2023:340, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).
425 Denn es ist Sache der Partei, die sich auf die außervertragliche Haftung der Union beruft, schlüssige Beweise für das Bestehen eines hinreichend unmittelbaren ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten des fraglichen Organs und dem geltend gemachten Schaden zu erbringen (vgl. Urteil vom 30. Mai 2017, Safa Nicu Sepahan/Rat, C‑45/15 P, EU:C:2017:402, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
426 Nach einem allgemeinen, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen und auch von den Unionsgerichten angewendeten Grundsatz muss sich allerdings der Geschädigte in angemessener Form um die Begrenzung des Schadensumfangs bemühen, wenn er nicht Gefahr laufen will, den Schaden selbst tragen zu müssen (vgl. Beschluss vom 12. Mai 2010, Pigasos Alieftiki Naftiki Etaireia/Rat und Kommission, C‑451/09 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:268, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
427 Denn der Kausalzusammenhang kann durch ein nachlässiges Verhalten des Geschädigten unterbrochen werden, wenn sich herausstellt, dass dieses Verhalten ausschlaggebend für den Schaden war (Urteil vom 18. März 2010, Trubowest Handel und Makarov/Rat und Kommission, C‑419/08 P, EU:C:2010:147, Rn. 61).
428 Anhand dieser Grundsätze hat das Gericht die von der Klägerin gestellten Schadensersatzanträge zu prüfen.
2. Zum ersten Teil: Antrag auf Schadensersatz aufgrund der Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer
429 Zur Stützung des ersten Teils macht die Klägerin geltend, dass es nach der Verkündung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), mehr als zwei Jahre gedauert habe, bis die Kommission den angefochtenen Beschluss erlassen habe, und dass diese Verfahrensdauer unangemessen sei, so dass sie eine Schadensersatzpflicht der Kommission in Höhe von 20000 Euro nach sich ziehe.
430 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Unionsorgane die Verpflichtung haben, ihre Befugnisse im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, insbesondere dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, auszuüben, der nunmehr ausdrücklich in Art. 41 der Charta verankert ist. Dessen Abs. 1 bestimmt konkret, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Angelegenheiten von den Organen der Union u. a. innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden (vgl. Urteil vom 12. Mai 2022, Klein/Kommission,C‑430/20 P, EU:C:2022:377, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).
431 Somit obliegt es der betreffenden Verwaltungsbehörde, innerhalb eines angemessenen Zeitraums Stellung zu nehmen (wenn sie dies tun soll) und ein eingeleitetes Verfahren abzuschließen (Urteil vom 12. Mai 2022, Klein/Kommission, C‑430/20 P, EU:C:2022:377, Rn. 89).
432 Zudem ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht nach Maßgabe einer präzisen, abstrakt festgelegten Obergrenze zu bestimmen. Sie ist anhand der Umstände der jeweiligen Sache zu beurteilen, insbesondere anhand der Interessen, die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, der Komplexität der Angelegenheit und der verschiedenen von dem Unionsorgan abgeschlossenen Verfahrensschritte sowie des Verhaltens der Parteien im Laufe des Verfahrens. Insoweit ist die Liste der relevanten Kriterien nicht abschließend, und die Beurteilung der Angemessenheit dieses Zeitraums erfordert keine systematische Prüfung der Umstände des Falls durch den Unionsrichter anhand jedes Kriteriums (vgl. Urteil vom 12. Mai 2022, Klein/Kommission, C‑430/20 P, EU:C:2022:377, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).
433 Im vorliegenden Fall ist zunächst zu prüfen, ob die von der Kommission für den Erlass des angefochtenen Beschlusses benötigte Zeit eine angemessene Verfahrensdauer überschritten hat, so dass die Kommission gegen die oben in den Rn. 430 und 431 genannten Anforderungen verstoßen hätte.
434 Erstens ist festzustellen, dass der Zeitraum von drei Monaten zwischen der Verkündung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), und dem Schreiben vom 6. Mai 2019, in dem die Kommission die Klägerin zur Vorlage bestimmter Dokumente aufgefordert hat, angesichts der rechtlichen Komplexität des Falls und dieses Urteils nicht als unangemessen angesehen werden kann.
435 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 190 und 191 des Urteils vom 22. September 2022, IMG/Kommission (C‑619/20 P und C‑620/20 P, EU:C:2022:722), bestätigt hat, dass der Begriff der „internationalen Organisation“, auf den sich die Finanzregelung der Union bezieht, ein allgemeiner Begriff ist, dessen Auslegung für die Zwecke dieser Finanzregelung Schwierigkeiten bereiten kann, da insbesondere keine Rechtsprechung zu diesem Thema vorliegt, und dass sich auch die Anwendung dieses Begriffs im vorliegenden Fall als komplex erweisen und angesichts der besonderen Situation der Klägerin zu Schwierigkeiten bei der rechtlichen Qualifizierung des Sachverhalts führen kann.
436 Zweitens kann die Klägerin der Kommission auch nicht vorwerfen, der Zeitraum zwischen dem 6. Mai und dem 18. Juli 2019, in dem die Kommission versucht hat, das Urteil vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), durch schriftlichen Austausch mit der Klägerin durchzuführen, sei unangemessen lang gewesen; das Gleiche gilt für den Zeitraum zwischen dem 18. Juli 2019, als die Kommission ihr Ersuchen vom 6. Mai 2019 gegenüber der Klägerin wiederholte, und dem 26. November 2019, als die Kommission ihre Auskunftsersuchen an die vermeintlichen Mitgliedstaaten der Klägerin richtete.
437 Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Gesamtdauer von zwei Jahren, vier Monaten und acht Tagen, nach deren Ablauf der angefochtene Beschluss erlassen wurde, den Zeitraum einschließt, in dem die Kommission die befragten Staaten konsultierte, weil die Klägerin sich geweigert hatte, der Kommission ihre ordnungsgemäß unterzeichneten und mit Nachweisen versehenen Gründungsdokumente vorzulegen.
438 Folglich ist dieser Teil der in Streit stehenden Verfahrensdauer zwischen dem 6. Mai 2019 und dem 10. Februar 2021, dem Zeitpunkt der letzten Antwort auf die von der Kommission eingeleitete Konsultation, nicht der Kommission, sondern der Klägerin anzulasten, die nach der Verkündung des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P, EU:C:2019:78), nicht die gebotene Sorgfalt walten ließ.
439 Drittens kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kommission zwischen dem 10. Februar und dem 19. Februar 2021, dem Zeitpunkt, als sie der Klägerin ihren Entwurf eines Beschlusses übermittelte, um ihre Stellungnahme einzuholen, nicht unverzüglich gehandelt habe. Darüber hinaus kann sich die Klägerin nicht über den Zeitraum von etwas mehr als drei Monaten zwischen dem 19. Februar und dem 8. Juni 2021 beklagen, der sowohl die ihr gesetzte Frist zur Übermittlung der Stellungnahme als auch die Zeit umfasste, die bei der Kommission für die angemessene Berücksichtigung ihrer Stellungnahme entsprechend dem Recht der Klägerin auf Anhörung verstrichen ist.
440 Aus dem Vorstehenden ergibt sich somit, dass die von der Kommission für die Ausarbeitung und den Erlass des angefochtenen Beschlusses in Anspruch genommene Zeit nicht unangemessen im Sinne der oben in den Rn. 430 und 431 genannten Rechtsprechung ist.
441 Sodann ist festzustellen, dass die Klägerin keinen materiellen oder immateriellen Schaden nachweist, der sich aus dem zur Stützung dieses Antrags behaupteten Verstoß ergeben hätte.
442 Dieser Teil ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
3. Zum zweiten Teil: Antrag auf Ersatz des angeblich durch den angefochtenen Beschluss entstandenen finanziellen und immateriellen Schadens
443 Mit dem zweiten Teil beantragt die Klägerin, die Kommission zu verurteilen, an sie 8651903 Euro als Ersatz des finanziellen Schadens, der ihr durch den angefochtenen Beschluss entstanden sein soll, sowie 15 Mio. Euro als Ersatz für ihren immateriellen Schaden zu zahlen.
444 Insoweit ergibt sich aus der vorstehenden Rn. 417, dass die Anträge auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zurückgewiesen wurden, so dass die oben in Rn. 420 genannte erste Voraussetzung für die außervertragliche Haftung der Union, nämlich ein Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, nicht erfüllt ist.
445 Zudem hat die Kommission den angefochtenen Beschluss zwar insoweit rechtsfehlerhaft erlassen, als sie es abgelehnt hat, die Resolution vom 25. November 1994 als internationales Abkommen anzuerkennen, doch bleiben diese Fehler ohne Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit des Beschlusses und können folglich nicht als unmittelbare und sichere Ursache der ihr von der Klägerin vorgeworfenen Schäden angesehen werden.
446 Die Klägerin beruft sich zur Stützung der im Rahmen des vorliegenden Teils ausgeführten Schadensersatzanträge auch nicht auf andere Rechtswidrigkeitsgründe als die, die sie zur Stützung ihrer Nichtigkeitsanträge vorgebracht hat.
447 Daher ist der zweite Teil der Schadensersatzanträge als unbegründet und sind infolgedessen diese Anträge insgesamt zurückzuweisen.
V. Kosten
448 Nach Art. 134 Abs. 1 und 3 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und jede Partei trägt ihre eigenen Kosten, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Schließlich kann das Gericht gemäß Art. 135 Abs. 1 der Verfahrensordnung aus Gründen der Billigkeit entscheiden, dass eine unterliegende Partei neben ihren eigenen Kosten nur einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt oder gar nicht zur Tragung dieser Kosten zu verurteilen ist.
449 Im vorliegenden Fall ist die Klägerin mit ihren Anträgen unterlegen. Allerdings wurde festgestellt, dass die Begründung des angefochtenen Beschlusses durch die Kommission insoweit rechtsfehlerhaft war, als sie die Resolution vom 25. November 1994 nicht als internationales Abkommen ansah, was die Klägerin dazu veranlasst haben kann, die vorliegende Klage zu erheben, um diese Rechtswidrigkeit feststellen zu lassen. Unter diesen Umständen hält es das Gericht für angemessen, jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Truchot
Kanninen
Frendo
Sampol Pucurull
Perišin
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 4. September 2024.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Verfahrensrechtliche Vorgeschichte
B. Gerichtliche Vorgeschichte
C. Verwaltungsrechtliche Folgen des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P)
D. Gerichtliche Folgen des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P)
II. Ereignisse nach Klageerhebung
III. Anträge der Parteien
IV. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
1. Zur Frage der Ordnungsgemäßheit der von der Klägerin ihren Anwälten erteilten Prozessvollmacht
2. Zur Zulässigkeit von Anlage A.24 zur Klageschrift
3. Zur Zulässigkeit von Anlage C.1 zur Erwiderung
B. Zum Antrag auf Nichtigerklärung
1. Zum ersten Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen die Begründungspflicht
2. Zum ersten Klagegrund: mehrere Rechtsfehler, insbesondere Verstöße gegen Art. 266 AEUV, gegen die Rechtskraft und gegen das Rückwirkungsverbot
a) Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 266 AEUV und gegen die Rechtskraft des Urteils vom 31. Januar 2019, International Management Group/Kommission (C‑183/17 P und C‑184/17 P)
1) Zur ersten Rüge: Verstoß gegen Art. 266 AEUV
2) Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen die Rechtskraft
b) Zum zweiten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, den Grundsatz „nemo auditur propriam turpitudinem allegans“ und das Rückwirkungsverbot
1) Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot von Rechtsakten der Union
2) Zur ersten Rüge: Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben sowie den Grundsatz „nemo auditur“
c) Zum dritten Teil: Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
4. Zum vierten Klagegrund: offensichtliche Beurteilungsfehler und andere Rechtsfehler
a) Zur Definition des in der Finanzregelung der Union enthaltenen Begriffs „internationale Organisation“
b) Zum ersten Teil: offensichtliche Beurteilungsfehler und Rechtsfehler bei der Bestimmung der Mitglieder der Klägerin
1) Zur ersten Rüge: offensichtlicher Beurteilungsfehler aufgrund einer künstlichen Unterscheidung zwischen den Gründungsstaaten der Klägerin, den beitragenden Staaten und den Mitgliedern ihres Lenkungsausschusses
2) Zur zweiten Rüge: offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Auslegung der Stellungnahmen Belgiens und Österreichs
i) Zum ersten Argument: offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Auslegung der Antwort der österreichischen Behörden
ii) Zum zweiten Argument: offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Auslegung der Antwort der belgischen Behörden
3) Zur dritten Rüge: Rechtsfehler und offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission durch ihre Weigerung, den Beitritt der Union zur Klägerin anzuerkennen
c) Zum zweiten Teil: Rechtsfehler der Kommission durch ihre Weigerung, die Resolution vom 25. November 1994 als internationales Abkommen zur Gründung einer internationalen Organisation anzusehen
1) Zur ersten Rüge: Rechtsfehler der Kommission durch ihre Weigerung, die Resolution vom 25. November 1994 als internationales Abkommen anzusehen
i) Zum ersten Argument: Rechtsfehler in Bezug auf die Rechtsverbindlichkeit der Resolution vom 25. November 1994
ii) Zum zweiten Argument: Rechtsfehler in Bezug auf das Erfordernis der Unterzeichnung der Resolution vom 25. November 1994 durch Vertreter mit entsprechenden Vollmachten
iii) Zum dritten Argument: Rechtsfehler in Bezug auf das Erfordernis von Unterzeichnungs- oder Ratifikationsurkunden für die Resolution vom 25. November 1994
iv) Zur Auswirkung der Begründetheit des ersten und des zweiten Arguments der vorliegenden Rüge auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses
2) Zur zweiten Rüge: Auslegungsfehler in Bezug auf die Absicht der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994, der Klägerin den Status einer internationalen Organisation zu verleihen
d) Zum dritten Teil: Rechtsfehler in Bezug auf die spätere Übung der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994 und die Anerkennung des Status einer internationalen Organisation durch die Union und bestimmte Staaten
1) Zur ersten Rüge: Rechtsfehler in Bezug auf die spätere Übung der Unterzeichner der Resolution vom 25. November 1994
2) Zur zweiten Rüge: Rechtsfehler der Kommission wegen Nichtberücksichtigung der Anerkennung der Klägerin als internationale Organisation durch die Union und einige Staaten
i) Zum ersten Argument: Verstoß der Kommission gegen die Art. 27 und 46 des Wiener Übereinkommens, indem sie die Klägerin nicht mehr als internationale Organisation anerkannt habe
ii) Zum zweiten Argument: Rechtsfehler der Kommission wegen Nichtberücksichtigung der von der Klägerin geschlossenen Sitzabkommen
3) Zur dritten Rüge: Rechtsfehler der Kommission wegen Nichtberücksichtigung dessen, dass die Mitglieder der Klägerin sie nicht aufgelöst hätten und sie den Grundsatz der Spezialität erfülle
5. Zum zweiten und zum dritten Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht bzw. die Pflicht zur Unparteilichkeit
a) Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht
b) Zum dritten Teil: Verstoß gegen die Pflicht zur Unparteilichkeit
C. Zum Antrag auf Schadensersatz
1. Zu den Voraussetzungen der Haftung der Unionsorgane
2. Zum ersten Teil: Antrag auf Schadensersatz aufgrund der Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer
3. Zum zweiten Teil: Antrag auf Ersatz des angeblich durch den angefochtenen Beschluss entstandenen finanziellen und immateriellen Schadens
V. Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Beschluss des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 27. Oktober 2023.#Nutmark, Lda (Zona Franca da Madeira) und Piamark, Lda (Zona Franca da Madeira) gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Freizone Madeira – Von Portugal durchgeführte Beihilferegelung – Beschluss, mit dem die Unvereinbarkeit der Regelung mit den Beschlüssen C(2007) 3037 final und C(2013) 4043 final festgestellt, diese Regelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und die Rückforderung der nach dieser Regelung gezahlten Beihilfen angeordnet wird – Begründungspflicht – Begriff ‚staatliche Beihilfe‘ – Bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung (EU) 2015/1589 – Rückforderung – Berechtigtes Vertrauen – Rechtssicherheit – Recht auf Privateigentum – Klage die offensichtlich jeder rechtlichen Grundlage entbehrt.#Rechtssachen T-714/22 und T-715/22.
|
62022TO0714
|
ECLI:EU:T:2023:700
| 2023-10-27T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62022TO0714 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Zweite erweiterte Kammer) vom 20. September 2023.#Magnetrol International u. a. gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Von Belgien durchgeführte Beihilferegelung – Beschluss, mit dem die Beihilferegelung als mit dem Binnenmarkt unvereinbar und rechtswidrig eingestuft und die Rückforderung der gezahlten Beihilfen angeordnet wird – Steuervorbescheid (tax ruling) – Steuerpflichtige Gewinne – Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse – Vorteil – Selektivität – Rückforderung.#Rechtssachen T-263/16 RENV, T-265/16, T-311/16, T-319/16, T-321/16, T-343/16, T-350/16, T-444/16, T-800/16 und T-832/16.
|
62016TJ0263(01)
|
ECLI:EU:T:2023:565
| 2023-09-20T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
|
62016TJ0263(01)
URTEIL DES GERICHTS (Zweite erweiterte Kammer)
20. September 2023 (*1)
„Staatliche Beihilfen – Von Belgien durchgeführte Beihilferegelung – Beschluss, mit dem die Beihilferegelung als mit dem Binnenmarkt unvereinbar und rechtswidrig eingestuft und die Rückforderung der gezahlten Beihilfen angeordnet wird – Steuervorbescheid (tax ruling) – Steuerpflichtige Gewinne – Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse – Vorteil – Selektivität – Rückforderung“
In den Rechtssachen T‑263/16 RENV, T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16,
Magnetrol International mit Sitz in Zele (Belgien), vertreten durch Rechtsanwalt H. Gilliams und Rechtsanwältin L. Goossens,
Klägerin in der Rechtssache T‑263/16 RENV,
unterstützt durch
Soudal NV mit Sitz in Turnhout (Belgien),
Esko-Graphics BVBA mit Sitz in Gent (Belgien),
vertreten durch Rechtsanwalt H. Viaene,
durch
Flir Systems Trading Belgium mit Sitz in Meer (Belgien), vertreten durch Rechtsanwältinnen C. Docclo und N. Reypens,
durch
Celio International SA mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten durch Rechtsanwalt Gilliams und Rechtsanwältin Goossens,
durch
Anheuser-Busch Inbev mit Sitz in Brüssel,
Ampar mit Sitz in Löwen (Belgien),
Atlas Copco Airpower mit Sitz in Antwerpen (Belgien)
und
Atlas Copco AB mit Sitz in Nacka (Schweden),
vertreten durch Rechtsanwälte A. von Bonin, O. W. Brouwer, A. Pliego Selie, T. van Helfteren und A. Haelterman,
und durch
ZF CV Systems Europe, vormals Wabco Europe, mit Sitz in Watermael-Boitsfort (Belgien), vertreten durch Rechtsanwältin E. Righini sowie Rechtsanwälte L. Villani, S. Völcker, K. Beikos-Paschalis und A. Papadimitriou,
Streithelferinnen in der Rechtssache T‑263/16 RENV,
Puratos mit Sitz in Dilbeek (Belgien),
Delta Light mit Sitz in Wevelgem (Belgien),
Ontex mit Sitz in Buggenhout (Belgien),
Klägerinnen in der Rechtssache T‑265/16,
Siemens Industry Software mit Sitz in Löwen,
Klägerin in der Rechtssache T‑311/16,
BASF Antwerpen NV mit Sitz in Antwerpen,
Klägerin in der Rechtssache T‑319/16,
Ansell Healthcare Europe NV mit Sitz in Anderlecht (Belgien),
Klägerin in der Rechtssache T‑321/16,
Trane mit Sitz in Zaventem (Belgien),
Klägerin in der Rechtssache T‑343/16,
Kinepolis Group mit Sitz in Brüssel,
Klägerin in der Rechtssache T‑350/16,
Vasco Group mit Sitz in Dilsen-Stokkem (Belgien),
Astra Sweets mit Sitz in Turnhout,
Klägerinnen in der Rechtssache T‑444/16,
Mayekawa Europe NV/SA mit Sitz in Zaventem,
Klägerin in der Rechtssache T‑800/16,
Celio International SA mit Sitz in Brüssel,
Klägerin in der Rechtssache T‑832/16,
vertreten durch Rechtsanwälte H. Gilliams und J. Bocken sowie Rechtsanwältin L. Goossens,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch P.‑J. Loewenthal, B. Stromsky und F. Tomat, als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DAS GERICHT (Zweite erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin A. Marcoulli, des Richters S. Frimodt Nielsen, der Richterin V. Tomljenović (Berichterstatterin) sowie der Richter R. Norkus und W. Valasidis,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des Urteils vom 16. September 2021, Kommission/Belgien und Magnetrol International (C‑337/19 P, EU:C:2021:741),
auf die mündliche Verhandlung vom 9. Februar 2023
folgendes
Urteil
1 Mit ihren Klagen nach Art. 263 AEUV begehren die Klägerinnen in der Rechtssache T‑263/16 RENV, Magnetrol International, in der Rechtssache T‑265/16, Puratos, Delta Light und Ontex, in der Rechtssache T‑311/16, Siemens Industry Software, in der Rechtssache T‑319/16, BASF Antwerpen NV, in der Rechtssache T‑321/16, Ansell Healthcare Europe NV, in der Rechtssache T‑343/16, Trane, in der Rechtssache T‑350/16, Kinepolis Group, in der Rechtssache T‑444/16, Vasco Group und Astra Sweets, in der Rechtssache T‑800/16, Mayekawa Europe NV/SA, und in der Rechtssache T‑832/16, Celio International SA, die Nichtigerklärung des Beschlusses (EU) 2016/1699 der Kommission vom 11. Januar 2016 über die Beihilferegelung Belgiens SA.37667 (2015/C) (ex 2015/NN) (ABl. 2016, L 260, S. 61) betreffend die Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt und der damit verbundene rechtliche Rahmen sind vom Gericht in den Rn. 1 bis 28 des Urteils vom 14. Februar 2019, Belgien und Magnetrol International/Kommission (T‑131/16 und T‑263/16, EU:T:2019:91), sowie vom Gerichtshof in den Rn. 1 bis 24 des Urteils vom 16. September 2021, Kommission/Belgien und Magnetrol International (C‑337/19 P, EU:C:2021:741), dargestellt worden. Für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens lässt er sich wie folgt zusammenfassen.
3 Mittels eines Vorbescheids, der von der „Behörde für Steuervorbescheide“ des belgischen Föderalen Öffentlichen Dienstes Finanzen auf der Grundlage von Art. 185 § 2 Buchst. b des Code des impôts sur les revenus 1992 (Einkommensteuergesetzbuch 1992, im Folgenden: CIR 92) in Verbindung mit Art. 20 des Gesetzes vom 24. Dezember 2002 zur Abänderung der Gesellschaftsregelung in Bezug auf die Einkommensteuer und zur Einführung eines Systems der Vorausentscheidung in Steuerangelegenheiten (Moniteur belge vom 31. Dezember 2002, S. 58815) (im Folgenden: Gesetz vom 24. Dezember 2002) erlassen wurde, konnten belgische gebietsansässige Unternehmen, die Teil eines multinationalen Konzerns sind, sowie feste belgische Niederlassungen von gebietsfremden Unternehmen, die Teil eines multinationalen Konzerns sind, ihre Steuerbemessungsgrundlage in Belgien verringern, indem sie ihre als „Gewinnüberschüsse“ angesehenen Gewinne von den erzielten Gewinnen abzogen. Nach diesem System wurde ein Teil der Gewinne von belgischen Unternehmen, die einen Steuervorbescheid erhalten hatten, in Belgien nicht besteuert. Nach Ansicht der belgischen Steuerbehörden ergaben sich diese Gewinnüberschüsse aus Synergien, Skaleneffekten oder sonstigen Vorteilen, die aus der Zugehörigkeit zu einem multinationalen Konzern resultierten, und waren daher den fraglichen belgischen Unternehmen nicht zurechenbar.
4 Im Anschluss an ein Verwaltungsverfahren, das am 19. Dezember 2013 mit einem Schreiben begann, mit dem die Europäische Kommission das Königreich Belgien aufforderte, ihr Auskünfte über das System der auf Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 gestützten Steuervorbescheide betreffend die Gewinnüberschüsse zu erteilen, erließ die Kommission am 11. Januar 2016 den angefochtenen Beschluss.
5 Mit dem angefochtenen Beschluss stellte die Kommission fest, dass die auf Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 gestützte Steuerregelung für Gewinnüberschüsse, in deren Rahmen das Königreich Belgien Steuervorbescheide für belgische Unternehmen, die einem multinationalen Konzern angehörten, erlassen hatte, in denen den besagten Unternehmen der Vorteil einer Körperschaftsteuerbefreiung für einen Teil des von ihnen erzielten Gewinns bewilligt werde, eine Beihilferegelung, die den begünstigten Unternehmen einen selektiven Vorteil gewähre, im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei.
6 So vertrat die Kommission die Ansicht, dass die fragliche Regelung den Begünstigten der Steuervorbescheide einen selektiven Vorteil verschaffe, da die von den belgischen Steuerbehörden angewandte Steuerbefreiung für ihre Gewinnüberschüsse vom allgemeinen Körperschaftsteuersystem in Belgien abweiche. Hilfsweise legte die Kommission dar, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse den durch die Steuervorbescheide Begünstigten einen selektiven Vorteil verschaffen könne, da eine solche Befreiung vom Fremdvergleichsgrundsatz abweiche.
7 Nachdem die Kommission festgestellt hatte, dass die fragliche Regelung unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV angewandt worden sei, ordnete sie die Rückforderung der gewährten Beihilfen von den Empfängern an, deren abschließende Liste das Königreich Belgien später aufzustellen hatte.
A. Zum ursprünglichen Urteil
8 Nach dem Erlass des angefochtenen Beschlusses erhoben das Königreich Belgien und mehrere Unternehmen Klagen auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses, darunter die Klägerinnen, die ihre Klageschriften zwischen dem 25. Mai und dem 25. November 2016 bei der Kanzlei des Gerichts einreichten.
9 Am 16. Februar 2018 hat die Präsidentin der Siebten Kammer des Gerichts gemäß Art. 69 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts nach Anhörung der Parteien beschlossen, das Verfahren u. a. in den Rechtssachen T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16 bis zum Erlass der das Verfahren in den Rechtssachen T‑131/16 und T‑263/16 beendenden Entscheidung auszusetzen.
10 Mit Urteil vom 14. Februar 2019, Belgien und Magnetrol International/Kommission (T‑131/16 und T‑263/16, im Folgenden: ursprüngliches Urteil, EU:T:2019:91), wies das Gericht als Erstes die Klagegründe als unbegründet zurück, mit denen im Wesentlichen geltend gemacht wurde, dass die Kommission ihre Befugnisse im Bereich der staatlichen Beihilfen verkannt und in die ausschließliche Zuständigkeit des Königreichs Belgien im Bereich der direkten Besteuerung eingegriffen habe.
11 Als Zweites vertrat das Gericht die Ansicht, dass die Kommission im vorliegenden Fall fehlerhaft das Vorliegen einer Beihilferegelung unter Verstoß gegen Art. 1 Buchst. d der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV (ABl. 2015, L 248, S. 9) festgestellt hatte, und erklärte folglich den angefochtenen Beschluss für nichtig, ohne dass es eine Prüfung der übrigen gegen diesen Beschluss vorgebrachten Klagegründe für erforderlich hielt.
B. Zum Rechtsmittelurteil
12 Auf das gegen das ursprüngliche Urteil eingelegte Rechtsmittel hin erließ der Gerichtshof sein Urteil vom 16. September 2021, Kommission/Belgien und Magnetrol International (C‑337/19 P, im Folgenden: Rechtsmittelurteil, EU:C:2021:741).
13 Im Rechtsmittelurteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass das ursprüngliche Urteil rechtsfehlerhaft war, soweit darin festgestellt wurde, dass die Kommission im vorliegenden Fall zu Unrecht auf das Vorliegen einer Beihilferegelung geschlossen habe.
14 Aufgrund dieser vom Gerichtshof festgestellten Fehler wurde das ursprüngliche Urteil aufgehoben.
15 Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union hat der Gerichtshof beschlossen, endgültig über die Klagegründe zu entscheiden, die er für entscheidungsreif hielt, nämlich zum einen über die Klagegründe, die den Eingriff der Kommission in die ausschließliche Zuständigkeit des Königreichs Belgien im Bereich der direkten Besteuerung betreffen, und zum anderen über die Klagegründe, die das Vorliegen einer Beihilferegelung betreffen.
16 So hat der Gerichtshof, ebenso wie das Gericht, zunächst die Klagegründe zurückgewiesen, die sich auf den Eingriff der Kommission in die ausschließlichen Zuständigkeiten des Königreichs Belgien im Bereich der direkten Steuern bezogen.
17 Sodann ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse als Beihilferegelung im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung 2015/1589 angesehen werden kann und dass folglich die Klagegründe betreffend das Vorliegen einer Beihilferegelung als unbegründet zurückzuweisen sind.
18 Was schließlich die anderen vom Königreich Belgien und von Magnetrol International geltend gemachten Nichtigkeitsgründe betrifft, hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif war, und die Rechtssache zur Entscheidung über diese Klagegründe an das Gericht zurückverwiesen.
II. Verfahren und Anträge der Parteien
19 Im Anschluss an das Rechtsmittelurteil ist die Rechtssache T‑263/16 RENV gemäß Art. 216 Abs. 1 der Verfahrensordnung am 20. Oktober 2021 der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts zugewiesen worden.
20 Gemäß Art. 217 Abs. 1 der Verfahrensordnung haben Magnetrol International und die Kommission fristgerecht Schriftsätze eingereicht. Außerdem sind nach Art. 217 Abs. 3 der Verfahrensordnung zusätzliche Schriftsätze eingereicht worden.
21 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 2. März 2022 eingegangen ist, hat Magnetrol International beim Gericht beantragt, die Anlage Nr. 1 zu der von der Kommission in der Rechtssache T‑263/16 RENV gemäß Art. 217 Abs. 3 der Verfahrensordnung eingereichten Stellungnahme aus den Akten zu entfernen oder, hilfsweise, die in dieser Anlage angeführten Parteien zur Stellungnahme aufzufordern und sie sodann zu dieser Stellungnahme anzuhören. Mit Beschluss vom 14. September 2022 hat das Gericht die Entscheidung über diesen Antrag gemäß Art. 130 Abs. 7 der Verfahrensordnung dem Endurteil in der Rechtssache T‑263/16 RENV vorbehalten.
22 Nach Anhörung der Parteien hat die Zweite Kammer des Gerichts am 26. April 2022 gemäß Art. 71 Abs. 3 der Verfahrensordnung die Fortsetzung des Verfahrens in den Rechtssachen T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16 beschlossen.
23 Nach der Fortsetzung des Verfahrens in ihren jeweiligen Rechtssachen haben die betroffenen Parteien fristgerecht auf Fragen des Gerichts zur neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts Stellung genommen.
24 Außerdem sind die Parteien zu einer etwaigen Verbindung der vorliegenden Rechtssachen zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer das Verfahren beendender Entscheidung gehört worden.
25 Im Licht der Beschlüsse vom 1. August 2022, Atlas Copco Airpower und Atlas Copco/Kommission (C‑31/22 P[I], EU:C:2022:620), vom 1. August 2022, Anheuser-Busch Inbev, Ampar/Magnetrol International und Kommission (C‑32/22 P[I], EU:C:2022:621), und vom 1. August 2022, Soudal und Esko-Graphics/Magnetrol und Kommission (C‑74/22 P[I], EU:C:2022:632), wurden alle Streithelfer vor dem Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren als Streithelfer vor dem Gericht in der Rechtssache T‑263/16 RENV angesehen, und ihre gemäß Art. 217 Abs. 1 der Verfahrensordnung eingereichten Stellungnahmen sind zu den Akten dieser Rechtssache genommen worden.
26 Die Klägerinnen beantragen,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
–
hilfsweise, die Art. 2 bis 4 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
–
weiter hilfsweise, die Art. 2 bis 4 dieses verfügenden Teils jedenfalls insoweit für nichtig zu erklären, als zum einen die Rückforderung der Beihilfen von Unternehmen verlangt wird, denen keine Vorbescheide erteilt worden sind, und zum anderen die Rückforderung eines Betrags in Höhe der ersparten Steuern des Begünstigten verlangt wird, ohne Belgien zu gestatten, eine effektive Anpassung nach oben, die eine andere Steuerverwaltung tatsächlich vorgenommen hat, zu berücksichtigen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
27 Die Kommission beantragt,
–
die Klagen abzuweisen;
–
den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
28 Die vorliegenden Rechtssachen sind nach Anhörung der Parteien gemäß Art. 68 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu gemeinsamer das Verfahren beendender Entscheidung zu verbinden.
A. Zur Situation von Celio International
29 In der Klageschrift und unter der Überschrift „Zulässigkeit“ macht Celio International in der Rechtssache T‑832/16 geltend, dass sie vom angefochtenen Beschluss, der sich ausschließlich auf Steuervorbescheide beziehe, die die Gewinnüberschüsse beträfen, nicht betroffen sei, da sie keinen Steuervorbescheid erhalten habe. Die Vorabverständigung über die Preise, die sie mit der belgischen Steuerverwaltung geschlossen habe, sei nämlich kein Steuervorbescheid betreffend Gewinnüberschüsse.
30 Erstens ist festzustellen, dass Celio International in der Liste im Anhang des angefochtenen Beschlusses tatsächlich als Begünstigte der fraglichen Regelung aufgeführt ist, obwohl diese Liste von der Kommission „nur als Liste zu Informationszwecken“ vorgelegt wird.
31 Zweitens hat der Gerichtshof im Rechtsmittelurteil darauf hingewiesen, dass sich die Kommission bei einer Beihilferegelung darauf beschränken konnte, ihre Merkmale zu untersuchen, um zu würdigen, ob diese Regelung den Beihilfeempfängern einen selektiven Vorteil gegenüber ihren Wettbewerbern sicherte und so beschaffen war, dass sie ihrem Wesen nach den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigte. So braucht die Kommission in einem Beschluss über eine solche Regelung keine Analyse der im Einzelfall auf der Grundlage einer solchen Regelung gewährten Beihilfe durchzuführen (Rechtsmittelurteil, Rn. 77). Daher kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, die konkrete Situation von Celio International insbesondere in Bezug auf die Vorabverständigung über die Verrechnungspreise, die sie mit den belgischen Steuerbehörden geschlossen hat, nicht berücksichtigt zu haben.
32 Drittens und aus denselben Gründen kann der angefochtene Beschluss nicht deshalb als unzureichend begründet angesehen werden, weil er keine spezifische Antwort auf die Stellungnahme von Celio International zu ihrer konkreten Situation vorgesehen hat.
33 Viertens kann jedenfalls in Anbetracht der von Celio International selbst vorgenommenen Beschreibung der Vorabverständigung über die Verrechnungspreise, insbesondere in ihrer im Rahmen des Verwaltungsverfahrens eingereichten Stellungnahme, davon ausgegangen werden, dass diese Vorabverständigung zwischen der Behörde für Steuervorbescheide und Celio International darauf beruhte, dass sie zu einem multinationalen Konzern gehörte und zentral eine Anzahl von Funktionen für den gesamte Konzern ausübte. Diese Verständigung sah im Wesentlichen vor, dass Celio International in jedem Steuerjahr nach ihrer Annahme und nach Maßgabe der Ergebnisse der Transaktionen mit anderen Unternehmen desselben Konzerns auf Gewinne besteuert werde, die einer bestimmten Betriebsspanne entsprechen. So wurde darauf hingewiesen, dass, wenn die erzielten Gewinne von Celio International unter dieser Betriebsspanne lägen, für die Berechnung ihrer steuerpflichtigen Gewinne eine positive Anpassung der Gewinne gemäß Art. 185 § 2 Buchst. a des CIR 92 vorgenommen werde, während eine negative Anpassung gemäß Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 vorgenommen werde, wenn die erzielten Gewinne diese Schwelle überschritten. Die letztgenannte negative Anpassung war nicht von der Feststellung einer positiven Primäranpassung in einem anderen Mitgliedstaat abhängig.
34 Da die fragliche Vorabverständigung eine negative Anpassung vorsah, wenn die von Celio International tatsächlich erzielten Gewinne einen hypothetischen Gewinn überstiegen, der einer bestimmten Betriebsspanne entsprach, wurde daher nach der von der Kommission im angefochtenen Beschluss vertretenen Auffassung eine Steuerbefreiung für Gewinne gewährt, die einen solchen hypothetischen Gewinn überstiegen.
35 Unter diesen Umständen kann das Vorbringen von Celio International, ihre Situation falle nicht in den Anwendungsbereich des angefochtenen Beschlusses, dem angefochtenen Beschluss nicht entgegengehalten werden, soweit er eine Beihilferegelung betrifft. Jedenfalls ist es unbegründet.
B. Zur Begründetheit
36 Die Klägerinnen stützen ihre Klagen auf der Grundlage nahezu identischer Klageschriften auf vier Klagegründe. Der erste betrifft einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Befugnismissbrauch und das Fehlen einer Begründung, soweit der angefochtene Beschluss das Vorliegen einer Beihilferegelung feststelle. Der zweite betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV sowie gegen die Begründungspflicht und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, da der Beschluss die fragliche Regelung als selektive Maßnahme einstufe. Der dritte betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV sowie gegen die Begründungspflicht und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, da die Kommission festgestellt habe, dass durch die fragliche Regelung ein Vorteil gewährt werde. Der vierte, hilfsweise geltend gemachte Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Befugnismissbrauch und das Fehlen einer Begründung, soweit der angefochtene Beschluss dem Königreich Belgien aufgegeben habe, den Betrag der Beihilfe zurückzufordern.
37 Da der Gerichtshof im Rechtsmittelurteil bereits über den ersten Klagegrund von Magnetrol International in der Rechtssache T‑263/16 entschieden hat, hat sich das Gericht in der Rechtssache T‑263/16 RENV nicht mehr zu diesem Klagegrund zu äußern. In den anderen Rechtssachen gehört dieser Klagegrund, mit dem die von der Kommission getroffene Feststellung des Vorliegens einer Beihilferegelung beanstandet wird, immer noch zu den Rechtsstreitigkeiten, über die das Gericht zu entscheiden hat, da er nicht förmlich zurückgenommen wurde.
1. Zum ersten Klagegrund in den Rechtssachen T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16 betreffend einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Befugnismissbrauch und das Fehlen einer Begründung, soweit der angefochtene Beschluss das Vorliegen einer Beihilferegelung feststelle
38 In den Rechtssachen T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16 wird im Wesentlichen geltend gemacht, dass der angefochtene Beschluss nicht das Vorliegen einer Beihilferegelung im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung 2015/1589 belege und dass jedenfalls die Schlussfolgerung zum Vorliegen einer Beihilferegelung auf einer unzureichenden und widersprüchlichen Begründung beruhe.
39 Nach Ansicht der Kommission ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
40 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rechtsmittelurteil den von Magnetrol International geltend gemachten Klagegrund, der auf eine fehlerhafte Schlussfolgerung hinsichtlich des Vorhandenseins einer Beihilferegelung im vorliegenden Fall gestützt wurde, als unbegründet zurückgewiesen hat.
41 Unter diesen Umständen ist, mit dem Gerichtshof im Rechtsmittelurteil, der erste Klagegrund in den Rechtssachen T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16 zurückzuweisen, da er mit dem von Magnetrol International in der Rechtssache T‑263/16 geltend gemachten identisch ist.
2. Zum zweiten Klagegrund, soweit er einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV sowie gegen die Begründungspflicht und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler betrifft, da der angefochtene Beschluss im Rahmen der Hauptargumentation der Kommission die fragliche Regelung als selektive Maßnahme einstufe
42 Der zweite Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV sowie gegen die Begründungspflicht und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler. Im Rahmen dieses Klagegrundes machen die Klägerinnen gegen die Hauptargumentation der Kommission zum Vorliegen eines selektiven Vorteils im Wesentlichen geltend, die Kommission habe zu Unrecht die Begriffe „Vorteil“ und „Selektivität“ verwechselt und nicht nachgewiesen, dass die Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse eine selektive Maßnahme darstelle, die in einer unterschiedlichen Behandlung von Unternehmen bestehe, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden, und dass die fragliche Regelung daher selektiv sei.
43 Nach Ansicht der Kommission ist der von den Klägerinnen geltend gemachte Klagegrund zurückzuweisen.
a)
Zur gemeinsamen Prüfung der Begriffe „Vorteil“ und „Selektivität“
44 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Begründung eines von der Kommission erlassenen Rechtsakts es den Betroffenen ermöglichen muss, Kenntnis von den Gründen für die getroffene Maßnahme zu erlangen, damit sie ihre Rechte verteidigen und prüfen können, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist oder nicht, und dass der Unionsrichter die ihm obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle wahrnehmen kann. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Aspekte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen von Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteile vom 15. Juni 2005, Corsica Ferries France/Kommission, T‑349/03, EU:T:2005:221, Rn. 62 bis 63, vom 16. Oktober 2014, Eurallumina/Kommission, T‑308/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:894, Rn. 44, und vom 6. Mai 2019, Scor/Kommission, T‑135/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:287, Rn. 80).
45 Außerdem ist festzustellen, dass bei der Prüfung der in Art. 107 Abs. 1 AEUV genannten Voraussetzungen dafür, dass eine Maßnahme eine staatliche Beihilfe darstellt, darunter die des Vorliegens eines selektiven Vorteils, der Begriff „Vorteil“ und „Selektivität“ zwei unterschiedliche Kriterien darstellen. In Bezug auf den Vorteil muss die Kommission nachweisen, dass die Maßnahme die finanzielle Lage des Begünstigten verbessert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 1974, Italien/Kommission, 173/73, EU:C:1974:71, Rn. 33). Was hingegen die Selektivität angeht, muss die Kommission nachweisen, dass der Vorteil anderen Unternehmen, die sich im Hinblick auf das Ziel des Bezugssystems in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, nicht zugutekommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a., C‑78/08 bis C‑80/08, EU:C:2011:550, Rn. 49).
46 Insoweit muss nach der Rechtsprechung das aus Art. 107 Abs. 1 AEUV folgende Erfordernis der Selektivität klar vom begleitenden Nachweis eines wirtschaftlichen Vorteils unterschieden werden, so dass die Kommission, wenn sie das Vorliegen eines Vorteils – in einem weiten Sinne – entdeckt hat, der sich unmittelbar oder mittelbar aus einer bestimmten Maßnahme ergibt, weiterhin noch nachweisen muss, dass dieser Vorteil spezifisch einem oder mehreren Unternehmen zugutekommt (Urteil vom 4. Juni 2015, Kommission/MOL, C‑15/14 P, EU:C:2015:362, Rn. 59).
47 Es ist jedoch klarzustellen, dass diese beiden Kriterien nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zusammen als „dritte Bedingung“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV geprüft werden können, die das Vorliegen eines „selektiven Vorteils“ betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2016, Belgien/Kommission, C‑270/15 P, EU:C:2016:489, Rn. 32).
48 Im angefochtenen Beschluss finden sich die Erwägungen der Kommission zum Vorteil im Rahmen der Prüfung des Vorliegens eines selektiven Vorteils, nämlich in Abschnitt 6.3 („Vorliegen eines selektiven Vorteils“). In diesem Rahmen hat die Kommission tatsächlich das Kriterium des Vorteils geprüft.
49 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 125. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass die von den belgischen Steuerbehörden angewandte Steuerregelung für Gewinnüberschüsse im Körperschaftsteuersystem in Belgien nicht vorgesehen sei. Außerdem hob die Kommission im 126. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass bei der Berechnung dieser Befreiung der vom belgischen Unternehmen tatsächlich erzielte Gesamtgewinn und die gesetzlich vorgesehenen Anpassungen außer Betracht gelassen würden. Im 127. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wies sie darauf hin, dass das belgische System zwar besondere Bestimmungen für Konzerne vorsehe, dass diese aber eher darauf abzielten, Unternehmen, die multinationalen Konzernen angehörten, mit eigenständigen Unternehmen auf eine gleiche Stufe zu stellen.
50 In diesem Rahmen wies die Kommission im 133. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses darauf hin, dass nach dem belgischen Körperschaftsteuersystem die Konzernunternehmen, die gebietsansässig oder über eine feste Niederlassung in Belgien aktiv seien, auf der Grundlage ihres Gesamtgewinns, d. h. dem tatsächlich erwirtschafteten Gewinn, besteuert würden und nicht auf der Grundlage eines hypothetischen Gewinns, weshalb die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse den die fragliche Regelung in Anspruch nehmenden belgischen Unternehmen eines Konzerns einen Vorteil gewähre.
51 Im 135. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erinnerte die Kommission an die Rechtsprechung, nach der ein wirtschaftlicher Vorteil gewährt werden kann, indem die Steuerlast eines Unternehmens verringert wird, und insbesondere, indem die Steuerbemessungsgrundlage oder der Betrag der zu entrichtenden Steuer verringert wird. Im vorliegenden Fall ermögliche es die fragliche Regelung den durch die Steuervorbescheide begünstigten Gesellschaften, ihre in Belgien zu entrichtende Steuer zu verringern, indem sie den sogenannten „Mehrgewinn“ von ihrem tatsächlich erzielten Gewinn abzögen. Dieser Mehrgewinn werde durch eine Schätzung des hypothetischen durchschnittlichen Gewinns vergleichbarer eigenständiger Unternehmen berechnet, so dass die Differenz zwischen dem tatsächlich erzielten Gewinn und dem hypothetischen durchschnittlichen Gewinn durch einen Prozentsatz der Nichtbesteuerung angegeben werde, der die Grundlage für die Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage bilde, die für die fünf Jahre der Anwendung des Steuervorbescheids gewährt werde. Da diese Steuerbemessungsgrundlage, die auf diese Weise anhand der nach der fraglichen Regelung erteilten Steuervorbescheide berechnet worden sei, niedriger gewesen sei als die Steuerbemessungsgrundlage ohne diese Steuervorbescheide, hätte sich daraus ein Vorteil ergeben.
52 Aus den oben in den Rn. 49 bis 51 hervorgehobenen Erwägungsgründen des angefochtenen Beschlusses geht folglich hervor, dass der von der Kommission festgestellte Vorteil in der Nichtbesteuerung der Gewinnüberschüsse der begünstigten Gesellschaften und in der Besteuerung von deren Gewinnen bestand, die auf der Grundlage eines hypothetischen durchschnittlichen Gewinns berechnet wurden, der gemäß den Steuervorbescheiden im Rahmen der fraglichen Regelung den von diesen Unternehmen erzielten Gesamtgewinn und die gesetzlich vorgesehenen Anpassungen außer Acht ließ. Nach Ansicht der Kommission stellt eine solche Besteuerung eine Verringerung der Steuerlast der durch die Regelung Begünstigten gegenüber der Belastung dar, die sich aus einer normalen Besteuerung im Rahmen des Körperschaftsteuersystems in Belgien ergeben hätte, die sich auf die Gesamtheit der tatsächlich erzielten Gewinne nach Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Anpassungen bezogen hätte.
53 Sodann findet sich die eigentliche Prüfung der Selektivität dieses Vorteils zum einen in den Erwägungsgründen 136 bis 141 des angefochtenen Beschlusses in Abschnitt 6.3.2.1 dieses Beschlusses bezüglich der Hauptargumentation der Kommission zur Selektivität, die auf das Vorliegen einer Abweichung von dem allgemeinen Körperschaftsteuersystem in Belgien gestützt ist. Zum anderen wird die Selektivität des Vorteils, der in der Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse besteht, auch in den Erwägungsgründen 152 bis 170 des angefochtenen Beschlusses in Abschnitt 6.3.2.2 dieses Beschlusses in Bezug auf die von der Kommission hilfsweise dargelegte Argumentation zur Selektivität geprüft, die auf das Vorliegen einer Abweichung vom Fremdvergleichsgrundsatz gestützt wird.
54 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Rechtfertigungen, die die Kommission für ihre Feststellungen zum Vorliegen eines Vorteils und zur Selektivität dieses Vorteils anführt, den oben in Rn. 44 genannten Anforderungen an die Begründungspflicht genügen.
55 Die Tatsache, dass die Analyse des Vorteils in formaler Hinsicht in einen Abschnitt eingefügt wurde, der auch die Prüfung der Selektivität umfasst, lässt daher nicht erkennen, dass die beiden Begriffe nicht in der Sache geprüft worden sind, da das Vorliegen eines Vorteils und das Vorliegen seines selektiven Charakters tatsächlich geprüft werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2019, Niederlande u. a./Kommission, T‑760/15 und T‑636/16, EU:T:2019:669, Rn. 129). Folglich sind die Rügen der Klägerinnen, mit denen ein Rechtsfehler und ein offensichtlicher Beurteilungsfehler aufgrund einer solchen gemeinsamen Prüfung geltend gemacht werden, zurückzuweisen.
b)
Zum Vorliegen eines durch die fragliche Regelung gewährten selektiven Vorteils
56 Die Klägerinnen, insoweit unterstützt durch die Streithelferinnen in der Rechtssache T‑263/16 RENV, Soudal NV, Esko-Graphics BVBA, Flir Systems Trading Belgium, Celio International, Anheuser-Busch Inbev, Ampar, Atlas Copco Airpower, Atlas Copco AB und ZF CV Systems Europe, machen im Wesentlichen geltend, dass die Kommission nicht nachgewiesen habe, dass die Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse eine fehlerhafte Anwendung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 durch die belgischen Steuerbehörden und folglich eine Abweichung vom Bezugssystem darstelle, und dass eine solche Anwendung zu einer Ungleichbehandlung von Gesellschaften führe, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden. Sie habe daher nicht nachweisen können, dass die fragliche Regelung selektiv sei.
57 So machen die Klägerinnen geltend, dass die Kommission im Rahmen der Hauptargumentation erstens das Bezugssystem falsch definiert habe, indem sie das Ziel des Steuersystems als Teil der normalen Besteuerung berücksichtigt habe. Außerdem habe die Kommission zu Unrecht ihre eigene Auslegung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 als normale Besteuerung nach dieser Bestimmung berücksichtigt. Zweitens habe die Kommission zu Unrecht angenommen, dass die belgischen Steuerbehörden diese Bestimmung contra legem angewandt hätten. Drittens machen die Klägerinnen geltend, die Kommission sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die fragliche Regelung zu einer unterschiedlichen Behandlung von Wirtschaftsteilnehmern führe, die sich im Hinblick auf die Ziele der in Rede stehenden Vorschriften in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden.
1) Zum Bezugssystem
58 Im Licht der neueren Rechtsprechung zu staatlichen Beihilfen werfen die Klägerinnen der Kommission vor, mehrere Fehler bei ihrer Beurteilung des Bezugssystems begangen zu haben, auf die sie ihre Prüfung der Selektivität der fraglichen Regelung gestützt habe. Diese Fehler bezögen sich auf die Einbeziehung des Ziels des Steuersystems in die Definition des Bezugssystems und auf die fehlerhafte Auslegung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92, der Teil dieses Bezugssystems sei.
59 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Bestimmung des Bezugssystems im Fall von steuerlichen Maßnahmen eine besondere Bedeutung zukommt, da das Vorliegen eines wirtschaftlichen Vorteils im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV nur in Bezug auf eine sogenannte „normale“ Besteuerung festgestellt werden kann. Somit hängt die Bestimmung aller Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, von der vorherigen Definition der rechtlichen Regelung ab, im Hinblick auf deren Ziel gegebenenfalls die Vergleichbarkeit der jeweiligen tatsächlichen und rechtlichen Situation der durch die fragliche Maßnahme begünstigten Unternehmen und der durch sie nicht begünstigten Unternehmen zu prüfen ist (vgl. Urteil vom 8. November 2022, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission, C‑885/19 P und C‑898/19 P, EU:C:2022:859, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 In diesem Zusammenhang ist entschieden worden, dass sich die Bestimmung des Bezugssystems, die nach einer kontradiktorischen Erörterung mit dem betreffenden Mitgliedstaat erfolgen muss, aus einer objektiven Prüfung des Inhalts, des Zusammenhangs und der konkreten Wirkungen der nach dem nationalen Recht dieses Staates anwendbaren Vorschriften ergeben muss (Urteil vom 6. Oktober 2021, World Duty Free Group und Spanien/Kommission, C‑51/19 P und C‑64/19 P, EU:C:2021:793, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Außerdem dürfen nach ständiger Rechtsprechung zwar die Mitgliedstaaten keine steuerliche Maßnahme erlassen, die eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellen kann, doch ist es außerhalb der Bereiche, in denen das Steuerrecht der Union harmonisiert wurde, der betreffende Mitgliedstaat, der in Wahrnehmung seiner eigenen Zuständigkeiten im Bereich der direkten Steuern aufgrund seiner Steuerautonomie die grundlegenden Merkmale der Steuer bestimmt, die grundsätzlich das „normale“ Bezugssystem oder die „normale“ Steuerregelung definieren, anhand deren die Voraussetzung der Selektivität zu prüfen ist. Dies gilt insbesondere für die Festlegung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und des Steuertatbestands (vgl. Urteil vom 8. November 2022, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission, C‑885/19 P und C‑898/19 P, EU:C:2022:859, Rn. 65 und 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Daraus folgt, dass bei der Bestimmung des Bezugssystems im Bereich der direkten Steuern nur das im betreffenden Mitgliedstaat anwendbare nationale Recht zu berücksichtigen ist. Diese Bestimmung ist wiederum eine unerlässliche Voraussetzung für die Beurteilung nicht nur der Frage, ob ein Vorteil vorliegt, sondern auch der Frage, ob dieser selektiv ist.
63 Außerdem hat die Kommission für die Feststellung, ob eine steuerliche Maßnahme einem Unternehmen einen selektiven Vorteil verschafft hat, nach einer objektiven Prüfung des Inhalts, des Aufbaus und der konkreten Wirkungen der nach dem nationalen Recht dieses Staates anwendbaren Vorschriften einen Vergleich mit dem im betreffenden Mitgliedstaat normalerweise geltenden Steuersystem vorzunehmen. Bei der Prüfung der Frage, ob ein selektiver Steuervorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt, und der Feststellung, welche Steuerbelastung ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, dürfen daher Parameter und Regeln, die außerhalb des fraglichen nationalen Steuersystems liegen, nicht berücksichtigt werden, es sei denn, das nationale Steuersystem bezieht sich ausdrücklich darauf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2022, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission, C‑885/19 P und C‑898/19 P, EU:C:2022:859, Rn. 92 und 96).
64 Im vorliegenden Fall hat die Kommission in den Erwägungsgründen 121 bis 129 des angefochtenen Beschlusses ihren Standpunkt zum Bezugssystem dargelegt.
65 So hat die Kommission in den Erwägungsgründen 121 und 122 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass das Bezugssystem das allgemeinrechtliche System zur Besteuerung von Unternehmensgewinnen sei, das im belgischen Körperschaftsteuersystem vorgesehen sei, dessen Zielsetzung die Besteuerung der Gewinne aller der Steuerpflicht in Belgien unterliegenden Unternehmen sei. Das Körperschaftsteuersystem in Belgien gelte für gebietsansässige belgische Unternehmen sowie für belgische Niederlassungen von gebietsfremden Unternehmen. Nach Art. 185 § 1 des CIR 92 seien gebietsansässige belgische Unternehmen zur Bezahlung von Körperschaftsteuer auf den Gesamtbetrag der erzielten Gewinne verpflichtet, außer es finde ein Doppelbesteuerungsabkommen Anwendung. Außerdem unterlägen nach den Art. 227 und 229 des CIR 92 gebietsfremde Unternehmen der Körperschaftsteuer nur für bestimmte spezifische Arten von Einkünften aus belgischer Quelle. Im Übrigen sei in beiden Fällen die belgische Körperschaftsteuer auf den Gesamtgewinn zu entrichten, dessen Festlegung nach den Vorschriften zur Berechnung der steuerpflichtigen Gewinne gemäß Art. 24 des CIR 92 erfolge. Nach Art. 185 § 1 des CIR 92 in Verbindung mit den Art. 1, 24, 183, 227 und 229 des CIR 92 entspreche der Gesamtgewinn den Einkünften der Unternehmen abzüglich den abzugsfähigen Kosten, die im Allgemeinen in der Buchführung erfasst seien, so dass der tatsächlich erzielte Gewinn den Ausgangspunkt für die Berechnung des steuerpflichtigen Gesamtgewinns bilde, unbeschadet der Anwendung der im Körperschaftsteuersystem in Belgien vorgesehenen positiven und negativen Anpassungen in einem zweiten Schritt.
66 Was erstens die Einbeziehung des Ziels des Steuersystems in die Definition des Bezugssystems betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel des Bezugssystems von der Kommission im Rahmen dieser Definition tatsächlich angesprochen wird. Entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen, unter Berufung auf die Schlussanträge des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission (C‑885/19 P, EU:C:2021:1028), bedeutet jedoch der Umstand allein, dass die Kommission das Ziel des Bezugssystems angeführt hat, nicht, dass die Kommission die Selektivität der fraglichen Regelung allein anhand des fraglichen Ziels geprüft hätte.
67 Insoweit geht aus den Erwägungsgründen 121 und 122 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission bei der Bestimmung des Bezugssystems die Bestimmungen des CIR 92, die für die Zwecke der belgischen Körperschaftsteuer anwendbar waren, berücksichtigt und auf die detaillierte Beschreibung dieser Bestimmungen in Abschnitt 2 des angefochtenen Beschlusses verwiesen hat. Die Kommission hat daher das Bezugssystem nicht im Hinblick auf das Ziel des belgischen Steuersystems bestimmt.
68 Außerdem ist auf die oben in Rn. 45 angeführte ständige Rechtsprechung hinzuweisen, wonach im Rahmen der Prüfung der Selektivität das Ziel des Bezugssystems für den Vergleich der Situation der von der fraglichen Maßnahme betroffenen Wirtschaftsteilnehmer mit der der anderen Wirtschaftsteilnehmer relevant ist. Für diesen Vergleich wurde in den Erwägungsgründen 122 und 129 des angefochtenen Beschlusses auf das Ziel des Bezugssystems hingewiesen.
69 Im Übrigen geht aus Abschnitt 6.3.2.1 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission geprüft hat, inwieweit die Anwendung von Art. 185 § 2 des CIR 92, die die belgischen Steuerbehörden im Rahmen der Steuervorbescheide vorgenommen haben, vom Körperschaftsteuersystem in Belgien abweicht, das in Abschnitt 6.3.1 des angefochtenen Beschlusses beschrieben wird, der auf Abschnitt 2 dieses Beschlusses verweist, in dem die Bestimmungen des CIR 92 über das Körperschaftsteuersystem in Belgien dargelegt werden. Daher hat die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen gerade in Bezug auf die Bestimmungen des anwendbaren belgischen Steuerrechts, darunter Art. 185 § 2 des CIR 92, geprüft, ob deren Anwendung durch die belgischen Steuerbehörden davon abweicht.
70 Was zweitens die behauptete fehlerhafte Auslegung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 betrifft, werfen die Klägerinnen, insoweit unterstützt durch die Streithelferinnen, der Kommission vor, davon ausgegangen zu sein, dass der steuerpflichtige Gewinn auf dem erzielten Gesamtgewinn der der Steuer unterliegenden Unternehmen beruhe, obwohl der steuerpflichtige Gewinn nach belgischem Steuerrecht bei verbundenen Unternehmen unter Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes und unter Berücksichtigung der insoweit vorgesehenen positiven und negativen Anpassungen zu bestimmen sei.
71 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission im 122. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zutreffend ausgeführt hat, die steuerpflichtigen Einkünfte in Belgien für steuerliche Zwecke insbesondere die Gewinne gemäß Art. 24 des CIR 92 im Abschnitt über die Steuer der natürlichen Personen umfassen.
72 Art. 24 des CIR 92 sieht vor, dass die steuerpflichtigen Einkünfte von Industrie‑, Handels- und Landwirtschaftsunternehmen alle Einkünfte aus unternehmerischen Tätigkeiten umfassen, wie z. B. die Gewinne aus „allen Verrichtungen, die durch die Niederlassungen dieser Unternehmen oder durch deren Zutun durchgeführt werden“, und aus „Wertsteigerungen der Aktiva … und Wertminderungen der Passiva …, wenn diese Mehr- oder Minderwerte verwirklicht oder in der Buchhaltung oder dem Jahresabschluss aufgezeichnet wurden“.
73 Außerdem verweist der 122. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses auf Art. 183 und Art. 185 § 1 des CIR 92. Nach Art. 183 des CIR 92 sind Einkünfte, die der Gesellschaftsteuer unterliegen, hinsichtlich ihrer Art die gleichen wie die, die in Bezug auf die Steuer der natürlichen Personen vorgesehen sind; deren Berechnung beruht auf dem Grundsatz, dass das steuerpflichtige Einkommen aus der Gesamtheit der Nettoeinkünfte, darunter die Gewinne, abzüglich der abzugsfähigen Ausgaben besteht. Im Übrigen sind Gesellschaften nach Art. 185 § 1 des CIR 92 in Bezug auf den Gesamtbetrag der Gewinne steuerpflichtig.
74 Daraus folgt, dass nach den Bestimmungen des CIR 92 für die Zwecke der Körperschaftsteuer die Berechnung der steuerpflichtigen Einkünfte auf der Grundlage aller Gewinne erfolgt, die von den in Belgien steuerpflichtigen Unternehmen erzielt oder verbucht werden, auf die die gesetzlich vorgesehenen Abzüge anwendbar sind.
75 Als Zweites hat die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen und der Streithelferinnen nicht außer Acht gelassen, dass bei Gewinnen aus Transaktionen zwischen verbundenen Unternehmen Anpassungen zur Ermittlung der steuerpflichtigen Gewinne des in Belgien steuerpflichtigen Unternehmens vorzunehmen waren.
76 Zwar heißt es im 133. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass im Rahmen des von dem Körperschaftsteuersystem in Belgien vorgesehenen allgemeinen Besteuerungssystems der Gewinne von Unternehmen in Belgien der Steuer unterliegende Unternehmen auf der Grundlage ihres Gesamtgewinns, d. h. dem tatsächlich erwirtschafteten Gewinn, besteuert werden und nicht auf der Grundlage eines hypothetischen Gewinns.
77 Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht, dass die Kommission die im belgischen Körperschaftsteuersystem vorgesehenen Anpassungen nicht berücksichtigt hätte. Insbesondere im 123. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission nämlich anerkannt, dass gerade nach dem Wortlaut von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 zur Ermittlung des steuerpflichtigen Gewinns eines belgischen Unternehmens die Möglichkeit bestehe, negative Anpassungen vorzunehmen, wenn ein Teil des Gewinns dieses Unternehmens auch in den steuerpflichtigen Gewinn eines verbundenen ausländischen Unternehmens einbezogen werde.
78 So bedeutet zum einen der von der Kommission im angefochtenen Beschluss eingenommene Standpunkt entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen nicht, dass jeder Gewinn, der von in Belgien der Steuer unterliegenden Unternehmen erzielt wird, von den belgischen Steuerbehörden besteuert werden muss, ohne dass auf die in der Buchführung dieser Unternehmen erfassten Gewinne Anpassungen angewandt werden können. Die Kommission selbst berücksichtigt nämlich, dass der erzielte Gesamtgewinn die Grundlage für die Berechnung bildet, zu der im allgemeinen Körperschaftsteuersystem in Belgien Anpassungen vorgesehen sind.
79 Zum anderen geht aus dem 68. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission dem Königreich Belgien nicht vorwirft, Anpassungen im Allgemeinen vorzunehmen, sondern nur die negativen Anpassungen im Rahmen der Steuerregelung für Gewinnüberschüsse als contra legem ansieht.
80 Was als Drittes die Einstufung als Steuerbefreiung betrifft, die von der Kommission herangezogen wurde, um das System der Gewinnüberschüsse nach der fraglichen Regelung zu definieren, steht fest, dass dieses System von den belgischen Steuerbehörden selbst als „Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse“ beschrieben wurde, die in der Besteuerung nur eines Teils der Gewinne besteht, wie er vom fraglichen Unternehmen mit der Behörde für Steuervorbescheide definiert wurde. Somit wird ein Teil der Gewinne, der auf der Grundlage des im Steuervorbescheid vorgesehenen Prozentsatzes als Mehrgewinn angesehen wird, für jedes Steuerjahr während der Geltungsdauer des Steuervorbescheids von der Steuerbemessungsgrundlage der betreffenden Gesellschaft ausgenommen, und zwar unabhängig von der Art und der Höhe der von dieser Gesellschaft erzielten Gewinne. Ein solches System kann entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen und der Streithelferinnen schwerlich als bloße „Anpassung“ eingestuft werden. Der Kommission kann daher nicht vorgeworfen werden, die Regelung für Gewinnüberschüsse als Steuerbefreiung bezeichnet zu haben.
81 Unter diesen Umständen kann das Vorbringen der Klägerinnen zur Einbeziehung des Ziels des Steuersystems in die Definition des Bezugssystems und zur fehlerhaften Auslegung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92, der Teil dieses Bezugssystems sei, die von der Kommission im angefochtenen Beschluss vorgenommene Bestimmung des Bezugssystems nicht entkräften.
2) Zum Vorliegen einer Abweichung vom Bezugssystem aufgrund der Anwendung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 durch die belgischen Steuerbehörden
82 Die Klägerinnen werfen der Kommission im Wesentlichen vor, zu Unrecht angenommen zu haben, dass die belgischen Steuerbehörden Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 contra legem angewandt hätten, und daraus eine Abweichung vom Bezugssystem abgeleitet zu haben.
83 Insoweit ist auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach im Rahmen der Prüfung der Selektivität einer steuerlichen Maßnahme, nachdem in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung, also das Bezugssystem, ermittelt und geprüft worden ist, dann in einem zweiten Schritt zu beurteilen und festzustellen ist, ob der mit der fraglichen Steuermaßnahme gewährte Vorteil selektiv ist, wenn nämlich dargetan wird, dass diese Maßnahme vom allgemeinen System insoweit abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit der Steuerregelung dieses Mitgliedstaats verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden (vgl. Urteil vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a., C‑78/08 bis C‑80/08, EU:C:2011:550, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Es ist daran zu erinnern, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 123 bis 128 des angefochtenen Beschlusses erläuterte, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse kein wesentlicher Bestandteil des Bezugssystems sei.
85 Außerdem vertrat die Kommission in Abschnitt 6.3.2.1 des angefochtenen Beschlusses in erster Linie die Auffassung, dass die belgische Steuerregelung für Gewinnüberschüsse vom allgemeinen Körperschaftsteuersystem in Belgien abweiche, da dieses vorsehe, dass die Unternehmen auf der Grundlage ihres Gesamtgewinns, d. h. ihres tatsächlich erzielten Gewinns, besteuert würden und nicht auf der Grundlage eines hypothetischen durchschnittlichen Gewinns, der den von diesen Unternehmen erzielten Gesamtgewinn und die gesetzlich vorgesehenen Anpassungen außer Acht lasse.
86 Zunächst ist, wie die Kommission im 125. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zutreffend ausgeführt hat, festzustellen, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse, wie sie von den belgischen Steuerbehörden praktiziert wird, durch keine Bestimmung des CIR 92 vorgeschrieben ist.
87 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission ihre Analyse von Art. 185 § 2 des CIR 92 auf den Wortlaut dieser Bestimmung und die Begleittexte zu ihrem Inkrafttreten gestützt hat. In den Erwägungsgründen 29 bis 38 des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission nämlich erstens den Wortlaut von Art. 185 § 2 des CIR 92, der durch das Gesetz vom 21. Juni 2004 zur Änderung des CIR 92 und des Gesetzes vom 24. Dezember 2002 (Moniteur belge vom9. Juli 2004, S. 54623, im Folgenden: Gesetz vom 21. Juni 2004) eingeführt wurde, zweitens die Begründung im Entwurf dieses Gesetzes, den die belgische Regierung am 30. April 2004 der belgischen Abgeordnetenkammer vorgelegt hatte (im Folgenden: Begründung des Gesetzes vom 21. Juni 2004), und drittens das Rundschreiben vom 4. Juli 2006 betreffend Art. 185 § 2 des CIR 92 (im Folgenden: Verwaltungsrundschreiben vom 4. Juli 2006) eingehend dargestellt.
88 Art. 185 § 2 des CIR 92, auf den im 29. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen wird, lautet nämlich in seiner im vorliegenden Fall anwendbaren Fassung wie folgt:
„Unbeschadet des Absatzes 2 gilt für zwei Gesellschaften, die Teil einer multinationalen Gruppe verbundener Gesellschaften sind, und in Bezug auf ihre gegenseitigen grenzüberschreitenden Beziehungen:
…
b)
Wenn in die Gewinne einer Gesellschaft Gewinne einbezogen werden, die ebenfalls in die Gewinne einer anderen Gesellschaft einbezogen werden, und wenn die derart einbezogenen Gewinne Gewinne sind, die die andere Gesellschaft erzielt hätte, wenn die zwischen den beiden Gesellschaften vereinbarten Bedingungen denen entsprächen, die unabhängige Gesellschaften miteinander vereinbart hätten, werden die Gewinne der ersten Gesellschaft entsprechend angepasst.
Unterabsatz 1 wird mittels Vorbescheid angewandt, unbeschadet der Anwendung des Übereinkommens über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (90/436) vom 23. Juli 1990 und der internationalen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung.“
89 Sodann heißt es in der Begründung des Gesetzes vom 21. Juni 2004, auf die im 34. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen wird, dass Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 eine angemessene korrespondierende Anpassung vorsehe, um eine (mögliche) Doppelbesteuerung zu verhindern oder zu unterbinden, und dass eine korrespondierende Anpassung nur vorzunehmen sei, wenn die Steuerverwaltung oder die Behörde für Steuervorbescheide der Auffassung sei, dass die Primäranpassung dem Grundsatz und der Höhe nach gerechtfertigt sei.
90 Im Übrigen stellt die Begründung des Gesetzes vom 21. Juni 2004 klar, dass diese Bestimmung nicht anwendbar sei, wenn der in dem Partnerstaat erzielte Gewinn so erhöht werde, dass er höher sei als derjenige, der im Fall der Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes erlangt würde, da die belgischen Steuerbehörden nicht verpflichtet seien, die Folgen einer willkürlichen oder einseitigen Anpassung im Partnerstaat zu akzeptieren.
91 Schließlich wiederholt das Verwaltungsrundschreiben vom 4. Juli 2006, auf das im 38. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen wird, die Feststellung, dass eine solche negative Anpassung keine Anwendung findet, wenn die von einer anderen Rechtsordnung vorgenommene positive primäre Anpassung überhöht ist. Im Übrigen übernimmt dieses Rundschreiben weitgehend den Wortlaut der Begründung des Gesetzes vom 21. Juni 2004, in dem darauf hingewiesen wird, dass die entsprechende negative Anpassung ihren Sinn im Fremdvergleichsgrundsatz habe, dass sie die Verhinderung oder Unterbindung einer (möglichen) Doppelbesteuerung bezwecke und dass sie in geeigneter Weise vorzunehmen sei, d. h., dass die belgischen Steuerbehörden diese Anpassung nur vornehmen dürften, wenn sie dem Grundsatz und der Höhe nach gerechtfertigt sei.
92 Folglich geht aus dem Wortlaut von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 hervor, dass die negative Anpassung im Rahmen der grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen zwei verbundenen Gesellschaften vorgesehen ist und in dem Sinne wechselseitig sein muss, dass sie nur unter der Voraussetzung anwendbar ist, dass die Gewinne, die Gegenstand der Anpassung sind, ebenfalls in die Gewinne einer anderen Gesellschaft einbezogen werden, und die Gewinne, die derart einbezogen werden, Gewinne sind, die die andere Gesellschaft erzielt hätte, wenn die zwischen den beiden Gesellschaften vereinbarten Bedingungen denen entsprächen, die unabhängige Gesellschaften miteinander vereinbart hätten.
93 Diese Feststellung wird sowohl durch die Begründung des Gesetzes vom 21. Juni 2004 als auch durch das Verwaltungsrundschreiben vom 4. Juli 2006 bestätigt, in denen hervorgehoben wird, dass die korrespondierende Anpassung dem Grundsatz und der Höhe nach angemessen sein muss und dass diese Anpassung nicht vorgenommen wird, wenn die in einem anderen Staat erzielten Gewinne so erhöht werden, dass sie höher sind als diejenigen, die in Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes erzielt worden wären. In diesen Texten heißt es nämlich, dass die in Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 vorgesehene negative Anpassung eine Korrelation zwischen den in Belgien nach unten angepassten Gewinnen und den Gewinnen erfordert, die bei einem anderen Konzernunternehmen mit Sitz in einem anderen Staat einbezogen worden sind.
94 Außerdem nehmen diese Texte zwar auf das Ziel Bezug, eine mögliche Doppelbesteuerung zu vermeiden, doch kann diese Erwähnung nicht die ausdrücklich in Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 vorgesehene Voraussetzung beseitigen, dass die anzupassenden Gewinne auch in die Gewinne einer anderen Gesellschaft einbezogen worden sein müssen und dass diese derart einbezogenen Gewinne solche sind, die die andere Gesellschaft erzielt hätte, wenn die zwischen den beiden Gesellschaften vereinbarten Bedingungen denen entsprächen, die unabhängige Gesellschaften miteinander vereinbart hätten. Somit ist die in Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 vorgesehene Anpassung nicht an die Bedingung geknüpft, dass die anzupassenden Gewinne tatsächlich in einem anderen Staat besteuert wurden. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt lediglich voraus, dass die anzupassenden Gewinne in die Gewinne einer anderen Gesellschaft einbezogen worden sein müssen und dass diese Gewinne solche sind, die erzielt worden wären, wenn die hinsichtlich ihrer Beziehungen vereinbarten Bedingungen denen entsprächen, die unabhängige Gesellschaften miteinander vereinbart hätten. Gerade wenn nämlich die Gewinne eines belgischen Unternehmens auch in die Gewinne einer anderen Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Staat einbezogen sind, kann die Möglichkeit einer Doppelbesteuerung bestehen.
95 Dagegen sieht die von den belgischen Steuerbehörden angewandte Steuerregelung für Gewinnüberschüsse eine negative Anpassung der Gewinne vor, ohne dass die in Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt wären.
96 Diese Regelung, wie sie von der Kommission in den Erwägungsgründen 13 bis 22 des angefochtenen Beschlusses beschrieben wurde, bestand im Wesentlichen in einer abstrakten einseitigen Steuerbefreiung eines bestimmten Teils oder eines bestimmten Prozentsatzes des tatsächlich erzielten Gewinns eines belgischen Unternehmens, das einem multinationalen Konzern angehört.
97 Außerdem hat die Kommission in den Erwägungsgründen 39 bis 42 des angefochtenen Beschlusses die Antworten des Finanzministers auf parlamentarische Anfragen zur Anwendung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 vom 13. April 2005, vom 11. April 2007 und vom 6. Januar 2015 berücksichtigt. Diese Antworten legen die Verwaltungspraxis der belgischen Steuerbehörden in Bezug auf Gewinnüberschüsse dar.
98 Aus diesen Antworten geht hervor, dass im Rahmen der von den belgischen Steuerbehörden angewandten Regelung für Gewinnüberschüsse die negative Anpassung der Gewinne, mit der diese Gewinnüberschüsse von der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen werden konnten, nicht davon abhing, dass die befreiten Gewinne in die Gewinne einer anderen Gesellschaft einbezogen werden und dass diese Gewinne solche sind, die die andere Gesellschaft erzielt hätte, wenn die zwischen den beiden Gesellschaften vereinbarten Bedingungen denen entsprächen, die unabhängige Gesellschaften miteinander vereinbart hätten.
99 Außerdem geht aus den Erläuterungen des Königreichs Belgien hervor, wie sie u. a. in den Erwägungsgründen 15 bis 20 des angefochtenen Beschlusses wiedergegeben sind, dass die von den belgischen Steuerbehörden im Rahmen der fraglichen Regelung angewandte Befreiung auf einem Prozentsatz der Nichtbesteuerung beruht habe, der auf der Grundlage eines hypothetischen durchschnittlichen Gewinns für das belgische Unternehmen berechnet worden sei, der anhand eines Gewinnindikators ermittelt worden sei, der sich aus einem Vergleich mit den Gewinnen vergleichbarer eigenständiger Unternehmen ergeben habe und als Wert festgesetzt werde, der in der Interquartilspanne des Gewinnindikators liege, der für eine Gruppe vergleichbarer eigenständiger Unternehmen gewählt worden sei. Dieser Prozentsatz der Nichtbesteuerung habe mehrere Jahre lang gegolten, nämlich während der Geltungsdauer des Steuervorbescheids. Daher nahm die Besteuerung der belgischen Unternehmen, die sich daraus ergab, als Ausgangspunkt nicht die Gesamtheit der tatsächlich erzielten Gewinne im Sinne der Art. 1, 24 und 183 sowie Art. 185 § 1 des CIR 92, auf die die im Fall von Unternehmensgruppen nach Art. 185 § 2 des CIR 92 gesetzlich vorgesehenen Anpassungen angewandt worden wären, sondern vielmehr einen hypothetischen Gewinn, der den vom fraglichen belgischen Unternehmen erzielten Gesamtgewinn und die gesetzlich vorgesehenen Anpassungen außer Acht lässt.
100 Zum Vorbringen der Klägerinnen, das sich auf ein Urteil der Rechtbank van eerste aanleg van Brussel (Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien) vom 21. Juni 2019 stützt, ist festzustellen, dass sich im Rahmen des Rechtsstreits, in dem dieses Urteil ergangen ist, die Frage stellte, ob die belgische Steuerverwaltung gemäß Art. 23 des Gesetzes vom 24. Dezember 2002 zwei von der Behörde für Steuervorbescheide erlassene Steuervorbescheide außer Acht lassen durfte, was dieses Gericht verneinte. Insoweit stellte dieses Gericht ausdrücklich fest, dass die Anwendung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 als solche nicht Teil des in Rede stehenden Rechtsstreits sei. Der Vollständigkeit halber führte dieses Gericht jedoch in Beantwortung eines Vorbringens der belgischen Steuerverwaltung zur Tragweite von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 aus, dass die Anwendung dieser Bestimmung eine Bewertung der Gewinne jeder der von der grenzüberschreitenden Beziehung innerhalb des Konzerns betroffenen Gesellschaften erfordere. Außerdem wies das Gericht unter Hinweis darauf, dass die Anwendung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 die Vermeidung der Doppelbesteuerung bezwecke, das Vorbringen der belgischen Verwaltung, mit dem die Anwendung einer solchen Bestimmung wegen des Fehlens einer Doppelbesteuerung im vorliegenden Fall in Frage gestellt worden war, als unerheblich zurück. Dieses Urteil kann daher die Schlussfolgerungen der Kommission nicht in Frage stellen.
101 So konnte die Kommission im 136. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Recht zu dem Ergebnis kommen, dass Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92, der vom Königreich Belgien als Grundlage für die fragliche Regelung geltend gemacht werde, weder den Sinn noch die von dieser Regelung befürwortete Wirkung habe und dass die fragliche Regelung daher eher eine Abweichung vom belgischen Steuerrecht, darunter Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92, darstelle.
102 Folglich hat die Kommission keinen Beurteilungsfehler begangen, als sie im Rahmen ihrer Hauptargumentation feststellte, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse vom allgemeinen Körperschaftsteuersystem in Belgien abweiche.
3) Zum Vorliegen einer Unterscheidung zwischen Wirtschaftsteilnehmern, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, durch die Abweichung vom Bezugssystem
103 Die Klägerinnen werfen der Kommission vor, sie sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die fragliche Regelung zu einer unterschiedlichen Behandlung der Begünstigten gegenüber anderen Wirtschaftsteilnehmern, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, führe.
104 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 138 bis 140 des angefochtenen Beschlusses drei alternative Gründe für ihre Schlussfolgerung angeführt hat, die der Vollständigkeit halber nacheinander zu prüfen sind.
i) Zur unterschiedlichen Behandlung der Begünstigten, die zu einem multinationalen Konzern gehören
105 Die Kommission stellte im 138. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass die Regelung selektiv sei, weil sie nur Unternehmen offenstehe, die einem multinationalen Konzern angehörten.
106 Zwar ist Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 auf Gesellschaften anwendbar, die einem multinationalen Konzern angehören. Wie sich jedoch aus der Begründung des Gesetzes vom 21. Juni 2004 ergibt, zielt der Zweck von Art. 185 § 2 des CIR 92 darauf ab, verbundene Unternehmen und nicht verbundene Unternehmen auf eine gleiche Stufe zu stellen.
107 Wie oben in Rn. 65 ausgeführt, besteht das Ziel des allgemeinen Körperschaftsteuersystems in Belgien, wie es sich aus dem 129. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, darin, alle steuerpflichtigen Gewinne von Unternehmen, die in Belgien der Körperschaftsteuer unterliegen, unabhängig davon zu besteuern, ob sie eigenständig oder Teil eines multinationalen Konzerns sind. Außerdem sind, wie oben in Rn. 74 ausgeführt, nach den normalen belgischen Steuervorschriften die steuerpflichtigen Gewinne der Unternehmen dem Grunde nach alle Gewinne, die verwirklicht oder in der Buchhaltung oder ihrem Jahresabschluss aufgezeichnet wurden.
108 Dagegen gewährte die von den belgischen Steuerbehörden angewandte Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse, soweit sie von Art. 185 § 2 des CIR 92 abweicht, den betreffenden Begünstigten eine Steuervergünstigung, da sie einem multinationalen Konzern angehörten, indem sie ihnen gestattete, von ihrer Besteuerungsgrundlage einen Teil ihrer erzielten Gewinne abzuziehen, ohne dass diese befreiten Gewinne in die Gewinne einer anderen Gesellschaft des Konzerns einbezogen wurden.
109 Es bestünde daher eine unterschiedliche Behandlung von Unternehmen, die einem multinationalen Konzern angehören, die nach der fraglichen Regelung in den Genuss der Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse gekommen sind, in Höhe eines Prozentsatzes der Steuerbefreiung, der auf der Grundlage eines hypothetischen durchschnittlichen Gewinns berechnet wird, der den von diesen Unternehmen erzielten Gesamtgewinn und die gesetzlich vorgesehenen Anpassungen außer Acht lässt, und von anderen, eigenständigen oder einem Konzern angehörenden Unternehmen, die nach der allgemeinen Körperschaftsteuerregelung in Belgien auf die Gesamtheit ihrer tatsächlich erzielten Gewinne, gegebenenfalls bei Unternehmen, die einem Konzern angehörten, nach Anwendung der Anpassung nach Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92, unter den dort vorgesehenen Bedingungen, besteuert worden wären.
110 Somit kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, festgestellt zu haben, dass die einem multinationalen Konzern angehörenden Unternehmen, denen die Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse nach der fraglichen Regelung, die eine Anpassung darstellt, die als solche nicht gesetzlich vorgesehen ist, zugutegekommen ist, anders behandelt worden seien als andere Unternehmen in Belgien, denen sie nicht zugutegekommen sei, obwohl sich diese Unternehmen im Hinblick auf das Ziel des allgemeinen Körperschaftsteuersystems in Belgien – nämlich alle steuerpflichtigen Gewinne aller Unternehmen, die gebietsansässig oder über eine feste Niederlassung in Belgien aktiv seien, zu besteuern – in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befunden hätten.
ii) Zur unterschiedlichen Behandlung gegenüber Unternehmen, die in Belgien keine Investitionen getätigt, Arbeitsplätze geschaffen oder Geschäftstätigkeiten zentralisiert haben
111 Im 139. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission ausgeführt, dass die fragliche Regelung selektiv sei, da sie Unternehmen, die sich dafür entschieden hätten, in Belgien keine Investitionen zu tätigen, keine Arbeitsplätze zu schaffen oder keine Geschäftstätigkeiten zu zentralisieren, nicht offenstehe. Die Kommission wies darauf hin, dass Art. 20 des Gesetzes vom 24. Dezember 2002 den Erlass von Steuervorbescheiden vom Vorliegen einer Situation oder eines Geschäfts abhängig mache, die noch keine steuerliche Wirkung hätten, und dass ein Steuervorbescheid erforderlich sei, um in den Genuss der Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse zu kommen.
112 Bei der von der Kommission analysierten Stichprobe der Steuervorbescheide, in denen die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse bewilligt werde, habe jeder Steuervorbescheid bedeutende Investitionen, die Zentralisierung von Geschäftstätigkeiten oder die Schaffung von Arbeitsplätzen in Belgien erwähnt. Daher begründe die Pflicht, dass eine „neue Situation“ bestehen müsse, der die Anträge auf Steuervorbescheid unterlägen, um die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse in Anspruch zu nehmen, eine unterschiedliche Behandlung von multinationalen Konzernen, die ihr Geschäftsmodell änderten und neue Tätigkeiten in Belgien aufnähmen und von allen anderen Wirtschaftsteilnehmern (einschließlich multinationalen Konzernen), die ihre bestehenden Geschäftsmodelle in Belgien weiter betrieben.
113 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 142 bis 144 des Rechtsmittelurteils bestätigt hat, dass die Auswahl einer Stichprobe von 22 Steuervorbescheiden, die in den Jahren 2005, 2007, 2010 und 2013 erlassen wurden, angemessen und hinreichend repräsentativ war.
114 Außerdem ist der Begriff Vorbescheid in Art. 20 des Gesetzes vom 24. Dezember 2002 definiert als der Rechtsakt, durch den der Föderale Öffentliche Dienst Finanzen nach den geltenden Vorschriften entscheidet, wie das Gesetz in einer bestimmten Situation oder auf ein bestimmtes Geschäft, das noch keine steuerliche Wirkung entfaltet hat, anwendbar ist. Im Übrigen bestimmt Art. 22 des Gesetzes vom 24. Dezember 2002, dass u. a. dann kein Steuervorbescheid erlassen werden kann, wenn sich der Antrag auf Situationen oder Geschäfte bezieht, die mit solchen identisch sind, die bereits steuerliche Wirkungen in Bezug auf den Antragsteller hatten.
115 Zwar kann aus den oben in Rn. 114 angeführten Bestimmungen nicht geschlossen werden, dass die Vornahme von Investitionen, die Schaffung von Arbeitsplätzen oder die Zentralisierung von Geschäftstätigkeiten in Belgien ausdrücklich Voraussetzungen für den Erhalt eines Steuervorbescheids sind.
116 Aus der von der Kommission im angefochtenen Beschluss geprüften Stichprobe der Steuervorbescheide geht jedoch hervor, dass diese Bescheide tatsächlich nach Vorschlägen der Antragsteller erteilt wurden, in Belgien Investitionen zu tätigen, dort bestimmte Tätigkeiten neu anzusiedeln oder eine bestimmte Zahl von Arbeitsplätzen zu schaffen. Die drei in Fn. 80 des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Beispiele, in denen die Antragsteller der fraglichen Steuervorbescheide ihre Pläne für Investitionen und Rezentralisierung von Geschäftstätigkeiten in Belgien beschrieben haben, zeigen nämlich, dass in der Praxis die Voraussetzung für den Erlass eines Steuervorbescheids, die das Vorliegen einer Situation betrifft, die noch keine steuerliche Wirkung hatte, durch Investitionen, die Zentralisierung von Geschäftstätigkeiten oder die Schaffung von Arbeitsplätzen in Belgien erfüllt wurde.
117 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall gerade die Verwaltungspraxis der belgischen Steuerbehörden, Gewinne durch Steuervorbescheide von der Steuer zu befreien, als Abweichung von der Bestimmung in Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 angesehen wurde. Mit diesen Steuervorbescheiden wurde den Begünstigten durch die Befreiung der sogenannten „Mehrgewinne“ ein Vorteil gewährt, der in der Minderung ihrer Steuerbemessungsgrundlage bestand. Dagegen wurden die Unternehmen, die ihr Geschäftsmodell nicht geändert hatten, um neue steuerliche Situationen zu schaffen, die im Hinblick auf diese Praxis systematisch in Investitionen, in der Zentralisierung von Geschäftstätigkeiten oder in der Schaffung von Arbeitsplätzen in Belgien bestanden, und daher keine Steuervorbescheide beantragt hatten, mit allen ihren steuerpflichtigen Gewinnen besteuert. Folglich hat die fragliche Regelung zu einer unterschiedlichen Behandlung von Gesellschaften geführt, die sich im Hinblick auf das Ziel des allgemeinen Körperschaftsteuersystems in Belgien in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befanden.
118 Unter diesen Umständen kann der Kommission nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie im 139. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass das fragliche System selektiv ist, da es Unternehmen, die sich dafür entschieden haben, in Belgien keine Investitionen zu tätigen, dort keine Geschäftstätigkeiten zu zentralisieren oder dort keine Arbeitsplätze zu schaffen, nicht offensteht.
iii) Zur unterschiedlichen Behandlung gegenüber Unternehmen, die einem kleinen Konzern angehören
119 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass die fragliche Regelung selektiv sei, da nur belgische Unternehmen, die einem großen oder mittelgroßen multinationalen Konzern angehörten, die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse auch tatsächlich in Anspruch nehmen könnten.
120 Im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses legte die Kommission dar, dass nur Unternehmen, die einem multinationalen Konzern angehörten, der eine ausreichende Größe besitze, einen Anreiz gehabt hätten, einen Steuervorbescheid zu erhalten, da nur innerhalb großer Konzerne Gewinne aus Synergien, Skaleneffekten und anderen Vorteilen in erheblicher Höhe hätten erzielt werden können, die den Antrag auf Vorbescheid gerechtfertigt hätten. Außerdem habe das Verfahren zur Erwirkung eines Steuervorbescheids einen detaillierten Antrag erfordert, in dem die neue Situation, die eine Steuerbefreiung rechtfertige, dargelegt werde und Untersuchungen über die Mehrgewinne vorgelegt würden, was für kleine Konzerne deutlich lästiger gewesen sei als für große Unternehmen.
121 Insoweit ist unstreitig, dass innerhalb der von der Kommission geprüften Stichprobe von 22 Steuervorbescheiden nach der fraglichen Regelung, wie sie im 65. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschrieben wurde und die in den Rn. 142 bis 144 des Rechtsmittelurteils als angemessen und repräsentativ eingestuft wurde, keiner dieser Bescheide Unternehmen betraf, die kleinen Konzernen angehörten.
122 Außerdem ist, wie im 66. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausgeführt wird, unstreitig, dass es dem Königreich Belgien im Verwaltungsverfahren, nach einer solche Feststellung durch die Kommission auf der Grundlage der Stichprobe von 22 Steuervorbescheiden und auf eine entsprechende Aufforderung der Kommission hin, nicht gelungen ist, seine Behauptung zu belegen, dass die Befreiung auch Unternehmen gewährt worden sei, die kleinen Konzernen angehörten.
123 Im Hinblick auf die von der Kommission betrachtete Verwaltungspraxis haben somit Unternehmen, die großen und mittleren Konzernen angehörten, die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse in Anspruch genommen, unter Ausschluss von Unternehmen, die kleinen Konzernen angehörten.
124 Unter diesen Umständen kann der Kommission nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass das fragliche System selektiv sei, da es den Unternehmen, die einem kleinen Konzern angehörten, nicht offenstehe.
125 Selbst wenn man annähme, dass die Kommission zu Unrecht einen solchen Grund in Bezug auf die unterschiedliche Behandlung von Unternehmen, die einem kleinen Konzern angehörten, festgestellt hat, würde dies jedenfalls die Gültigkeit der beiden anderen von der Kommission angeführten und oben in den Rn. 105 bis 110 und 111 bis 118 geprüften Gründe nicht beeinträchtigen.
c)
Ergebnis zum Klagegrund betreffend einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV sowie gegen die Begründungspflicht und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, da der angefochtene Beschluss im Rahmen der Hauptargumentation der Kommission die fragliche Regelung als selektive Maßnahme einstufe
126 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Kommission im Rahmen ihrer Hauptargumentation, obwohl sie die Begriffe „Vorteil“ und „Selektivität“ gemeinsam geprüft hat, ihre Feststellung zum Vorliegen eines Vorteils hinreichend begründet hat, da diese Prüfung fehlerfrei ist. Außerdem hat die Kommission das Bezugssystem zutreffend als das allgemeinrechtliche System zur Besteuerung von Unternehmensgewinnen ermittelt, das im belgischen Körperschaftsteuersystem vorgesehen ist, dessen Zielsetzung die Besteuerung der Gewinne aller der Steuerpflicht in Belgien unterliegenden Unternehmen ist, in das sich Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 einfügt. Im Übrigen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse, ohne zu verlangen, dass diese Gewinne in die Gewinne einer anderen Gesellschaft einbezogen würden, vom Bezugssystem abweiche und die Begünstigten anders behandele als andere Unternehmen, die sich in Anbetracht des Ziels dieses Systems in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden.
127 Folglich ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen, soweit mit ihm die von der Kommission im Rahmen ihrer Hauptargumentation getroffene Feststellung beanstandet wird, dass die fragliche Regelung diesen Begünstigten einen selektiven Vorteil im Sinne von Art. 107 AEUV gewährt habe.
128 Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, die Begründetheit der Argumente zu prüfen, die die Klägerinnen im Rahmen des zweiten und des dritten Klagegrundes gegen die Schlussfolgerung der Kommission zum Vorliegen eines selektiven Vorteils im Rahmen ihrer ergänzenden Argumentation zur Selektivität in Abschnitt 6.3.2.2 des angefochtenen Beschlusses vorgebracht haben.
3. Zum vierten, hilfsweise geltend gemachten Klagegrund betreffend einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Befugnismissbrauch und das Fehlen einer Begründung, soweit die Kommission dem Königreich Belgien aufgegeben habe, die mit der fraglichen Regelung gewährten Beihilfen zurückzufordern
129 Der vierte, hilfsweise geltend gemachte Klagegrund gliedert sich in drei Teile, die einen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit, die Bestimmung der Empfänger und den Betrag der zurückzufordernden Beihilfen betreffen.
130 Nach Ansicht der Kommission ist der von den Klägerinnen geltend gemachte Klagegrund zurückzuweisen.
a)
Zum ersten Teil betreffend einen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit
131 Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend, die Kommission habe gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, da es insbesondere nicht möglich gewesen sei, den Standpunkt der Kommission vorherzusehen, da sie im angefochtenen Beschluss bei der Ermittlung der steuerpflichtigen Gewinne einen Fremdvergleichsgrundsatz sui generis angewandt habe, obwohl es in der Union insoweit keine Harmonisierung gegeben habe und obwohl sie bisher von anderen Mitgliedstaaten angewandte ähnliche Regelungen nicht beanstandet habe.
132 Nach ständiger Rechtsprechung zählt der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu den tragenden Grundsätzen der Union und die Möglichkeit, sich auf ihn zu berufen, steht jedem Wirtschaftsteilnehmer offen, bei dem ein Organ durch präzise Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. Urteil vom 24. Oktober 2013, Kone u. a./Kommission, C‑510/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:696, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
133 Insoweit ist festzustellen, dass sich die Klägerinnen auf die Behauptung beschränken, sie hätten nicht erwarten können, dass die Steuervorbescheide staatliche Beihilfen darstellten. Sie tragen kein durch Beweise untermauertes Argument vor, um darzutun, dass sie von der Kommission präzise Zusicherungen im Sinne der oben in Rn. 132 angeführten Rechtsprechung erhalten hätten, die begründete Erwartungen darauf hätten wecken können, dass die Kommission durch Steuervorbescheide gewährte Befreiungen nicht als rechtswidrige und unvereinbare staatliche Beihilfen angesehen habe, da sie vom allgemeinen Körperschaftsteuersystem in Belgien, insbesondere von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92, abwichen.
134 Da die Kommission im Rahmen ihrer Hauptargumentation zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die fragliche Regelung ihren Begünstigten einen selektiven Vorteil im Sinne von Art. 107 AEUV gewährt habe, wie sich oben aus den Rn. 126 und 127 ergibt, geht das Vorbringen der Klägerinnen, mit dem sie einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes durch die Schlussfolgerungen der Kommission im Rahmen ihrer ergänzenden Argumentation geltend machen, jedenfalls ins Leere.
135 Nach alledem ist das Vorbringen der Klägerinnen zum Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes zurückzuweisen.
136 Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, nach ständiger Rechtsprechung verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen (Urteil vom 9. September 2004, Spanien und Finnland/Parlament und Rat, C‑184/02 und C‑223/02, EU:C:2004:497, Rn. 57; vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 11. Juli 2002, Käserei Champignon Hofmeister, C‑210/00, EU:C:2002:440, Rn. 59, und vom 7. Juli 2009, S.P.C.M. u. a., C‑558/07, EU:C:2009:430, Rn. 41).
137 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Aufhebung einer rechtswidrigen Beihilfe durch Rückforderung die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit ist, so dass die Rückforderung dieser Beihilfe zwecks Wiederherstellung der früheren Lage grundsätzlich nicht als eine Maßnahme betrachtet werden kann, die außer Verhältnis zu den Zielen der Vertragsbestimmungen über staatliche Beihilfen stünde (vgl. Urteil vom 28. Juli 2011, Diputación Foral de Vizcaya u. a./Kommission, C‑471/09 P bis C‑473/09 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:521, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung).
138 Im vorliegenden Fall kann dieser Grundsatz durch das Vorbringen der Klägerinnen, wonach die Rückforderung von allen Begünstigten eines Steuervorbescheids unabhängig von ihrer Größe, ihren Ressourcen und ihrem Komplexitätsgrad angeordnet worden sei, nicht in Frage gestellt werden. Wie sich nämlich aus der oben in Rn. 137 angeführten Rechtsprechung ergibt, kann die Rückforderung staatlicher Beihilfen, da sie die einzige Folge ihrer Rechtswidrigkeit und ihrer Unvereinbarkeit mit den Vorschriften über staatliche Beihilfen ist, nicht von der Situation ihrer Begünstigten abhängen.
139 Da die Kommission im vorliegenden Fall zu Recht feststellen konnte, dass die fragliche Regelung ihren Begünstigten staatliche Beihilfen gewährt hat, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar und rechtswidrig waren, kann die mit dem angefochtenen Beschluss angeordnete Rückforderung der Beihilfen keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darstellen.
140 Folglich ist der vorliegende Teil des Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit gerügt wird, zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil betreffend einen Befugnismissbrauch, das Fehlen einer Begründung und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler bei der Bestimmung der Beihilfeempfänger
141 Die Klägerinnen wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmung der Beihilfeempfänger in den Erwägungsgründen 184 bis 186 des angefochtenen Beschlusses und gegen die Tatsache, dass Art. 2 Abs. 2 des verfügenden Teils dieses Beschlusses die Rückforderung des Betrags dieser Beihilfe von den so bezeichneten Begünstigten anordnet.
142 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im 183. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, dass die belgischen Unternehmen, die einen Steuervorbescheid erhalten hätten, der es ihnen gestatte, den Gewinn, der als Überschuss angesehen werde, abzuziehen, um ihren steuerpflichtigen Gewinn zu ermitteln, die Begünstigten der fraglichen staatlichen Beihilfen seien.
143 Außerdem wies die Kommission im 184. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses darauf hin, dass zur Anwendung der Regelungen für staatliche Beihilfen verschiedene Rechtseinheiten als eine wirtschaftliche Einheit angesehen werden könnten, die als Begünstigte der Beihilfe betrachtet werden könnten. Sie war daher der Ansicht, dass im vorliegenden Fall belgische Unternehmen, von denen die fragliche Regelung in Anspruch genommen werde, als Hauptunternehmen zugunsten anderer Unternehmen innerhalb des Konzerns, den sie oft kontrollierten, tätig gewesen seien. Die belgischen Unternehmen würden ihrerseits von dem Unternehmen kontrolliert, das den gesamten Konzern lenke. Folglich könne der multinationale Konzern als Ganzes als Begünstigter der Beihilfemaßnahme angesehen werden.
144 Außerdem stellte die Kommission im 185. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass es der Konzern als Ganzes sei, unabhängig davon, ob er in verschiedenen Rechtseinheiten organisiert sei, der die Zentralisierung gewisser Tätigkeiten oder die Vornahme der erforderlichen Investitionen in Belgien beschlossen habe, um die Steuervorbescheide in Anspruch zu nehmen.
145 So hat sie im 186. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses daraus den Schluss gezogen, dass, neben den belgischen Unternehmen, die in den Genuss der fraglichen Regelung gekommen seien, die multinationalen Konzerne, denen diese Unternehmen angehörten, als Begünstigte der Beihilferegelung im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV anzusehen seien.
146 Nach Art. 2 Abs. 1 des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses fordert das Königreich Belgien die in Art. 1 genannte Beihilfe von den Empfängern zurück. Nach Art. 2 Abs. 2 dieses verfügenden Teils werden alle Beträge, die nach der Rückforderung gemäß Abs. 1 noch nicht zurückerhalten wurden, von dem Konzern, dem der Beihilfeempfänger angehört, zurückgefordert.
147 Als Erstes ist zum behaupteten Verstoß gegen die Begründungspflicht festzustellen, dass die Feststellungen der Kommission in den Erwägungsgründen 183 bis 186 des angefochtenen Beschlusses, mit denen die Anordnung der Rückforderung der durch die fragliche Regelung gewährten Beihilfen von Konzernen gerechtfertigt wird, denen die Begünstigten der Steuervorbescheide angehörten, den oben in Rn. 44 dargelegten Anforderungen an die Begründungspflicht genügen.
148 Was als Zweites das Vorbringen der Klägerinnen betrifft, mit dem die Begründetheit der Anordnung der Rückforderung von Konzernen, denen die Begünstigten der Steuervorbescheide angehörten, in Frage gestellt wird, sind folgende Erwägungen anzustellen.
149 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in einer Entscheidung über eine Beihilferegelung keine Analyse der im Einzelfall aufgrund einer solchen Regelung gewährten Beihilfe durchzuführen braucht. Erst im Stadium der Rückforderung der Beihilfen ist es erforderlich, die konkrete Situation jedes einzelnen betroffenen Unternehmens zu untersuchen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. März 2002, Italien/Kommission, C‑310/99, EU:C:2002:143, Rn. 89 und 91, vom 9. Juni 2011, Comitato Venezia vuole vivere u. a./Kommission, C‑71/09 P, C‑73/09 P und C‑76/09 P, EU:C:2011:368, Rn. 63, und vom 13. Juni 2019, Copebi, C‑505/18, EU:C:2019:500, Rn. 28 bis 33).
150 Außerdem verfügt die Kommission nach gefestigter Rechtsprechung über ein weites Ermessen, wenn sie im Rahmen der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen zu bestimmen hat, ob verschiedene Rechtseinheiten für die Zwecke der Anwendung dieser Vorschriften eine wirtschaftliche Einheit bilden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 2010, AceaElectrabel Produzione/Kommission, C‑480/09 P, EU:C:2010:787, Rn. 63, und vom 25. Juni 1998, British Airways u. a./Kommission, T‑371/94 und T‑394/94, EU:T:1998:140, Rn. 314).
151 So ist entschieden worden, dass die Kommission bei der Beurteilung der Begünstigten einer staatlichen Beihilfe und der Folgen, die aus einem Beschluss, mit dem die Rückforderung dieser Beihilfe angeordnet wird, zu ziehen sind, davon ausgehen durfte, dass zwischen mehreren verschiedenen Rechtseinheiten eine wirtschaftliche Einheit besteht, insbesondere wenn diese durch ein Kontrollverhältnis verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. November 1984, Intermills/Kommission, 323/82, EU:C:1984:345, Rn. 11, und vom 16. Dezember 2010, AceaElectrabel Produzione/Kommission, C‑480/09 P, EU:C:2010:787, Rn. 64).
152 In den Erwägungsgründen 184 bis 186 des angefochtenen Beschlusses wies die Kommission darauf hin, dass im Rahmen der fraglichen Regelung Kontrollverhältnisse zwischen dem belgischen Unternehmen und den anderen Unternehmen des Konzerns, dem sie angehörten, bestanden hätten. So habe zum einen das belgische Unternehmen zentrale Funktionen für andere Unternehmen der Gruppe ausgeübt, die oft von diesem Unternehmen kontrolliert worden seien. Zum anderen seien die Entscheidungen innerhalb multinationaler Konzerne über die Strukturen, die zu den fraglichen Befreiungen geführt hätten, nämlich die Zentralisierung von Geschäftstätigkeiten in Belgien oder die in Belgien getätigten Investitionen, innerhalb des Konzerns getroffen worden, zwangsläufig von Unternehmen, die dessen Kontrolle ausübten. Im Übrigen geht aus der Beschreibung der Steuerregelung für Gewinnüberschüsse durch das Königreich Belgien, wie sie u. a. im 14. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wiedergegeben ist, hervor, dass die befreiten Gewinnüberschüsse durch Synergien und Skaleneffekte erzielt worden sein sollen, die sich aus der Zugehörigkeit der fraglichen belgischen Unternehmen zu einem multinationalen Konzern ergäben.
153 Daraus folgt, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss Gesichtspunkte hervorgehoben hat, die es ihr erlaubten, grundsätzlich auf das Bestehen von Kontrollverhältnissen innerhalb der multinationalen Konzerne zu schließen, denen die belgischen Unternehmen, die Steuervorbescheide erhalten haben, angehörten. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte der fraglichen Regelung kann nicht der Schluss gezogen werden, dass die Kommission ihr Ermessen überschritten hat, als sie feststellte, dass diese Konzerne eine wirtschaftliche Einheit mit diesen Unternehmen bildeten, die staatliche Beihilfen nach dieser Regelung im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV erhalten haben.
154 Zur Rückforderungsanordnung ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 16 der Verordnung 2015/1589 die Kommission, wenn sie das Vorliegen einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren und rechtswidrigen staatlichen Beihilfe feststellt, entscheidet, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern.
155 Folglich hat die Kommission keinen Rechtsfehler begangen, als sie in Art. 2 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses die Rückforderung aller Beträge, die von den Begünstigten nicht zurückerhalten wurden, von den Konzernen angeordnet hat, von denen festgestellt worden war, dass sie mit den belgischen Unternehmen, die nach der fraglichen Beihilferegelung einen Steuervorbescheid erhalten hätten, eine wirtschaftliche Einheit bildeten.
156 Nach alledem ist der zweite Teil des vierten Klagegrundes zurückzuweisen.
c)
Zum dritten Teil betreffend einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV und einen Befugnismissbrauch, soweit der angefochtene Beschluss die Rückforderung eines Betrags anordnet, der höher sein könnte als der von den Begünstigten empfangene Vorteil
157 Die Klägerinnen werfen der Kommission im Wesentlichen vor, bei der Anordnung der Rückforderung eines Betrags in Höhe der Steuer, die ohne einen Steuervorbescheid auf die Einkünfte der Begünstigten erhoben worden wäre, etwaige positive Anpassungen, die eine andere Steuerverwaltung für Gewinnüberschüsse hätte vornehmen können, nicht berücksichtigt zu haben.
158 Es ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 1 des angefochtenen Beschlusses festgestellt wird, dass die von der fraglichen Regelung vorgesehene Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse eine Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist und rechtswidrig angewendet wurde. Außerdem ordnet Art. 2 dieses Beschlusses die Rückforderung dieser Beihilfe von ihren Empfängern an.
159 In den Erwägungsgründen 207 bis 210 des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission Angaben zur Methode zur Ermittlung der tatsächlichen Höhe des den Begünstigten gewährten Steuervorteils gemacht und darauf hingewiesen, dass diese Methode noch in Zusammenarbeit mit den belgischen Steuerbehörden präzisiert werden könne, um insbesondere der individuellen Situation der Begünstigten Rechnung zu tragen.
160 Im Übrigen kam die Kommission im 211. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass die angeordnete Rückforderung gewährleisten solle, dass die definitiv von dem durch die Regelung begünstigten Unternehmen zu entrichtende Steuer diejenige Steuer sei, die es ohne die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse zu bezahlen gehabt hätte.
161 Zum Vorbringen der Klägerinnen ist erstens auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach die Kommission im Rahmen von Entscheidungen über Beihilferegelungen keine Analyse der im Einzelfall aufgrund einer solchen Regelung gewährten Beihilfe durchzuführen braucht. Erst im Stadium der Rückforderung der Beihilfen ist es erforderlich, die konkrete Situation jedes einzelnen betroffenen Unternehmens zu untersuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2011, Comitato Venezia vuole vivere u. a./Kommission, C‑71/09 P, C‑73/09 P und C‑76/09 P, EU:C:2011:368, Rn. 63 bis 64 und 130). Daher kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, im Stadium des Beschlusses, mit dem die Rückforderung der Beihilfe im Rahmen der fraglichen Regelung angeordnet wird, die konkrete Situation jedes einzelnen Begünstigten nicht berücksichtigt zu haben.
162 Zweitens beruht, wie die Kommission zu Recht geltend macht, die mit dem angefochtenen Beschluss angeordnete Rückforderung gerade darauf, dass die Beihilfen nach der fraglichen Regelung, die in einseitigen Befreiungen von Gewinnüberschüssen bestand, gewährt wurden, ohne dass die Frage berücksichtigt würde, ob diese Gewinne in die Gewinne anderer, in anderen Rechtsordnungen besteuerter Unternehmen einbezogen worden waren oder nicht. Wie sich nämlich aus dem 68. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, betraf der angefochtene Beschluss nicht die Steuervorbescheide betreffend die korrespondierenden Anpassungen, die infolge positiver Primäranpassungen durch die Steuerbehörden anderer Rechtsordnungen vorgenommen wurden. Folglich geht das Vorbringen der Klägerinnen, das auf die Annahme gestützt wird, dass in einer anderen Rechtsordnung eine positive Anpassung vorgenommen worden sei, ins Leere.
163 Drittens hat der Beschluss, mit dem die Rückforderung der im Rahmen der fraglichen Regelung gewährten Beihilfen angeordnet wird, jedenfalls keine Auswirkung auf die Rechte, die jeder Steuerpflichtige nach den anwendbaren Doppelbesteuerungsabkommen geltend machen kann, etwa um nach einer positiven Anpassung durch die Steuerbehörden anderer Steuergebiete eine angemessene Anpassung seiner steuerpflichtigen Gewinne zu erwirken.
164 Daher kann nicht geltend gemacht werden, dass die Kommission, als sie die Rückforderung der Beihilfen angeordnet habe, die dem Betrag der Steuer entsprachen, die die Begünstigten ohne die Steuerregelung für Gewinnüberschüsse zu bezahlen gehabt hätten, einen anderen Betrag als den von den Empfängern dieser Beihilfen empfangenen Vorteil genannt hätte.
165 Unter diesen Umständen ist der dritte Teil des vierten Klagegrundes und damit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
166 Da keiner der von den Klägerinnen geltend gemachten Klagegründe durchgreift, sind die Klagen insgesamt abzuweisen, ohne dass über den oben in Rn. 21 angeführten Antrag entschieden zu werden braucht, da die Anlage, auf die sich dieser Antrag bezieht, für das vorliegende Urteil unerheblich ist.
IV. Kosten
167 Gemäß Art. 219 der Verfahrensordnung entscheidet das Gericht in seinen Entscheidungen nach Aufhebung und Zurückverweisung über die Kosten des Rechtsstreits vor dem Gericht und über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof. Da der Gerichtshof im Rechtsmittelurteil die Kostenentscheidung vorbehalten hat, hat das Gericht auch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden.
168 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist außerdem die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Puratos, Delta Light und Ontex in der Rechtssache T‑265/15, Siemens Industry Software in der Rechtssache T‑311/16, BASF Antwerpen in der Rechtssache T‑319/16, Ansell Healthcare Europe in der Rechtssache T‑321/16, Trane in der Rechtssache T‑343/16, Kinepolis Group in der Rechtssache T‑350/16, Vasco Group und Astra Sweets in der Rechtssache T‑444/16, Mayekawa Europe in der Rechtssache T‑800/16 und Celio International in der Rechtssache T‑832/16 unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag der Kommission neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Kommission in diesen Rechtssachen aufzuerlegen.
169 Was insbesondere Magnetrol International in der Rechtssache T‑263/16 RENV betrifft, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die der Kommission im ursprünglichen Verfahren vor dem Gericht in der Rechtssache T‑263/16 und im vorliegenden Verfahren nach Zurückverweisung in der Rechtssache T‑263/16 RENV entstandenen Kosten aufzuerlegen. Was die Kosten des Rechtsmittelverfahrens betrifft, sind Magnetrol International angesichts dessen, dass dieses sich auf das ursprüngliche Urteil in den verbundenen Rechtssachen T‑131/16 und T‑263/16 bezog, die Hälfte der Kosten aufzuerlegen, die der Kommission im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens in der Rechtssache C‑337/19 P entstanden sind.
170 Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht entscheiden, dass ein anderer Streithelfer als die in den Abs. 1 und 2 dieses Artikels genannten seine eigenen Kosten trägt. Im vorliegenden Fall ist zu entscheiden, dass die Streithelferinnen in der Rechtssache T‑263/16 RENV ihre eigenen Kosten in dieser Rechtssache und in der Rechtssache C‑337/19 P tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Rechtssachen T‑263/16 RENV, T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16 werden für das vorliegende Urteil zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
2. Die Klagen werden abgewiesen.
3. Magnetrol International trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission im Rahmen des ursprünglichen Verfahrens vor dem Gericht in der Rechtssache T‑263/16 und im Rahmen des Verfahrens nach Zurückverweisung in der Rechtssache T‑263/16 RENV entstandenen Kosten sowie die Hälfte der der Kommission im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens in der Rechtssache C‑337/19 P entstandenen Kosten.
4. Die Soudal NV, die Esko-Graphics BVBA, Flir Systems Trading Belgium, die Celio International SA, Anheuser-Busch Inbev, Ampar, Atlas Copco Airpower, die Atlas Copco AB und ZF CV Systems Europe tragen die ihnen durch ihren Streitbeitritt in der Rechtssache T‑263/16 RENV und in der Rechtssache C‑337/19 P entstandenen Kosten.
5. Puratos, Delta Light und Ontex tragen neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑265/16 entstandenen Kosten.
6. Siemens Industry Software trägt neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑311/16 entstandenen Kosten.
7. Die BASF Antwerpen NV trägt neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑319/16 entstandenen Kosten.
8. Die Ansell Healthcare Europe NV trägt neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑321/16 entstandenen Kosten.
9. Trane trägt neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑343/16 entstandenen Kosten.
10. Kinepolis Group trägt neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑350/16 entstandenen Kosten.
11. Vasco Group und Astra Sweets tragen neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑444/16 entstandenen Kosten.
12. Die Mayekawa Europe NV/SA trägt neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑800/16 entstandenen Kosten.
13. Celio International trägt neben ihren eigenen Kosten die der Kommission in der Rechtssache T‑832/16 entstandenen Kosten.
Marcoulli
Frimodt Nielsen
Tomljenović
Norkus
Valasidis
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. September 2023.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Zum ursprünglichen Urteil
B. Zum Rechtsmittelurteil
II. Verfahren und Anträge der Parteien
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Situation von Celio International
B. Zur Begründetheit
1. Zum ersten Klagegrund in den Rechtssachen T‑265/16, T‑311/16, T‑319/16, T‑321/16, T‑343/16, T‑350/16, T‑444/16, T‑800/16 und T‑832/16 betreffend einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Befugnismissbrauch und das Fehlen einer Begründung, soweit der angefochtene Beschluss das Vorliegen einer Beihilferegelung feststelle
2. Zum zweiten Klagegrund, soweit er einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV sowie gegen die Begründungspflicht und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler betrifft, da der angefochtene Beschluss im Rahmen der Hauptargumentation der Kommission die fragliche Regelung als selektive Maßnahme einstufe
a) Zur gemeinsamen Prüfung der Begriffe „Vorteil“ und „Selektivität“
b) Zum Vorliegen eines durch die fragliche Regelung gewährten selektiven Vorteils
1) Zum Bezugssystem
2) Zum Vorliegen einer Abweichung vom Bezugssystem aufgrund der Anwendung von Art. 185 § 2 Buchst. b des CIR 92 durch die belgischen Steuerbehörden
3) Zum Vorliegen einer Unterscheidung zwischen Wirtschaftsteilnehmern, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, durch die Abweichung vom Bezugssystem
i) Zur unterschiedlichen Behandlung der Begünstigten, die zu einem multinationalen Konzern gehören
ii) Zur unterschiedlichen Behandlung gegenüber Unternehmen, die in Belgien keine Investitionen getätigt, Arbeitsplätze geschaffen oder Geschäftstätigkeiten zentralisiert haben
iii) Zur unterschiedlichen Behandlung gegenüber Unternehmen, die einem kleinen Konzern angehören
c) Ergebnis zum Klagegrund betreffend einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV sowie gegen die Begründungspflicht und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, da der angefochtene Beschluss im Rahmen der Hauptargumentation der Kommission die fragliche Regelung als selektive Maßnahme einstufe
3. Zum vierten, hilfsweise geltend gemachten Klagegrund betreffend einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, einen Befugnismissbrauch und das Fehlen einer Begründung, soweit die Kommission dem Königreich Belgien aufgegeben habe, die mit der fraglichen Regelung gewährten Beihilfen zurückzufordern
a) Zum ersten Teil betreffend einen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit
b) Zum zweiten Teil betreffend einen Befugnismissbrauch, das Fehlen einer Begründung und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler bei der Bestimmung der Beihilfeempfänger
c) Zum dritten Teil betreffend einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV und einen Befugnismissbrauch, soweit der angefochtene Beschluss die Rückforderung eines Betrags anordnet, der höher sein könnte als der von den Begünstigten empfangene Vorteil
IV. Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 22. März 2023.#Jean-Marc Colombani gegen Europäischer Auswärtiger Dienst.#Öffentlicher Dienst – Beamte – Mobbing – Art. 12a des Statuts – Antrag auf Beistand – Ablehnung des Antrags – Art. 24 des Statuts – Verteidigungsrechte – Beurteilungsfehler – Befugnismissbrauch – Vergleich – Einigungsmangel – Rückwirkende Beförderung.#Rechtssache T-113/22.
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62022TJ0113
|
ECLI:EU:T:2023:154
| 2023-03-22T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62022TJ0113 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte erweiterte Kammer) vom 30. November 2022.#KN gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Mitglied des EWSA – Entlastungsverfahren für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2019 – Entschließung des Parlaments, in der der Kläger als Mobbing-Täter bezeichnet wird – Nichtigkeitsklage – Nicht anfechtbare Handlung – Unzulässigkeit – Schadensersatzklage – Schutz personenbezogener Daten – Unschuldsvermutung – Verschwiegenheitspflicht – Grundsatz der guten Verwaltung – Verhältnismäßigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht.#Rechtssache T-401/21.
|
62021TJ0401
|
ECLI:EU:T:2022:736
| 2022-11-30T00:00:00 |
Gericht
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62021TJ0401
URTEIL DES GERICHTS (Achte erweiterte Kammer)
30. November 2022 (*1)
„Institutionelles Recht – Mitglied des EWSA – Entlastungsverfahren für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2019 – Entschließung des Parlaments, in der der Kläger als Mobbing-Täter bezeichnet wird – Nichtigkeitsklage – Nicht anfechtbare Handlung – Unzulässigkeit – Schadensersatzklage – Schutz personenbezogener Daten – Unschuldsvermutung – Verschwiegenheitspflicht – Grundsatz der guten Verwaltung – Verhältnismäßigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht“
In der Rechtssache T‑401/21,
KN, vertreten durch Rechtsanwältin M. Casado García-Hirschfeld und Rechtsanwalt M. Aboudi,
Kläger,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch R. Crowe, C. Burgos und M. Allik als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)
zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten M. van der Woude, des Richters J. Svenningsen (Berichterstatter), des Richters C. Mac Eochaidh, der Richterin T. Pynnä und des Richters J. Laitenberger,
Kanzler: L. Ramette, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2022
folgendes
Urteil
1 Mit seiner Klage verlangt der Kläger, KN, zum einen gestützt auf Art. 263 AEUV die Nichtigerklärung des Beschlusses (EU, Euratom) 2021/1552 des Europäischen Parlaments vom 28. April 2021 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2019, Einzelplan VI – Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (ABl. 2021, L 340, S. 140, im Folgenden: angefochtener Beschluss) und der Entschließung (EU) 2021/1553 des Europäischen Parlaments vom 29. April 2021 mit den Bemerkungen, die fester Bestandteil des Beschlusses über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2019, Einzelplan VI – Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, sind (ABl. 2021, L 340, S. 141, im Folgenden: angefochtene Entschließung) (im Folgenden zusammen mit dem angefochtenen Beschluss: angefochtene Rechtsakte), und zum anderen auf der Grundlage von Art. 268 AEUV den Ersatz des Schadens, den er durch die angefochtenen Rechtsakte erlitten habe.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Der Kläger ist Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA). Von April 2013 bis Oktober 2020 war er Vorsitzender der Gruppe der Arbeitgeber (im Folgenden: Gruppe I).
3 Nachdem das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) über Behauptungen in Bezug auf das Verhalten des Klägers gegenüber anderen Mitgliedern des EWSA und Mitgliedern des Personals des EWSA informiert worden war, leitete es am 6. Dezember 2018 eine Untersuchung gegen ihn ein.
4 Mit Brief vom 16. Januar 2020 unterrichtete das OLAF den Kläger über den Abschluss der Untersuchung und die Übermittlung seines Berichts (im Folgenden: OLAF‑Bericht) an die belgische Föderalstaatsanwaltschaft und den Präsidenten des EWSA. Da das OLAF insbesondere zu dem Schluss gekommen war, dass der Kläger zwei Beschäftigte des EWSA belästigt habe, empfahl es zum einen dem EWSA, die Einleitung des Verfahrens nach Art. 8 des Verhaltenskodex der Mitglieder des EWSA in Betracht zu ziehen und „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um jedem weiteren Fall von Belästigung am Arbeitsplatz [durch den Kläger] vorzubeugen“, und zum anderen der belgischen Föderalstaatsanwaltschaft, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, da die in seinem Bericht festgestellten Tatsachen eine Straftat im Sinne von Art. 442a des belgischen Strafgesetzbuchs darstellen könnten.
5 Mit dem Beschluss (EU) 2020/1984 des Europäischen Parlaments vom 13. Mai 2020 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2018, Einzelplan VI – Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (ABl. 2020, L 417, S. 469) schob das Europäische Parlament die Verabschiedung eines Beschlusses über die Entlastung des Generalsekretärs des EWSA für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2018 auf.
6 Am Folgetag nahm das Parlament die Entschließung (EU) 2020/1985 mit den Bemerkungen, die fester Bestandteil des Beschlusses über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2018, Einzelplan VI – Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss sind (ABl. 2020, L 417, S. 470), an. In Rn. 6 dieser Entschließung heißt es im Wesentlichen, dass das Parlament erwartet, vom EWSA über die Maßnahmen informiert zu werden, die als Reaktion auf den OLAF‑Bericht ergriffen worden sind.
7 Am 9. Juni 2020 beschloss das Präsidium des EWSA mehrere Maßnahmen, um den Empfehlungen des OLAF nachzukommen. Insbesondere forderte der EWSA den Kläger erstens auf, von seinem Amt als Vorsitzender der Gruppe I zurückzutreten sowie seine Kandidatur für das Amt des EWSA-Präsidenten zurückzuziehen, und entband ihn zweitens von allen Tätigkeiten im Bereich der Personalführung und ‑verwaltung.
8 Mit Schreiben vom 7. Juli 2020 unterrichtete der Präsident des EWSA das Parlament über die vom EWSA-Präsidium am 9. Juni 2020 beschlossenen Maßnahmen.
9 Mit Beschluss vom 15. Juli 2020 hob das Plenum des EWSA auf Antrag des Arbeitsauditorats von Brüssel (Belgien) die Immunität des Klägers auf. Anschließend entschied das Plenum des EWSA mit Beschluss vom 28. Juli 2020, in dem gegen den Kläger gerichteten Strafverfahren vor dem Tribunal correctionnel de Bruxelles (Strafgericht Brüssel) als Nebenkläger aufzutreten.
10 Mit dem Beschluss (EU) 2020/2046 des Europäischen Parlaments vom 20. Oktober 2020 über die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2018, Einzelplan VI – Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (ABl. 2020, L 420, S. 16) verweigerte das Parlament schließlich dem Generalsekretär des EWSA die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2018. In dieser Entschließung brachte das Parlament insbesondere seine Besorgnis über die Maßnahmen zum Ausdruck, die vom EWSA als Reaktion auf den OLAF‑Bericht ergriffen worden waren.
11 Am 25. März 2021 legte der Haushaltskontrollausschuss des Parlaments (im Folgenden: Haushaltskontrollausschuss) im Rahmen des Entlastungsverfahrens für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2019 einen Bericht vor, in dem er empfahl, dem Generalsekretär des EWSA die Entlastung zu erteilen.
12 Am 28. April 2021 erließ das Parlament den angefochtenen Beschluss, mit dem es entschied, dem Generalsekretär des EWSA die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans dieser Einrichtung für das Haushaltsjahr 2019 zu erteilen.
13 Am nächsten Tag verabschiedete das Parlament die angefochtene Entschließung, in der es insbesondere heißt:
„Verweigerung der Entlastung im Jahr 2018, Interessenkonflikt, Belästigung/Mobbing und Hinweisgeber
[Das Parlament]
66. weist darauf hin, dass mehrere Beschäftigte über einen langen Zeitraum hinweg von dem damaligen Vorsitzenden der Gruppe I gemobbt wurden; bedauert, dass dieser Situation mit den im Ausschuss ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung von Mobbing und Belästigung nicht früher Einhalt geboten werden konnte, weil das betreffende Mitglied eine leitende Position innehatte … verurteilt, dass es so lange gedauert hat, bis der Ausschuss die notwendigen Maßnahmen zur Anpassung der Geschäftsordnung und des Verhaltenskodex des Ausschusses ergriffen hat, um eine derartige Situation in Zukunft zu vermeiden …
68. weist darauf hin, dass es durch die Untätigkeit des Ausschusses in diesem Fall zu erheblichen Einbußen an öffentlichen Mitteln u. a. im Zusammenhang mit Gerichtskosten, krankheitsbedingten Abwesenheiten, Opferschutz, verringerter Produktivität sowie Sitzungen des Präsidiums und anderer Gremien kam; ist daher der Ansicht, dass diese Angelegenheit Anlass zu Bedenken gibt, was die Rechenschaftspflicht, die Haushaltskontrolle und die verantwortungsvolle Verwaltung der personellen Ressourcen in den Organen, Einrichtungen, Stellen und Agenturen der Europäischen Union betrifft …
69. weist erneut darauf hin, dass das Parlament dem Generalsekretär des Ausschusses die Entlastung für das Haushaltsjahr 2018 verweigert hat, unter anderem wegen eines eklatanten Verstoßes gegen die Sorgfaltspflicht und der Untätigkeit der Verwaltung sowie der finanziellen Folgen; weist den Ausschuss darauf hin, dass die Verweigerung der Entlastung eine schwerwiegende Angelegenheit ist, die sofortige Maßnahmen erfordert; bedauert zutiefst, dass der damalige Direktor für Personal und Finanzen und jetzige Generalsekretär bis zur Verweigerung der Entlastung 2018 keine entschlossenen Maßnahmen, insbesondere zur Prävention und Wiedergutmachung, ergriffen hat;
70. stellt fest, dass der Generalsekretär während des Entlastungsverfahrens 2018 und eines Teils des Entlastungsverfahrens 2019 nicht in der Lage war, dem Haushaltskontrollausschuss des Parlaments ausreichende, transparente und verlässliche Informationen zur Verfügung zu stellen …
75. … ist besorgt darüber, dass ein bestimmtes Mitglied, das für Mobbing verantwortlich gemacht wurde, auch nach der OLAF‑Empfehlung noch im Präsidium aktiv war und es ihm gelang, die Verabschiedung des neuen Verhaltenskodex für die Mitglieder hinauszuzögern …
80. … ist dagegen zutiefst besorgt darüber, dass der Täter vom Rat für ein neues Mandat ernannt wurde und dass Opfer und Hinweisgeber Gefahr laufen, dass er oder Personen, die ihn im Ausschuss unterstützen, Vergeltungsmaßnahmen gegen sie ergreifen; hebt hervor, dass er sein Fehlverhalten weder anerkennt noch bedauert, was einen völligen Mangel an Selbstreflexion und Respekt gegenüber den betroffenen Opfern offenbart …
83. nimmt zur Kenntnis, dass die Plenarsitzung des Ausschusses am 15. und 16. Juli 2020 den Beschluss des Präsidiums vom 9. Juni 2020 bezüglich des Beitritts des Ausschusses als Zivilpartei in dem Verfahren, das vom Brüsseler Arbeitsauditor vor dem Brüsseler Strafgerichtshof eröffnet wird, bestätigt hat; stellt fest, dass der Brüsseler Arbeitsauditor über die Aufhebung der Immunität des Mitglieds in Kenntnis gesetzt wurde, aber bis heute keine weiteren Informationen über das Verfahren erhalten hat …“
Anträge der Parteien
14 Der Kläger beantragt,
–
den angefochtenen Beschluss sowie die angefochtene Entschließung für nichtig zu erklären;
–
das Parlament zu verurteilen, an ihn 100000 Euro als Ersatz für seinen immateriellen Schaden zu zahlen;
–
dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.
15 Das Parlament beantragt,
–
die Nichtigkeitsklage als unzulässig und hilfsweise als unbegründet abzuweisen;
–
die Schadensersatzklage als unzulässig und hilfsweise als unbegründet abzuweisen;
–
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
16 Ohne formal eine Einrede der Unzulässigkeit nach Art. 130 der Verfahrensordnung des Gerichts zu erheben, macht das Parlament geltend, dass die Anträge auf Nichtigerklärung und Schadensersatz unzulässig seien.
Zur Zulässigkeit des Antrags auf Nichtigerklärung
17 Das Parlament macht zum einen geltend, dass die angefochtenen Rechtsakte, deren alleiniger Adressat der EWSA sei, nicht dazu bestimmt seien, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, die die rechtliche Stellung Dritter veränderten. Zum anderen macht es geltend, dass der Kläger durch die angefochtenen Rechtsakte weder unmittelbar noch individuell betroffen sei, so dass er keine Klagebefugnis habe.
18 Der Kläger tritt diesem Vorbringen entgegen und macht im Wesentlichen geltend, dass die angefochtenen Rechtsakte ihn insoweit beschwerten, als sie ihn in Bezug auf angebliches Belästigungsverhalten beträfen. In diesem Zusammenhang führt er aus, dass diese Rechtsakte in Anbetracht ihrer Veröffentlichung unmittelbar seinen Ruf und seine Würde tangierten, indem sie ihn in ähnlicher Weise individualisierten wie ihren Adressaten.
19 Vorab ist, soweit die angefochtene Entschließung die Bemerkungen enthält, die fester Bestandteil des angefochtenen Beschlusses sind, die Zulässigkeit des Antrags auf Nichtigerklärung zu prüfen, der sich gegen die gemeinsam angefochtenen Rechtsakte richtet.
20 In dieser Hinsicht ist festzustellen, dass der Kläger die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte nicht insoweit beantragt, als das Parlament dem Generalsekretär des EWSA die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans dieser Einrichtung für das Haushaltsjahr 2019 erteilt hat, sondern nur insoweit, als er in der angefochtenen Entschließung als Mobbing-Täter identifiziert wird oder zumindest identifizierbar ist.
21 Mit anderen Worten verfolgt der Kläger die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte nur insoweit, als er von bestimmten Bemerkungen in der angefochtenen Entschließung betroffen ist, die fester Bestandteil des angefochtenen Beschlusses sind, ohne den verfügenden Teil des genannten Beschlusses, mit dem das Parlament dem EWSA die Entlastung erteilt hat, in Frage zu stellen.
22 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung nur der verfügende Teil eines Rechtsakts Rechtswirkungen erzeugen und in der Folge beschwerend sein kann, unabhängig von den Gründen, auf denen dieser Rechtsakt beruht. Dagegen können die Erwägungen, die zur Begründung eines Rechtsakts angestellt werden, als solche nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein und können der Rechtmäßigkeitskontrolle des Unionsrichters nur insoweit unterworfen werden, als sie als Gründe eines beschwerenden Rechtsakts die notwendige Begründung des verfügenden Teils dieses Rechtsakts bilden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. September 1992, NBV und NVB/Kommission, T‑138/89, EU:T:1992:95, Rn. 31, und vom 1. Februar 2012, Région wallonne/Kommission, T‑237/09, EU:T:2012:38, Rn. 45).
23 Im vorliegenden Fall aber bilden die in der angefochtenen Entschließung enthaltenen Bemerkungen nicht die erforderliche Begründung des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses. Denn das Parlament hat unabhängig von dem Teil der angefochtenen Entschließung, der es ermöglicht, den Kläger als Mobbing-Täter zu identifizieren, beschlossen, dem Generalsekretär des EWSA die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans dieser Einrichtung für das Haushaltsjahr 2019 zu erteilen.
24 Folglich kann die Bezugnahme auf den Kläger als Mobbing-Täter in der angefochtenen Entschließung nicht als solche Gegenstand einer Nichtigkeitsklage vor dem Gericht sein und jedenfalls, da sie nicht mit dem verfügenden Teil des angefochtenen Beschlusses in Verbindung gebracht werden kann, nicht der Rechtmäßigkeitskontrolle des Unionsrichters unterworfen werden.
25 Das Argument des Klägers, dass er durch den ihn betreffenden Teil der angefochtenen Entschließung beschwert sei, entkräftet diese Schlussfolgerung nicht. Dem Kläger wird der Zugang zu den Gerichten nämlich nicht verwehrt, da die in Art. 268 und Art. 340 Abs. 2 AEUV vorgesehene Klage aus außervertraglicher Haftung eröffnet bleibt, wenn das fragliche Verhalten des Parlaments geeignet ist, die Haftung der Union auszulösen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2006, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, C‑131/03 P, EU:C:2006:541, Rn. 82).
26 Soweit der Gegenstand des Nichtigkeitsantrags mit demjenigen des Schadensersatzantrags identisch ist, hat insofern die Zurückweisung des Nichtigkeitsantrags als unzulässig wegen Fehlens einer vom Kläger anfechtbaren Handlung nicht zur Folge, dass das Gericht der Möglichkeit beraubt wird, sich gegebenenfalls auf die Klagegründe und Argumente zu beziehen, die zu seiner Stützung vorgetragen worden sind, um die Rechtmäßigkeit des dem Parlament vorgeworfenen Verhaltens im Rahmen des Schadensersatzantrags zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Dezember 2010, Kommission/Strack, T‑526/08 P, EU:T:2010:506, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Nach alledem ist der Antrag auf Nichtigerklärung als unzulässig zurückzuweisen.
Zur Zulässigkeit des Antrags auf Schadensersatz
28 Obwohl es einräumt, dass ein Antrag auf Schadensersatz zulässig gewesen wäre, wenn der Kläger nicht auch die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte beantragt hätte, macht das Parlament gleichwohl geltend, dass der Antrag auf Schadensersatz im vorliegenden Fall als unzulässig zurückgewiesen werden müsse, und zwar nach der Rechtsprechung, der zufolge ein Antrag auf Ersatz eines materiellen oder immateriellen Schadens zurückgewiesen werden müsse, wenn er einen engen Zusammenhang mit dem Antrag auf Nichtigerklärung aufweise, der seinerseits als unbegründet oder unzulässig zurückgewiesen worden sei.
29 Zwar führt nach ständiger Rechtsprechung auf dem Gebiet des öffentlichen Dienstes in den Fällen, in denen ein Antrag auf Schadensersatz einen engen Zusammenhang mit einem Antrag auf Nichtigerklärung aufweist, wie es hier der Fall ist, die Zurückweisung des Letzteren entweder als unzulässig oder als unbegründet ebenfalls zur Zurückweisung des Antrags auf Schadensersatz (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2001, Connolly/Kommission, C‑274/99 P, EU:C:2001:127, Rn. 129, und vom 30. September 2003, Martínez Valls/Parlament, T‑214/02, EU:T:2003:254, Rn. 43).
30 Insbesondere für den Fall der Unzulässigkeit eines Antrags auf Nichtigerklärung eines Rechtsakts ist diese Rechtsprechung jedoch in Fällen ergangen, in denen die Klageparteien es entweder versäumt hatten, die Rechtsakte, die den von ihnen behaupteten Schaden verursacht haben sollen, mit einer Nichtigkeitsklage anzufechten, oder sie dies verspätet getan hatten (Urteil vom 8. November 2018, Cocchi und Falcione/Kommission, T‑724/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:759, Rn. 82). Soweit sie darauf abzielt, eine Umgehung des Systems der Rechtsbehelfe zu verhindern, ist diese Rechtsprechung also nur in dem Fall anwendbar, in dem der behauptete Schaden ausschließlich auf einem bereits bestandskräftig gewordenen Rechtsakt beruht, den der Betroffene mit einer Nichtigkeitsklage hätte anfechten können (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Mai 2005, Holcim [France]/Kommission, T‑86/03, EU:T:2005:157, Rn. 50).
31 Um die vom Parlament vorgebrachte Einrede der Unzulässigkeit zu verwerfen, genügt im vorliegenden Fall daher die Feststellung, dass der Antrag auf Nichtigerklärung wegen Fehlens eines anfechtbaren Rechtsakts als unzulässig zurückgewiesen worden ist, und nicht, weil der Kläger es versäumt hätte, diesen Rechtsakt anzufechten, oder er dies verspätet getan hätte.
32 Unter diesen Umständen ist der Antrag auf Schadensersatz zulässig.
Zur Begründetheit des Antrags auf Schadensersatz
33 Die außervertragliche Haftung der Union im Sinne des Art. 340 Abs. 2 AEUV setzt voraus, dass drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich die Rechtswidrigkeit des dem Unionsorgan vorgeworfenen Verhaltens, das tatsächliche Vorliegen eines Schadens und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Verhalten des Organs und dem geltend gemachten Schaden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 79).
34 Sofern eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt ist, ist die Klage insgesamt abzuweisen, ohne dass die anderen Voraussetzungen der außervertraglichen Haftung der Union zu prüfen sind (vgl. Urteil vom 25. Februar 2021, Dalli/Kommission, C‑615/19 P, EU:C:2021:133, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall macht der Kläger zum Nachweis eines rechtswidrigen Verhaltens des Parlaments vier Rügen geltend, die auf Verstöße gegen Rechtsnormen gestützt werden, die dem Einzelnen Rechte verleihen sollen, nämlich erstens das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten, zweitens den Grundsatz der Unschuldsvermutung, drittens den Grundsatz der Vertraulichkeit der Untersuchungen des OLAF und viertens das Recht auf eine gute Verwaltung sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Zur ersten Rüge: Verstoß gegen das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten
36 Der Kläger macht geltend, dass die Veröffentlichung seiner personenbezogenen Daten in der angefochtenen Entschließung keine rechtmäßige Verarbeitung im Sinne von Art. 5 der Verordnung (EU) 2018/1725 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2018 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 und des Beschlusses Nr. 1247/2002/EG (ABl. 2018, L 295, S. 39) darstelle.
37 Insbesondere sei die Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten nicht für die Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung erforderlich gewesen, da das OLAF in seinem Bericht zu dem Schluss gelangt sei, dass das Verhalten des Klägers keine finanziellen Auswirkungen auf den Haushalt der Union gehabt habe. Daher sei die Veröffentlichung der ihn betreffenden Informationen nicht erforderlich, um einen Beschluss über die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA zu fassen.
38 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
39 Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung 2018/1725 ist eine Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig, wenn und soweit sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt, oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Organ oder der Einrichtung der Union übertragen worden ist.
40 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Parlament gemäß Art. 14 EUV gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union nach Maßgabe der Verträge Gesetzgebungs- und Haushaltsaufgaben sowie Aufgaben der politischen Kontrolle und beratende Aufgaben wahrnimmt. Im Rahmen der in Art. 319 AEUV vorgesehenen demokratischen Kontrolle der Verwendung öffentlicher Mittel verfügt das Parlament über einen weiten Ermessensspielraum bei seinen Bemerkungen dazu, wie Organe und Einrichtungen den sie betreffenden Haushaltsplan ausgeführt haben.
41 Außerdem verfügen die Organe über einen gewissen Ermessensspielraum bei der Frage, inwieweit eine Verarbeitung personenbezogener Daten für die Erfüllung einer den öffentlichen Stellen übertragenen Aufgabe erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juli 2016, Oikonomopoulos/Kommission, T‑483/13, EU:T:2016:421, Rn. 57, nicht veröffentlicht, und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Das Vorbringen des Klägers erfordert deshalb die Prüfung, ob das Parlament seinen Ermessensspielraum nicht überschritten hat, als es davon ausging, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten des Klägers für die Erfüllung seiner im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe, die darin bestand, die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2019 zu kontrollieren, erforderlich sei.
43 Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass das Parlament bei der Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2018 dem EWSA die Entlastung verweigert hat, insbesondere, weil es der Ansicht war, dass die Maßnahmen, die diese Einrichtung als Reaktion auf den OLAF‑Bericht und zur Vermeidung einer Wiederholung derartiger Situationen ergriffen hat, im Wesentlichen unzureichend gewesen seien.
44 Nach Art. 262 Abs. 2 der Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1) ist es Sache des Parlaments, die Maßnahmen zu überwachen, die von dem Adressaten der Entlastung ergriffen werden, um die Bemerkungen umzusetzen, die dem Entlastungsbeschluss beigefügt sind.
45 Da das Parlament im vorliegenden Fall der Auffassung war, dass die Maßnahmen des EWSA zur Umsetzung der in der Entschließung für das Haushaltsjahr 2018 enthaltenen Bemerkungen im Wesentlichen unzureichend gewesen seien, erschien die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers zur Erfüllung der Aufgabe, die Ausführung des Haushaltsplans des EWSA für das Haushaltsjahr 2019 zu überwachen, erforderlich.
46 Zweitens konnte auch die Schwere der finanziellen Folgen, die sich aus den vom Parlament festgestellten Missständen ergaben, die Notwendigkeit einer solchen Verarbeitung rechtfertigen.
47 Denn in Anbetracht der Tatsache, dass das dem Kläger angelastete Mobbing-Verhalten die Ursache für schwerwiegende Funktionsstörungen beim EWSA war, die sich in Ausgaben niederschlugen, die hätten vermieden werden können und die dieser Einrichtung in Rn. 68 der angefochtenen Entschließung (zitiert oben, Rn. 13) vorgeworfen werden, musste das Parlament darüber berichten.
48 Somit erschien die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers angesichts der Gefahr der Wiederholung dieses Verhaltens und seiner Auswirkungen auf die gute Verwaltung der Humanressourcen erforderlich, um das in Erwägungsgrund A der angefochtenen Entschließung genannte Ziel zu erreichen, das im Wesentlichen darin besteht, die demokratische Legitimität der Organe der Union zu stärken, indem insbesondere eine gute Verwaltung der Humanressourcen gefördert wird.
49 Drittens ist, selbst wenn der Kläger der Ansicht ist, dass die Veröffentlichung der angefochtenen Entschließung eine Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten darstelle, die gegen Art. 5 der Verordnung 2018/1725 verstoße, darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 37 Abs. 1 der Verordnung 2018/1046 „[f]ür … die Rechnungslegung … der Grundsatz der Transparenz [gilt]“.
50 Insoweit ist entschieden worden, dass der in Art. 15 AEUV verankerte Grundsatz der Transparenz eine bessere Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess ermöglicht und eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System gewährleistet (Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 68). Diese Bestimmung ist Ausdruck des in einer demokratischen Gesellschaft bestehenden Rechts der Steuerzahler und der Öffentlichkeit im Allgemeinen, über die Verwendung der öffentlichen Einnahmen, insbesondere im Bereich der Personalausgaben, informiert zu werden. Solche Informationen sind geeignet, zur öffentlichen Debatte über eine Frage von allgemeinem Interesse beizutragen, und dienen deshalb dem öffentlichen Interesse (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2003, Österreichischer Rundfunk u. a., C‑465/00, C‑138/01 und C‑139/01, EU:C:2003:294, Rn. 85).
51 Somit zielt im Rahmen des Entlastungsverfahrens die Veröffentlichung der angefochtenen Rechtsakte darauf ab, die öffentliche Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans zu stärken und zur angemessenen Verwendung der öffentlichen Mittel durch die Unionsverwaltung beizutragen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Folglich war die Veröffentlichung der angefochtenen Entschließung für die Erfüllung der vom Parlament ausgeübten Aufgabe von öffentlichem Interesse notwendig.
53 Aus alledem folgt, dass das Parlament die Grenzen seines Ermessens nicht überschritten hat, als es die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers für erforderlich hielt, um seine Aufgabe der Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans durch den EWSA zu erfüllen. Die Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Klägers ist daher im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung 2018/1725 rechtmäßig.
54 Das Vorbringen des Klägers, das OLAF habe in seinem Bericht darauf hingewiesen, dass die ihm zur Last gelegten Handlungen keine finanziellen Auswirkungen gehabt hätten, steht dieser Schlussfolgerung nicht entgegen.
55 Denn die angefochtene Entschließung ist im Rahmen der Kontrolle der Ausführung des Haushalts des EWSA verabschiedet worden und hat daher nicht zum Ziel, das Verhalten des Klägers zu kontrollieren oder darüber zu urteilen.
56 Mit der angefochtenen Entschließung sollen lediglich die Art und Weise, wie der EWSA seinen Haushalt ausgeführt hat, bewertet sowie Bemerkungen zur künftigen Tätigung der Ausgaben abgegeben werden. In diesem Kontext hat das Parlament in Rn. 68 der angefochtenen Entschließung die finanziellen Auswirkungen, die das Mobbing-Verhalten, wie es im vorliegenden Fall in Rede steht, auf das ordnungsgemäße Funktionieren der Einrichtungen und Organe der Union haben kann, klar benannt. In Anbetracht der schwerwiegenden Verwaltungsmängel, die festgestellt worden sind, hinderte die Tatsache, dass das OLAF der Ansicht war, das Verhalten des Klägers gegenüber einigen Beschäftigten habe keine finanziellen Auswirkungen gehabt, das Parlament also nicht daran, hierauf einzugehen.
57 Aus alledem folgt, dass die erste Rüge die Feststellung eines rechtswidrigen Verhaltens des Parlaments nicht zulässt.
Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung
58 Der Kläger macht geltend, dass das Parlament den Grundsatz der Unschuldsvermutung missachtet habe, indem es ihn in der angefochtenen Entschließung als Mobbing-Täter bezeichnet habe, obwohl ihn kein Gericht wegen solcher Taten verurteilt habe. Als Reaktion auf eine vom Gericht angeordnete prozessleitende Maßnahme hat der Kläger in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass sich das Strafverfahren zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entschließung erst im Stadium „staatsanwaltlicher Ermittlungen [information judiciaire]“ befunden habe und dass der Arbeitsauditor insbesondere noch entscheiden könne, die Akte ohne weitere Maßnahmen zu schließen.
59 Vor diesem Hintergrund würden die Erklärungen des Parlaments die Einschätzung zum Ausdruck bringen, dass der Kläger sich schuldig gemacht habe, oder zumindest die Öffentlichkeit dazu verleiten, an seine Schuld zu glauben, oder der Beurteilung des Sachverhalts durch das zuständige Gericht vorgreifen.
60 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
61 Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Beachtung der Unschuldsvermutung, die in Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und in Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) niedergelegt ist, verlangt, dass jede Person, die einer Straftat beschuldigt wird, bis zum gesetzlichen Nachweis ihrer Schuld als unschuldig gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2019, Dalli/Kommission, T‑399/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:384, Rn. 168 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Einerseits beschränkt sich dieser Grundsatz nicht auf eine Verfahrensgarantie in Strafsachen; sein Anwendungsbereich ist weiter gefasst und verlangt, dass keine Behörde eine Person für schuldig erklärt, bevor ihre Schuld von einem Gericht festgestellt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2019, Dalli/Kommission, T‑399/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:384, Rn. 173 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich kann eine Verletzung der Unschuldsvermutung nicht nur von einem Richter oder einem Gericht, sondern auch von anderen öffentlichen Stellen ausgehen (vgl. Urteil vom 12. Juli 2012, Kommission/Nanopoulos, T‑308/10 P, EU:T:2012:370, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Andererseits können Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 Abs. 1 der Charta die Behörden mit Blick auf Art. 10 EMRK und Art. 11 der Charta, die das Recht auf freie Meinungsäußerung garantieren, nicht daran hindern, die Öffentlichkeit über laufende strafrechtliche Ermittlungen zu informieren, sondern verlangen, dass sie dies mit aller Diskretion und Zurückhaltung tun, die die Achtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung gebietet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, EU:T:2008:257, Rn. 212 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Ferner ist entschieden worden, dass eine parlamentarische Versammlung, solange eine Person, die einer Straftat beschuldigt wird, noch nicht rechtskräftig von einem Gericht verurteilt worden ist, den Grundsatz der Unschuldsvermutung beachten muss und daher verpflichtet ist, Diskretion und Zurückhaltung an den Tag zu legen, wenn sie sich in einer Entschließung zu Tatsachen äußert, derentwegen gegen diese Person ein Strafverfahren geführt wird (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Februar 2016, Rywin/Polen, CE:ECHR:2016:0218JUD000609106, §§ 207 und 208 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Im vorliegenden Fall steht fest, dass am 29. April 2021, dem Datum der Verabschiedung der angefochtenen Entschließung, kein Gericht die Verantwortlichkeit des Klägers für die ihm vorgeworfenen Straftaten festgestellt hatte. Allenfalls war zu diesem Zeitpunkt ein Strafverfahren eröffnet, das im Jahr 2020 von den belgischen Behörden eingeleitet worden war. Der Kläger hat im Übrigen angegeben, ohne dass das Parlament ihm widersprochen hätte, dass dieses Strafverfahren noch immer nicht abgeschlossen sei und dass kein Gericht in der Sache angerufen worden sei, um den strittigen Sachverhalt zu prüfen.
66 Gleichwohl muss das Vorbringen des Klägers, wonach der Grundsatz der Unschuldsvermutung es dem Parlament verbiete, den Bericht des OLAF, in dem er als Mobbing-Täter dargestellt werde, zu erwähnen, ohne den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten, zurückgewiesen werden.
67 Denn für Erklärungen, die von einer Behörde nach Abschluss einer Untersuchung des OLAF abgegeben wurden, ist bereits entschieden worden, dass die Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung es nicht ausschließt, dass im Bestreben, die Öffentlichkeit so genau wie möglich über die im Zusammenhang mit etwaigen Funktionsstörungen oder Betrugsfällen ergriffenen Maßnahmen zu informieren, ein Unionsorgan die wichtigsten Ergebnisse eines OLAF‑Berichts, der ein Mitglied eines Organs betrifft, mit ausgewogenen und maßvollen Worten und in einer im Wesentlichen tatsachenbasierten Art und Weise wiedergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2019, Dalli/Kommission, T‑399/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:384, Rn. 175 bis 178).
68 Folglich stellt die bloße Tatsache, dass das Parlament in den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung aufgezählten Rn. 66 bis 70, 72, 75, 78, 79 und 82 die Identifizierung des Klägers als Mobbing-Täter ermöglicht hat, was der wichtigsten Schlussfolgerung des OLAF‑Berichts entspricht, für sich genommen keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung dar.
69 Genauer gesagt, ist für die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen diesen Grundsatz vorliegt, vielmehr die Wortwahl in der angefochtenen Entschließung maßgeblich.
70 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Kläger in der Klageschrift, abgesehen von Zitaten aus der angefochtenen Entschließung ohne Kommentar im einleitenden Teil, keinen Abschnitt dieser Entschließung genau bezeichnet hat, der seiner Ansicht nach aufgrund der Wortwahl gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstößt. Im Übrigen hat er sich im Stadium der Erwiderung darauf beschränkt, auf bestimmte Auszüge aus den Dokumenten zu verweisen, die im Rahmen des Entlastungsverfahrens für das Haushaltsjahr 2018, d. h. das dem streitigen Haushaltsjahr vorangehende Haushaltsjahr, erstellt worden sind und daher im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nicht Gegenstand einer Prüfung durch das Gericht sein können.
71 Auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung hin hat der Kläger in spezifischer Weise lediglich Rn. 75 der angefochtenen Entschließung (zitiert oben, Rn. 13) beanstandet, weil es dort heiße, dass er wegen Belästigung „verurteilt“ worden sei, obwohl hierzu kein Urteil gesprochen worden sei.
72 Insofern ist die Verwendung des Ausdrucks „verurteilt“ in Ermangelung einer Verurteilung des Klägers sicherlich ungenau. Das Parlament hat in der mündlichen Verhandlung im Übrigen eingeräumt, dass diese Formulierung „nicht besonders glücklich“ sei.
73 Die Rechtsprechung hat jedoch betont, dass es bei der Beurteilung, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung vorliegt, wichtig ist, den wirklichen Sinn der fraglichen Erklärungen und nicht ihre wörtliche Bedeutung sowie die besonderen Umstände, unter denen sie abgegeben wurden, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, EU:T:2008:257, Rn. 211 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Hier lassen die besonderen Umstände des vorliegenden Falles erkennen, dass die Verwendung des Wortes „jugé“ in der französischen Fassung der angefochtenen Entschließung die Feststellung des OLAF wiedergeben sollte, dass das Verhalten des Klägers gegenüber zwei Beschäftigten als Mobbing zu qualifizieren sei. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich jedoch, dass eine solche Aussage, die sich darauf beschränkt, die Feststellungen des OLAF aufzugreifen, die Unschuldsvermutung des Klägers nicht verletzt.
75 Diese Schlussfolgerung wird durch verschiedene Sprachfassungen von Rn. 75 der angefochtenen Entschließung bestätigt, die keinen Hinweis auf ein Urteil im justiziellen Sinne enthalten, und zwar insbesondere in der englischen („was found responsible“), der deutschen („verantwortlich gemacht wurde“), der spanischen („fue declarado responsable“) oder auch der niederländischen („verantwoordelijk werd bevonden“) Fassung. Der eigentliche Sinn dieser Aussagen besteht also darin, die Verantwortung des Klägers für Mobbing-Handlungen, wie sie aus dem OLAF‑Bericht hervorgehen, herauszustellen, ohne in irgendeiner Weise seine mögliche Verantwortlichkeit im Rahmen des vor der belgischen Justiz geführten Strafverfahrens zu präjudizieren.
76 Darüber hinaus ist zu beachten, dass das Parlament in Rn. 83 der angefochtenen Entschließung auch darauf hingewiesen hat, dass bis zum Tag der Verabschiedung der Entschließung keine weiteren Informationen über das Strafverfahren eingegangen waren. Eine solche Erwähnung ist geeignet, jegliche Unklarheit hinsichtlich der Frage zu vermeiden, ob ein „Urteil“ gegen den Kläger ergangen ist oder nicht.
77 Daher stellt die Verwendung des Wortes „jugé“ in Rn. 75 der französischen Fassung der angefochtenen Entschließung, auch wenn sie unangemessen und unangebracht ist, keine Verletzung der Unschuldsvermutung des Klägers dar.
78 Da der Kläger in spezifischer Weise nur Rn. 75 der angefochtenen Entschließung beanstandet hat, ist es nicht Aufgabe des Gerichts, zu untersuchen und zu prüfen, ob andere Passagen dieser Entschließung seine Unschuldsvermutung verletzen könnten.
79 Aus alledem folgt, dass die zweite Rüge die Feststellung eines rechtswidrigen Verhaltens des Parlaments nicht zulässt.
Zur dritten Rüge: Verletzung der Vertraulichkeit der Untersuchungen des OLAF
80 Zum einen wirft der Kläger dem OLAF im Wesentlichen vor, den vertraulichen Inhalt seines Untersuchungsberichts gegenüber dem Parlament in einer Sitzung des Haushaltskontrollausschusses am 3. Februar 2020 offengelegt zu haben, in deren Anschluss der Haushaltskontrollausschuss einen Berichtsentwurf zur Entlastung des EWSA vorgelegt habe, in dem der Kläger insbesondere mit seinem Nachnamen erwähnt worden sei. Die angefochtene Entschließung, die auf diesen Bericht des Haushaltskontrollausschusses gestützt sei, sei somit unter Verstoß gegen die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. September 2013 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (Euratom) Nr. 1074/1999 des Rates (ABl. 2013, L 248, S. 1) verabschiedet worden.
81 Zum anderen macht der Kläger geltend, dass der Grundsatz der Vertraulichkeit es dem Parlament verbiete, den Inhalt eines Berichts, der im Rahmen eines Disziplinar- oder Justizverfahrens verwendet werde, offenzulegen, wobei sich dieser Grundsatz aus Art. 10 und Art. 12 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2013 ergebe.
82 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
83 Soweit der Kläger dem OLAF vorwirft, bei einer Sitzung des Haushaltskontrollausschusses am 3. Februar 2020 seine Verpflichtung zur Vertraulichkeit verletzt zu haben, genügt zum einen der Hinweis darauf, dass ein solches Vorbringen unzulässig ist, da es darauf abzielt, die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens darzulegen, das dieser Einrichtung und nicht dem Beklagten zuzurechnen ist. Die Kommission, der das OLAF zugeordnet ist, ist jedoch nicht am vorliegenden Verfahren beteiligt.
84 Zum anderen ist, soweit der Kläger ein Verhalten des Parlaments angreift, daran zu erinnern, dass die Verpflichtung zur Vertraulichkeit eine Ausprägung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, EU:T:2008:257, Rn. 213).
85 Aus dem Vorstehenden ergibt sich jedoch, dass dieser Grundsatz das Parlament nicht daran hindert, im Rahmen seiner Aufgabe, die Verwendung öffentlicher Mittel zu kontrollieren, die wichtigsten Schlussfolgerungen des Berichts des OLAF zu erwähnen. Unter diesen Umständen kann dem Parlament nicht vorgeworfen werden, dass es die Vertraulichkeit, die an den OLAF‑Bericht, von dem es gemäß Art. 17 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2013 Kenntnis erlangt hat, geknüpft ist, verletzt hat, indem es in der angefochtenen Entschließung auf die wichtigste Schlussfolgerung dieses Berichts eingegangen ist.
86 Aus alledem folgt, dass die dritte Rüge die Feststellung eines rechtswidrigen Verhaltens des Parlaments nicht zulässt.
Zur vierten Rüge: Verletzung des Rechts auf eine gute Verwaltung und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
87 Der Kläger wirft dem Parlament vor, seine Pflicht zur Unparteilichkeit verletzt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet zu haben, indem es eine natürliche Person in einem an den EWSA gerichteten Dokument zum Thema der Haushaltsführung namentlich genannt habe.
88 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
89 Im Hinblick auf das in Art. 41 der Charta vorgesehene Recht auf eine gute Verwaltung ist darauf hinzuweisen, dass dieses als solches dem Einzelnen keine Rechte verleiht, außer wenn es Ausdruck spezifischer Rechte ist, wie des Rechts darauf, dass die eigenen Angelegenheiten unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden (Urteil vom 4. Oktober 2006, Tillack/Kommission, T‑193/04, EU:T:2006:292, Rn. 127). Was die Pflicht zur Unparteilichkeit angeht, die nach Ansicht des Klägers verletzt worden ist, so umfasst diese zum einen die subjektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass kein Mitglied des betreffenden Organs, das mit dem Fall befasst ist, eine Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile zeigen darf, und zum anderen die objektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass das Organ hinreichende Garantien bieten muss, um insoweit jeden berechtigten Zweifel auszuschließen (vgl. Urteil vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 155 und die dort angeführte Rechtsprechung).
90 Im vorliegenden Fall beschränkt sich der Kläger, um eine Verletzung der Pflicht zur subjektiven Unparteilichkeit durch das Parlament darzulegen, darauf, geltend zu machen, dass die angefochtene Entschließung „Angaben zu [seiner] Schuld auf [der] Grundlage angeblicher Taten, die in einem vertraulichen Bericht des OLAF dargestellt werden“, enthalte.
91 Die Tatsache, dass die angefochtene Entschließung den Kläger als Mobbing-Täter kenntlich gemacht hat, was eine der Schlussfolgerungen des OLAF‑Berichts ist, lässt jedoch keineswegs die Feststellung zu, dass ein Mitglied des Parlaments eine Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile in dieser Hinsicht gezeigt hätte.
92 Im Übrigen beschränkt sich der Kläger im Hinblick auf die Pflicht zur objektiven Unparteilichkeit darauf, geltend zu machen, dass sein Verhalten laut dem OLAF keinerlei finanzielle Auswirkungen gehabt habe.
93 Ein solches Vorbringen ist jedoch nicht geeignet, Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit des Parlaments aufkommen zu lassen.
94 Was den angeblichen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, so hat der Kläger auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung hin mitgeteilt, dass das Vorbringen hierzu nicht unabhängig von demjenigen sei, das zur Begründung der ersten Rüge vorgetragen worden sei.
95 Unter diesen Umständen ist zu folgern, dass die vierte Rüge die Feststellung eines rechtswidrigen Verhaltens des Parlaments nicht zulässt.
96 Nach alledem ist der Antrag auf Schadensersatz daher in vollem Umfang zurückzuweisen, ohne dass geprüft werden muss, ob die beiden anderen Voraussetzungen für die Haftung der Union erfüllt sind. Ebenso wenig muss über den Antrag des Parlaments entschieden werden, das angebliche Protokoll der Sitzung des Haushaltskontrollausschusses vom 3. Februar 2020 aus der Akte des Falles zu entfernen, da dieses Dokument, soweit es zum Nachweis eines rechtswidrigen Verhaltens des OLAF herangezogen wird, für den vorliegenden Rechtsstreit keine Bedeutung hat.
Kosten
97 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Parlaments die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)
Für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. KN trägt die Kosten.
van der Woude
Svenningsen
Mac Eochaidh
Pynnä
Laitenberger
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. November 2022.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
|
||||||||||||
Beschluss des Gerichts (Erste Kammer) vom 21. Juli 2022.#Fersher Developments LTD und Vladimir Lisin gegen Europäische Kommission und Europäische Zentralbank.#Schadensersatzklage – Wirtschafts- und Währungspolitik – Stabilitätshilfeprogramm für Zypern – Memorandum of Understanding vom 26. April 2013 über spezifische wirtschaftspolitische Auflagen zwischen der Republik Zypern und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus – Zuständigkeit des Gerichts – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Gleichbehandlung – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Klage, der offensichtlich jede rechtliche Grundlage fehlt.#Rechtssache T-200/18.
|
62018TO0200
|
ECLI:EU:T:2022:478
| 2022-07-21T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62018TO0200 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte erweiterte Kammer) vom 27. April 2022.#Robert Roos u. a. gegen Europäisches Parlament.#Öffentliche Gesundheit – Erfordernis der Vorlage eines gültigen digitalen Covid-19-Zertifikats der Union für den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments – Rechtsgrundlage – Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten – Pflicht, die Gesundheit des Personals der Union zu gewährleisten – Parlamentarische Immunität – Verarbeitung personenbezogener Daten – Recht auf Achtung des Privatlebens – Recht auf körperliche Unversehrtheit – Recht auf Sicherheit – Gleichbehandlung – Verhältnismäßigkeit.#Verbundene Rechtssachen T-710/21, T-722/21 und T-723/21.
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62021TJ0710
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ECLI:EU:T:2022:262
| 2022-04-27T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62021TJ0710
URTEIL DES GERICHTS (Achte erweiterte Kammer)
27. April 2022 (*1)
„Öffentliche Gesundheit – Erfordernis der Vorlage eines gültigen digitalen COVID‑19-Zertifikats der Union für den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments – Rechtsgrundlage – Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten – Pflicht, die Gesundheit des Personals der Union zu gewährleisten – Parlamentarische Immunität – Verarbeitung personenbezogener Daten – Recht auf Achtung des Privatlebens – Recht auf körperliche Unversehrtheit – Recht auf Sicherheit – Gleichbehandlung – Verhältnismäßigkeit“
In den verbundenen Rechtssachen T‑710/21, T‑722/21 und T‑723/21,
Robert Roos und die anderen im Anhang (1 ) aufgeführten Kläger, vertreten durch die Rechtsanwälte P. de Bandt, M. Gherghinaru, L. Panepinto und V. Heinen,
Kläger,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch S. Alves und A.‑M. Dumbrăvan als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer),
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas, des Präsidenten J. Svenningsen, der Richter R. Barents und C. Mac Eochaidh sowie der Richterin T. Pynnä (Berichterstatterin),
Kanzler: H. Eriksson, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2022
folgendes
Urteil
1 Mit ihren auf Art. 263 AEUV gestützten Klagen begehren die Kläger, die alle für die Wahlperiode 2019-2024 in das Europäische Parlament gewählte Abgeordnete sind, die Nichtigerklärung des Beschlusses des Präsidiums des Parlaments vom 27. Oktober 2021 zu den außerordentlichen Vorschriften über Gesundheit und Sicherheit für den Zugang zu den Gebäuden des Europäischen Parlaments an seinen drei Arbeitsorten (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Im Rahmen der durch die COVID‑19-Pandemie verursachten Gesundheitskrise erließ der europäische Gesetzgeber auf Vorschlag der Europäischen Kommission die Verordnung (EU) 2021/953 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2021 über einen Rahmen für die Ausstellung, Überprüfung und Anerkennung interoperabler Zertifikate zur Bescheinigung von COVID‑19‑Impfungen und -Tests sowie der Genesung von einer COVID‑19‑Infektion (digitales COVID-Zertifikat der EU) mit der Zielsetzung der Erleichterung der Freizügigkeit während der COVID‑19-Pandemie (ABl. 2021, L 211, S. 1), sowie die Verordnung (EU) 2021/954 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2021 über einen Rahmen für die Ausstellung, Überprüfung und Anerkennung interoperabler Zertifikate zur Bescheinigung von COVID‑19‑Impfungen und -Tests sowie der Genesung von einer COVID‑19‑Infektion (digitales COVID-Zertifikat der EU) für Drittstaatsangehörige mit rechtmäßigem Aufenthalt oder Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten während der COVID‑19-Pandemie (ABl. 2021, L 211, S. 24).
3 Auf der Grundlage dieser Verordnungen beschlossen einige Mitgliedstaaten, nationale Anwendungen des digitalen COVID-Zertifikats der Europäischen Union (im Folgenden: COVID-Zertifikat) einzuführen und deren Verwendung u. a. auf den Zugang zu bestimmten Ereignissen, Gebäuden oder Transportmittel auszuweiten, um die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus einzudämmen und die öffentliche Gesundheit zu schützen. Dies ist insbesondere für die drei Mitgliedstaaten der Fall, in denen sich die Standorte des Parlaments befinden, nämlich Belgien, Frankreich und Luxemburg.
4 Seit Beginn der Gesundheitskrise im März 2020 hat der Präsident des Parlaments verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Gesundheit der Abgeordneten, des Personals und anderer Personen, die sich in den Gebäuden des Parlaments aufhalten, zu schützen und zugleich die Fähigkeit des Parlaments zu gewährleisten, seine in den Verträgen festgelegten wesentlichen Funktionen wahrzunehmen.
5 Diese zeitlich begrenzten Maßnahmen wurden regelmäßig verlängert oder geändert. Insbesondere abhängig von der Entwicklung der Epidemielage konnten bestimmte Maßnahmen gelockert oder verschärft werden. Zu diesen Maßnahmen gehören seit dem Frühjahr 2020 unter anderem das Tragen von Masken und die Temperaturkontrolle. Sie sahen ferner bis Herbst 2021 ein Verbot zahlreicher Kategorien von Veranstaltungen oder der Besichtigungen von Einzelpersonen oder Gruppen vor. Die Plenarsitzungen wurden zwischen März 2020 und Mai 2021 in Brüssel (Belgien) beibehalten.
6 Außerdem wurde vom Generalsekretär des Parlaments ab dem 16. März 2020 als Reaktion auf die COVID‑19-Pandemie eine Sonderregelung für die vollständige Telearbeit eingeführt. Diese Regelung wurde an die Entwicklung der Pandemie angepasst und ab dem 1. September 2021 durch den Beschluss des Generalsekretärs vom 16. Juli 2021 über Telearbeit ersetzt, wonach die Telearbeit nunmehr auf freiwilliger Basis ausgeübt wurde, während die physische Anwesenheit gemäß Art. 20 des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) die Standardarbeitsform sein sollte.
7 Am 25. März 2021 eröffnete das Parlament in enger Zusammenarbeit mit den Brüsseler Behörden ein Zentrum für Impfungen gegen COVID‑19 in seinen Räumlichkeiten in Brüssel, um die Impfung insbesondere der Mitglieder des Parlaments und seiner Mitarbeiter zu erleichtern, ohne dass diese gegebenenfalls in ihr Heimatland reisen müssten. Darüber hinaus hat das Parlament seit Beginn der Pandemie im März 2020 zeitlich begrenzte Ausnahmeverfahren eingeführt, um den Abgeordneten zu ermöglichen, per Fernteilnahme an den Debatten und Abstimmungen teilzunehmen.
8 Am 2. September 2021 nahm der Präsident des Parlaments einen Beschluss über Sicherheitsmaßnahmen zur Begrenzung der Ausbreitung von COVID‑19 an. Nach diesem Beschluss war der Zugang zu den Gebäuden des Parlaments für Besucher, örtliche Assistenten, externe Referenten und Interessenvertreter an die Vorlage eines COVID-Zertifikats oder eines gleichwertigen Zertifikats gebunden. Dieser Beschluss sah auch die Verpflichtungen zum Tragen einer Maske und zur Beachtung der sozialen Distanzierung innerhalb des Parlaments sowie ein Verbot des Zugangs zum Parlament für alle Personen vor, deren Temperatur über 37,7 °C liegt, die niesen oder husten, die positiv auf COVID‑19 getestet wurden oder die mit einer positiv auf COVID‑19 getesteten Person in Kontakt waren.
9 Am selben Tag erließ der Präsident des Parlaments einen Beschluss über außerordentliche Maßnahmen, die es dem Parlament ermöglichten, die Kontinuität seiner Tätigkeiten zu gewährleisten und die ihm durch die Verträge eingeräumten Vorrechte auszuüben. Der Beschluss sieht unter anderem die Wiederaufnahme bestimmter parlamentarischer Tätigkeiten wie Dienstreisen und Delegationen sowie die Verpflichtung zur Beachtung der sozialen Distanzierung und zum Tragen von Masken bei Parlamentsdebatten vor.
10 Am 30. September 2021 erließ der Parlamentspräsident zwei Beschlüsse, mit denen die Anwendung der mit den Beschlüssen vom 2. September 2021 getroffenen Maßnahmen bis zum 17. Oktober 2021 verlängert wurde.
11 Am 14. Oktober 2021 erließ der Präsident des Parlaments einen neuen Beschluss über Sicherheitsmaßnahmen zur Begrenzung der Ausbreitung des Virus, der für den Zeitraum vom 18. Oktober bis zum 2. November 2021 vorsah, die Durchführung einer Vielzahl von Veranstaltungen und Besuchen in den Gebäuden des Parlaments zu beschränken, eine Temperaturkontrolle am Eingang der Gebäude vorzuschreiben, die soziale Distanzierung und das Tragen von Masken während der Parlamentsdebatten vorzuschreiben und den Zugang zu den Gebäuden für Besucher, örtliche Assistenten, externe Redner und Interessenvertreter von der Vorlage eines COVID-Zertifikats abhängig zu machen.
12 Am selben Tag erließ der Präsident des Parlaments einen neuen Beschluss über außerordentliche Maßnahmen, die es dem Parlament ermöglichen, seine Aufgaben wahrzunehmen und seine Vorrechte gemäß den Verträgen auszuüben, und der für den Zeitraum vom 18. Oktober bis zum 2. November 2021 eine Regelung der Fernteilnahme für die Organisation von Tagungen, Ausschüssen und interparlamentarischen Delegationen, für die Veranstaltung von Sitzungen bestimmter Organe, die Ausübung des Stimmrechts usw. vorsieht.
13 Trotz der eingeführten Distanzierungsmaßnahmen und sanitären Vorsichtsmaßnahmen und trotz der auf über 80 % geschätzten Impfquote des Personals wurden ab September 2021 im Parlament eine zunehmende Anzahl von Übertragungsfällen festgestellt.
14 Das Präsidium des Parlaments (im Folgenden: Präsidium) erließ daher am 27. Oktober 2021 den angefochtenen Beschluss. Dieser Beschluss schreibt für den Zeitraum vom 3. November 2021 bis zum 31. Januar 2022 vor, dass alle Personen, die Zugang zu den Gebäuden des Parlaments an seinen drei Arbeitsorten erhalten möchten, ein gültiges COVID-Zertifikat vorlegen müssen.
15 Im elften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wird ausgeführt, dass diese Maßnahmen ein doppeltes Ziel verfolgen, da sie zum einen sicherstellen sollen, dass das Organ seiner rechtlichen Verpflichtung im Sinne der Verträge nachkommt, zum normalen Arbeitsablauf zurückzukehren, und zum anderen, dass ausreichende Schutzvorkehrungen getroffen werden, um Leben und Gesundheit aller in den Räumlichkeiten des Parlaments befindlichen Personen zu schützen.
16 Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2021/953 ermöglicht der Rahmen für das COVID-Zertifikat die Ausstellung, grenzüberschreitende Überprüfung und Anerkennung folgender Zertifikate:
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ein Zertifikat, mit dem bescheinigt wird, dass der Inhaber in dem das Zertifikat ausstellenden Mitgliedstaat eine COVID‑19‑Impfung erhalten hat (im Folgenden: Impfzertifikat);
–
ein Zertifikat, mit dem bescheinigt wird, dass sich der Inhaber einem molekularen Nukleinsäure-Amplifikationstest (im Folgenden: PCR-Test) oder einem Antigen-Schnelltest (im Folgenden: AGS-Test) unterzogen hat, wobei der AGS-Test in der gemeinsamen und aktualisierten Liste der COVID‑19-AGS-Tests auf der Grundlage der Empfehlung des Rates der Europäischen Union vom 21. Januar 2021 aufgeführt ist und in dem das Zertifikat ausstellenden Mitgliedstaat von Fachkräften im Gesundheitswesen oder von geschultem Testpersonal durchgeführt wurde, und in dem die Art des Tests, das Datum, an dem der Test durchgeführt wurde und das Testergebnis enthalten sind (im Folgenden: Testzertifikat);
–
ein Zertifikat, aus dem hervorgeht, dass der Inhaber nach einem positiven Ergebnis eines PCR-Tests, der von Fachkräften im Gesundheitswesen oder von geschultem Testpersonal durchgeführt wurde, von einer SARS-CoV-2‑Infektion genesen ist (im Folgenden: Genesungszertifikat).
II. Anträge der Parteien
17 Die Kläger beantragen,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären,
–
dem Parlament die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
18 Das Parlament beantragt,
–
die Klagen als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen;
–
den Klägern die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit der Klagen
1. Zum Rechtsschutzinteresse der Kläger
19 Im Wege einer prozessleitenden Maßnahme und in der mündlichen Verhandlung wurden die Parteien aufgefordert, klarzustellen, ob die Kläger angesichts der Tatsache, dass der angefochtene Beschluss nur bis zum 31. Januar 2022 galt, weiterhin ein Interesse an der Anfechtung des angefochtenen Beschlusses haben.
20 Nach ständiger Rechtsprechung muss das Rechtsschutzinteresse eines Klägers im Hinblick auf den Klagegegenstand bei Klageerhebung gegeben sein, andernfalls ist die Klage unzulässig. Ebenso wie das Rechtsschutzinteresse muss auch der Streitgegenstand bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen – andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt –, was voraussetzt, dass die Klage der Partei, die sie erhoben hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (vgl. Urteil vom 21. Januar 2021, Leino-Sandberg/Parlament, C‑761/18 P, EU:C:2021:52, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass der Kläger ein Interesse daran behalten kann, die Nichtigerklärung einer Handlung eines Unionsorgans zu beantragen, um zu verhindern, dass sich der behauptete Rechtsverstoß in Zukunft wiederholt (Urteil vom 7. Juni 2007, Wunenburger/Kommission, C‑362/05 P, EU:C:2007:322, Rn. 50).
22 Nach der Rechtsprechung kann dieses Rechtsschutzinteresse nur gegeben sein, wenn sich der behauptete Rechtsverstoß unabhängig von den Umständen der Rechtssache, die zur Klageerhebung geführt haben, in Zukunft wiederholen kann (Urteil vom 7. Juni 2007, Wunenburger/Kommission, C‑362/05 P, EU:C:2007:322, Rn. 52).
23 Im vorliegenden Fall ist es, wie die Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht haben, nicht ausgeschlossen, dass sich die von ihnen geltend gemachten Rechtsverstöße unabhängig von den Umständen der Rechtssache, die zu ihren Klagen geführt haben, in Zukunft wiederholen.
24 Mit ihren Klagen machen die Kläger nämlich mehrere Rechtsverstöße geltend, die u. a. das Fehlen einer geeigneten Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss, den Verstoß gegen ihre Vorrechte und Befreiungen sowie die Verletzung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit oder die Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens betreffen, die sich unabhängig von den Umständen, die zu den vorliegenden Klagen geführt haben, im Rahmen ähnlicher Entscheidungen wiederholen können.
25 Darüber hinaus wurde der angefochtene Beschluss, wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, zunächst durch Beschluss des Präsidiums vom 26. Januar 2022 bis zum 13. März 2022 und anschließend durch Beschluss des Präsidiums vom 7. März 2022 bis zum 10. April 2022 verlängert. Daher ist nicht ausgeschlossen, dass der angefochtene Beschluss wieder verlängert oder erneut eine ähnliche Entscheidung erlassen werden könnte.
26 Die Kläger haben daher weiterhin ein Rechtsschutzinteresse an der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses.
2. Zur Klagebefugnis der Kläger
27 Das Parlament stellt die Zulässigkeit der Klage in Abrede und ist der Ansicht, dass die Kläger nicht über die in Art. 263 Abs. 4 AEUV definierte Klagebefugnis verfügen.
28 Art. 263 Abs. 4 AEUV sehe drei Fälle vor, in denen eine Person klagebefugt sein könne, nämlich erstens, wenn diese Person Adressat des fraglichen Rechtsakts sei, zweitens, wenn der fragliche Rechtsakt sie unmittelbar und individuell betreffe und drittens, wenn der fragliche Rechtsakt ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter sei, der sie unmittelbar betreffe und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehe. Nach Ansicht des Parlaments liegt jedoch keiner dieser Fälle hier vor.
29 Die Kläger treten diesem Vorbringen entgegen.
30 Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV kann „[j]ede natürliche oder juristische Person … unter den Bedingungen nach den Absätzen 1 und 2 gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben“.
31 An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Kläger, wie das Parlament geltend macht, nicht als Adressaten der angefochtenen Handlung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können. Diese Entscheidung ist nämlich nicht an sie persönlich gerichtet und gilt gemäß ihrem Art. 2 für „alle Personen, die um Zugang zu den Gebäuden des Parlaments an seinen drei Arbeitsorten ersuchen, einschließlich Mitgliedern, Beamten, akkreditierten parlamentarischen Assistenten und sonstigen Bediensteten des Parlaments“.
32 Es ist jedoch daran zu erinnern, dass der Begriff „Adressat der Handlung“ im Sinne dieser Bestimmung im formellen Sinn als die in dieser Handlung als Adressat bezeichnete Person zu verstehen ist. Dass eine andere Person als der förmliche Adressat einer Handlung von deren Inhalt erfasst sein kann, kann ihr zwar Klagebefugnis verleihen, wenn sie insbesondere nachweist, dass die Handlung sie aufgrund ihres Inhalts unmittelbar betrifft, damit ist sie aber nicht als Adressatin der Handlung klagebefugt. Außerdem reicht der Umstand, dass den Klägern eine Kopie des angefochtenen Beschlusses übermittelt wurde, nicht aus, um sie als Adressaten dieses Beschlusses anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, SACBO/Kommission und INEA, C‑281/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:46, Rn. 34).
33 An zweiter Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Zulässigkeit einer Klage, die von einer natürlichen oder juristischen Person gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung erhoben wird, nach Art. 263 Abs. 4 AEUV unter der Bedingung steht, dass dieser Person eine Klagebefugnis zuerkannt wird, die in zwei Fällen vorliegt. Zum einen kann eine derartige Klage erhoben werden, wenn diese Handlung die Person unmittelbar und individuell betrifft. Zum anderen kann eine solche Person gegen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, klagen, sofern dieser Rechtsakt sie unmittelbar betrifft (vgl. Urteil vom 15. Juli 2021, Deutsche Lufthansa/Kommission, C‑453/19 P, EU:C:2021:608, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Das Gericht hält es für angebracht, zunächst zu prüfen, ob die Kläger nach der zweiten oben in Rn. 33 genannten Variante klagebefugt sind.
35 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 letzter Satzteil AEUV alle Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung umfasst (Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 28). Die Rechtsprechung hat klargestellt, dass sich die allgemeine Geltung eines Rechtsakts aus der Tatsache ableiten lässt, dass dieser Akt für objektiv bestimmte Situationen gilt und gegenüber allgemein und abstrakt bezeichneten Personengruppen Rechtswirkungen entfaltet (vgl. Urteil vom 31. Mai 2001, Sadam Zuccherifici u. a./Rat, C‑41/99 P, EU:C:2001:302, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss, obwohl er in Form eines Beschlusses erlassen wurde, in Wirklichkeit einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter mit allgemeiner Geltung darstellt, da er für objektiv bestimmte Situationen gilt und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt bezeichneten Personengruppen entfaltet, was das Parlament nicht bestreitet.
37 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannte Voraussetzung, wonach eine natürliche oder juristische Person von der klagegegenständlichen Entscheidung unmittelbar betroffen sein muss, erfordert, dass zwei Kriterien kumulativ erfüllt sind, nämlich zum einen, dass sich die beanstandete Maßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung des Einzelnen auswirkt, und zum anderen, dass sie den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung weiterer Durchführungsvorschriften ergibt (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Im vorliegenden Fall erzeugt der angefochtene Beschluss, wie die Kläger geltend machen, ihnen gegenüber unmittelbare und verbindliche Rechtswirkungen, da sie seit seinem Inkrafttreten am 3. November 2021 nur dann Zugang zu den Gebäuden des Parlaments haben können, um ihre Funktion als Mitglieder des Europäischen Parlaments auszuüben und an dessen Arbeiten teilzunehmen, wenn sie ein gültiges COVID-Zertifikat vorlegen können.
39 Insoweit hat das Parlament zwar beschlossen, ab dem 22. November 2021 für alle Mitarbeiter, soweit dies mit der Ausübung ihres Amtes vereinbar ist, erneut eine verbindliche Telearbeitsregelung im Umfang von durchschnittlich maximal drei Tagen pro Woche auf Monatsbasis einzuführen und den Abgeordneten eine Fernteilnahme an den Debatten und Abstimmungen zu ermöglichen, wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat; der angefochtene Beschluss und die Verpflichtung, ein gültiges COVID-Zertifikat vorzulegen, um Zugang zu den Gebäuden des Parlaments zu erhalten, blieben während dieses gesamten Zeitraums jedoch in Kraft.
40 Darüber hinaus steht fest, dass der angefochtene Beschluss den Adressaten, die mit seiner Durchführung betraut sind, insbesondere den mit der Kontrolle der Vorlage eines gültigen COVID-Zertifikats betrauten Sicherheitsbediensteten des Parlaments, keinerlei Ermessensspielraum lässt. Diese erfolgt rein automatisch und erfordert keine Durchführungsmaßnahmen.
41 Daher ist festzustellen, dass die Kläger vom angefochtenen Beschluss unmittelbar betroffen sind.
42 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Wendung „die … keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 letzter Satzteil AEUV vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass diese Vorschrift, wie sich aus ihrer Entstehungsgeschichte ergibt, verhindern soll, dass ein Einzelner gezwungen ist, gegen das Recht zu verstoßen, um Zugang zu den Gerichten zu erlangen. Wenn sich ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter unmittelbar auf die Rechtsstellung einer natürlichen oder juristischen Person auswirkt, ohne dass Durchführungsmaßnahmen erforderlich sind, bestünde die Gefahr, dass diese Person keinen wirksamen Rechtsschutz hätte, wenn sie vor dem Unionsrichter keinen Rechtsbehelf einlegen könnte, um die Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts mit Verordnungscharakter anfechten zu können. In Ermangelung von Durchführungsmaßnahmen könnte sie nämlich, obwohl sie von dem fraglichen Rechtsakt unmittelbar betroffen ist, eine gerichtliche Überprüfung desselben erst, nachdem sie gegen dessen Bestimmungen verstoßen hat, erwirken, indem sie im Rahmen der gegen sie vor den nationalen Gerichten eingeleiteten Verfahren die Rechtswidrigkeit dieser Bestimmungen geltend macht (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Zieht ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter Durchführungsmaßnahmen nach sich, ist hingegen die gerichtliche Kontrolle der Beachtung des Unionsrechts unabhängig davon gewährleistet, ob diese Maßnahmen von der Union oder den Mitgliedstaaten erlassen werden. Natürliche oder juristische Personen, die aufgrund der in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehenen Zulässigkeitsvoraussetzungen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter der Union nicht unmittelbar vor dem Unionsrichter anfechten können, sind durch die Möglichkeit, die Durchführungsmaßnahmen anzufechten, die dieser Rechtsakt nach sich zieht, davor geschützt, dass ein derartiger Rechtsakt ihnen gegenüber angewandt wird (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Obliegt die Durchführung eines solchen Rechtsakts den Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, können natürliche oder juristische Personen unter den in Art. 263 Abs. 4 AEUV festgelegten Voraussetzungen vor den Unionsgerichten unmittelbar gegen die Durchführungsmaßnahmen klagen und sich zur Begründung dieser Klage nach Art. 277 AEUV auf die Rechtswidrigkeit des fraglichen Basisrechtsakts berufen (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Der Gerichtshof hat im Übrigen wiederholt entschieden, dass es für die Beurteilung, ob ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, auf die Stellung der Person ankommt, die sich auf die Klageberechtigung nach Art. 263 Abs. 4 letzter Satzteil AEUV beruft. Ob der fragliche Rechtsakt Durchführungsmaßnahmen gegenüber anderen Personen nach sich zieht, spielt also keine Rolle (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 So ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass der Begriff „Durchführungsmaßnahmen“ zum einen den Erlass eines Rechtsakts entweder durch die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union oder durch die Mitgliedstaaten, der gerichtlich überprüft werden kann, impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2020, Associazione GranoSalus/Kommission, C‑313/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:869, Rn. 37), und zum anderen, dass die Rechtswirkungen des angefochtenen Beschlusses gegenüber den Klägern nur über Durchführungsmaßnahmen eintreten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2018, European Union Copper Task Force/Kommission, C‑384/16 P, EU:C:2018:176, Rn. 50, vom 13. März 2018, Industrias Químicas del Vallés/Kommission, C‑244/16 P, EU:C:2018:177, Rn. 57, und vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 64).
47 Nach Ansicht des Parlaments ergibt sich aus Art. 3 des angefochtenen Beschlusses, dass der Zugang zu den Räumlichkeiten des Parlaments nach einer von den Sicherheitsdiensten des Parlaments durchgeführten Kontrolle gewährt oder verweigert werde. Im Rahmen dieser Prüfung werde nicht nur der Besitz eines COVID-Zertifikats überprüft, sondern gegebenenfalls auch, ob für die betreffende Person eine vom Generalsekretär nach Art. 5 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses gewährte Ausnahme gelte. Folglich zeigten sich die Auswirkungen des angefochtenen Beschlusses gegenüber den Klägern erst nach der Kontrolle durch die Sicherheitsdienste des Parlaments.
48 Es ist jedoch festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen des Parlaments die Rechtswirkungen des angefochtenen Beschlusses gegenüber den Klägern ab dem Inkrafttreten dieses Beschlusses eingetreten sind, ohne dass es einer zusätzlichen Durchführungsmaßnahme bedurfte, da die Kläger ab diesem Zeitpunkt über ein gültiges COVID-Zertifikat verfügen mussten, um Zugang zu den Gebäuden des Parlaments zu erhalten.
49 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die mit der Kontrolle der Durchführung des angefochtenen Beschlusses betrauten Sicherheitsbediensteten des Parlaments keine Handlung erlassen, die gerichtlich überprüft werden können, sondern sich darauf beschränken, mittels der Anwendungen CovidScanBE bzw. CovidCheck.lu zu prüfen, ob eine Person, die Zugang zu den Gebäuden des Parlaments erhalten möchte, über ein gültiges COVID-Zertifikat verfügt oder nicht.
50 In der mündlichen Verhandlung hat das Parlament jedoch geltend gemacht, dass die Personen, denen der Zugang zu seinen Gebäuden verweigert werde, weil sie nicht über ein gültiges COVID-Zertifikat verfügten, auf Antrag ein Dokument erhalten könnten, in dem die Verweigerung des Zugangs zu den Gebäuden des Parlaments bestätigt werde, was eine Maßnahme zur Durchführung des angefochtenen Beschlusses darstelle.
51 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es gekünstelt wäre, von den Klägern zu verlangen, dass sie, obwohl sie nicht über ein gültiges COVID-Zertifikat verfügen, Zugang zu den Gebäuden des Parlaments verlangen, um ein solches Dokument, in dem festgestellt wird, dass sie nicht die Voraussetzungen des angefochtenen Beschlusses erfüllen, zu erhalten und anschließend diese Handlung vor dem Gericht anfechten und zur Stützung ihrer Klage gemäß Art. 277 AEUV die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses geltend machen zu können (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 66, vom 14. Januar 2016, Doux/Kommission, T‑434/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:7, Rn. 59 bis 64, und vom 13. September 2018, Gazprom Neft/Rat, T‑735/14 und T‑799/14, EU:T:2018:548, Rn. 102).
52 Ebenso ist das Vorbringen des Parlaments zurückzuweisen, dass die Kläger gemäß Art. 5 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses beim Generalsekretär des Parlaments einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahme stellen und anschließend eine etwaige Ablehnung, eine solche Ausnahme zu gewähren, anfechten könnten. Wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, werden solche Ausnahmen nämlich nur aus ganz besonderen legitimen Gründen, wie der Impfung in einem Drittland, gewährt, und niemals aufgrund einer Ermessensentscheidungen an Personen ausgestellt, die ohne triftigen Grund kein gültiges COVID-Zertifikat besitzen.
53 Abgesehen davon, dass es gekünstelt wäre, von den Klägern zu verlangen, dass sie solche Anträge auf Gewährung einer Ausnahme stellen, ist festzustellen, dass sie im vorliegenden Fall nie derartige Anträge gestellt haben, so dass solche etwaigen Durchführungsmaßnahmen im Hinblick auf die oben in Rn. 45 angeführte Rechtsprechung im vorliegenden Fall jedenfalls irrelevant sind.
54 Schließlich kann sich das Parlament nicht mit Erfolg auf das Urteil vom 20. November 2017, Petrov u. a./Parlament (T‑452/15, EU:T:2017:822), berufen, um geltend zu machen, dass eine etwaige Verweigerung des Zutritts zu den Räumlichkeiten des Parlaments im vorliegenden Fall eine Handlung darstelle, die von der betroffenen Person vor dem Unionsrichter angefochten werden könne. In dieser Rechtssache wandten sich die Kläger, Staatsangehörige eines Drittstaats, nämlich gegen die Entscheidung, ihnen die für den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments erforderliche Akkreditierung zu verweigern. Somit verfügten diese Kläger im Gegensatz zu den Klägern in der vorliegenden Rechtssache ohne diese Entscheidung über kein Recht auf dauerhaften Zugang zu den Gebäuden des Parlaments. Außerdem handelte es sich bei der in dieser Rechtssache in Rede stehenden Entscheidung um eine ausdrückliche Einzelfallentscheidung, mit der der Zugang verweigert wurde, und nicht um eine bloße Kontrollmaßnahme der Sicherheitsbediensteten des Parlaments, die – wie im vorliegenden Fall – mit der Umsetzung einer zuvor ergangenen Entscheidung von allgemeiner Geltung betraut waren, durch die der Zugang zu den Gebäuden des Parlaments bestimmten Voraussetzungen unterstellt wurde.
55 Nach alledem kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der angefochtene Beschluss Durchführungsmaßnahmen im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV gegenüber den Klägern nach sich zieht.
56 Da der angefochtene Beschluss einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter darstellt, der die Kläger unmittelbar betrifft und keine an sie gerichteten Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, ist festzustellen, dass diese nach Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV klagebefugt sind.
B. Zur Zulässigkeit der Anträge auf Anpassung der Klageschriften
57 In der mündlichen Verhandlung hat das Parlament darauf hingewiesen, dass der angefochtene Beschluss zunächst mit Beschluss des Präsidiums vom 26. Januar 2022 bis zum 13. März 2022 und dann mit Beschluss des Präsidiums vom 7. März 2022 bis zum 10. April 2022 verlängert worden sei. Diese neuen Beschlüsse beruhten nach Angabe des Parlaments auf einer aktualisierten Bewertung der Gesundheitslage und der verfügbaren wissenschaftlichen Daten.
58 Auf Fragen nach den Auswirkungen dieser neuen Beschlüsse auf die vorliegende Klage haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass sie ihre Anträge in ihren Klageschriften anpassen möchten, um diesen neuen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen.
59 Nach Art. 86 Abs. 1 und 2 der Verfahrensordnung des Gerichts muss die Anpassung der Klageschrift jedoch mit gesondertem Schriftsatz vor Abschluss des mündlichen Verfahrens oder vor der Entscheidung des Gerichts erfolgen, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden.
60 Dieses Erfordernis soll insbesondere die Beachtung des kontradiktorischen Verfahrens und der Verteidigungsrechte gewährleisten, indem dem Beklagten ermöglicht wird, auf die angepassten Klagegründe und Argumente des Klägers zu reagieren, soweit sie neue Umstände betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Januar 2019, Haswani/Rat, C‑313/17 P, EU:C:2019:57, Rn. 36 bis 40, vom 9. November 2017, HX/Rat, C‑423/16 P, EU:C:2017:848, Rn. 23, und vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 139).
61 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Kläger und ihre Vertreter notwendigerweise vor der mündlichen Verhandlung Kenntnis von den vom Präsidium erlassenen neuen Beschlüssen erlangt haben, so dass sie, wenn sie auch die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse hätten anfechten wollen, die erforderliche Sorgfalt hätten walten lassen müssen, indem sie entweder neue Klagen auf der Grundlage von Art. 263 AEUV erheben oder eine Anpassung der Klageschriften gemäß Art. 86 der Verfahrensordnung hätten beantragen müssen.
62 Da die Kläger vor Abschluss des mündlichen Verfahrens keine Anträge auf Anpassung der Klageschriften mit gesondertem Schriftsatz gestellt haben, sind diese in der mündlichen Verhandlung mündlich gestellten Anträge als unzulässig zurückzuweisen.
C. Begründetheit
63 Mit ihren Klagen machen die Kläger vier verschiedene Klagegründe geltend, mit denen sie erstens das Fehlen einer gültigen Rechtsgrundlage zur Erzeugung von Wirkungen gegenüber den Mitgliedern des Parlaments, zweitens einen Verstoß des angefochtenen Beschlusses gegen die Grundsätze der Freiheit und Unabhängigkeit der Mitglieder des Parlaments und gegen die ihnen durch den Vertrag eingeräumten Befreiungen, drittens einen Verstoß gegen die allgemeinen Grundsätze der Verarbeitung personenbezogener Daten und viertens eine ungerechtfertigte Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und auf personenbezogene Daten, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Rechts auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung rügen.
1. Zum ersten Klagegrund: Fehlen einer gültigen Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss zur Erzeugung von Wirkungen gegenüber den Mitgliedern des Parlaments
64 Die Kläger machen geltend, dass Art. 25 der Geschäftsordnung des Parlaments keine gültige Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss darstelle, um ihnen gegenüber Wirkungen entfalten zu können. Abs. 2 dieser Bestimmung, der ihrer Ansicht nach der einzig einschlägige Absatz sein könne, verleihe dem Präsidium nämlich nur allgemeine Befugnisse in Angelegenheiten der internen Organisation des Parlaments, die den Erlass so strenger Maßnahmen wie der im angefochtenen Beschluss vorgesehenen nicht rechtfertigen könnten.
65 Die Kläger machen ferner geltend, dass Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ein „Gesetz“ verlange, um die wesentlichen Elemente der Verarbeitung personenbezogener Daten festzulegen. Es stehe jedoch fest, dass eine Entscheidung des Präsidiums kein Gesetz im Sinne dieser Bestimmung sei. Jede gegenteilige Auslegung hätte zur Folge, dass auf der Ebene der Unionsorgane ein geringerer Schutz als auf der Ebene der Mitgliedstaaten gewährt würde, die für die Verarbeitung personenbezogener Daten eine nach einer parlamentarischen Debatte erlassene Rechtsvorschrift verlangen würden.
66 Jedenfalls könne Art. 25 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Parlaments nicht den Erlass von Maßnahmen rechtfertigen, die dem Beschluss 2005/684/EG, Euratom des Europäischen Parlaments vom 28. September 2005 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments (ABl. 2005, L 262, S. 1, im Folgenden: Abgeordnetenstatut) oder dem Protokoll Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 266, im Folgenden: Protokoll Nr. 7) zuwiderliefen.
67 Das Parlament tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
68 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass sich das Parlament nach Art. 232 AEUV mit der Mehrheit seiner Mitglieder eine Geschäftsordnung gibt.
69 Im vorliegenden Fall steht fest, dass der angefochtene Beschluss u. a. auf der Grundlage von Art. 25 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Parlaments erlassen wurde. Diese Bestimmung verleiht dem Präsidium die Zuständigkeit für finanzielle, organisatorische und administrative Entscheidungen in Angelegenheiten der internen Organisation des Parlaments, seines Generalsekretariats und seiner Organe.
70 Mit dem Parlament ist jedoch festzustellen, dass der angefochtene Beschluss, mit dem der Zugang zu den Gebäuden des Parlaments auf Personen beschränkt werden soll, die über ein gültiges COVID-Zertifikat verfügen, sehr wohl zu den Angelegenheiten der internen Organisation des Parlaments im Sinne von Art. 25 Abs. 2 seiner Geschäftsordnung gehört.
71 Aus der internen Organisationsgewalt des Parlaments ergibt sich nämlich, dass es befugt ist, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sein ordnungsgemäßes Funktionieren und die Durchführung seiner Verfahren sicherzustellen (Urteile vom 10. Februar 1983, Luxemburg/Parlament, 230/81, EU:C:1983:32, Rn. 38, vom 10. Juli 1986, Wybot, 149/85, EU:C:1986:310, Rn. 16, und vom 2. Oktober 2001, Martinez u. a./Parlament, T‑222/99, T‑327/99 und T‑329/99, EU:T:2001:242, Rn. 144).
72 Wie das Parlament geltend macht, stellt der angefochtene Beschluss jedoch eine solche Maßnahme dar, da er nach seinem zweiten Erwägungsgrund darauf abzielt, eine Rückkehr zu einem System der Präsenzarbeit zu ermöglichen, um die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs im Rahmen der nach Maßgabe der Verträge üblichen Verfahren sicherzustellen, die vollständige Anwendung aller in seiner Geschäftsordnung vorgesehenen regulären Verfahren zu gewährleisten und seine uneingeschränkte und unbegrenzte Rolle als das demokratisch gewählte Organ der Union, das die Bürger direkt auf Unionsebene vertritt, wiederherzustellen.
73 Die oben in Rn. 71 erwähnte interne Organisationsgewalt des Parlaments wird auch in den Sitzabkommen anerkannt, die zwischen den Organen der Union und den Mitgliedstaaten, die ihre Gebäude beherbergen, abgeschlossen wurden. So sieht die am 31. Dezember 2004 zwischen dem Parlament, dem Rat der Europäischen Union, der Kommission, dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, dem Ausschuss der Regionen und der Europäischen Investitionsbank einerseits und der belgischen Regierung andererseits unterzeichnete Vereinbarung vor, dass die Organe für die Sicherheit und die Aufrechterhaltung der Ordnung in allen ihren Aspekten innerhalb der von ihnen genutzten Gebäude sowie für die Genehmigungen und die Kontrolle des Zugangs zu diesen Gebäuden verantwortlich sind. Ebenso sieht das Abkommen zwischen dem Parlament und dem Großherzogtum Luxemburg vom 2. Dezember 1983 vor, dass das Parlament für die Sicherheit innerhalb seiner Räumlichkeiten und Gebäude verantwortlich ist und dass es hierfür interne Regelungen erlässt. Was schließlich die Gebäude des Parlaments in Straßburg (Frankreich) betrifft, erkennt die Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Parlament und den französischen Behörden über die Sicherheit der Gebäude des Parlaments in Straßburg vom 25. Juni 1998 ebenfalls die ausschließliche Verantwortung des Parlaments für die Genehmigungen und Kontrollen des Zugangs zu seinen Gebäuden an.
74 Im Übrigen ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss einer Beschränkung des in Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses des Präsidiums vom 3. Mai 2004 zur Festlegung der Vorschriften für Zugangsausweise festgeschriebenen Rechts der Abgeordneten auf ständigen Zugang zu den Gebäuden des Parlaments gleichkommt. Da der letztgenannte Beschluss vom Präsidium u. a. auf der Grundlage von Art. 22 der Geschäftsordnung des Parlaments in seiner früheren Fassung, der Art. 25 der derzeit geltenden Geschäftsordnung entspricht, erlassen wurde, ist es kohärent, dass in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Parallelität der Formen dasselbe Organ den angefochtenen Beschluss auf derselben Rechtsgrundlage erlassen hat (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2018, ArcelorMittal Tubular Products Ostrava u. a./Kommission, T‑364/16, EU:T:2018:696, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Zweitens ist, ohne dass über seine Schlüssigkeit entschieden zu werden braucht, das Vorbringen der Kläger zu prüfen, der angefochtene Beschluss sei kein „Gesetz“ im Sinne von Art. 8 der Charta, mit dem die wesentlichen Elemente der Verarbeitung der personenbezogenen Daten der Kläger festgelegt werden könnten.
76 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8 der Charta „[j]ede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten [hat]“ und dass [d]iese Daten … nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden [dürfen]“.
77 Art. 52 Abs. 1 der Charta sieht ferner vor, dass „[j]ede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten … gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss]“.
78 Art. 52 Abs. 3 der Charta sieht außerdem Folgendes vor: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“
79 Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht vor, dass „[j]ede Person … das Recht auf Achtung ihres Privat[lebens hat]“ und dass „[e]ine Behörde … in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen [darf], soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. Daher ist Art. 8 EMRK bei der Auslegung von Art. 8 der Charta als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen, da diese beiden Bestimmungen gleichwertige Rechte enthalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a., C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 54).
80 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) bedeutet das Erfordernis, dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta und Art. 8 Abs. 2 EMRK jeder Eingriff in die Ausübung von Grundrechten „gesetzlich vorgesehen“ sein muss, nicht nur, dass die Maßnahme, in der der Eingriff vorgesehen ist, eine Grundlage im innerstaatlichen Recht haben muss, sondern auch, dass diese Rechtsgrundlage zur Vermeidung der Gefahr von Willkür bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 38, Urteile des EGMR vom 26. April 1979, Sunday Times/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1979:0426JUD000653874, § 49, und vom 4. Dezember 2015, Roman Zakharov/Russland, CE:ECHR:2015:1204JUD004714306, § 228).
81 Darüber hinaus geht aus der Rechtsprechung des EGMR hervor, dass der Begriff „Gesetz“ in der u. a. in Art. 8 Abs. 2 EMRK enthaltenen Formulierung „gesetzlich vorgesehen“ in seiner materiellen und nicht in seiner formellen Bedeutung zu verstehen ist. Es umfasst daher sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht und ist nicht auf Gesetzestexte beschränkt, sondern schließt auch Rechtsakte und Rechtsinstrumente niedrigeren Rangs ein. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das „Gesetz“ der anwendbare Rechtstext in seiner Auslegung durch die zuständigen Gerichte ist (vgl. in diesem Sinne Urteile des EGMR vom 26. April 1979, Sunday Times/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1979:0426JUD000653874, § 47, und vom 8. April 2021, Vavřička u. a./Tschechische Republik, CE:ECHR:2021:0408JUD004762113, § 269).
82 Daher kann der Umstand, dass der angefochtene Beschluss keine nach einer parlamentarischen Debatte erlassene Norm mit Gesetzesrang darstellt, nicht für die Annahme ausreichen, dass er kein „Gesetz“ im Sinne von Art. 8 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 8 EMRK, darstelle.
83 Zwar geht aus der Rechtsprechung des EGMR auch hervor, dass das innerstaatliche Recht, um den Anforderungen an die Qualität des Gesetzes zu genügen, einen gewissen Schutz gegen willkürliche Eingriffe der Behörden in die durch die EMRK garantierten Rechte gewähren muss und dass, wenn es um grundrechtsrelevante Fragen geht, das Gesetz dem Vorrang des Rechts, eines der in der EMRK verankerten Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft, zuwiderliefe, wenn der der Exekutive eingeräumte Ermessensspielraum unbeschränkt wäre. Demzufolge muss das Gesetz den Umfang und die Art und Weise der Ausübung eines solchen Ermessens hinreichend klar definieren (vgl. Urteil des EGMR vom 15. März 2022, Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS)/Schweiz, CE:ECHR:2022:0315JUD002188120, § 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Im vorliegenden Fall kann jedoch, da der angefochtene Beschluss selbst ein „Gesetz“ im Sinne von Art. 8 der Charta, ausgelegt im Licht von Art. 8 EMRK, darstellt, nicht davon ausgegangen werden, dass das Parlament eine ausdrückliche Ermächtigung durch den Unionsgesetzgeber benötigte, um solche Maßnahmen, die ihre Grundlage in Art. 232 AEUV und Art. 25 Abs. 2 seiner Geschäftsordnung finden, erlassen zu können.
85 Darüber hinaus erfüllt der angefochtene Beschluss im vorliegenden Fall, wie das Parlament geltend macht, zur Vermeidung der Gefahr von Willkür die erforderlichen Voraussetzungen hinsichtlich Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit.
86 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der fraglichen Maßnahme vorsieht und insbesondere den betroffenen Personen ausreichende Garantien bietet, die einen wirksamen Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang zu diesen Daten und jeder unberechtigten Nutzung ermöglichen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a., C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
87 So geht aus den Erwägungsgründen 22 bis 25 und Art. 4 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass Personen, deren personenbezogene Daten vom Parlament auf der Grundlage dieses Beschlusses verarbeitet werden, gemäß der Verordnung (EU) 2018/1725 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2018 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 und des Beschlusses Nr. 1247/2002/EG (ABl. 2018, L 295, S. 39) geschützt sind.
88 Schließlich ist in Übereinstimmung mit dem Parlament festzustellen, dass das Vorbringen der Kläger, dass Art. 25 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Parlaments nicht den Erlass von Maßnahmen stützen könne, die gegen das Abgeordnetenstatut oder das Protokoll Nr. 7 verstießen, nicht die Frage der geeigneten Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses, sondern die nachstehend im Rahmen des zweiten Klagegrundes zu prüfende Frage der Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses im Hinblick auf diese Bestimmungen betrifft.
89 Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 25 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Parlaments eine gültige Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses darstellte.
90 Der erste Klagegrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
2. Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten sowie Verletzung der ihnen durch den Vertrag eingeräumten Befreiungen
91 Der zweite Klagegrund besteht aus zwei Teilen, mit denen zum einen ein Verstoß gegen Art. 2 des Abgeordnetenstatuts, der die Grundsätze der Freiheit und der Unabhängigkeit der Europaabgeordneten festschreibt, und zum anderen ein Verstoß gegen die diesen Abgeordneten insbesondere durch das Protokoll Nr. 7 gewährten Befreiungen geltend gemacht werden.
a)
Zum ersten Teil: Verstoß des angefochtenen Beschlusses gegen die Grundsätze der Freiheit und der Unabhängigkeit der Mitglieder des Parlaments
92 Die Kläger sind der Ansicht, dass der angefochtene Beschluss sehr belastend sei und in schwerwiegender Weise gegen den in Art. 2 des Abgeordnetenstatuts verankerten Grundsatz der freien und unabhängigen Ausübung des Mandats als Mitglied des Parlaments verstoße, da sie aufgrund dieses Beschlusses daran gehindert sein könnten, an den Sitzungen des Parlaments teilzunehmen und ihren Vertretungsauftrag wahrzunehmen, was das Gewaltengleichgewicht und die freie Ausübung der Demokratie beeinträchtigen könne.
93 Die Kläger weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die im angefochtenen Beschluss vorgesehene Verweigerung des Zugangs zu den Gebäuden des Parlaments bei Nichtvorlage eines gültigen COVID-Zertifikats unabhängig von dem Grund für diese Nichtvorlage zur Anwendung komme. So könnte ein Abgeordneter nicht in der Lage sein, ein gültiges COVID-Zertifikat vorzulegen, weil er keines besitze oder besitzen möchte, aber auch, weil er es vergessen oder verlegt habe oder weil sein Smartphone zum Zeitpunkt der Kontrolle nicht funktioniere. Außerdem weisen sie darauf hin, dass Mitglieder des Parlaments, die über kein Impf- oder Genesungszertifikat verfügten, sich aufgrund der begrenzten Gültigkeitsdauer dieser Tests mindestens alle zwei Tage testen lassen müssten. Darüber hinaus müsste eine erhebliche Wartezeit zwischen dem Zeitpunkt des Tests und dem Zeitpunkt, zu dem der Quick-Response-Code (im Folgenden: QR-Code) generiert werde, eingeplant werden. Wenn sich die Kläger am Montagmorgen zum Parlament begeben wollten, hätten sie daher keine andere Wahl, als diese Tests an ihren Ruhetagen durchzuführen, und es sei ihnen praktisch unmöglich, einen Test während der „roten“ Plenar- und der „pinken“ Trilogwochen durchzuführen, da die Debatten in diesen Wochen spät am Abend endeten und früh am Morgen wieder aufgenommen würden.
94 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
95 Zunächst ist daran zu erinnern, dass nach Art. 2 Abs. 1 des Abgeordnetenstatuts „[d]ie Abgeordneten frei und unabhängig [sind]“. Desgleichen bestimmt Art. 2 der Geschäftsordnung des Parlaments u. a., dass die Abgeordneten ihr Mandat frei und unabhängig ausüben. Der Grundsatz des freien und unabhängigen Mandats der Abgeordneten ist ein den demokratischen parlamentarischen Systemen gemeinsamer Grundsatz, der nach Art. 10 Abs. 1 AEUV einen wesentlichen Bestandteil der repräsentativen Demokratie darstellt, auf der das Funktionieren der Union beruht. Dieser Grundsatz umfasst das Recht der Europaabgeordneten auf ungehinderten Zugang zu den Gebäuden des Parlaments, um sich gemäß Art. 5 Abs. 4 der Geschäftsordnung aktiv an der Arbeit der Ausschüsse und Delegationen des Parlaments beteiligen zu können.
96 Der angefochtene Beschluss stellt somit einen Eingriff in die Ausübung des Mandats der Europaabgeordneten dar, da er ihnen eine zusätzliche Bedingung für den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments auferlegt, nämlich die Verpflichtung, ein gültiges COVID-Zertifikat vorzulegen.
97 Es ist jedoch hervorzuheben, dass der Grundsatz des freien und unabhängigen Mandats der Abgeordneten kein absoluter Grundsatz ist und dass er insbesondere vom Parlament aufgrund seiner in Art. 232 AEUV vorgesehenen internen Organisationsgewalt bestimmten Beschränkungen unterworfen werden kann, wenn damit ein rechtmäßiges Ziel verfolgt wird.
98 Jedoch muss jeder Eingriff in den Grundsatz des freien und unabhängigen Mandats der Abgeordneten oder jede Einschränkung dieses Grundsatzes den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wahren. Dieser Grundsatz verlangt, dass die Rechtsakte der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was für die Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist, und dass, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende gewählt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Oktober 2001, Martinez u. a./Parlament, T‑222/99, T‑327/99 und T‑329/99, EU:T:2001:242, Rn. 215 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
99 Als Erstes ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss, wie sich u. a. aus seinen Erwägungsgründen 1 bis 11 ergibt, ein rechtmäßiges Ziel verfolgt, das darauf gerichtet ist, zwei im Zusammenhang mit einer Pandemie konkurrierende Interessen miteinander in Einklang zu bringen, nämlich die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs des Parlaments einerseits und die Gesundheit der sich in den Gebäuden des Parlaments aufhaltenden Personen andererseits.
100 Das Parlament ist nämlich zum einen verpflichtet, die Kontinuität seiner sich aus den Verträgen ergebenden Tätigkeiten zu gewährleisten. So musste während der COVID‑19-Pandemie die operative Kapazität des Parlaments, insbesondere seine Gesetzgebungs- und Haushaltstätigkeit, aufrechterhalten werden. Zu diesem Zweck hat das Parlament auf der Grundlage von Titel XIII a seiner Geschäftsordnung außerordentliche Maßnahmen erlassen, die unter anderem in der Anwendung von Methoden der Fernteilnahme bestanden. Wie aus Art. 237a der Geschäftsordnung des Parlaments hervorgeht, müssen solche außerordentlichen Maßnahmen jedoch definitionsgemäß zeitlich begrenzt sein. Folglich war das Parlament verpflichtet, seine Tätigkeit so schnell wie möglich in einem üblichen Format, d. h. mit der physischen Anwesenheit der Abgeordneten, wieder aufzunehmen, um die normale Funktionsfähigkeit des Parlaments als Organ der Union, dessen Mitglieder demokratisch gewählt werden, zu gewährleisten.
101 Zum anderen ist das Parlament aufgrund seiner Fürsorgepflicht und seiner Pflicht, die sich insbesondere aus Art. 1e Abs. 2 des Statuts ergibt, der gemäß Art. 10 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union (im Folgenden: BSB) auch für Zeitbedienstete der Union gilt, verpflichtet, die Gesundheit und Sicherheit der Beamten und sonstigen Bediensteten der Union zu gewährleisten. Ohne bis zu einer Ergebnispflicht zu gehen, gilt eine solche Pflicht der Unionsorgane, als Arbeitgeber für die Sicherheit ihres Personals zu sorgen, in besonderem Maß und das Ermessen der Verwaltung auf diesem Gebiet ist zwar nicht auf null reduziert, jedoch verringert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. März 1990, Grifoni/Kommission, C‑308/87, EU:C:1990:134, Rn. 14, und vom 12. Mai 2011, Missir Mamachi di Lusignano/Kommission, F‑50/09, EU:F:2011:55, Rn. 126). Das Gleiche gilt in Bezug auf die Verpflichtung, die Gesundheit des Personals der Union zu gewährleisten. Daher und insofern, als die Anwesenheit der Abgeordneten in den Räumlichkeiten des Parlaments es mit sich bringt, dass sie mit dem Personal des Parlaments in Kontakt kommen, implizierte die Beachtung der Verpflichtung, die Gesundheit dieses Personals zu gewährleisten, dass das Parlament dafür Sorge zu tragen hatte, dass eine solche Rückkehr zu einer normalen Tätigkeit ohne allgemeine negative Auswirkungen auf die Gesundheit der in seinen Räumlichkeiten anwesenden Personen, zu denen auch das Personal dieses Organs gehört, ermöglicht wird.
102 Wie aus dem 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hat der Ärztliche Dienst des Parlaments in diesem Zusammenhang Folgendes ausgeführt:
„[D]ie verstärkte Anwesenheit von Personen in den Gebäuden des Parlaments, die Zunahme von Reisen aufgrund der Wiederaufnahme von Dienstreisen, die häufigeren engen Kontakte bei physischen Treffen und der Anstieg der COVID‑19-Fallzahlen in der Gesellschaft [bergen] ein höheres Risiko, dass das Virus ins Europäische Parlament eingeschleppt wird, und ein höheres Risiko der internen Übertragung von COVID‑19 und entsprechender Quarantänemaßnahmen. Außerdem muss das Europäische Parlament als internationale Organisation und öffentlich zugängliches Organ häufige internationale Reisen als besonderen Risikofaktor berücksichtigen, der es zu einem Virusübertragungszentrum machen könnte. Daher sollten die EU-weiten Hygienemaßnahmen berücksichtigt werden, nicht nur die Situation auf der Ebene der Mitgliedstaaten, in denen das Parlament seinen Sitz oder seine Arbeitsorte hat.“
103 Wie sich außerdem aus dem 14. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, geht aus vom Ärztlichen Dienst des Europäischen Parlaments bereitgestellten Daten hervor, dass in den ersten zweieinhalb Wochen im September 2021 mehr Fälle enger Kontakte zu Personen mit einem positiven COVID‑19-PCR-Test verzeichnet wurden als in sämtlichen Monaten zuvor seit November 2020, und sich dieser Trend im September 2021 und in der ersten Oktoberwoche 2021 fortgesetzt hat.
104 Nach alledem ist daher davon auszugehen, dass mit dem angefochtenen Beschluss ein rechtmäßiges Ziel verfolgt wird und dass er in Anbetracht der Informationen, die dem Parlament zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses zur Verfügung standen, kein offensichtlich ungeeignetes Instrument zur Erreichung dieses Ziels darstellt.
105 An zweiter Stelle ist zu prüfen, ob der angefochtene Beschluss keinen unverhältnismäßigen oder unvernünftigen Eingriff in das freie Abgeordnetenmandat darstellt und ob er nicht den Wesensgehalt dieses Rechts beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 148 und die dort angeführte Rechtsprechung).
106 Insoweit gibt es, worauf das Parlament hinweist, in der gesamten Union einen allgemeinen, schnellen und erschwinglichen Zugang zu Impfstoffen und zu COVID‑19-Tests, was die Grundlage für die Ausstellung der COVID-Zertifikate bilde. Die Vorlage eines COVID-Dokuments durch Abgeordnete, die die Parlamentsgebäude betreten, kann daher angesichts des rechtmäßigen Ziels des angefochtenen Beschlusses, Leben und Gesundheit der in den Räumlichkeiten des Parlaments befindlichen Personen zu schützen und dabei zugleich die Rückkehr des Parlaments zu einer normalen Tätigkeit sicherzustellen, nicht als unverhältnismäßiger und unvernünftiger Eingriff in die Ausübung des freien Mandats verstanden werden.
107 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Parlament Maßnahmen ergriffen hat, um seinen Abgeordneten die erforderliche Unterstützung zu bieten, damit sie für den Fall, dass sie kein COVID-Zertifikat besitzen, den neuen Zugangsanforderungen nachkommen können, wie z. B. die Möglichkeit, sich an seinen drei Arbeitsorten kostenlos vor Ort testen zu lassen.
108 Darüber hinaus ist der angefochtene Beschluss auf das beschränkt, was unbedingt erforderlich ist, um eine Rückkehr zur normalen Tätigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Nach dem Gutachten des Vertrauensarztes des Parlaments vom 10. Oktober 2021 würde nämlich die Rückkehr zu einer normalen Tätigkeit des Parlaments zwangsläufig mehr COVID‑19-Fälle und Quarantänemaßnahmen nach sich ziehen. Solche Risiken könnten nach dem Gutachten jedoch durch Maßnahmen, wie sie im angefochtenen Beschluss vorgesehen seien, verringert werden. Was den Schutz personenbezogener Daten betrifft, so wird bei der Überprüfung von COVID-Zertifikaten an den Eingängen zu den Räumlichkeiten des Parlaments, wie sich aus den vom Parlament vorgelegten Beweisen ergibt (siehe unten, Rn. 177), ein Minimum an personenbezogenen Daten angezeigt.
109 Darüber hinaus ist zu beachten, dass der angefochtene Beschluss nicht auf Dauer angelegt ist. Art. 6 des angefochtenen Beschlusses sieht nämlich vor, dass er am 31. Januar 2022 außer Kraft tritt, sofern er nicht verlängert, geändert oder aufgehoben wird, und dass er mit Blick auf die Entwicklung der Gesundheitslage regelmäßig neu bewertet wird.
110 Im Übrigen erlaubt der angefochtene Beschluss, wie das Parlament geltend macht, die Beendigung der außergewöhnlichen Maßnahmen und ermöglicht es den Mitgliedern des Parlaments, ihre Rechte durch eine Rückkehr zu den Tätigkeiten vor Ort erneut auszuüben, und zwar mit wesentlich weniger Beschränkungen der Ausübung ihres freien und unabhängigen Mandats als im Rahmen eines Fernteilnahmeverfahrens.
111 Schließlich ist mit dem Parlament darauf hinzuweisen, dass die Kläger keine alternative Maßnahme angegeben haben, die weniger einschneidend wäre und das angestrebte Ziel dabei in ähnlicher Weise erreicht hätte. Insoweit haben die Kläger nicht nachgewiesen, dass eine Wiederaufnahme der Tätigkeiten des Parlaments mit physischer Anwesenheit ohne jede Verpflichtung, ein COVID-Zertifikat vorzulegen, um Zugang zu den Gebäuden des Parlaments zu erhalten, in gleicher Weise zum Ziel der Gewährleistung der Gesundheit des Personals beitragen würde.
112 Die Kläger berufen sich jedoch auf mehrere negativen Auswirkungen des angefochtenen Beschlusses auf ihre Situation (siehe oben, Rn. 93).
113 Soweit die Kläger erstens einen Schaden aufgrund der Weigerung, ein gültiges COVID-Zertifikat vorzulegen, oder aufgrund des Vergessens eines solchen Zertifikats geltend machen, ist festzustellen, dass sich der von ihnen geltend gemachte Schaden nicht allein aus den Wirkungen des angefochtenen Beschlusses ergeben würde, sondern aus ihrer Entscheidung, kein solches Zertifikat vorzulegen, wobei sie nicht geltend machen, dass ihnen eine solche Vorlage nicht möglich sei (Beschluss vom 8. Dezember 2021, D’Amato u. a./Parlament, T‑722/21 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:874, Rn. 23).
114 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses dem Generalsekretär des Parlaments die Möglichkeit einräumt, Ausnahmen in Bezug auf die Verpflichtung zur Vorlage einer solchen Bescheinigung für den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments zu gewähren, um bestimmten besonderen Situationen Rechnung zu tragen.
115 Soweit die Kläger drittens geltend machen, dass es ihnen aufgrund technischer Probleme, z. B. im Zusammenhang mit der Verwendung eines Smartphones, unmöglich sein könnte, ein COVID-Zertifikat vorzulegen, ist darauf hinzuweisen, dass das COVID-Zertifikat in Papier- und in digitaler Form akzeptiert wird, so dass diese technischen Probleme grundsätzlich vermeidbar sein sollten.
116 Viertens machen die Kläger geltend, dass sie sehr regelmäßig und sogar an ihren Ruhetagen getestet werden müssten und dass es unmöglich sei, sich an sehr arbeitsintensiven Arbeitstagen testen zu lassen.
117 Ohne dass über die Zulässigkeit dieses Vorbringens im Hinblick auf die Situation der Kläger, die weder geimpft noch genesen seien, entschieden zu werden braucht, ist festzustellen, dass das Parlament seinen Abgeordneten an seinen drei Arbeitsorten die erforderliche Unterstützung bietet, um ihnen die Erfüllung der neuen Zugangsanforderungen zu ermöglichen, falls sie nicht über gültige COVID-Zertifikate verfügen. So hat das Parlament die Möglichkeit geschaffen, sich an seinen drei Arbeitsorten vor Ort kostenlos testen zu lassen. Diese Möglichkeit wurde im Übrigen dem gesamten Personal des Parlaments am 28. Oktober 2021, d. h. vor dem Inkrafttreten des angefochtenen Beschlusses, mitgeteilt. Darüber hinaus ist es auch möglich, das negative Ergebnis eines in Belgien, Luxemburg oder Frankreich durchgeführten PCR-Tests vorzulegen, um Zugang zu den Gebäuden des Parlaments zu erhalten. Während schließlich die Gültigkeitsdauer der Ergebnisse der PCR-Tests ursprünglich zwei Kalendertage nach dem Testtag betrug, wurde die Gültigkeitsdauer eines PCR-Tests durch Beschluss des Generalsekretärs des Parlaments vom 19. November 2021 für den Zeitraum vom 22. November 2021 bis zum 27. Januar 2022 auf 72 Stunden ab der Durchführung des Tests verlängert.
118 Fünftens ist zum Vorbringen der Kläger, der angefochtene Beschluss führe auch zu einer unmittelbaren Beeinträchtigung ihrer Befugnis zur Vertretung als gewählte Mitglieder des Parlaments und ihrer Fähigkeit, sinnvoll und effizient zu arbeiten, da der angefochtene Beschluss auch für ihre Assistenten und das Personal des Parlaments gelte, in Übereinstimmung mit dem Parlament darauf hinzuweisen, dass die Kläger nichts Konkretes vorgetragen haben, was belegen könnte, dass diese Personen nicht in der Lage wären, die durch den angefochtenen Beschluss auferlegten Zugangsbedingungen rechtzeitig zu erfüllen.
119 Sechstens schließlich weisen die Kläger darauf hin, dass in Frankreich sämtliche Änderungen, die darauf abzielten, den Zugang der Abgeordneten und Senatoren zu den Gebäuden der Nationalversammlung und des Senats von der Vorlage eines COVID-Zertifikats abhängig zu machen, insbesondere aufgrund einer Entscheidung des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat, Frankreich) vom 11. Mai 2020, der darauf hinweise, dass mehrere Bestimmungen der französischen Verfassung die Wahrung der Freiheit der Mitglieder des Parlaments bei der Ausübung ihres Mandats verlangten und dass einem Abgeordneten niemals der Zugang zum Parlament verweigert werden könne, zurückgewiesen worden seien.
120 Insoweit genügt der Hinweis, dass das Parlament, dessen Gebäude sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in Belgien und Luxemburg befinden, gemäß Art. 232 AEUV und Art. 25 Abs. 2 seiner Geschäftsordnung über eine autonome Rechtsgrundlage verfügt, um interne Organisationsmaßnahmen wie die durch den angefochtenen Beschluss eingeführten zu erlassen, so dass es nicht an die auf der Ebene eines bestimmten Mitgliedstaats vorgenommenen Beurteilungen gebunden sein kann.
121 Nach alledem ist festzustellen, dass keines der von den Klägern vorgebrachten Argumente belegt, dass der angefochtene Beschluss einen unverhältnismäßigen oder unvernünftigen Eingriff in die freie und unabhängige Ausübung des Abgeordnetenmandats darstellen würde, noch, dass der Wesensgehalt dieser Ausübung in Frage gestellt würde.
122 Der erste Teil des zweiten Klagegrundes ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil, mit dem im Wesentlichen eine Verletzung der den Abgeordneten durch das Protokoll Nr. 7 gewährten Befreiungen geltend gemacht wird
123 Die Kläger sind der Ansicht, dass der angefochtene Beschluss auch gegen Art. 7 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 verstoße, wonach den Mitgliedstaaten die Einführung verwaltungsmäßiger Beschränkungen der Bewegungsfreiheit der Europaabgeordneten untersagt werde. Diese Bestimmung sei im Licht von Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV dahin auszulegen, dass sie jede Maßnahme verbiete, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könne, einschließlich Maßnahmen, die das Funktionieren der Unionsorgane beeinträchtigen könnten.
124 Im Übrigen richte sich Art. 7 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zwar formal an die Mitgliedstaaten, doch stehe außer Zweifel, dass er auch für die Unionsorgane gelte, wenn sie selbst restriktive Maßnahmen wie den angefochtenen Beschluss erließen. Diese Vorschrift sei nämlich im Licht der Bestimmungen der Charta und insbesondere der Artikel über den Schutz des Privatlebens und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit auszulegen. Außerdem ergebe sich aus Art. 18 des Protokolls Nr. 7 und Art. 5 der Geschäftsordnung des Parlaments, dass das Parlament im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten handeln müsse, um die Durchführung des Protokolls Nr. 7 sicherzustellen. Insbesondere sei es Sache des Parlaments, die Unabhängigkeit der Abgeordneten bei der Ausübung ihres Mandats zu gewährleisten und ihr Recht auf aktive Beteiligung an der Arbeit der Ausschüsse und Delegationen des Parlaments zu wahren.
125 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
126 Art. 7 des Protokolls Nr. 7 bestimmt, dass [d]ie Reise der Mitglieder des Europäischen Parlaments zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments … keinen verwaltungsmäßigen oder sonstigen Beschränkungen [unterliegt].“
127 Es ist zu prüfen, ob diese Bestimmung, wie die Kläger geltend machen, das Parlament daran hindert, Maßnahmen wie die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen zu ergreifen, mit denen der Zugang zu seinen Gebäuden eingeschränkt oder von Bedingungen abhängig gemacht werden soll.
128 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass sich das Protokoll Nr. 7, wie die Kläger einräumen, in erster Linie an die Mitgliedstaaten und nicht an die Organe der Union richtet.
129 Sodann bestimmt Art. 18 des Protokolls Nr. 7, wie die Kläger geltend machen, dass „[b]ei der Anwendung dieses Protokolls … die Organe der Union und die … Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen [handeln]“. Art. 5 der Geschäftsordnung des Parlaments sieht u. a. vor, dass die Abgeordneten die im Protokoll Nr. 7 vorgesehenen Vorrechte und Befreiungen genießen und dass „[z]ur Ausübung seines Mandates … jedes Mitglied über das Recht [verfügt], sich im Rahmen der Bestimmungen dieser Geschäftsordnung aktiv an der Arbeit der Ausschüsse und Delegationen des Parlaments zu beteiligen“.
130 Aus diesen Vorschriften, selbst wenn sie im Licht der Bestimmungen der Charta insbesondere zu den Rechten auf Achtung des Privatlebens und auf körperliche Unversehrtheit ausgelegt werden, geht jedoch keineswegs hervor, dass das Parlament nicht befugt wäre, auf der Grundlage von Art. 25 Abs. 2 seiner Geschäftsordnung Maßnahmen der internen Organisation, wie sie im angefochtenen Beschluss vorgesehen sind, zu erlassen. Vielmehr sieht Art. 5 der Geschäftsordnung ausdrücklich vor, dass das Recht der Mitglieder, sich aktiv an der Arbeit der Ausschüsse und Delegationen des Parlaments zu beteiligen, „im Rahmen der Bestimmungen dieser Geschäftsordnung“ auszuüben ist.
131 Außerdem geht aus Art. 176 Abs. 1 letzter Unterabsatz der Geschäftsordnung des Parlaments hervor, dass „[i]n den Fällen, für die in dieser Geschäftsordnung oder einem vom Präsidium nach Artikel 25 angenommenen Beschluss die Anwendung dieses Artikels vorgesehen ist, … der Präsident eine Sanktion gegen ein Mitglied verhängen [kann]“. Wäre der von den Klägern vorgeschlagenen Auslegung des Protokolls Nr. 7 zu folgen, wäre eine solche Bestimmung selbst rechtswidrig. Es ist jedoch hervorzuheben, dass die Kläger nicht die Rechtswidrigkeit der Geschäftsordnung des Parlaments auf der Grundlage von Art. 277 AEUV geltend gemacht haben.
132 Schließlich ist daran zu erinnern, dass nach der Rechtsprechung die der Union durch das Protokoll Nr. 7 eingeräumten Vorrechte und Befreiungen insofern nur funktionalen Charakter besitzen, als durch sie eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union verhindert werden soll. Folglich werden diese Vorrechte und Befreiungen ausschließlich im Interesse der Union gewährt. Dies gilt zwangsläufig auch für die Immunität von Mitgliedern des Parlaments: Deren Zweck ist es, jede Beeinträchtigung des Funktionierens der Institution, der sie angehören, also jede Beeinträchtigung der Ausübung der Befugnisse dieser Institution, auszuschließen (vgl. Beschluss vom 30. September 2011, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:553, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Sinne bestimmt Art. 5 Abs. 2 Satz 2 der Geschäftsordnung des Parlaments, dass „[d]ie parlamentarische Immunität … kein persönliches Vorrecht eines Mitglieds [ist], sondern eine Garantie der Unabhängigkeit des Parlaments als Ganzes und seiner Mitglieder“.
133 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist daher festzustellen, dass der angefochtene Beschluss keinen Verstoß gegen das Protokoll Nr. 7 oder insbesondere gegen dessen Art. 7 darstellt.
134 Demnach ist auch der zweite Teil des zweiten Klagegrundes sowie der zweite Klagegrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen die allgemeinen Grundsätze der Verarbeitung personenbezogener Daten
135 Der dritte Klagegrund der Kläger gliedert sich in zwei Teile, mit denen erstens ein Verstoß gegen die Grundsätze der Zweckbindung der Verarbeitung von Daten und der Gesetzmäßigkeit sowie zweitens ein Verstoß gegen die Grundsätze der Loyalität, der Transparenz und der Minimierung gerügt wird.
a)
Zum ersten Teil: Verstoß gegen die Grundsätze der Zweckbindung der Verarbeitung von Daten und der Gesetzmäßigkeit
136 Die Kläger weisen darauf hin, dass personenbezogene Daten nach dem Grundsatz der Zweckbindung für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden müssen und nicht in anderer Weise weiterverarbeitet werden dürfen. So könne der für die Datenverarbeitung Verantwortliche nur in Ausnahmefällen, die in Art. 6 der Verordnung 2018/1725 abschließend aufgezählt seien, die ursprünglichen Zwecke der Verarbeitung erweitern.
137 Damit die personenbezogenen Daten auf ihren COVID-Zertifikaten verwendet werden könnten, um ihnen Zugang zu den Gebäuden des Parlaments zu gewähren, sei daher gesetzlich vorgeschrieben, dass sie zu diesem Zweck erhoben worden seien.
138 Die Kläger weisen zum einen darauf hin, dass die Verordnung 2021/953 die Datenverarbeitung nur im Hinblick auf die erleichterte Ausübung des Rechts vorsehe, sich während der COVID‑19-Pandemie im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Zum anderen gehe aus dem 48. Erwägungsgrund der Verordnung 2021/953 klar hervor, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die im Rahmen der Umsetzung des COVID-Zertifikats verarbeiteten personenbezogenen Daten zu anderen als den in der Verordnung 2021/953 vorgesehenen Zwecken verwenden wollten, hierfür eine spezifische nationale Rechtsgrundlage vorsehen müssten. Auf diesen Grundsatz sei auch kürzlich in der Gemeinsamen Stellungnahme Nr. 04/2021 des Europäischen Datenschutzausschusses (EDSA) und des Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDSB) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Rahmen für die Ausstellung, Überprüfung und Anerkennung interoperabler Zertifikate zur Bescheinigung von Impfungen, Tests und der Genesung mit der Zielsetzung der Erleichterung der Freizügigkeit während der COVID‑19-Pandemie (Digitales Grünes Zertifikat) (im Folgenden: gemeinsame Stellungnahme Nr. 04/2021) sowie vom EDSB in seinen Leitlinien „Rückkehr an den Arbeitsplatz und Überprüfung durch die EU-Einrichtungen auf COVID‑Immunität oder Infektionsstatus“ hingewiesen worden.
139 Darüber hinaus werde in den nationalen Vorschriften in Belgien, wo sich die Abgeordneten am häufigsten testen lassen müssten, der Zugang zum Arbeitsplatz oder zu den Parlamenten des Landes nicht als einer der Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten im Zusammenhang mit dem COVID-Zertifikat erwähnt. Eine solche Verwendung sei sogar ausdrücklich ausgeschlossen, da sie zu einer verschleierten Impfpflicht führe. Auch in Frankreich sei die Verwendung eines COVID-Zertifikats im Hinblick auf den Zugang zu den parlamentarischen Versammlungen ausdrücklich ausgeschlossen worden.
140 Schließlich weisen die Kläger darauf hin, dass keine der in Art. 6 der Verordnung 2018/1725 vorgesehenen Ausnahmen auf den vorliegenden Fall anwendbar sei und sich das Parlament daher auf keine dieser Ausnahmen stützen könne, um „die Verarbeitung zu einem anderen kompatiblen Zweck“ zu rechtfertigen.
141 Mangels Rechtsgrundlage, die es ausdrücklich erlaube, medizinische Daten über die Impfung, die Tests oder die Genesung zu dem Zweck zu verarbeiten, Bedingung für den Zugang zum Arbeitsort und zu den parlamentarischen Versammlungen aufzustellen, verstoße die Verarbeitung personenbezogener Daten durch das Parlament gegen den Grundsatz der Zweckbindung und sei daher rechtswidrig.
142 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
143 Zunächst ist daran zu erinnern, dass nach Art. 4 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses „[p]ersonenbezogene Daten, die im Zuge des Scanprozesses aus dem Zertifikat oder gleichwertigen Zertifikat ausgelesen werden, … gemäß der Verordnung (EU) 2018/1725 verarbeitet [werden]“. Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung 2018/1725, der den Grundsatz der Zweckbindung vorsieht, müssen personenbezogene Daten „für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden“.
144 Die Zwecke der Verarbeitung der in den COVID-Zertifikaten enthaltenen personenbezogenen Daten sind in Art. 10 Abs. 2 der Verordnung 2021/953 festgelegt, der Folgendes vorsieht:
„Die personenbezogenen Daten, die in den gemäß dieser Verordnung ausgestellten Zertifikaten enthalten sind, dürfen für die Zwecke dieser Verordnung ausschließlich zum Zwecke des Abrufs und der Überprüfung der im Zertifikat enthaltenen Informationen verarbeitet werden, um die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der Union während der COVID‑19-Pandemie zu erleichtern. Nach dem Ende der Geltungsdauer dieser Verordnung findet keine weitere Verarbeitung mehr statt.“
145 Insoweit ist mit dem Parlament darauf hinzuweisen, dass Art. 10 Abs. 2 der Verordnung 2021/953 dahin zu verstehen ist, dass die Mitgliedstaaten „für die Zwecke dieser Verordnung“ oder, mit anderen Worten, wenn sie diese Verordnung durchführen, die in den COVID-Zertifikaten enthaltenen personenbezogenen Daten nur verarbeiten dürfen, um die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit zu erleichtern.
146 Dagegen geht aus dem 48. Erwägungsgrund der Verordnung 2021/953 ausdrücklich hervor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … personenbezogene Daten zu anderen Zwecken verarbeiten [können], wenn die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung solcher Daten zu anderen Zwecken, einschließlich der entsprechenden Speicherfristen, im nationalen Recht vorgesehen ist, das mit dem Datenschutzrecht der Union und den Grundsätzen der Wirksamkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen muss und Bestimmungen umfassen sollte, mit denen Anwendungsbereich und Umfang der Verarbeitung, der jeweilige spezifische Zweck, die Kategorien von Einrichtungen, die das Zertifikat überprüfen können, sowie die einschlägigen Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung von Diskriminierung und Missbrauch unter Berücksichtigung der Risiken für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen eindeutig festgelegt werden.“
147 Entgegen dem Vorbringen der Kläger kann aus diesem Erwägungsgrund nicht abgeleitet werden, dass die Organe der Union, wie im vorliegenden Fall das Parlament, nur dann befugt wären, die in den COVID-Zertifikaten enthaltenen personenbezogenen Daten zu anderen als den in der Verordnung 2021/953 vorgesehenen Zwecken zu verarbeiten, wenn eine im nationalen Recht vorgesehene Rechtsgrundlage sie ausdrücklich dazu ermächtigt.
148 Wie das Parlament geltend macht, kann nämlich die Tatsache, dass im vierten Satz des 48. Erwägungsgrundes nur auf die Mitgliedstaaten und das nationale Recht und nicht auf die Organe der Union Bezug genommen wird, damit erklärt werden, dass diese Verordnung an die Mitgliedstaaten und nicht an diese Organe gerichtet ist.
149 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 2018/1725 die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die für die Verwaltung und die Arbeitsweise dieser Organe erforderlich ist, im Unionsrecht festgelegt werden muss.
150 Somit hat das Parlament mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses auf der Grundlage seiner internen Organisationsgewalt nach Art. 232 AEUV eine Rechtsgrundlage im Unionsrecht geschaffen, die es ihm ermöglicht, die in den COVID-Zertifikaten enthaltenen personenbezogenen Daten zum Zweck des Zugangs zu seinen Gebäuden an seinen drei Arbeitsorten unter Beachtung der Verordnung 2018/1725 zu verarbeiten.
151 Das auf die belgische oder die französische Regelung gestützte Vorbringen der Kläger ist daher als ins Leere gehend zurückzuweisen, da keine nationale Rechtsgrundlage erforderlich ist, um dem Parlament die Verarbeitung der in den COVID-Zertifikaten enthaltenen personenbezogenen Daten zu anderen als den in der Verordnung 2021/953 vorgesehenen Zwecken zu ermöglichen.
152 Entgegen dem Vorbringen der Kläger werden diese Schlussfolgerungen weder durch die gemeinsame Stellungnahme Nr. 04/2021 noch durch die Leitlinien „Rückkehr an den Arbeitsplatz und Überprüfung durch die EU-Einrichtungen auf COVID‑Immunität oder Infektionsstatus“ des EDSB widerlegt.
153 Zum einen haben der EDSA und der EDSB in Rn. 23 der gemeinsamen Stellungnahme Nr. 04/2021 klargestellt, dass „jede mögliche weitere Verwendung des Rahmens und des Digitalen Grünen Zertifikats auf der Grundlage des Rechts der Mitgliedstaaten, die nicht der Förderung des Rechts auf Freizügigkeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten dient, außerhalb des Anwendungsbereichs des Vorschlags [für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Rahmen für die Ausstellung, Überprüfung und Anerkennung interoperabler Zertifikate zur Bescheinigung von Impfungen, Tests und der Genesung mit der Zielsetzung der Erleichterung der Freizügigkeit während der COVID‑19-Pandemie (Digitales Grünes Zertifikat)] liegt und folglich auch nicht Gegenstand dieser gemeinsamen Stellungnahme des EDSA und des EDSB ist.“
154 Was zum anderen die Leitlinien „Rückkehr an den Arbeitsplatz und Überprüfung durch die EU-Einrichtungen auf COVID‑Immunität oder Infektionsstatus“ des EDSB betrifft, bestätigt Ziff. 6.1, dass der Begriff „nationales Recht“ im Sinne des 48. Erwägungsgrundes der Verordnung 2021/953 in Bezug auf die Unionsorgane dahin auszulegen ist, dass er sich auf Art. 1e Abs. 2 des Statuts in Verbindung mit einer Durchführungsentscheidung eines Organs bezieht, durch die geeignete Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Personen festgelegt werden.
155 Soweit die Kläger schließlich einen Verstoß gegen Art. 6 der Verordnung 2018/1725 geltend machen, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung eine Ausnahme vom Grundsatz der Zweckbindung vorsieht. Nach diesem Artikel muss nämlich der für die Verarbeitung Verantwortliche, wenn „die Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, nicht auf der Einwilligung der betroffenen Person oder auf Unionsrecht [beruht], die in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Artikel 25 Absatz 1 genannten Ziele darstellt“, bestimmte Kriterien berücksichtigen, um festzustellen, ob die Verarbeitung zu einem anderen Zweck mit demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, kompatibel ist.
156 Wie aus dem 24. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, dient die Verarbeitung personenbezogener Daten im vorliegenden Fall jedoch u. a. dem Schutz der öffentlichen Gesundheit. Er verfolgt somit ein Ziel des allgemeinen öffentlichen Interesses der Union im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung 2018/1725, so dass die im angefochtenen Beschluss beabsichtigte Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als dem, der in der Verordnung 2021/953 vorgesehen ist, nach dieser Bestimmung zulässig ist, sofern sie den Wesensgehalt der in dieser Verordnung vorgesehenen Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, was im Rahmen des vierten Klagegrundes geprüft werden wird.
157 Angesichts der vorstehenden Erwägungen und vorbehaltlich der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Verarbeitung der personenbezogenen Daten der Kläger ist der erste Teil des dritten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil: Verletzung der Grundsätze der Loyalität, der Transparenz und der Minimierung
158 Erstens weisen die Kläger darauf hin, dass der Grundsatz der fairen und transparenten Verarbeitung personenbezogener Daten verlange, dass die betroffene Person über die Existenz des Verarbeitungsvorgangs und seine Zwecke unterrichtet werde. Daher verstoße die Verwendung der personenbezogenen Daten durch das Parlament zu einem anderen Zweck als demjenigen, zu dem diese Daten nach den nationalen Rechtsvorschriften erhoben worden seien, gegen den in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 der Verordnung 2018/1725 vorgesehenen Grundsatz der Transparenz, da sie bei der Erhebung ihrer personenbezogenen Daten nicht darüber informiert worden seien, dass diese verwendet würden, um sie zur Bedingung für den Zugang zu ihrem Arbeitsort zu machen.
159 Zweitens vertreten die Kläger die Auffassung, dass die vom Parlament bei der Umsetzung des angefochtenen Beschlusses vorgenommene Verarbeitung personenbezogener Daten gegen den in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung 2018/1725 verankerten Grundsatz der Datenminimierung verstoße, da Art. 4 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses vorsehe, dass personenbezogene Daten, die sich auf die Gültigkeit des COVID-Zertifikats bezögen, im Zuge des Scannens des QR-Codes (im Folgenden: Scanprozess) ausgelesen und angezeigt würden.
160 Die mit der Kontrolle der COVID-Zertifikate am Eingang der Gebäude des Parlaments betrauten Sicherheitsbediensteten könnten nämlich ohne Weiteres die Art des jeder betroffenen Person erteilten Zertifikats ableiten, da die maximale Gültigkeitsdauer für Testzertifikate zwei Tage und für Genesungszertifikate 180 Tage betrage und Impfzertifikate keine maximale Gültigkeitsdauer hätten. Solche die Gültigkeit der Zertifikate betreffenden Daten seien jedoch für die Zwecke, für die sie verarbeitet würden, nicht erforderlich.
161 Insoweit weisen sie darauf hin, dass das Parlament selbst dieses Risiko in dem Dokument „Sicherheitsmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID 19 – Datenschutzfolgenabschätzung“ (im Folgenden: Folgenabschätzung) aufgezeigt habe, jedoch davon ausgegangen sei, dass die damit verbundenen Risiken angesichts der technischen und organisatorischen Maßnahmen, die es für die Verarbeitung dieser Daten getroffenen habe, gering seien. Nach Ansicht der Kläger ergibt sich jedoch weder aus dem angefochtenen Beschluss noch aus einer anderen Mitteilung an die Kläger, dass besondere Maßnahmen getroffen worden seien, um diese Risiken zu minimieren.
162 Auch sei durchaus möglich, dass die Sicherheitsbediensteten Screenshots von diesen vertraulichen Informationen machten. Die Offenlegung dieser Art von hochsensiblen Daten könne jedoch sehr schwerwiegende Folgen für die betroffenen Personen haben, die zu Stigmatisierungen oder Diskriminierungen am Arbeitsplatz führen könnten. Folglich könne die Verarbeitung der personenbezogenen Daten der Kläger nicht als loyal angesehen werden.
163 Drittens befürchten die Kläger eine rechtswidrige und unfaire Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten wegen des Risikos, das mit den Schwachstellen der Anwendung CovidScanBe verbunden sei, die am Eingang der Gebäude des Parlaments verwendet werde, um die QR-Codes der COVID-Zertifikate zu scannen. Dieses Risiko sei in der Folgenabschätzung als potenzielles Risiko identifiziert worden. Darüber hinaus seien in jüngster Zeit erhebliche Sicherheitslücken bei der Validierung und dem Scannen der QR-Codes von COVID-Zertifikaten über die Anwendung CovidScanBe aufgedeckt worden. In diesem Zusammenhang weisen die Kläger darauf hin, dass beim Präsidenten des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien) ein Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt worden sei, um die Aussetzung der Anwendung CovidScanBe wegen mehrerer Verstöße gegen die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) zu erwirken, und dass der der Präsident des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles mit Beschluss vom 29. Oktober 2021 das Risiko einer Sicherheitslücke für hinreichend erwiesen erachtet habe, um einen unabhängigen Sachverständigen zu ernennen, der damit beauftragt worden sei, diese Sicherheitslücken zu untersuchen und einen möglichen Schaden festzustellen. Eine zweite Schwachstelle der Anwendung CovidScanBe betreffe schließlich die Möglichkeit, beim Scannen des QR-Codes eines COVID-Zertifikats mit Hilfe des für Reisen geltenden Moduls der Anwendung Zugang zu sensiblen personenbezogenen Daten wie Name, Vornamen, Impfzeitpunkt, Art des Impfstoffs, das Land, in dem der Impfstoff verabreicht worden sei oder die Anzahl der erhaltenen Dosen zu erlangen.
164 Diese Gesichtspunkte belegten daher, dass der angefochtene Beschluss gegen den Grundsatz der fairen und transparenten Verarbeitung personenbezogener Daten verstoße.
165 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
166 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass personenbezogene Daten nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung 2018/1725 „auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden [müssen]“.
167 Außerdem bestimmt Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2018/1725 Folgendes:
„Werden personenbezogene Daten bei der betroffenen Person erhoben, so teilt der Verantwortliche der betroffenen Person zum Zeitpunkt der Erhebung dieser Daten sämtliche folgenden Informationen mit:
…
c)
die Zwecke, für die die personenbezogenen Daten verarbeitet werden sollen, sowie die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung …“
168 Nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung 2018/1725 sind diese Informationen auch dann mitzuteilen, wenn die personenbezogenen Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben wurden.
169 Darüber hinaus heißt es in Art. 16 Abs. 4 der Verordnung 2018/1725: „Beabsichtigt der Verantwortliche, die personenbezogenen Daten für einen anderen Zweck weiterzuverarbeiten als den, für den die personenbezogenen Daten erlangt wurden, so stellt er der betroffenen Person vor dieser Weiterverarbeitung Informationen über diesen anderen Zweck und alle anderen maßgeblichen Informationen gemäß Absatz 2 zur Verfügung.“
170 Entgegen dem Vorbringen der Kläger geht aus diesen Bestimmungen somit hervor, dass bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als demjenigen, für den diese Daten ursprünglich erlangt wurden, der für die Weiterverarbeitung dieser Daten Verantwortliche den betroffenen Personen lediglich vor dieser Weiterverarbeitung Informationen über diesen anderen Zweck und alle anderen maßgeblichen Informationen zur Verfügung zu stellen hat.
171 Da es sich im vorliegenden Fall, wie das Parlament einräumt, bei der im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Verarbeitung personenbezogener Daten um eine Weiterverarbeitung zu einem anderen Zweck als demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten erlangt wurden, handelt, oblag es ihm gemäß diesen Bestimmungen, den betroffenen Personen vor dieser Weiterverarbeitung Informationen über diesen anderen Zweck zur Verfügung zu stellen.
172 Aus den vom Parlament vorgelegten Beweisen geht jedoch hervor, dass es dieser Verpflichtung nachgekommen ist.
173 Wie aus diesen Beweisen hervorgeht, hat das Parlament nämlich erstens vor der Verarbeitung der in Rede stehenden Daten in seinem öffentlichen Register der Verarbeitungsvorgänge das Register Nr. 464 zu diesem Vorgang zusammen mit einer Vertraulichkeitserklärung veröffentlicht. Zweitens übersandte es den Mitgliedern und dem gesamten Personal des Parlaments am 27. Oktober 2021 eine E‑Mail, in der es sie über die Zwecke der Verarbeitung informierte. Drittens wurde der angefochtene Beschluss, wie es in Art. 6 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses heißt, „an allen Eingängen zu den Gebäuden des Parlaments, in denen die Prüfung vorgenommen wird, deutlich sichtbar ausgehängt“, was die Kläger nicht bestreiten.
174 Daher ist festzustellen, dass das Parlament seine sich aus dem Grundsatz der Transparenz ergebenden Verpflichtungen erfüllt hat und dass das Vorbringen der Kläger, sie hätten zu dem Zeitpunkt, zu dem ihre personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben worden seien, darüber hätte unterrichtet werden müssen, dass diese für Zwecke des Zugangs zu den Gebäuden des Parlaments verwendet würden, als unbegründet zurückzuweisen ist.
175 Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Verordnung 2018/1725 klarstellt, dass „[p]ersonenbezogene Daten … dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein [müssen] (‚Datenminimierung‘)“.
176 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 2 und 4 des angefochtenen Beschlusses der Zweck der Verarbeitung infolge des Scanprozesses strikt auf die Gewährung des Zugangs zu Gebäuden des Parlaments beschränkt ist und dass die bei der Überprüfung der COVID-Zertifikate angezeigten Daten weder lokal oder extern gespeichert, aufgezeichnet oder zurückbehalten noch an eine andere Einrichtung der Union oder Dritte weitergegeben und nicht für andere Zwecke verwendet werden.
177 Sodann haben die Sicherheitsbediensteten des Parlaments, wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, ohne dass die Kläger dem widersprochen hätten, im Hinblick auf das Scannen der QR-Codes der COVID-Zertifikate der Personen, die Zugang zu den Gebäuden des Parlaments erhalten wollten, als Anweisung erhalten, die Anwendung CovidScanBe nur im „Ereignis“-Modus zu verwenden. Wie jedoch aus den vom Parlament vorgelegten Beweisen hervorgeht, werden bei Verwendung der Anwendung CovidScanBe im „Ereignis“-Modus nur die Gültigkeit des Zertifikats, der Name und der Vorname der Person angezeigt. Dasselbe gilt für die luxemburgische Anwendung CovidCheck.lu. Entgegen dem Vorbringen der Kläger wird somit die Gültigkeitsdauer der Zertifikate nicht angezeigt, so dass die Sicherheitsbediensteten nicht ableiten können, ob die betroffene Person geimpft ist, einen Test absolviert hat, dessen Ergebnis negativ ist, oder von COVID‑19 genesen ist.
178 Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Sicherheitsbeamten des Parlaments Kenntnis von der Gültigkeitsdauer der Zertifikate erlangen und daraus ableiten könnten, dass die betreffende Person geimpft oder genesen ist oder einen negativen Test absolviert hat, hätte dies jedenfalls nicht zwangsläufig die von den Klägern angeführten schwerwiegenden Folgen.
179 Wie das Parlament geltend macht, würden seine Bediensteten nämlich zur Wahrung der Vertraulichkeit der Verarbeitungstätigkeit geschult und hätten Anweisungen erhalten, die personenbezogenen Daten, zu denen sie Zugang hätten, nicht mit anderen Personen als denjenigen, die an der Kontrolle des Zugangs zu den Gebäuden beteiligt seien, zu teilen. Ein Verstoß gegen diese Anweisungen würde disziplinarische oder vertragliche Sanktionen nach sich ziehen. Außerdem unterliegen die Beamten und Bediensteten des Parlaments, die mit der Prüfung der COVID-Zertifikate betraut sind, den strengen Verpflichtungen des Berufsgeheimnisses nach Art. 339 AEUV und sind an Art. 17 des Statuts, der gemäß Art. 11 BSB auch für Zeitbedienstete gilt, gebunden, der sie auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst verpflichtet, sich „jeder nicht genehmigten Verbreitung von Informationen [zu enthalten], von denen [sie] im Rahmen [ihrer] Aufgaben Kenntnis er[halten], es sei denn, diese Informationen sind bereits veröffentlicht oder der Öffentlichkeit zugänglich“.
180 Im Übrigen ist es nach den vom Parlament in der mündlichen Verhandlung übermittelten Informationen, denen die Kläger nicht widersprochen haben, technisch nicht möglich, bei der Kontrolle eines COVID-Zertifikats mittels einer der von den Sicherheitsbediensteten des Parlaments verwendeten Anwendungen einen Screenshot vorzunehmen. Daher ist selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass beim Scannen des QR-Codes auf dem COVID-Zertifikat Informationen über die Gültigkeitsdauer der Zertifikate offengelegt würden, die Gefahr, dass die Sicherheitsbediensteten die angezeigten Informationen auf dem Lesegerät der von ihnen verwendeten Anwendung speichern und diese Informationen über die dazu befugten Personen hinaus verbreiten können, als sehr gering oder gar als inexistent anzusehen.
181 Zwar ist das mit einer potenziellen Schwachstelle der verwendeten Anwendung verbundene Risiko in der Folgenabschätzung ermittelt worden, doch ist darauf hinzuweisen, dass dieses Risiko angesichts der vom Parlament im Rahmen seiner Tätigkeiten zur Verarbeitung personenbezogener Daten ergriffenen technischen und organisatorischen Maßnahmen, nämlich u. a., dass die verwendeten Anwendungen nicht dafür ausgelegt sind, personenbezogene Daten nach jeder Einzelkontrolle zu speichern, dass kein Export personenbezogener Daten mit diesen Anwendungen möglich ist oder dass sie nur mit dem internen und gesicherten Internet-Netzwerk des Parlaments verbunden werden, als gering eingestuft worden.
182 Sodann ist im Hinblick auf den Beschluss des Präsidenten des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien) vom 29. Oktober 2021 festzustellen, dass der Präsident dieses Gerichts in diesem Beschluss entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer keine Sicherheitslücke der Anwendung CovidScanBE festgestellt, sondern lediglich einen gerichtlichen Sachverständigen bestellt hat, der damit beauftragt wurde, festzustellen, ob das mit der Verwendung dieser Anwendung verbundene Sicherheitsniveau als ausreichend angesehen werden kann. Insoweit ergibt sich aus dem genannten Beschluss, wie das Parlament geltend macht, dass sich die behaupteten Sicherheitsmängel der Anwendung CovidScanBE aus der öffentlichen Zugänglichkeit der Datenbank Suspension list ergeben, die von den belgischen Behörden verwaltet wird und mit der die Anwendung kommuniziert. Wie das Parlament ausgeführt hat, betreffen diese Schwachstellen jedoch nicht die personenbezogenen Daten, die in den den Sicherheitsbediensteten des Parlaments bei der Kontrolle des Zugangs zu den Gebäuden des Parlaments vorgelegten Zertifikaten enthalten sind, da nach Art. 4 Abs. 4 des angefochtenen Beschlusses die Kontrolle der COVID-Bescheinigungen durch die Sicherheitsbediensteten des Parlaments zu keiner Übertragung personenbezogener Daten von der Anwendung CovidScanBE auf die in Rede stehende Datenbank führt.
183 Schließlich ist auch das Vorbringen der Kläger zum „Reise“-Modus der Anwendung CovidScanBe zurückzuweisen, da die Sicherheitsbediensteten des Parlaments, wie bereits ausgeführt, die Anwendung grundsätzlich nur im „Ereignis“-Modus verwenden. Jedenfalls wird, wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, ohne dass die Kläger dem widersprochen hätten, auf dem Bildschirm während der Prüfung der Zertifikate bei Verwendung dieser Anwendung im „Reise“-Modus nur der Vorname, der Name und das Geburtsdatum des Inhabers des COVID-Zertifikats sowie dessen Gültigkeit angezeigt.
184 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann die vom Parlament auf der Grundlage des angefochtenen Beschlusses vorgenommene Verarbeitung personenbezogener Daten daher nicht als rechtswidrig oder unfair angesehen werden.
185 Folglich sind der zweite Teil des dritten Klagegrundes und damit der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
4. Zum vierten Klagegrund, mit dem im Wesentlichen eine ungerechtfertigte und unverhältnismäßige Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Schutzes personenbezogener Daten, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Rechts auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung geltend gemacht wird
186 Mit ihrem vierten Klagegrund machen die Kläger erstens eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten, ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit und Sicherheit sowie ihres Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf Nichtdiskriminierung geltend. Zweitens sind sie der Ansicht, dass die Verletzung der vorgenannten Rechte und Grundsätze gegen den in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.
187 Die Kläger weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der durch die Charta geschützten Grundrechte hin. Ferner weisen sie darauf hin, dass, auch wenn es sich nicht um absolute Vorrechte handelt, jede Einschränkung dieser Rechte gesetzlich vorgesehen sein, den wesentlichen Inhalt dieser Rechte wahren und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit achten müsse.
a)
Zur Rüge der Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens, des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Rechts auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung
188 Erstens machen die Kläger geltend, der angefochtene Beschluss verletze das in Art. 3 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf körperliche Unversehrtheit, da er die Kläger, die nicht über ein Impf- oder ein Genesungszertifikat verfügten, verpflichte, sich alle zwei Tage Nasopharyngealabstrichen zu unterziehen, um eine etwaige SARS-CoV-2‑Infizierung festzustellen. Die Kläger sind der Auffassung, dass diese Abstriche besonders invasiv, aber auch riskant seien, wobei sie sich dabei auf eine Mitteilung der Académie nationale de médecine (Nationale Akademie der Medizin, Frankreich) vom 8. April 2021 stützen, in der von schwerwiegenden Komplikationen berichtet wird, wie „mit dem Risiko einer Meningitis verbundene Perforationen der vorderen Schädelbasis“.
189 Zweitens verstoße der angefochtene Beschluss gegen die in den Art. 20 und 21 der Charta verankerten Grundsätze der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung, da er Personen, die sich gelegentlich zum Parlament begäben, nämlich Besucher, örtliche Assistenten, externe Referenten, Interessenvertreter, in gleicher Weise behandele wie die Mitglieder und das Personal des Parlaments, die sich regelmäßig in die Gebäude des Parlaments begeben müssten.
190 Darüber hinaus sind die Kläger der Ansicht, dass diejenigen unter ihnen, die nicht über ein Impf- oder ein Genesungszertifikat verfügten, gegenüber Personen, die über ein solches Zertifikat verfügten, diskriminiert würden, da sie sich mindestens alle zwei Tage einem COVID‑19-Test unterziehen müssten, um arbeiten und ihr Mandat ausüben zu können.
191 Drittens verletze die angefochtene Entscheidung daher auch das in Art. 3 Abs. 2 der Charta verankerte Recht auf freie Einwilligung in alle medizinischen Eingriffe am menschlichen Körper sowie das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit. Um zu vermeiden, sich wiederholt einem Nasopharyngeal-Test zu unterziehen, was für eine große Zahl von Personen unüberwindbar sein könne, seien diese nämlich gezwungen, sich impfen zu lassen. Die Kläger weisen darauf hin, dass die Impfung gegen COVID‑19 in keinem Mitgliedstaat der Union zwingend sei, so dass eine solche verschleierte Impfpflicht gegen das Recht auf Freiheit verstoße.
192 Viertens sind die Kläger der Auffassung, dass der angefochtene Beschluss dadurch, dass er den Zugang zum Arbeitsplatz von der Vorlage hochsensibler medizinischer Daten wie dem Impfstatus, dem Testergebnis oder dem Nachweis der Genesung von der Krankheit abhängig mache, das Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten verletze. Nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung 2018/1725 sei nämlich die Verarbeitung von Gesundheitsdaten, von Ausnahmefällen abgesehen, verboten.
193 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen
194 Erstens ist der angefochtene Beschluss, wie sich aus der Prüfung des ersten Klagegrundes ergibt, die unionsrechtliche Rechtsgrundlage für den Erlass von Maßnahmen zur Beschränkung der Rechte, auf die sich die Kläger im Rahmen des ersten Teils des vierten Klagegrundes berufen, so dass diese Maßnahmen als „gesetzlich vorgesehen“ im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta anzusehen sind.
195 Zweitens ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss weder den wesentlichen Inhalt noch den Wesensgehalt der von den Klägern geltend gemachten Rechte beeinträchtigt.
196 Was nämlich erstens die gerügte Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit der Kläger, die über kein Impf- oder Genesungszertifikat verfügen, betrifft, weil diese verpflichtet seien, sich in regelmäßigen Abständen Nasopharyngeal-Test zu unterziehen, die sie für besonders invasiv halten, ist erstens festzustellen, dass sich der angefochtene Beschluss darauf beschränkt, den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments von der Vorlage eines COVID-Zertifikats abhängig zu machen, ohne spezifische Tests zu verlangen, die Nasopharyngealabstriche mit sich bringen. Zum einen ist es für diese Kläger nämlich möglich, für die Zwecke eines PCR-Tests einen Rachenabstrich vorzunehmen, und zum anderen ist nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2021/953 auch ein von einer Fachkraft im Gesundheitswesen durchgeführter AGS-Test möglich.
197 Was insbesondere die von den Klägern angeführte Mitteilung der Académie nationale de médecine (Nationale Akademie der Medizin, Frankreich) vom 8. April 2021 betrifft, so geht aus dieser Mitteilung erstens hervor, dass die Durchführung von Nasopharyngealabstrichen Fachkräften im Gesundheitswesen vorbehalten bleiben sollte, die für die Durchführung dieser Maßnahme unter strengen technischen Bedingungen ausgebildet sind, zweitens, dass Speichelproben bei Kindern bevorzugt werden sollten, was für die Kläger nicht zutrifft, und drittens, dass die Benutzer von Selbsttests vor den mit der Selbstentnahme verbundenen Gefahren gewarnt werden müssen. Wie das Parlament geltend macht, sei diese Art der mit den Selbsttests verbundenen Komplikationen einer der Gründe, aus denen das Parlament sie nicht akzeptiere, um Zugang zu seinen Gebäuden zu gewähren, da nur von Fachkräften im Gesundheitswesen durchgeführte AGS-Tests zugelassen seien.
198 Schließlich ist mit dem Parlament darauf hinzuweisen, dass die Kläger nach Art. 5 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses in ordnungsgemäß begründeten Fällen beim Generalsekretär des Parlaments einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahme von der Verpflichtung zur Vorlage eines gültigen COVID-Zertifikats stellen können.
199 Zweitens ist in Bezug auf die behauptete Verletzung der in Art. 20 und 21 der Charta verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz nach der Rechtsprechung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteil vom 5. Juli 2017, Fries, C‑190/16, EU:C:2017:513, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
200 Das Erfordernis der Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte ist in Anbetracht aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den diese Maßnahme fällt (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission, C‑460/18 P, EU:C:2019:1119, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
201 Im vorliegenden Fall ist jedoch, wie das Parlament ausführt, die Vergleichbarkeit der auswärtigen Besucher mit den Mitgliedern und dem Personal des Parlaments anhand des mit dem angefochtenen Beschluss verfolgten Ziels zu beurteilen und nicht anhand der Häufigkeit, mit der sie sich in die Gebäude des Parlaments begeben. Angesichts des Ziels der angefochtenen Entscheidung, das nach dem elften Erwägungsgrund dieses Beschlusses darin besteht, „ausreichende Schutzvorkehrungen [zu treffen], um Leben und Gesundheit aller in den Räumlichkeiten des Parlaments befindlichen Personen zu schützen“ kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Kläger nicht in einer Situation befinden, die mit derjenigen aller anderen Personen, die Zugang zu den Gebäuden des Parlaments erhalten möchten, vergleichbar wäre, auch wenn in ihrem Fall die durch den angefochtenen Beschluss verursachte Beschränkung ihrer Rechte insofern größer ist, als sie dazu führt, dass eine Bedingung für den Zugang zu ihrem Arbeitsplatz aufgestellt wird. Sobald sie sich innerhalb der Parlamentsgebäude befinden, ist das Risiko einer Übertragung von COVID‑19 für die Abgeordneten und das Personal des Parlaments nämlich das gleiche wie für jede andere Person, die diese Gebäude betritt.
202 Ebenso kann nicht davon ausgegangen werden, dass diejenigen Kläger, die über kein Impf- oder Genesungszertifikat verfügen, gegenüber den Personen, die über ein solches Zertifikat verfügen, diskriminiert würden. Der angefochtene Beschluss gibt nämlich keinem der drei in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2021/953 genannten Zertifikate den Vorzug, sondern sieht gemäß seinem Art. 1 lediglich die Kontrolle der Gültigkeit des COVID-Zertifikats vor, mit dem der Besitz eines dieser drei Zertifikate bescheinigt wird.
203 Daher kann im Hinblick auf das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger im Vergleich zu jeder anderen Person, die Zugang zu den Parlamentsgebäuden erhalten möchte, oder im Vergleich zu Personen, die über ein Impf- oder ein Genesungszertifikat verfügen, ungleich behandelt oder diskriminiert werden.
204 Drittens ist, soweit sich die Kläger auf ihr Recht auf freie Einwilligung in jeden medizinischen Eingriff an ihrem Körper sowie auf ihr Recht auf Freiheit berufen, darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss keines der drei Zertifikate, die gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2021/953 einen Anspruch auf ein gültiges COVID-Zertifikat begründen, bevorzugt, sondern sich darauf beschränkt, den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments von der Vorlage eines dieser Zertifikate abhängig zu machen.
205 Da das Parlament jedoch Maßnahmen ergriffen hat, um den Erhalt einer Testbescheinigung mittels eines PCR-Tests, der kostenlos in einem der in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg (Luxemburg) eingerichteten Testzentren durchgeführt werden kann, zu erleichtern, und gleichzeitig die Gültigkeit eines in Belgien, Frankreich oder Luxemburg durchgeführten PCR-Tests, der nicht in ein COVID-Zertifikat umgewandelt wurde, anerkennt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der angefochtene Beschluss für Personen, die weder über ein Impf- noch über ein Genesungszertifikat verfügen, in Wirklichkeit eine verschleierte Impfpflicht darstellt.
206 Viertens bestreitet das Parlament nicht, dass der angefochtene Beschluss einen Eingriff in das in den Art. 7 und 8 der Charta verankerte Recht der Kläger auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellen kann, indem er den Zugang zum Arbeitsplatz der Kläger von der Vorlage eines gültigen COVID-Zertifikats abhängig macht, das personenbezogene Daten über den Gesundheitszustand der betroffenen Personen enthält.
207 Wie die Kläger ausführen, ist die Verarbeitung solcher Daten nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung 2018/1725, außer in den in Art. 10 Abs. 2 dieser Verordnung aufgezählten Ausnahmefällen, grundsätzlich verboten. Wie das Parlament geltend macht, wird im vorliegenden Fall im 24. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses jedoch darauf hingewiesen, dass Art. 10 Abs. 2 Buchst. g und i der Verordnung 2018/1725 in Verbindung mit deren Art. 5 Abs. 1 Buchst. a die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung der in den COVID-Zertifikaten enthaltenen personenbezogenen Daten darstelle, da die Verarbeitung der in Rede stehenden Daten erforderlich sei, um die öffentliche Gesundheit zu schützen und die Ausbreitung von COVID‑19 zu verhindern.
208 Im Übrigen ergibt sich aus keinem der von den Klägern angeführten Gesichtspunkte, dass der angefochtene Beschluss die Rechte, auf die sie sich berufen, und insbesondere ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten, in ihrem Wesensgehalt antasten würde. Aus den Rn. 175 bis 184 oben ergibt sich nämlich, dass das Parlament den Grundsatz der Datenminimierung beachtet hat und die gemäß dem angefochtenen Beschluss vorgenommene Verarbeitung personenbezogener Daten nicht als rechtswidrig oder unfair angesehen werden kann.
209 Drittens ist gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta noch zu prüfen, ob die -wenn auch nur geringfügigen – Einschränkungen der von den Klägern geltend gemachten Rechte, unterstellt, sie seien erwiesen, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
b)
Zum geltend gemachten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
210 Die Kläger fordern das Gericht auf, eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta in ihren drei Teilen vorzunehmen.
211 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses allein im Licht der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen ist (Urteile vom 9. Juli 2007, Sun Chemical Group u. a./Kommission, T‑282/06, EU:T:2007:203, Rn. 59, und vom 26. Oktober 2012, Oil Turbo Compressor/Rat, T‑63/12, EU:T:2012:579, Rn. 29).
212 Daher sind im vorliegenden Fall Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses im Hinblick auf die mit diesem Beschluss verfolgten Ziele und im Licht der Epidemielage und der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses zu prüfen.
1) Zur Erforderlichkeit der fraglichen Maßnahmen
213 Erstens machen die Kläger geltend, der angefochtene Beschluss sei nicht erforderlich, um die mit ihm verfolgten Ziele zu erreichen, insbesondere das Ziel, die Ausbreitung von COVID‑19 im Parlament zu verhindern und so die Gesundheit der Abgeordneten und des Personals zu schützen.
214 Die Kläger sind der Ansicht, dass andere weniger einschneidende Maßnahmen, die bereits in Kraft seien, wie die Temperaturnahme, das Tragen von Masken, die soziale Distanzierung, die Lüftung und regelmäßige Belüftung der Büros und Sitzungsräume sowie die Händedesinfektion ausreichend seien, um diese Ziele zu erreichen. Darüber hinaus sei nicht nachgewiesen, dass die Parlamentsgebäude im Hinblick auf die Übertragung von COVID‑19 ein besonders risikoreicher Ort seien. In diesem Zusammenhang weisen die Kläger darauf hin, dass die Gefährdungsbeurteilung gemäß den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für jede spezifische Arbeitsumgebung und für jeden Arbeitsplatz oder jede Gruppe von Arbeitsplätzen durchgeführt werden müsse.
215 Daraus folge, dass die Verhängung zusätzlicher Maßnahmen in den Gebäuden des Parlaments nicht erforderlich gewesen sei. Der bloße Umstand, dass, wie im 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, das Parlament ein Ort sei, an dem es zu einer verstärkten Anwesenheit von Personen kommen könne, dass die Reisen aufgrund der Wiederaufnahme von Dienstreisen zugenommen hätten und dass regelmäßig physische Treffen organisiert würden, reiche nicht aus, um die Erforderlichkeit der Auferlegung von Maßnahmen darzutun, die die Freiheit so stark einschränkten wie die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen.
216 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
217 Zunächst ist daran zu erinnern, dass der Vorsorgegrundsatz ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der sich aus Art. 11, Art. 168 Abs. 1, Art. 169 Abs. 1 und 2 sowie Art. 191 Abs. 1 und 2 AEUV ergibt. Nach diesem Grundsatz können bei Unsicherheiten hinsichtlich des Vorliegens oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit Schutzmaßnahmen getroffen werden, ohne dass abgewartet werde müsste, dass das Bestehen und die Schwere dieser Risiken vollständig dargelegt werden, sofern diese Maßnahmen objektiv und nicht diskriminierend sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. April 2014, Acino/Kommission, C‑269/13 P, EU:C:2014:255, Rn. 57, und vom 17. März 2016, Zoofachhandel Züpke u. a./Kommission, T‑817/14, EU:T:2016:157, Rn. 51).
218 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass das Parlament aufgrund seiner Fürsorgepflicht und seiner Pflicht insbesondere aus Art. 1e Abs. 2 des Statuts, der gemäß Art. 10 BSB auch für Zeitbedienstete der Union gilt, wobei es sich um eine der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Beschlusses handelt (siehe oben, Rn. 101), die Gesundheit seines Personals zu gewährleisten hat.
219 Im vorliegenden Fall hat sich das Parlament beim Erlass des angefochtenen Beschlusses auf folgende Gesichtspunkte gestützt.
220 Erstens wies die Gesundheitssituation in Europa, wie im Wesentlichen aus dem fünften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, seit September 2021 einen Aufwärtstrend bei COVID‑19‑Infektionen auf, und am 1. November 2021 hatte die Zahl der Neuinfektionen den Stand von November 2020 erreicht.
221 Daher kann entgegen dem Vorbringen der Kläger nicht davon ausgegangen werden, dass die Epidemielage zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses „stabil“ gewesen sei.
222 Zweitens war der Vertrauensarzt des Parlaments nach der Aufhebung der Telearbeit ab dem 1. September 2021 der Ansicht, dass die Rückkehr zur Präsenzarbeit mit einem erhöhten Risiko der Virusübertragung verbunden sei. Wie sich im Wesentlichen aus dem 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, hat das Parlament den Umstand berücksichtigt, dass die zunehmende Präsenz von Personen in den Gebäuden des Parlaments und die Zunahme der Inzidenz von COVID‑19 in der Gesellschaft ein höheres Risiko der Einschleppung des Virus in das Parlament und ein erhöhtes Risiko der internen Übertragung von COVID‑19 und von Quarantänen bargen. Darüber hinaus hat das Parlament dem Umstand Rechnung getragen, dass die Mitglieder des Parlaments in häufigem Kontakt mit ihrer Wählerschaft in den 27 Mitgliedstaaten, die eine sehr unterschiedliche epidemiologische Situation aufwiesen, standen, so dass es häufige internationale Reisen als zusätzlichen Risikofaktor, der es zu einem Übertragungsherd machen konnte, berücksichtigen musste.
223 In Anbetracht dieser Erwägungen ist daher festzustellen, dass das Parlament vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass der Erlass verstärkter präventiver Gesundheitsmaßnahmen erforderlich war, um die Gesundheit aller in seinen Gebäuden anwesenden Personen zu schützen. Wie das Parlament geltend macht, konnte nämlich angesichts der zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses bestehenden Epidemielage die Kontrolle des COVID-Zertifikats am Eingang seiner Gebäude vernünftigerweise als eine Maßnahme angesehen werden, die erforderlich war, um das Risiko der Übertragung von COVID‑19 innerhalb des Parlaments zu begrenzen und damit die Gesundheit seines Personals in Ergänzung zu den anderen bereits eingeführten Präventivmaßnahmen zu schützen.
224 Zwar wurde, wie die Kläger ausführen, beschlossen, ab dem 22. November 2021 verbindlich die Telearbeit im Umfang von drei Tagen pro Woche für alle Mitarbeiter einzuführen, soweit dies mit der Ausübung ihres Amtes vereinbar war.
225 Wie oben in Rn. 211 ausgeführt, ist die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses jedoch allein im Licht der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen. Dieser Umstand, der nach dem Erlass des angefochtenen Beschlusses eintrat, kann daher bei der Beurteilung seiner Rechtmäßigkeit nicht berücksichtigt werden.
2) Zur Geeignetheit der fraglichen Maßnahmen
226 Zweitens machen die Kläger geltend, der angefochtene Beschluss sei nicht geeignet, um vor der Ausbreitung des Virus zu schützen und die Ansteckung der Mitglieder des Parlaments und des Personals, das die Gebäude des Parlaments betrete, zu verhindern. Es bestehe nämlich kein wissenschaftlicher Konsens über die Übertragung des Virus durch geimpfte Personen, und zahlreiche Studien belegten, dass sowohl geimpfte Personen als auch nicht geimpfte Personen das Virus übertragen könnten. Die WHO selbst habe in einer Veröffentlichung vom 5. Februar 2021 darauf hingewiesen, dass „noch erhebliche unbekannte Faktoren hinsichtlich der Wirksamkeit von Impfungen zur Verringerung der Übertragung best[anden]“. Ein Impf- oder ein Genesungszertifikat biete daher keine Gewähr dafür, dass Personen, die darüber verfügten, nicht ansteckend seien. Auch die Vorlage eines negativen PCR-Tests sei angesichts der hohen Zahl „falsch-positiver“ Ergebnisse eine unangemessene und unverhältnismäßige Maßnahme. Es könne daher kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Verpflichtung, den Zugang zu Gebäuden des Parlaments von der Vorlage eines gültigen COVID-Zertifikats abhängig zu machen, es ermögliche, das Risiko der Übertragung des Virus zu verringern und somit die Personen, die diese Gebäude betreten, zu schützen.
227 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
228 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss nach seinem elften Erwägungsgrund u. a. darauf abzielt, „ausreichende Schutzvorkehrungen [zu treffen], um Leben und Gesundheit aller in den Räumlichkeiten des Parlaments befindlichen Personen zu schützen“. Daher ist zu prüfen, ob der angefochtene Beschluss eine im Hinblick auf dieses Ziel geeignete Maßnahme darstellt.
229 Hierzu ist festzustellen, dass trotz einiger von den Klägern angeführter Studien, die belegen, dass auch geimpfte Personen das Virus übertragen können und dass der durch den Impfstoff gebotene Schutz mit der Zeit deutlich abnimmt, insbesondere aus der Stellungnahme des Vertrauensarztes des Parlaments vom 10. Oktober 2021, auf das sich das Präsidium für den Erlass des angefochtenen Beschlusses gestützt hat, hervorgeht, dass „nach aktuellen Daten das geringste Übertragungsrisiko zwischen zwei geimpften Personen besteht, während das höchste Übertragungsrisiko zwischen zwei nicht geimpften Personen vorhanden ist; [das] Infektionsrisiko für eine (geimpfte) Person ist viel höher, wenn sie mit einer nicht geimpften Person in Kontakt kommt, als wenn sie mit einer vollständig geimpften Person in Kontakt kommt“.
230 Darüber hinaus ergibt sich aus einer vom Parlament vorgelegten Studie (Singanayagam, A., Hakki, S., Dunning, J., u. a., „Community transmission and viral load kinetics of the SARS-CoV-2 delta (B.1.617.2) variant in vaccinated and unvaccinated individuals in the UK: a prospective, longitudinal, cohort study“, Lancet Infc. Dis. 2022, 29. Oktober 2021, S. 183 bis 195), dass die Impfung das Risiko einer Ansteckung mit der Delta-Variante des Virus, die zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses die in Europa vorherrschende Variante war, indem sie sowohl die Wahrscheinlichkeit verringert, dass die geimpfte Person nach einem Risikokontakt infiziert wird, als auch die Kontagiosität einer infizierten geimpften Person nicht nur in ihrer Intensität, sondern auch hinsichtlich der Dauer verringert.
231 Was sodann das Vorbringen der Kläger betrifft, dass sich die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die Übertragung des Virus mit der Zeit erheblich verringere, ist mit dem Parlament festzustellen, dass aus der ersten von den Klägern angeführten Studie (Riemersma, K. K., u. a., „Shedding of Infectious SARS-CoV-2 Despite Vaccination“, MedRxiv, 15. Oktober 2021, S. 4) hervorgeht, dass eine nach der ursprünglichen Impfserie verabreichte zusätzliche Impfstoffdosis das Risiko einer Infektion mit der Delta-Variante erheblich reduziert.
232 Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass nach dem siebten Erwägungsgrund der Verordnung 2021/953 die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten, dass bei geimpften Personen, Personen mit einem aktuellen negativen COVID‑19-Testergebnis und Personen, die in den vergangenen sechs Monaten von COVID‑19 genesen seien, das Risiko, andere Personen mit SARS-CoV-2 zu infizieren, geringer sei. Daher können die Kläger nicht die Gültigkeit der Verordnung 2021/953, für die eine Rechtmäßigkeitsvermutung gilt, in Frage stellen, ohne konkretere und überzeugendere Gesichtspunkte geltend zu machen, zumal sie nicht förmlich die Rechtswidrigkeit dieser Verordnung gemäß Art. 277 AEUV geltend gemacht haben.
233 Was schließlich das Vorbringen der Kläger zu Tests, die zu „falsch-positiven“ Ergebnisse führten, betrifft, ist festzustellen, dass sie keinen Beweis dafür vorgelegt haben, dass dies eine große Zahl von Tests betreffen würde, die deren Glaubwürdigkeit als Grundlage für eines der drei Zertifikate, mit denen das Fehlen einer COVID‑19‑Infektion gemäß der Verordnung 2021/953 bescheinigt werden kann, in Frage stellen könnte.
234 Jedenfalls könnten, wie das Parlament feststellt, laut der belgischen öffentlichen Einrichtung Sciensano „positive“ und „schwach positive“ PCR-Testergebnisse in bestimmten Fällen als alte Infektion angesehen werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt seien, und in einem solchen Fall sei keine Isolierungsmaßnahme erforderlich.
235 Auch wenn es zutrifft, dass, wie die Kläger geltend machen, weder die Impfung noch die Tests oder die Genesung die Übertragung des Virus vollständig verhindern können, kann dieses Risiko dennoch, wie aus den ärztlichen Gutachten hervorgeht, auf die sich das Parlament beim Erlass des angefochtenen Beschlusses gestützt hat und die ihrerseits auf dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt beruhen, mit der Verpflichtung zur Vorlage eines gültigen COVID-Zertifikats verringert und somit die bestehenden Gesundheitsmaßnahmen durch die Kontrolle dieser drei Aspekte in objektiver und nicht diskriminierender Weise verstärkt werden.
236 Daher ist festzustellen, dass das Parlament unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Informationen, insbesondere der Epidemielage und der zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, zu Recht davon ausgehen konnte, dass das Erfordernis, über eine gültiges COVID-Zertifikat zu verfügen, um Zugang zu seinen Gebäuden zu erhalten, eine Maßnahme darstellte, die im Hinblick auf das Ziel, die Gesundheit seines Personals sowie aller in seinen Gebäuden anwesenden Personen zu schützen, angemessen ist.
3) Zur Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahmen
237 Drittens sind die Kläger der Ansicht, dass der angefochtene Beschluss offensichtlich unverhältnismäßig sei, da nach dem siebten Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung die Impfquote im Parlament nach Schätzungen des ärztlichen Dienstes des Parlaments zwischen 80 und 85 % liege. Bei einer derart hohen Impfquote sei es, sofern man nicht davon ausgehe, dass die Impfung gegen COVID‑19 unwirksam sei, offensichtlich unverhältnismäßig, als zusätzliche Maßnahme den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments auf Personen zu beschränken, die über ein gültiges COVID-Zertifikat verfügten.
238 Das Parlament könne die Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses erst recht nicht damit rechtfertigen, dass es erforderlich sei, Parlamentsmitglieder und Personal zu schützen, die nicht geimpft seien. Es handele sich nämlich um die freie Wahl dieser Personen, und das Parlament könne sie nicht mit der Begründung diskriminieren, dass es sie vor den angeblichen Auswirkungen dieser Wahl auf ihre Gesundheit schützen wolle.
239 Das Parlament tritt diesem Vorbringen entgegen.
240 Es ist daran zu erinnern, dass die Handlungen der Organe der Union nach ständiger Rechtsprechung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist, und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (Urteile vom 8. Juli 2010, Afton Chemical, C‑343/09, EU:C:2010:419, Rn. 45, und vom 4. Juni 2020, Ungarn/Kommission, C‑456/18 P, EU:C:2020:421, Rn. 41).
241 Daher ist zu prüfen, ob die im angefochtenen Beschluss aufgestellte Verpflichtung, über ein gültiges COVID-Zertifikat zu verfügen, eine Maßnahme darstellt, die im Hinblick auf das verfolgte Ziel in dem Sinne verhältnismäßig ist, dass dieses Ziel nicht mit weniger einschneidenden, aber ebenso wirksamen Maßnahmen erreicht werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2021, Katoen Natie Bulk Terminals und General Services Antwerp, C‑407/19 sowie C‑471/19, EU:C:2021:107, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
242 Insoweit können die Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, dass es wegen der auf zwischen 80 und 85 % geschätzten hohen Impfquote im Parlament offensichtlich unverhältnismäßig sei, den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments als zusätzliche Maßnahme auf Personen zu beschränken, die über ein gültiges COVID-Zertifikat verfügten.
243 Dieses Vorbringen beruht nämlich auf der Prämisse, dass eine solche Maßnahme nicht wirksam zum Schutz der Gesundheit des Personals sowie aller Personen, die sich innerhalb der Gebäude des Parlaments aufhalten, beitragen könne.
244 Wie das Parlament geltend macht und wie sich im Wesentlichen aus dem 14. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, ist angesichts der im Parlament verzeichneten Infektionsfälle, der seit September 2021 erfolgten erheblichen Zunahme von Personen, die Zugang zu den Gebäuden haben und deren Impfquote nicht bekannt ist, der Vorherrschaft der Delta-Variante des Virus und der Tendenz der allgemeinen Pandemiesituation, eine Anwendung der bestehenden Gesundheitsmaßnahmen zusammen mit der obligatorischen Kontrolle der COVID-Zertifikate verhältnismäßig im Hinblick auf das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel, den Schutz der Gesundheit der Abgeordneten und des Personals zu gewährleisten und die Ausbreitung von COVID‑19 zu begrenzen.
245 Wie aus den sowohl von den Klägern als auch vom Parlament vorgelegten wissenschaftlichen Studien, die den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses widerspiegeln, hervorgeht, lässt sich außerdem durch die Impfung das Risiko der Übertragung von COVID‑19 zwar nicht vollständig ausschließen, aber doch erheblich verringern. Daher konnte das Parlament zu Recht davon ausgehen, dass die Verpflichtung zur Vorlage eines gültigen COVID-Zertifikats, da dies impliziert, dass man entweder über ein Impfzertifikat, ein Genesungszertifikat oder ein Testzertifikat verfügen muss, um Zugang zu den Parlamentsgebäuden zu erhalten, dazu beitragen würde, dieses Risiko zu verringern.
246 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Kläger in keiner Weise nachgewiesen haben, dass es andere, weniger einschneidende, aber im Hinblick auf das verfolgte Ziel ebenso wirksame Maßnahmen gab, die vom Parlament hätten erlassen werden können.
247 Was insbesondere die Beibehaltung der anderen, zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses bestehenden Gesundheitsmaßnahmen ohne zusätzliche Beschränkungen betrifft, haben die Kläger nicht dargetan, inwiefern diese Maßnahme geeignet gewesen wäre, das Ziel, die Zahl der Virusübertragungen innerhalb des Parlaments zu verringern, um die Gesundheit seines Personals zu schützen, ebenso wirksam zu erreichen. Wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, ist die Zahl der im Parlament verzeichneten Infektionen nach dem Erlass des angefochtenen Beschlusses nämlich stark zurückgegangen, was auf die Wirksamkeit der fraglichen Maßnahme hindeutet.
248 Ohne die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen zusätzlichen Maßnahmen hätte nämlich beispielsweise eine weder geimpfte noch von COVID‑19 genesene, potenziell mit dem Virus infizierte Person freien Zugang zu den Gebäuden des Parlaments erhalten und dabei Gefahr laufen können, die zahlreichen Personen, die täglich dort arbeiten oder sich dort bewegen, zu infizieren, ohne dass ihr eine Kontrolle hätte auferlegt werden können.
249 Der Umstand, dass, wie von den Klägern in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, der angefochtene Beschluss bei geimpften Personen ein „falsches Gefühl von Sicherheit“ hervorgerufen habe, indem er sie glauben ließ, dass sie nicht Gefahr liefen, sich mit COVID‑19 zu infizieren, wenn sie ein auf einem Impfzertifikat beruhendes gültiges COVID-Zertifikat vorlegten, ist – angenommen, dieses Gefühl habe tatsächlich bestanden – nicht geeignet, die Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses in Frage zu stellen. Mit diesem Vorbringen lässt sich nämlich nicht nachweisen, dass weniger einschneidende und ebenso wirksame Maßnahmen zur Verfügung gestanden hätten, sondern allenfalls, dass andere, noch einschneidendere Maßnahmen vom Parlament hätten verabschiedet werden können, indem beispielsweise verlangt würde, dass sich geimpfte Personen ebenfalls regelmäßig testen lassen müssen.
250 Im Übrigen ist der Umstand, dass andere Organe der Union keine ähnlichen Beschränkungen auferlegt haben, nicht geeignet, die Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses in Frage zu stellen. Wie insbesondere aus dem 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hat sich das Parlament nämlich nicht nur auf die allgemeine Epidemielage in Europa gestützt, sondern auch auf die Besonderheiten des Parlaments als internationale Organisation, die häufige internationale Reisen als zusätzlichen Risikofaktor, der es zu einem Übertragungsherd machen könnte, berücksichtigen muss.
251 Schließlich muss auch dem Umstand besondere Bedeutung beigemessen werden, dass die mit dem angefochtenen Beschluss eingeführten Maßnahmen zeitlich begrenzt sind und regelmäßig im Hinblick auf die Entwicklung der Gesundheitslage überprüft werden (vgl. 27. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
252 Auch ist darauf hinzuweisen, dass sich der angefochtene Beschluss darauf beschränkt, den Zugang zu den Gebäuden des Parlaments an seinen drei Arbeitsorten von der Vorlage einer der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis c der Verordnung 2021/953 vorgesehenen Zertifikaten oder einem gleichwertigen Zertifikat gemäß Art. 8 dieser Verordnung abhängig zu machen. Die Pflicht zur Vorlage eines solchen Zertifikats kann zwar gewisse praktische Nachteile mit sich bringen, doch können diese weder dem Schutz der menschlichen Gesundheit anderer vorgehen noch als unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte der Kläger gewertet werden.
253 Daher ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss angesichts der Verpflichtung des Parlaments zur Gewährleistung der Gesundheit seines Personals und seiner Vorsorgepflicht (siehe oben, Rn. 217 und 218), gemessen an dem verfolgten Ziel, verhältnismäßig ist.
254 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass aufgrund des wechselhaften Kontexts der Epidemielage und der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse u. a. im Hinblick auf das Auftreten neuer Varianten, wie im 27. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegt, die Verpflichtung zur Vorlage eines gültigen COVID-Zertifikats beim Betreten der Gebäude des Parlaments „nur so lange gelten [sollte], wie die besonderen Umstände anhalten, die ihr zugrunde liegen, und regelmäßig im Hinblick auf die Gesundheitslage in der EU und an den drei Arbeitsorten des Europäischen Parlaments neu bewertet werden [muss], damit jederzeit für ein angemessenes ausgewogenes Verhältnis zwischen den Rechten der Betroffenen und den betreffenden rechtlich geschützten Interessen gesorgt ist“.
255 Folglich ist der zweite Teil des vierten Klagegrundes sowie der vierte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
256 Nach alledem sind die Klagen als unbegründet abzuweisen.
Kosten
257 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
258 Da die Kläger unterlegen sind, sind ihnen gemäß den Anträgen des Parlaments die Kosten einschließlich der Kosten der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Herr Robert Roos und die anderen im Anhang aufgeführten Kläger tragen die Kosten einschließlich der Kosten der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.
Papasavvas
Svenningsen
Barents
Mac Eochaidh
Pynnä
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. April 2022.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
II. Anträge der Parteien
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit der Klagen
1. Zum Rechtsschutzinteresse der Kläger
2. Zur Klagebefugnis der Kläger
B. Zur Zulässigkeit der Anträge auf Anpassung der Klageschriften
C. Begründetheit
1. Zum ersten Klagegrund: Fehlen einer gültigen Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss zur Erzeugung von Wirkungen gegenüber den Mitgliedern des Parlaments
2. Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten sowie Verletzung der ihnen durch den Vertrag eingeräumten Befreiungen
a) Zum ersten Teil: Verstoß des angefochtenen Beschlusses gegen die Grundsätze der Freiheit und der Unabhängigkeit der Mitglieder des Parlaments
b) Zum zweiten Teil, mit dem im Wesentlichen eine Verletzung der den Abgeordneten durch das Protokoll Nr. 7 gewährten Befreiungen geltend gemacht wird
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen die allgemeinen Grundsätze der Verarbeitung personenbezogener Daten
a) Zum ersten Teil: Verstoß gegen die Grundsätze der Zweckbindung der Verarbeitung von Daten und der Gesetzmäßigkeit
b) Zum zweiten Teil: Verletzung der Grundsätze der Loyalität, der Transparenz und der Minimierung
4. Zum vierten Klagegrund, mit dem im Wesentlichen eine ungerechtfertigte und unverhältnismäßige Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Schutzes personenbezogener Daten, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Rechts auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung geltend gemacht wird
a) Zur Rüge der Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens, des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Rechts auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung
b) Zum geltend gemachten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
1) Zur Erforderlichkeit der fraglichen Maßnahmen
2) Zur Geeignetheit der fraglichen Maßnahmen
3) Zur Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahmen
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
(1 ) Die Liste der anderen Kläger ist nur der den Parteien mitgeteilten Fassung beigefügt.
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 9. Februar 2022 (Auszüge).#QI u. a. gegen Europäische Kommission und Europäische Zentralbank.#Außervertragliche Haftung – Wirtschafts- und Währungspolitik – Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld – Vereinbarung über den Tausch von Schuldtiteln allein zugunsten der Zentralbanken des Eurosystems – Beteiligung des Privatsektors – Umschuldungsklauseln – Private Gläubiger – Öffentliche Gläubiger – Zurechenbarkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Art. 63 Abs. 1 AEUV – Art. 120 bis 127 und Art. 352 Abs. 1 AEUV – Eigentumsrecht – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-868/16.
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62016TJ0868
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ECLI:EU:T:2022:58
| 2022-02-09T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016TJ0868
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
9. Februar 2022 (*1) (i
)
„Außervertragliche Haftung – Wirtschafts- und Währungspolitik – Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld – Vereinbarung über den Tausch von Schuldtiteln allein zugunsten der Zentralbanken des Eurosystems – Beteiligung des Privatsektors – Umschuldungsklauseln – Private Gläubiger – Öffentliche Gläubiger – Zurechenbarkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Art. 63 Abs. 1 AEUV – Art. 120 bis 127 und Art. 352 Abs. 1 AEUV – Eigentumsrecht – Gleichbehandlung“
In der Rechtssache T‑868/16,
QI und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Kläger (1 ), vertreten durch Rechtsanwalt S. Pappas,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch J.‑P. Keppenne, L. Flynn und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,
und
Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch K. Laurinavičius und M. Szablewska als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt H.‑G. Kamann,
Beklagte,
unterstützt durch
Europäischen Rat
und
Rat der Europäischen Union,
vertreten durch K. Michoel, E. Chatziioakeimidou und J. Bauerschmidt als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
wegen einer Klage gemäß Art. 268 AEUV auf Ersatz des Schadens, der den Klägern infolge der Durchführung eines Zwangsumtauschs staatlicher Schuldtitel im Rahmen der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld 2012 entstanden sein soll, an der private Investoren beteiligt wurden und Umschuldungsklauseln zur Anwendung kamen, wegen damit zusammenhängender Verhaltensweisen und Handlungen insbesondere des Europäischen Rates, des Rates, der Kommission und der EZB,
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen, des Richters V. Kreuschitz (Berichterstatter) und der Richterin N. Półtorak,
Kanzler: F. Oller, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2018
folgendes
Urteil (2 )
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Am 21. Oktober 2009 meldete die Hellenische Republik dem statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) ein öffentliches Defizit von 12,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das im Vergleich zu dem im Frühjahr 2009 gemeldeten öffentlichen Defizit von 3,7 % des BIP eine Korrektur nach oben darstellte. Diese Korrektur der wirtschaftlichen Daten der Hellenischen Republik ließ Zweifel an ihrer Zahlungsfähigkeit aufkommen und führte daher zu einem Anstieg der Zinsen der griechischen Schuldtitel im Lauf der ersten Monate des Jahres 2010.
2 Da sich die griechische Staatsschuldenkrise auf andere Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets auszuwirken drohte und die Stabilität des gesamten Euro-Währungsgebiets gefährdete, kamen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets auf der Tagung des Europäischen Rates vom 25. März 2010 überein, unter Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IWF) einen zwischenstaatlichen Mechanismus zur Unterstützung der Hellenischen Republik in Gestalt koordinierter bilateraler Darlehen zu nicht konzessionären Zinssätzen zu schaffen.
3 Ende April 2010 stufte eine Ratingagentur die Bewertung der griechischen Schuldtitel von BBB- auf BB+ herab, eine Kategorie, bei der ein hohes Ausfallrisiko angenommen wird. So warnte am 27. April 2010 die Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) die Inhaber griechischer Schuldtitel, dass sie im Fall einer Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld oder eines Zahlungsausfalls des griechischen Staats eine Chance von durchschnittlich lediglich zwischen 30 % und 50 % hätten, ihr Geld zurückzuerhalten.
4 Am 23. April 2010 beantragte die Hellenische Republik, den oben in Rn. 2 genannten zwischenstaatlichen Unterstützungsmechanismus in Gang zu setzen. Am 2. Mai 2010 gaben die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets gemäß dem vorgenannten Unterstützungsmechanismus ihr Einverständnis, der Hellenischen Republik 80 Mrd. Euro innerhalb eines gemeinsam mit dem IWF bewilligten Finanzrahmens von 110 Mrd. Euro zur Verfügung zu stellen.
5 Am 9. Mai 2010 wurde im Rahmen des ECOFIN-Rates ein umfassendes Maßnahmenpaket beschlossen. Dieses beinhaltete zum einen den Erlass der Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ABl. 2010, L 118, S. 1) auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV und zum anderen die Schaffung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Am 7. Juni 2010 wurde die EFSF gegründet, und die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets sowie die EFSF unterzeichneten den Rahmenvertrag, der die Bedingungen festlegte, unter denen die EFSF ihre Stabilitätsunterstützung leisten würde.
6 Am 10. Mai 2010 gab die EZB mit einer Pressemitteilung die Einführung eines Programms zum Ankauf staatlicher Schuldtitel auf dem Sekundärmarkt für Wertpapiere (im Folgenden: Anleihekaufprogramm) bekannt.
7 Am 14. Mai 2010 fasste die EZB den Beschluss 2010/281/EU zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte (EZB/2010/5) (ABl. 2010, L 124, S. 8) auf der Grundlage von Art. 127 Abs. 2 erster Gedankenstrich AEUV und Art. 18.1 des Protokolls Nr. 4 über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (ABl. 2010, C 83, S. 230, im Folgenden: ESZB-Satzung). Gemäß Art. 1 der ESZB-Satzung bilden die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, bilden das Eurosystem.
8 In den Erwägungsgründen 2, 3 und 5 des Beschlusses 2010/281 heißt es u. a.:
„(2)
Am 9. Mai 2010 hat der EZB-Rat beschlossen und bekannt gegeben, dass angesichts der derzeit außergewöhnlichen Situation auf den Finanzmärkten, die durch starke Spannungen in einigen Marktsegmenten geprägt ist, die den geldpolitischen Transmissionsmechanismus und damit auch die effektive Durchführung einer auf mittelfristige Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik beeinträchtigen, ein vorübergehendes Programm für die Wertpapiermärkte (nachfolgend das „Programm“) eingeführt werden sollte. Gemäß dem Programm können die [nationalen Zentralbanken] des Euro-Währungsgebiets gemäß ihren prozentualen Anteilen im Schlüssel für die Zeichnung des Kapitals der EZB und die EZB direkt mit den Geschäftspartnern endgültige Interventionen an den Märkten für öffentliche und private Schuldverschreibungen im Euro-Währungsgebiet durchführen.
(3) Das Programm ist Bestandteil der einheitlichen Geldpolitik des Eurosystems und findet vorübergehend Anwendung. Ziel des Programms ist es, die Störungen an den Wertpapiermärkten zu beheben und einen angemessenen geldpolitischen Transmissionsmechanismus wiederherzustellen.
…
(5) Als Bestandteil der einheitlichen Geldpolitik des Eurosystems sollte der endgültige Ankauf zugelassener börsengängiger Schuldtitel durch Zentralbanken des Eurosystems gemäß dem Programm im Einklang mit den Bestimmungen dieses Beschlusses umgesetzt werden.“
9 Gemäß Art. 1 des Beschlusses 2010/281 „können die Zentralbanken des Eurosystems … zulässige börsengängige Schuldtitel, die von Zentralstaaten oder öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, begeben werden, auf dem Sekundärmarkt ankaufen“. Art. 2 sieht als Zulassungskriterien für Schuldtitel u. a. vor, dass die Schuldtitel auf Euro lauten und von den genannten Zentralstaaten oder öffentlichen Stellen begeben werden.
10 Im Rahmen des Anleihekaufprogramms, das durch den Beschluss 2010/281 eingeführt wurde, erwarben die nationalen Zentralbanken des Euro-Währungsgebiets zwischen Mai 2010 und März 2011 sowie August 2011 und Februar 2012 staatliche Schuldtitel, einschließlich Schuldtiteln der Hellenischen Republik. Aus den Beschlüssen Nr. 2/13203/0023A vom 15. Februar 2012 (FEK B’ 574), Nr. 2/14328/0023A vom 20. Februar 2012 (FEK B’ 705) und Nr. 2/14949/0023A vom 21. Februar 2012 (FEK B’ 413) des griechischen Finanzministeriums geht hervor, dass die EZB, die nationalen Zentralbanken des Euro-Währungsgebiets und die Europäische Investitionsbank (EIB) zu diesem Zeitpunkt griechische Schuldtitel mit einem Gesamtnennwert von 42732860000 Euro, 13519799177,59 Euro bzw. 315350000 Euro hielten. Die Europäische Union, vertreten durch die Europäische Kommission, hielt ebenfalls griechische Schuldtitel mit einem Gesamtnennwert von 106700000 Euro, von denen ein Teil, nämlich Schuldtitel mit einem Nennwert von 55700000 Euro, von der EIB im Namen und für Rechnung der Union gehalten wurde. Somit hielten diese institutionellen Gläubiger griechische Schuldtitel mit einem Gesamtnennwert von 56674709177,59 Euro.
11 Bereits im Mai 2011 begannen die Hellenische Republik, die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und verschiedene Gläubiger des griechischen Staats, die Einführung eines neuen Finanzhilfeprogramms zu diskutieren, dessen allgemeines Ziel darin bestand, die Hellenische Republik in die Lage zu versetzen, zu einer tragfähigen finanziellen Situation zurückzukehren. Eines der in diesen Diskussionen in Betracht gezogenen Elemente war eine Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld, in deren Rahmen die privaten Gläubiger der Hellenischen Republik einen Beitrag zur Senkung dieser Schuldenlast leisten würden, um auf diese Weise die Situation eines Zahlungsausfalls zu verhindern. Zunächst wurde jedoch u. a. eine etwaige freiwillige Verlängerung der Laufzeiten der von den privaten Gläubigern gehaltenen griechischen Schuldtitel diskutiert.
12 Am 6. Juni 2011 richtete der deutsche Finanzminister ein Schreiben an die EZB, den IWF und die anderen Finanzminister der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets, in dem er einen Tausch von Schuldtiteln empfahl, der die Laufzeiten der von den privaten Gläubigern gehaltenen griechischen Schuldtitel um sieben Jahre verlängern werde.
13 Am 20. Juni 2011 verabschiedete die Euro-Gruppe nach einer Zusammenkunft zur finanziellen Lage der Hellenischen Republik eine Erklärung, in der es u. a. hieß:
„[A]ngesichts der schwierigen finanziellen Lage erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die [Hellenische Republik] bis Anfang 2012 wieder Zugang zum privaten Markt erhält. Die Minister sind darin übereingekommen, dass für die notwendige zusätzliche Finanzierung sowohl auf öffentliche als auch auf private Quellen zurückgegriffen wird, und begrüßen den Ansatz, mit dem eine freiwillige Beteiligung des Privatsektors in Form von informellen und freiwilligen Verlängerungen der aktuellen Verbindlichkeiten [der Hellenischen Republik] bei Fälligkeit angestrebt wird, um eine substanzielle Kürzung der im Rahmen des Programms erforderlichen jährlichen Mittel zu erreichen, wobei jedoch ein teilweiser Zahlungsausfall vermieden werden muss.“
14 Auf seiner Tagung am 23. und 24. Juni 2011 beschäftigte sich der Europäische Rat mit der finanziellen Lage der Hellenischen Republik und stellte hierzu u. a. fest:
„14. Der Europäische Rat ruft die [griechischen] Behörden auf, die notwendigen Anpassungsanstrengungen mit aller Entschlossenheit weiterzuführen, um [den griechischen Staat] auf einen nachhaltigen Pfad zu führen. Es ist dringend erforderlich, dass in den kommenden Tagen ein mit der Kommission in Abstimmung mit der EZB und dem IWF vereinbartes umfassendes Reformpaket endgültig auf den Weg gebracht wird und dass die wichtigsten Gesetze über haushaltspolitische Strategie und Privatisierung vom griechischen Parlament verabschiedet werden. Dies wird entsprechend dem Antrag der griechischen Regierung, der vom griechischen Premierminister angekündigt wurde, die Grundlage dafür bieten, dass die Hauptparameter eines neuen Programms, das von den Partnern im Euro-Währungsgebiet und vom IWF nach der üblichen Praxis gemeinsam unterstützt wird, festgelegt werden und außerdem im Juli [2011] rechtzeitig Zahlungen zur Deckung des … Finanzbedarfs [der Hellenischen Republik] erfolgen können.
15. Die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets sind sich darin einig, dass die erforderlichen zusätzlichen Mittel mit Hilfe sowohl öffentlicher als auch privater Quellen aufgebracht werden müssen. Sie unterstützen das von der Euro-Gruppe am 20. Juni [2011] beschlossene Konzept, wonach eine freiwillige Beteiligung des privaten Sektors in Form einer informellen und freiwilligen Verlängerung der aktuellen griechischen [Staatsschulden] bei Fälligkeit angestrebt wird, um eine substanzielle Kürzung der im Rahmen des Programms erforderlichen jährlichen Mittel zu erreichen, wobei jedoch ein teilweiser Zahlungsausfall vermieden werden muss.“
15 Am 24. Juni 2011 richtete die Fédération bancaire française, ein Verband, der Banken vertritt, die Geschäftstätigkeiten in Frankreich ausüben, ein Schreiben an den Minister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie der Französischen Republik, um u. a. eine Verlängerung der Laufzeit der bestehenden und von privaten Gläubigern gehaltenen griechischen Schuldtitel um 30 Jahre unter der Bedingung vorzuschlagen, dass die EZB sich dazu bereit erkläre, ihre griechischen Schuldtitel während dieses Zeitraums nicht zu verkaufen.
16 In einer Pressemitteilung des Institute for International Finance (IIF) vom 1. Juli 2011 heißt es u. a.:
„Das Direktorium des Institute for International Finance bemüht sich, gemeinsam mit seinen Mitgliedern und den anderen Finanzinstituten, sowie dem öffentlichen Sektor und den hellenischen Behörden, der [Hellenischen Republik] nicht nur einen substanziellen Beitrag zum Cashflow anzubieten, sondern auch die Bedingungen für eine Verbesserung der Schuldnerposition zu schaffen.
Die private Finanzwirtschaft ist angesichts der einmaligen und außergewöhnlichen Umstände bereit, gemeinsam durch freiwillige, transparente und breit angelegte Anstrengungen die [Hellenische Republik] zu unterstützen …
Der Beitrag der privaten Investoren ergänzt die finanzielle Hilfe und die Unterstützung durch die öffentliche Hand und beruht auf einer begrenzten Anzahl von Optionen …“
17 Am 21. Juli 2011 schlug das IIF ein Programm zum Tausch von Schuldtiteln und zur Laufzeitenverlängerung vor. Das Programm sah den Eintausch griechischer Schuldtitel gegen vier verschiedene Instrumente sowie einen vom öffentlichen Sektor festzulegenden Mechanismus zum Rückkauf griechischer Staatsschulden vor, d. h. erstens Tausch von Schuldtiteln zum Nennwert gegen ein Instrument mit 30-jähriger Laufzeit, zweitens Angebot von Schuldtiteln zum Nennwert unter Umwandlung der Schuldtitel bei Fälligkeit in Instrumente mit 30-jähriger Laufzeit, drittens Tausch von Schuldtiteln mit einem Abschlag gegen ein Instrument mit 30-jähriger Laufzeit und viertens Tausch von Schuldtiteln mit einem Abschlag gegen ein Instrument mit 15-jähriger Laufzeit.
18 Am 21. Juli 2011 trafen sich die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der Organe der Union, um über Maßnahmen zur Überwindung der Schwierigkeiten zu beraten, denen das Euro-Währungsgebiet ausgesetzt war.
19 In ihrer Gemeinsamen Erklärung vom 21. Juli 2011 heißt es u. a.:
„1. Wir begrüßen die Maßnahmen, die die [hellenische] Regierung getroffen hat, um die öffentlichen Finanzen zu stabilisieren und die Wirtschaft zu reformieren, sowie das neue Maßnahmenpaket, einschließlich der Privatisierungen, das unlängst vom [hellenischen] Parlament verabschiedet wurde. Es sind dies beispiellose, aber notwendige Anstrengungen, um der griechischen Wirtschaft wieder zu einem nachhaltigen Wachstum zu verhelfen. Uns ist bewusst, welche Anstrengungen diese Anpassungsmaßnahmen für die griechischen Bürgerinnen und Bürger bedeuten, und wir sind überzeugt, dass diese Opfer unumgänglich sind, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, und zur künftigen Stabilität und zum Wohl des Landes beitragen werden.
2. Wir sind uns einig, ein neues Programm für die [Hellenische Republik] zu unterstützen und – zusammen mit dem IWF und dem freiwilligen Beitrag des Privatsektors – die Finanzierungslücke vollständig zu schließen. Der Gesamtbetrag der öffentlichen Finanzierung wird etwa 109 Mrd. Euro betragen. Mit diesem Programm sollen, insbesondere über niedrigere Zinssätze und längere Zurückzahlungsfristen, die Verschuldung auf ein deutlich erträglicheres Niveau gesenkt werden und das Refinanzierungsprofil [der Hellenischen Republik] entscheidend verbessert werden. Wir rufen den IWF auf, weiterhin zur Finanzierung des neuen Programms für [die Hellenische Republik] beizutragen. Wir beabsichtigen, für die nächste Auszahlung die EFSF als Finanzierungsinstrument zu verwenden. Wir werden die strikte Einhaltung des Programms auf der Grundlage der regelmäßigen Beurteilungen der [Europäischen] Kommission in Verbindung mit der EZB und dem IWF sehr eng überwachen.
…
5. Der Finanzsektor hat seine Bereitschaft erklärt, [die Hellenische Republik] auf freiwilliger Basis durch eine Reihe von Optionen zu unterstützen, mit denen die langfristige Tragfähigkeit insgesamt weiter gestärkt wird. Der Beitrag des privaten Sektors wird sich netto auf etwa 37 Mrd. Euro belaufen … Die Bonitätssteigerung wird zur Abstützung der Qualität der Sicherheiten dienen, damit diese weiterhin für den Zugang der griechischen Banken zu Liquiditätsoperationen des Eurosystems genutzt werden können. Sofern erforderlich werden wir angemessene Ressourcen zur Rekapitalisierung griechischer Banken bereitstellen.“
20 Bezüglich der Beteiligung des Privatsektors heißt es in Nr. 6 der Gemeinsamen Erklärung vom 21. Juli 2011:
„Was unser allgemeines Konzept für die Beteiligung des Privatsektors im Euro-Währungsgebiet betrifft, so möchten wir deutlich machen, dass für [die Hellenische Republik] eine außergewöhnliche und einmalige Lösung erforderlich ist.“
21 Am 21. Oktober 2011 veröffentlichte der IWF eine Analyse zur Tragfähigkeit der griechischen Staatsschulden, in der es u. a. hieß:
„Dem Ausbau von PSI (private sector involvement; im Folgenden: Beteiligung des Privatsektors), der jetzt erwogen wird, kommt ebenfalls eine entscheidende Rolle zu, wenn es darum geht, die Verschuldung [der Hellenischen Republik] auf ein erträgliches Niveau zurückzuführen … Um das potenzielle Ausmaß der Verbesserungen des Schuldenpfads und ihre etwaigen Auswirkungen auf die öffentliche Finanzierung zu beurteilen, können illustrative Szenarien unter Verwendung von Discount Bonds mit einer angenommenen Rendite von 6 %, für die keine Sicherheiten hinterlegt wurden, herangezogen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Anwendung von Abschlägen in Höhe von 50 [%] die Verschuldung bis [Ende] 2020 auf ein Niveau gesenkt werden kann, das knapp oberhalb von 120 [%] des BIP liegt. Angesichts des weiterhin verzögerten Zugangs zum Markt wäre eine umfangreiche zusätzliche öffentliche Finanzierung weiter erforderlich. Diese wird auf etwa 114 Mrd. Euro geschätzt (auf der Grundlage der verwendeten Annahmen zum Marktzugang). Um die Schulden weiter abzubauen, wäre es notwendig, die Beteiligung des Privatsektors zu erhöhen (z. B. müsste der Nennwert um mindestens 60 [%] reduziert werden und/oder die Finanzierung des öffentlichen Sektors unter günstigeren Bedingungen erfolgen, um bis 2020 eine Schuldenquote von weniger als 110 [%] des BIP zu erreichen). In einem solchen Fall könnte die erforderliche zusätzliche öffentliche Finanzierung auf etwa 109 Mrd. Euro reduziert werden …“
22 Auf dem Gipfeltreffen vom 26. Oktober 2011 erklärten die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets u. a. Folgendes:
„12. Der Beteiligung des Privatsektors kommt eine zentrale Rolle dabei zu, die Verschuldung [der Hellenischen Republik] auf ein erträgliches Maß zu senken. Wir begrüßen daher die laufenden Beratungen zwischen [der Hellenischen Republik] und [ihren] privaten Investoren im Hinblick auf eine Lösung für eine weiter gehende Beteiligung des Privatsektors. Zusammen mit einem ehrgeizigen Reformprogramm der griechischen Wirtschaft sollte die Beteiligung des Privatsektors eine Senkung der griechischen BIP-Defizitquote mit dem Ziel bewirken, bis 2020 eine Quote von 120 % zu erreichen. Zu diesem Zweck ersuchen wir [die Hellenische Republik], die privaten Investoren und alle beteiligten Parteien, einen freiwilligen Umtausch von Anleihen mit einem nominellen Abschlag von 50 % des Nennwerts der von privaten Investoren gehaltenen griechischen Staatsanleihen auszuarbeiten. Die dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mitgliedstaaten werden einen Beitrag von bis zu 30 Mrd. Euro zur Beteiligung des Privatsektors leisten. Auf dieser Grundlage ist der öffentliche Sektor bereit, bis 2014 eine zusätzliche Programmfinanzierung von bis zu 100 Mrd. Euro bereitzustellen, einschließlich der notwendigen Rekapitalisierung griechischer Banken. Das neue Programm sollte bis Ende 2011 vereinbart werden, und der Anleihentausch sollte Anfang 2012 durchgeführt werden. Wir rufen den IWF auf, weiterhin zur Finanzierung des neuen griechischen Programms beizutragen.“
23 Ausweislich einer Pressemitteilung des hellenischen Finanzministeriums vom 17. November 2011 hatte dieses Verhandlungen mit den Inhabern griechischer Schuldtitel mit dem Ziel aufgenommen, deren freiwilligen Tausch mit einem Abschlag von nominal 50 % auf den Nennwert der von den privaten Anlegern gehaltenen griechischen Schuldtitel, wie in Nr. 12 der Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets vom 26. Oktober 2011 vorgesehen, vorzubereiten.
24 Am 2. Februar 2012 forderte die Hellenische Republik die EZB gemäß Art. 127 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit Art. 282 Abs. 5 AEUV auf, zum Entwurf des griechischen Gesetzes Nr. 4050/2012 über die Einführung von Regeln für die Änderung der Bedingungen für vom griechischen Staat begebene oder garantierte Schuldtitel im Rahmen von Vereinbarungen mit ihren Inhabern, um die griechische Staatsschuld u. a. auf der Grundlage der Anwendung von Umschuldungsklauseln umzustrukturieren, eine Stellungnahme abzugeben.
25 Am 15. Februar 2012 schlossen die EZB und die nationalen Zentralbanken des Euro-Währungsgebiets mit der Hellenischen Republik eine Vereinbarung über den Umtausch der von der EZB und den nationalen Zentralbanken gehaltenen griechischen Schuldtitel gegen neue griechische Schuldtitel mit denselben Nennwerten, Zinssätzen sowie Zins- und Rückzahlungsfälligkeiten wie die zum Tausch anstehenden Titel, aber anderen Kennnummern (ISIN-Codes) und Ausstellungsdaten (im Folgenden: Vereinbarung vom 15. Februar 2012).
26 Am 17. Februar 2012 erließ die EZB ihre Stellungnahme CON/2012/12 über vom griechischen Staat begebene oder garantierte Schuldtitel. Nach dieser Stellungnahme sei es erstens „wichtig …, dass die Mitgliedstaaten sich die Fähigkeit bewahren, ihren Verpflichtungen jederzeit nachzukommen, auch mit Blick auf das Sicherstellen der finanziellen Stabilität“. Zweitens sei „[d]er Fall der Hellenischen Republik … außergewöhnlich und einzigartig“ (Abschnitt 2.1). Drittens sei es Ziel des Gesetzesentwurfs, die Beteiligung des privaten Sektors zu fördern und insbesondere ein Verfahren einzuführen, um in Übereinstimmung mit Umschuldungsklauseln Verhandlungen mit den Inhabern griechischer Schuldtitel und deren Zustimmung zu einem Umtauschangebot durch die Hellenische Republik für ihre Staatsanleihen zu vereinfachen und somit eine eventuelle Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld zu ermöglichen (Abschnitt 2.2). Viertens begrüße die EZB, „dass die Bedingungen eines solchen Umtausches das Ergebnis der Verhandlungen zwischen der Hellenischen Republik und den Vertretern der Anleiheinhaber sind“ (Abschnitt 2.3). Fünftens heißt es: „Die Verwendung von Umschuldungsklauseln als ein Verfahren, einen Umtausch von Anleihen zu erreichen, stimmt weitgehend mit der allgemeinen Praxis überein …“ (Abschnitt 2.4). Sechstens bleibe es „die alleinige Verantwortung der Regierung der Hellenischen Republik …, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, die letztlich ihre Schuldentragfähigkeit gewährleisten“ (Abschnitt 2.6).
27 Nach Abschluss der Verhandlungen wurden in einer Pressemitteilung des hellenischen Finanzministeriums vom 21. Februar 2012 zum einen die wesentlichen Merkmale des geplanten freiwilligen Tauschgeschäfts hinsichtlich der griechischen Schuldtitel, das als Beteiligung des Privatsektors bezeichnet wurde, bekannt gegeben und zum anderen die Ausarbeitung und der Erlass eines entsprechenden Gesetzes angekündigt. Das Tauschgeschäft sollte ein Zustimmungsersuchen sowie eine an die privaten Inhaber bestimmter griechischer Schuldtitel gerichtete Aufforderung enthalten, diese Titel gegen neue Titel mit einem Nennwert von 31,5 % des Wertes der umgetauschten Schuldtitel sowie gegen von der EFSF emittierte Titel mit einer Laufzeit von 24 Monaten und einem Nennwert von 15 % des Wertes der umgetauschten Schuldtitel zu tauschen, wobei die einzelnen Titel von der Hellenischen Republik bei Abschluss der Vereinbarung bereitgestellt werden sollten. Jeder an diesem Tauschgeschäft teilnehmende private Anleger sollte zudem frei abtrennbare Sicherheiten der Hellenischen Republik erhalten, die an das BIP gebunden sind und denselben Nennwert wie die neuen Schuldtitel haben.
28 In der Erklärung der Euro-Gruppe vom selben Tag heißt es u. a.:
„Die Euro-Gruppe bekundet ihre Anerkennung der zwischen den griechischen Behörden und dem Privatsektor erzielten Einigung über die allgemeinen Bedingungen für ein Angebot zum Anleihetausch, das sämtliche privaten Anleihegläubiger umfasst. Diese Einigung sieht einen Schuldenschnitt in Höhe von 53,5 % des Nennwerts vor. Nach Auffassung der Euro-Gruppe stellt diese Einigung eine geeignete Grundlage für die Vorlage eines Tauschangebots an die Gläubiger griechischer Staatsanleihen dar (Beteiligung des Privatsektors). Die erfolgreiche Beteiligung des Privatsektors ist eine notwendige Voraussetzung für ein Nachfolgeprogramm. Die Euro-Gruppe erwartet eine hohe Beteiligung der privaten Gläubiger an dem Anleihetausch, was einen wichtigen positiven Beitrag zur Schuldentragfähigkeit [der Hellenischen Republik] leisten dürfte.
…
Die Euro-Gruppe stellt fest, dass die Bestände des Eurosystems an griechischen Staatsanleihen zu Zwecken der öffentlichen Ordnung gehalten werden. Die Euro-Gruppe nimmt zur Kenntnis, dass die aus dem Bestand des Eurosystems an griechischen Staatsanleihen erzielten Erträge zum Gewinn der EZB und der nationalen Notenbanken beitragen. Der Gewinn der EZB wird gemäß ihren gesetzlichen Bestimmungen zur Gewinnausschüttung an die nationalen Notenbanken ausgezahlt. Die Gewinne der nationalen Notenbanken werden gemäß ihren gesetzlichen Bestimmungen zur Gewinnausschüttung an die Mitgliedstaaten des Euro‐Währungsgebiets ausgezahlt.
…
Die entsprechenden Beiträge des öffentlichen und privaten Sektors sollen sicherstellen, dass die Schuldenquote [der Hellenischen Republik] kontinuierlich zurückgeführt wird und bis 2020 bei 120,5 % des BIP liegt. Auf dieser Grundlage und unter der Voraussetzung, dass die Programmauflagen kontinuierlich erfüllt werden, bestätigt die Euro-Gruppe, dass die Länder des Euro-Währungsgebiets bereit sind, über die EFSF bis 2014 eine zusätzliche finanzielle Unterstützung von bis zu 130 Mrd. Euro zu gewähren, wobei sie davon ausgehen, dass der IWF einen erheblichen Beitrag leisten wird.
Es wird davon ausgegangen, dass Auszahlungen für die Beteiligung des Privatsektors und der endgültige Beschluss zur Genehmigung der Sicherheiten für das [neue] Programm unter der Voraussetzung erfolgen, dass die Beteiligung des Privatsektors erfolgreich ist und die Euro-Gruppe auf der Grundlage der Beurteilung durch die Troika bestätigt, dass die vereinbarten Vorabmaßnahmen von der [Hellenischen Republik] rechtlich umgesetzt wurden. Der öffentliche Sektor wird Anfang März, sobald die Ergebnisse der Beteiligung des Privatsektors bekannt sind und die Vorabmaßnahmen umgesetzt wurden, über den genauen Betrag der finanziellen Unterstützung entscheiden, der im Rahmen des [neuen] griechischen Programms bereitzustellen ist.
Wir bekräftigen unsere Entschlossenheit, die [Hellenische Republik] während der Dauer des Programms und darüber hinaus angemessen zu unterstützen, bis sie den Zugang zu den Märkten wiedererlangt hat, unter der Voraussetzung, dass sie die Anforderungen und Ziele des Anpassungsprogramms vollumfänglich erfüllt.“
29 Am 23. Februar 2012 erließ das hellenische Parlament die Nomós 4050/2012, Kanones tropopoiiseos titlon, ekdoseos i engyiseos tou Ellinikou Dimosiou me symfonia ton Omologiouchon (Gesetz Nr. 4050/2012 über die Änderung von vom griechischen Staat begebenen oder garantierten Anleihen mit der Zustimmung ihrer Inhaber und zur Einführung von Umschuldungsklauseln) (FEK A’ 36). Nach diesen Umschuldungsklauseln sollten die vorgeschlagenen Änderungen für alle Inhaber von dem hellenischen Recht unterliegenden und vor dem 31. Dezember 2011 begebenen Schuldtiteln, wie sie im Beschluss des griechischen Ministerrats über die Genehmigung der Aufforderungen zur Beteiligung des Privatsektors genannt wurden, rechtlich bindend werden, wenn die Änderungen kollektiv und ungeachtet der verschiedenen Serien von einem Quorum von Schuldtitelinhabern genehmigt würden, die zusammen mindestens zwei Drittel des Nennwerts der an den Umschuldungsklauseln teilnehmenden Titel vertreten. Ferner heißt es in der Präambel des Gesetzes u. a., dass „die [EZB] und die anderen Mitglieder des Eurosystems mit der [Hellenischen Republik] besondere Vereinbarungen geschlossen haben, um zu vermeiden, dass ihre Aufgabe und ihre institutionelle Rolle sowie die Rolle der [EZB] bei der Gestaltung der Geldpolitik, wie sie sich aus dem Vertrag ergeben, gefährdet werden“.
30 In einer Pressemitteilung vom 24. Februar 2012 erläuterte das hellenische Finanzministerium die Voraussetzungen für den freiwilligen Tausch von Schuldtiteln unter Beteiligung des Privatsektors mit einem Nennwert von ungefähr 206 Mrd. Euro und verwies in diesem Zusammenhang auf das Gesetz Nr. 4050/2012.
31 Das Angebot zum freiwilligen Tausch von Schuldtiteln galt bis zum 8. März 2012.
32 In einer Pressemitteilung vom 9. März 2012 stellte das hellenische Finanzministerium fest, dass die im Gesetz Nr. 4050/2012 bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt seien, und gab bekannt, in welchem Verhältnis die privaten Gläubiger das Umtauschangebot angenommen hatten.
33 Hierzu wurde u. a. ausgeführt:
„[D]ie Inhaber von Anleihen mit einer Kapitalsumme von ungefähr 172 Mrd. Euro, die von der [Hellenischen] Republik emittiert worden waren oder garantiert sind, haben ihre Schuldtitel zum Umtausch eingereicht oder geplanten Änderungen aufgrund von entsprechenden Aufforderungen oder Zustimmungsersuchen der [Hellenischen] Republik vom 24. Februar 2012 zugestimmt.
Bezüglich der Schuldtitel mit einer Kapitalsumme von ungefähr 177 Mrd. Euro, die von der [Hellenischen] Republik ausgegeben worden waren, dem griechischen Recht unterliegen und Gegenstand der Aufforderungen sind, sind bei der [Hellenischen] Republik Angebote zum Umtausch sowie Zustimmungen von Inhabern von Schuldtiteln mit einem Nennwert von ungefähr 152 Mrd. Euro eingegangen, was 85,8 % des ausstehenden Nennwerts dieser Titel entspricht. Inhaber von 5,3 % des ausstehenden Nennwerts dieser Titel haben auf die Zustimmungsersuchen reagiert und die vorgeschlagenen Änderungen abgelehnt. Die [Hellenische] Republik hat ihren Gläubigern des öffentlichen Sektors mitgeteilt, dass sie nach Bestätigung und Bescheinigung der [Hellenischen Zentralbank] in deren Eigenschaft als Verfahrensverwalter gemäß dem griechischen Gesetz Nr. 4050/2012 beabsichtige, die eingegangenen Zustimmungen zu akzeptieren und die Bedingungen aller ihrer dem griechischen Recht unterliegenden Schuldtitel, einschließlich derjenigen, die nicht zum Umtausch nach Maßgabe des vorgenannten Gesetzes eingereicht worden sind, zu ändern. Dementsprechend wird die [Hellenische] Republik den Aufforderungszeitraum für ihre dem griechischen Recht unterliegenden Anleihen nicht verlängern.
… Werden die Zustimmungen zu den geplanten Änderungen der dem griechischen Recht unterliegenden Schuldtitel erteilt, wird sich der Gesamtnennwert der umzutauschenden Titel und der sonstigen [einem anderen Recht als dem griechischen Recht unterliegenden,] von den Aufforderungen erfassten Anleihen, für die die Hellenische Republik Umtauschangebote sowie Zustimmungen zu den geplanten Änderungen erhalten hat, auf insgesamt ungefähr 197 Mrd. Euro, also 95,7 % des Gesamtnennwerts der von den Aufforderungen erfassten Schuldtitel, belaufen.“
34 Die Kläger, QI und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten natürlichen Personen, nahmen als Inhaber griechischer Schuldtitel an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld aufgrund der Beteiligung des Privatsektors und der gemäß dem Gesetz Nr. 4050/2012 durchgeführten Umschuldungsklauseln teil, nachdem sie ihren Aussagen zufolge das Angebot zum Umtausch ihrer Schuldtitel abgelehnt hatten.
[nicht wiedergegeben]
Rechtliche Würdigung
Zur Zurechenbarkeit der streitigen Verhaltensweisen für die Zwecke der außervertraglichen Haftung der Union und der EZB
Zu den Voraussetzungen der außervertraglichen Haftung der Union und der EZB
45 Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union im Bereich der außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Ebenso ersetzt die EZB nach Art. 340 Abs. 3 AEUV den durch sie oder ihre Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.
46 Die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB im Sinne dieser Bestimmungen hängt vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen ab, nämlich der Rechtswidrigkeit des dem Unionsorgan oder der EZB vorgeworfenen Verhaltens, dem tatsächlichen Bestehen des Schadens und der Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Verhalten des Unionsorgans oder der EZB und dem geltend gemachten Schaden (vgl. Urteil vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung; Urteile vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 79, und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 68).
47 Ferner besteht die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB nicht, wenn nicht alle Voraussetzungen, von denen die in Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV bestimmte Schadensersatzpflicht abhängt, erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2008, FIAMM u. a./Rat und Kommission, C‑120/06 P und C‑121/06 P, EU:C:2008:476, Rn. 165 und 166; Beschluss vom 12. März 2020, EMB Consulting u. a./EZB, C‑571/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:208, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Die von den nationalen Behörden verursachten Schäden können dagegen nur die Haftung dieser nationalen Behörden auslösen, und die nationalen Gerichte allein bleiben dafür zuständig, für den Ersatz dieser Schäden zu sorgen. Um festzustellen, ob die Unionsgerichte zuständig sind, ist folglich zu prüfen, ob der Rechtsverstoß, der zur Begründung des Schadensersatzantrags geltend gemacht wird, tatsächlich von einem Unionsorgan ausgeht und nicht als einer nationalen Behörde zurechenbar angesehen werden kann (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 106 und 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Insoweit muss es sich bei dem beanstandeten Verhalten, damit es der Union zugerechnet werden kann, um ein Verhalten eines „Organs“ im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV handeln, was nicht nur die in Art. 13 Abs. 1 EUV aufgeführten Organe der Union umfasst, sondern auch alle Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, die mit den Verträgen oder kraft der Verträge errichtet wurden und zur Verwirklichung der Ziele der Union beitragen sollen (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Im vorliegenden Fall werfen die Kläger mehreren Organen, Einrichtungen und Stellen der Union, zu denen sie die Kommission, die EZB, den Europäischen Rat, den Rat, die Euro-Gruppe, das Eurosystem und die EIB zählen, unerlaubte Verhaltensweisen vor, die mit der Beteiligung des Privatsektors und der Aktivierung der Umschuldungsklauseln (im Folgenden: beanstandete Maßnahmen) sowie dem Ausschluss öffentlicher Gläubiger von der Beteiligung an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld verbunden seien und ihrer Meinung nach entweder der Union oder der EZB zuzurechnen sind.
[nicht wiedergegeben]
Würdigung durch das Gericht
71 Vorab ist festzustellen, dass die fehlende Rechtsverbindlichkeit u. a. der Erklärungen der Euro-Gruppe oder des Europäischen Rates oder einer Stellungnahme der EZB für sich genommen nicht ausreicht, um die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB für das Verhalten eines der Unionsorgane oder der EZB im Sinne der oben in Rn. 46 angeführten Rechtsprechung von vornherein auszuschließen, da nach ständiger Rechtsprechung jedes Verhalten, das einem Schaden zugrunde liegt, diese Haftung begründen kann. Könnte nämlich ein Unionsgericht nicht die Rechtmäßigkeit des Verhaltens eines Organs oder einer Einrichtung der Union prüfen, wäre dem in Art. 268 und Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV vorgesehenen Verfahren seine praktische Wirksamkeit entzogen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2004, Bürgerbeauftragter/Lamberts, C‑234/02 P, EU:C:2004:174, Rn. 50 bis 52, 60 und 61, und vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). Infolgedessen können sich die Kommission und die EZB nicht auf die vor dem Urteil vom 23. März 2004, Bürgerbeauftragter/Lamberts (C‑234/02 P, EU:C:2004:174), ergangene Rechtsprechung berufen, nach der Schadensersatzklagen nur deswegen als unzulässig zurückgewiesen wurden, weil der geltend gemachte Rechtsverstoß mit einer Handlung verbunden war, die keine Rechtswirkungen erzeugte (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Was zudem als Erstes die Natur und die Wirkungen der Erklärungen der Euro-Gruppe vom 20. Juni 2011 und 21. Februar 2012 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Euro-Gruppe förmlich durch die Entschließung des Europäischen Rates von 13. Dezember 1997 über die wirtschaftspolitische Koordinierung in der dritten Stufe der WWU und zu den Artikeln 109 und 109b des EG-Vertrags (ABl. 1998, C 35, S. 1) eingerichtet wurde, wonach „[d]ie Minister der dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Staaten … sich in informellem Rahmen treffen [können], um Fragen zu erörtern, die im Zusammenhang mit ihrer gemeinsam getragenen besonderen Verantwortung für die gemeinsame Währung stehen“, und „[d]ie Kommission, und gegebenenfalls die [EZB], … zu den Zusammenkünften eingeladen [werden]“ (Ziff. 6). Die Euro-Gruppe wurde als zwischenstaatliche Einrichtung außerhalb des institutionellen Rahmens der Union geschaffen, die es den Ministern der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (im Folgenden: Euro-Länder), erlauben sollte, ihre Standpunkte zu Fragen bezüglich ihrer gemeinsamen Verantwortung für die gemeinsame Währung auszutauschen und abzustimmen. Sie fungiert somit als Bindeglied zwischen der innerstaatlichen Ebene und der Ebene der Union zu Zwecken der Abstimmung der Wirtschaftspolitiken der Euro-Länder (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 84).
73 Die Euro-Gruppe zählt nämlich nicht zu den verschiedenen Zusammensetzungen des Rates, die in Anhang I seiner durch den Beschluss 2009/937/EU des Rates vom 1. Dezember 2009 (ABl. 2009, L 325, S. 35) erlassenen Geschäftsordnung aufgezählt sind und deren Liste in Art. 16 Abs. 6 EUV genannt wird. Folglich kann die Euro-Gruppe weder einer Formation des Rates gleichgestellt werden noch als eine Einrichtung oder sonstige Stelle der Union angesehen werden. Vielmehr ist die Euro-Gruppe durch ihre informelle Natur gekennzeichnet, die sich durch den Zweck ihrer Gründung erklärt, die Wirtschafts- und Währungsunion mit einem zwischenstaatlichen Koordinierungsinstrument auszustatten, ohne jedoch die Rolle des Rates als Angelpunkt des Entscheidungsprozesses auf Unionsebene im wirtschaftlichen Bereich oder die Unabhängigkeit der EZB zu beeinträchtigen. Ebenso wenig hat der Umstand, dass die Kommission und die EZB u. a. gemäß Art. 137 AEUV und dem Protokoll Nr. 14 betreffend die Euro-Gruppe an den Sitzungen der Euro-Gruppe teilnehmen, Auswirkungen auf die zwischenstaatliche Natur der Euro-Gruppe oder die Natur ihrer Erklärungen, die nicht als Ausdruck einer Entscheidungsbefugnis dieser zwei Unionsorgane angesehen werden können. Somit verfügt die Euro-Gruppe in der Unionsrechtsordnung über keine eigenen Befugnisse, da Art. 1 des Protokolls Nr. 14 lediglich vorsieht, dass ihre Sitzungen bei Bedarf abgehalten werden, um Fragen im Zusammenhang mit der gemeinsamen spezifischen Verantwortung der Minister der Euro-Länder im Bereich der einheitlichen Währung zu erörtern. Diese Verantwortung obliegt ihnen allerdings allein aufgrund ihrer Zuständigkeit auf innerstaatlicher Ebene (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2016, Mallis u. a./Kommission und EZB, C‑105/15 P bis C‑109/15 P, EU:C:2016:702, Rn. 57 und 61, und vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 87 bis 89).
74 Folglich können die Erklärungen der Euro-Gruppe vom 20. Juni 2011 und 21. Februar 2012 unabhängig von ihrem Inhalt und ihren etwaigen Auswirkungen weder der Union noch der EZB zugerechnet werden, so dass das Gericht nicht für die Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit, einschließlich im Rahmen einer Schadensersatzklage, zur Beurteilung einer etwaigen außervertraglichen Haftung zuständig ist.
75 Als Zweites gelten die vorstehenden Erwägungen zu den Erklärungen der Euro-Gruppe aufgrund ihrer zwischenstaatlichen Natur entsprechend und erst recht für die Gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets auf ihrem Gipfeltreffen vom 26. Oktober 2011 (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in den verbundenen Rechtssachen Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:390, Nr. 81). Folglich kann diese Erklärung nicht als Unionshandlung oder als eine der Union zurechenbare Handlung angesehen werden, so dass das Gericht auch nicht für die Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit zur Beurteilung einer etwaigen außervertraglichen Haftung zuständig ist.
76 Als Drittes ist es zwar zutreffend, dass die Gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der Organe der Europäischen Union vom 21. Juli 2011 über den rein zwischenstaatlichen Rahmen der oben in den Rn. 72 bis 75 genannten Erklärungen hinausgeht, da sie die Teilnahme dieser Organe beinhaltet. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Erklärung zumindest zum Teil der Union zuzurechnen ist. Der Inhalt der Erklärung beschränkt sich jedoch auf die Bekräftigung des Willens der Gipfelteilnehmer, das neue Finanzhilfeprogramm für die Hellenische Republik zu „unterstützen“ und „zusammen mit dem IWF und dem freiwilligen Beitrag des Privatsektors [ihre] Finanzierungslücke vollständig zu schließen“ (Nr. 2). Zudem wird in Nr. 5 der Erklärung u. a. zur Kenntnis genommen, dass „der Finanzsektor“ seine Bereitschaft erklärt habe, die Hellenische Republik „auf freiwilliger Basis“ zu „unterstützen“, wobei der „Beitrag des privaten Sektors … netto auf etwa 37 Mrd. Euro“ geschätzt wird. In Bezug auf die Beteiligung des Privatsektors wird in Nr. 6 der Erklärung festgestellt, dass für die Hellenische Republik „eine außergewöhnliche und einmalige Lösung erforderlich ist“. Somit enthält die Erklärung keinen Hinweis auf eine etwaige „erzwungene“ Beteiligung privater Inhaber griechischer Schuldtitel an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld, mit der sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Erklärung und dem von den Klägern geltend gemachten Schaden herstellen ließe. Erst recht kann ihr keine Bindungswirkung im Sinne einer der Hellenischen Republik erteilten rechtsverbindlichen Verpflichtung oder gar Anweisung, die beanstandeten Maßnahmen durchzuführen, zugeschrieben werden. Jedenfalls schließt das Fehlen einer solchen Weisung nicht aus, dass der Hellenischen Republik politische und sogar rechtliche Verpflichtungen im Sinne des Völkerrechts gegenüber einigen ihrer Gläubiger, insbesondere den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und dem IWF, aufgrund von bi- oder multilateralen zwischenstaatlichen Vereinbarungen (vgl. u. a. die Vereinbarungen, die in den Rn. 7, 10 und 11 des Urteils vom 3. Mai 2017, Sotiropoulou u. a./Rat, T‑531/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:297, genannt sind) oblagen, die nicht in die Zuständigkeit des Gerichts fallen und deren Rechtmäßigkeit von den Klägern im vorliegenden Fall nicht bestritten wird, auch wenn sie sich auf die Ausübung des Ermessens durch den griechischen Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes Nr. 4050/2012 erheblich ausgewirkt haben können.
77 Somit konnte die Gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der Organe der Europäischen Union vom 21. Juli 2011 unabhängig davon, ob sie der Union zuzurechnen war, keine außervertragliche Haftung der Union begründen.
78 Was als Viertes die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 23. und 24. Juni 2011 betrifft, ergibt sich aus der Eigenschaft dieses Organs im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 zweiter Gedankenstrich EUV in Verbindung mit Art. 15 EUV, dass seine Handlungen und Tätigkeiten grundsätzlich der Union zugerechnet werden können und somit ihre außervertragliche Haftung auslösen können. Diese Beurteilung nimmt jedoch nicht die Entscheidung über die Rechtsnatur der Handlungen vorweg, die der Europäische Rat u. a. nach Art. 15 Abs. 4 EUV vornimmt und denen nach Ansicht der Kläger die Bedeutung von „Entscheidungen“ zukommt. Die Kommission, die EZB, der Europäische Rat und der Rat machen zu Recht geltend, dass der Inhalt der Schlussfolgerungen nicht erkennen lässt, dass ihnen die Bedeutung einer Entscheidung oder gar Rechtsverbindlichkeit zukommt und sie insofern die Hellenische Republik zur Durchführung der beanstandeten Maßnahmen verpflichtet hätten. Zum einen beschränkt sich der Europäische Rat in Nr. 14 darauf, „die [griechischen] Behörden auf[zurufen], die notwendigen Anpassungsanstrengungen mit aller Entschlossenheit weiterzuführen, um [den griechischen Staat] auf einen nachhaltigen Pfad zu führen“ und das griechische Parlament aufzufordern, „die wichtigsten Gesetze über haushaltspolitische Strategie und Privatisierung“, somit nicht die gesetzlichen Bestimmungen zur Beteiligung des Privatsektors, die im Gesetz Nr. 4050/2012 geregelt sind, als Grundlage für die Durchführung des neuen Finanzhilfeprogramms für die Hellenische Republik zu verabschieden. Zum anderen schließt sich der Europäische Rat in Nr. 15 nur dem Standpunkt der Euro-Gruppe in ihrer Erklärung vom 20. Juni 2011 an, insbesondere in Bezug auf eine Form der freiwilligen Beteiligung des Privatsektors, die sich von der beanstandeten Beteiligung des Privatsektors unterscheidet. Angesichts der Ausführungen oben in Rn. 71 können diese Erwägungen für sich genommen jedoch nicht dazu führen, dass die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 23. und 24. Juni 2011 von einer Überprüfung durch das Gericht nach Art. 268 AEUV in Verbindung mit Art. 340 Abs. 2 AEUV von vornherein ausgenommen werden.
79 Was als Fünftes die etwaige Haftung der Union für eine Verletzung der Überwachungspflicht der Kommission nach Art. 17 Abs. 1 EUV betrifft, können die Betroffenen gegen den Rat, die Kommission und die EZB wegen Rechtsakten oder Handlungen, die diese Unionsorgane im Anschluss an politische Vereinbarungen, die im Rahmen der Euro-Gruppe geschlossen wurden, erlassen oder vorgenommen haben, vor den Unionsgerichten die außervertragliche Haftung der Union geltend machen (Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 93). Insoweit geht nämlich aus Art. 17 Abs. 1 EUV hervor, dass die Kommission „die allgemeinen Interessen der Union [fördert]“ und „die Anwendung des Unionsrechts [überwacht]“ (Urteile vom 27. November 2012, Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 163, und vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 57). Die Kommission behält also im Rahmen ihrer Teilnahme an den Tätigkeiten der Euro-Gruppe ihre Rolle als Hüterin der Verträge. Daraus ergibt sich, dass ihre etwaige Untätigkeit bei der Kontrolle der Vereinbarkeit der innerhalb der Euro-Gruppe geschlossenen politischen Vereinbarungen mit dem Unionsrecht die außervertragliche Haftung der Union nach Art. 340 Abs. 2 AEUV auslösen kann (Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 96).
80 Aufgrund ihrer Pflicht zur Überwachung des Unionsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 EUV, wie sie in den Rn. 57 und 59 des Urteils vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB (C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701), anerkannt und in Rn. 96 des Urteils vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a. (C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028), bestätigt worden ist, obliegt der Kommission nämlich keine allgemeine Pflicht, Unionsrechtsverstöße anderer Organe, Einrichtungen und Stellen der Union zu verhindern, was einer Ergebnispflicht gleichkäme (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in den verbundenen Rechtssachen Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:290, Nrn. 69 und 71). Insoweit hat sich der Gerichtshof in Rn. 59 des Urteils vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB (C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701), auf die Feststellung beschränkt, dass die Kommission aufgrund ihrer Rolle als Hüterin der Verträge, wie sie sich aus Art. 17 Abs. 1 EUV ergibt, davon Abstand nehmen müsste, ein Memorandum of Understanding zu unterzeichnen, dessen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sie bezweifelt. Im Licht dieser Erwägung hat der Gerichtshof in Rn. 67 desselben Urteils festgestellt, dass die Kommission nach Art. 17 Abs. 1 EUV, der ihr die allgemeine Aufgabe überträgt, die Anwendung des Unionsrechts zu überwachen, sicherstellen muss, dass ein solches Memorandum of Understanding mit den in der Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist, was sich somit nur auf das Verhalten der Kommission und nicht auf das Verhalten anderer Organe oder sonstiger Stellen der Union und erst recht nicht auf das Verhalten eines zwischenstaatlichen Gremiums wie der Euro-Gruppe beziehen kann. So ist der Gerichtshof in Rn. 68 des Urteils zur Frage übergegangen, ob die Kommission selbst zu einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Eigentumsrecht der Rechtsmittelführer in diesen anderen Rechtssachen beigetragen hatte. Im gleichen Sinne hat der Gerichtshof in den Rn. 95 und 96 des Urteils vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a. (C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028), aus dieser Rechtsprechung gefolgert, dass die etwaige „Untätigkeit“ der Kommission bei der Kontrolle der Vereinbarkeit bestimmter innerhalb der Euro-Gruppe geschlossener politischer Vereinbarungen mit dem Unionsrecht die außervertragliche Haftung der Union nach Art. 340 Abs. 2 AEUV auslösen kann.
81 Diese fehlende Ergebnispflicht wird dadurch untermauert, dass es der Kommission im Rahmen ihrer Überwachungspflicht nach Art. 17 Abs. 1 EUV nicht möglich ist, den Erlass einer Maßnahme eines Gremiums, das sich – wie die Euro-Gruppe – außerhalb des institutionellen Rahmens der Union befindet, aktiv zu verhindern, und erst recht nicht den Erlass einer Handlung, deren Existenz nicht bewiesen ist, wie die angebliche Entscheidung oder Weisung der Euro-Gruppe (siehe oben, Rn. 76).
82 Als Sechstes gelten diese Überlegungen entsprechend für die EZB, soweit sie an den Gesprächen über das neue Finanzhilfeprogramm für die Hellenische Republik beteiligt war. Gemäß dem EFSF‑Rahmenvertrag und Art. 1 Satz 4 des Protokolls Nr. 14, wonach „[d]ie [EZB] … zu [den informellen] Sitzungen [der Minister der Euro-Länder] eingeladen [wird]“, die u. a. die Analyse zur Tragfähigkeit der griechischen Staatsschulden betrafen, hatte die EZB in diesem zwischenstaatlichen Rahmen nämlich nur eine beratende Funktion inne. Wie allerdings im Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB (T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 68 bis 72), festgestellt worden ist, konnte die Stellungnahme der EZB vom 17. Februar 2012, die nach Art. 127 Abs. 4 und Art. 282 Abs. 5 AEUV in Verbindung mit der Entscheidung 98/415/EG des Rates vom 29. Juni 1998 über die Anhörung der EZB durch die nationalen Behörden zu Entwürfen für Rechtsvorschriften (ABl. 1998, L 189, S. 42) verabschiedet wurde, grundsätzlich, auch wenn sie für die griechischen Behörden nicht rechtsverbindlich war, die außervertragliche Haftung der EZB begründen, sofern ihr weites Ermessen gemäß den Art. 127 und 282 AEUV und Art. 18 der ESZB-Satzung berücksichtigt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne entsprechend auch Urteil vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 73, 91 und 93).
83 Schließlich geht aus der oben in Rn. 71 angeführten Rechtsprechung hervor, dass die Handlungen, Verhaltensweisen oder Untätigkeiten der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, wie sie von den Klägern beanstandet werden, d. h. insbesondere die Handlungen, Verhaltensweisen oder Untätigkeit des Eurosystems, der EZB, der EIB, der Kommission, des Rates und des Europäischen Rates, grundsätzlich die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB begründen können, unabhängig davon, ob sie rechtsverbindlich sind oder nicht.
84 Diese Handlungen, Verhaltensweisen oder Untätigkeiten betreffen erstens das geltend gemachte Entstehen einer Verpflichtung zur „Konsultation“ der öffentlichen Gläubiger der Hellenischen Republik im weiteren Sinne, soweit diese die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einschließen, zweitens die Stellungnahme der EZB vom 17. Februar 2012, drittens die fehlende Beteiligung des Eurosystems, einschließlich der EZB, und sonstiger institutioneller Gläubiger an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld, u. a. aufgrund der Durchführung der Vereinbarung vom 15. Februar 2012, die bereits Gegenstand der Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB (T‑79/13, EU:T:2015:756), und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB (T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21), gewesen ist, und viertens den Umstand, dass die Unionsorgane keine Maßnahmen erlassen haben, um einen Verstoß gegen Unionsprimärrecht im Sinne der Urteile vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB (C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 56 bis 58 und 68), und vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a. (C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 96), zu verhindern.
85 Somit ist zu prüfen, ob diese verschiedenen Handlungen, Verhaltensweisen oder Untätigkeiten hinreichend qualifizierte Verstöße gegen unionsrechtliche Bestimmungen darstellen, die dem Einzelnen Rechte verleihen.
86 Soweit die Klage jedoch in diesem Zusammenhang Handlungen, Verhaltensweisen oder Untätigkeiten der Euro-Gruppe und der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets betrifft, ist das Gericht nicht für die Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit zuständig.
Zur ersten Rüge der Rechtswidrigkeit: Ultra-vires-Charakter der beanstandeten Maßnahmen und hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die Art. 120 bis 127 AEUV und Art. 352 Abs. 1 AEUV
[nicht wiedergegeben]
89 Die vorliegende Rüge stützt sich u. a. auf die Annahme, dass die Bestimmungen, gegen die verstoßen worden sein soll, unionsrechtliche Vorschriften darstellen, die dem Einzelnen Rechte verleihen.
90 In diesem Zusammenhang ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die praktische Wirksamkeit der Voraussetzung der Verletzung einer Rechtsvorschrift, die dem Einzelnen Rechte verleiht, nur dann gewährleistet werden kann, wenn der durch die geltend gemachte Bestimmung verliehene Schutz tatsächlich gegenüber der Person, die sich auf ihn beruft, besteht und diese Person somit zu denen gehört, denen die in Rede stehende Bestimmung Rechte verleiht. Eine Bestimmung, die nicht den Einzelnen gegen die von ihm gerügte Rechtswidrigkeit schützt, sondern einen anderen Einzelnen, kann keinen Schadensersatzanspruch eröffnen. Zum anderen bezweckt eine Rechtsnorm, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, wenn sie ihm einen Vorteil verschafft, der als wohlerworbenes Recht einzustufen ist, wenn sie die Interessen Einzelner schützen soll oder wenn sie dem Einzelnen Rechte verleiht, deren Inhalt hinreichend bestimmt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 77 und 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Es ist jedoch festzustellen, dass keine der geltend gemachten Bestimmungen von Art. 120 bis 127 AEUV, Art. 282 Abs. 2 AEUV und Art. 352 Abs. 1 AEUV eine unionsrechtliche Vorschrift darstellt, die den Klägern Rechte verleiht, auf die sie sich zur Stützung der vorliegenden Rüge der Rechtswidrigkeit mit Erfolg berufen können.
92 Erstens beschränken sich die Art. 120 und 121 AEUV nämlich darauf, die originäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Wirtschaftspolitik anzuerkennen und gleichzeitig Verfahren zur Koordinierung ihrer Wirtschaftspolitik vorzusehen, doch enthalten sie keine hinreichend klare, präzise und unbedingte Bestimmung, aus der sich subjektive Rechte der Kläger ergeben könnten, die sie vor den Unionsgerichten oder den nationalen Gerichten geltend machen könnten (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 65 und 66, und Beschluss vom 22. März 2010, SPM/Rat und Kommission, C‑39/09 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:157, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gleiches gilt für die Bestimmungen von Art. 122 AEUV, die den Rat ermächtigen, zum einen der Wirtschaftslage angemessene Maßnahmen zu beschließen, insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten (Abs. 1), und zum anderen einem Mitgliedstaat, der aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren (Abs. 2).
93 Zweitens enthält Art. 123 Abs. 1 AEUV zwar ein an das ESZB gerichtetes klares, präzises und unbedingtes Verbot, staatlichen Stellen jedwede direkte finanzielle Unterstützung (Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten) zu gewähren oder unmittelbar von den Mitgliedstaaten „Schuldtitel“ zu erwerben, ohne indessen in allgemeiner Weise die für das Eurosystem bestehende Möglichkeit auszuschließen, von Gläubigern eines solchen Staates Schuldtitel zu erwerben, die dieser Staat zuvor ausgegeben hat und die auf dem Sekundärmarkt gehandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. November 2012, Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 132; vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 95, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 103 und 106). Gleiches gilt für Art. 125 Abs. 1 AEUV, wonach die Union nicht für die Verbindlichkeiten staatlicher Stellen haftet und nicht für derartige Verbindlichkeiten eintritt.
94 Da sowohl Art. 123 Abs. 1 AEUV als auch Art. 125 Abs. 1 AEUV ebenso wie Art. 124 AEUV (siehe unten, Rn. 98 und 99) ausschließlich einem im Allgemeininteresse liegenden Ziel dienen, sind diese Bestimmungen nicht dafür vorgesehen, Einzelnen Rechte zu verleihen im Sinne der oben in Rn. 90 dargelegten Rechtsprechung.
95 Das in Art. 123 Abs. 1 AEUV festgelegte Verbot geht nämlich auf Art. 104 EG-Vertrag (später Art. 101 EG) zurück, der mit dem Maastrichter Vertrag in den EG-Vertrag eingefügt wurde. Wie der Entstehungsgeschichte des Vertrags von Maastricht zu entnehmen ist, soll Art. 123 AEUV die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, eine gesunde Haushaltspolitik zu befolgen, indem vermieden wird, dass eine monetäre Finanzierung öffentlicher Defizite oder ein bevorrechtigter Zugang der öffentlichen Hand auf den Finanzmärkten zu einer übermäßigen Verschuldung oder überhöhten Defiziten der Mitgliedstaaten führt (vgl. den Entwurf eines Vertrages zur Änderung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Hinblick auf die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 2/91, S. 22 und 52). Daher dürfen Ankäufe an dem Sekundärmarkt nicht eingesetzt werden, um das mit Art. 123 AEUV verfolgte Ziel zu umgehen, wie im siebten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in [Art. 123 AEUV] und Art. [125 Abs. 1 AEUV] vorgesehenen Verbote (ABl. 1993, L 332, S. 1) bekräftigt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 99 bis 101, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 107).
96 Somit steht das von den Art. 123 und 125 AEUV verfolgte Ziel im Einklang mit dem Ziel von Art. 126 AEUV, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, überhöhte öffentliche Defizite zu vermeiden. Dieses Ziel richtet sich nicht auf den Schutz des Einzelnen, sondern auf den Schutz der Union als solcher, einschließlich ihrer Mitgliedstaaten, vor Verhaltensweisen, die dem Erfordernis, eine gesunde Haushaltsdisziplin an den Tag zu legen, entgegenlaufen und zu einer übermäßigen Verschuldung oder überhöhten Defiziten bestimmter Mitgliedstaaten führen könnten und dadurch die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität der Union in ihrer Gesamtheit sowie das effiziente Funktionieren der einheitlichen Währung gefährden könnten (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der Rechtssache Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:7, Nrn. 217 bis 219). Dies gilt entsprechend für das Verbot in Art. 125 AEUV, das gewährleistet, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Verschuldung der Marktlogik unterworfen bleiben, was ihnen einen Anreiz geben soll, Haushaltsdisziplin zu wahren. Die Einhaltung einer solchen Disziplin trägt auf Unionsebene zur Verwirklichung eines übergeordneten Ziels bei, und zwar dem der Aufrechterhaltung der finanziellen Stabilität der Unionswährung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 2012, Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 135 und 136).
97 Somit handelt es sich bei Art. 123 Abs. 1 AEUV und Art. 125 Abs. 1 AEUV um Rechtsvorschriften, die mit dem ausschließlichen Ziel erlassen wurden, dem Allgemeininteresse und insbesondere dem Interesse der Union als Ganzes zu dienen, so dass allein die Union und ihre Mitgliedstaaten als Vertreter des Interesses der Union durch diese Rechtsvorschriften geschützt sind.
98 Drittens werden durch Art. 124 AEUV alle Maßnahmen untersagt, die nicht aus aufsichtsrechtlichen Gründen getroffen werden und u. a. für die Mitgliedstaaten einen bevorrechtigten Zugang zu den Finanzinstituten schaffen, um die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, eine gesunde Haushaltspolitik zu befolgen, indem vermieden wird, dass eine monetäre Finanzierung öffentlicher Defizite oder ein bevorrechtigter Zugang der öffentlichen Hand auf den Finanzmärkten zu einer übermäßigen Verschuldung oder überhöhten Defiziten der Mitgliedstaaten führt. Dieses Verbot geht ursprünglich auf Art. 104a EG-Vertrag (später Art. 102 EG) zurück, der mit dem Maastrichter Vertrag in den EG-Vertrag eingefügt wurde und somit, wie die Art. 123 und 125 AEUV (siehe oben, Rn. 95), Teil der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Wirtschaftspolitik ist, die die Mitgliedstaaten dazu anhalten sollen, eine gesunde Haushaltspolitik zu befolgen, indem vermieden wird, dass eine monetäre Finanzierung öffentlicher Defizite oder Privilegien der öffentlichen Hand auf den Finanzmärkten zu einer übermäßigen Verschuldung oder überhöhten Defiziten der Mitgliedstaaten führen (vgl. Urteil vom 1. Oktober 2015, Bara u. a., C‑201/14, EU:C:2015:638, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung; Beschluss vom 12. März 2020, EMB Consulting u. a./EZB, C‑571/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:208, Rn. 54; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 136).
99 Das in Art. 124 AEUV enthaltene Verbot verleiht somit Einzelnen und Unternehmen keine Rechte, sondern soll die Organe der Union und der Mitgliedstaaten vor den mit einem bevorrechtigten Zugang zu Finanzinstituten verbundenen Haushaltsrisiken und folglich vor Verhaltensweisen, die die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität der Union in ihrer Gesamtheit unterminieren könnten, schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2020, EMB Consulting u. a./EZB, C‑571/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:208, Rn. 55, und Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 139 bis 141).
100 Viertens ist Art. 127 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 282 Abs. 2 AEUV, wonach die Währungspolitik der Union das vorrangige Ziel der Gewährleistung der Preisstabilität verfolgt (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 43), ebenso wenig darauf gerichtet, Einzelnen Rechte zu verleihen.
101 Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass das Ziel der Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Transmission der Geldpolitik zugleich geeignet ist, die Einheitlichkeit dieser Politik zu gewährleisten und zu deren vorrangigem Ziel beizutragen, das in der Gewährleistung der Preisstabilität besteht. Die Fähigkeit des ESZB, durch seine geldpolitischen Entscheidungen die Preisentwicklung zu beeinflussen, hängt nämlich in weitem Umfang von der Übertragung der Impulse ab, die es auf dem Geldmarkt an die verschiedenen Wirtschaftssektoren aussendet. Eine Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus ist daher geeignet, die Entscheidungen des ESZB in einem Teil des Euro-Währungsgebiets ins Leere gehen zu lassen und damit die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu beeinträchtigen. Im Übrigen wird, da eine Störung des Transmissionsmechanismus die Wirksamkeit der vom ESZB beschlossenen Maßnahmen verringert, dadurch zwangsläufig dessen Fähigkeit beeinträchtigt, die Preisstabilität zu gewährleisten. Daher können Maßnahmen, die diesen Transmissionsmechanismus erhalten sollen, dem in Art. 127 Abs. 1 AEUV festgelegten vorrangigen Ziel zugerechnet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 49 und 50).
102 Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen war das beanstandete Verhalten der EZB, insbesondere der Abschluss und die Durchführung der Vereinbarung vom 15. Februar 2012 zwecks Vermeidung einer Anwendung der Umschuldungsklauseln auf die von den Zentralbanken des Eurosystems gehaltenen griechischen Schuldtitel, in den Rahmen der Ausübung der Zuständigkeiten und grundlegenden Aufgaben eingebettet, die ihr aufgrund der Art. 127 und 282 AEUV sowie gemäß Art. 18 der ESZB-Satzung zur Festlegung und Durchführung der Währungspolitik der Union oblagen, und darauf gerichtet, den Spielraum der Zentralbanken aufrechtzuerhalten und ihre Fähigkeit, nach Art. 18.1 erster und zweiter Gedankenstrich der ESZB-Satzung auf den Finanzmärkten tätig zu werden und die Kreditinstitute, darunter die griechischen Banken, zu refinanzieren und somit das kontinuierliche ordnungsgemäße Funktionieren des Eurosystems in seiner Gesamtheit zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 93, 108 und 114, und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 98; siehe auch unten, Rn. 174 bis 178).
103 Angesichts des weiten Ermessens, über das die EZB im Bereich der Geldpolitik verfügt, dessen Ausübung komplexe Beurteilungen u. a. wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten im Zusammenhang mit dem Eurosystem oder gar der gesamten Union erfordert, setzt die etwaige Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes der EZB gegen die Art. 120 bis 127 AEUV somit voraus, dass eine offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen des genannten weiten Ermessens feststeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB,T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 67 und 68; vgl. auch in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 68 und 75, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 73 und 91). Angesichts der Ausführungen oben in Rn. 102 können die Kläger jedoch nicht zu Recht geltend machen, dass die EZB im vorliegenden Fall die Grenzen ihres weiten Ermessens und ihre Zuständigkeiten gemäß Art. 127 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 282 Abs. 2 AEUV, die von ihr verlangen, politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen zu treffen und die dort genannten unterschiedlichen Ziele, deren Hauptziel die Aufrechterhaltung der Preisstabilität ist, miteinander zu versöhnen, offenkundig und erheblich überschritten hat.
104 Aus alledem ergibt sich, dass die Rechtsvorschriften, die die Kläger geltend machen, um zu beanstanden, dass die Organe ultra vires gehandelt hätten, ihnen keine besonderen Rechte verleihen, deren Verletzung die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB begründen könnte.
105 Dieses Ergebnis gilt erst recht in Bezug auf die in Art. 352 Abs. 1 AEUV enthaltene Regelung zur ergänzenden Zuständigkeit, deren Verletzung nicht von einem Einzelnen zur Stützung eines Schadensersatzantrags geltend gemacht werden kann.
106 Somit ist die vorliegende Rüge insgesamt zurückzuweisen.
Zur zweiten Rüge der Rechtswidrigkeit: hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Art. 123 AEUV
[nicht wiedergegeben]
109 Abgesehen davon, dass Art. 123 Abs. 1 AEUV Einzelnen keine Rechte verleiht (siehe oben, Rn. 93 bis 97), genügt die Feststellung, dass die vorliegende Rüge in sich widersprüchlich ist, da sie einer gefestigten Rechtsprechung entgegensteht, wonach eine unbedingte Beteiligung der Zentralbanken des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld durch Beteiligung des Privatsektors und Umschuldungsklauseln als eine nach Art. 123 AEUV verbotene Maßnahme mit gleicher Wirkung wie der unmittelbare Erwerb staatlicher Schuldtitel durch die Zentralbanken hätte eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 114; vgl. auch in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 97 und 104, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 106 und 110). Wie die Kläger selbst geltend machen, sollte das beanstandete Verhalten der EZB, insbesondere der Abschluss der Vereinbarung vom 15. Februar 2012, jedoch gerade verhindern, dass sich die Zentralbanken des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld beteiligen, indem sie einen Teil des Wertes der in ihrem jeweiligen Portfolio befindlichen griechischen Schuldtitel aufgeben.
110 Die Kläger machen insoweit geltend, der Gerichtshof akzeptiere unter bestimmten Umständen, dass sich die EZB, wenn sie staatliche Schuldtitel im Rahmen eines Rückkaufprogramms wie dem Programm für geldpolitische Outright-Geschäfte ankaufe, unvermeidlich einem Verlustrisiko aussetze, insbesondere im Fall eines Schuldenschnitts, der von den übrigen Gläubigern des betreffenden Mitgliedstaats beschlossen werde. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass dieses Risiko jedem Anleihekauf an den Sekundärmärkten innewohnt und ein solches Geschäft von den Verfassern der Verträge zugelassen wurde, ohne vorauszusetzen, dass der EZB eine privilegierte Gläubigerstellung eingeräumt wird (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14,EU:C:2015:400, Rn. 125 und 126). Das Akzeptieren dieses Risikos im Rahmen eines konkreten Programms zum Rückkauf von Schuldtiteln impliziert jedoch nicht, dass im Umkehrschluss eine absolute Verpflichtung der EZB besteht, in jedem Fall eine gleichrangige Behandlung mit den anderen Gläubigern zu akzeptieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 102), insbesondere wenn ein solcher Ansatz die Gefahr birgt, die gleiche Wirkung zu entfalten wie ein direkter Ankauf staatlicher Schuldtitel durch die EZB von einem Mitgliedstaat, der diese Schuldtitel ausgegeben hat, und wenn er allen Anlegern die Gewissheit gibt, dass ihre Staatsanleihen künftig vom Eurosystem an den Sekundärmärkten angekauft werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 113).
111 Folglich ist die vorliegende Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
Zur dritten Rüge der Rechtswidrigkeit: hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das durch Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierte Eigentumsrecht
[nicht wiedergegeben]
115 Das durch Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierte Eigentumsrecht beschreibt das Recht einer jeden Person, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, und stellt eine Rechtsnorm dar, die Einzelnen Rechte verleihen soll und deren Beachtung eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit von Unionsakten ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 66, und vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).
116 Außerdem gelten die Bestimmungen der Charta nach ihrem Art. 51 u. a. für die Unionsorgane im Sinne von Art. 13 Abs. 1 EUV, zu denen die EZB gehört, die verpflichtet sind, deren Rechte zu achten, sich an deren Grundsätze zu halten und deren Anwendung zu fördern (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 95 und 98).
117 Daraus folgt, dass ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle der Union, einschließlich der EZB, durch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen Art. 17 Abs. 1 der Charta grundsätzlich die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB gemäß Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV begründen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 97).
118 Ferner bedeuten der Grundrechtscharakter dieser Regelung, mit der Einzelne geschützt werden, und die entsprechende Verpflichtung der Kommission und der EZB, für ihre Einhaltung zu sorgen, dass diese Einzelpersonen berechtigterweise erwarten dürfen, dass diese Organe bei der Ausübung ihrer Befugnisse auf einen Verstoß gegen eine derartige Regelung hinweisen oder sich nicht daran beteiligen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 57, 59 und 66 bis 75; vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 96, und vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 98).
119 Allerdings gilt das in Art. 17 Abs. 1 der Charta verbürgte Eigentumsrecht nicht uneingeschränkt. Seine Ausübung kann Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antasten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 69 und 70 und die dort angeführte Rechtsprechung; Beschluss vom 12. März 2020, EMB Consulting u. a./EZB, C‑571/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:208, Rn. 42, und Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 99).
120 Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss nämlich jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten; unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung; vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 155 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 100).
121 Vorliegend steht als Erstes fest, dass das Gesetz Nr. 4050/2012, das Gegenstand der Stellungnahme der EZB vom 17. Februar 2012 war, ermöglicht hat, den Nennwert der von den Klägern gehaltenen streitigen Schuldtitel zu verringern und somit ihren Anspruch auf Rückzahlung des Nennwerts zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Titel zu verringern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 101).
122 Fällige Schuldverschreibungen sind nämlich grundsätzlich zu ihrem Nennwert zurückzuzahlen. Die Kläger hatten somit grundsätzlich mit der Fälligkeit ihrer Titel einen Zahlungsanspruch gegen den griechischen Staat in Höhe des Nennwerts. Durch den Erlass des Gesetzes Nr. 4050/2012 wurden diese Bedingungen mit Einführung der Umschuldungsklauseln geändert. Wie oben in Rn. 33 dargelegt, waren diese auf bestimmte griechische Schuldtitel anwendbar und sahen im Einzelnen die Möglichkeit vor, dass die für sie geltenden Bedingungen mittels einer Vereinbarung zwischen einerseits dem griechischen Staat und andererseits einer Mehrheit der Inhaber griechischer Schuldtitel, die mindestens zwei Drittel des Nennwerts der betreffenden Titel vertreten, geändert werden konnten. Nach den maßgeblichen Bestimmungen dieses Gesetzes wird eine aufgrund einer solchen Vereinbarung eingetretene Änderung für alle Inhaber griechischer Schuldtitel – einschließlich derjenigen, die der vorgeschlagenen Änderung nicht zugestimmt haben – rechtlich bindend (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 102).
123 Das Gesetz Nr. 4050/2012 hat es somit gestattet, Inhaber griechischer Schuldtitel über eine Entwertung ihrer Titel dazu zu zwingen, sich an der Verringerung griechischer Staatschulden zu beteiligen, sobald das Quorum der Titelinhaber der Verringerung zugestimmt hatte. Das Gesetz hat auf diese Weise die Rechte der Inhaber griechischer Schuldtitel ungeachtet des Fehlens von Abänderungsklauseln in ihren Emissionsbedingungen geändert (Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 103).
124 Im Anschluss an den Erlass des Gesetzes haben die hellenischen Behörden die Merkmale einer Beteiligung des Privatsektors an der Verringerung der griechischen Staatsschuld veröffentlicht und die Inhaber der betreffenden Schuldtitel aufgefordert, am Umtausch der Titel teilzunehmen. Da das erforderliche Quorum und die erforderliche Mehrheit für den geplanten Umtausch der Titel erreicht wurden, sahen sich alle Inhaber griechischer Schuldtitel einschließlich derjenigen, die dagegen waren, einem Umtausch ihrer Titel gemäß dem Gesetz Nr. 4050/2012 und infolgedessen einem Wertverlust ausgesetzt (Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 104).
125 Somit führten die beanstandeten Maßnahmen zu einem Eingriff in das Eigentumsrecht der Kläger, die sich gegen ihren Willen einer erheblichen Verringerung des Nennwerts der von ihnen gehaltenen griechischen Schuldtitel ausgesetzt sahen (vgl. in diesem Sinne EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, §§ 90 bis 93).
126 Ein weiterer – wenngleich geringerer – Eingriff in das Eigentumsrecht der Kläger ergibt sich aus der fehlenden Beteiligung des Eurosystems und der anderen institutionellen Gläubiger, wie der EIB und der Union, an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld. Wie die Kläger geltend machen, hätte eine solche Beteiligung entsprechend dem Gesamtnennwert von 56674709177,59 Euro (siehe oben, Rn. 10) automatisch dazu geführt, dass eine geringere Reduzierung des Nennwerts der einzelnen betroffenen griechischen Schuldtitel erforderlich gewesen wäre, um die griechischen Staatsschulden um 107 Mrd. Euro zu reduzieren.
127 Als Zweites ist festzustellen, dass, auch wenn der Erlass und die Durchführung des Gesetzes Nr. 4050/2012 somit zu einem Eingriff in das Eigentumsrecht der Kläger geführt haben, das Gesetz dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprach, zu denen die Sicherstellung der Stabilität des Bankensystems des Euro-Währungsgebiets in seiner Gesamtheit gehörte (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 71 und 74). Ebenso hat der EGMR in seinem Urteil vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland (CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, § 103), entschieden, dass die Hellenische Republik berechtigterweise Maßnahmen im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft zur Erreichung der Ziele der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Stabilität und Schuldenumstrukturierung setzen durfte. Zum damaligen Zeitpunkt war ein Verzicht auf die Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld durch die beanstandeten Maßnahmen nämlich mit dem nicht unerheblichen Risiko einer weiteren Verschlechterung der Wirtschaftslage und der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen des griechischen Staates oder gar einer eventuellen Zahlungsunfähigkeit der Hellenischen Republik, deren potenziell ausfallende Schuldtitel von der EZB und den nationalen Zentralbanken nicht mehr als Sicherheiten im Rahmen von Kreditgeschäften des Eurosystems hätten akzeptiert werden können, und somit einer Beeinträchtigung der Stabilität des Finanzsystems und des Funktionierens des Eurosystems in seiner Gesamtheit verbunden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 105 und 106). Insoweit trugen die beanstandeten Maßnahmen dazu bei, sowohl die griechischen öffentlichen Finanzen als auch die Stabilität des Finanzsystems des Euro-Währungsgebiets zu bewahren, und förderten so die Solidität der Finanzinstitute (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. März 2020, EMB Consulting u. a./EZB, C‑571/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:208, Rn. 51, und Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 138).
128 Was als Drittes die Frage betrifft, ob die Verringerung des Wertes der von den Klägern gehaltenen griechischen Schuldtitel sowie der Ausschluss einer Beteiligung des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld angesichts des damit verfolgten Ziels unverhältnismäßige und nicht tragbare Eingriffe darstellten, die das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antasten würden, sind die folgenden, durch die Rechtsprechung bestätigten Erwägungen in Erinnerung zu rufen.
129 Erstens muss jeder Gläubiger das Risiko der Zahlungsunfähigkeit seines Schuldners – auch wenn dieser ein Staat ist – tragen. Der Erwerb staatlicher Schuldtitel durch einen Anleger ist per Definition eine Transaktion, die ein gewisses finanzielles Risiko birgt, da er den Unwägbarkeiten der Finanzmärkte unterliegt. Das Risiko ist umso größer, wenn sich der Staat, der die Schuldtitel ausgibt, in einer höchst instabilen Wirtschaftslage befindet, die die Wertschwankungen der Schuldtitel bestimmt, oder gar das erhebliche Risiko seiner, wenn auch nur selektiven, Zahlungsunfähigkeit besteht. Somit mussten die Kläger sogar vor Beginn der Finanzkrise im Jahr 2009, als sich der griechische Staat als Emittent bereits einer hohen Verschuldung und einem hohen Defizit ausgesetzt sah, wissen, dass der Kauf griechischer Schuldtitel ein erhöhtes Verlustrisiko beinhaltete (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 82 und 121; vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 97, und vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 108 und 109).
130 Im vorliegenden Fall wird diese Einschätzung durch die Zeitpunkte bestätigt, an denen die streitigen griechischen Schuldtitel ausgegeben und erworben wurden, und die laut Angaben der Kläger für die Mehrzahl der Schuldtitel zwischen Januar 2009 und März 2010 lagen. Somit erfolgten diese Ankäufe mehrheitlich in dem Zeitraum, in dem die Hellenische Republik bereits ein enormes Defizit aufwies (EGMR, 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, § 101), welches der Auslösung ihrer Finanzkrise im Oktober 2009 vorausging, d. h. in einem Zeitraum, in dem ihre Finanzlage erheblichen Störungen des Finanzmarkts ausgesetzt war und sich durch eine signifikante Herabstufung ihrer Schuldtitel zuspitzte (Urteil vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 97). Folglich ist zumindest in Bezug auf die Ankäufe von Schuldtiteln ab 2010 festzustellen, dass die Kläger hochriskante Investitionen tätigten, bei denen sie sich möglicherweise von Spekulations- und nicht von Sparzwecken leiten ließen, in der Hoffnung, eine höhere Rendite zu erzielen. Zudem hätten die unterschiedlichen Sichtweisen, die es bei den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und den anderen beteiligten Einrichtungen wie der Kommission, dem IWF und der EZB zu einer Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld gab, von privaten Anlegern wie den Klägern nicht vernachlässigt werden können. Unter solch außergewöhnlichen Umständen hätte ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer das Risiko einer Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld zur Verhinderung eines zumindest selektiven Zahlungsausfalls der Hellenischen Republik nicht ausschließen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 82 und 121; vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 97 und 115, und vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 109 bis 111).
131 Zweitens steht fest, dass angesichts des Ausmaßes der finanziellen Krise, in der sich der griechische Staat seit 2010 befand, ein neues Finanzhilfeprogramm zugunsten der Hellenischen Republik unabdingbar geworden war, das auf multilateraler und zwischenstaatlicher Ebene unter Beteiligung sowohl der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets mit Unterstützung zunächst der EFSF und später des Europäischen Stabilitätsmechanismus (im Folgenden: ESM), der gemäß dem in Brüssel am 2. Februar 2012 geschlossenen und am 27. September 2012 in Kraft getretenen Vertrag zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, dem Großherzogtum Luxemburg, der Republik Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik und der Republik Finnland eingerichtet wurde, als auch des IWF ausgearbeitet worden war und durchgeführt werden sollte. Wie die Kläger selbst vortragen, waren die Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld, die durch die beanstandeten Maßnahmen erfolgen sollte, sowie der Ausschluss einer Beteiligung des Eurosystems an dieser Umstrukturierung gemäß den getroffenen bi- und multilateralen Vereinbarungen Vorbedingungen für die Durchführung der Finanzhilfe (vgl. in diesem Sinne EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, § 116). Insoweit ist der Erklärung der Euro-Gruppe vom 21. Februar 2012 zu entnehmen, dass die Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld nach dem Gesetz Nr. 4050/2012 eine Vorbedingung für die Gewährung zusätzlicher finanzieller Unterstützung durch die staatlichen und institutionellen Gläubiger der Hellenischen Republik sei. Angesichts der damaligen Situation hätte eine ausschließlich freiwillige Beteiligung des Privatsektors ohne Umschuldungsklauseln mit Sicherheit nicht die Beteiligung eines ausreichenden Prozentsatzes von privaten Inhabern griechischer Schuldtitel garantiert, um die erforderliche und durch die Verringerung der griechischen Staatsschuld um ungefähr 107 Mrd. Euro schließlich erzielte Schuldenabbauquote zu erreichen (EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, § 104). Außerdem war angesichts des Moral-Hazard-Risikos, auf das die Kommission, die EZB, der Europäische Rat und der Rat zu Recht hinweisen, auch nicht gewährleistet, dass eine Beteiligung des Privatsektors ohne Umschuldungsklauseln zu einer Beteiligungsquote geführt hätte, die ausreichend gewesen wäre, um eine Kreditfreigabe seitens der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets von bis zu 130 Mrd. Euro bis 2014 zu ermöglichen (vgl. Erklärung der Euro-Gruppe vom 21. Februar 2012). Das Phänomen des Moral Hazard könnte nämlich für jeden Anleger oder Inhaber griechischer Schuldtitel, der sein Vermögen erhalten möchte, einen zusätzlichen Anreiz dafür schaffen, das Angebot zum freiwilligen Umtausch von Schuldtiteln abzulehnen oder sogar, falls ihr Marktwert sinkt, weitere Schuldtitel zu erwerben und darauf zu spekulieren, dass andere Gläubiger oder die Gemeinschaft im weiteren Sinne die negativen Folgen seiner risikobehafteten Investition tragen. Hätte man die Umschuldungsklauseln nicht eingeführt, hätte dies somit nicht nur zur Folge gehabt, dass jene, die bereit gewesen wären, dem Schuldenschnitt zuzustimmen, einen prozentmäßig höheren Schnitt hinsichtlich ihrer griechischen Schuldtitel hätten hinnehmen müssen, sondern auch dazu beigetragen, dass viele Titelinhaber abgeschreckt worden wären, sich diesem Entschuldungsverfahren anzuschließen, oder gar verleitet worden wären, die Verwirklichung seines Ziels zu konterkarieren. Die beanstandeten Maßnahmen waren somit unabdingbar, sowohl, um den Erfolg der geplanten Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld zu garantieren, als auch, um die Gewährung einer zusätzlichen finanziellen Unterstützung zu ermöglichen, die kurzfristig einen Zahlungsausfall des griechischen Staats verhindern sollte und mittelfristig zur Bewältigung seiner Finanzkrise und zur Wiederherstellung eines wirtschaftlichen Gleichgewichts führen sollte. Folglich haben die Kläger nicht den Beweis dafür erbracht, dass das Gesetz Nr. 4050/2012 zu diesem Zweck offensichtlich unangemessen oder unverhältnismäßig gewesen wäre oder eine ausschließlich freiwillige Beteiligung des Privatsektors ohne Umschuldungsklauseln oder ein prozentmäßig niedrigerer Schuldenschnitt eine ebenso wirksame, aber weniger belastende Maßnahme gewesen wäre, um die im öffentlichen Interesse verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 112).
132 Nach alledem ist das Vorbringen der Kläger zurückzuweisen, wonach die privaten Inhaber griechischer Schuldtitel nur über einen unbedeutenden Anteil an der griechischen Staatsschuld im Wert von 2,262 Mrd. Euro verfügt hätten, was nur ungefähr 1,09 % der vom Umtauschangebot erfassten 206 Mrd. Euro ausgemacht habe, so dass ihre Einbeziehung offensichtlich unverhältnismäßig gewesen sei, um das im öffentlichen Interesse verfolgte Ziel zu erreichen. Selbst wenn man insoweit annimmt, dass die Kläger den Begriff „private Inhaber“ restriktiv auslegen, indem sie ihn auf natürliche Personen oder Sparer beschränken und keine institutionellen oder professionellen Anleger oder juristische Personen einbezogen werden (siehe fünfte Rüge der Rechtswidrigkeit), genügt jedenfalls die Feststellung, dass diese Unterscheidung nicht maßgeblich ist (siehe unten, Rn. 156 bis 166).
133 Drittens hat der Zwangsumtausch griechischer Schuldtitel infolge des Gesetzes Nr. 4050/2012 und die Zustimmung der Mehrzahl der Inhaber dieser Schuldtitel zwar zu einer sehr erheblichen Verringerung des Nennwerts der Schuldtitel geführt. Den Klägern, die der vorgeschlagenen Änderung der für ihre Schuldtitel geltenden Bedingungen nicht zugestimmt haben, wurden nämlich die in dem genannten Gesetz enthaltenen neuen Bedingungen und insbesondere eine Verringerung des Nennwerts der Schuldtitel aufgezwungen. Der griechische Gesetzgeber war jedoch berechtigt, einen Schuldenschnitt einzuführen, der horizontal auf der Grundlage des Nennwerts der in Betracht kommenden griechischen Schuldtitel angewandt wurde, da eine andere Berechnung anhand des Marktwerts der einzelnen Schuldtitel zu einem bestimmten Zeitpunkt oder anhand ihrer jeweiligen Fälligkeitstermine nicht praktikabel gewesen wäre. Bezugspunkt für die Beurteilung des Ausmaßes des von den Klägern erlittenen Verlusts kann nämlich nicht der Betrag sein, mit dem sie bei Fälligkeit ihrer griechischen Schuldtitel hätten rechnen dürfen. Auch wenn der Nennwert eines Schuldtitels den Wert der Forderung für seinen Inhaber zum Zeitpunkt der Fälligkeit widerspiegelt, stellte er dennoch nicht den wahren Marktwert der griechischen Schuldtitel zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 4050/2012 durch den griechischen Staat dar, d. h. zum 23. Februar 2012, als der Marktwert bereits durch die verminderte Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates in den Jahren 2010 und 2011 beeinflusst worden war, weshalb es vorhersehbar war, dass der griechische Staat zum Zeitpunkt der Fälligkeit nicht in der Lage gewesen wäre, seinen Verpflichtungen gemäß den Vertragsklauseln nachzukommen, die diesen Titeln zugrunde lagen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 113, und EGMR, 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, § 112).
134 Viertens können die Kläger nicht geltend machen, dass der Ausschluss der Beteiligung des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld eine nicht notwendige oder offensichtlich unverhältnismäßige Beschränkung gewesen sei. Zum einen geht u. a. aus der Erklärung der Euro-Gruppe vom 21. Februar 2012 hervor, dass die staatlichen und institutionellen Gläubiger des griechischen Staates die zusätzliche finanzielle Unterstützung auch von diesem Ausschluss abhängig gemacht hatten. Zum anderen fügten sich sowohl der Abschluss als auch die Durchführung der Vereinbarung vom 15. Februar 2012, die es den Zentralbanken des Eurosystems ermöglichen sollten, der Beteiligung des Privatsektors und der Anwendung der Umschuldungsklauseln zu entgehen, in den Rahmen der Ausübung der Zuständigkeiten und grundlegenden Aufgaben des Eurosystems ein, da sie den Spielraum der Zentralbanken aufrechterhalten und das kontinuierliche ordnungsgemäße Funktionieren des Eurosystems gewährleisten sollten. Letzteres erforderte insbesondere, dass die Zentralbanken weiterhin die griechischen Schuldtitel als angemessene Sicherheiten für Kreditgeschäfte des Eurosystems im Sinne von Art. 18.1 zweiter Gedankenstrich der ESZB-Satzung akzeptieren konnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 93, 94 und 108; siehe auch oben, Rn. 102), was im Fall eines Schuldenschnitts und somit teilweisen Zahlungsausfalls des griechischen Staates nicht mehr möglich gewesen wäre. Wie zudem oben in Rn. 109 dargelegt, hätte eine unbedingte Beteiligung der Zentralbanken des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld als eine nach Art. 123 AEUV verbotene Maßnahme mit gleicher Wirkung wie der unmittelbare Erwerb staatlicher Schuldtitel durch die Zentralbanken eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 114, und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 98; vgl. auch in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 97 und 104, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 106 und 110).
135 Nach alledem haben die Kläger mit ihrer Behauptung Unrecht, zum einen hätten die von den privaten Gläubigern gehaltenen griechischen Schuldtitel einen unbedeutenden Anteil an der griechischen Staatsschuld gehabt und zum anderen wäre im Fall einer Beteiligung des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld der vorgenommene Schuldenschnitt deutlich geringer ausgefallen und hätte das Eurosystem über weniger belastende Mittel verfügt, um die negativen Auswirkungen einer gleichrangigen Behandlung zu vermeiden.
136 Unter Berücksichtigung der Art des fraglichen Eigentumsrechts, des Umfangs sowie der Schwere und Virulenz der griechischen Staatsschuldenkrise, der Zustimmung des griechischen Staates und der Mehrheit der Inhaber griechischer Schuldtitel zu einem Umtausch unter Entwertung der Titel sowie der Größenordnung der entstandenen Verluste stellte weder die Herabsetzung des Wertes der streitigen griechischen Schuldtitel aufgrund der beanstandeten Maßnahmen noch der Ausschluss der Beteiligung des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld in Bezug auf den verfolgten Zweck einen unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff dar, der das in Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierte Eigentumsrecht der Kläger in seinem Wesensgehalt antastete. Da kein Verstoß gegen diese Bestimmung vorlag, kann weder der Kommission noch der EZB vorgeworfen werden, einen solchen Verstoß u. a. in der Stellungnahme der EZB vom 17. Februar 2012 nicht angezeigt zu haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 114 bis 116).
137 Folglich ist die dritte Rüge der Rechtswidrigkeit als unbegründet zurückzuweisen.
Zur vierten Rüge der Rechtswidrigkeit: hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die Rechte der Kläger aus Art. 63 Abs. 1 AEUV
[nicht wiedergegeben]
142 Gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten. Derartige Beschränkungen sind u. a. von einem Mitgliedstaat verhängte Maßnahmen, die geeignet sind, Investoren aus anderen Mitgliedstaaten darin zu beschränken, davon abzubringen oder daran zu hindern, in den Mitgliedstaat zu investieren, oder umgekehrt Maßnahmen, die geeignet sind, Investoren aus diesem Mitgliedstaat darin zu beschränken, davon abzubringen oder daran zu hindern, in andere Mitgliedstaaten zu investieren (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 119 und die dort angeführte Rechtsprechung).
143 Der in Art. 63 Abs. 1 AEUV verankerte freie Kapitalverkehr stellt eine der Grundfreiheiten der Union dar, die sowohl von den Mitgliedstaaten als auch von den Unionsorganen zu beachten sind und somit auch von der EZB (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung).
144 Unabhängig von der Frage, ob die Durchführung des Gesetzes Nr. 4050/2012 zu einer Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV führen konnte, ist festzustellen, dass eine solche Beschränkung, wäre sie nachgewiesen worden, durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre. Der freie Kapitalverkehr darf nämlich durch eine nationale Regelung beschränkt werden, sofern diese auf der Grundlage objektiver Erwägungen, die von der Herkunft des betreffenden Kapitals unabhängig sind, durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet, was erfordert, dass sie zur Erreichung des legitimerweise verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 121 und 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).
145 Dies ist vorliegend bei den beanstandeten Maßnahmen und dem Ausschluss der Teilnahme des Eurosystems an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld der Fall. Wie oben in Rn. 131 dargelegt, waren die Umstände, die dem Gesetz Nr. 4050/2012 zugrunde lagen, tatsächlich außergewöhnlich, so dass ohne Umstrukturierung ein zumindest selektiver, kurzfristiger Zahlungsausfall des griechischen Staates eine glaubhafte Perspektive darstellte. Zudem sollten, wie oben in den Rn. 102 und 134 ausgeführt, die beanstandeten Maßnahmen und der genannte Ausschluss die Stabilität des Bankensystems der Eurozone in seiner Gesamtheit sicherstellen, was einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt (vgl. Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 123).
146 Ferner haben die Kläger nicht nachgewiesen, dass die beanstandeten Maßnahmen und der Ausschluss unverhältnismäßig waren. Diese Maßnahmen ermöglichten, die Stabilität des Bankensystems des Euro-Währungsgebiets in seiner Gesamtheit wiederherzustellen, und es wurde nicht nachgewiesen, dass sie über das zur Wiederherstellung der Stabilität Notwendige hinausgingen. Insbesondere hätte die Beteiligung der privaten Gläubiger am Umtausch der griechischen Schuldtitel auf rein freiwilliger Basis, so wie von den Klägern befürwortet, nicht ermöglicht, den Erfolg dieses Titelumtauschs sicherzustellen, sondern vielmehr einen kontraproduktiven Anreiz geschaffen, nicht am Umtausch teilzunehmen. In einem solchen Fall wäre nämlich angesichts des mit dem freiwilligen Umtausch einhergehenden Moral Hazard nicht gewährleistet gewesen, dass eine ausreichende Zahl dieser Gläubiger ihm zugestimmt hätte (siehe oben, Rn. 131). Der Erfolg des Umtauschs der Titel war jedoch Voraussetzung für die Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld, die ihrerseits notwendig war, um das Bankensystem des Euro-Währungsgebiets zu stabilisieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, Rn. 124).
147 Somit machen die Kläger zu Unrecht einen Verstoß der Unionsorgane oder der EZB gegen den freien Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV geltend.
148 Folglich ist die vierte Rüge der Rechtswidrigkeit als unbegründet zurückzuweisen.
Zur fünften Rüge der Rechtswidrigkeit: hinreichend qualifizierter Verstoß gegen den Anspruch auf Gleichbehandlung aus Art. 20 der Charta
[nicht wiedergegeben]
Würdigung durch das Gericht
– Bisherige Rechtsprechung
154 Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Ferner setzt die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes durch eine unterschiedliche Behandlung voraus, dass die betreffenden Sachverhalte im Hinblick auf alle Merkmale, die sie kennzeichnen, vergleichbar sind (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 191 und 192 und die dort angeführte Rechtsprechung).
155 Auf der Grundlage dieser Rechtsprechungsgrundsätze sind der erste und der zweite Teil der vorliegenden Rüge zu prüfen.
– Zum ersten Teil: Gleichbehandlung trotz fehlender Vergleichbarkeit der privaten Anleger mit den institutionellen oder professionellen Anlegern
156 Im Rahmen des ersten Teils machen die Kläger zu Unrecht geltend, die Situation der privaten Anleger, insbesondere Sparer, die in griechische Schuldtitel investiert hätten, sei im Hinblick auf die Beteiligung des Privatsektors nicht mit der Situation vergleichbar, in der sich institutionelle oder professionelle Anleger befunden hätten, die – so die von den Klägern verwendete Formulierung – nicht in die Kategorie „öffentliche Gläubiger“ fielen.
157 Erstens bestreiten die Kläger nicht, dass natürliche oder juristische Personen, die über eine beträchtliche Finanzkraft verfügen, wie im vorliegenden Fall die Gesellschaft QJ, die griechische Schuldtitel mit einem Gesamtnennwert von 22650000 Euro hielt, genau wie bestimmte institutionelle oder professionelle Anleger eine bedeutende Anzahl staatlicher Schuldtitel erwerben können (vgl. in diesem Sinne EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, §§ 137 und 138). Dies zeigt bereits, dass die Finanzkraft oder die Menge der erworbenen Schuldtitel nicht in allen Fällen maßgebliche Kriterien sind, um zwischen privaten Anlegern und institutionellen oder professionellen Anlegern zu unterscheiden. Gleiches gilt für das Kriterium der Expertise und des Sachverstands in finanziellen Angelegenheiten, das in jeder der zwei von den Klägern in Betracht gezogenen Anlegergruppen variieren kann, da alle Gruppen auf den Rat entsprechender Sachverständiger zurückgreifen können. Nicht erwiesen ist außerdem die Behauptung, die Mehrzahl der über staatliche Schuldtitel verfügenden privaten Anleger lasse sich – im Gegensatz zu institutionellen oder professionellen Anlegern – bei ihren Anlageentscheidungen hauptsächlich von dem Wunsch leiten, zu sparen, da eine große Zahl von Privatpersonen, wie die Kläger, während der griechischen Finanzkrise dem Impuls folgte, bedeutende Summen in griechische Schuldtitel zu investieren, obwohl mit dieser Anlageform ein erhöhtes Risiko verbunden war (vgl. u. a. die Sachverhalte, die den Urteilen vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, und vom 23. Mai 2019, Steinhoff u. a./EZB, T‑107/17, EU:T:2019:353, zugrunde lagen, bestätigt durch Beschluss vom 12. März 2020, EMB Consulting u. a./EZB, C‑571/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:208).
158 Zweitens wird diese Einschätzung, wie oben in Rn. 130 dargelegt, im vorliegenden Fall durch die Zeitpunkte bestätigt, an denen die Mehrzahl der streitigen griechischen Schuldtitel ausgegeben und erworben wurde, und die laut Angaben der Kläger zwischen Januar 2009 und März 2010 lagen, d. h. in Zeiträumen, in denen der griechische Staat bereits ein enormes Defizit aufwies oder erheblichen Störungen des Finanzmarkts ausgesetzt war und sich die Situation durch eine signifikante Herabstufung seiner Schuldtitel zuspitzte. Folglich ist zumindest in Bezug auf die Ankäufe von Schuldtiteln ab 2010 festzustellen, dass die Kläger hochriskante Investitionen tätigten, bei denen sie sich möglicherweise von Spekulations- und nicht von Sparzwecken leiten ließen, in der Hoffnung, eine höhere Rendite zu erzielen. Insoweit waren die Entscheidungen der Kläger, in griechische Schuldtitel zu investieren, mit den Entscheidungen anderer institutioneller oder professioneller Anleger vergleichbar, die die gleichen Ziele verfolgten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 97 und 115).
159 Drittens war die oben beschriebene, den fraglichen Anlageentscheidungen zugrunde liegende Hauptmotivation ein Unterscheidungs- oder Vergleichskriterium, das für die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf die der Beteiligung des Privatsektors unterliegenden privaten Gläubiger, einschließlich der Kläger, und speziell für den Vergleich der jeweiligen Situation der genannten Anleger, abgesehen davon, dass sie alle Inhaber griechischer Schuldtitel waren, sowohl relevant als auch ausreichend war. Dies gilt jedoch nicht für etwaige Neben- oder Zusatzmotive, die diese Hauptmotivation ergänzten und die Entscheidung der genannten Anleger für den Erwerb griechischer Schuldtitel ebenfalls beeinflussen konnten. Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis lassen sich nämlich Anleger, die rein privat als Sparer handelten, und Anleger, die im Rahmen einer institutionellen oder professionellen Tätigkeit handelten oder gar Spekulationszwecke verfolgten, nicht eindeutig voneinander unterscheiden, und es kann nicht hinreichend klar zwischen natürlichen oder juristischen Personen differenziert werden, die möglicherweise einer dieser beiden Gruppen von Anlegern angehörten. Eine solche Unterscheidung wäre nicht nur künstlich, sondern würde auch voraussetzen, dass die wahren, zwangsläufig subjektiven Motive, die den fraglichen Anlageentscheidungen zugrunde lagen, genau überprüft werden, so dass die Gefahr bestünde, dass die Einbeziehung eines Anlegers in die eine oder andere Kategorie sehr willkürlich wäre (vgl. in diesem Sinne EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, § 137).
160 Es wäre nämlich sehr schwer und zeitaufwendig gewesen, für die Zwecke der Beteiligung des Privatsektors eine klare Unterscheidung zwischen privaten Anlegern, bei denen es sich um natürliche oder juristische Personen handeln konnte, und institutionellen oder professionellen Anlegern vorzunehmen oder gar die reinen „Sparer“ innerhalb der ersten Kategorie von Anlegern zu bestimmen. Um die genaue Aufteilung der griechischen Staatsschulden unter diesen Anlegern zu ermitteln, hätte außerdem der Umtausch von Schuldentiteln zu einem bestimmten Zeitpunkt vor der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 4050/2012 verboten oder „eingefroren“ werden müssen, um die Grundlage für eine nicht diskriminierende Ausnahme bestimmter Anleger, die bestimmte objektive, jedoch schwer zu beweisende Kriterien erfüllen, von der Beteiligung des Privatsektors zu legen. Die bloße Ankündigung einer solchen Vorgehensweise vor diesem Zeitpunkt hätte jedoch zu einem Massentransfer von Schuldtiteln in diese Kategorien von ausgenommenen Anlegern geführt, wodurch der Erfolg der geplanten Operation zur Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld durch Beteiligung des Privatsektors gefährdet gewesen wäre (vgl. in diesem Sinne EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, §§ 137 und 138).
161 Diese Einschätzung wird nicht durch den Informationsvermerk des GLK vom 24. Februar 2012 widerlegt, in dem festgestellt wurde, dass natürliche Personen auf dem Primär- und Sekundärmarkt griechische Schuldtitel mit einem Gesamtwert von 1,3 Mrd. Euro bzw. 962 Mio. Euro erworben hatten, jedoch keine Benennung der rechtlichen und tatsächlichen Kriterien erfolgte, die diesen Feststellungen zugrunde lagen. Ebenso wenig wird sie durch das vage und unklare Vorbringen der Kläger in Frage gestellt, das wahrscheinlich auf eine Feststellung des EGMR gestützt ist, die lediglich das Vorbringen der Kläger in jener anderen Rechtssache (EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, § 76) zusammenfassen sollte, wonach natürliche Personen nur 1,09 % der griechischen Staatsschulden gehalten hätten.
162 Viertens lässt sich, selbst wenn man aufgrund der Bedeutung ihrer Stellung als Gläubiger und ihrer stärkeren Finanzkraft davon ausgeht, dass einige institutionelle oder professionelle Anleger, bei denen es sich normalerweise um juristische Personen handelt, im Allgemeinen besser als private Anleger oder Sparer in der Lage sind, mit dem Staat, der die Schuldtitel ausgibt, zu verhandeln und auf seine Entscheidungen zum Umgang mit seiner Staatsschuld Einfluss zu nehmen, zwischen diesen institutionellen oder professionellen Anlegern einerseits und andererseits denjenigen, deren Größe und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit deutlich geringer ausfällt, oder den natürlichen Personen, die eine geschäftliche oder berufliche Tätigkeit ausüben, keine klare und praktikable Grenze ziehen. Zudem ist, unbeschadet ihrer Eigenschaft als juristische oder natürliche Person, nicht erwiesen, dass die „kleinen“ privaten Anleger oder Sparer keine Möglichkeit hatten, sich zu organisieren und den Entscheidungsprozess, der zum Erlass des Gesetzes Nr. 4050/2012 führte, oder zumindest den Ausgang des Verfahrens zum Umtausch der Schuldtitel durch den Versuch zu beeinflussen, eine Sperrminorität zur Verhinderung der Aktivierung der Umschuldungsklauseln zu erreichen, z. B. durch Einbeziehung von Verbänden zum Schutz von Verbrauchern, Kleinanlegern und Sparern.
163 Somit sind die Unterscheidungskriterien, die die Kläger vorgetragen haben, um darzutun, dass sich die privaten Anleger und die institutionellen bzw. professionellen Anleger als Inhaber griechischer Schuldtitel nicht in vergleichbaren Situationen befanden, weder substantiiert noch relevant im Hinblick auf das Ziel der beanstandeten Maßnahmen, d. h. die Gewährleistung der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld, um die Schuldentragfähigkeit herzustellen. Insoweit ist ein etwaiger Sparzweck oder ein sonstiger sekundärer wirtschaftlicher Grund, der einen privaten Gläubiger, auf den die Beteiligung des Privatsektors Anwendung findet, dazu gebracht hat, in griechische Schuldtitel zu investieren, kein Unterscheidungskriterium, das für dieses Ziel relevant ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2020, Rat u. a./K. Chrysostomides & Co. u. a., C‑597/18 P, C‑598/18 P, C‑603/18 P und C‑604/18 P, EU:C:2020:1028, Rn. 200, und EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, §§ 134 und 137). Vielmehr waren diese Personen für die Zwecke des genannten Ziels a priori in einer identischen oder vergleichbaren Situation, da sie griechische Schuldtitel aus rein privatem finanziellem Interesse oder sogar mit Gewinnerzielungsabsicht oder zu Spekulationszwecken erworben hatten und das damit verbundene Verlustrisiko akzeptiert hatten, während ihnen gleichzeitig die finanzielle Krisensituation bekannt war, in der sich die Hellenische Republik damals befand.
164 Selbst wenn man annimmt, dass die von den Klägern vorgenommene Unterscheidung im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung relevant ist, wäre es nicht möglich gewesen, zwischen „Kleinanlegern“ und „Großanlegern“ u. a. durch Festlegung einer Investitionsschwelle von 100000 Euro zu unterscheiden, unterhalb deren Schuldtitel von der Beteiligung des Privatsektors hätten ausgenommen werden können. Wie nämlich bereits oben in Rn. 160 dargelegt und vom EGMR festgestellt (EGMR vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland, CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, §§ 137 und 138), hätte die bloße Ankündigung der Einführung einer solchen Ausnahme zu einem Massentransfer von Schuldtiteln in diese Kategorien von ausgenommenen Anlegern geführt, wodurch der Erfolg der Beteiligung des Privatsektors insgesamt gefährdet gewesen wäre. Zudem sind die Kläger den Beweis schuldig geblieben, dass es nach Erlass des Gesetzes Nr. 4050/2012 möglich gewesen wäre, eine solche Unterscheidung rechtsgültig einzuführen, da das Gesetz die Kriterien für die Beteiligung des Privatsektors und die Aktivierung der Umschuldungsklauseln für die Gesamtheit der in Betracht kommenden griechischen Schuldtitel bereits eindeutig festgelegt hatte, ohne mögliche Ausnahmen vorzusehen.
165 Ebenso wenig wird die von den Klägern vorgenommene Unterscheidung zwischen privaten Anlegern und institutionellen oder professionellen Anlegern durch die Bestimmungen der Richtlinie 2004/39 gestützt. Auch wenn die Richtlinie die „Kleinanleger“ als Anleger in „Wertpapieren“ wie marktfähige Schuldverschreibungen oder Schuldtitel schützen sollte, war dieser Schutz nur präventiv und betraf nur die Art, in der „Wertpapierfirmen“, einschließlich Geschäftsbanken, Wertpapiere anboten, verkauften und verwalteten (vgl. insbesondere den 44. Erwägungsgrund und Art. 19 zum Erfordernis der Transparenz der Geschäfte und zu den Wohlverhaltensregeln bei der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen für Kunden). Soweit die Richtlinie spezielle Informationspflichten der Wertpapierfirmen gegenüber ihren Kunden in Bezug auf u. a. die Qualität der erbrachten Dienstleistungen und der angebotenen Finanzinstrumente vorsah, einschließlich geeigneter Informationen „zu den mit einer Anlage in diese Finanzinstrumente oder mit diesen Anlagestrategien verbundenen Risiken“ (Art. 19 Abs. 3 zweiter Gedankenstrich), betrafen diese Pflichten nicht die Folgen des Eintritts dieser Risiken und erst recht nicht die Frage, ob „Kleinanleger“ im Rahmen der Umstrukturierung von Staatsschulden in gleicher Weise behandelt werden mussten wie „professionelle Kunden“, darunter Kreditinstitute.
166 Da die Kläger somit nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen haben, dass sie sich in einer anderen Situation als die anderen privaten Inhaber griechischer Schuldtitel befanden, einschließlich institutioneller oder professioneller Anleger, ist der erste Teil, der sich auf einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung richtet, zurückzuweisen, ohne dass über das Vorliegen einer etwaigen objektiven Rechtfertigung für die in Rede stehende Gleichbehandlung entschieden werden muss.
– Zum zweiten Teil: Ungleichbehandlung durch den Ausschluss öffentlicher Gläubiger, insbesondere des Eurosystems, von der Beteiligung an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld
167 Was den zweiten Teil betrifft, mit dem insbesondere die unterschiedliche Behandlung der Situation privater Anleger, einschließlich der Kläger, und der Situation öffentlicher Gläubiger, insbesondere der Zentralbanken des Eurosystems, beanstandet wird, ist die gefestigte Rechtsprechung des Gerichts in Erinnerung zu rufen, mit der ähnliche Rügen zurückgewiesen worden sind (Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 88 bis 92, und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 108 bis 117) und die die Kläger erfolglos versuchen, in Frage zu stellen.
168 Als Erstes gehen die Kläger von einer falschen Annahme aus. Sie tragen vor, dass sich die Einzelnen, die griechische Schuldtitel erworben hätten, als „private“ Sparer oder Gläubiger der Hellenischen Republik auf der einen Seite und die EZB und die nationalen Zentralbanken des Eurosystems auf der anderen Seite im Hinblick auf die Grundsätze und Ziele der einschlägigen Vorschriften, auf die das beanstandete Verhalten gestützt gewesen sei, für die Zwecke der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung in einer vergleichbaren, wenn nicht derselben Lage befunden hätten. Diese Argumentation lässt insbesondere unbeachtet, dass die EZB und die nationalen Zentralbanken mit dem Erwerb griechischer Schuldtitel vor allem aufgrund des Beschlusses 2010/281 in Wahrnehmung ihrer grundlegenden Aufgaben nach Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV und insbesondere Art. 18.1 erster Gedankenstrich der ESZB-Satzung mit dem Ziel gehandelt haben, die Preisstabilität und die ordnungsgemäße Führung der Geldpolitik zu gewährleisten, und dass sie sich dabei an die durch die Bestimmungen des Beschlusses vorgegebenen Grenzen (vgl. fünfter Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/281) gehalten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 88, und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 111).
169 So war das mit dem Beschluss 2010/281 eingeführte Programm für den Ankauf staatlicher Schuldtitel einschließlich griechischer Schuldtitel ausdrücklich auf Art. 127 Abs. 2 erster Gedankenstrich AEUV und insbesondere auf Art. 18.1 der ESZB-Satzung gestützt und stand angesichts der Finanzkrise, der der griechische Staat ausgesetzt war, im Zusammenhang mit „der derzeit außergewöhnlichen Situation auf den Finanzmärkten, die durch starke Spannungen in einigen Marktsegmenten geprägt [war], die den geldpolitischen Transmissionsmechanismus und damit auch die effektive Durchführung einer auf mittelfristige Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik beeinträchtig[ten]“. Nach diesem Beschluss sollte das Programm somit „Bestandteil der einheitlichen Geldpolitik des Eurosystems“ sein, um „die Störungen an den Wertpapiermärkten zu beheben und einen angemessenen geldpolitischen Transmissionsmechanismus wiederherzustellen“ (Erwägungsgründe 2 bis 4 des Beschlusses). Diese Gründe werden als solche von den Klägern nicht in Frage gestellt. Die Kläger beschränken sich darauf, die Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen allein auf den Umstand zu stützen, dass sowohl die privaten Anleger als auch die Zentralbanken des Eurosystems, die griechische Schuldtitel erworben haben, Gläubiger des griechischen Staates mit gleichen Rechten seien (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 89, und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 112).
170 Das Anleihekaufprogramm und somit der Ankauf staatlicher, einschließlich griechischer, Schuldtitel durch die Zentralbanken des Eurosystems gehörten nämlich zu den grundlegenden Aufgaben des ESZB im Sinne von Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV in Verbindung mit Art. 282 Abs. 1 AEUV. Konkret lag diesen Maßnahmen die Ermächtigung in Art. 18.1 erster Gedankenstrich der ESZB-Satzung zugrunde, wonach „[z]ur Erreichung der Ziele des ESZB und zur Erfüllung seiner Aufgaben … die EZB und die nationalen Zentralbanken“ insbesondere „auf den Finanzmärkten tätig werden [können], indem sie auf Euro oder sonstige Währungen lautende Forderungen und börsengängige Wertpapiere … endgültig (per Kasse oder Termin) … kaufen und verkaufen“. Zudem ergibt sich aus der letztgenannten Bestimmung, dass der Ankauf staatlicher Schuldtitel durch die Zentralbanken auf dem Sekundärmarkt nur den Zweck hat, die Ziele des ESZB zu erreichen und seine Aufgaben zu erfüllen, was jeden außerhalb dieses Zwecks liegenden Grund ausschließt, insbesondere die Absicht, durch Anlagen oder sogar durch spekulative Transaktionen hohe Renditen zu erzielen (Urteil vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 113; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 90).
171 Folglich ist festzustellen, dass sich die Kläger als private Anleger oder Sparer, die auf eigene Rechnung und in ihrem ausschließlich privaten Interesse handelten, das darin bestand, für ihre Investitionen eine möglichst hohe Rendite zu erzielen, in einer Situation befanden, die sich von der Situation der Zentralbanken des Eurosystems unterschied. Obwohl die Zentralbanken nach dem anwendbaren Privatrecht mit dem Erwerb der staatlichen Schuldtitel ebenso wie die privaten Anleger die Stellung eines Gläubigers des begebenden Staates und Schuldners erlangten, kann diese einzige Gemeinsamkeit nicht die Annahme rechtfertigen, dass sie sich in einer vergleichbaren oder gar der gleichen Situation wie die privaten Anleger befanden. Eine solche rein privatrechtliche Betrachtungsweise würde nämlich weder dem rechtlichen Rahmen des Ankaufs dieser Schuldtitel durch die Zentralbanken noch den im Allgemeininteresse liegenden Zielen Rechnung tragen, die die Zentralbanken in diesem Zusammenhang nach den anwendbaren primärrechtlichen Bestimmungen zu verfolgen hatten, deren Grundsätze und Ziele für die Beurteilung der Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung heranzuziehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 91, und vom 24. Januar 2017, Nausicaa Anadyomène und Banque d’escompte/EZB, T‑749/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:21, Rn. 114).
172 Es ist daher davon auszugehen, dass sich die Kläger als private Anleger, die griechische Schuldtitel allein in ihrem privaten Vermögensinteresse gekauft hatten, unabhängig von dem genauen Grund ihrer Anlageentscheidung in einer anderen Situation befanden als die Zentralbanken des Eurosystems, deren Anlageentscheidung ausschließlich von im Allgemeininteresse liegenden Zielen geleitet war, wie sie in Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV in Verbindung mit Art. 282 Abs. 1 AEUV und Art. 18.1 erster Gedankenstrich der ESZB-Satzung genannt sind. Da die in Rede stehenden Situationen nicht vergleichbar sind, können der Abschluss und die Durchführung der Vereinbarung vom 15. Februar 2012 folglich keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 92).
173 Als Zweites tragen die Kläger im vorliegenden Fall kein zusätzliches oder neues Argument vor, welches das Gericht veranlassen könnte, diese Rechtsprechung zu ändern. Insbesondere geht aus den vorstehenden Erwägungen entgegen ihrem Vorbringen eindeutig hervor, dass das Anleihekaufprogramm und die Vereinbarung vom 15. Februar 2012 geldpolitische Maßnahmen im Sinne von Art. 127 Abs. 1 und 2 sowie Art. 282 Abs. 1 AEUV und Art. 18.1 erster und zweiter Gedankenstrich der ESZB-Satzung darstellten.
174 Diese Beurteilung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt, wonach für die Entscheidung über die Frage, ob eine Maßnahme zur Währungspolitik gehört, hauptsächlich auf die Ziele dieser Maßnahme abzustellen ist, aber auch auf die Mittel, die die Maßnahme zur Erreichung dieser Ziele einsetzt. Wenn ein konkretes Anleihekaufprogramm zum einen auf das Ziel gerichtet ist, die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu gewährleisten, trägt es zur Erreichung der Ziele dieser Politik bei, da diese nach Art. 119 Abs. 2 AEUV „einheitlich“ sein muss. Ist ein solches Programm darüber hinaus zum anderen darauf gerichtet, eine ordnungsgemäße Transmission der Geldpolitik sicherzustellen, ist dieses Ziel zugleich geeignet, die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu gewährleisten und zu deren vorrangigem Ziel beizutragen, das in der Gewährleistung der Preisstabilität besteht. Die Fähigkeit des Eurosystems, durch seine geldpolitischen Entscheidungen die Preisentwicklung zu beeinflussen, hängt nämlich in weitem Umfang von der Übertragung der Impulse ab, die es auf dem Geldmarkt an die verschiedenen Wirtschaftssektoren aussendet. Eine Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus ist daher geeignet, die Entscheidungen des Eurosystems in einem Teil des Euro-Währungsgebiets ins Leere gehen zu lassen und damit die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu beeinträchtigen. Im Übrigen wird, da eine Störung des Transmissionsmechanismus die Wirksamkeit der vom Eurosystem beschlossenen Maßnahmen verringert, dadurch zwangsläufig dessen Fähigkeit beeinträchtigt, die Preisstabilität zu gewährleisten. Daher können Maßnahmen, die diesen Transmissionsmechanismus erhalten sollen, dem in Art. 127 Abs. 1 AEUV festgelegten vorrangigen Ziel zugerechnet werden. Der Umstand, dass ein Anleihekaufprogramm möglicherweise geeignet ist, auch zur Stabilität des Euro-Währungsgebiets beizutragen, die zur Wirtschaftspolitik gehört, kann diese Beurteilung nicht in Frage stellen, da eine währungspolitische Maßnahme nicht allein deshalb einer wirtschaftspolitischen Maßnahme gleichgestellt werden kann, weil sie mittelbare Auswirkungen auf die Stabilität des Euro-Währungsgebiets haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 46 bis 52 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 61 und 63).
175 Was die Mittel betrifft, die zur Erreichung der Ziele des Eurosystems und zur Erfüllung seiner Aufgaben sowie der Ziele eines solchen Anleihekaufprogramms eingesetzt werden sollen, hat der Gerichtshof im Wesentlichen festgestellt, dass die Durchführung des Anleihekaufprogramms geldpolitische Outright-Geschäfte an den Sekundärmärkten für Staatsanleihen im Sinne von Art. 18.1 der ESZB-Satzung beinhaltet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 53 und 54, und vom 11. Dezember 2018, Weiss u. a., C‑493/17, EU:C:2018:1000, Rn. 69). Der Gerichtshof hat daraus u. a. gefolgert, dass im Licht dieser Gesichtspunkte ein solches Anleihekaufprogramm in Anbetracht seiner Ziele und der zu ihrer Erreichung vorgesehenen Mittel zum Bereich der Währungspolitik gehört, und er hat das Vorbringen zurückgewiesen, mit dem geltend gemacht wird, dass die Durchführung eines solchen Anleihekaufprogramms von der vollständigen Einhaltung makroökonomischer Anpassungsprogramme der EFSF und des ESM abhängig sei und es gegebenenfalls inzident den Anreiz zur Einhaltung solcher Anpassungsprogramme stärken könne, mit deren Umsetzung wirtschaftspolitische Ziele verfolgt würden. Nach Auffassung des Gerichtshofs können solche mittelbaren Auswirkungen nicht bedeuten, dass ein solches Programm als eine wirtschaftspolitische Maßnahme einzustufen wäre, da sich aus Art. 119 Abs. 2, Art. 127 Abs. 1 und Art. 282 Abs. 2 AEUV ergibt, dass das Eurosystem ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 55 bis 59).
176 Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass der Umstand, dass der Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten unter der Bedingung, dass ein makroökonomisches Anpassungsprogramm eingehalten wird, als zur Wirtschaftspolitik gehörend angesehen werden konnte, wenn dieser Ankauf vom ESM vorgenommen wird, nicht impliziert, dass es sich ebenso verhalten müsste, wenn dieses Instrument vom Eurosystem im Rahmen eines Anleiheankaufprogramms eingesetzt wird. Insoweit ist nämlich der Unterschied zwischen den Zielen des ESM und des Eurosystems von entscheidender Bedeutung. Während ein solches Programm nur in dem Umfang durchgeführt werden darf, in dem es zur Gewährleistung der Preisstabilität erforderlich ist, zielt das Tätigwerden des ESM auf die Wahrung der Stabilität des Euro-Währungsgebiets, wobei dieses letztgenannte Ziel nicht zur Währungspolitik gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 63 und 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
177 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass, auch wenn die Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld in erster Linie zur Wirtschaftspolitik gehört und somit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, was im Einklang mit dem Erlass des Gesetzes Nr. 4050/2012 durch den griechischen Gesetzgeber steht, alle begleitenden Maßnahmen, die das Eurosystem nach Art. 127 Abs. 1 und 2 und Art. 282 Abs. 1 AEUV sowie Art. 18.1 erster und zweiter Gedankenstrich der ESZB-Satzung erlassen hat, Teil der Währungspolitik sind. Dies gilt umso mehr, als die Umstrukturierung erhebliche Auswirkungen auf die Verfolgung des vorrangigen Ziels der Währungspolitik, nämlich Gewährleistung der Preisstabilität, sowie auf das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme haben kann. Der bloße Umstand, dass diese begleitenden Maßnahmen wirtschaftspolitische Maßnahmen im engeren Sinn, d. h. die Sanierung der Finanzlage der Hellenischen Republik, unterstützen sollten, impliziert hingegen nicht, dass sie mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen gleichgesetzt werden können. Dies betrifft nicht nur den Ankauf griechischer Schuldtitel auf dem Sekundärmarkt durch die Zentralbanken des Eurosystems im Rahmen eines Anleihekaufprogramms nach Art. 18.1 erster Gedankenstrich der ESZB-Satzung (vgl. den oben in Rn. 7 angeführten Beschluss 2010/281), sondern auch jede andere Maßnahme im Zusammenhang mit der Verwaltung dieser Schuldtitel, einschließlich Verkauf oder Tausch als actus contrarius, insbesondere im Rahmen der Vereinbarung vom 15. Februar 2012.
178 Sowohl der Abschluss als auch die Durchführung der Vereinbarung, die es den Zentralbanken des Eurosystems ermöglichen sollten, der Beteiligung des Privatsektors und der Anwendung der Umschuldungsklauseln zu entgehen, fügten sich nämlich in den Rahmen der Ausübung der Zuständigkeiten und grundlegenden Aufgaben des Eurosystems ein, da sie den Spielraum der Zentralbanken aufrechterhalten und das kontinuierliche ordnungsgemäße Funktionieren des Eurosystems gewährleisten sollten. Das zuletzt genannte Ziel erforderte insbesondere, dass die Zentralbanken weiterhin die griechischen Schuldtitel als angemessene Sicherheiten für Kreditgeschäfte des Eurosystems im Sinne von Art. 18.1 zweiter Gedankenstrich der ESZB-Satzung akzeptieren konnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 108), was im Fall einer schlechten Bewertung der Schuldtitel und erst recht im Fall eines Schuldenschnitts und somit teilweisen Zahlungsausfalls nicht möglich gewesen wäre (vgl. Leitlinie 2011/817/EU der EZB vom 20. September 2011 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems [EZB/2011/14] [ABl. 2011, L 331, S. 1] und ihr Anhang I „Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des Eurosystems“, Nrn. 6.3.1 und 6.3.2 zur Festlegung der Kriterien sowohl für hohe Bonitätsanforderungen, die mindestens erfüllt werden müssen [Bonitätsschwellenwert], als auch für hohe Bonitätsanforderungen für marktfähige Sicherheiten). Insoweit sah sich die EZB sogar durch ihren Beschluss 2010/268/EU vom 6. Mai 2010 über temporäre Maßnahmen hinsichtlich der Notenbankfähigkeit der von der griechischen Regierung begebenen oder garantierten marktfähigen Schuldtitel (EZB/2010/3) (ABl. 2010, L 117, S. 102) angesichts der Finanzkrise der Hellenischen Republik veranlasst, „[d]ie Mindestanforderungen des Eurosystems für die Bonitätsschwellenwerte gemäß den Bestimmungen des Bonitätsbeurteilungsrahmens des Eurosystems für marktfähige Sicherheiten in [Nr.] 6.3.2 der Allgemeinen Regelungen“ ausnahmsweise und vorübergehend auszusetzen (Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses), um dem Eurosystem zu ermöglichen, griechische Schuldtitel weiterhin „ungeachtet ihres externen Ratings [als] notenbankfähige Sicherheiten für geldpolitische Operationen des Eurosystems“ zuzulassen (Art. 2 des Beschlusses) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2015, Accorinti u. a./EZB, T‑79/13, EU:T:2015:756, Rn. 6 und 7).
179 Das Vorbringen der Kläger zur Einstufung des Ausschlusses des Eurosystems von der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld als wirtschaftspolitische Maßnahme ist somit als unbegründet zurückzuweisen. Gleiches gilt für die Argumente, die sich auf die Stellungnahme der EZB vor dem Bundesverfassungsgericht sowie einen Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV richten und bereits im Rahmen der zweiten Rüge der Rechtswidrigkeit zurückgewiesen worden sind (siehe oben, Rn. 109 und 110).
180 Soweit sich die Kläger auf eine Ungleichbehandlung im Vergleich zur EIB und der Kommission oder gar der Union berufen, ist als Drittes festzustellen, dass die von den institutionellen Gläubigern gehaltenen griechischen Schuldtitel zwar ebenfalls von der Beteiligung des Privatsektors und der Anwendung der Umschuldungsklauseln ausgeschlossen waren (siehe oben, Rn. 29), ohne Gegenstand der Vereinbarung vom 15. Februar 2012 gewesen zu sein.
181 Was jedoch die Eigenschaft der EIB als Inhaberin staatlicher Schuldtitel betrifft, ergibt sich aus der im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe, die dieser Einrichtung gemäß Art. 309 AEUV in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 bis 3 und Art. 26 Abs. 2 des Protokolls Nr. 5 über die Satzung der EIB übertragen wurde, dass sich die EIB auch in einer Situation befand, die sich von der Situation privater Inhaber griechischer Schuldtitel unterschied.
182 Art. 309 AEUV bestimmt nämlich, dass es „Aufgabe der Europäischen Investitionsbank ist …, zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Binnenmarkts im Interesse der Union beizutragen; hierbei bedient sie sich des Kapitalmarkts sowie ihrer eigenen Mittel“ und dass sie „[i]n diesem Sinne … ohne Verfolgung eines Erwerbszwecks durch Gewährung von Darlehen und Bürgschaften die Finanzierung der nachstehend bezeichneten Vorhaben in allen Wirtschaftszweigen [erleichtert]“. Ebenso ist die EIB durch Art. 21 Abs. 1 bis 3 des Protokolls Nr. 5 u. a. ermächtigt, Anlagen auf den Geldmärkten vorzunehmen, Wertpapiere zu kaufen oder zu verkaufen und alle sonstigen in ihren Aufgabenbereich fallenden Finanzgeschäfte vorzunehmen (Abs. 1), wobei sie „im Einvernehmen mit den zuständigen Behörden oder der nationalen Zentralbank des betreffenden Mitgliedstaats“ handeln muss. Schließlich bestimmt Art. 26 Abs. 2 des Protokolls Nr. 5: „Das Vermögen der [EIB] kann in keiner Form beschlagnahmt oder enteignet werden.“ Somit hätte eine obligatorische Beteiligung der EIB an der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld, die einem Eingriff in das Eigentumsrecht (siehe oben, Rn. 121 bis 126) und somit einer Form der „Enteignung“ gleichkäme, einen Verstoß gegen das in Art. 26 Abs. 2 des Protokolls Nr. 5 enthaltene Verbot dargestellt, das die im öffentlichen Interesse liegenden Aufgaben der EIB gemäß Art. 309 AEUV wahren soll.
183 Da sich die EIB folglich in einer Situation befand, die sich tatsächlich und rechtlich von derjenigen der privaten Anleger unterschied, kann ihr Ausschluss von der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld keinen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Anspruch der Kläger auf Gleichbehandlung begründen.
184 Was die Stellung der Union als Gläubigerin betrifft, so wird die Union u. a. durch die Kommission vertreten in ihrer Eigenschaft als Haushaltsbehörde im Sinne von Art. 317 AEUV und konkret im Rahmen der Durchführung ihrer „Finanzgeschäfte“ im Sinne von Art. 321 Abs. 2 AEUV sowie der Haushaltsvorschriften im Sinne von Art. 322 Abs. 1 Buchst. a AEUV in Verbindung mit der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2002, L 248, S. 1), aufgehoben durch die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union (ABl. 2012, L 298, S. 1), die u. a. vorsahen, dass in den Haushaltsplan der Gemeinschaften oder der Union die Garantien für die Anleihe- und Darlehensoperationen der Gemeinschaften oder der Union eingesetzt werden (Art. 4 Abs. 3 der Haushaltsordnung Nr. 1605/2002; Art. 7 Abs. 2 der Haushaltsordnung Nr. 966/2012). Außerdem dürfen, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, nach Art. 1 Satz 3 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union die „Vermögensgegenstände und Guthaben der Union … ohne Ermächtigung des Gerichtshofs nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein“.
185 Somit wurden die von der Union gehaltenen griechischen Schuldtitel nicht nur in ihren Haushaltsplan eingesetzt und teils von der Kommission als Haushaltsbehörde, teils von der EIB im öffentlichen Interesse der Union verwaltet, sondern sie genossen auch einen besonderen Schutz vor Enteignung durch die Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund besaß zum einen die Kommission ein erstes Schuldtitelportfolio mit einem Nennwert von 46 Mio. Euro im Namen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in Abwicklung und ein zweites Schuldtitelportfolio mit einem Nennwert von 5 Mio. Euro, das vom Gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften (GKFS) gehalten wurde. Zum anderen verwaltete die EIB drei Portfolios, die aus griechischen Schuldtiteln mit einem Gesamtnennwert von 55,7 Mio. Euro bestanden, von denen 40,7 Mio. Euro vom Garantiefonds für Maßnahmen im Zusammenhang mit den Außenbeziehungen, der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 480/2009 des Rates vom 25. Mai 2009 (ABl. 2009, L 145, S. 10) eingerichtet worden war, 10 Mio. Euro von der Fazilität für Finanzierungen auf Risikoteilungsbasis und 5 Mio. Euro vom Kreditgarantieinstrument für transeuropäische Verkehrsprojekte gehalten wurden.
186 Somit machen die Kläger zu Unrecht geltend, dass sich private Anleger, die aus rein privatem finanziellem Interesse in griechische Schuldtitel investierten, in einer vergleichbaren Situation wie die Union befunden hätten, die griechische Schuldtitel ausschließlich zur Verwaltung und Erhaltung ihres Haushalts und zur Durchführung ihrer Politik und ihrer Aufgaben im öffentlichen Interesse hielt.
187 Folglich ist die Rüge, private Anleger seien anders als die Union behandelt worden, ebenfalls zurückzuweisen.
188 Was als Viertes das Vorbringen betrifft, der Abschlag und die einheitlichen oder gleichen Kriterien für die neuen, vom griechischen Staat angebotenen Schuldtitel seien diskriminierend, da die unterschiedlichen Merkmale der im Rahmen der Beteiligung des Privatsektors umgetauschten Schuldtitel, insbesondere in Bezug auf Restlaufzeit, Zinsscheine und aktuellen Marktwert, nicht berücksichtigt worden seien, ist lediglich darauf hinzuweisen, dass der EGMR in seinem Urteil vom 21. Juli 2016, Mamatas u. a./Griechenland (CE:ECHR:2016:0721JUD006306614, §§ 133, 135 und 138), eine ähnliche Rüge zurückgewiesen hat und die Rechtmäßigkeit des Urteils des Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat, Griechenland) Nr. 1116/2014 vom 21. März 2014 insoweit bestätigt hat. Wie nämlich oben in Rn. 133 dargelegt, wäre eine Berechnung des Abschlags anhand des Marktwerts der einzelnen Schuldtitel zu einem bestimmten Zeitpunkt, als dieser durch die verminderte Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates bereits stark beeinträchtigt war, und ihrer jeweiligen Fälligkeitstermine nicht praktikabel gewesen. Im Übrigen erscheint es im Rahmen einer Umstrukturierung einer Staatsschuld durch Umschuldungsklauseln nicht unlogisch, die Emissionsbedingungen, einschließlich Zinsscheinen und Fälligkeitsterminen, der neuen Schuldtitel zu vereinheitlichen, deren Finanzierung mit Unterstützung einer dritten zwischenstaatlichen Einrichtung, d. h. vorliegend EFSF und EMS, garantiert werden muss. Somit haben die Kläger nicht nachgewiesen, dass eine Umstrukturierung „pro Schuldtitel“ technisch machbar und ausreichend gewesen wäre, um die im öffentlichen Interesse liegenden Ziele zu erreichen. Da die Ziele nur auf der Grundlage des Nennwerts der in Betracht kommenden griechischen Schuldtitel wirksam erreicht werden konnten, war dieses Kriterium sowohl relevant als auch angemessen, um die in Rede stehenden Situationen im Hinblick auf die verfolgten Ziele für die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung zu vergleichen.
189 Daher ist diese Rüge zurückzuweisen, ohne dass das Vorbringen der Kläger zu prüfen ist, wonach ein Vergleich „pro Schuldtitel“ für sie vorteilhaft gewesen wäre oder gerechtfertigt hätte, sie angesichts der Qualität der von ihnen gehaltenen griechischen Schuldtitel von anderen privaten Schuldtitelinhabern zu unterscheiden.
190 Nach alledem ist die Rüge der Rechtswidrigkeit betreffend einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz insgesamt zurückzuweisen.
191 Angesichts der vorstehenden Erwägungen und mangels eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine die Kläger schützende Rechtsvorschrift, der die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB begründen könnte, ist die Klage somit zurückzuweisen, ohne dass über den Kausalzusammenhang oder den geltend gemachten Schaden entschieden werden muss.
[nicht wiedergegeben]
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. QI und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Kläger tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB).
3. Der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union tragen ihre eigenen Kosten.
Frimodt Nielsen
Kreuschitz
Półtorak
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. Februar 2022.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(i
) Die vorliegende Sprachfassung ist in den Rn. 102, 146 und 163 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.
(1 ) Die Liste der weiteren Kläger ist nur der Fassung beigefügt, die den Parteien mitgeteilt wird.
(2 ) Es werden nur die Randnummern wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 14. Juli 2021.#Antonio José Benavides Torres gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtssache T-245/18.
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62018TJ0245
|
ECLI:EU:T:2021:447
| 2021-07-14T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62018TJ0245 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 5. Oktober 2020 (Auszüge).#HeidelbergCement AG und Schwenk Zement KG gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Grauzementmarkt in Kroatien – Beschluss, mit dem der Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt und dem EWR‑Abkommen unvereinbar erklärt wird – Beteiligte Unternehmen – Relevanter Markt – Wesentlicher Teil des Binnenmarkts – Beurteilung der Auswirkungen des Zusammenschlusses auf den Wettbewerb – Verpflichtungszusagen – Verteidigungsrechte – Teilweise Verweisung an die nationalen Behörden.#Rechtssache T-380/17.
|
62017TJ0380
|
ECLI:EU:T:2020:471
| 2020-10-05T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62017TJ0380
URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)
5. Oktober 2020 (*1)
„Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Grauzementmarkt in Kroatien – Beschluss, mit dem der Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt und dem EWR‑Abkommen unvereinbar erklärt wird – Beteiligte Unternehmen – Relevanter Markt – Wesentlicher Teil des Binnenmarkts – Beurteilung der Auswirkungen des Zusammenschlusses auf den Wettbewerb – Verpflichtungszusagen – Verteidigungsrechte – Teilweise Verweisung an die nationalen Behörden“
In der Rechtssache T‑380/17,
HeidelbergCement AG mit Sitz in Heidelberg (Deutschland),
Schwenk Zement KG mit Sitz in Ulm (Deutschland),
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte U. Denzel, C. von Köckritz, P. Pichler, U. Soltész, M. Raible und G. Wecker,
Klägerinnen,
unterstützt durch
Duna-Dráva Cement Kft. mit Sitz in Vác (Ungarn), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte C. Bán und Á. Papp,
Streithelferin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch A. Dawes, H. Leupold und T. Vecchi als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2017) 1650 final der Kommission vom 5. April 2017, mit dem ein Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen unvereinbar erklärt wird (Sache M. 7878 – HeidelbergCement/Schwenk/Cemex Hungary/Cemex Croatia),
erlässt
DAS GERICHT (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. M. Collins sowie der Richter R. Barents (Berichterstatter) und J. Passer,
Kanzler: E. Artemiou, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Oktober 2019
folgendes
Urteil (1 )
[nicht wiedergegeben]
III. Rechtliche Würdigung
[nicht wiedergegeben]
B. Erster Klagegrund: Rechtsfehler und offensichtliche Beurteilungsfehler hinsichtlich der Definition der gemeinschaftsweiten Bedeutung des Zusammenschlusses
[nicht wiedergegeben]
2. Begründetheit
95 Mit ihrem ersten Klagegrund machen die Klägerinnen im Wesentlichen geltend, die Kommission sei nicht zuständig, den Zusammenschluss zu kontrollieren, da er keine gemeinschaftsweite Bedeutung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 habe. Nach dieser Bestimmung müssten mindestens zwei beteiligte Unternehmen einen unionsweiten Umsatz von jeweils 250 Mio. Euro erreichen. Nach dem Vorhaben erwerbe die Duna-Dráva Cement Kft. (im Folgenden: DDC) jedoch ihre direkten Wettbewerber Cemex Croatia und Cemex Hungary. Deshalb seien diese beiden Unternehmen als Zielunternehmen und DDC als Erwerberin die beteiligten Unternehmen. Die Umsätze von HeidelbergCement und von Schwenk hätten somit von der Kommission nicht gesondert berücksichtigt werden dürfen, sondern hätten DDC zugewiesen werden müssen. Da die Umsätze der Zielgesellschaften zu niedrig seien, um die Umsatzschwellenwerte der Verordnung Nr. 139/2004 zu erreichen, wäre also allein DDC in der Lage gewesen, diese Werte zu erreichen. Daher habe der Zusammenschluss keine gemeinschaftsweite Bedeutung.
[nicht wiedergegeben]
a)
Erster Teil: Begriff der beteiligten Unternehmen
97 Im Rahmen des ersten Teils des ersten Klagegrundes bringen die Klägerinnen im Wesentlichen vor, dass die erfolgte Auslegung der Konsolidierten Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2008, C 95, S. 1, Berichtigung ABl. 2009, C 43, S. 10, im Folgenden: konsolidierte Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen) fehlerhaft sei, soweit sie sich auf die Ermittlung der beteiligten Unternehmen im Rahmen des Kontrollerwerbs durch ein Gemeinschaftsunternehmen beziehe. Die Klägerinnen, unterstützt durch DDC, bringen zur Untermauerung dieser Behauptung fünf Rügen vor.
98 Vor einer materiellen Prüfung dieser Rügen ist das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, dass ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen wie DDC als ein „beteiligtes Unternehmen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 anzusehen sei, da sich der Unternehmensbegriff im wettbewerbsrechtlichen Kontext auf eine selbständige wirtschaftliche Einheit beziehe.
99 Die Grundsätze der rechtlichen und wirtschaftlichen Selbständigkeit von Unternehmen können nämlich jedenfalls nicht implizieren, dass eine Gesellschaft, die von zwei anderen Gesellschaften gehalten und gemeinsam kontrolliert wird, allein deshalb notwendigerweise selbständig auf dem Markt auftritt, weil sie über eine eigene Rechtspersönlichkeit oder eigene finanzielle Mittel verfügt. Eine solche Annahme würde nämlich völlig die zahlreichen Möglichkeiten außer Acht lassen, die solchen Muttergesellschaften in der Praxis offenstehen, wenn sie das Verhalten der Tochter formell oder informell beeinflussen möchten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2011, Elf Aquitaine/Kommission, T‑299/08, EU:T:2011:217, Rn. 70).
1) Zur Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität für die Ermittlung der beteiligten Unternehmen
100 Nach Ansicht der Klägerinnen erlauben es die Nrn. 145 bis 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen, die Kontrollübernahmen durch ein Gemeinschaftsunternehmen betreffen, der Kommission nicht, die beteiligten Unternehmen auf Einzelfallbasis dadurch zu identifizieren, dass sie den wirtschaftlichen Sachverhalt prüft, um zu ermitteln, wer die eigentlichen Akteure des geplanten Zusammenschlusses sind. Daher könne die Ermittlung der beteiligten Unternehmen nicht das Ergebnis auf Einzelfallbasis durchgeführter komplexer Tatsachenwürdigungen sein. Eine Ausnahme komme nur dann in Betracht, wenn es für alle betreffenden Einrichtungen offensichtlich sei, dass das Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen kein beteiligtes Unternehmen sei. Die Kommission dürfe den wirtschaftlichen Sachverhalt nur in zwei Fällen prüfen: erstens, wenn die erwerbenden Unternehmen eine „Mantelgesellschaft“, also eine speziell zum Zweck des Erwerbs errichtete Gesellschaft, verwendeten und zweitens in Fällen einer offensichtlichen Umgehung, wenn ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen als reines Instrument für eine Transaktion verwendet werde, die für dieses gänzlich ohne Belang sei und wenn dies für alle beteiligten Akteure offenkundig sei.
101 Zudem ergebe sich aus dem Wortlaut von Nr. 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen, dass eine erhebliche Beteiligung der Muttergesellschaften an dem Vorhaben als Hinweis darauf dienen könne, dass diese ein Gemeinschaftsunternehmen als reines Erwerbsinstrument verwendeten, aber als solche nicht ausreiche, um die Muttergesellschaften als beteiligte Unternehmen einzustufen.
102 Darüber hinaus könne eine Beteiligung der Muttergesellschaften nur dann als Hinweis auf die Verwendung eines Gemeinschaftsunternehmens als reines Erwerbsinstrument angesehen werden, wenn diese kumulativ an der Einleitung, der Organisation und der Finanzierung des Vorhabens beteiligt gewesen seien und wenn alle oder zumindest mehrere Muttergesellschaften eine solche Beteiligung zeigten.
103 Im Übrigen könne ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen nicht als reines Instrument eingestuft werden, wenn es ein eigenes strategisches Interesse an dem Zusammenschlussvorhaben habe, und zwar auch dann, wenn auch die Muttergesellschaften ein eigenes größeres strategisches Interesse an diesem Zusammenschluss haben könnten. Nur wenn der Erwerb nicht die wirtschaftliche Tätigkeit des Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmens betreffe, sondern nur den Interessen der Muttergesellschaften diene, könnten die Muttergesellschaften an dem Vorhaben beteiligt sein. Im vorliegenden Fall habe sich das Interesse von DDC u. a. durch ihre früheren geplanten Übernahmen, dadurch, dass sie seit langer Zeit bestehe, dadurch, dass das Vorhaben ihre Marktpräsenz mittelbar stärkte, dadurch, dass sie der unmittelbare Erwerber von Cemex Croatia gewesen wäre, und dadurch verwirklicht, dass sie an einem Vorhaben beteiligt wäre, das sie unmittelbar beträfe.
104 Nach Auffassung von DDC dient der Begriff „beteiligte Unternehmen“ der Ermittlung derjenigen Unternehmen, die zu berücksichtigen seien, um zu beurteilen, ob ein Zusammenschluss im Rahmen der Verordnung Nr. 139/2004 anzumelden sei oder nicht. Insoweit sei dieser Begriff eng und vorhersehbar auszulegen. Deshalb könne er weder davon abhängen, wie der Erwerbsprozess eingeleitet oder organisiert werde oder wie er sich entwickele, noch von einer Beurteilung des angeblichen wirtschaftlichen Sachverhalts durch die Kommission. Eine Ausnahme davon könne es nur geben, wenn eindeutig festgestellt sei, dass die Leitung des Zielunternehmens und seine Wettbewerbsstrategie nach dem Zusammenschluss nicht von der erwerbenden Gesellschaft bestimmt würden, oder wenn dieser ausschließlich einer anderen Gesellschaft als dem unmittelbaren Erwerber zugutekäme.
105 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 den Begriff der beteiligten Unternehmen nicht definiert. Wie dieser Begriff bei Vorhaben ausgelegt wird, bei denen ein Gemeinschaftsunternehmen die Kontrolle über eine andere Gesellschaft übernimmt, ist jedoch Gegenstand der Nrn. 145 bis 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen.
106 Nach Nr. 145 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen kann es, während das am Kontrollerwerb unmittelbar beteiligte Gemeinschaftsunternehmen im Allgemeinen als beteiligtes Unternehmen anzusehen ist, vorkommen, dass Unternehmen „Mantelgesellschaften“ gründen und die Muttergesellschaften einzeln als beteiligte Unternehmen angesehen werden. In einem derartigen Fall untersucht die Kommission den wirtschaftlichen Sachverhalt des Vorhabens, um die beteiligten Unternehmen zu ermitteln.
107 In diesem Zusammenhang wird in Nr. 146 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen erläutert, dass dann, wenn der Erwerber ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen mit den vorstehend aufgeführten Merkmalen ist, das bereits auf demselben Markt tätig ist, die Kommission normalerweise das Gemeinschaftsunternehmen selbst und das Zielunternehmen als beteiligte Unternehmen betrachten wird (und nicht die Muttergesellschaften des Gemeinschaftsunternehmens).
108 Nr. 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen lautet:
„Ist hingegen das Gemeinschaftsunternehmen als reines Instrument für die Erwerbszwecke der Muttergesellschaften einzuschätzen, wird die Kommission statt des Gemeinschaftsunternehmens jede der Muttergesellschaften und das Zielunternehmen als beteiligte Unternehmen ansehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Gemeinschaftsunternehmen speziell für den Erwerb des Zielunternehmens gegründet wird oder seine Geschäftstätigkeit noch nicht aufgenommen hat, wenn ein bestehendes Gemeinschaftsunternehmen kein wie oben beschriebenes Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen ist oder wenn das Gemeinschaftsunternehmen eine Vereinigung von Unternehmen darstellt. Dasselbe gilt, wenn anhand bestimmter Elemente nachgewiesen werden kann, dass die Muttergesellschaften die eigentlichen Akteure bei dem Vorhaben sind. Solche Elemente wären eine erhebliche Beteiligung der Muttergesellschaften an der Einleitung, Organisation und Finanzierung des Vorhabens. In diesen Fällen werden die Muttergesellschaften als die beteiligten Unternehmen angesehen.“
109 Das Vorbringen der Klägerinnen und von DDC ist anhand dieser Erwägungen zu prüfen.
110 Erstens ist die von den Klägerinnen und DDC vorgeschlagene Auslegung, die darin besteht, der Kommission die Möglichkeit abzusprechen, den wirtschaftlichen Sachverhalt außer in den von ihnen bezeichneten Fällen zu berücksichtigen, zurückzuweisen.
111 Zunächst laufen diese Auslegungen auf nichts anderes hinaus, als darauf, dass etwaige Verbindungen zwischen einem Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen und seinen Muttergesellschaften – abgesehen von den von den Klägerinnen und von DDC ausgemachten Fällen – für die Anwendung der Verordnung Nr. 139/2004 völlig unerheblich wären. Dem kann jedoch nicht so sein.
112 Es ist nämlich bereits entschieden worden, dass der Umstand, dass ein Gemeinschaftsunternehmen ein Vollfunktionsunternehmen und damit in funktionaler Hinsicht wirtschaftlich selbständig ist, nicht bedeutet, dass es beim Erlass seiner strategischen Entscheidungen Selbständigkeit genießt. Andernfalls bestünde niemals eine gemeinsame Kontrolle über ein „Gemeinschaftsunternehmen“, wenn dieses wirtschaftlich selbständig ist (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Februar 2006, Cementbouw Handel & Industrie/Kommission, T‑282/02, EU:T:2006:64, Rn. 62).
113 Daher ist es ausgeschlossen, dass die in Nr. 145 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen aufgeworfene wesentliche Frage nach der Bestimmung der Umstände, unter denen ein Gemeinschaftsunternehmen als ein beteiligtes Unternehmen anzusehen ist, auf die von den Klägerinnen und DDC genannten Fälle beschränkt ist.
114 Sodann läuft die Auslegung der Klägerinnen und von DDC auch darauf hinaus, zu verneinen, dass mittelbare Verbindungen zwischen den Muttergesellschaften und dem Gemeinschaftsunternehmen Auswirkungen auf das Wettbewerbsverhalten der so verbundenen Unternehmen auf bestimmten Märkten haben können.
115 Im Rahmen der gemeinsamen Kontrolle eines Gemeinschaftsunternehmens müssen sich die Muttergesellschaften dieses Unternehmens aber zwangsläufig über die kaufmännische Geschäftsführung dieses Unternehmens und in gewissem Maße über ihre eigene Stellung gegenüber dem Gemeinschaftsunternehmen auf bestimmten Märkten verständigen. Infolgedessen stellen solche mittelbaren wirtschaftlichen und strukturellen Verbindungen einen Umstand dar, der bei der Beurteilung eines Zusammenschlusses im Sinne der Fusionskontrollverordnung zu berücksichtigen ist (Urteil vom 8. Juli 2003, Verband der freien Rohrwerke u. a./Kommission, T‑374/00, EU:T:2003:188, Rn. 173 und 174).
116 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass es zur Gewährleistung der Wirksamkeit der Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen erforderlich ist, der wirtschaftlichen Realität der eigentlichen Akteure bei dem Zusammenschluss je nach den rechtlichen und tatsächlichen Umständen des jeweiligen Einzelfalls Rechnung zu tragen. Die Ermittlung der beteiligten Unternehmen hängt somit zwangsläufig damit zusammen, wie das Übernahmeverfahren in jedem Einzelfall eingeleitet, organisiert und finanziert wurde.
117 Zweitens ist auch die von den Klägerinnen und von DDC vorgetragene Auslegung von Nr. 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen zurückzuweisen.
118 Als Erstes ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Nummer, dass die Verwendung eines Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmens als reines Instrument für den Erwerb nicht den einzigen Fall darstellt, in dem die Muttergesellschaften als beteiligte Unternehmen eingestuft werden können.
119 Der zweite Satz dieser Nummer führt nämlich beispielhaft verschiedene Situationen auf, in denen ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen als reines Instrument für den Erwerb eingeschätzt werden kann. Dies ergibt sich aus dem Gebrauch der Wendung „ist insbesondere dann der Fall“. Die Situation hingegen, in der „anhand bestimmter Elemente nachgewiesen werden kann, dass die Muttergesellschaften die eigentlichen Akteure bei dem Vorhaben sind“, wird gesondert im nachfolgenden Satz genannt. Somit ist dieser letztgenannte Fall von den Situationen zu unterscheiden, in denen ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen als reines Instrument für den Erwerb einzuschätzen ist.
120 Darüber hinaus verwendet die englische Fassung des letzten Satzes von Nr. 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen die Wendung „in those cases“ im Plural und nicht im Singular, um auf die Fälle zu verweisen, in denen anstelle ihres Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmens die Muttergesellschaften als „beteiligte Unternehmen“ angesehen werden können. Dies bestätigt, dass es mehrere Fallgestaltungen gibt, in denen Muttergesellschaften als „beteiligte Unternehmen“ angesehen werden.
121 Als Zweites geht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervor, dass die „Elemente“, anhand deren „nachgewiesen wird“, dass „die Muttergesellschaften die eigentlichen Akteure bei dem Vorhaben sind“, und die als solche aufgeführt sind, nämlich „eine erhebliche Beteiligung der Muttergesellschaften an der Einleitung, Organisation und Finanzierung des Vorhabens“, keine abschließende Aufzählung von Fällen darstellen. Dies ergibt sich aus der Verwendung des Ausdrucks „on citéra ainsi“ in der französischen Fassung, der Wendung „these elements may include“ in der englischen Fassung sowie der Formulierung „kan een factor zijn“ in der niederländischen Fassung.
122 Um der wirtschaftlichen Realität Rechnung zu tragen, sind nämlich sämtliche relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die es ermöglichen, festzustellen, wer die eigentlichen Akteure bei dem Vorhaben sind. Somit kann die erhebliche Beteiligung der Muttergesellschaften an dem Vorhaben aus einem Gesamtbündel übereinstimmender Beweise abgeleitet werden, auch wenn keiner dieser Beweise für sich genommen ausreicht, um zu enthüllen, ob tatsächlich ein Zusammenschluss vorliegt.
123 Anders ausgedrückt erfasst Nr. 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen zwei Fälle, nämlich den Fall, in dem das Gemeinschaftsunternehmen als reines Instrument verwendet wird, oder alternativ den Fall, in dem die Muttergesellschaften die eigentlichen Akteure bei dem Vorhaben sind. In diesem Zusammenhang nennt diese Bestimmung für jeden dieser beiden Fälle nicht abschließend verschiedene Beispiele.
124 Entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen und von DDC ist daher nicht nur dann, wenn die Muttergesellschaften eine „leere Hülle“ für den Erwerb verwenden, oder in Umgehungsfällen davon auszugehen, dass die Muttergesellschaften die beteiligten Unternehmen sind, sondern auch dann, wenn sie die eigentlichen Akteure bei dem Vorhaben sind. Es ist klarzustellen, dass die Kommission im vorliegenden Fall der Ansicht war, dass vorliegend der Zusammenschluss zur zweiten Fallkonstellation gehöre und nicht, wie die Klägerinnen mitunter in ihren Schriftsätzen anzudeuten scheinen, zur ersten Fallkonstellation.
125 Drittens ist das Vorbringen, dass ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen nicht als reines Instrument angesehen werden könne, wenn es an dem Zusammenschluss ein eigenes Interesse habe, als ins Leere gehend zurückzuweisen. Wie oben in Rn. 124 ausgeführt worden ist, war die Kommission nämlich der Ansicht, dass das vorliegende Vorhaben zur zweiten Fallkonstellation in Nr. 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen gehöre. Jedenfalls kann der Umstand, dass ein Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen ein eigenes strategisches Interesse an einem Zusammenschluss haben kann, der Einstufung der Muttergesellschaften der betreffenden Unternehmen als eigentliche Akteure bei dem Vorhaben insbesondere in Anbetracht ihrer erheblichen Beteiligung an der Einleitung, Organisation und Finanzierung des Vorhabens nicht entgegenstehen.
126 Daher ist das Vorbringen der Klägerinnen und von DDC zurückzuweisen.
2) Zum Grundsatz der Rechtssicherheit
127 Die Klägerinnen machen geltend, die Vorgehensweise der Kommission, die wirtschaftliche Realität auf einer Einzelfallbasis zu berücksichtigen, verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Der Begriff der beteiligten Unternehmen wirke sich nämlich unmittelbar auf die Anwendbarkeit der Verpflichtung zum Aufschub des Vollzugs des Zusammenschlusses und auf die Gefahr etwaiger Geldbußen im Fall eines Verstoßes gegen diese Verpflichtung aus. Auf Seiten des Erwerbers sei die Muttergesellschaft eines Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmens aber nicht unbedingt über den Umfang der Beteiligung der anderen Muttergesellschaft informiert. Auch seien das Zielunternehmen und der Verkäufer im Allgemeinen nicht in der Lage, die beteiligten Unternehmen auf Seiten des Erwerbers zu ermitteln, da sie nicht zwangsläufig vom Grad der Beteiligung der Muttergesellschaften und des Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmens an der Organisation und der Finanzierung des Zusammenschlusses Kenntnis hätten. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, könnten die betreffenden Unternehmen nicht im Vorfeld des Vorhabens beurteilen, ob dieser Beteiligungsgrad erheblich genug sei, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Muttergesellschaften beteiligte Unternehmen seien. Die durch diese Situation hervorgerufene Ungewissheit sei nicht hinnehmbar.
128 Die betreffenden Unternehmen müssten die Kommission vor der Anmeldung jedes Zusammenschlussvorhabens konsultieren, um von deren Standpunkt Kenntnis zu erlangen. Jedoch biete selbst eine solche Konsultation keine Rechtssicherheit, da die Antworten der GD „Wettbewerb“ auf die Konsultationsersuchen nicht verbindlich seien und die Kommission es in jüngeren Sachen sogar abgelehnt habe, eine schriftliche Antwort zu erteilen.
129 Die von den Klägerinnen erhobene Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit ist zurückzuweisen.
130 Nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, müssen die Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein, damit sich die Betroffenen bei unter das Unionsrecht fallenden Tatbeständen und Rechtsbeziehungen orientieren können (Urteil vom 8. Dezember 2011, France Télécom/Kommission, C‑81/10 P, EU:C:2011:811, Rn. 100). Gehört jedoch ein gewisser Grad an Unsicherheit in Bezug auf den Sinn und die Reichweite einer Rechtsnorm zu deren Wesen, ist zu prüfen, ob diese Rechtsnorm derart unklar ist, dass die Rechtsunterworfenen etwaige Zweifel in Bezug auf die Reichweite oder den Sinn dieser Norm nicht mit hinreichender Sicherheit ausräumen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2005, Belgien/Kommission, C‑110/03, EU:C:2005:223, Rn. 30 und 31). Dabei können diese Anforderungen jedoch nicht so verstanden werden, dass eine einen abstrakten Rechtsbegriff verwendende Rechtsvorschrift die verschiedenen konkreten Fälle nennen muss, in denen sie Anwendung finden kann, da der Gesetzgeber nicht jeden dieser Fälle im Voraus bestimmen kann (Urteil vom 20. Juli 2017, Marco Tronchetti Provera u. a., C‑206/16, EU:C:2017:572, Rn. 42).
131 Im vorliegenden Fall lässt sich nicht feststellen, ob die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen, die konsolidierte Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen erlaube es der Kommission nicht, „die wirtschaftliche Realität zu prüfen“, wenn sie es für richtig halte, und in jedem Einzelfall „zu ermitteln, wer die eigentlichen Akteure bei dem Vorhaben seien“, einen Mangel an Klarheit, Genauigkeit oder Vorhersehbarkeit der Nrn. 145 bis 147 dieser Mitteilung oder deren Anwendung durch die Kommission im vorliegenden Fall geltend machen wollen. Daher ist zu prüfen, ob die konsolidierte Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen selbst oder ihre Durchführung durch die Kommission zu einer gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßenden Mehrdeutigkeit geführt hat.
132 Aus den Nrn. 1 und 4 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen geht hervor, dass diese erlassen wurde, um die Transparenz, Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit des Vorgehens der Kommission zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteile vom 30. Mai 2013, Kommission/Schweden, C‑270/11, EU:C:2013:339, Rn. 41, und vom 12. Februar 2014, Beco/Kommission, T‑81/12, EU:T:2014:71, Rn. 70).
133 Die Nrn. 145 bis 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen wurden somit insbesondere mit dem Ziel angenommen, Rechtssicherheit zu gewährleisten. Außerdem senden diese Bestimmungen keine widersprüchlichen Signale hinsichtlich der Vorgehensweise, deren sich die Kommission bedient, um die an einem Zusammenschluss beteiligten Unternehmen zu ermitteln. Sie ermöglichen es sowohl den Muttergesellschaften eines Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmens als auch dem Verkäufer und seinem Zielunternehmen, die beteiligten Unternehmen zu bestimmen, da diese Unternehmen, wie die Kommission geltend macht, im Rahmen der Verhandlungen über den Zusammenschluss zwangsläufig Kenntnis vom Grad der Beteiligung der Muttergesellschaften des Gemeinschaftsunternehmens haben werden. Im Zweifelsfall können die Parteien des Zusammenschlusses stets bei dem betreffenden Unternehmen Informationen über den Grad seiner Beteiligung an dem Vorhaben anfordern.
134 Ferner können die Parteien eines Zusammenschlusses als sorgfältige Wirtschaftsteilnehmer und insbesondere als Unternehmer, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihres Berufs sehr umsichtig verhalten zu müssen, erforderlichenfalls auch fachkundigen Rat einholen, um die Folgen zu beurteilen, die sich aus der Anwendung der Nrn. 145 bis 147 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen ergeben können.
135 Im Übrigen haben die Parteien des Zusammenschlusses stets die Möglichkeit, mit den Dienststellen der Kommission Kontakt aufzunehmen, um eine informelle Beratung in Bezug auf die an dem Vorhaben beteiligten Unternehmen zu erhalten. Insoweit wird von den Klägerinnen nicht präzisiert, in welchen Fällen der jüngeren Zeit es ihren Angaben zufolge die Kommission abgelehnt haben soll, eine solche Antwort zu geben.
136 Die Umstände des vorliegenden Falles stehen auch im Widerspruch zu dem Vorbringen der Klägerinnen, da DDC, wie sich oben aus den Rn. 14 und 16 ergibt, am 20. August 2015 um eine solche Antwort ersucht und sie am 13. November 2015 erhalten hat. Zudem stimmt der im Schreiben der GD „Wettbewerb“ vom 13. November 2015 dargelegte Standpunkt, der die Klägerinnen als beteiligte Unternehmen identifizierte, mit dem Standpunkt überein, den die GD „Wettbewerb“ letztlich im angefochtenen Beschluss eingenommen hat. Auch wenn in diesem Schreiben ausgeführt wird, dass es keinen Beschluss der Kommission darstelle, tun die Klägerinnen nicht dar, dass die Konsultation der Kommission sie als sorgfältige Wirtschaftsteilnehmer daran gehindert hätte, etwaige Zweifel an der Anmeldepflicht im vorliegenden Fall auszuräumen.
[nicht wiedergegeben]
3) Zur Ausweitung der Befugnisse der Kommission
[nicht wiedergegeben]
140 Die Argumentation der Klägerinnen, wonach die Auslegung der Kommission es zuließe, Zusammenschlüsse in ihren Zuständigkeitsbereich einzubeziehen, die Auswirkungen auf einen kleinen Teil eines Mitgliedstaats hätten und die für den grenzüberschreitenden Handel im Binnenmarkt unerheblich seien, beruht auf einer falschen Prämisse. Nach Art. 1 Abs. 2 letzter Halbsatz der Verordnung Nr. 139/2004 hat nämlich ein Zusammenschluss auch bei Erreichen der Umsatzschwellenwerte keine gemeinschaftsweite Bedeutung, wenn die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres unionsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen. Überdies scheinen die Klägerinnen die wirtschaftliche Größe eines Zusammenschlusses mit seinen Auswirkungen auf einen wesentlichen Teil des Marktes zu vermengen, denn die Frage, ob der Zusammenschluss einen wirksamen Wettbewerb in einem wesentlichen Teil des Marktes erheblich behindert, gehört zur materiellen wettbewerbsrechtlichen Würdigung (siehe unten, Rn. 359 ff.).
141 Daher ist das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen.
4) Zur Intention der Muttergesellschaften
142 Die Klägerinnen machen geltend, dass die von der Kommission im angefochtenen Beschluss hinsichtlich der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen vertretene Auffassung die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 139/2004 von subjektiven Gesichtspunkten abhängig mache, was der Rechtsprechung des Gerichts zuwiderlaufe.
143 Das Vorbringen der Klägerinnen ist zurückzuweisen.
144 In diesem Zusammenhang können die Klägerinnen aus Rn. 129 des Urteils vom 21. September 2005, EDP/Kommission (T‑87/05, EU:T:2005:333), kein stichhaltiges Argument herleiten. Dort heißt es zwar, dass die Anwendbarkeit der alten Fusionskontrollverordnung nicht vom Willen der an einem Zusammenschluss Beteiligten abhängen kann, doch betrifft diese Randnummer nicht die Ermittlung der beteiligten Unternehmen, sondern beschränkt sich darauf, festzuhalten, dass die bloße Anmeldung eines Vorhabens durch die Parteien nicht bedeutet, dass die Fusionskontrollverordnung anwendbar ist.
5) Zu den Zielen und der Struktur der Verordnung Nr. 139/2004
145 Nach Ansicht von DDC geben, auch wenn die Verordnung Nr. 139/2004 den Begriff der beteiligten Unternehmen nicht definiere, die Ziele und die Struktur von Art. 5 Abs. 4 dieser Verordnung doch Hinweise darauf, wie dieser Begriff auszulegen sei.
146 Als Erstes ergebe sich sinngemäß aus dem der Verordnung in ihrem achten Erwägungsgrund zugewiesenen Ziel, dass die beteiligten Unternehmen die unmittelbar am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen seien. Um die Auswirkungen eines Zusammenschlusses ordnungsgemäß zu beurteilen, müsse daher ermittelt werden, welches Unternehmen die Tätigkeiten der Zielgesellschaften kontrollieren, über deren Wettbewerbsstrategie entscheiden und die wirtschaftlichen Folgen dafür tragen werde. Es sei im Allgemeinen erforderlich, dass die beteiligten Unternehmen auf der einen und der anderen Seite des Vorhabens stünden, da die Kommission sonst jeden geringfügigen Erwerb von Zielunternehmen durch Gemeinschaftsunternehmen großer multinationaler Unternehmen prüfen müsste. Eine Ausnahme könne es nur dann geben, wenn die Leitung der Zielgesellschaft und ihre Wettbewerbsstrategie nicht vom Erwerber bestimmt würden oder wenn der Zusammenschluss ausschließlich einer anderen Gesellschaft zugutekomme. Auf den Grad der Beteiligung der Muttergesellschaft des Erwerbers bei der Einleitung, Organisation und Finanzierung komme es nicht an.
147 Als Zweites gehe aus der in Art. 5 Abs. 4 Buchst. a und c der Verordnung Nr. 139/2004 getroffenen Unterscheidung zwischen dem beteiligten Unternehmen und den Unternehmen, die ein beteiligtes Unternehmen kontrollierten, hervor, dass diese Verordnung nicht vorsehe, dass die kontrollierenden Anteilseigner einer Gesellschaft als beteiligte Unternehmen angesehen werden könnten. Ausnahmen könnten bestehen, wenn eindeutig erwiesen sei, dass ein Vorhaben die erwerbende Gesellschaft nicht unmittelbar betreffe. Anderenfalls wäre Art. 5 Abs. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 139/2004 überflüssig.
148 Das Vorbringen von DDC ist zurückzuweisen.
149 Zunächst ist es, wie die Kommission zu Recht geltend macht, nicht erforderlich, dass sich die beteiligten Unternehmen, deren Umsatz die vorgesehenen Schwellenwerte übersteigt, auf der einen und auf der anderen Seite des Zusammenschlusses befinden, da Art. 1 der Verordnung Nr. 139/2004 nicht von „dem Erwerber und dem Zielunternehmen“, sondern von „mindestens zwei beteiligten Unternehmen“ spricht.
150 Zudem sieht Nr. 140 der konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen in ähnlicher Weise vor, dass dann, wenn zwei Unternehmen die gemeinsame Kontrolle über ein bereits bestehendes Unternehmen erwerben, die Unternehmen, die die gemeinsame Kontrolle erwerben, und das Zielunternehmen die beteiligten Unternehmen sind.
151 Sodann bestimmt Art. 5 Abs. 4 Buchst. c der Verordnung Nr. 139/2004 lediglich, dass der Gesamtumsatz eines beteiligten Unternehmens den Umsatz der Unternehmen enthalten muss, die im beteiligten Unternehmen über bestimmte Rechte oder Befugnisse verfügen, ohne dass dies verhindert, dass in bestimmten Fällen Unternehmen, die andere Unternehmen kontrollieren, selbst als die beteiligten Unternehmen angesehen werden können.
152 Nach alledem ist der erste Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die HeidelbergCement AG und die Schwenk Zement KG tragen ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Die Duna-Dráva Cement Kft. trägt ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
Collins
Barents
Passer
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Oktober 2020.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Beschluss des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 20. August 2020.#FL Brüterei M-V GmbH u. a. gegen Europäische Kommission.#Nichtigkeits- und Schadensersatzklage – Ökologische/biologische Landwirtschaft – Tierische Erzeugung – Ausnahmen von den Produktionsvorschriften wegen Nichtverfügbarkeit ökologischer/biologischer Betriebsmittel – Verwendung nichtökologischer/nichtbiologischer Tiere – Verlängerung des Anwendungszeitraums für die Ausnahmen von den Produktionsvorschriften – Keine unmittelbare Betroffenheit – Kein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Teilweise offensichtlich unzulässige und teilweise offensichtlich jeder rechtlichen Grundlage entbehrende Klage.#Rechtssache T-755/18.
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62018TO0755
|
ECLI:EU:T:2020:370
| 2020-08-20T00:00:00 |
Gericht
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 11. Juli 2019.#BP gegen Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA).#Außervertragliche Haftung – Zugang zu Dokumenten – Teilweise Verweigerung des Zugangs – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Verordnungen (EG) Nrn. 1049/2001 und 45/2001 – Schutz personenbezogener Daten – Immaterieller Schaden – Materieller Schaden – Kausalzusammenhang.#Rechtssache T-838/16.
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62016TJ0838
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ECLI:EU:T:2019:494
| 2019-07-11T00:00:00 |
Gericht
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 16. Januar 2019.#George Haswani gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Syrien – Einfrieren von Geldern – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-477/17.
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62017TJ0477
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ECLI:EU:T:2019:7
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 13. Dezember 2018.#Ludwig Schubert u. a. gegen Europäische Kommission.#Öffentlicher Dienst – Dienstbezüge – Jährliche Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten und sonstigen Bediensteten – Verordnungen (EU) Nrn. 422/2014 und 423/2014 – Anpassungen der Dienst- und Versorgungsbezüge für die Jahre 2011 und 2012 – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Berechtigtes Vertrauen – Regeln des sozialen Dialogs.#Rechtssache T-530/16.
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62016TJ0530
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ECLI:EU:T:2018:956
| 2018-12-13T00:00:00 |
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0530 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 13. Dezember 2018.#Thomas Haeberlen gegen Agentur der Europäischen Union für Netz- und Informationssicherheit.#Öffentlicher Dienst – Dienstbezüge – Jährliche Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten und sonstigen Bediensteten – Verordnungen (EU) Nrn. 422/2014 und 423/2014 – Angleichungen der Gehälter und Versorgungsbezüge für die Jahre 2011 und 2012 – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Berechtigtes Vertrauen – Regelungen zum sozialen Dialog.#Rechtssache T-632/16.
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62016TJ0632
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ECLI:EU:T:2018:957
| 2018-12-13T00:00:00 |
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 5. Dezember 2018.#Bristol-Myers Squibb Pharma EEIG gegen Europäische Kommission und Europäische Arzneimittel-Agentur.#Humanarzneimittel – Arzneimittel für seltene Leiden – Entscheidung über die Rücknahme der Ausweisung von Elotuzumab als Arzneimittel für seltene Leiden – Entscheidung, mit der festgestellt wird, dass die Kriterien für eine Ausweisung nicht mehr erfüllt sind – Genehmigung für das Inverkehrbringen des Humanarzneimittels Empliciti (Elotuzumab) – Art. 5 Abs. 12 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 – Art. 5 Abs. 8 der Verordnung Nr. 141/2000 – Begründungspflicht.#Rechtssache T-329/16.
|
62016TJ0329
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ECLI:EU:T:2018:878
| 2018-12-05T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0329 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 19. September 2018.#Jasenko Selimovic gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Europäisches Parlament – Mobbing – Entscheidung des Präsidenten des Parlaments, mit der gegenüber einem Mitglied des Europäischen Parlaments ein Verweis ausgesprochen wird – Art. 166 der Geschäftsordnung des Parlaments – Recht auf eine gute Verwaltung – Recht auf Akteneinsicht – Begründungspflicht – Rechtssicherheit – Ermessensmissbrauch – Außervertragliche Haftung.#Rechtssache T-61/17.
|
62017TJ0061
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ECLI:EU:T:2018:565
| 2018-09-19T00:00:00 |
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 20. September 2018.#Carrefour Hypermarchés SAS u. a. gegen Ministre des Finances et des Comptes publics.#Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État (Frankreich).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Art. 108 Abs. 3 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 794/2004 – Angemeldete Beihilferegelungen – Art. 4 – Änderung einer bestehenden Beihilfe – Starker Anstieg des Aufkommens von Abgaben, die der Finanzierung von Beihilferegelungen dienen, im Verhältnis zu den der Europäischen Kommission mitgeteilten Vorausberechnungen – Schwelle von 20 % der Ausgangsmittel.#Rechtssache C-510/16.
|
62016CJ0510
|
ECLI:EU:C:2018:751
| 2018-09-20T00:00:00 |
Gerichtshof, Wahl
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
|
62016CJ0510
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
20. September 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Art. 108 Abs. 3 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 794/2004 – Angemeldete Beihilferegelungen – Art. 4 – Änderung einer bestehenden Beihilfe – Starker Anstieg des Aufkommens von Abgaben, die der Finanzierung von Beihilferegelungen dienen, im Verhältnis zu den der Europäischen Kommission mitgeteilten Vorausberechnungen – Schwelle von 20 % der Ausgangsmittel“
In der Rechtssache C‑510/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 21. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 29. September 2016, in dem Verfahren
Carrefour Hypermarchés SAS,
Fnac Paris,
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Fnac Périphérie
gegen
Ministre des Finances et des Comptes publics
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter C. Vajda und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Carrefour Hypermarchés SAS, der Fnac Paris, der Fnac Direct, des Relais Fnac, der Codirep und der Fnac Périphérie, vertreten durch C. Rameix-Seguin und É. Meier, avocats,
–
der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und J. Bousin als Bevollmächtigte,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch S. Charitaki und S. Papaioannou als Bevollmächtigte,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Stromsky und K. Blanck-Putz als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. November 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 108 Abs. 3 AEUV sowie von Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. 2004, L 140, S. 1).
2 Es ergeht in Rechtsstreitigkeiten zwischen den Gesellschaften Carrefour Hypermarchés SAS, Fnac Paris, Fnac Direct, Relais Fnac, Codirep und Fnac Périphérie einerseits und dem Ministre des Finances et des Comptes publics (Minister für Finanzen und Haushalt, Frankreich) andererseits über die Erstattung einer Abgabe auf den Verkauf und die Vermietung von Videofilmen, die von den genannten Gesellschaften entrichtet worden war.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EG) Nr. 659/1999
3 Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1) sieht vor:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
a)
‚Beihilfen‘ alle Maßnahmen, die die Voraussetzungen des Artikels [107 Abs. 1 AEUV] erfüllen;
b)
‚bestehende Beihilfen‘
i)
… alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des [AEU‑]Vertrags in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind;
ii)
genehmigte Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die von der Kommission oder vom Rat genehmigt wurden;
…
c)
‚neue Beihilfen‘ alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen;
…“
Verordnung Nr. 794/2004
4 Im vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 794/2004 heißt es:
„Im Interesse der Rechtssicherheit sollte klargestellt werden, dass geringfügige Erhöhungen bis zu 20 % der Ausgangsmittel für eine Beihilferegelung, mit denen insbesondere der Inflation Rechnung getragen wird, bei der Kommission nicht angemeldet werden müssen, da dies kaum etwas an der ursprünglichen Bewertung der Vereinbarkeit der Beihilferegelung durch die Kommission ändern dürfte, sofern die sonstigen Voraussetzungen der Beihilferegelung unverändert bleiben.“
5 Art. 4 („Anmeldung bestimmter Änderungen bestehender Beihilfen im vereinfachten Verfahren“) der Verordnung Nr. 794/2004 bestimmt:
„(1) Für den Zweck von Artikel 1 Buchstabe c) der Verordnung [Nr. 659/1999] ist die Änderung einer bestehenden Beihilfe jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem Gemeinsamen Markt haben kann. Eine Erhöhung der Ausgangsmittel für eine bestehende Beihilfe bis zu 20 % wird jedoch nicht als Änderung einer bestehenden Beihilfe angesehen.
(2) Folgende Änderungen bestehender Beihilfen werden auf dem Anmeldeformular für das vereinfachte Verfahren in Anhang II mitgeteilt:
a)
über 20%ige Erhöhungen der Mittel für eine genehmigte Beihilferegelung;
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
6 Mit Entscheidung C(2006) 832 final der Kommission vom 22. März 2006 (Staatliche Beihilfen NN 84/2004 und N 95/2004 – Frankreich, Beihilferegelungen für die Filmwirtschaft und den audiovisuellen Bereich) (im Folgenden: Entscheidung von 2006) erklärte die Kommission mehrere von der Französischen Republik geschaffene Beihilferegelungen für die Filmwirtschaft und den audiovisuellen Bereich für mit dem Binnenmarkt vereinbar. Diese Beihilfen werden durch das Centre national du cinéma et de l’image animée (staatliche Filmförderungsbehörde, im Folgenden: CNC) finanziert, dessen Haushaltsmittel im Wesentlichen aus dem Aufkommen von drei Abgaben stammen, nämlich der Abgabe auf Kinokarten, der Abgabe auf Fernsehdienste sowie der Abgabe auf den Verkauf oder die Vermietung von Videofilmen zum privaten Gebrauch (im Folgenden zusammen: die drei Abgaben).
7 Mit Entscheidung C(2007) 3230 final vom 10. Juli 2007 (Staatliche Beihilfen N 192/2007 – Frankreich, Änderung von NN 84/2004 – Förderung der Filmwirtschaft und des audiovisuellen Bereichs in Frankreich – Modernisierung der Regelung des Beitrags der Fernsehbranche zur Förderung der Filmwirtschaft und des audiovisuellen Bereichs) (im Folgenden: Entscheidung von 2007) genehmigte die Kommission eine Änderung der Finanzierungsweise der genannten Beihilferegelungen, nachdem eine Neuregelung der Abgabe auf Fernsehdienste erfolgt war.
8 Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens verlangten die Erstattung der Abgabe auf den Verkauf und die Vermietung von Videofilmen zum privaten Gebrauch, die Carrefour Hypermarchés in den Jahren 2008 und 2009 und die anderen Gesellschaften in den Jahren 2009 bis 2011 entrichtet hatten. Sie machen geltend, die Abgabe sei unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV erhoben worden, da die Französische Republik die Erhöhung des Gesamtaufkommens der drei Abgaben, der zwischen 2007 und 2011 (im Folgenden: fraglicher Zeitraum) zu verzeichnen gewesen sei, nicht bei der Kommission angemeldet habe. Diese aus einem im August 2012 erstellten Bericht der Cour des comptes (Rechnungshof, Frankreich) über die Verwaltung und Finanzierung des CNC (im Folgenden: Rechnungshofbericht) hervorgehende Erhöhung habe zu einer erheblichen Änderung der Finanzierungsweise der Beihilferegelungen geführt, die die in Art. 4 der Verordnung Nr. 794/2004 festgelegte Schwelle von 20 % überschreite.
9 In diesem Zusammenhang führt das vorlegende Gericht aus, in der Entscheidung von 2007 seien Vorausberechnungen genannt worden, wonach die Reform der Abgabe auf Fernsehdienste, auf die die Erhöhung der Mittel des CNC im fraglichen Zeitraum im Wesentlichen zurückzuführen sei, im günstigsten Fall zu einer Erhöhung des Aufkommens aus dieser Abgabe um 16,5 Mio. Euro pro Jahr habe führen können, wohingegen die Erhöhung nach dem Rechnungshofbericht in diesem Zeitraum in Wirklichkeit durchschnittlich 67 Mio. Euro betragen habe. Die Kommission habe die Entscheidung von 2007 somit auf Vorausberechnungen gestützt, die sich später als unzutreffend erwiesen hätten.
10 Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Stellt im Fall einer durch zugewiesene Mittel finanzierten Beihilferegelung, wenn ein Mitgliedstaat rechtliche Änderungen, die sich erheblich auf diese Regelung auswirkten, und insbesondere Änderungen ihrer Finanzierungsweise ordnungsgemäß vor der Umsetzung der Änderungen mitgeteilt hat, ein im Verhältnis zu den der Europäischen Kommission gelieferten Vorausberechnungen starker Anstieg der der Regelung zugewiesenen Steuermittel eine erhebliche Änderung im Sinne von Art. 108 Abs. 3 AEUV, dar, die eine erneute Notifizierung rechtfertigen kann?
2. Wie ist in diesem Fall Art. 4 der Verordnung Nr. 794/2004 anzuwenden, der vorsieht, dass eine Erhöhung der Ausgangsmittel für eine bestehende Beihilferegelung um mehr als 20 % eine Änderung dieser Regelung darstellt, insbesondere,
a)
wie wirkt er damit zusammen, dass die in Art. 108 Abs. 3 AEUV aufgestellte Pflicht zur Notifizierung einer Beihilferegelung im Voraus zu erfüllen ist;
b)
falls die Überschreitung der in Art. 4 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehenen Schwelle von 20 % der Ausgangsmittel für eine bestehende Beihilferegelung eine erneute Notifizierung rechtfertigt, ist diese Schwelle dann anhand des Betrags der der Beihilferegelung zugewiesenen Einnahmen zu beurteilen oder anhand der den Begünstigten tatsächlich bewilligten Ausgaben, unter Ausschluss von Rücklagen und Beträgen, die zugunsten des Staates erhoben wurden;
c)
sollte die Einhaltung dieser Schwelle von 20 % anhand der der Beihilferegelung gewidmeten Ausgaben zu beurteilen sein, ist eine solche Beurteilung dann mittels eines Vergleichs der Obergrenze der Gesamtausgaben in der Genehmigungsentscheidung mit dem später von der zuweisenden Stelle bewilligten Gesamtbudget für alle Beihilfen vorzunehmen oder mittels eines Vergleichs der für jede der in dieser Entscheidung genannten Beihilfekategorien notifizierten Obergrenzen mit der entsprechenden Haushaltslinie dieser Stelle?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
11 Die italienische Regierung hält die Vorlagefragen für hypothetisch und damit unzulässig.
12 Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen bestimmen, ob die drei Abgaben im fraglichen Zeitraum unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV erhoben wurden. Die Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits über Anträge auf Erstattung einer dieser Abgaben, nämlich der Abgabe auf den Verkauf und die Vermietung von Videofilmen zum privaten Gebrauch. Das vorlegende Gericht geht außerdem von der Prämisse aus, dass diese Abgabe tatsächlich Bestandteil einer Beihilfemaßnahme im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV ist. Vor diesem Hintergrund stehen die Fragen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits und sind daher nicht rein hypothetisch. Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
13 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein – wie im Ausgangsverfahren – im Verhältnis zu den der Kommission mitgeteilten Vorausberechnungen starker Anstieg des Aufkommens von Abgaben, mit denen mehrere genehmigte Beihilferegelungen finanziert werden sollen, eine Änderung einer bestehenden Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 659/1999 und Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 794/2004 in Verbindung mit Art. 108 Abs. 3 AEUV darstellt. Insbesondere möchte es vom Gerichtshof wissen, wie die in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehene Schwelle von 20 % zu beurteilen ist und ob sie anhand der Einnahmen, die den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen zugewiesen sind, oder anhand der tatsächlich bewilligten Beihilfen zu prüfen ist.
14 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass Abgaben nicht in den Anwendungsbereich der Vertragsbestimmungen über staatliche Beihilfen fallen, es sei denn, dass sie die Finanzierungsweise einer Beihilfemaßnahme darstellen und damit Bestandteil dieser Maßnahme sind. In diesem Fall erstrecken sich die Folgen der Nichtbeachtung des in Art. 108 Abs. 3 letzter Satz AEUV vorgesehenen Durchführungsverbots durch die staatlichen Stellen auch auf diesen Aspekt der Beihilfemaßnahme, so dass die staatlichen Stellen grundsätzlich verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgaben zu erstatten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2005, Streekgewest, C‑174/02, EU:C:2005:10, Rn. 16, 24 und 25, vom 27. Oktober 2005, Distribution Casino France u. a., C‑266/04 bis C‑270/04, C‑276/04 und C‑321/04 bis C‑325/04, EU:C:2005:657, Rn. 35, vom 7. September 2006, Laboratoires Boiron, C‑526/04, EU:C:2006:528, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. November 2016, DTS Distribuidora de Televisión Digital/Kommission, C‑449/14 P, EU:C:2016:848, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
15 Da sich das vorlegende Gericht in den von ihm formulierten Fragen an den Gerichtshof auf den Fall „einer durch zugewiesene Mittel finanzierten Beihilferegelung“ bezieht, ist davon auszugehen, dass die Vorlagefragen auf der Prämisse beruhen, dass die drei Abgaben im fraglichen Zeitraum Bestandteil der betreffenden Beihilferegelungen waren.
16 Das vorlegende Gericht unterscheidet zwar in seiner zweiten Frage zwischen den Einnahmen des CNC, die den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen zugewiesen sind, und den Ausgaben, die den nach den Beihilferegelungen Begünstigten tatsächlich bewilligt werden, wobei es in Rücklagen eingestellte Beträge und zugunsten des allgemeinen Staatshaushalts abgeführte Beträge erwähnt. Jedoch werden diese Gesichtspunkte, auch wenn sie sich ebenfalls für die Prüfung der Frage, ob die drei Abgaben im fraglichen Zeitraum Bestandteil dieser Beihilferegelungen waren, als relevant erweisen könnten, vom vorlegenden Gericht nur erwähnt, um den Gerichtshof danach zu befragen, inwieweit sie im Rahmen der Prüfung, ob die in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehene Schwelle von 20 % eingehalten wurde, relevant sind.
17 Hierbei ist zu beachten, dass es im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen (Urteile des Gerichtshofs vom 23. Januar 2018, Hoffmann-La Roche u. a., C‑179/16, EU:C:2018:25, Rn. 44, und vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a., C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof kann jedoch dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die diesem für die Prüfung, ob die Prämisse, auf der seine Vorlagefragen beruhen, zutrifft, von Nutzen sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Mai 2016, Bookit, C‑607/14, EU:C:2016:355, Rn. 22 bis 28).
18 Die französische Regierung hat vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass die drei Abgaben im fraglichen Zeitraum nicht Bestandteil der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen gewesen seien. Sie hat dies insbesondere damit begründet, dass keine finanzielle Korrelation zwischen dem Abgabenaufkommen und der Summe der gewährten Beihilfen bestehe, die sich im Gegensatz zum Abgabenaufkommen nicht erhöht habe. Das nationale Recht weise dieses Aufkommen zwar zwingend den zur Finanzierung dieser Beihilferegelungen bestimmten Haushaltsmitteln des CNC zu. Der sich aus der Differenz zwischen dem Aufkommen der drei Abgaben und den tatsächlich bewilligten Beihilfen ergebende Überschuss habe jedoch der Finanzierung eines Rücklagenfonds gedient, sei vom CNC zu anderen Zwecken als der Finanzierung der betreffenden Beihilferegelungen verwendet worden und sei aufgrund eines Beschlusses des französischen Parlaments dem allgemeinen Staatshaushalt zugeführt worden. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens und die Kommission sind diesem Vorbringen entgegengetreten.
19 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss, damit eine Abgabe als Bestandteil einer Beihilfemaßnahme angesehen werden kann, die einschlägige nationale Regelung einen zwingenden Verwendungszusammenhang zwischen der Abgabe und der Beihilfe in dem Sinne herstellen, dass das Aufkommen der Abgabe notwendig für die Finanzierung der Beihilfe verwendet wird und den Umfang der Beihilfe und folglich die Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt unmittelbar beeinflusst (Urteile vom 22. Dezember 2008, Régie Networks, C‑333/07, EU:C:2008:764, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. November 2016, DTS Distribuidora de Televisión Digital/Kommission, C‑449/14 P, EU:C:2016:848, Rn. 68).
20 Der Gerichtshof hat außerdem bereits entschieden, dass das Bestehen eines zwingenden Verwendungszusammenhangs zwischen der Abgabe und der Beihilfe dadurch ausgeschlossen sein kann, dass die Stelle, die mit der Gewährung von durch Abgaben finanzierten Beihilfen betraut ist, das Aufkommen der Abgabe nach freiem Ermessen für andere als diejenigen Maßnahmen, die alle Merkmale einer Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV aufweisen, verwenden kann. Denn bei einem solchermaßen freien Ermessen kann sich das Abgabenaufkommen nicht unmittelbar auf den Umfang des den Beihilfeempfängern gewährten Vorteils auswirken. Ein solcher zwingender Verwendungszusammenhang kann hingegen vorliegen, wenn das Abgabenaufkommen ausschließlich und vollständig für die Gewährung von Beihilfen verwendet wird, auch wenn es sich um unterschiedliche Arten von Beihilfen handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2005, Pape, C‑175/02, EU:C:2005:11, Rn. 16, vom 27. Oktober 2005, Distribution Casino France u. a., C‑266/04 bis C‑270/04, C‑276/04 und C‑321/04 bis C‑325/04, EU:C:2005:657, Rn. 55, sowie vom 22. Dezember 2008, Régie Networks, C‑333/07, EU:C:2008:764, Rn. 102 und 104).
21 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich außerdem, dass es an diesem zwingenden Verwendungszusammenhang fehlen kann, wenn sich der Betrag der gewährten Beihilfen allein nach in keinem Zusammenhang mit den zugewiesenen Steuereinnahmen stehenden objektiven Kriterien bestimmt und für ihn eine absolute gesetzliche Obergrenze gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2005, Distribution Casino France u. a., C‑266/04 bis C‑270/04, C‑276/04 und C‑321/04 bis C‑325/04, EU:C:2005:657, Rn. 52).
22 So hat der Gerichtshof u. a. angenommen, dass es an einem zwingenden Verwendungszusammenhang zwischen der Abgabe und der Beihilfe in einem Fall fehlte, in dem sich der Betrag der gewährten Beihilfen anhand von Kriterien bestimmte, die keinen Zusammenhang mit den zugewiesenen Steuereinnahmen aufwiesen, und nach den nationalen Rechtsvorschriften ein etwaiger Überschuss der Einnahmen im Verhältnis zu den Beihilfen einem Rücklagenfonds zuzuweisen waren bzw. in die Staatskasse flossen, wobei für diese Einnahmen zudem eine absolute Obergrenze galt und Überschüsse ebenfalls dem allgemeinen Staatshaushalt zugewiesen wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, DTS Distribuidora de Televisión Digital/Kommission, C‑449/14 P, EU:C:2016:848, Rn. 70 bis 72).
23 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung der Rn. 16 bis 22 des vorliegenden Urteils zu prüfen, ob seine Prämisse zutrifft, dass die drei Abgaben im fraglichen Zeitraum Bestandteil der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen waren. Dabei wird das Gericht insbesondere zu prüfen haben, ob der Umstand, dass ein Teil der Einnahmen des CNC in Rücklagen eingestellt wurde, zur Folge hatte, dass der betreffende Betrag für eine andere als solche Maßnahmen verwendet wurde, die alle Merkmale einer Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV aufweisen, und es wird zu beurteilen haben, welche Wirkung die im fraglichen Zeitraum erfolgte Zuweisung eines Teils der Einnahmen an den allgemeinen Staatshaushalt auf das Bestehen eines zwingenden Verwendungszusammenhangs zwischen den Abgaben und den Beihilferegelungen haben könnte.
24 Nach dieser Klarstellung sind die Vorlagefragen ausgehend von der Prämisse zu prüfen, dass die drei Abgaben im fraglichen Zeitraum Bestandteil der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen waren (vgl. entsprechend Urteile vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 26 bis 28, sowie vom 17. April 2018, B und Vomero, C‑316/16 und C‑424/16, EU:C:2018:256, Rn. 42).
25 Insoweit ist zu beachten, dass im Rahmen des mit den Art. 107 und 108 AEUV eingeführten Systems der Kontrolle staatlicher Beihilfen das Verfahren unterschiedlich ist, je nachdem, ob es sich um bestehende oder neue Beihilfen handelt. Denn während bestehende Beihilfen gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV regelmäßig durchgeführt werden dürfen, solange die Kommission nicht ihre Vertragswidrigkeit festgestellt hat, sieht Art. 108 Abs. 3 AEUV vor, dass Vorhaben zur Einführung neuer Beihilfen oder zur Umgestaltung bestehender Beihilfen der Kommission rechtzeitig zu melden sind und nicht durchgeführt werden dürfen, bevor das Verfahren zu einer abschließenden Entscheidung geführt hat (Urteile vom 18. Juli 2013, P, C‑6/12, EU:C:2013:525, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 86).
26 Nach der Definition in Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 659/1999 fallen unter den Begriff „neue Beihilfen“„alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen“. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 794/2004 bestimmt insoweit: „Für den Zweck von Artikel 1 Buchstabe c) der Verordnung [Nr. 659/1999] ist die Änderung einer bestehenden Beihilfe jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem [Binnenmarkt] haben kann.“ In Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 heißt es: „Eine Erhöhung der Ausgangsmittel für eine bestehende Beihilfe bis zu 20 % wird jedoch nicht als Änderung einer bestehenden Beihilfe angesehen.“
27 Für eine zweckdienliche Antwort an das vorlegende Gericht ist daher festzustellen, was unter dem Begriff „Ausgangsmittel für eine bestehende Beihilfe“ im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen ist, und zu prüfen, ob vorliegend der Anstieg des Gesamtaufkommens der drei Abgaben als eine Erhöhung der Ausgangsmittel für die Beihilferegelungen anzusehen ist, die der Kommission zu melden ist.
28 Dabei ist für die Bestimmung des Begriffs „Mittel für eine Beihilfe“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 794/2004 in Ermangelung einer Definition in der einschlägigen Regelung auf den üblichen Sinn nach gewöhnlichem Sprachgebrauch abzustellen, wobei der Zusammenhang, in dem der Begriff verwendet wird, und die Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der er gehört, zu berücksichtigen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Juni 2018, Louboutin und Christian Louboutin, C‑163/16, EU:C:2018:423, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Seinem üblichen Sinn nach bezeichnet der Ausdruck „Mittel“ die Beträge, die einer Stelle zur Verfügung stehen, um Ausgaben zu tätigen.
30 Hinsichtlich des Zusammenhangs, in dem dieser Begriff verwendet wird, und des Ziels, das mit Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 794/2004 verfolgt wird, ist festzustellen, dass mit dieser Vorschrift das System der vorbeugenden Kontrolle umgesetzt wird, das Art. 108 Abs. 3 AEUV für Vorhaben vorsieht, mit denen bestehende Beihilfen geändert werden sollen, und in deren Rahmen die Kommission die Vereinbarkeit der geplanten Beihilfe mit dem Binnenmarkt prüfen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2008, CELF und Ministre de la Culture et de la Communication, C‑199/06, EU:C:2008:79, Rn. 37 und 38). Diese vorbeugende Kontrolle bezweckt, dass nur solche Beihilfen durchgeführt werden, die mit dem Binnenmarkt vereinbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. November 2013, Deutsche Lufthansa, C‑284/12, EU:C:2013:755, Rn. 25 und 26, sowie vom 19. Juli 2016, Kotnik u. a., C‑526/14, EU:C:2016:570, Rn. 36).
31 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Kommission nur dann in der Lage ist, zu prüfen, ob eine von einem Staat geplante Beihilferegelung als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden kann, wenn sie die Auswirkungen dieser Regelung auf den Wettbewerb u. a. im Hinblick auf die Mittel beurteilen kann, die der Mitgliedstaat der betreffenden Beihilferegelung zuweist, und dass demzufolge die Verpflichtung, in den Anmeldungen die Schätzungen zu den Gesamtsummen der geplanten staatlichen Beihilfemaßnahmen anzugeben, aus dem Wesen des Systems der vorherigen Kontrolle staatlicher Beihilfemaßnahmen folgt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 22. März 2012, Italien/Kommission, C‑200/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:165, Rn. 47 bis 49).
32 Außerdem kann sich die Kommission nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Fall einer Beihilferegelung darauf beschränken, deren allgemeine Merkmale zu untersuchen, ohne dass sie verpflichtet wäre, jeden einzelnen Anwendungsfall zu prüfen (Urteile vom 9. Juni 2011, Comitato Venezia vuole vivere u. a./Kommission, C‑71/09 P, C‑73/09 P und C‑76/09 P, EU:C:2011:368, Rn. 130, sowie vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 122).
33 Infolgedessen darf sich die Kontrolle durch die Kommission auch im Fall einer unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV durchgeführten Beihilfemaßnahme auf die allgemeinen Merkmale dieser Regelung beschränken und muss sich nicht auf die tatsächlich geleisteten Beihilfen erstrecken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2004, Griechenland/Kommission, C‑278/00, EU:C:2004:239, Rn. 21 und 24).
34 Unter diesen Umständen kann sich der Begriff „Mittel für eine Beihilfe“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 794/2004 nicht auf den Betrag der tatsächlich gewährten Beihilfen beschränken, da dieser Betrag erst nach der Durchführung der betreffenden Beihilferegelung bekannt ist. In Anbetracht des vorbeugenden Charakters der mit Art. 108 Abs. 3 AEUV geschaffenen Kontrolle muss dieser Begriff vielmehr dahin ausgelegt werden, dass er sich auf die Mittelausstattung bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2010, Todaro Nunziatina & C., C‑138/09, EU:C:2010:291, Rn. 40 und 41), d. h. auf die Beträge, über die die Stelle, die mit der Gewährung der betreffenden Beihilfen betraut ist, zu diesem Zweck verfügt, wie sie von dem betreffenden Mitgliedstaat bei der Kommission angemeldet und von dieser genehmigt worden sind.
35 Im Fall einer Beihilferegelung, die durch zugewiesene Abgaben finanziert wird, stellt somit das Aufkommen dieser Abgaben, das der mit der Durchführung der betreffenden Beihilferegelung betrauten Stelle zur Verfügung gestellt wird, die „Mittel“ für diese Beihilferegelung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 794/2004 dar.
36 Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen, die von der Kommission mit den Entscheidungen von 2006 und 2007 genehmigt worden sind, unter den Begriff der „bestehenden Beihilfen“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung Nr. 659/1999 fallen, ist zu prüfen, ob die Kommission mit diesen Entscheidungen die Erhöhung genehmigt hat, die beim Gesamtaufkommen der drei Abgaben im fraglichen Zeitraum zu verzeichnen war.
37 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Entscheidungen der Kommission über die Genehmigung einer Beihilferegelung als Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz der Unvereinbarkeit staatlicher Beihilfen mit dem Binnenmarkt eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 2004, Deutschland/Kommission, C‑277/00, EU:C:2004:238, Rn. 20 und 24, sowie vom 14. Oktober 2010, Nuova Agricast und Cofra/Kommission, C‑67/09 P, EU:C:2010:607, Rn. 74).
38 Außerdem sind für die Auslegung solcher Entscheidungen der Kommission nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur deren Text zu untersuchen, sondern auch die vom betreffenden Mitgliedstaat vorgenommene Notifizierung heranzuziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Mai 2010, Todaro Nunziatina & C., C‑138/09, EU:C:2010:291, Rn. 31, und vom 16. Dezember 2010, Kahla Thüringen Porzellan/Kommission, C‑537/08 P, EU:C:2010:769, Rn. 44, sowie Beschluss vom 22. März 2012, Italien/Kommission, C‑200/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:165, Rn. 27). So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Reichweite einer Entscheidung über die Genehmigung einer Beihilferegelung grundsätzlich durch die Mittel begrenzt wird, die der Mitgliedstaat in seinem Notifizierungsschreiben angegeben hat, auch wenn diese Mittel im Text dieser Entscheidung selbst nicht erwähnt werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 22. März 2012, Italien/Kommission, C‑200/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:165, Rn. 26 und 27).
39 Im vorliegenden Fall wurden die Vorausberechnungen bezüglich des Aufkommens der drei Abgaben, die von den französischen Behörden bei der Kommission als Mittel für die in Rede stehenden Beihilferegelungen angemeldet wurden, ausdrücklich in den Text der Entscheidungen von 2006 und 2007 übernommen. Insbesondere erwähnt die Entscheidung von 2007 ausdrücklich die Schätzungen der französischen Behörden zu den Folgen der Reform der Abgabe auf Fernsehdienste, die der wesentliche Grund für den Anstieg ist, der beim Gesamtaufkommen der drei Abgaben im fraglichen Zeitraum zu verzeichnen war. So heißt es in Rn. 9 der Entscheidung von 2007, dass die Reform diesen Schätzungen zufolge „[im] Zeitraum [von 2009 bis 2011] zu einem jährlichen Anwachsen des Förderkontos um 2 bis 3 % (zwischen 11 und 16,5 Mio. Euro) führen“ könnte. Auch in Rn. 20 der Entscheidung von 2007 wurden diese Schätzungen von der Kommission im Rahmen ihrer Beurteilung, wie sich die Reform auf die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen mit dem Binnenmarkt auswirkt, erneut erwähnt.
40 Unter diesen Umständen geht aus den Entscheidungen von 2006 und 2007 hervor, dass das Aufkommen der drei Abgaben ein Gesichtspunkt ist, auf den die Kommission ihre Genehmigung der in Rede stehenden Beihilferegelungen gestützt hat, und dass die Kommission eine Erhöhung dieses Aufkommens, die über die ihr mitgeteilten Vorausberechnungen hinausgeht, nicht zugelassen hat. Folglich ist in Anbetracht der in den Rn. 31, 37 und 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung anzunehmen, dass sich die Reichweite der mit diesen Entscheidungen erteilten Genehmigungen zur Durchführung der betreffenden Beihilferegelungen hinsichtlich des Aufkommens der drei Abgaben auf die Erhöhung beschränkt, wie sie bei der Kommission angemeldet worden ist.
41 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts lag die tatsächliche Erhöhung, die beim Gesamtaufkommen der drei Abgaben im fraglichen Zeitraum zu verzeichnen war, aber deutlich über den der Kommission mitgeteilten Vorausberechnungen, also über den 16,5 Mio. Euro pro Jahr, und belief sich dem vom vorlegenden Gericht angeführten Rechnungshofbericht zufolge in diesem Zeitraum im Durchschnitt auf 67 Mio. Euro. Da eine solche Erhöhung der Mittel im Verhältnis zu den von der Kommission genehmigten Mitteln Einfluss auf die Beurteilung der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen mit dem Binnenmarkt haben kann, stellt sie nicht lediglich eine Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 794/2004 dar. Sofern sie nicht unter der in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 dieser Verordnung vorgesehenen Schwelle von 20 % bleibt, stellt eine solche Erhöhung folglich eine Änderung einer bestehenden Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 659/1999 dar.
42 Soweit sich das vorlegende Gericht in diesem Zusammenhang fragt, inwieweit es relevant ist, dass diese Erhöhung nicht auf eine rechtliche Änderung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen zurückführen ist, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 794/2004 den Begriff „Änderung einer bestehenden Beihilfe“ weit definiert und „jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem [Binnenmarkt] haben kann“, einbezieht. Wie sich aus dem Ausdruck „jede Änderung“ ergibt, kann diese Definition nicht allein auf rechtliche Änderungen von Beihilferegelungen beschränkt werden.
43 Zudem muss diese Bestimmung unter Berücksichtigung des Zwecks des mit ihr umgesetzten Systems der vorbeugenden Kontrolle ausgelegt werden, der – wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt – darin besteht, sicherzustellen, dass nur mit dem Binnenmarkt vereinbare Beihilfen durchgeführt werden. Eine Erhöhung der Mittel für eine Beihilferegelung kann sich aber unabhängig davon, ob diese Änderung auf eine rechtliche Änderung der Beihilferegelung zurückzuführen ist, auf die Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt auswirken.
44 Die gebotene Wahrung des Grundsatzes der Rechtssicherheit ist ebenfalls kein Hindernis dafür, dass eine Erhöhung der Mittel für eine Beihilferegelung gegenüber den von der Kommission genehmigten Mitteln unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens als Änderung einer bestehenden Beihilfe im Sinne von Art. 108 Abs. 3 AEUV eingestuft wird.
45 Aus dem vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 794/2004 geht nämlich hervor, dass gerade aus Gründen der Rechtssicherheit in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 dieser Verordnung ein genauer Schwellenwert festgelegt wird, bis zu dem eine Erhöhung der Mittel für eine Beihilferegelung nicht als Änderung einer bestehenden Beihilfe gilt. Mit der Festsetzung des Schwellenwerts auf dem recht hohen Niveau von 20 % sieht diese Vorschrift eine Sicherheitsmarge vor, die den Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Anwendung der vorbeugenden Kontrolle nach Art. 108 Abs. 3 AEUV auf Beihilferegelungen, deren Mittel – wie bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – schwanken, hinreichend Rechnung trägt.
46 Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen kann, um Informationen außer Acht zu lassen, die er der Kommission bei der Anmeldung einer Beihilferegelung hat zukommen lassen und von denen die Tragweite der Entscheidung der Kommission über die Genehmigung dieser Regelung abhängt, sondern diese Informationen vielmehr berücksichtigen und darauf achten muss, dass die Beihilferegelung im Einklang mit ihnen durchgeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2010, Kahla Thüringen Porzellan/Kommission, C‑537/08 P, EU:C:2010:769, Rn. 47).
47 Außerdem wurden im vorliegenden Fall die Vorausberechnungen der französischen Behörden zur Erhöhung des Aufkommens der drei Abgaben infolge der Reform der Abgabe auf Fernsehdienste in einem im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2007, C 246, S. 1) veröffentlichten Dokument der Kommission mit dem Titel „Genehmigung staatlicher Beihilfen gemäß den Artikeln 87 und 88 des EG-Vertrags – Vorhaben, gegen die von der Kommission keine Einwände erhoben werden“, als „Haushaltsmittel“ für die genehmigte Beihilfe bezeichnet. In dem mit Art. 108 Abs. 3 AEUV geschaffenen System der vorbeugenden Kontrolle können sich weder der betreffende Mitgliedstaat noch die von einer Beihilferegelung Begünstigten vernünftigerweise auf ein berechtigtes Vertrauen berufen, dass eine Genehmigungsentscheidung eine Verbindlichkeit entfaltet, die über die Beschreibung der Maßnahme, wie sie im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlich worden ist, hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2010, Nuova Agricast und Cofra/Kommission, C‑67/09 P, EU:C:2010:607, Rn. 72 bis 74).
48 Das vorlegende Gericht fragt sich darüber hinaus, welche Folgerungen für das Ausgangsverfahren aus dem Urteil vom 9. August 1994, Namur-Les assurances du crédit (C‑44/93, EU:C:1994:311), abzuleiten sind, in dem der Gerichtshof im Wesentlichen entschieden hat, dass die Ausdehnung des Tätigkeitsgebiets einer öffentlichen Einrichtung, der vom Staat Beihilfen aufgrund von vor Inkrafttreten des EWG-Vertrags erlassenen Rechtsvorschriften gewährt wurden, nicht als Änderung einer bestehenden Beihilfe angesehen werden konnte, da diese Ausdehnung die mit den betreffenden Rechtsvorschriften eingeführte Beihilferegelung nicht berührte.
49 Diese Rechtsprechung lässt sich jedoch nicht auf das vorliegende Ausgangsverfahren übertragen. Die Ausdehnung des Tätigkeitsgebiets des Empfängers der Beihilfe, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 9. August 1994, Namur-Les assurances du crédit (C‑44/93, EU:C:1994:311), ergangen ist, und die die mit den betreffenden Rechtsvorschriften eingeführte Beihilferegelung nicht berührte, ist nämlich nicht mit der Erhöhung der Mittel für die im vorliegenden Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen vergleichbar, da diese Erhöhung für sich allein die fraglichen Beihilferegelungen unmittelbar berührt.
50 Folglich stellt eine Erhöhung des Aufkommens von Abgaben, mit denen mehrere genehmigte Beihilferegelungen finanziert werden, im Verhältnis zu den der Kommission mitgeteilten Vorausberechnungen – wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht – eine Änderung einer bestehenden Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 659/1999 und Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 794/2004 in Verbindung mit Art. 108 Abs. 3 AEUV dar, sofern diese Erhöhung nicht unterhalb der in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehenen Schwelle von 20 % bleibt.
51 Was die Berechnung dieses Schwellenwerts unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens betrifft, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004, dass eine Erhöhung der „Ausgangsmittel“ für eine bestehende Beihilfe bis zu 20 % nicht als Änderung einer bestehenden Beihilfe angesehen wird. Der in dieser Vorschrift vorgesehene Schwellenwert von 20 % bezieht sich folglich auf die „Ausgangsmittel“ für die betreffende Beihilferegelung, d. h. auf die Mittel für die Beihilferegelung, wie sie von der Kommission genehmigt worden sind.
52 Außerdem ergibt sich aus den Rn. 28 bis 35 des vorliegenden Urteils, dass im Fall einer – wie vorliegend – durch zugewiesene Abgaben finanzierten Beihilferegelung die Ausgangsmittel für diese Regelung durch die Vorausberechnungen der zugewiesenen Steuereinnahmen, wie sie von der Kommission genehmigt worden sind, bestimmt werden. Ob der Schwellenwert von 20 % überschritten wird, beurteilt sich demnach anhand dieser Einnahmen und nicht anhand der tatsächlich bewilligten Beihilfen.
53 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Entscheidungen von 2006 und 2007, dass die Kommission als Jahresaufkommen der drei Abgaben einen Höchstbetrag von ca. 557 Mio. Euro genehmigt hat. Aus dem Rechnungshofbericht, auf den das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen Bezug nimmt, ergibt sich aber, dass das Jahresaufkommen dieser Abgaben im fraglichen Zeitraum auf ca. 806 Mio. Euro im Jahr 2011 gestiegen war, was namentlich auf die starke Erhöhung des Aufkommens der Abgabe auf Fernsehdienste zurückzuführen war, das von 362 Mio. Euro im Jahr 2007 auf 631 Mio. Euro im Jahr 2011 angewachsen war. Es hat daher den Anschein, dass die Erhöhung, die bei den Mitteln für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen in diesem Zeitraum im Verhältnis zu den in den Entscheidungen von 2006 und 2007 genehmigten Mitteln zu verzeichnen war, deutlich über dem Schwellenwert von 20 % liegt, wobei das Jahr, in dem der Schwellenwert überschritten wurde, vom vorlegenden Gericht festgestellt werden muss.
54 Bezüglich des vom vorlegenden Gericht erwähnten Umstands, dass ein Teil der Einnahmen des CNC in eine Rücklage eingestellt worden sei, scheint sich insoweit aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Akten zu ergeben, dass dies nicht zur Folge hatte, dass der betreffende Betrag einer anderen als den Maßnahmen zugewiesen wurde, die alle Merkmale einer Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV aufweisen, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.
55 Mangels einer solchen geänderten Zuweisung, die es ermöglichen würde, das Aufkommen der drei Abgaben von den Mitteln für die betreffenden Beihilferegelungen abzuziehen, steht dieses Aufkommen bei einer Einstellung in die Rücklagen der mit der Durchführung der Beihilferegelungen betrauten Stelle weiterhin für die Zahlung von Einzelbeihilfen zur Verfügung, da – wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat – die einzige Folge dieser Rücklagenbildung in einem zeitlichen Aufschub dieser Zahlung besteht. Da das betreffende Aufkommen somit weiterhin zu diesen Mitteln gehört, vermag eine derartige Einstellung in die Rücklagen als solche nicht die Überschreitung des in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehenen Schwellenwerts von 20 % in Frage zu stellen.
56 Zu den vom vorlegenden Gericht ebenfalls erwähnten Zuführungen an den allgemeinen Staatshaushalt ist zu bemerken, dass im fraglichen Zeitraum nach den Angaben in den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Akten offenbar lediglich ein Betrag von 20 Mio. Euro durch das französische Parlament dem allgemeinen Staatshaushalt zugewiesen wurde, und zwar im Dezember 2010 für das Jahr 2011. In Anbetracht der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils erwähnten Angaben im Rechnungshofbericht scheint der Anstieg, der bei den Mitteln für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen zu verzeichnen war, auch unter Berücksichtigung dieser geänderten Zuweisung den Schwellenwert von 20 % im Vergleich zu den in den Entscheidungen von 2006 und 2007 genehmigten Mitteln zu übersteigen.
57 Demzufolge hat es – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – den Anschein, dass die bloße Einstellung eines Teils der Einnahmen des CNC in Rücklagen, ohne dass der betreffende Betrag anderen Zwecken als der Gewährung von Beihilfen zugewiesen worden wäre, und auch die im fraglichen Zeitraum erfolgte Zuführung an den allgemeinen Staatshaushalt nicht geeignet sind, eine im Verhältnis zu den in den Entscheidungen von 2006 und 2007 genehmigten Mitteln im fraglichen Zeitraum eingetretene Erhöhung der Mittel für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilferegelungen, die den in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehenen Schwellenwert von 20 % übersteigt, in Frage zu stellen.
58 Wie aus Rn. 23 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ergibt sich dies jedoch unbeschadet der Beurteilung, die das vorlegende Gericht – im Rahmen der Prüfung des Bestehens eines zwingenden Verwendungszusammenhangs zwischen den drei Abgaben und den in Rede stehenden Beihilferegelungen – in Bezug auf die Einstellung eines Teils der Einnahmen des CNC in die Rücklagen und die im fraglichen Zeitraum erfolgte Zuführung an den allgemeinen Staatshaushalt vorzunehmen hat.
59 Vorbehaltlich dieser Prüfung hätte daher im Rahmen des von Art. 108 Abs. 3 AEUV geschaffenen Systems der vorbeugenden Kontrolle eine im Verhältnis zu den von der Kommission genehmigten Mitteln eingetretene Erhöhung der Mittel für die Beihilferegelungen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, bei der Kommission rechtzeitig – d. h., sobald die französischen Behörden vernünftigerweise absehen konnten, dass der Schwellenwert von 20 % überschritten wird – angemeldet werden müssen.
60 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass eine Erhöhung des Aufkommens von Abgaben, mit denen mehrere genehmigte Beihilferegelungen finanziert werden, im Verhältnis zu den der Kommission mitgeteilten Vorausberechnungen – wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht – eine Änderung einer bestehenden Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 659/1999 und Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 794/2004 in Verbindung mit Art. 108 Abs. 3 AEUV darstellt, sofern diese Erhöhung nicht unterhalb der in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehenen Schwelle von 20 % bleibt. Diese Schwelle ist in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens anhand der Einnahmen, die den betreffenden Beihilferegelungen zugewiesen sind, zu beurteilen und nicht anhand der tatsächlich bewilligten Beihilfen.
Zur zeitlichen Begrenzung der Wirkungen des vorliegenden Urteils
61 Bezüglich des Antrags der französischen Regierung, die Wirkungen des vorliegenden Urteils zeitlich zu begrenzen, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden können und müssen, die vor dem Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen (Urteil Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Im vorliegenden Fall hat die französische Regierung nicht dargetan, dass es die Gefahr schwerwiegender Störungen mit sich brächte, wenn das vorlegende Gericht im Anschluss an das vorliegende Urteil einen Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV feststellen würde.
64 Infolgedessen ist, ohne dass es erforderlich wäre, den guten Glauben der Betroffenen zu prüfen, eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des vorliegenden Urteils nicht anzuordnen.
Kosten
65 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Eine Erhöhung des Aufkommens von Abgaben, mit denen mehrere genehmigte Beihilferegelungen finanziert werden, im Verhältnis zu den der Kommission mitgeteilten Vorausberechnungen – wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht – stellt eine Änderung einer bestehenden Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] und von Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 in Verbindung mit Art. 108 Abs. 3 AEUV dar, sofern diese Erhöhung nicht unterhalb der in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehenen Schwelle von 20 % bleibt. Diese Schwelle ist in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens anhand der Einnahmen, die den betreffenden Beihilferegelungen zugewiesen sind, zu beurteilen und nicht anhand der tatsächlich bewilligten Beihilfen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 27. September 2017.#BelTechExport ZAO gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren von Geldern – Aussetzung der Maßnahmen – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Anspruch auf rechtliches Gehör – Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-765/15.
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62015TJ0765
|
ECLI:EU:T:2017:669
| 2017-09-27T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62015TJ0765 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 28. Juli 2016.#Johannes Tomana u.a. gegen Rat der Europäischen Union und Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die der Regierung von Simbabwe angehören oder mit dieser verbunden sind – Liste der Personen, Gruppierungen und Einheiten, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme der Namen der Rechtsmittelführer.#Rechtssache C-330/15 P.
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62015CJ0330
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ECLI:EU:C:2016:601
| 2016-07-28T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
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EUR-Lex - CELEX:62015CJ0330 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 25. Februar 2016.#François Musso gegen Europäisches Parlament.#Regelung der Dienstbezüge der Abgeordneten des Parlaments – Ruhegehalt – Verpflichtung der französischen Abgeordneten, ihre Ruhegehaltsansprüche bei den nationalen Systemen geltend zu machen – Antikumulierungsregel – Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut – Nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens erlassener Beschluss – Belastungsanzeige – Beschluss über die Aussetzung der Zahlung des Ruhegehalts – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens – Angemessene Frist – Begründungspflicht.#Verbundene Rechtssachen T-589/14 und T-772/14.
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62014TJ0589
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ECLI:EU:T:2016:101
| 2016-02-25T00:00:00 |
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 15. Juli 2015.#Pilkington Group Ltd gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Europäischer Markt für Automobilglas – Veröffentlichung einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Ablehnung eines Antrags auf vertrauliche Behandlung von Informationen, die unter das Geschäftsgeheimnis fallen sollen – Begründungspflicht – Vertraulichkeit – Berufsgeheimnis – Vertrauensschutz.#Rechtssache T-462/12.
|
62012TJ0462
|
ECLI:EU:T:2015:508
| 2015-07-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012TJ0462
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
15. Juli 2015 (*1)
„Wettbewerb — Verwaltungsverfahren — Europäischer Markt für Automobilglas — Veröffentlichung einer Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen Art. 81 EG festgestellt wird — Ablehnung eines Antrags auf vertrauliche Behandlung von Informationen, die unter das Geschäftsgeheimnis fallen sollen — Begründungspflicht — Vertraulichkeit — Berufsgeheimnis — Vertrauensschutz“
In der Rechtssache T‑462/12
Pilkington Group Ltd. mit Sitz in St Helens (Vereinigtes Königreich), Prozessbevollmächtigte: J. Scott, S. Wisking, K. Fountoukakos-Kyriakakos, Solicitors, und Rechtsanwalt C. Puech Baron,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer, P. Van Nuffel und G. Meessen als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen teilweiser Nichtigerklärung des Beschlusses C (2012) 5718 final der Kommission vom 6. August 2012, mit dem ein von der Pilkington Group Ltd nach Art. 8 des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren gestellter Antrag auf vertrauliche Behandlung abgelehnt wurde (Sache COMP/39.125 – Automobilglas),
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas sowie der Richter N. J. Forwood (Berichterstatter) und E. Bieliūnas,
Kanzler: L. Grzegorczyk, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Januar 2015
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Am 12. November 2008 erließ die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Entscheidung C (2008) 6815 final in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen gegen mehrere Hersteller von Automobilglas, darunter die Klägerin Pilkington Group Ltd (Sache COMP/39.125 – Automobilglas) (im Folgenden: Automobilglasentscheidung).
2 Die Kommission stellte u. a. fest, dass die Adressaten der Automobilglasentscheidung gegen Art. 81 EG und Art. 53 des EWR-Abkommens verstoßen hatten, indem sie zwischen März 1998 und März 2003 in verschiedenen Zeiträumen an einer Reihe wettbewerbswidriger Vereinbarungen und abgestimmter Verhaltensweisen im Automobilglassektor im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beteiligt waren.
3 Laut der Automobilglasentscheidung handelt es sich um eine einzige fortdauernde Zuwiderhandlung, die aus Absprachen über die Zuteilung von Verträgen über die Lieferung von Automobilglas oder einer Gesamtheit von Glasteilen, die im Allgemeinen eine Windschutzscheibe, eine Heckscheibe und Seitenscheiben umfasst, an die führenden Automobilhersteller im EWR, bestehe. Diese Absprachen seien in Form einer Koordinierung der Preispolitik und der Strategien für die Lieferungen an Kunden erfolgt, die darauf abgezielt habe, die Stellung der Kartellmitglieder auf dem fraglichen Markt insgesamt stabil zu halten. Diese Stabilität sei u. a. mit Korrekturmechanismen angestrebt worden, die angewandt worden seien, wenn die Absprachen nicht zu den erwarteten Ergebnissen geführt hätten.
4 Mit Schreiben vom 25. März 2009 informierte die Generaldirektion Wettbewerb der Kommission (im Folgenden: GD Wettbewerb) die Klägerin u. a. über ihre Absicht, eine nicht vertrauliche Fassung der Automobilglasentscheidung gemäß Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) auf ihrer Internetseite in den in diesem Fall verbindlichen Sprachfassungen, nämlich Englisch, Französisch und Niederländisch, zu veröffentlichen. Außerdem forderte die GD Wettbewerb die Klägerin auf, die Informationen, die vertraulich seien oder Geschäftsgeheimnisse darstellten, zu bezeichnen und diese Einstufung zu begründen.
5 Nach einem Schriftwechsel mit der Klägerin erließ die GD Wettbewerb im Februar 2012 die nicht vertrauliche Fassung der Automobilglasentscheidung zur Veröffentlichung auf der Internetseite der Kommission. Aus dem fraglichen Schriftwechsel folgt, dass die GD Wettbewerb den Anträgen der Klägerin auf Geheimhaltung von Informationen, die in 202 Randnummern und 53 Fußnoten der Automobilglasentscheidung enthalten sind, nicht stattgegeben hatte.
6 Nach Ansicht der GD Wettbewerb können diese Informationen in drei Kategorien aufgeteilt werden. Die erste enthalte die Namen der Kunden und die Beschreibung der betroffenen Waren sowie jegliche Informationen, aus denen auf die Person eines Kunden geschlossen werden könne (im Folgenden: Informationen der Kategorie I). Die zweite enthalte die Liefermengen, die Zuteilung von Quoten für jeden Automobilhersteller, die Vereinbarungen über Preise, deren Berechnung und Variationen und schließlich die Zahlen und Prozentsätze im Zusammenhang mit der Aufteilung der Kunden unter den Kartellmitgliedern (im Folgenden: Informationen der Kategorie II). Die dritte enthalte Informationen im Zusammenhang mit natürlichen Personen, die Mitarbeiter der Klägerin seien (im Folgenden: Informationen der Kategorie III).
7 Die Klägerin rief am 30. Juni 2011 den Anhörungsbeauftragten gemäß Art. 9 des Beschlusses 2001/462/EG, EGKS der Kommission vom 23. Mai 2001 über das Mandat von Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (ABl. L 162, S. 21) an und wandte sich gegen die Veröffentlichung der streitigen Informationen.
Angefochtener Beschluss
8 Der Anhörungsbeauftragte entschied über den Antrag der Klägerin mit dem Beschluss C(2012) 5718 final der Kommission vom 6. August 2012, mit dem ein von Pilkington Group nach Art. 8 des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren gestellter Antrag auf vertrauliche Behandlung abgelehnt wurde (Sache COMP/39.125 – Automobilglas) (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
9 Aus Rn. 18 des angefochtenen Beschlusses ergibt sich, das dieser im Wesentlichen auf der Prüfung von zwei Argumenten der Klägerin beruht. Das erste Argument, das in den Rn. 19 bis 42 des angefochtenen Beschlusses geprüft wird, betrifft Informationen der Kategorien I und II, während das zweite Argument, das in den Rn. 43 bis 48 des angefochtenen Beschlusses geprüft wird, Informationen der Kategorie III betrifft.
10 Hinsichtlich des ersten Arguments war der Anhörungsbeauftragte erstens der Ansicht, dass die Informationen der Kategorien I und II ihrer Natur nach und unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Automobilglasmarktes außerhalb der Klägerin bekannt seien, zweitens, dass sie historischer Natur seien, und drittens, dass sie das Wesen der Zuwiderhandlung selbst beträfen und ihre Veröffentlichung durch die Interessen der Geschädigten geboten sei (Rn. 19 bis 32 des angefochtenen Beschlusses). Soweit die Klägerin spezifische Argumente vorgetragen hatte, um darzutun, dass die Informationen trotz ihrer oben beschriebenen allgemeinen Merkmale vertraulich gewesen seien, kam der Anhörungsbeauftragte zu dem Schluss, dass die Rn. 198, 208, 367, 383 et 393 und 397 der Automobilglasentscheidung ausnahmsweise vertraulich behandelt werden könnten, soweit sie Informationen der Kategorien I und II enthielten (Rn. 32 letzter Satz bis 42 sowie Art. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses).
11 Was das zweite Argument betrifft, stützte sich der Anhörungsbeauftragte auf Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (ABl. L 8, S. 1) und stimmte der vertraulichen Behandlung der Informationen in den Rn. 98, 132, 160 und 163 sowie in den Fn. 282 und 410 der Automobilglasentscheidung (Rn. 43 bis 47 und Art. 3 des angefochtenen Beschlusses) zu.
12 Im Übrigen wies der Anhörungsbeauftragte den Antrag der Klägerin zurück (Art. 4 des angefochtenen Beschlusses).
Verfahren und Anträge der Parteien
13 Mit Klageschrift, die am 19. Oktober 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
14 Mit Beschluss vom 11. März 2013 hat der Präsident des Gerichts die teilweise Aussetzung des Vollzugs des angefochtenen Beschlusses angeordnet. Mit Beschluss vom 10. September 2013, Kommission/Pilkington Group (C‑278/13 P[R], Slg, EU:C:2013:558) hat der Vizepräsident des Gerichtshofs der Europäischen Union das Rechtsmittel der Kommission gegen den Beschluss des Präsidenten des Gerichts zurückgewiesen.
15 Mit Beschluss vom 27. November 2013 hat der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts die Anträge von vier in der Automobilglassparte tätigen Versicherern auf Zulassung als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zurückgewiesen.
16 Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen hat das Gericht der Kommission mehrere schriftliche Fragen gestellt. Diese hat hierauf mit Schreiben vom 7. Oktober und vom 18. Dezember 2014 geantwortet.
17 Die Klägerin beantragt,
—
den angefochtenen Beschluss, insbesondere seinen Art. 4, für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
18 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
19 Die Klägerin stützt ihre Klage auf folgende sechs Klagegründe:
—
Begründungsmangel und Fehler betreffend Rn. 115 der Automobilglasentscheidung;
—
Verletzung von Art. 339 AEUV, Art. 28 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 8 des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (ABl. L 275, S. 29);
—
Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung;
—
Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes;
—
Verletzung der Grundsätze zum Schutz der Identität Einzelner;
—
Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Grundsätze, die den Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten der Organe regeln.
Zum ersten Klagegrund: Begründungsmangel und Fehler betreffend Rn. 115 der Automobilglasentscheidung
20 Die Klägerin macht geltend, der Anhörungsbeauftragte habe ihren Antrag mit einer kurzen und allgemeinen Begründung und auf der Grundlage nicht maßgeblicher Kriterien zurückgewiesen. Außerdem seien in dieser Begründung die angewandte Rechtsnorm nicht klar genannt, mehrere Argumente betreffend die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht beantwortet und auch ein besonderer Widerspruch gegenüber dem Standpunkt der GD Wettbewerb nicht begründet worden. Die Klägerin habe aber in der Begründung ihres Antrags auf jede betroffene Randnummer einzeln Bezug genommen. Weiter sei eine allgemeine Begründung von Natur aus unzureichend, da die streitigen Informationen, selbst diejenigen, die in nur eine Kategorie fielen, sehr unterschiedlicher Natur seien, was durch die Tatsache belegt werde, dass einige vertraulich behandelt worden seien, andere dagegen nicht. Schließlich sei der angefochtene Beschluss wegen der allgemeinen Bezugnahme auf den Begriff der die Zuwiderhandlung begründenden Umstände als eigenständiges Kriterium und auf die Nichtvertraulichkeit der der Kommission im Rahmen des Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung übermittelten Informationen sowie wegen der nicht übereinstimmenden Definitionen der Vertraulichkeit mit einem Begründungsmangel behaftet. Unter diesen Umständen habe die Kommission gegen Art. 296 AEUV und den in Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der guten Verwaltung verstoßen.
Zur Rüge eines Begründungsmangels
21 Die Pflicht zur Begründung einer Einzelentscheidung hat neben der Ermöglichung einer gerichtlichen Überprüfung den Zweck, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob die Entscheidung eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Rechtmäßigkeit in Frage stellt. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Die Begründung eines Rechtsakts muss darüber hinaus auch folgerichtig sein und darf insbesondere keine inneren Widersprüche aufweisen, die das Verständnis der Gründe, die diesem Rechtsakt zugrunde liegen, erschweren (Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, Slg, EU:C:2011:620, Rn. 148, 150 und 151).
22 Gemäß Art. 8 Abs. 2 des Beschlusses 2011/695 kann der Anhörungsbeauftragte feststellen, dass eine Information offengelegt werden darf, weil es sich nicht um ein Geschäftsgeheimnis oder sonstige vertrauliche Information handelt oder weil er der Ansicht ist, dass ein übergeordnetes Interesse an der Offenlegung besteht. Folglich hat der Anhörungsbeauftragte eine Schlussfolgerung, dass die streitige Information offengelegt werden darf, unter Bezugnahme auf die Erwägungen zu begründen, die ihn zu dem Ergebnis haben gelangen lassen, dass es sich nicht um ein Geschäftsgeheimnis oder sonstige vertrauliche Informationen handelt oder, selbst wenn dies der Fall wäre, dass ein übergeordnetes Interesse an der Offenlegung besteht.
23 In diesem Zusammenhang wirkt sich die Tatsache, dass ein oder mehrere der Nichtanerkennung des vertraulichen Charakters zugrunde liegende Gründe für eine Reihe von Informationen geltend gemacht werden, die nach Ansicht des Anhörungsbeauftragten gemeinsame Merkmale aufweisen, nicht auf die Vollständigkeit der Begründung aus, soweit die Grundlage für die Schlussfolgerungen des Anhörungsbeauftragten aus dem angefochtenen Beschluss verständlich wird. Gelten die in Rede stehenden Gründe für eine oder mehrere Informationen nicht, so stellt dies die Stichhaltigkeit der Begründung in Frage und nicht die Erfüllung des wesentlichen Formerfordernisses einer ausreichenden Begründung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2001, Frankreich/Kommission, C‑17/99, Slg, EU:C:2001:178, Rn. 35).
24 Im vorliegenden Fall ist den Rn. 19 bis 32 des angefochtenen Beschlusses zu entnehmen, dass der Anhörungsbeauftragte zunächst einige den Informationen der Kategorien I und II gemeinsame Merkmale dargelegt hat, hinsichtlich deren diese Informationen seines Erachtens nicht als vertraulich eingestuft werden können. Es handelt sich darum, dass die Informationen erstens ihrer Natur nach Dritten bekannt seien, dass sie zweitens historischer Natur seien und dass sie drittens das Wesen der Zuwiderhandlung selbst bildeten.
25 In diesem Zusammenhang hat der Anhörungsbeauftragte dann geprüft, ob die Klägerin trotz dieser Merkmale spezifische Argumente geltend gemacht hat, mit denen dargetan wird, dass die in Rede stehenden Informationen in dem Sinne vertraulich waren, dass sie nur einem beschränkten Personenkreis bekannt waren, dass ihre Offenlegung einen erheblichen Schaden verursachen könnte und dass die Interessen, die durch die Offenlegung verletzt werden könnten, objektiv schützenswert waren. Der Anhörungsbeauftragte kam in dieser Hinsicht zu dem Schluss, dass nur die Rn. 198, 208, 367, 383 und 393 bis 397 der Automobilglasentscheidung Informationen enthielten, die nicht offengelegt werden dürften (Rn. 33 bis 42 des angefochtenen Beschlusses).
26 Schließlich hat der Anhörungsbeauftragte hinsichtlich der Informationen der Kategorie III in den Rn. 46 und 47 des angefochtenen Beschlusses dargelegt, dass nur die Rn. 98, 132, 160 und 163 sowie die Fn. 282 und 410 der Automobilglasentscheidung Informationen enthielten, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Feststellung der Identität einer natürlichen Person führen könnten. Dagegen enthielten, so Rn. 48 des angefochtenen Beschlusses, die anderen Randnummern der Automobilglasentscheidung, die nach Ansicht der Klägerin Informationen der Kategorie III enthalten, keine Informationen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Feststellung der Identität einer natürlichen Person führen könnten.
27 Soweit der angefochtene Beschluss mit einer solchen Begründung versehen ist, enthält er Elemente, die es sowohl dem Gericht als auch der Klägerin erlauben, die Gründe auszumachen, aus denen der Anhörungsbeauftragte zu dem Schluss gekommen ist, die streitigen Informationen seien nicht vertraulich, ob diese Gründe nun für eine einzelne Information gelten oder ob mit ihnen die Merkmale einer Reihe von Informationen angesprochen werden. Der Umstand, dass der Anhörungsbeauftragte keine getrennte Beurteilung für jede Randnummer der Automobilglasentscheidung, die von dem Antrag der Klägerin erfasst ist, vorgenommen hat, bedeutet somit nicht, dass die angefochtene Entscheidung mit einem Begründungsmangel behaftet ist. Der Klägerin war es daher möglich, die Rechtmäßigkeit der Analyse des Anhörungsbeauftragten sachgerecht in Frage zu stellen, und das Gericht verfügt über die notwendigen Informationen für die in dieser Hinsicht vorzunehmende Würdigung.
28 Was im Übrigen die Rügen angeht, die angewandten Rechtsnormen seien nicht genannt worden, die angeführten Gründe seien nicht an alle streitigen Information angepasst, der Begriff der die Zuwiderhandlung begründenden Umstände sei nicht erheblich, die Informationen der Kategorie II seien nicht ihrer Natur nach außerhalb der Klägerin bekannt und die in dem angefochtenen Beschluss verwendeten Definitionen der Vertraulichkeit stimmten nicht miteinander überein, so betreffen sie die materielle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses und werden im Rahmen des zweiten und des dritten Klagegrundes behandelt und geprüft.
29 Die Rüge, der Anhörungsbeauftragte habe nicht auf das Argument einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geantwortet, ist nicht begründet. Einmal unterstellt, dass diese Prüfung zu den Aufgaben des Anhörungsbeauftragten gehört, hat dieser sie in den Rn. 14 und 15 des angefochtenen Beschlusses erfüllt, indem er dargelegt hat, dass erstens die Kommission den von ihr in den vorausgehenden Untersuchungen verfolgten Ansatz habe ändern können, indem sie eine neue, vollständigere Veröffentlichung der die Zuwiderhandlung feststellenden Entscheidung vornahm, und dass zweitens nicht vermutet werden könne, dass jedes in der veröffentlichten Fassung einer solchen Entscheidung nicht enthaltene Element dem Geschäftsgeheimnis unterliege. Die Frage, ob diese Begründung zutreffend ist, fällt unter deren Stichhaltigkeit und wird im Rahmen des dritten Klagegrundes geprüft.
Zur Rüge eines Fehlers betreffend Rn. 115 der Automobilglasentscheidung
30 Dagegen ist der Einwand der Klägerin, der Anhörungsbeauftragte habe ihren Antrag auf vertrauliche Behandlung von Rn. 115 der Automobilglasentscheidung ausdrücklich zurückgewiesen, obwohl die GD Wettbewerb diesem Antrag bereits stattgegeben hatte, offensichtlich begründet.
31 Nach Art. 8 Abs. 2 des Beschlusses 2011/695 kann das betroffene Unternehmen den Anhörungsbeauftragten anrufen, wenn es „mit der Offenlegung der Informationen nicht einverstanden [ist]“. Ist diese Offenlegung beabsichtigt, wird sie als Erstes von der Kommission dem Unternehmen gemäß Art. 8 Abs. 1 dieses Beschlusses mitgeteilt. Aus diesen Vorschriften ergibt sich, dass die Zuständigkeit des Anhörungsbeauftragten durch den ihm vorliegenden Antrag begrenzt ist und dass er nicht befugt ist, die von der GD Wettbewerb getroffenen Entscheidungen in Frage zu stellen, wenn darin einem Antrag auf vertrauliche Behandlung stattgegeben wurde.
32 Im vorliegenden Fall ergibt sich aber aus Absatz 4 des Schreibens der Kommission vom 1. Februar 2012, dass die GD Wettbewerb einverstanden war, in der veröffentlichten Fassung der Automobilglasentscheidung die in deren Rn. 115 genannten Namen der Kunden der Klägerin zu streichen, um die Personalien einiger ihrer Mitarbeiter zu schützen. Insoweit ist die These der Kommission zurückzuweisen, der im Schreiben vom 1. Februar 2012 geäußerte Standpunkt sei nur vorläufig gewesen und habe unter dem Vorbehalt der abschließenden Entscheidung des Anhörungsbeauftragten gestanden. Wie nämlich vorstehend in Rn. 31 ausgeführt worden ist, wird der Anhörungsbeauftragte nur in Fällen angerufen, in denen das Unternehmen mit der beabsichtigten Offenlegung nicht einverstanden ist. Ist dagegen eine Offenlegung nicht beabsichtigt, ist ein Eingreifen des Anhörungsbeauftragten gegenstandslos. Entgegen dem Vorbringen der Kommission veranschaulicht das Schreiben vom 1. Februar 2012 dies in seinem Absatz 9, in dem die Klägerin aufgefordert wurde, sich an den Anhörungsbeauftragten zu wenden, falls sie mit dem Umfang der beabsichtigten Veröffentlichung nicht einverstanden sei („Should you not agree with the scope of the disclosure as described in this letter …“).
33 Es trifft zwar zu, dass die Klägerin Rn. 115 der Automobilglasentscheidung in ihre Schreiben vom 30. Juni und vom 7. November 2011 an den Anhörungsbeauftragten einbezogen hat, dies ist jedoch dadurch zu erklären, dass sich die GD Wettbewerb erst mit Schreiben vom 1. Februar 2012, also nach der Anrufung des Anhörungsbeauftragten damit einverstanden erklärt hat, den maßgeblichen Teil dieser Rn. 115 nicht zu veröffentlichen. Ungeachtet dessen hat dieser den Antrag auf vertrauliche Behandlung betreffend Rn. 115 der Automobilglasentscheidung ausdrücklich zurückgewiesen (Rn. 48 des angefochtenen Beschlusses), obwohl er hätte feststellen müssen, dass die GD Wettbewerb dem Antrag bereits stattgegeben hatte, und eine Beurteilung insoweit hätte unterlassen müssen.
34 Der angefochtene Beschluss ist somit für nichtig zu erklären, soweit er den Antrag der Klägerin auf vertrauliche Behandlung des Teils der Rn. 115 der Automobilglasentscheidung betrifft. Im Übrigen ist der erste Klagegrund zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verletzung von Art. 339 AEUV, Art. 28 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 8 des Beschlusses 2011/695
35 Nach Ansicht der Klägerin schließt der Begriff der vertraulichen Informationen Geschäftsgeheimnisse, andere Informationen, deren Offenlegung die Geschäftsinteressen eines Unternehmens schwer beeinträchtigen, und persönliche Daten ein. Eine Information sei ihrer Natur nach vertraulich, wenn sie einer begrenzten Anzahl von Personen bekannt sei und wenn ihre Offenlegung einen Schaden verursachen könne. Eine Information, die diese kumulativen Voraussetzungen erfülle, dürfe nur bei Vorliegen eines höheren Interesses offengelegt werden, das nach einer Interessenabwägung im Rahmen einer strikten Auslegung festgestellt werden müsse. Der Anhörungsbeauftragte habe aber nicht konkret auf der Grundlage feststehender Kriterien beurteilt, ob die streitigen Punkte ihrer Natur nach vertraulich seien, bevor er darüber entschieden habe, ob ein öffentlichen Interesses vorliege, das ihre Offenlegung erfordere.
36 Was die Informationen der Kategorie I angehe, lege die Veröffentlichung der Automobilglasentscheidung in ihrer sich aus dem angefochtenen Beschluss ergebenden Fassung in konsolidierter Form die wichtigsten Kunden der Klägerin offen sowie die betroffenen Automodelle und die in bestimmten Zeiträumen gelieferten Teile. Diese Offenlegung komme der Veröffentlichung einer Kundenliste mit Einzelheiten zu den Kundenbeziehungen gleich, d. h. von Informationen, die ihrer Natur nach vertraulich seien. Wenn allein die Tatsache, dass Kunden der Klägerin im Besitz einer Information seien, genügen würde, diese von jeder vertraulichen Behandlung auszuschließen, könnte keine das Kundenverhältnis betreffende Information als vertraulich eingestuft werden, was absurd wäre. Dasselbe gelte für die Informationen, die zwischen den Kartellmitgliedern ausgetauscht würden. Hinsichtlich der Informationen der Kategorie II macht die Klägerin geltend, dass sie schlechthin zu den selbst Fachkreisen nicht zugänglichen Geschäftsgeheimnissen zählten. Dennoch habe der Anhörungsbeauftragte seine Einschätzung nicht begründet, dass diese auch die laufenden Geschäftsbeziehungen betreffenden vertraulichen Informationen, wie Rn. 36 des angefochtenen Beschlusses bezeuge, außerhalb der Klägerin bekannt seien. Die letztgenannte Randnummer sei im Übrigen widersprüchlich, da sie es nicht ermögliche, den Grund für die die vom Anhörungsbeauftragten vorgenommene Unterscheidung zwischen als vertraulich zu schützenden Informationen und denjenigen, die veröffentlicht werden könnten, zu verstehen.
37 Die Klägerin bestreitet auch, dass die Informationen der Kategorien I und II historischer Natur seien. Alle betroffenen Kunden seien nämlich auch heute noch ihre Kunden für die in der Automobilglasentscheidung genannten Automodelle. Die in Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses enthaltenen Würdigungen zeigten, dass im Fall der Offenlegung der Informationen der Kategorie I ein Schaden verursacht werde. Außerdem könne in Anbetracht der Merkmale der Lieferverträge, die mehrere Jahre im Voraus ausgehandelt würden und eine lange Laufzeit hätten, nicht angenommen werden, dass die Informationen der Kategorie II, die älter als fünf Jahre seien, historischer Natur seien, da ihre Offenlegung geeignet sei, die Identität der jetzigen Kunden preiszugeben und einen Markt transparent zu machen, der über bilaterale Verhandlungen bestimmt werde. Die Klägerin habe außerdem die spezifischen Gründe dargelegt, aus denen diese Informationen immer noch erheblich und deshalb sensibel seien. Somit biete die kombinierte Offenlegung von Informationen der Kategorien I und II der Öffentlichkeit ein äußerst detailliertes Bild der gegenwärtigen Beziehungen der Klägerin zu ihren Kunden, was im angefochtenen Beschluss hinsichtlich bestimmter Randnummern der Automobilglasentscheidung bereits anerkannt worden sei.
38 Die Klägerin führt weiter aus, der angefochtene Beschluss widerspreche der ständigen Praxis, die die Kommission hinsichtlich der vertraulichen Behandlung von Informationen ähnlicher Art in der Vergangenheit eingeführt habe, und gefährde die praktische Wirksamkeit der Vorschriften über den Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten der Organe.
39 Die Klägerin beanstandet im Übrigen die Anwendung des Begriffs der die Zuwiderhandlung begründenden Umstände des Anhörungsbeauftragten im vorliegenden Fall. Dieser Begriff umfasse das Abhalten von Kartelltreffen, die Identität der teilnehmenden Unternehmen und die Arten des Austauschs, ohne dass eine namentliche Bezugnahme auf die Kunden oder eine Beschreibung der bei jedem Treffen spezifisch betroffenen Produkte notwendig sei. Jedenfalls verlören die Informationen der Kategorien I und II, selbst wenn sie als unter diesen Begriff fallend betrachtet würden, deswegen nicht ihre vertrauliche Natur, da sie die oben in Rn. 35 genannten maßgeblichen Kriterien erfüllten. Der Unterschied in der Behandlung in Rn. 207 der Automobilglasentscheidung einerseits und in deren Rn. 394 andererseits bestätige die Richtigkeit dieses Ansatzes und zeige auch, dass es unmöglich sei, zu beurteilen, ob die Anwendung dieses Begriffs alle oder nur einen Teil der Informationen der Kategorien I und II betreffe. Insoweit sei daher ein Begründungsmangel festzustellen.
40 Der Anhörungsbeauftragte habe auch die Kriterien im Zusammenhang mit dem Berufsgeheimnis in Bezug auf die Informationen falsch angewandt, die in einer Erklärung zur Anwendung der Kronzeugenregelung enthalten seien und deren vertrauliche Natur weder durch den Grundsatz der Öffnung, der das Vorgehen der Kommission bestimme, noch durch die Interessen der vermeintlich geschädigten Personen berührt werde.
41 Schließlich macht die Klägerin geltend, dass vertrauliche Informationen nur dann offengelegt werden könnten, wenn dies zur Verfolgung eines öffentlichen Interesses oder der Interessen der durch die Zuwiderhandlung geschädigten Parteien unerlässlich sei. Im vorliegenden Fall sei die Offenlegung der streitigen vertraulichen Informationen nicht unerlässlich zur Verfolgung solcher Interessen. Diese Interessen beträfen nämlich nicht das rechtswidrige Verhalten als solches, was durch die Tatsache belegt werde, dass der Anhörungsbeauftragte dem Antrag der Klägerin hinsichtlich bestimmter Elemente stattgegeben habe. Außerdem ermögliche die bereits veröffentlichte nicht vertrauliche Fassung der Öffentlichkeit, sich über die Gründe, die dem Vorgehen der Kommission zugrunde lägen, zu informieren, und den vermeintlich geschädigten Parteien, ihre Rechte vor den zuständigen Gerichten geltend zu machen.
42 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 30 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 die Kommission u. a. Entscheidungen veröffentlicht, mit denen eine Zuwiderhandlung festgestellt wird und Geldbußen oder Zwangsgelder verhängt werden. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift erfolgt die Veröffentlichung unter Angabe der Beteiligten und des wesentlichen Inhalts der Entscheidung einschließlich der verhängten Sanktionen. Sie muss den berechtigten Interessen der Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse Rechnung tragen.
43 Art. 28 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor, dass die gemäß den Art. 17 bis 22 dieser Verordnung erlangten Informationen nur zu dem Zweck verwertet werden, zu dem sie eingeholt wurden, und dass es Personen, die den zuständigen Behörden angehören, verboten ist, Informationen preiszugeben, die unter das Berufsgeheimnis fallen.
44 Im Übrigen ergibt sich aus Art. 8 Abs. 2 des Beschlusses 2011/695, dass der Anhörungsbeauftragte feststellen kann, dass eine Information offengelegt werden darf, weil es sich nicht um ein Geschäftsgeheimnis oder sonstige vertrauliche Informationen handelt oder weil er der Ansicht ist, dass ein übergeordnetes Interesse an der Offenlegung besteht.
45 Das Berufsgeheimnis umfasst neben den Geschäftsgeheimnissen Informationen, die nur einer beschränkten Zahl von Personen bekannt sind und durch deren Offenlegung dem Auskunftsgeber oder Dritten ein ernsthafter Nachteil entstehen kann. Schließlich ist erforderlich, dass die Interessen, die durch die Offenlegung der Information verletzt werden können, objektiv schützenswert sind. Bei der Beurteilung der Vertraulichkeit einer Information sind somit die berechtigten Interessen, die ihrer Offenlegung entgegenstehen, und das Allgemeininteresse daran, dass sich das Handeln der Gemeinschaftsorgane möglichst offen vollzieht, miteinander zum Ausgleich zu bringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2006, Bank Austria Creditanstalt/Kommission, T‑198/03, Slg, EU:T:2006:136, Rn. 29 und 71).
46 Da nach Rn. 75 des Urteils Bank Austria Creditanstalt/Kommission (oben in Rn. 45 angeführt, EU:T:2006:136) und Rn. 64 des Urteils vom 12. Oktober 2007, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse/Kommission (T‑474/04, Slg, EU:T:2007:306), die Vertraulichkeit bestimmter Informationen durch eine Ausnahme von dem in Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 vorgesehenen Recht auf Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. L 145, S. 43) geschützt ist, ist dieser Schutz zwar bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen, ob die Kommission das ihr gegenüber in Art. 28 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ausgesprochene Verbot der Preisgabe von Informationen, die ihrer Natur nach unter das Berufsgeheimnis fallen, beachtet hat.
47 Der Gerichtshof hat jedoch nach der Verkündung dieser Urteile Art. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 dahin ausgelegt, dass es den Organen freisteht, sich insoweit auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten, wobei ähnliche Erwägungen allgemeiner Art den Anträgen auf Offenlegung, die Dokumente gleicher Art betreffen, entgegengehalten werden können. Diese Auslegung ist maßgebend, wenn die für das Verfahren geltende Regelung hinsichtlich der Behandlung der Informationen, die im Rahmen eines solchen Verfahrens erhalten oder festgestellt wurden, ebenfalls zwingende Regeln vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juni 2012, Kommission/Éditions Odile Jacob, C‑404/10 P, Slg, EU:C:2012:393, Rn. 108, 116 und 118). Eben dies ist der Fall bei Art. 27 Abs. 2 und Art. 28 der Verordnung Nr. 1/2003 und den Art. 6, 8, 15 und 16 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Art. [101 AEUV und 102 AEUV] (ABl. L 123, S. 18), die die Verwendung der in der Akte eines Verfahrens nach Art. 101 AEUV enthaltenen Dokumente restriktiv regeln (Urteil vom 27. Februar 2014, Kommission/EnBW, C‑365/12 P, Slg, EU:C:2014:112, Rn. 86). In diesem Kontext würde eine Berücksichtigung von Art. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 in der Weise, dass der Kommission die Veröffentlichung jeglicher Information verboten ist, weil sie gemäß der letztgenannten Vorschrift das Recht hat, unter Berufung auf eine allgemeine Vermutung den Zugang zu den Dokumenten zu verweigern, in denen diese Information enthalten ist, Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 gegenstandslos machen. Zum einen würde ein solcher Ansatz dazu führen, dass der Kommission die Möglichkeit genommen wird, auch nur den wesentlichen Inhalt der Entscheidung zu veröffentlichen, da dieser sich zwingend aus der Untersuchungsakte ergeben muss. Zum anderen hätte er auch die praktische Folge, die Beweislast umzukehren, die im Bereich der vertraulichen Behandlung bei dem Unternehmen liegt, das eine solche Behandlung beantragt, denn das Unternehmen brauchte nur die allgemeine Vermutung geltend zu machen, auf die sich die Organe unter den oben beschriebenen Bedingungen berufen können, und die Kommission damit praktisch zu verpflichten, darzutun, dass die streitige Information in die veröffentlichte Fassung ihrer Entscheidung aufgenommen werden kann. Daher präjudiziert der Umstand, dass sich die Kommission gegenüber einem Antrag auf Zugang zu einer Reihe von in der Untersuchungsakte enthaltenen global bezeichneten Dokumenten auf eine allgemeine Vermutung des Schutzes eines der in Art. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 aufgeführten Interessen berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/EnBW, EU:C:2014:112, Rn. 65 bis 69), in keiner Weise den Umfang der Veröffentlichung, die die Kommission im Rahmen von Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 vornehmen kann.
48 Im vorliegenden Fall hat der Anhörungsbeauftragte hinsichtlich der Informationen der Kategorie I ausgeführt, dass sie die Namen der Kunden, die Namen und die Beschreibung der Produkte sowie sonstige Informationen beträfen, anhand deren sich ein Kunde feststellen lasse (Rn. 21 des angefochtenen Beschlusses).
49 Erstens seien diese Informationen ihrer Natur nach Dritten bekannt. Außerdem enthalte die Automobilglasentscheidung keine Kunden- oder Lieferantenliste, sondern nehme im Rahmen der Beschreibung einer Zuwiderhandlung namentlich auf die Kunden Bezug. Die Identität des Kunden eines Automobilglasherstellers verliere ihren vertraulichen Charakter im Übrigen dadurch, dass auf dem eingebauten Glas auf diesen Hersteller Bezug genommen werde (Rn. 22 bis 24 des angefochtenen Beschlusses).
50 Zweitens könnten die fraglichen Informationen nicht mehr als vertraulich eingestuft werden, da sie einen vor dem 3. September 2002 liegenden Sachverhalt beträfen, es sei denn, es werde dargetan, dass sie trotz ihres historischen Charakters immer noch wesentliche Elemente der geschäftlichen Stellung der Klägerin seien. Die im vorliegenden Fall durch den Zeitablauf geschaffenen Wirkungen ließen sich aber weder durch die allgemeine Beschreibung des Automobilglasmarkts mit seinen langfristigen Verträgen noch durch die Behauptung negieren, es sei möglich, die Daten der historischen Preise zu extrapolieren (Rn. 25 bis 28 des angefochtenen Beschlusses).
51 Drittens hat der Anhörungsbeauftragte das Interesse der Geschädigten betont, ihre Rechte gegenüber den Urhebern der Zuwiderhandlung geltend zu machen, und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Informationen der Kategorie I zur Kategorie der die Zuwiderhandlung begründenden Umstände gehörten (Rn. 29 letzter Satz bis Rn. 31 des angefochtenen Beschlusses).
52 Zu den Informationen der Kategorie II hat der Anhörungsbeauftragte ausgeführt, dass sie die Mengen der gelieferten Teile, die Zuteilung von Quoten für jeden Autohersteller, die Vereinbarungen von Preisen, deren Berechnung und Variationen und schließlich die Zahlen und Prozentsätze im Zusammenhang mit der Aufteilung von Kunden unter den Kartellmitgliedern beträfen (Rn. 21 des angefochtenen Beschlusses).
53 Den Rn. 22 bis 31 des angefochtenen Beschlusses zufolge charakterisieren die Merkmale, die die Informationen der Kategorie I charakterisierten, auch die Informationen der Kategorie II.
54 Daraus folge, so Rn. 32 des angefochtenen Beschlusses, dass die Informationen der Kategorien I und II unter Berücksichtigung ihrer allgemeinen Merkmale weder als geheim noch als vertraulich eingestuft werden könnten. Unter diesen Umständen könne eine Information nur dann vertraulich behandelt werden, wenn spezifische Merkmale vorlägen, die zeigten, dass die oben in Rn. 45 genannten Bedingungen erfüllt seien. Nach der Prüfung, ob solche Merkmale vorliegen, kam der Anhörungsbeauftragte zu den oben in den Rn. 25 und 26 dargelegten Schlussfolgerungen.
55 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist diese Würdigung fehlerfrei.
56 Hinsichtlich der Informationen der Kategorie I kann nicht angenommen werden, dass die Identität der Kunden der Klägerin eine einem beschränkten Personenkreis bekannte Information ist. Da die Klägerin selbst ihren Wettbewerbern im Rahmen von kollusiven Vereinbarungen die Liste ihrer Kunden bekannt gegeben hat, bietet die fragliche Veröffentlichung ihren Kunden lediglich die Möglichkeit, sich über die Identität der anderen Kunden der Klägerin zu informieren. Wie aber der Anhörungsbeauftragte bemerkt hat, trägt nach den auf dem Automobilglasmarkt herrschenden Gepflogenheiten das in einem Fahrzeug eingebaute Glas eine sichtbare Angabe seiner betrieblichen Herkunft, so dass es möglich ist, eine Verbindung zwischen einem bestimmten Modell und dem Glaslieferanten herzustellen. Insoweit ist das Vorbringen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, die fragliche Angabe biete keine Informationen zur Identität aller Lieferanten für ein Automodell, unerheblich. Die Information, gegen deren Offenlegung sich die Klägerin wendet, betrifft die Tatsache, das Letztere das Glas für einige Automarken oder Modelle geliefert hat. Sie betrifft nicht die Frage, ob auch andere Automobilglashersteller Glas für dieselben Marken oder Modelle geliefert haben
57 Im Übrigen kann bezweifelt werden, dass die Erstellung einer Liste der Modelle, für die die Klägerin in einem bestimmten Zeitraum Glas geliefert hat, auf größere praktische Hindernisse wegen der Vielzahl der im Verkehr befindlichen Automodelle stößt. Selbst wenn nämlich solche Hindernisse bestehen sollten, dürfen sie nicht überbewertet werden, da die Fachkreise der Automobilhersteller bereits über ein Fachwissen verfügen, das es ihnen ermöglicht, aus den Angaben auf dem eingebauten Glas zutreffende allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Aus den Rn. 76 bis 86 der Automobilglasentscheidung, insbesondere den Rn. 77, 78 und 85, ergibt sich, dass der Automobilglasmarkt durch ein solches Maß an Transparenz in Bezug auf die Identität der Glaslieferanten gekennzeichnet ist, dass diese Information nicht als vertraulich eingestuft werden kann.
58 Zudem trifft auch die Feststellung des Anhörungsbeauftragten zu, dass die fraglichen Informationen historischer Natur seien. Weder geheim noch vertraulich sind Informationen, die dies früher einmal waren, aber fünf Jahre alt oder älter sind und deshalb als historisch angesehen werden müssen, sofern der Betroffene nicht ausnahmsweise nachweist, dass diese Informationen trotz ihres Alters immer noch wesentliche Elemente seiner geschäftlichen Stellung oder die der betroffenen Dritten sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 8. Mai 2012, Spira/Kommission, T‑108/07, EU:T:2012:226, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). Da die Informationen der Kategorie I aus einer mehr als fünf Jahre vor der Veröffentlichung des angefochtenen Beschlusses liegenden Zeit stammen, haben sie tatsächlich historischen Charakter, ohne dass die Klägerin dargetan hätte, dass deren vertrauliche Behandlung durch ihre gegenwärtige geschäftliche Stellung angesichts der Würdigung in den Rn. 56 und 57 oben geboten ist.
59 Schließlich ist, wie der Anhörungsbeauftragte zutreffend ausgeführt hat, die Kommission berechtigt, unter Beachtung des Berufsgeheimnisses das Interesse der durch die Zuwiderhandlung geschädigten Personen zu berücksichtigen, indem sie deren Klagen auf Schadensersatz erleichtert, was einen Bestandteil der Wettbewerbspolitik darstellt. Sie kann somit eine Fassung veröffentlichen, deren Inhalt über das durch Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 geforderte Mindestmaß hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil Bank Austria Creditanstalt/Kommission, oben in Rn. 45 angeführt, EU:T:2006:136, Rn. 78 und 79).
60 Was die Informationen der Kategorie II angeht, ist die Würdigung des Anhörungsbeauftragten, dass diese ihrer Natur nach Dritten bekannt seien, zutreffend. Es ist richtig, dass die Informationen über die mit jedem Kunden vereinbarten Preise, über die Mengen der gelieferten Teile sowie über die Einzelheiten in Bezug auf die Geschäftspolitik, wie sie sich in den Verkaufsvereinbarungen materialisiert haben, grundsätzlich unter die Geschäftsgeheimnisse fallen. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin jedoch diese Punkte eben den Personen und Einrichtungen mitgeteilt, denen gegenüber sie als geheim gelten sollen. Es sind nämlich diese Personen und Einrichtungen, die gerade durch ihre Stellung als Wettbewerber der Klägerin bestens in der Lage sind, die in Rede stehenden Geheimnisse zu deren Nachteil zu verwenden, indem sie sie im Rahmen ihrer Geschäftspolitik berücksichtigen. Wie die Kommission geltend macht, hat die Klägerin auf die Wahrung des geheimen Charakters dieser Information verzichtet, indem sie sie unmittelbar an ihre Wettbewerber im Austausch gegen eine unzulässige Vereinbarung über deren zukünftiges Verhalten übermittelt hat. Diese Vereinbarung ist auf die Beseitigung der Ungewissheit gerichtet, die einem Wettbewerbsumfeld innewohnt und die gerade durch den geheimen Charakter dieser Art von Informationen vor allem im Verhältnis zu den Wettbewerbern bedingt ist. Infolgedessen kann die Klägerin nicht mit Erfolg geltend machen, die Veröffentlichung der in Rede stehenden Punkte in der Automobilglasentscheidung bewirke, dass der Personenkreis, der Kenntnis von ihnen habe, unzulässig erweitert werde, da sie selbst diese Informationen den wichtigsten Wettbewerbern mitgeteilt hat. In diesem Zusammenhang ist die Gefahr, dass die fraglichen Informationen in die Hände der Wettbewerber der Klägerin gelangen, durch ihr eigenes Verhalten gegenstandslos geworden. Da die Öffentlichkeit als solche nicht über die Mittel verfügt, die Geschäftsinteressen der Klägerin zu schädigen, ist die Tatsache, dass die fraglichen Informationen öffentlich verfügbar sind, rechtlich ohne Belang.
61 Zudem bilden, wie der Anhörungsbeauftragte in den Rn. 30 und 31 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, die streitigen Informationen, da sie nicht nur Gegenstand eines Austauschs unter den Wettbewerbern, sondern das Ergebnis des Austauschs zwischen diesen waren, z. B. als Vereinbarung über Preise oder zugeteilte Quoten, das Wesen der Zuwiderhandlung selbst. Insbesondere entstammen die fraglichen Informationen einem Kontext, der die von Art. 101 AEUV verlangte Geheimhaltung gegenüber den Wettbewerbern ausschließt, so dass es sie gerade wegen des Fehlens dieser Geheimhaltung gab. Folglich bestand der Wert dieser Informationen für die Klägerin eben darin, dass sie einer Vereinbarung entstammten, mit der die Ungewissheit, die dem durch den Vertrag errichteten Wettbewerbssystem innewohnt, beseitigt wurde. Der Anhörungsbeauftragte hat somit keinen Rechtsfehler begangen, indem er den Charakter dieser Informationen, die das Wesen der Zuwiderhandlung selbst bilden, hervorgehoben hat, um auszuschließen, dass sie einer begrenzten Anzahl von Personen bekannt sind.
62 Diese Abgrenzung des Berufsgeheimnisses spiegelt sich auch in Art. 39 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums wider, das den Anhang 1 C des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation bildet, das am 15. April 1994 in Marrakesch unterzeichnet und mit dem Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. L 336, S. 1) genehmigt wurde. Nach dieser Bestimmung sind die Mitgliedstaaten der WHO verpflichtet, nach Maßgabe der insoweit geltenden Bestimmungen „nicht offenbarte Informationen“ zu schützen, solange diese Informationen
—
in dem Sinne geheim sind, dass sie entweder in ihrer Gesamtheit oder in der genauen Anordnung und Zusammenstellung ihrer Bestandteile Personen in den Kreisen, die üblicherweise mit den fraglichen Informationen zu tun haben, nicht allgemein bekannt oder leicht zugänglich sind,
—
wirtschaftlichen Wert haben, weil sie geheim sind, und
—
Gegenstand von den Umständen nach angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen seitens der Person waren, unter deren Kontrolle sie rechtmäßig stehen.
63 Diese Vorschrift betrifft zwar das geistige Eigentum, sie veranschaulicht aber gleichwohl den Gedanken, dass die Vertraulichkeit im Verhältnis zu den Kreisen zu beurteilen ist, die üblicherweise mit Informationen der fraglichen Art zu tun haben.
64 Die Klägerin hat aber diese Informationen dadurch, dass sie sie ihren Wettbewerbern mitgeteilt hat, genau gegenüber den Personen offengelegt, die für die Behandlung der entsprechenden Auskünfte in dem Unternehmen, dem sie angehören, zuständig sind. Überdies hat die Klägerin per definitionem keine Anstrengung unternommen, diese Informationen gegenüber den Personen und Einrichtungen geheim zu halten, bezüglich deren sie schlechthin als vertraulich gelten (siehe oben, Rn. 60 und 61).
65 Angesichts der vorstehenden Analyse kann nicht die Rede davon sein, dass die fraglichen Informationen nur einer beschränkten Personenzahl im Sinne der oben in Rn. 45 angeführten Rechtsprechung bekannt wären. Das Vorbringen der Klägerin, erstens seien die fraglichen Informationen nur einem beschränkten Personenkreis bekannt und zweitens sei das vom Anhörungsbeauftragten herangezogene Kriterium, dass diese Informationen zu den die Zuwiderhandlung begründenden Umständen gehörten, nicht erheblich, ist deshalb zurückzuweisen.
66 Auch das Vorbringen der Klägerin, dass die offengelegten Preise extrapoliert werden könnten, um die Höhe der aktuellen Preise zu bestimmen, ist zurückzuweisen. Abgesehen davon, dass diese wenig plausible Behauptung nicht belegt worden ist, ist in Anbetracht des historischen Charakters dieser Preise (siehe oben, Rn. 58) darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn. 28 des angefochtenen Beschlusses dargelegt, diese Preise im Rahmen einer kollusiven Vereinbarung zwischen den wichtigsten Herstellern von Automobilglas gebildet wurden. Mangels einer besonderen Erläuterung, von welchem Interesse derartige Informationen für den Versuch sein könnten, daraus die aktuellen Preise abzuleiten, kann sonach dem Vorbringen der Klägerin nicht gefolgt werden.
67 Der Ansatz des Anhörungsbeauftragten hinsichtlich der Informationen, deren vertrauliche Behandlung er abgelehnt hat, ist im Übrigen mit seinen Überlegungen zu den Informationen, die er als schützenswert betrachtet hat, vereinbar.
68 Insbesondere ergibt sich aus Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses, dass der Anhörungsbeauftragte hinsichtlich der Informationen der Kategorie I damit einverstanden war, die Bezugnahme auf einen Automobilhersteller und auf zwei Modelle einer bestimmten Automarke unkenntlich zu machen, um die Information zu schützen, dass eines dieser Modelle „einen wenig rentablen Markt für [die Klägerin] darstellte“ und Letztere „offensichtlich zufrieden war, es loszuwerden“. Da diese von der Kommission vorgenommene Würdigung, die außerhalb der Klägerin nicht bekannt zu sein scheint, in der vorläufigen Fassung der Automobilglasentscheidung bereits veröffentlicht worden und ihre Unkenntlichmachung somit gegenstandslos war, war der Anhörungsbeauftragte damit einverstanden, die Bezugnahmen auf den Hersteller, auf die in Rn. 394 dieser Entscheidung erwähnte Marke und auf die erwähnten Modelle unkenntlich zu machen. Um die praktische Wirksamkeit dieser Unkenntlichmachungen zu wahren, war der Anhörungsbeauftragte auch damit einverstanden, dieselben Angaben in den Rn. 383, 393, 396 und 397 der Automobilglasentscheidung unkenntlich zu machen. Aus denselben Gründen war der Anhörungsbeauftragte damit einverstanden, die Namen der Automobilhersteller und der Automodelle in den Rn. 367 und 395 der Automobilglasentscheidung nicht offenzulegen, die Würdigungen der Kommission enthalten in Bezug auf die technischen Schwierigkeiten bei bestimmten Glassorten, auf den Umstand, dass diese bei den Herstellern nicht beliebt waren, und darauf, dass bestimmte Preise zu Verlusten führten.
69 Hinsichtlich der Informationen der Kategorie II erklärte sich der Anhörungsbeauftragte in den Rn. 35 und 36 des angefochtenen Beschlusses damit einverstanden, die Angaben zu den Prozentsätzen für spezifische Rabatte auf Preise, die in den Rn. 104, 134, 198, 208, 323 und 344 sowie in Fn. 294 der Automobilglasentscheidung erwähnt waren, unkenntlich zu machen, weil gleichartige Rabatte bis zum heutigen Tag gewährt würden. Unter diesen Umständen ist der Standpunkt des Anhörungsbeauftragten vereinbar mit der Ausnahme, wonach Informationen, die grundsätzlich historischer Natur sind, als vertraulich betrachtet werden können, wenn sie immer noch wesentliche Elemente der geschäftlichen Stellung desjenigen, der Vertraulichkeit beantragt, oder des betroffenen Dritten sind (siehe oben, Rn. 58).
70 Folglich kann die Klägerin aus diesen Würdigungen nichts ableiten, um die Schlussfolgerungen des Anhörungsbeauftragten zur Vertraulichkeit der Informationen der Kategorien I und II zu Fall zu bringen.
71 Angesichts der vorstehenden Analyse ist festzustellen, dass der Anhörungsbeauftragte in Bezug auf die Informationen der Kategorie II zutreffend auf die Möglichkeit für die Kommission verwiesen hat, das Interesse der durch die Zuwiderhandlung Geschädigten zu berücksichtigen und damit deren Klagen auf Schadensersatz zu erleichtern (siehe oben, Rn. 59).
72 Was das Vorbringen der Klägerin betrifft, die angefochtene Entscheidung widerspreche der ständigen Praxis, die die Kommission für die vertrauliche Behandlung von Informationen ähnlicher Art in der Vergangenheit verfolgt habe, und beeinträchtige die praktische Wirksamkeit der Vorschriften über den Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten der Organe, so wird dieses im Rahmen der Würdigung des dritten, des vierten und des sechsten Klagegrundes geprüft (siehe unten, Rn. 77, 78 und 89).
73 Da schließlich die vorliegende Rechtssache keine Informationen betrifft, die im Rahmen der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2002, C 45, S. 3) geliefert wurden, greift das Vorbringen der Klägerin, der Anhörungsbeauftragte habe auch hinsichtlich der Informationen, die in einer Erklärung zur Anwendung der Kronzeugenregelung enthalten seien, die Kriterien betreffend das Berufsgeheimnis falsch angewandt, nicht durch, auch wenn der Anhörungsbeauftragte in Rn. 29 des angefochtenen Beschlusses kurz allgemein auf die Kronzeugenregelung Bezug genommen hat.
74 Unter diesen Umständen ist das Vorbringen der Klägerin betreffend diese Art von Informationen und somit der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
Zum dritten und zum vierten Klagegrund: Verletzung der Grundsätze der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes
75 Die Klägerin trägt vor, die Kommission habe dadurch, dass sie ihre Politik betreffend die Veröffentlichung vertraulicher Informationen gegenüber der in der Vergangenheit in konkreten gleichartigen Fällen verfolgten Praxis geändert habe, den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt. Es sei im Übrigen keine Änderung des gesetzlichen oder regulatorischen Rahmens erfolgt, die diesen neuen Ansatz gerechtfertigt hätte.
76 Darüber hinaus habe die ständige Praxis der Kommission, die darin bestanden habe, vertrauliche Informationen wie diejenigen, die unter die Kategorien I und II fallen, zu schützen, bei ihr ein berechtigtes Vertrauen geschaffen. Somit könne sie sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Nichtoffenlegung dieser Informationen, die gemäß der Verordnung Nr. 1/2003 unter das Berufsgeheimnis fielen, berufen.
77 In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass, wie oben in Rn. 59 ausgeführt, die Kommission im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im Bereich der Durchführung des Wettbewerbsrechts in der Union berechtigt ist, unter Beachtung der Regeln zum Schutz des Berufsgeheimnisses, auf die bereits oben in den Rn. 42 bis 47 hingewiesen worden ist, eine Fassung ihrer Beschlüsse zu veröffentlichen, deren Inhalt über das durch Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 geforderte Mindestmaß hinausgeht. Somit hat die Kommission, ebenso wie hinsichtlich der allgemeinen Höhe der Geldbußen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 1983, Musique Diffusion française u. a./Kommission, 100/80 bis 103/80, Slg, EU:C:1983:158, Rn. 109), das Recht, ihre Vorgehensweise in der Frage der Veröffentlichung ihrer Beschlüsse an die Bedürfnisse ihrer Politik im Bereich des Wettbewerbs anzupassen. Die der Kommission durch Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 102 AEUV übertragene Überwachungsaufgabe umfasst nämlich nicht nur die Pflicht, einzelne Zuwiderhandlungen zu ermitteln und zu ahnden, sondern auch den Auftrag, eine allgemeine Politik mit dem Ziel zu verfolgen, die im Vertrag niedergelegten Grundsätze auf das Wettbewerbsrecht anzuwenden und das Verhalten der Unternehmen in diesem Sinne zu lenken (Urteil vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg, EU:C:2005:408, Rn. 170). Selbst wenn also der angefochtene Beschluss eine Änderung des Ansatzes der Kommission hinsichtlich der Detailliertheit der veröffentlichten Fassung der Automobilglasentscheidung gegenüber früheren Sachen zeigen sollte, ist diese Tatsache allein angesichts der dem zweiten Klagegrund gewidmeten Analyse nicht geeignet, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses zu beeinträchtigen.
78 Wie sich zudem aus den Würdigungen im Rahmen des zweiten Klagegrundes ergibt, fallen die Informationen der Kategorien I und II nicht unter das Berufsgeheimnis. Somit beruht das Vorbringen der Klägerin, soweit sie sich auf der Grundlage der Vertraulichkeit dieser Informationen auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes beruft, auf einer falschen Prämisse. Falls das Vorbringen der Klägerin so zu verstehen ist, dass sie den Grundsatz des Vertrauensschutzes unabhängig von der Vertraulichkeit dieser Informationen geltend macht, ist festzustellen, dass in Anbetracht der Befugnis der Kommission, ihre Vorgehensweise den Bedürfnissen der Wettbewerbspolitik, mit deren Durchführung in der Union sie beauftragt ist, anzupassen, die Unternehmen, die in ein Verwaltungsverfahren involviert sind, das zum Erlass einer Entscheidung führen kann, die nach Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 zu veröffentlichen ist, kein berechtigtes Vertrauen erwerben können, das sich darauf bezieht, wie detailliert nicht vertrauliche Punkte offenzulegen sind (vgl. entsprechend Urteile Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 77 angeführt, EU:C:2005:408, Rn. 171 bis 173, und vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, C‑397/03 P, Slg, EU:C:2006:328, Rn. 22).
79 Der dritte und der vierte Klagegrund sind somit zurückzuweisen.
Zum fünften Klagegrund: Verletzung der für den Schutz der Identität Einzelner geltenden Grundsätze
80 Die Klägerin macht geltend, in Anbetracht der die Informationen der Kategorie I betreffenden Würdigung des Anhörungsbeauftragten sei Gegenstand des angefochtenen Beschlusses die Veröffentlichung von Informationen, die die Feststellung der Identität einiger ihrer Mitarbeiter ermöglichten, weil die von diesen bekleideten Positionen erwähnt seien und namentlich auf ihre Kunden Bezug genommen werde. Außerdem könne die Veröffentlichung der Automobilglasentscheidung in der Fassung, die sich aus Umsetzung des angefochtenen Beschlusses ergebe, auch zu falschen Identitätsfeststellungen führen, die das Vertrauensverhältnis beeinträchtigten, das die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern der Klägerin und ihren Kunden bestimmen müsse. Die Kommission tue aber nicht dar, inwiefern für die vermeintlich durch die Zuwiderhandlung geschädigten Personen die Möglichkeit der Erhebung von Zivilklagen gegen die Klägerin beeinträchtigt sein sollte, soweit sie die Namen der Kunden deshalb nicht veröffentlichen dürfte, weil diese Veröffentlichung die indirekte Feststellung der Identität der Mitarbeiter der Klägerin erleichtern könnte.
81 Ohne Weiteres zurückzuweisen ist in dieser Hinsicht das Vorbringen der Kommission, die Klägerin sei nicht berechtigt, Argumente geltend zu machen, die auf das Interesse ihrer Mitarbeiter gestützt seien. Da Art. 8 des Beschlusses 2011/695 eine solche Beschränkung für das Verwaltungsverfahren nicht vorsieht, kann die Klägerin die Rechtmäßigkeit der Würdigungen des Anhörungsbeauftragten insoweit in Zweifel ziehen.
82 Wenn im Übrigen die Kommission eine an ein Unternehmen gerichtete Entscheidung veröffentlicht, das an einer rechtswidrigen Vereinbarung mit seinen Wettbewerbern beteiligt war, werden dessen Kunden daraus zwangsläufig folgern, dass bestimmte Mitarbeiter dieses Unternehmens den beanstandeten Informationsaustausch vorgenommen und/oder die beanstandeten Vereinbarungen geschlossen haben. Ebenso unvermeidlich ist, dass diese Kunden annehmen, dass die fraglichen Mitarbeiter diejenigen sind, die für die Geschäftsbeziehungen mit ihnen zuständig sind. Die Kunden werden auch dann solche Schlüsse ziehen, wenn die Kommission eine äußerst knappe Fassung ihrer Entscheidung veröffentlicht, die nur die Namen der Empfänger, eine Bezugnahme auf die betroffenen Produkte und eine allgemeine Beschreibung der Zuwiderhandlung enthält. Infolgedessen kann die Klägerin nicht verlangen, dass die Hinweise auf ihre Kunden in der veröffentlichten Fassung der Automobilglasentscheidung deshalb weggelassen werden, weil diese Kunden daraus die Namen der an den wettbewerbswidrigen Vereinbarungen beteiligten natürlichen Personen ableiten könnten.
83 Außerdem macht die Klägerin zu Unrecht den Vertrauensverlust bei ihren Kunden gegenüber bestimmten Mitarbeitern geltend, der aus der Veröffentlichung der Automobilglasentscheidung in der Fassung herrühren soll, die sich aus der Durchführung des angefochtenen Beschlusses ergibt. Erstens wäre dieser Vertrauensverlust, soweit er entstünde, die Folge des wettbewerbswidrigen Verhaltens der Klägerin, das schon durch seinen Zweck geeignet war, den finanziellen Interessen ihrer Kunden zu schaden. Zweitens werden die Kunden der Klägerin zwangsläufig annehmen, dass die für ihre Konten zuständigen Personen an den rechtswidrigen Vereinbarungen teilgenommen haben, ob die Kommission nun die Namen der fraglichen Kunden veröffentlicht oder nicht. Da, wie die Klägerin selbst betont, ihre Kunden Kenntnis bestimmter Details ihrer internen Organisation haben, insbesondere der Namen der für die Bearbeitung ihres Kontos zuständigen Personen, werden diese Kunden einen Verdacht bezüglich bestimmter zuständiger Personen haben, unabhängig vom Umfang der streitigen Veröffentlichung. Soweit drittens die Klägerin ihre Besorgnis hinsichtlich falscher Identitätsfeststellungen zum Ausdruck bringt, genügt der Hinweis, dass das Weglassen der Namen ihrer Kunden die Möglichkeit solcher Irrtümer nicht verringert. Insbesondere stellt die Bezugnahme auf die Namen der Kunden im Rahmen der Beschreibung der Kontaktaufnahme klar, ob der fragliche Kontakt einen bestimmten oder mehrere bestimmte Kunden betroffen hatte. Würde eine Bezugnahme auf den Namen des oder der Kunden oder des betroffenen Modells oder der betroffenen Modelle fehlen, so würde dies bei allen Kunden der Klägerin den Verdacht aufkommen lassen, dass der für ihr Konto zuständige Mitarbeiter an diesem Kontakt beteiligt war. In diesem Zusammenhang kann die namentliche Bezugnahme auf den oder die betroffenen Kunden sogar die Ungewissheit und den Verdacht abschwächen, die sich aus einem Weglassen jedes Namens in der veröffentlichten Fassung der Automobilglasentscheidung ergeben würde.
84 In diesem Zusammenhang hat der Anhörungsbeauftragte in Rn. 46 des angefochtenen Beschlusses zutreffend darauf hingewiesen, dass nur die Informationen, anhand deren eine Einzelperson mit hinreichender Sicherheit identifiziert werden könne, geheim gehalten werden müssten. Aus Rn. 47 des angefochtenen Beschlusses ergibt sich zudem, dass dies nach Ansicht des Anhörungsbeauftragten der Fall ist bei unmittelbaren Bezugnahmen auf den Namen, die Position und gegebenenfalls die Telefonnummer einer Einzelperson zusammen mit den Namen der Kunden, für die sie zuständig war. In diesem Fall war der Anhörungsbeauftragte damit einverstanden, dass der Name und die bekleidete Position nicht genannt werden und dass, wenn die Position in der nicht vertraulichen Fassung der Automobilglasentscheidung bereits veröffentlicht worden war, der Name des betroffenen Kunden unkenntlich zu machen war.
85 Dagegen können, wie der Anhörungsbeauftragte festgestellt hat, die Informationen, die in den in Rn. 48 des angefochtenen Beschlusses genannten Randnummern und Fußnoten der Automobilglasentscheidung enthalten sind, nicht aus Gründen des Schutzes der Identität von Einzelpersonen unkenntlich gemacht werden. Diese Informationen beziehen sich nämlich auf Diskussionen zwischen Wettbewerbern über bestimmte Kunden und Modelle, ohne den Namen der betroffenen Personen oder die von ihnen bekleidete Position zu nennen. In diesem Kontext wäre die Unkenntlichmachung der Namen der betroffenen Kunden nicht geeignet, den Verdacht zu verringern, den die Kunden der Klägerin hinsichtlich der Identität der beteiligten Personen haben könnten.
86 Daher ist der fünfte Klagegrund zurückzuweisen.
Zum sechsten Klagegrund: Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Grundsätze, die den Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten der Organe regeln
87 Die Klägerin macht geltend, dass der angefochtene Beschluss Konsequenzen habe, die über das hinausgingen, was erforderlich sei, um die Interessen der Personen zu schützen, die vor den nationalen Gerichten Haftungsklagen gegen sie erheben wollten. Da die Preisgabe der streitigen Informationen die Geschäftsinteressen der Klägerin und diejenigen einiger natürlicher Personen erheblich schädige, laufe sie den Vorschriften über den Zugang der Öffentlichkeit zur Untersuchungsakte zuwider. Außerdem seien die nationalen Gerichte die geeigneten Foren zur Behandlung der Fragen im Zusammenhang mit der Offenlegung der streitigen Informationen.
88 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die streitigen Informationen aus den Gründen, die im Rahmen des zweiten Klagegrundes dargelegt worden sind, nicht unter das Berufsgeheimnis fallen. Infolgedessen kann die Kommission sie in die öffentliche Fassung ihrer Entscheidung aufnehmen, selbst wenn nicht dargetan ist, dass dies für den gerichtlichen Schutz der durch die Zuwiderhandlung geschädigten Personen unbedingt erforderlich ist. Außerdem kann nicht ernsthaft bestritten werden, dass die Veröffentlichung der fraglichen Informationen zu einem besseren gerichtlichen Rechtsschutz der Personen beiträgt, die durch die Empfänger der Automobilglasentscheidung geschädigt wurden. Die Veröffentlichung dieser Entscheidung gehört zu den Befugnissen der Kommission nach Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003, ohne dass sie in irgendeiner Weise dadurch berührt würde, das der Zugang zu den streitigen Informationen im Rahmen der gerichtlichen Verfahren vor den nationalen Gerichten ausgestaltet werden kann.
89 Was schließlich das Vorbringen hinsichtlich der Bestimmungen betrifft, die den Zugang der Öffentlichkeit zu der Untersuchungsakte regeln, genügt der Hinweis, dass diese Regeln den Zugang zu den Dokumenten betreffen, die Teil der Untersuchungsakte sind. Somit gelten sie aus den oben in Rn. 47 dargelegten Gründen nicht für die Veröffentlichung der Entscheidung der Kommission, die am Ende dieser Untersuchung erlassen wird. Somit ist dieses Vorbringen und damit der sechste Klagegrund zurückzuweisen.
90 Nach alledem ist der angefochtene Beschluss teilweise für nichtig zu erklären, soweit er den Rn. 115 der Automobilglasentscheidung betreffenden Antrag der Klägerin betrifft (siehe oben, Rn. 30 bis 34). Im Übrigen ist die Klage abzuweisen.
Kosten
91 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
92 Da die Klägerin mit ihren Klageanträgen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten in der vorliegenden Rechtssache aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss C (2012) 5718 final der Europäischen Kommission vom 6. August 2012, mit dem ein von der Pilkington Group Ltd nach Art. 8 des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren gestellter Antrag auf vertrauliche Behandlung abgelehnt wurde (Sache COMP/39.125 – Automobilglas), wird für nichtig erklärt, soweit er den Rn. 115 der Entscheidung C (2008) 6815 final vom 12. November 2008 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen betreffenden Antrag von Pilkington Group betrifft.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Pilkington Group trägt die Kosten.
Papasavvas
Forwood
Bieliūnas
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 25. März 2015.#Central Bank of Iran gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation – Einfrieren von Geldern – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Beurteilungsfehler – Eigentumsrecht – Recht auf Wahrung des Ansehens – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑563/12.
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62012TJ0563
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ECLI:EU:T:2015:187
| 2015-03-25T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012TJ0563
URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)
25. März 2015 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen gegen Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation — Einfrieren von Geldern — Begründungspflicht — Verteidigungsrechte — Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz — Beurteilungsfehler — Eigentumsrecht — Recht auf Wahrung des Ansehens — Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache T‑563/12
Central Bank of Iran mit Sitz in Teheran (Iran), Prozessbevollmächtigter: M. Lester, Barrister,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bishop und V. Piessevaux als Bevollmächtigte,
Beklagter,
betreffend eine Klage auf Nichtigerklärung zum einen des Beschlusses 2012/635/GASP des Rates vom 15. Oktober 2012 zur Änderung des Beschlusses 2010/413/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 282, S. 58), soweit durch ihn der Name der Klägerin in der Liste in Anhang II des Beschlusses 2010/413/GASP des Rates vom 26. Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP (ABl. L 195, S. 39) nach erneuter Prüfung belassen wurde, und zum anderen der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 945/2012 des Rates vom 15. Oktober 2012 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 267/2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 282, S. 16), soweit durch sie der Name der Klägerin in der Liste in Anhang IX der Verordnung (EU) Nr. 267/2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 (ABl. L 88, S. 1) nach erneuter Prüfung belassen wurde,
erlässt
DAS GERICHT (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen, der Richterin I. Pelikánová (Berichterstatterin) und des Richters E. Buttigieg,
Kanzler: L. Grzegorczyk, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. September 2014
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Restriktive Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran
1 Die vorliegende Rechtssache ist vor dem Hintergrund der restriktiven Maßnahmen zu sehen, die eingeführt wurden, um auf die Islamische Republik Iran Druck auszuüben, damit sie proliferationsrelevante nukleare Tätigkeiten und die Entwicklung von Trägersystemen für Kernwaffen (im Folgenden: nukleare Proliferation) einstellt.
Gegen die Klägerin gerichtete restriktive Maßnahmen
2 Die Klägerin, die Central Bank of Iran, ist die Zentralbank der Islamischen Republik Iran.
3 Am 9. Juni 2010 nahm der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution S/RES/1929 (2010) an, mit der die Tragweite der durch die vorangegangenen Resolutionen S/RES/1737 (2006) vom 27. Dezember 2006, S/RES/1747 (2007) vom 24. März 2007 und S/RES/1803 (2008) vom 3. März 2008 erweitert und zusätzliche restriktive Maßnahmen gegen Iran eingeführt werden sollten.
4 Der Europäische Rat nahm am 17. Juni 2010 eine Erklärung zur Islamischen Republik Iran an, in der er seiner wachsenden Besorgnis über das Nuklearprogramm Irans zum Ausdruck brachte und die Annahme der Resolution S/RES/1929 begrüßte. Unter Hinweis auf seine Erklärung vom 11. Dezember 2009 ersuchte der Europäische Rat den Rat der Europäischen Union u. a., restriktive Maßnahmen zur Umsetzung der in der Resolution S/RES/1929 vorgesehenen Maßnahmen zu treffen. Nach der Erklärung des Europäischen Rates sollten die restriktiven Maßnahmen insbesondere gegenüber weiteren Personen und Einrichtungen als den vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder von dem gemäß Nr. 18 der Resolution S/RES/1737 eingesetzten Ausschuss benannten angewandt werden, dabei jedoch dieselben Kriterien wie die vom Sicherheitsrat und von diesem Ausschuss angewandten herangezogen werden.
5 Am 1. Dezember 2011 erklärte der Rat erneut, dass er hinsichtlich der Art des Nuklearprogramms der Islamischen Republik Iran, insbesondere unter Berücksichtigung der Feststellungen in Bezug auf die iranischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Entwicklung militärischer Kerntechnik im jüngsten Bericht der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), ernste und wachsende Bedenken hege. In Anbetracht dieser Bedenken und im Einklang mit der Erklärung des Europäischen Rates vom 23. Oktober 2011 beschloss der Rat, die geltenden Sanktionen auszuweiten und dabei in enger Abstimmung mit seinen internationalen Partnern zusätzliche Maßnahmen zu prüfen, darunter auch solche, die das Finanzsystem der Islamischen Republik Iran erheblich treffen sollten.
6 Am 9. Dezember 2011 billigte der Europäische Rat die Schlussfolgerungen des Rates vom 1. Dezember 2011 und ersuchte ihn, als vorrangige Aufgabe seine Beratungen zur Ausweitung des Geltungsbereichs der restriktiven Maßnahmen der Europäischen Union gegen die Islamische Republik Iran fortzusetzen.
7 Mit dem Beschluss 2012/35/GASP des Rates vom 23. Januar 2012 zur Änderung des Beschlusses 2010/413/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 19, S. 22) wurde der Name der Klägerin in die Liste in Anhang II des Beschlusses 2010/413/GASP des Rates vom 26. Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP (ABl. L 195, S. 39) aufgenommen.
8 Als Folge dessen wurde mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 54/2012 des Rates vom 23. Januar 2012 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 19, S. 1) der Name der Klägerin in die Liste in Anhang VIII der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 (ABl. L 281, S. 1) aufgenommen. Diese Eintragung wurde am 24. Januar 2012 wirksam. Sie bewirkte insbesondere das Einfrieren der Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin.
9 Für die Aufnahme des Namens der Klägerin in die genannten Listen wurde folgender Grund angegeben:
„Beteiligt an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen“.
10 Mit bei der Klägerin am 6. Februar 2012 eingegangenem Schreiben vom 24. Januar 2012 teilte der Rat dieser mit, dass ihr Name in die Listen in Anhang II des Beschlusses 2010/413 in seiner durch den Beschluss 2012/35 geänderten Fassung und in Anhang VIII der Verordnung Nr. 961/2010 in ihrer durch die Durchführungsverordnung Nr. 54/2012 geänderten Fassung aufgenommen worden sei. Kopien des Beschlusses 2012/35 und der Durchführungsverordnung Nr. 54/2012 waren diesem Schreiben als Anlage beigefügt.
11 Mit dem Erlass der Verordnung (EU) Nr. 267/2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 961/2010 (ABl. L 88, S. 1) wurde die Eintragung des Namens der Klägerin in die Liste in Anhang VIII der Verordnung Nr. 961/2010 in deren durch die Durchführungsverordnung Nr. 54/2012 geänderter Fassung aufgehoben und mit Wirkung vom 24. März 2012 durch die Eintragung ihres Namens in die Liste in Anhang IX der Verordnung Nr. 267/2012 (im Folgenden werden die Liste in Anhang IX der Verordnung Nr. 267/2012 und die Liste in Anhang II des Beschlusses 2010/413 in der durch den Beschluss 2012/35 geänderten Fassung zusammen als „die streitigen Listen“ bezeichnet) ersetzt, die mit der gleichen Begründung wie der bereits oben in Rn. 9 genannten vorgenommen wurde.
12 Mit Schreiben vom 26. März 2012 bestritt die Klägerin jede eigene Beteiligung an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen und ersuchte demgemäß den Rat, ihre Aufnahme in die Listen in Anhang II des Beschlusses 2010/413 in seiner durch den Beschluss 2012/35 geänderten Fassung und in Anhang VIII der Verordnung Nr. 961/2010 in ihrer durch die Durchführungsverordnung Nr. 54/2012 geänderten Fassung zu überprüfen. Des Weiteren bat sie um Übermittlung der Informationen, die diese Aufnahme rechtfertigten.
13 Mit Schreiben vom 2. August 2012 teilte der Rat der Klägerin mit, er beabsichtige, die Gründe für ihre Aufnahme in die streitigen Listen durch eine Bezugnahme auf die Tatsache zu ergänzen, dass die Klägerin die iranische Regierung finanziell unterstütze und damit in den Anwendungsbereich von Art. 20 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012 falle.
14 Mit Schreiben vom 7. Oktober 2012 warf die Klägerin dem Rat vor, der ihm obliegenden Begründungspflicht nicht nachgekommen zu sein. Sie stellte jede Beteiligung an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen gegen die Islamische Republik Iran oder zur finanziellen Unterstützung der iranischen Regierung zum Zweck der nuklearen Proliferation in Abrede. Schließlich ersuchte die Klägerin den Rat erneut, ihr die Informationen zu übermitteln, die die Aufnahme ihres Namens in die streitigen Listen rechtfertigten.
15 Durch den Beschluss 2012/635/GASP des Rates vom 15. Oktober 2012 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 282, S. 58) wurden die Gründe für die Aufnahme des Namens der Klägerin in die Liste in Anhang II des Beschlusses 2010/413 in seiner durch den Beschluss 2012/35 geänderten Fassung wie folgt ergänzt:
„Beteiligt an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen. Unterstützt die iranische Regierung finanziell.“
16 Mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 945/2012 des Rates vom 15. Oktober 2012 zur Durchführung der Verordnung Nr. 267/2012 (ABl. L 282, S. 16) wurden demzufolge auch die Gründe für die Aufnahme des Namens der Klägerin in die Liste in Anhang IX der Verordnung Nr. 267/2012 wie vorstehend in Rn. 15 angegeben ergänzt.
17 Mit Schreiben vom 28. November 2012 ersuchte die Klägerin den Rat ein weiteres Mal, ihr die Informationen zu übermitteln, die die Aufnahme ihres Namens in die streitigen Listen rechtfertigten.
18 Mit Schreiben vom 10. Dezember 2012 wies der Rat die Klägerin darauf hin, dass ihre Aufnahme in die streitigen Listen auf einem Aufnahmevorschlag beruhe, der von einem Mitgliedstaat übermittelt worden sei, der aus Vertraulichkeitsgründen nicht genannt werden könne. In diesem Vorschlag, wie er in dem mit dem Aktenzeichen 17576/12 versehenen Übersendungsschreiben des Rates angeführt war, das dem Schreiben vom 10. Dezember 2012 als Anlage beigefügt war, hieß es:
„Die Maßnahmen der [Klägerin] tragen zur Umgehung der internationalen Sanktionen gegen Iran bei.
… [D]iese [gegen die Klägerin getroffene restriktive] Maßnahme [könnte] den gegenwärtig auf Iran ausgeübten diplomatischen Druck erheblich verstärken …“
19 Mit am 12. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift erhob die Klägerin eine Klage im Wesentlichen mit dem Ziel, den Beschluss 2012/35 und die Verordnung Nr. 267/2012 für nichtig zu erklären, soweit durch diese Rechtsakte ihr Name nach erneuter Prüfung in den streitigen Listen belassen wurde. Diese Klage wurde unter dem Aktenzeichen T‑262/12 in das Register der Kanzlei eingetragen.
Verfahren und Anträge der Parteien
20 Mit Klageschrift, die über die Anwendung e-curia am 26. Dezember 2012 um 20.44 Uhr bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2012/635 und der Durchführungsverordnung Nr. 945/2012 erhoben, soweit durch diese Rechtsakte ihr Name in den streitigen Listen nach erneuter Prüfung belassen wurde. Diese Klage wurde aus Gründen der Konnexität der Vierten Kammer des Gerichts zugewiesen. Die Klägerin hat zur Begründung dieser Klage ein Zeugnis ihrer Vizegouverneurin für Devisenangelegenheiten, Frau R., vorgelegt.
21 Am selben Tag um 21.19 Uhr hat die Klägerin über die Anwendung e‑curia einen Schriftsatz über die Anpassung ihrer in der Rechtssache T‑262/12 gestellten Anträge bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht, damit sich diese Anträge auch auf den Beschluss 2012/635 und die Durchführungsverordnung Nr. 945/2012 bezögen, soweit durch diese Rechtsakte ihr in die streitigen Listen eingetragener Name darin belassen worden sei. In diesem Schriftsatz hat die Klägerin zudem für den Fall, dass das Gericht die durch den Schriftsatz über die Anpassung der Anträge „geänderte Klageschrift in vollem Umfang für zulässig erklärt“, beantragt, die Rechtssache T‑262/12 und die vorliegende Rechtssache „zu verbinden oder [diese beiden Rechtssachen] als einzige Nichtigkeitsklage zu behandeln“.
22 Mit Schriftsatz vom 16. April 2013 hat der Rat in der vorliegenden Rechtssache eine Klagebeantwortung eingereicht, in der er zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Klage wegen Rechtshängigkeit unzulässig sei.
23 Die Klägerin hat am 21. Juni 2013 eine Erwiderung eingereicht.
24 Der Rat hat am 20. September 2013 eine Gegenerwiderung eingereicht.
25 Im Zuge der Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ab 23. September 2013 ist die Berichterstatterin der Ersten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb zugewiesen worden ist.
26 Auf Bericht der Berichterstatterin hat das Gericht beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 seiner Verfahrensordnung die Parteien zur Beantwortung einiger Fragen aufgefordert. Die Klägerin und der Rat sind dieser Aufforderung fristgemäß nachgekommen.
27 Mit Urteil vom 18. September 2014, Central Bank of Iran/Rat (T‑262/12, EU:T:2014:777), hat das Gericht die Verordnung Nr. 267/2012 insoweit für nichtig erklärt, als durch sie der Name der Klägerin in die Liste in Anhang IX dieser Verordnung eingetragen wurde, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Was den Antrag angeht, den Beschluss 2012/635 und die Durchführungsverordnung Nr. 945/2012 für nichtig zu erklären, soweit durch diese der Name der Klägerin nach erneuter Prüfung in den streitigen Listen belassen wurde, beruht die Abweisung der Klage auf der Unzulässigkeit dieses Antrags aus Gründen der Rechtshängigkeit wegen der Erhebung der vorliegenden Klage.
28 Die Klägerin und der Rat haben in der Sitzung vom 30. September 2014 mündlich verhandelt und die mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet. Die Klägerin hat darauf hingewiesen, dass sich ihr Kostenantrag nur auf die Kosten in der vorliegenden Rechtssache und nicht auf die Kosten in der Rechtssache T‑262/12 beziehe, was in das Sitzungsprotokoll aufgenommen worden ist.
29 Die Klägerin beantragt,
—
den Beschluss 2012/635 und die Verordnung Nr. 945/2012 für nichtig zu erklären, soweit durch diese ihr Name in den streitigen Listen belassen wurde (im Folgenden: angefochtene Rechtsakte);
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
30 Der Rat beantragt,
—
die Klage als unzulässig abzuweisen;
—
hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zur Zulässigkeit
Zur Einrede der Unzulässigkeit der Klage wegen Rechtshängigkeit
31 Nach Ansicht des Rates sind die vorliegenden Klageanträge wegen Rechtshängigkeit als unzulässig zurückzuweisen. Die Klägerin habe im Schriftsatz über die Anpassung der Klageanträge in der Rechtssache T‑262/12 bereits die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte unter Geltendmachung derselben Klagegründe beantragt.
32 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine weitere, später eingereichte Klage, die dieselben Parteien betrifft und, gestützt auf dieselben Klagegründe, auf die Nichtigerklärung desselben Rechtsakts abzielt, wegen Rechtshängigkeit unzulässig (Urteil vom 16. September 2013, De Nicola/EIB, T‑618/11 P, SlgÖD, EU:T:2013:479, Rn. 98; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 22. September 1988, Frankreich/Parlament, 358/85 und 51/86, Slg, EU:C:1988:431, Rn. 12).
33 Die Anpassung von Anträgen, die unter Umständen, wie sie in der Rechtssache T‑262/12 vorliegen, in einem Schriftsatz vorgenommen worden ist, der im Laufe des Verfahrens bei der Kanzlei eingereicht wird, stellt eine Verfahrenshandlung dar, die unbeschadet einer späteren Entscheidung des Gerichts über die Zulässigkeit der Erhebung einer Klage durch Einreichung einer Klageschrift gleichkommt (Beschluss vom 21. Juni 2012, Hamas/Rat, T‑531/11, EU:T:2012:317, Rn. 16).
34 Im vorliegenden Fall betreffen die Nichtigkeitsanträge im Schriftsatz über die Anpassung der Anträge in der Rechtssache T‑262/12 (Rn. 21 des vorliegenden Urteils) und diejenigen in der Klageschrift in der vorliegenden Rechtssache (Rn. 20 des vorliegenden Urteils) dieselben Parteien und zielen, gestützt auf dieselben Klagegründe, auf die Nichtigerklärung derselben Rechtsakte, nämlich des Beschlusses 2012/635 und der Durchführungsverordnung Nr. 945/2012, ab, soweit durch diese der in den streitigen Listen eingetragene Name der Klägerin nach erneuter Prüfung darin belassen wurde.
35 Entgegen der Auffassung des Rates, der die Einrede der Unzulässigkeit der vorliegenden Klage wegen Rechtshängigkeit erhoben hat, ist nicht davon auszugehen, dass diese Klage nach dem Schriftsatz über die Anpassung der Anträge in der Rechtssache T‑262/12 eingereicht worden ist. Im Gegenteil lässt sich den in den Rn. 20 und 21 des vorliegenden Urteils genannten Eingangszeitpunkten entnehmen, dass dieser Schriftsatz nach Einreichung der Klage in der vorliegenden Rechtssache eingereicht worden ist.
36 So sind in dem in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil Central Bank of Iran/Rat (EU:T:2014:777) die Anträge auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2012/635 und der Durchführungsverordnung Nr. 945/2012, soweit durch diese Rechtsakte der Name der Klägerin nach erneuter Prüfung in den streitigen Listen belassen wurde, aus Gründen der Rechtshängigkeit wegen der Erhebung der vorliegenden Klage als unzulässig zurückgewiesen worden.
37 Folglich können die Anträge auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2012/635 und der Durchführungsverordnung Nr. 945/2012, soweit durch diese Rechtsakte der Name der Klägerin nach erneuter Prüfung in den streitigen Listen belassen wurde, nicht als unzulässig wegen Rechtshängigkeit zurückgewiesen werden.
38 Demgemäß ist die vorliegende Unzulässigkeitseinrede des Rates als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Einrede der Unzulässigkeit der Klage, die darauf abstellt, dass alle von der Klägerin zu deren Stützung geltend gemachten Gründe auf ihrer Berufung auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten beruhen
39 Der Rat sieht die Klage als unzulässig an, da sie auf Gründe gestützt sei, die sämtlich auf die Berufung der Klägerin auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten abstellten. Als Zentralbank der Islamischen Republik Iran sei die Klägerin jedoch eine Regierungsorganisation, der der Schutz und die Garantien aus den Grundrechten, auf die sie sich vor dem Gericht berufe, nicht zugutekomme.
40 Nach Ansicht der Klägerin ist die Unzulässigkeitseinrede des Rates zurückzuweisen, da ihr der Schutz und die Garantien aus den Grundrechten zustünden, wie es in dem in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil Central Bank of Iran/Rat (EU:T:2014:777) festgeschrieben worden sei.
41 Es ist festzustellen, dass entgegen der Auffassung des Rates nicht alle für die vorliegende Klage angeführten Gründe auf eine Berufung der Klägerin auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten abstellen. So wird mit dem ersten Klagegrund ein Beurteilungsfehler geltend gemacht. Die vorliegende Einrede der Unzulässigkeit ist daher in tatsächlicher Hinsicht unbegründet.
42 Diese Einrede ist auch in rechtlicher Hinsicht unbegründet, da nach der Rechtsprechung die Frage, ob die Klägerin Inhaberin der Rechte ist, auf die sie sich im Rahmen des zweiten, des dritten und des vierten Klagegrundes beruft, nicht die Zulässigkeit dieser Klagegründe und damit der Klage, soweit sie sich auf diese Gründe stützt, betrifft, sondern ihre Begründetheit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2013, Post Bank Iran/Rat, T‑13/11, EU:T:2013:402, Rn. 54).
43 Damit ist die vorliegende Unzulässigkeitseinrede des Rates als unbegründet zurückzuweisen. Diese Zurückweisung greift in Ansehung des Verteidigungsmittels des Rates auch nicht der Prüfung der Frage, ob sich die Klägerin auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten berufen kann, vor, die gegebenenfalls im Stadium der Begründetheitsprüfung derjenigen Klagegründe vorzunehmen sein wird, die auf diesen Schutz und diese Garantien gestützt werden, d. h. im vorliegenden Fall des zweiten, des dritten und des vierten Klagegrundes (vgl. dazu unten, Rn. 51 bis 100 und 112 bis 120).
44 Nach alledem ist festzustellen, dass die vorliegende Klage in vollem Umfang zulässig ist.
Zur Begründetheit
45 Die Klägerin stützt ihren Antrag auf Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte auf vier Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund macht sie einen Beurteilungsfehler des Rates geltend, der in den angefochtenen Rechtsakten die Auffassung vertreten habe, dass eines der in Art. 20 des Beschlusses 2010/413 in der durch den Beschluss 2012/35 und sodann durch den Beschluss 2012/635 geänderten Fassung (im Folgenden: Art. 20 des Beschlusses 2010/413) und in Art. 23 der Verordnung Nr. 267/2012 aufgeführten Kriterien für die Eintragung des Namens einer Person oder einer Einrichtung in die streitigen Listen erfüllt sei. Mit dem zweiten Klagegrund wird eine Verletzung der Begründungspflicht geltend gemacht, die sich daraus ergeben soll, dass der Rat keine angemessene und ausreichende Begründung für die angefochtenen Rechtsakte angeführt habe. Der dritte Klagegrund stellt auf eine Verletzung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektive gerichtliche Kontrolle ab. Mit dem vierten Klagegrund wird eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie der Grundrechte der Klägerin, insbesondere des Rechts auf Schutz ihres Eigentums und ihres Ansehens, geltend gemacht.
46 Zunächst ist der auf eine Verletzung der Begründungspflicht abstellende zweite Klagegrund zu prüfen, wobei als Erstes die allgemeine Frage zu behandeln ist, ob sich die Klägerin entgegen der Auffassung des Rates auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten berufen kann, wie sie behauptet, und als Zweites die Frage, ob im vorliegenden Fall konkret eine Verletzung der Begründungspflicht festzustellen ist.
Zur Berechtigung der Klägerin, sich auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten zu berufen
47 Das Vorbringen der Parteien ist bereits in den Rn. 39 und 40 des vorliegenden Urteils dargestellt worden, auf die daher zu verweisen ist.
48 Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Klägerin eigene Rechtspersönlichkeit hat und daher eine vom iranischen Staat formell verschiedene juristische Person ist.
49 Aus den in den Rn. 67 bis 71 des in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils Central Bank of Iran/Rat (EU:T:2014:777) dargestellten Gründen ergibt sich, dass das Unionsrecht keine Vorschrift enthält, die einer Berufung juristischer Personen, die Regierungsorganisationen oder staatliche Einrichtungen sind, auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten entgegenstehen würde. Die Grundrechte können daher von diesen Personen, soweit sie mit deren Eigenschaft als juristische Person vereinbar sind, vor den Unionsgerichten geltend gemacht werden (Urteil vom 6. September 2013, Bank Melli Iran/Rat, T‑35/10 und T‑7/11, Slg, EU:T:2013:397, Rn. 70).
50 Die Klägerin kann folglich den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten geltend machen, auf die sie sich namentlich im Rahmen des zweiten Klagegrundes beruft.
Zum zweiten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht
51 Die Klägerin trägt vor, der Rat sei der Verpflichtung aus Art. 296 AEUV, wie er in der Rechtsprechung ausgelegt worden sei, nicht nachgekommen, die von ihm erlassenen Rechtsakte zu begründen. In den angefochtenen Rechtsakten habe der Rat nicht angegeben, auf welche der in Art. 20 des Beschlusses 2010/413 und Art. 23 der Verordnung Nr. 267/2012 angeführten Kriterien er sich genau gestützt habe, um ihren in den streitigen Listen eingetragenen Namen nach erneuter Prüfung dort zu belassen. Die Behauptungen, sie sei „an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen [beteiligt]“ gewesen und habe „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“, seien vage und enthielten keine genaue Angabe dazu, was ihr konkret vorgeworfen werde. Mit diesen Behauptungen würden manche in den genannten Bestimmungen angeführte Kriterien grob paraphrasiert. Nach der Rechtsprechung hätten ihr jedoch die spezifischen, konkreten Gründe gleichzeitig mit diesen Rechtsakten mitgeteilt werden müssen. Ein Fehlen dieser Mitteilung könne nicht im Laufe des vorliegenden Verfahrens geheilt werden. Im vorliegenden Fall habe sie sich nach Kräften bemüht, die angefochtenen Rechtsakte zu bekämpfen, ohne deren genaue Gründe zu kennen. Die angeführten Gründe seien jedoch so vage und ungenau, dass sie auf diese, wie in den Schreiben vom 26. März und 7. Oktober 2012 und im Zeugnis von Frau R. geschehen, nur in Form eines pauschalen Bestreitens eingehen könne und dass die Gründe daher nicht den Anforderungen der Rechtsprechung genügten. Außerdem habe der Rat es unterlassen, darzulegen, warum er nicht ihre Erklärungen berücksichtigt habe, die belegten, dass sie nie an der nuklearen Proliferation oder der Umgehung der Sanktionen beteiligt gewesen sei, und die sodann durch das Zeugnis von Frau R. bestätigt worden seien.
52 Der Rat tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und gelangt zu dem Ergebnis, dass der zweite Klagegrund zurückzuweisen sei. Die Gründe der angefochtenen Rechtsakte ermöglichten es der Klägerin, die Tragweite der ihr gegenüber getroffenen restriktiven Maßnahmen zu erkennen, und gäben ihr genug Informationen an die Hand, um sie sachgerecht anfechten zu können. Im vorliegenden Fall sei es angemessen, dass die angefochtenen Rechtsakte hinsichtlich eines der in Art. 20 des Beschlusses 2010/413 und Art. 23 der Verordnung Nr. 267/2012 aufgeführten Kriterien hinreichend begründet seien.
53 Nach ständiger Rechtsprechung dient die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, die aus dem Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte folgt, dem Zweck, zum einen den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsrichter zulässt, und zum anderen dem Unionsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, Slg, EU:C:2012:718, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Die nach Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung muss die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass der Betroffene ihr die Gründe für die erlassenen Maßnahmen entnehmen und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. Urteil Rat/Bamba, oben in Rn. 53 angeführt, EU:C:2012:718, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Bei einem Rechtsakt des Rates, mit dem restriktive Maßnahmen verhängt werden, muss die Begründung die besonderen und konkreten Gründe nennen, aus denen der Rat in Ausübung seines Ermessens annimmt, dass der Betroffene solchen Maßnahmen zu unterwerfen sei (Urteil Rat/Bamba, oben in Rn. 53 angeführt, EU:C:2012:718, Rn. 52).
56 Auch nach Art. 24 Abs. 3 des Beschlusses 2010/413 und Art. 46 Abs. 3 der Verordnung Nr. 267/2012 ist der Rat verpflichtet, für die gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. b und c dieses Beschlusses sowie Art. 23 Abs. 2 und 3 dieser Verordnung getroffenen restriktiven Maßnahmen einzelfallbezogene und spezifische Gründe anzugeben und den betroffenen Personen und Einrichtungen bekannt zu geben (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 16. November 2011, Bank Melli Iran/Rat, C‑548/09 P, Slg, EU:C:2011:735, Rn. 48). Nach der Rechtsprechung muss der Rat seiner Begründungspflicht grundsätzlich durch eine individuelle Mitteilung nachkommen; die bloße Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union genügt nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, Slg, EU:T:2013:431, Rn. 47 und 48; vgl. in diesem Sinne auch entsprechend Urteil Bank Melli Iran/Rat, EU:C:2011:735, Rn. 52).
57 Die nach Art. 296 AEUV sowie Art. 24 Abs. 3 des Beschlusses 2010/413 und Art. 46 Abs. 3 der Verordnung Nr. 267/2012 vorgeschriebene Begründung muss den Bestimmungen, mit denen die restriktiven Maßnahmen angenommen wurden, angepasst sein. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob eine Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet zu beurteilen ist (vgl. Urteil Rat/Bamba, oben in Rn. 53 angeführt, EU:C:2012:718, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Ein beschwerender Rechtsakt ist insbesondere dann hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihm gestattet, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu erkennen (vgl. Urteil Rat/Bamba, oben in Rn. 53 angeführt, EU:C:2012:718, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Im vorliegenden Fall sind die angefochtenen Rechtsakte auf folgende Gründe gestützt worden:
„Beteiligt an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen. Unterstützt die iranische Regierung finanziell.“
60 Wie aus den Rn. 28 und 29 der Klagebeantwortung hervorgeht, ist unstreitig, dass der Rat der Klägerin vor der Erhebung der vorliegenden Klage am 26. Dezember 2012 keinen weiteren Grund mitgeteilt hat.
61 In Rn. 28 der Klagebeantwortung hat der Rat ausgeführt, „die Tatsache, auf die sich die [in Rn. 59 des vorliegenden Urteils zitierte] Begründung … bezieht, nämlich die ‚Beteiligung an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen‘, entspricht den beiden [oben genannten Eintragungs‑]Kriterien“, nämlich zum einen dem Kriterium der „Unterstützung“ der nuklearen Proliferation, „wie in Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung … Nr. 267/2012 und in Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413 angegeben“, und zum anderen demjenigen, einer Person oder Einrichtung, deren Name in einer Liste von Personen und Einrichtungen aufgeführt ist, auf die sich gegen die Islamische Republik Iran verhängte restriktive Maßnahmen beziehen, „bei einer … Umgehung oder Verletzung [von restriktiven Maßnahmen] behilflich“ zu sein, „wie in Art. 23 Abs. 2 Buchst. b dieser Verordnung und in Art. 20 Abs. 1 Buchst. b dieses Beschlusses angegeben“.
62 Außerdem hat der Rat in Rn. 29 der Klagebeantwortung darauf hingewiesen, dass „der durch die [angefochtenen Rechtsakte] hinzugefügte weitere Grund, dass die Klägerin ‚die iranische Regierung finanziell [unterstützt]‘, dem in Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung … Nr. 267/2012 und in Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 … genannten Kriterium entspricht“.
63 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 23 Abs. 2 Buchst. a, b und d der Verordnung Nr. 267/2012 und Art. 20 Abs. 1 Buchst. b und c des Beschlusses 2010/413 alternative Kriterien für die Aufnahme einer Person oder einer Einrichtung in die streitigen Listen aufstellen.
64 Unter diesen Kriterien sieht zunächst Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 vor, dass sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen von Personen, Organisationen und Einrichtungen eingefroren werden, in Bezug auf die festgestellt wurde, dass sie an der nuklearen Proliferation – auch durch Beteiligung an der Beschaffung verbotener Güter oder Technologien – beteiligt sind, direkt damit in Verbindung stehen oder Unterstützung dafür bereitstellen (Kriterium der Unterstützung der nuklearen Proliferation). Des Weiteren bestimmt Art. 23 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 267/2012, dass sämtliche Gelder von Personen, Organisationen oder Einrichtungen eingefroren werden, die einer Person, Organisation oder Einrichtung, deren Name in einer Liste von Personen, Organisationen oder Einrichtungen aufgeführt ist, auf die sich die restriktiven Maßnahmen beziehen, bei der Verletzung der Bestimmungen dieser Verordnung, des Beschlusses 2010/413 oder der Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen oder bei deren Umgehung behilflich waren (Kriterium der Beihilfe zur Umgehung der restriktiven Maßnahmen). Schließlich bestimmt Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012, dass sämtliche Gelder von Personen, Organisationen und Einrichtungen eingefroren werden, in Bezug auf die festgestellt wurde, dass sie sonstige Personen, Organisationen oder Einrichtungen sind, die die iranische Regierung beispielsweise materiell, logistisch oder finanziell unterstützen oder mit ihr in Verbindung stehen (Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung).
65 Entsprechend sieht Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413 zum einen vor, dass sämtliche Gelder von Personen und Einrichtungen eingefroren werden, die an der nuklearen Proliferation – auch durch Beteiligung an der Beschaffung verbotener Güter, Ausrüstungen, Materialien und Technologien – beteiligt sind, direkt damit in Verbindung stehen oder dafür Unterstützung bereitstellen (Kriterium der Unterstützung der nuklearen Proliferation). Zum anderen sind danach sämtliche Gelder von Personen und Organisationen einzufrieren, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie einer Person oder Organisation, deren Name in einer Liste von Personen oder Organisationen aufgeführt ist, auf die sich gegen die Islamische Republik Iran verhängte restriktive Maßnahmen beziehen, dabei behilflich waren, die Bestimmungen dieses Beschlusses 2010/413 oder die Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu umgehen (Kriterium der Beihilfe zur Umgehung der restriktiven Maßnahmen). In Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 heißt es zudem insbesondere, dass sämtliche Gelder von Personen und Organisationen eingefroren werden, die die iranische Regierung unterstützen (Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung).
66 Angesichts des Hinweises in Rn. 63 des vorliegenden Urteils, dass die in dieser Weise in Art. 23 Abs. 2 Buchst. a, b und d der Verordnung Nr. 267/2012 und in Art. 20 Abs. 1 Buchst. b und c des Beschlusses 2010/413 aufgestellten Kriterien alternativen Charakter haben, ist zunächst zu klären, inwieweit sich in diesen Bestimmungen das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung von dem der Unterstützung der nuklearen Proliferation unterscheidet. Hierzu ist daran zu erinnern, dass das letztgenannte Kriterium die Feststellung einer unmittelbaren oder mittelbaren Verbindung zwischen den Tätigkeiten der betroffenen Person oder Organisation und der nuklearen Proliferation voraussetzt. Das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung, mit dem der Geltungsbereich der restriktiven Maßnahmen erweitert wird, um den auf die Islamische Republik Iran ausgeübten Druck zu verstärken, zielt seinerseits auf jede Tätigkeit der betroffenen Person oder Organisation ab, die, auch unabhängig von der Feststellung einer unmittelbaren oder mittelbaren Verbindung zur nuklearen Proliferation, aufgrund ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung geeignet ist, die nukleare Proliferation dadurch zu fördern, dass der iranischen Regierung eine Unterstützung in Form von materiellen, finanziellen oder logistischen Ressourcen oder Fazilitäten gewährt wird, die ihr die Fortsetzung der Proliferation ermöglichen. Das Vorliegen einer Verknüpfung zwischen einer solchen Unterstützung der iranischen Regierung und der Fortsetzung der Tätigkeiten der nuklearen Proliferation wird somit durch die anwendbare Regelung vermutet, die darauf abzielt, der iranischen Regierung ihrer Einnahmequellen zu berauben, um sie zu zwingen, die Entwicklung ihres Nuklearproliferationsprogramms mangels ausreichender finanzieller Mittel einzustellen.
67 Sodann ist zu beachten, dass sich die Begründungspflicht des Rates neben der Angabe der Rechtsgrundlage für die beschlossene Maßnahme gerade auf die Umstände erstreckt, die darauf schließen lassen, dass das ein oder andere Eintragungskriterium bei den Betroffenen erfüllt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2009, Bank Melli Iran/Rat, T‑390/08, Slg, EU:T:2009:401, Rn. 83).
68 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Unterlassung der Bezugnahme auf eine bestimmte Vorschrift dann kein wesentlicher Fehler sein kann, wenn die Rechtsgrundlage einer Handlung anhand anderer Bestandteile dieser Handlung ermittelt werden kann. Eine solche ausdrückliche Bezugnahme ist jedoch unerlässlich, wenn die Betroffenen und der Unionsrichter ohne sie über die genaue Rechtsgrundlage im Unklaren gelassen würden (Urteil vom 26. März 1987, Kommission/Rat, 45/86, Slg, EU:C:1987:163, Rn. 9).
69 Deshalb ist zu prüfen, ob die Begründung der angefochtenen Rechtsakte ausdrückliche Bezugnahmen auf die drei in den Rn. 64 und 65 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien oder zumindest das eine oder andere dieser Kriterien enthält und ob diese Begründung gegebenenfalls als ausreichend angesehen werden kann, um der Klägerin die Prüfung der Begründetheit der angefochtenen Rechtsakte und ihre Verteidigung vor dem Gericht und dem Gericht die Ausübung seiner Kontrolle zu ermöglichen.
70 Die in Rn. 59 des vorliegenden Urteils aufgeführten Gründe enthalten keine ausdrückliche Angabe dazu, auf welche der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 und Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 genannten Kriterien sie sich beziehen. Soweit sie jedoch auf „Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen“ Bezug nehmen, lassen sie sich ohne Weiteres dahin auslegen, dass sie sich auf das Kriterium der Beihilfe zur Umgehung der restriktiven Maßnahmen beziehen. Außerdem entspricht, wie der Rat zu Recht bemerkt, die in diesen Gründen enthaltene Bezugnahme darauf, dass die Klägerin „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“, dem Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung, bei dem es sich, wie in Rn. 66 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, gegenüber dem der Unterstützung der nuklearen Proliferation um ein eigenständiges Kriterium handelt.
71 In Ermangelung von Anhaltspunkten für eine etwaige „Unterstützung“ der nuklearen Proliferation durch die Klägerin oder für eine etwaige „Beteiligung“ der Klägerin an der Beschaffung verbotener Güter oder Technologien können die in Rn. 59 des vorliegenden Urteils angeführten Gründe jedoch entgegen der Auffassung des Rates nicht mit dem Kriterium der Unterstützung der nuklearen Proliferation in Verbindung gebracht werden.
72 Zwar trägt der Rat in den Rn. 26 bis 28 der Klagebeantwortung vor, die „Unterstützung“ der nuklearen Proliferation oder der Beschaffung verbotener Güter, Ausrüstungen, Materialien oder Technologien durch die Klägerin ergebe sich „notwendig“ aus ihrer „Stellung als ‚Bankier der iranischen Regierung‘“, da sie „Bankdienstleistungen an iranische Ministerien und andere von der Regierung kontrollierte Einrichtungen, einschließlich derjenigen, die [an der nuklearen Proliferation] beteiligt sind, erbringt“ und „zwangsläufig an [der] Beschaffung [von für die nukleare Proliferation notwendigen Materialien und Lieferungen]“ sowie an der „rechtswidrigen Ausfuhr von Waffen und anderen Materialien aus dem Iran in andere [solche Beschaffungen ermöglichenden] ‚Schurkenstaaten‘ beteiligt [war]“.
73 Dazu ist festzustellen, dass sich der Rat praktisch auf Umstände bezieht, die einen gewissen Grad der Verbindung der Tätigkeiten der Klägerin mit den nuklearen Tätigkeiten der Islamischen Republik Iran aufweisen und sich nicht offensichtlich aus den in Rn. 59 des vorliegenden Urteils angeführten Gründen ergeben und somit nicht für die Feststellung herangezogen werden können, mit welchem Eintragungskriterium diese Gründe zu verknüpfen sind.
74 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass sich nur hinsichtlich des Kriteriums der Beihilfe zur Umgehung der restriktiven Maßnahmen und desjenigen der Unterstützung der iranischen Regierung, auf die sich der Rat in den angefochtenen Rechtsakten implizit, doch notwendig bezieht, beurteilen lässt, ob die Begründung dieser Rechtsakte ausreichend ist.
75 Soweit die angefochtenen Rechtsakte auf das Kriterium der Beihilfe zur Umgehung der restriktiven Maßnahmen abstellen und in ihnen beanstandet worden ist, dass die Klägerin „an Maßnahmen zur Umgehung der Sanktionen [beteiligt]“ sei, ist ihre Begründung insoweit unzureichend, als diese die Klägerin und das Gericht nicht in die Lage versetzt, die Umstände zu erkennen, die den Rat zu der Auffassung, dass dieses Kriterium im Fall der Klägerin erfüllt sei, und damit zum Erlass der streitigen Rechtsakte veranlasst haben. Diese Begründung stellt sich nämlich als bloße Wiederholung des Kriteriums selbst dar. Sie erhält kein Element, mit dem näher die Gründe dargelegt werden, aus denen dieses Kriterium auf die Klägerin zutreffen soll. Die Begründung enthält keinerlei nähere Angaben über die Namen der Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die auf einer Liste mit restriktiven Maßnahmen stehen sollen und denen die Klägerin bei der Umgehung der Sanktionen behilflich gewesen sein soll, sowie über den Zeitpunkt, die Umstände und die Modalitäten dieser Hilfe. Der Rat bezieht sich weder auf irgendeinen bestimmten Vorgang noch auf eine bestimmte Hilfeleistung. In Ermangelung jeder sonstigen genauen Angabe erscheint diese Begründung als unzureichend, um es der Klägerin zu erlauben, im Hinblick auf das Kriterium der Beihilfe zur Umgehung der restriktiven Maßnahmen die Begründetheit der angefochtenen Rechtsakte nachzuprüfen und sich vor dem Gericht zu verteidigen, und diesem die Wahrnehmung seiner Kontrolle zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Central Bank of Iran/Rat, oben in Rn. 27 angeführt, EU:T:2014:777, Rn. 91).
76 Zwar hat sich der Rat in seinen Schriftsätzen auf eine sich hierauf beziehende implizite Begründung für die angefochtenen Rechtsakte berufen, indem er dargelegt hat, dass sich eine „[Beihilfe zur] Umgehung oder Verletzung [der restriktiven Maßnahmen] … notwendig“ aus der „Stellung [der Klägerin] als‚Bankier der iranischen Regierung‘“ ergebe. Seiner Ansicht nach hat die Klägerin im Rahmen dieser Tätigkeit „Bankdienstleistungen an iranische Ministerien und andere von der Regierung kontrollierte Einrichtungen, einschließlich derjenigen, die [an der nuklearen Proliferation] beteiligt sind[, erbracht]“.
77 Dazu ist allerdings festzustellen, dass eine Begründung auch implizit gegeben werden kann, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe für die getroffenen Maßnahmen zu erfahren, und dem zuständigen Gericht ausreichende Angaben an die Hand gibt, damit es seine Kontrolle wahrnehmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg, EU:C:2004:6, Rn. 372 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, C‑3/06 P, Slg, EU:C:2007:88, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nicht ausdrücklich angeführte Gründe können somit berücksichtigt werden, wenn sie sowohl für die Betroffenen als auch für das zuständige Gericht offensichtlich sind.
78 Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht offensichtlich, dass die Klägerin als Zentralbank der Islamischen Republik Iran notwendig Personen oder Einrichtungen, die möglicherweise an der iranischen Regierung beteiligt sind oder von dieser kontrolliert werden und in die Listen von Personen und Einrichtungen aufgenommen worden sind, auf die sich gegen die Islamische Republik Iran verhängte restriktive Maßnahmen beziehen, dabei behilflich war, gegen diese Maßnahmen zu verstoßen oder sie zu umgehen, indem sie ihnen Bankdienstleistungen, wie die Bereitstellung von Geldmitteln, erbringt. Denn es liegt zwar auf der Hand, dass die Klägerin als Zentralbank der Islamischen Republik Iran der iranischen Regierung allgemein eine finanzielle Unterstützung zuteilwerden lässt (siehe unten, Rn. 108). Das bedeutet jedoch nicht notwendig, dass sie eine solche Unterstützung in spezifischer Weise Personen oder Einrichtungen gewährt, die an dieser Regierung beteiligt sind oder von ihr kontrolliert werden, einschließlich derjenigen, deren Namen möglicherweise in die Listen von Personen und Organisationen aufgenommen worden sind, auf die sich die gegen die Islamische Republik Iran verhängten restriktiven Maßnahmen beziehen.
79 Damit kann die implizite Begründung, auf die sich der Rat beruft, nicht berücksichtigt werden, um die unzureichende ausdrückliche Begründung in Bezug auf das Kriterium der Beihilfe zur Umgehung der restriktiven Maßnahmen zu heilen.
80 Soweit die angefochtenen Rechtsakte mit dem Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung begründet werden, ist nach der in Rn. 66 des vorliegenden Urteils dargestellten Auslegung dieses Kriteriums zu prüfen, ob sich der Rat auf Tätigkeiten der Klägerin bezogen hat, die, auch wenn sie als solche keine unmittelbare oder mittelbare Verbindung zur nuklearen Proliferation aufweisen, gleichwohl geeignet sind, deren Entwicklung zu fördern, indem der iranischen Regierung Ressourcen oder Fazilitäten zur Verfügung gestellt werden, die ihr eine Fortsetzung der nuklearen Proliferation ermöglichen.
81 In Bezug auf das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung hatte somit der Rat die Ressourcen oder Fazilitäten, die die Klägerin dieser Regierung zur Verfügung gestellt haben soll, im Einzelnen genau anzugeben; er war jedoch entgegen der Auffassung der Klägerin nicht verpflichtet, die angefochtenen Rechtsakte in Bezug auf eine etwaige Verwendung dieser Ressourcen oder Fazilitäten durch die iranische Regierung im Hinblick auf eine Fortsetzung der nuklearen Proliferation zu begründen.
82 Der Rat hat im vorliegenden Fall ausdrücklich auf eine „finanzielle Unterstützung der iranischen Regierung“ abgestellt und in Rn. 29 der Klagebeantwortung geltend gemacht, dass „[d]ieser Grund … nicht weiter belegt zu werden [braucht], da die Klägerin als Bankier der iranischen Regierung diese offensichtlich finanziell unterstützt“.
83 Zwar hat der Rat in der Begründung der angefochtenen Rechtsakte, was das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung angeht, nicht ausdrücklich auf die Finanzdienstleistungen Bezug genommen, die die Klägerin als Zentralbank der Islamischen Republik Iran der iranischen Regierung erbringt.
84 Jedoch war die Klägerin im vorliegenden Fall in der Lage, zu erkennen, dass sich der Rat auf die Finanzdienstleistungen bezog, die sie als Zentralbank der Islamischen Republik Iran der iranischen Regierung erbrachte. Dass sie dies verstanden hat, ist im Übrigen auch ihren Schriftsätzen zu entnehmen. In Rn. 23 der Klageschrift führt die Klägerin nämlich unter Hinweis auf das Zeugnis von Frau R. aus, dass „[d]ie [iranische] Regierung … einer [ihrer] Kunden [ist]“, dass jedoch „[f]ast alle Zentralbanken … als Bankier der Regierung tätig [werden]“ und „nur in diesem Sinne … der Regierung ‚finanzielle Unterstützung‘ [gewähren], genauer: … Finanzdienstleistungen [erbringen]“. Die Klägerin hat sich also, wie im Schreiben vom 7. Oktober 2012 (Rn. 14 des vorliegenden Urteils), im Wesentlichen mit dem Vorbringen verteidigt, sie habe keine Einrichtung, um welche es sich auch handele (einschließlich der iranischen Regierung), zu dem Zweck finanziell unterstützt, Tätigkeiten der nuklearen Proliferation zu finanzieren.
85 Dass der Rat im vorliegenden Fall die Aufgaben und Befugnisse der Klägerin als Zentralbank der Islamischen Republik Iran nicht präzisiert hat, ist unerheblich, da diese Aufgaben und Befugnisse in öffentlich zugänglichen gesetzlichen Bestimmungen niedergelegt sind, von denen vermutet werden kann, dass sie jedermann bekannt sind. Es ist nämlich zwischen den Parteien unstreitig, dass die Aufgaben und Befugnisse der Klägerin als Zentralbank der Islamischen Republik Iran in Teil II Kapitel 2 des am 9. Juli 1972 genehmigten Währungs- und Finanzgesetzes der Islamischen Republik Iran, insbesondere in dessen Art. 12 und 13, niedergelegt sind. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sich die Begründung der angefochtenen Rechtsakte, soweit sie darauf abstellt, dass die Klägerin „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“, implizit, doch notwendig auf die Aufgaben und Befugnisse der Klägerin als Zentralbank der Islamischen Republik Iran bezieht, wie sie in Teil II Kapitel 2 dieses Gesetzes, insbesondere in dessen Art. 12 und 13, geregelt sind.
86 Der Rat war somit im Kontext des vorliegenden Falls nicht verpflichtet, eine ausdrückliche Begründung in Bezug auf die Finanzdienstleistungen und damit die finanziellen Ressourcen oder Fazilitäten anzuführen, die die Klägerin in ihrer Eigenschaft als Zentralbank der Islamischen Republik Iran der iranischen Regierung bereitgestellt haben soll.
87 Die angefochtenen Rechtsakte können daher als nach den Anforderungen der Rechtsprechung in Bezug auf das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung hinreichend begründet angesehen werden.
88 Da die auf eine finanzielle Unterstützung der iranischen Regierung abstellenden Gründe eine eigenständige, ausreichende Begründung für die angefochtenen Rechtsakte darstellen und da somit die für diese Rechtsakte angeführten anderen, unzureichenden Gründe nicht zu ihrer Nichtigerklärung führen können, ist der zweite Klagegrund, mit dem eine Verletzung der Begründungspflicht geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
89 Daraus folgt jedoch, dass nur die Gründe, die auf eine finanzielle Unterstützung der iranische Regierung abstellen, indem sie eine eigenständige und ausreichende Begründung für die angefochtenen Rechtsakte liefern, bei der Prüfung der weiteren Klagegründe für die vorliegende Klage berücksichtigt werden können, nämlich erstens des dritten Klagegrundes – Verletzung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektive gerichtliche Kontrolle –, zweitens des ersten Klagegrundes – Beurteilungsfehler – und drittens des vierten Klagegrundes – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Grundrechte der Klägerin.
Zum dritten Klagegrund: Verletzung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektive gerichtliche Kontrolle
90 Die Klägerin wirft dem Rat vor, er habe beim Erlass der angefochtenen Rechtsakte den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und das Recht auf effektive gerichtliche Kontrolle, wie sie in der Rechtsprechung ausgelegt worden seien, dadurch verletzt, dass er ihr nicht die Beweismittel, die die angefochtenen Rechtsakte gerechtfertigt haben sollen, mitgeteilt und sie nicht in die Lage versetzt habe, ihren Standpunkt zu diesen Beweismitteln sachgerecht geltend zu machen. Im vorliegenden Fall sei ihr kein Beweismittel zur Untermauerung der angefochtenen Rechtsakte vor deren Erlass oder auch erst danach mitgeteilt worden, obwohl sie mehrere entsprechende Anträge, insbesondere im Schreiben vom 28. November 2012 (Rn. 17 des vorliegenden Urteils), gestellt habe. Der Umstand, dass der Rat einem von einem Mitgliedstaat übermittelten Vorschlag, ihren Namen in die streitigen Listen aufzunehmen, gefolgt sei, lasse seine Pflicht unberührt, sich der Begründetheit dieses Vorschlags zu versichern, gegebenenfalls unter Aufforderung des betreffenden Mitgliedstaats, ihm Beweismittel und Informationen zu seiner Begründung vorzulegen. Ein Versuch des Rates, dieses Fehlen einer Mitteilung von Beweismitteln im vorliegenden Verfahren zu heilen, müsse jedenfalls scheitern, weil sonst ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzt würde. Aus dem Versendungsschreiben des Rates mit dem Aktenzeichen 17576/12 gehe hervor, dass der Rat die angefochtenen Rechtsakte nicht in Ansehung von Umständen, die ihre Verwicklung in die nukleare Proliferation oder in die Umgehung der Sanktionen belegten, erlassen habe, sondern allein aus dem – rechtswidrigen – Grund, dass die Eintragung ihres Namens in die streitigen Listen „den gegenwärtig auf Iran ausgeübten diplomatischen Druck erheblich verstärken könnte“. Zudem habe der Rat sie nicht angehört und die ihm von ihr übermittelten tatsächlichen Angaben nicht berücksichtigt.
91 Der Rat weist das Vorbringen der Klägerin zurück und vertritt die Auffassung, der dritte Klagegrund sei zurückzuweisen, weil die Verteidigungsrechte der Klägerin – wenn man annähme, dass ihr solche Rechte zustünden – im vorliegenden Fall beachtet worden seien, da sie über die angefochtenen Rechtsakte unterrichtet worden sei und ihr genug Informationen und Angaben übermittelt worden seien, um die Gründe für diese Rechtsakte nachzuvollziehen, und sie zudem die Möglichkeit erhalten habe, zu den Rechtsakten Stellung zu nehmen. Soweit die Klägerin ihm vorwerfe, er habe die Begründetheit der auf den Vorschlag eines Mitgliedstaats hin erlassenen angefochtenen Rechtsakte nicht nachgeprüft, handele es sich um eine Rüge, die an die Verletzung einer anderen Verpflichtung als die Pflichtverletzung anknüpfe, die mit dem vorliegenden Klagegrund geltend gemacht werde, weshalb die Rüge als ins Leere gehend zurückzuweisen sei.
92 Das Grundrecht auf Wahrung der Verteidigungsrechte in einem Verfahren, das dem Erlass restriktiver Maßnahmen vorausgeht, ist ausdrücklich in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt, der Art. 6 Abs. 1 EUV den gleichen rechtlichen Rang wie den Verträgen zuerkennt (vgl. Urteil Makhlouf/Rat, oben in Rn. 56 angeführt, EU:T:2013:431, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verlangt zum einen, dass der betroffenen Person oder Einrichtung die ihr zur Last gelegten Umstände, auf die der sie beschwerende Rechtsakt gestützt wird, mitgeteilt werden, und zum anderen, dass die betroffene Person oder Einrichtung in die Lage versetzt wird, zu diesen Umständen sachgerecht Stellung zu nehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2006, Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat, T‑228/02, EU:T:2006:384, Rn. 93).
94 Beim Erlass eines Beschlusses, durch den der Name einer Person oder Einrichtung in einer Liste von Personen oder Einrichtungen, auf die sich restriktive Maßnahmen beziehen, belassen wird, hat der Rat das Recht der betreffenden Person oder Einrichtung auf vorherige Anhörung zu beachten, wenn er im Beschluss über die Beibehaltung der Eintragung ihres Namens in der Liste ihr gegenüber neue Umstände anführt, nämlich solche, die im ursprünglichen Beschluss über ihre Aufnahme in diese Liste nicht enthalten waren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran, C‑27/09 P, Slg, EU:C:2011:853, Rn. 62, und Makhlouf/Rat, oben in Rn. 56 angeführt, EU:T:2013:431, Rn. 42 und 43).
95 Im vorliegenden Fall hat der Rat der Klägerin am 2. August 2012 individuell die Begründung der angefochtenen Rechtsakte mitgeteilt, die darauf abstellt, dass die Klägerin „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“. Im Hinblick auf diese vom Rat herangezogene Begründung und nicht im Hinblick auf die nicht in den angefochtenen Rechtsakten aufgegriffene Begründung in dem mit dem Aktenzeichen 17576/12 versehenen Übersendungsschreiben des Rates ist deren Rechtmäßigkeit zu beurteilen.
96 Aus Rn. 87 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass diese Begründung als nach den Anforderungen der Rechtsprechung in Bezug auf das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung ausreichend anzusehen war.
97 Auch hatte der Rat im vorliegenden Fall der Klägerin nicht die schriftlichen Beweismittel zu übermitteln, auf denen diese Begründung beruhte, da diese Beweismittel, die diejenigen Finanzdienstleistungen betrafen, die die Klägerin der iranischen Regierung gerade in ihrer Eigenschaft als Zentralbank der Islamischen Republik Iran erbracht hatte, als allgemein bekannt und als in der Begründung der angefochtenen Rechtsakte in Ansehung des Kriteriums der Unterstützung der iranischen Regierung implizit enthalten gelten konnten (vgl. Rn. 85 des vorliegenden Urteils). Der Rat brauchte mit anderen Worten der Klägerin nicht die Vorschriften, die deren Aufgaben und Befugnisse als Zentralbank der Islamischen Republik Iran regeln, selbst zur Verfügung zu stellen.
98 Die Klägerin konnte diese Begründung und die ihr zugrunde liegenden Erwägungen noch vor Erlass der angefochtenen Rechtsakte bekämpfen. Demgemäß hat sie im Schreiben vom 7. Oktober 2012 bestritten, irgendeine Organisation (einschließlich der iranischen Regierung) zum Zweck der Finanzierung der nuklearen Proliferation finanziell zu unterstützen. Überdies hat sie ihr Klagerecht wirksam ausüben können, indem sie im Rahmen der vorliegenden Klage den Einwand erhoben hat, dass sie „die Regierung nicht mehr als jede andere Zentralbank auf der Welt finanziell [unterstützt]“ und „erst recht nicht die Art von Unterstützung [gewährt], auf die sich die angefochtenen Rechtsakte beziehen, nämlich Unterstützung für Tätigkeiten der nuklearen Proliferation“.
99 Damit sind beim Erlass der angefochtenen Rechtsakte die Verteidigungsrechte der Klägerin und ihr Recht auf effektive gerichtliche Kontrolle gewahrt worden.
100 Infolgedessen ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen, der auf eine Verletzung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektive gerichtliche Kontrolle gestützt wird.
Zum ersten Klagegrund: Beurteilungsfehler
101 Die Klägerin macht geltend, der Rat habe einen Beurteilungsfehler begangen, indem er ihren Namen nach erneuter Prüfung in den streitigen Listen belassen habe, obwohl sie nicht die materiellen Kriterien erfülle, die nach Art. 20 des Beschlusses 2010/413 und Art. 23 der Verordnung Nr. 267/2012 die Eintragung ihres Namens in die genannten Listen erlaubten. In Ermangelung näherer Angaben in den angefochtenen Rechtsakten sei es nicht möglich, zu erkennen, auf welches in diesen Bestimmungen genannte Kriterium die Gründe abstellten, nach denen sie „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“ haben solle. Damit werde die Ausübung ihres Klagerechts erheblich behindert und sie unter diesem Gesichtspunkt in eine unbefriedigende, unangemessene Lage gebracht. Jedenfalls habe der Rat einen Beurteilungsfehler begangen, indem er das Kriterium von Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 und von Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012 im vorliegenden Fall als erfüllt angesehen habe. Aus dem mit dem Aktenzeichen 17576/12 versehenen Übersendungsschreiben des Rates, das dem Schreiben vom 10. Dezember 2012 als Anlage beigefügt gewesen sei, gehe hervor, dass die wahren Gründe für die angefochtenen Rechtsakte die gewesen seien, dass ihre Aufnahme in die streitigen Listen „den gegenwärtig auf Iran ausgeübten diplomatischen Druck erheblich verstärken könnte“. Nichts deute darauf hin, dass der Rat zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Rechtsakte den Grund einer Unterstützung der iranischen Regierung durch sie berücksichtigt habe, so dass dieser Grund nach der Rechtsprechung für die Begründung dieser Rechtsakte irrelevant sei. Jedenfalls reiche nach der Rechtsprechung die bloße Behauptung, dass sie der Regierung bestimmte Dienstleistungen erbracht habe, ohne aber einen Beweis für eine etwaige Verbindung zwischen diesen Dienstleistungen und der nuklearen Proliferation vorzulegen, für eine Begründung der angefochtenen Rechtsakte nicht aus.
102 Der Rat tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und gelangt zu dem Ergebnis, dass der erste Klagegrund zurückzuweisen sei, da er keinen Beurteilungsfehler begangen habe, weil die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. b und c des Beschlusses 2010/413 und in Art. 23 Abs. 2 Buchst. a, b und d der Verordnung Nr. 267/2012 aufgeführten materiellen Kriterien im Fall der Klägerin erfüllt gewesen seien. Der durch die angefochtenen Rechtsakte hinzugefügte zusätzliche Grund, dass die Klägerin „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“, entspreche dem Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012. Dieser Grund bedürfe keiner Untermauerung, da offensichtlich sei, dass die Klägerin die iranische Regierung als deren Bankier finanziell unterstütze. Er müsse berücksichtigt werden, da er ausdrücklich in den angefochtenen Rechtsakten genannt worden sei.
103 Wie sich aus den Rn. 89 und 95 des vorliegenden Urteils ergibt, ist im Rahmen der Prüfung des vorliegenden ersten Klagegrundes zum einen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rechtsakte im Hinblick auf deren Begründung, dass die Klägerin „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“, und nicht im Hinblick auf die Begründung in dem mit dem Aktenzeichen 17576/12 versehenen Übersendungsschreiben des Rates zu beurteilen und zum anderen im Hinblick auf dieselbe Begründung zu prüfen, ob diesen Rechtsakten ein Beurteilungsfehler anhaftet, der die Anwendbarkeit des in Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012 angeführten Kriteriums der Unterstützung der iranischen Regierung betrifft.
104 Aus den in Rn. 85 des vorliegenden Urteils genannten Gründen können bei der Beurteilung der Stichhaltigkeit dieser Begründung die Aufgaben und Befugnisse der Klägerin als Zentralbank der Islamischen Republik Iran berücksichtigt werden, wie sie in Teil II Kapitel 2 des Währungs- und Finanzgesetzes der Islamischen Republik Iran niedergelegt sind, das, insbesondere in den Art. 12 und 13 dieses Gesetzes, den „Aufgaben und Befugnissen“ der „Bank Markazi Iran“ gewidmet ist.
105 In Art. 12 des Währungs- und Finanzgesetzes der Islamischen Republik Iran heißt es:
„Die Bank Markazi Iran nimmt als Bankier der Regierung folgende Aufgaben wahr:
a)
Führung der Konten der Ministerien, Regierungseinrichtungen, der Regierung nahestehenden Einrichtungen, staatlichen Gesellschaften und Kommunen sowie von Organisationen, deren Kapital zu mehr als der Hälfte von Ministerien, Regierungseinrichtungen, der Regierung nahestehenden Einrichtungen, staatlichen Gesellschaften oder Kommunen gehalten wird, und Wahrnehmung aller ihrer Bankgeschäfte in Iran und im Ausland;
b)
Veräußerung von Staatsanleihen und Schatzanweisungen jeder Art sowie die darauf bezogene Rückzahlung von Kapital und die Zahlung von Zinsen als Vertreterin der Regierung mit der Berechtigung, diese Vertretungsbefugnis auf natürliche Personen oder andere Organisationen zu übertragen;
…
e)
Abschluss von Zahlungsvereinbarungen bei der Durchführung von zwischen der Regierung und anderen Ländern geschlossenen Währungs-, Finanz-, Handels- und Transitabkommen.“
106 Art. 13 des Währungs- und Finanzgesetzes der Islamischen Republik Iran bestimmt darüber hinaus:
„Der Bank Markazi Iran werden folgende Befugnisse eingeräumt:
1. Gewährung von Darlehen und Krediten an Ministerien und Regierungsorganisationen vorbehaltlich gesetzlicher Genehmigung;
2. Garantien für Verbindlichkeiten der Regierung sowie von Ministerien und Regierungsorganisationen vorbehaltlich gesetzlicher Genehmigung;
3. Gewährung von Darlehen und Krediten sowie Garantien für Darlehen und Kredite, die staatlichen Gesellschaften, Kommunen und der Regierung oder Kommunen nahestehenden Einrichtungen gewährt wurden, gegen angemessene Sicherheiten;
…
5. Erwerb und Veräußerung von Schatzanweisungen und Staatsanleihen sowie von Anleihen, die von ausländischen Regierungen oder anerkannten internationalen Finanzinstituten begeben worden sind …“
107 Diesen Bestimmungen ist zu entnehmen, dass die Klägerin insbesondere mit der Aufgabe betraut ist, die Konten der iranischen Regierung zu führen, Finanzgeschäfte in deren Namen und für ihre Rechnung durchzuführen oder abzuschließen, ihr Darlehen oder Kredite bereitzustellen, Sicherheit für ihre Verbindlichkeiten zu leisten und von ihr begebene Anleihen zu erwerben oder zu veräußern.
108 Aufgrund ihrer Aufgaben und Befugnisse als Zentralbank der Islamischen Republik Iran, wie sie in Teil II Kapitel 2 des Währungs- und Finanzgesetzes der Islamischen Republik Iran, insbesondere in den Art. 12 und 13 dieses Gesetzes, niedergelegt sind, erbringt die Klägerin der iranischen Regierung, indem sie sie durch Ressourcen oder Fazilitäten materieller, finanzieller und logistischer Art unterstützt, wodurch der Regierung ermöglicht wird, die nukleare Proliferation fortzusetzen, offensichtlich Finanzdienstleistungen, die aufgrund ihrer quantitativen und qualitativen Bedeutung zur Förderung der nuklearen Proliferation geeignet sind.
109 Zwar hat die Klägerin – erstmals in der mündlichen Verhandlung – geltend gemacht, ihre Befugnisse zur Gewährung von Darlehen und Krediten oder zur Stellung von Sicherheiten für die Regierung unterlägen Voraussetzungen, wie etwa gesetzlichen Genehmigungen, die im fraglichen Zeitraum nie erfüllt gewesen seien, so dass sie weder diese Befugnisse ausgeübt noch praktisch irgendwelche Ressourcen oder finanzielle Fazilitäten der iranischen Regierung zur Verfügung gestellt habe. Es ist jedoch Sache der Klägerin, die hier ein Verteidigungsmittel geltend macht, das dem Zweck dient, die Wirkungen der ihr gesetzlich übertragenen Befugnisse zu relativieren, die zur Stützung dieses Verteidigungsmittels angeführten Tatsachen zu beweisen. Einen solchen Beweis hat die Klägerin im vorliegenden Fall jedoch nicht erbracht. Jedenfalls gilt das Verteidigungsmittel der Klägerin nicht für alle von ihr als Zentralbank der Islamischen Republik Iran der iranischen Regierung erbrachten Finanzdienstleistungen, wie etwa die Führung der Konten, die Durchführung und den Abschluss von Finanzgeschäften oder den Erwerb und die Veräußerung von Anleihen. Im Übrigen hat die Klägerin zwar bestritten, der iranischen Regierung eigene finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, jedoch stets eingeräumt, dass sie dieser Regierung Finanzdienstleistungen erbringe, wie sie in gleicher Weise von jeder Zentralbank eines Staates dessen Regierung erbracht würden. Diese Dienstleistungen sind aber aufgrund ihrer quantitativen und qualitativen Bedeutung geeignet, der iranischen Regierung eine Unterstützung zuteilwerden zu lassen, die ihr die Fortsetzung der nuklearen Proliferation gestattet.
110 Der Rat ist daher zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin „die iranische Regierung finanziell [unterstützt]“, so dass das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012, wie es in Rn. 66 des vorliegenden Urteils ausgelegt worden ist, im vorliegenden Fall erfüllt war.
111 Folglich ist der erste Klagegrund, mit dem ein Beurteilungsfehler geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
Zum vierten Klagegrund: Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Grundrechte der Klägerin, insbesondere des Rechts auf Schutz ihres Eigentums und ihres Ansehens
112 Die Klägerin rügt, der Rat habe in den angefochtenen Rechtsakten ihr Eigentumsrecht und ihr Recht auf Wahrung des Ansehens sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, da jedenfalls die angefochtenen Rechtsakte ohne Not und unangemessen ihr Vermögen und ihr Ansehen beeinträchtigt hätten. Die angefochtenen Rechtsakte hätten im vorliegenden Fall beträchtliche Auswirkungen auf ihr Vermögen und ihr Ansehen sowie, was hier ihre Tätigkeiten als Zentralbank der Islamischen Republik Iran angehe, auf das gesamte iranische Volk, wie das Zeugnis von Frau R. belege. Damit seien die angefochtenen Rechtsakte in Widerspruch zu den öffentlichen Erklärungen der Union ergangen, wonach sich die restriktiven Maßnahmen nicht gegen das iranische Volk richteten. Die angefochtenen Rechtsakte beruhten nicht auf dem Nachweis einer Verbindung zwischen der Klägerin und der nuklearen Proliferation, sondern allein auf dem Umstand, dass ihre Aufnahme in die streitigen Listen „den gegenwärtig auf Iran ausgeübten diplomatischen Druck erheblich verstärken könnte“. Ein solcher Grund sei aber zu allgemein gehalten und entspreche nicht dem erklärten Zweck der Regelung der Union zur Einführung restriktiver Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran, die nukleare Proliferation zu bekämpfen und insbesondere deren Finanzierung zu verhindern. Die angefochtenen Rechtsakte beruhten auf einem Grund, der zu allgemein gehalten und zu ungenau sei, um wirksam bekämpft werden zu können. Die Klägerin verfüge somit über kein sachgerechtes Mittel, um die Entfernung ihres Namens aus den streitigen Listen zu erwirken. Die angefochtenen Rechtsakte verstießen daher auch gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit.
113 Der Rat tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und ist der Auffassung, dass der vierte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen sei. Die Beschränkung der Freiheiten und Grundrechte der Klägerin sei durch den legitimen Zweck, der nuklearen Proliferation und ihrer Finanzierung ein Ende zu setzen, gerechtfertigt, der seinerseits zum allgemeinen Ziel der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gehöre, das vom Gericht bereits als ein von der Union verfolgtes im öffentlichen Interesse liegendes Ziel anerkannt worden sei. Die angefochtenen Rechtsakte fänden nur auf einen kleinen Teil der Gelder der Klägerin Anwendung, die sich überwiegend im Iran oder in Staaten, die im Verhältnis zur Union Drittstaaten seien, befänden. Außerdem sähen Art. 20 Abs. 3 bis 4a, 6 und 7 des Beschlusses 2010/413 in der durch den Beschluss 2012/35 und sodann durch den Beschluss 2012/635 geänderten Fassung sowie die Art. 24 bis 27 und 28 der Verordnung Nr. 267/2012 die Freigabe eingefrorener Gelder vor, damit bestimmte Ausgaben getätigt werden könnten. Diese Ausnahmen, von denen einige speziell die Klägerin beträfen, schwächten die Wirkung der gegen diese verhängten Sanktionen deutlich ab.
114 Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, hängt die Rechtmäßigkeit des Verbots einer wirtschaftlichen Tätigkeit davon ab, dass die Verbotsmaßnahmen zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind, wobei für den Fall, dass mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (vgl. Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Rn. 49 angeführt, EU:T:2013:397, Rn. 179 und die dort angeführte Rechtsprechung).
115 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die von der Klägerin geltend gemachten Grundrechte, nämlich das Eigentumsrecht und das Recht auf Wahrung des Ansehens, keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen und dass ihre Ausübung Beschränkungen unterworfen werden kann, die durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind. So hat jede restriktive wirtschaftliche oder finanzielle Maßnahme per definitionem Auswirkungen, die die Eigentumsrechte und das Ansehen der Person oder Einrichtung, auf die sie sich bezieht, beeinträchtigen, und schädigt diese damit. Die Bedeutung der mit den fraglichen restriktiven Maßnahmen verfolgten Ziele kann jedoch selbst erhebliche negative Konsequenzen für die betroffenen Personen oder Einrichtungen rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2009, Melli Bank/Rat, T‑246/08 und T‑332/08, Slg, EU:T:2009:266, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
116 Im vorliegenden Fall geht aus den Rn. 88, 100 und 110 des vorliegenden Urteils hervor, dass die angefochtenen Rechtsakte, soweit sie auf das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung abstellen, keine wesentlichen Formvorschriften verletzen und nicht mit einem Beurteilungsfehler behaftet sind, der ihre Nichtigerklärung rechtfertigen würde.
117 Sodann ist Rn. 66 des vorliegenden Urteils zu entnehmen, dass die angefochtenen Rechtsakte, soweit sie auf das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung abstellen, durch das dem Gemeinwohl dienende Ziel gerechtfertigt sind, die iranische Regierung aller finanziellen Ressourcen und Fazilitäten zu berauben, die ihr eine Fortsetzung der nuklearen Proliferation erlauben würden, und zwar unabhängig davon, ob die Personen oder Einrichtungen, die ihr diese Ressourcen oder Fazilitäten zur Verfügung stellen, selbst die nukleare Proliferation unterstützen.
118 Was schließlich den der Klägerin verursachten Schaden angeht, so trifft es zwar zu, dass ihre Eigentumsrechte durch die angefochtenen Rechtsakte erheblich beschränkt werden, da sie insbesondere nicht, außer aufgrund besonderer Genehmigungen, über die ihr gehörenden Gelder, die sich im Unionsgebiet oder im Besitz von Angehörigen der Mitgliedstaaten der Union befinden, verfügen oder ihr gehörende Gelder in die Union transferieren kann. Außerdem wird mit den angefochtenen Rechtsakten eine erhebliche Beeinträchtigung des Ansehens der Klägerin bewirkt, da die gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen bei ihren Partnern und Geschäftspartnern einen gewissen Argwohn oder ein gewisses Misstrauen ihr gegenüber erregen können.
119 Die der Klägerin mit den angefochtenen Rechtsakten zugefügten Nachteile sind jedoch gemessen an der Bedeutung des mit ihnen verfolgten Ziels der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht unverhältnismäßig. Das gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als zunächst die angefochtenen Rechtsakte nur einen Teil der Aktiva der Klägerin betreffen. Sodann sehen Art. 20 Abs. 3 bis 4a, 6 und 7 des Beschlusses 2010/413 in der durch den Beschluss 2012/35 und weiter durch den Beschluss 2012/635 geänderten Fassung sowie die Art. 24 bis 27 und 28 der Verordnung Nr. 267/2012 eine Freigabe von Geldern der Klägerin vor, damit sie bestimmte, insbesondere die als wesentlich angesehenen, Ausgaben tätigen, Finanz- oder Kreditinstitute mit liquiden Mitteln für die Finanzierung von Handelsgeschäften versorgen oder bestimmte spezielle Handelsverträge bedienen kann. Schließlich ist zu beachten, dass der Rat nicht etwa geltend macht, die Klägerin sei selbst an der nuklearen Proliferation beteiligt. Die Klägerin wird somit nicht selbst mit Verhaltensweisen in Verbindung gebracht, die eine Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellen, weshalb der Grad des ihr gegenüber hervorgerufenen Misstrauens geringer ist.
120 Unter diesen Umständen ist der vierte Klagegrund zurückzuweisen, der auf eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie der Grundrechte der Klägerin, insbesondere des Rechts auf Schutz ihres Eigentums und ihres Ansehens, gestützt wird.
121 Damit ist die Klage abzuweisen.
Kosten
122 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Central Bank of Iran trägt die Kosten.
Kanninen
Pelikánová
Buttigieg
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. März 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 9. Dezember 2014.#Vladimir Peftiev gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren von Geldern – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Anhörungsrecht – Beurteilungsfehler.#Rechtssache T‑441/11.
|
62011TJ0441
|
ECLI:EU:T:2014:1041
| 2014-12-09T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62011TJ0441 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 16. Oktober 2014.#Eurallumina SpA gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Elektrizität – Vorzugstarif – Entscheidung, mit der die Unvereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Begriff der staatlichen Beihilfe – Neue Beihilfe.#Rechtssache T‑308/11.
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62011TJ0308
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ECLI:EU:T:2014:894
| 2014-10-16T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62011TJ0308 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 16. Oktober 2014.#Alcoa Trasformazioni Srl gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Elektrizität – Vorzugstarif – Entscheidung, die Beihilfe für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt zu erklären und ihre Rückforderung anzuordnen – Vorteil – Begründungspflicht – Höhe der Beihilfe – Neue Beihilfe.#Rechtssache T‑177/10.
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62010TJ0177
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ECLI:EU:T:2014:897
| 2014-10-16T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010TJ0177
URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)
16. Oktober 2014 (*1)
„Staatliche Beihilfen — Elektrizität — Vorzugstarif — Entscheidung, die Beihilfe für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt zu erklären und ihre Rückforderung anzuordnen — Vorteil — Begründungspflicht — Höhe der Beihilfe — Neue Beihilfe“
In der Rechtssache T‑177/10
Alcoa Trasformazioni Srl mit Sitz in Portoscuso (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte M. Siragusa, T. Müller-Ibold, F. Salerno, G. Scassellati Sforzolini und G. Rizza,
Klägerin,
unterstützt durch
Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
Streithelferin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch V. Di Bucci und É. Gippini Fournier als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 2010/460/EG der Kommission vom 19. November 2009 über die staatlichen Beihilfen C 38/A/04 (ex NN 58/04) und C 36/B/06 (ex NN 38/06), die Italien zugunsten von Alcoa Trasformazioni gewährt hat (ABl. 2010, L 227, S. 62)
erlässt
DAS GERICHT (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten D. Gratsias, der Richterin M. Kancheva und des Richters C. Wetter (Berichterstatter),
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2013
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin, die Alcoa Trasformazioni Srl, ist eine Gesellschaft italienischen Rechts, der zwei Werke zur Herstellung von Primäraluminium gehören, die sich in Portovesme/Sardinien (Italien) und in Fusina/Venetien (Italien) befinden. Diese Werke wurden ihr von der Alumix SpA im Rahmen von deren Privatisierung übertragen.
2 Mit der der Italienischen Republik bekannt gegebenen und am 1. Oktober 1996 veröffentlichten Mitteilung gemäß Artikel [88] Absatz 2 [EG] an die anderen Mitgliedstaaten und Dritte bezüglich einer staatlichen Beihilfe Italiens an Alumix (ABl. C 288, S. 4, im Folgenden: Alumix-Entscheidung) hielt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften nach Prüfung verschiedener Maßnahmen, die Alumix bei ihrer Privatisierung gewährt worden waren – darunter die Gewährung eines Vorzugsstromtarifs, den die Ente nazionale per l’energia elettrica (ENEL), der traditionelle Stromversorger in Italien, den von der Klägerin erworbenen Werken eingeräumt hatte –, diesen Vorzugstarif, der bis zum 31. Dezember 2005 galt, nicht für eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG. Insoweit war die Kommission u. a. der Auffassung, dass „[d]urch die Berechnung eines Tarifs für die Erzeugung von Primäraluminium [in den von der Klägerin erworbenen Werken], der die Grenzkosten deckt und einen Beitrag zur Deckung der Fixkosten leistet, … sich ENEL nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten [verhält], da diese Tarife die Versorgung seiner größten Industriekunden in Regionen ermöglichen, in denen erhebliche Überkapazitäten für die Stromerzeugung vorhanden sind“.
3 Mit der Entscheidung Nr. 204/99 vom 29. Dezember 1999 übertrug die Autorità per l’energia elettrica e il gas (italienische Aufsichtsbehörde für elektrische Energie und Gas, im Folgenden: AEEG) den örtlichen Stromversorgern die Verwaltung des Stromtarifs. Die Stromversorgung der Klägerin wurde daher von ENEL, ihrem örtlichen Stromversorger, zum Standardtarif und nicht mehr zu dem Tarif gemäß Art. 2 des Decreto ministeriale vom 19. Dezember 1995 (GURI Nr. 39 vom 16. Februar 1996, S. 8, im Folgenden: Dekret von 1995) berechnet, der, wie in der vorstehenden Randnummer angegeben, bis zum 31. Dezember 2005 galt. Zum Ausgleich des Unterschieds zwischen den Tarifen gewährte ENEL der Klägerin eine auf ihrer Stromrechnung ausgewiesene Erstattung, die durch eine steuerähnliche Abgabe finanziert wurde, die alle Stromverbraucher in Italien zu entrichten hatten.
4 Mit der Entscheidung Nr. 148/04 der AEEG vom 9. August 2004 wurde die staatliche Cassa Conguaglio per il settore elettrico (Ausgleichskasse für den Stromsektor, im Folgenden: Ausgleichskasse) anstelle der örtlichen Stromversorger mit der Verwaltung des Stromtarifs betraut. Dabei wurde der Klägerin der Unterschiedsbetrag zwischen dem ihr von ENEL in Rechnung gestellten Tarif und dem Tarif nach dem Dekret von 1995 von der Ausgleichskasse selbst unter Rückgriff auf dieselbe steuerähnliche Abgabe erstattet.
5 Ferner wurden zunächst das Dekret des Präsidenten des Ministerrats vom 6. Februar 2004 (GURI Nr. 93 vom 21. April 2004, S. 5, im Folgenden: Dekret von 2004), und sodann das Decreto-legge Nr. 35 vom 14. März 2005 (GURI Nr. 111 vom 14. Mai 2005, S. 4), nach Änderung umgewandelt in das Gesetz Nr. 80 vom 14. Mai 2005 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 91 vom 14. Mai 2005, im Folgenden: Gesetz von 2005), erlassen. Nach Art. 1 des Dekrets von 2004 sollte der Vorzugsstromtarif u. a. auf die Portovesme Srl und die Eurallumina SpA ausgeweitet werden. Obwohl diese Bestimmung auch dahin verstanden werden konnte, dass sie den für die Klägerin geltenden Vorzugstarif bis Juni 2007 verlängern sollte, wurde sie in praxi nicht auf die Klägerin angewandt, für die bis zum Inkrafttreten von Art. 11 Abs. 11 des Gesetzes von 2005, durch den der für die beiden Werke der Klägerin geltende Vorzugstarif bis 31. Dezember 2010 verlängert wurde, weiterhin das Dekret von 1995 galt.
6 Der genannte Tarif wurde von der AEEG jährlich überprüft. Nach Entscheidung der AEEG Nr. 217/05 vom 13. Oktober 2005 konnte der Vorzugstarif ab dem 1. Januar 2006 nach Maßgabe etwaiger an den Börsen in Frankfurt am Main (Deutschland) und Amsterdam (Niederlande) verzeichneter Preissteigerungen bis zu 4 % jährlich erhöht werden.
7 Weder das Dekret von 2004 noch Art. 11 Abs. 11 des Gesetzes von 2005 wurden der Kommission notifiziert.
8 Mit Entscheidung, die der Italienischen Republik mit Schreiben vom 19. Juli 2006 mitgeteilt wurde, leitete die Kommission in Bezug auf die Staatliche Beihilfe C 36/06 (ex NN 38/06) – Sonderstromtarif für energieintensive Industriezweige in Italien (zusammengefasst in ABl. C 214, S. 5, im Folgenden: Entscheidung vom 19. Juli 2006) das Verfahren nach Art. 88 Abs. 2 EG ein.
9 Am 29. November 2006 erhob die Klägerin beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung, soweit sie den ihren beiden Primäraluminiumwerken eingeräumten Stromtarif betraf, hilfsweise, auf Nichtigerklärung der Entscheidung, soweit dieser Tarif von der Kommission als rechtswidrige neue Beihilfe eingestuft wurde.
10 Mit Urteil vom 25. März 2009, Alcoa Trasformazioni/Kommission (T‑332/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), wies das Gericht die Klage ab. Dieses Urteil wurde durch Urteil des Gerichtshofs vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission (C-194/09 P, Slg. 2011, I-6311) bestätigt.
11 Das förmliche Prüfverfahren führte zum Erlass der Entscheidung 2010/460/EG der Kommission vom 19. November 2009 über die staatlichen Beihilfen C 38/A/04 (ex NN 58/04) und C 36/B/06 (ex NN 38/06) Italiens zugunsten von Alcoa Trasformazioni (ABl. 2010, L 227, S. 62, im Folgenden: angefochtene Entscheidung), in deren Art. 1 die staatliche Beihilfe, die die Italienische Republik der Klägerin seit dem 1. Januar 2006 zu Unrecht gewährt habe, für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird.
12 Die Kommission vertrat in der angefochtenen Entscheidung die Auffassung, dass sowohl ihre Analyse in der Alumix-Entscheidung als auch die von den italienischen Behörden und der Klägerin vorgelegten Berechnungen, nach denen der der Klägerin eingeräumte Vorzugstarif die in der Alumix-Entscheidung niedergelegten Kriterien erfülle, unerheblich seien. Der Betrag der zu erstattenden Beihilfe entspreche der Summe aller von der Ausgleichskasse an die Klägerin gezahlten Kompensationsbeträge.
13 In Bezug auf das Werk in Venetien stellte die Kommission in Art. 2 der angefochtenen Entscheidung fest, dass sich die Rückforderung der Beihilfe auf den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis zum 19. November 2009, dem Tag der Annahme der angefochtenen Entscheidung, beziehe. Für das Werk auf Sardinien ordnete die Kommission nur eine teilweise Wiedereinziehung an, wobei sich die Rückforderung auf den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 18. Januar 2007 bezog.
14 Aus Anhang 1 A der Klageschrift geht hervor, dass die angefochtene Entscheidung der Klägerin am 12. Februar 2010 bekannt gegeben worden ist.
Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten
15 Mit Klageschrift, die am 19. April 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
16 Mit besonderem Schriftsatz, der am 22. Mai 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung beantragt, soweit diese die Beihilfe C 36/B/2006 (ex NN 38/2006) betrifft, und in diesem Zusammenhang auch beantragt, der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
17 Die Italienische Republik hat mit Schriftsatz, der am 8. Juli 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt, im vorliegenden Verfahren zur Unterstützung der Anträge der Klägerin als Streithelferin zugelassen zu werden.
18 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 9. Juli 2010, Alcoa Trasformazioni/Kommission (T‑177/10 R, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), ist der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückgewiesen und die Kostentscheidung vorbehalten worden.
19 Am 4. August 2010 hat die Kommission die Klagebeantwortung bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht.
20 Mit Beschluss vom 13. September 2010 hat der Präsident der Ersten Kammer des Gerichts die Italienische Republik als Streithelferin zugelassen.
21 Am 26. November 2010 hat die Italienische Republik bei der Kanzlei des Gerichts den Streithilfeschriftsatz eingereicht.
22 Die Erwiderung in ihrer bereinigten Fassung ist am 1. Dezember 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht worden.
23 Am 1. Februar 2011 hat das Gericht die Stellungnahme der Klägerin zum Streithilfeschriftsatz erhalten.
24 Die Gegenerwiderung und die Stellungnahme der Kommission zum Streithilfeschriftsatz sind am 1. März 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen.
25 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Dezember 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission (C‑446/10 P[R], nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) ist das Rechtsmittel gegen den Beschluss vom 9. Juli 2010, Alcoa Trasformazioni/Kommission, zurückgewiesen worden.
26 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Sechsten Kammer zugeteilt worden, der die Rechtssache dementsprechend zugewiesen worden ist. Anschließend ist die Rechtssache einem neuen Berichterstatter in derselben Kammer zugewiesen worden.
27 Nach der teilweisen Neubesetzung des Gerichts ist der Berichterstatter der Achten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache daher erneut zugewiesen worden ist.
28 Das Gericht (Achte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
29 Die Klägerin und die Kommission haben in der Sitzung vom 12. Dezember 2013 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet. Obwohl die Italienische Republik ordnungsgemäß als Streithelferin geladen war, ist sie, ohne das Gericht davon zu unterrichten, nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen.
30 Die Klägerin beantragt,
—
die angefochtene Entscheidung insoweit für nichtig zu erklären, als die staatliche Beihilfe C 36/B/06 (ex NN 38/06) betroffen ist;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
31 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
32 Die Italienische Republik beantragt, der Klage stattzugeben.
Rechtliche Würdigung
33 Die Klägerin stützt ihre Klage auf sechs Klagegründe.
34 Mit diesen macht sie im Wesentlichen geltend: erstens, Rechtswidrigkeit der Einstufung als staatliche Beihilfe mangels eines Vorteils für die Klägerin, zweitens, für den Fall, dass das Gericht an der Einstufung als staatliche Beihilfe festhalten sollte, Rechtswidrigkeit aufgrund falscher Bestimmung der Höhe der Beihilfe, drittens, weiterhin unter der Voraussetzung, dass an der genannten Einstufung festgehalten werden sollte, Rechtswidrigkeit aufgrund fehlerhafter Einstufung als Betriebsbeihilfe, da es sich um eine mit dem Gemeinsamen Markt vereinbare Regionalbeihilfe handele, und, selbst wenn es sich um eine Betriebsbeihilfe gehandelt haben sollte, aufgrund der Förderfähigkeit einer solchen Beihilfe nach den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung (ABl. 1998, C 74, S. 9), viertens, Rechtswidrigkeit aufgrund Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und die Vorschriften des Vertrags über mit dem Gemeinsamen Markt vereinbare Regionalbeihilfen, fünftens, Rechtswidrigkeit aufgrund Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes und, sechstens, eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften.
35 Das Gericht hält es für angezeigt, zunächst den sechsten Klagegrund, mit dem eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, zu prüfen.
Zum sechsten Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften
36 Als Erstes ist über die von der Kommission in Frage gestellte Zulässigkeit des sechsten Klagegrundes zu entscheiden.
37 Nach Auffassung der Kommission ist dieser Klagegrund so wenig substantiiert, dass er nicht die Voraussetzungen von Art. 44 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts erfülle. Aus der Prüfung der Klageschrift und der Erwiderung ergibt sich jedoch, dass die Klägerin, auch sehr knapp ausgeführt, einen Klagegrund vorträgt, der aus zwei Teilen besteht, die eindeutig erkennbar sind und von denen sich der eine auf die Folgen der vermeintlich fehlenden Gültigkeit der Entscheidung vom 19. Juli 2006 für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung (Rn. 271 der Klageschrift) und der andere auf einen Begründungsmangel dieser Entscheidung (Rn. 272 der Klageschrift sowie Rn. 73 und 74 der Erwiderung) bezieht. Der vorliegende Klagegrund ist daher zulässig.
38 Demnach sind als Zweites nacheinander die beiden Teile des sechsten Klagegrundes zu prüfen.
Erster Teil des sechsten Klagegrundes: Verfahrensfehler aufgrund fehlender Gültigkeit der Entscheidung vom 19. Juli 2006
39 Die Klägerin macht geltend, dass „[ein] endgültiger Beschluss nach Art. 108 Abs. 2 AEUV… nur rechtmäßig erlassen werden [kann], wenn die Entscheidung zur Einleitung der kontradiktorischen förmlichen Untersuchung gültig war“ und „in dem Fall, dass die Einleitungsentscheidung für nichtig erklärt wird, diese Nichtigkeit sich auch auf die angefochtene Entscheidung auswirkt, der ein wesentliches Formerfordernis fehlen würde“.
40 Die Klägerin hat jedoch in der mündlichen Verhandlung auf die Aufforderung zur Stellungnahme zu den Konsequenzen, die ihrer Ansicht aus dem Urteil vom 25. März 2009, Alcoa Trasformazioni/Kommission (bestätigt durch Urteil vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission), zu ziehen sind, in dem die volle Rechtmäßigkeit der Entscheidung vom 19. Juli 2006 anerkannt worden ist, erklärt, dass sie den ersten Teil ihres sechsten Klagegrundes fallen lasse; dies ist im Protokoll der mündlichen Verhandlung festgehalten worden.
Zweiter Teil des sechsten Klagegrundes: Verstoß gegen die Begründungspflicht
41 Mit dem zweiten Teil des sechsten Klagegrundes rügt die Klägerin einen Verstoß gegen die Begründungspflicht. Sie stellt insoweit fest, dass „die [angefochtene] Entscheidung … in wesentlichen Gesichtspunkten mit mehreren schweren Begründungsmängeln behaftet [ist]“ (Rn. 272 der Klageschrift) und verweist auf die „Ausführungen zu den ersten vier Klagegründen“ (ebd.).
42 Vorab ist die Einrede der Unzulässigkeit gegen den zweiten Teil des vorliegenden Klagegrundes zurückzuweisen, mit der die Kommission geltend macht, dass die Argumente der Klägerin nur die Relevanz der Klagegründe, nicht aber die Frage beträfen, ob die Begründung ausreichend sei. Die Frage der Begründungspflicht wird zunächst in den Rn. 69 bis 74 sowie 78 und 79 der Klageschrift behandelt, in denen gerügt wird, es fehle an einer ökonomischen Wertung, auf deren Grundlage das Vorliegen eines Vorteils für die Klägerin dargetan würde.
43 Genauer ist sodann vor allem die Erwiderung, in der ein Verstoß gegen die Begründungspflicht darauf gestützt wird, dass es an einer wirtschaftlichen Analyse, auf deren Grundlage das Vorliegen eines Vorteils für die Klägerin dargetan würde, dem Marktpreis, einer Berücksichtigung der regionalen Entwicklung und einer Begründung für die Aufgabe des Programms zur Errichtung eines virtuellen Kraftwerks (Virtual Power Plant; im Folgenden: VPP-Programm) fehle. Da außerdem ein Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht geltend gemacht wird, von Amts wegen zu berücksichtigen ist (Urteile des Gerichtshofs vom 1. Juli 1986, Usinor/Kommission, 185/85, Slg. 1986, 2079, Rn. 19, und vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C-367/95 P, Slg. 1998, I-1719, Rn. 67), ist er zulässig, auch wenn er erstmals in der Erwiderung geltend gemacht wird (Urteil des Gerichtshofs vom 20. Februar 1997, Kommission/Daffix, C-166/95 P, Slg. 1997, I-983, Rn. 21 und 25, und Urteil des Gerichts vom 6. Juli 2011, i-content/HABM [BETWIN], T-258/09, Slg. 2011, II-3797, Rn. 47). Dies gilt erst recht, wenn der Klagegrund, der in der Klageschrift zwar erwähnt, aber nicht hinreichend präzisiert ist, im Rahmen der Erwiderung ergänzt wird.
44 Daher ist einerseits die Klageschrift im Licht der Erwiderung zu lesen und andererseits davon auszugehen, dass die Klägerin der Kommission im Rahmen des sechsten Klagegrundes nicht vorwirft, sie habe die genannten Gesichtspunkte nicht berücksichtigt, sondern sie habe sie in der angefochtenen Entscheidung nicht erwähnt. Die Zulässigkeit des zweiten Teils des sechsten Klagegrundes an sich ist somit gegeben.
45 Es ist zunächst der bloße Verweis im Rahmen des zweiten bis vierten Klagegrundes auf materielle Gründe zu prüfen; sodann sind die von der Klägerin in der Klageschrift (im Rahmen des ersten Klagegrundes, auf den der sechste Klagegrund verweist) erhobenen und in der Erwiderung ergänzten Rügen zu untersuchen.
46 Was den ersten Gesichtspunkt betrifft, ist zu beachten, dass nach der Rechtsprechung der Klagegrund eines Verstoßes gegen den seinerzeit anwendbaren Art. 253 EG, mit dem eine fehlende oder unzureichende Begründung gerügt wird, eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne von Art. 230 EG darstellt (Urteil Kommission/Sytraval und Brink’s France, Rn. 67, und Urteil des Gerichts vom 13. Januar 2004, Thermenhotel Stoiser Franz u. a./Kommission, T-158/99, Slg. 2004, II-1, Rn. 97). Anders verhält es sich mit Rügen, mit denen eigentlich keine fehlende oder unzureichende Begründung gerügt wird, sondern die in Wirklichkeit mit der Beanstandung in Bezug auf die sachliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung und somit in Bezug auf die materielle Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts zusammenfallen (Urteile des Gerichts Thermenhotel Stoiser Franz u. a./Kommission, Rn. 97, und vom 14. Januar 2009, Kronoply/Kommission, T-162/06, Slg. 2009, II-1, Rn. 23). Diese können im Rahmen eines solchen Klagegrundes nur zurückgewiesen werden (Urteile des Gerichts Thermenhotel Stoiser Franz u. a./Kommission, Rn. 97 und 98, und vom 27. September 2012, Italien/Kommission, T‑257/10, Rn. 53).
47 In Bezug auf den zweiten Gesichtspunkt ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die nach Art. 253 EG vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.
48 Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Anforderungen von Art. 253 EG genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere braucht die Kommission nicht auf alle Argumente einzugehen, die die Betroffenen vor ihr geltend gemacht haben, sondern es reicht aus, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführt, denen innerhalb der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukommt (Urteil des Gerichtshofs vom 14. Februar 1990, Delacre u. a./Kommission, C-350/88, Slg. 1990, I-395, Rn. 16; Urteile des Gerichts vom 8. Juli 2004, Technische Glaswerke Ilmenau/Kommission, T-198/01, Slg. 2004, II-2717, Rn. 59 und 60, und vom 28. März 2012, Ryanair/Kommission, T‑123/09, Rn. 178).
49 Anhand der vorstehenden Erwägungen ist zu prüfen, ob die Kommission die angefochtene Entscheidung hinsichtlich erstens der wirtschaftlichen Analyse, auf deren Grundlage sie auf das Vorliegen eines Vorteils für die Klägerin geschlossen hat, zweitens des zugrunde zu legenden Marktpreises, drittens der Durchführung der Prüfung, ob die Beihilfe vor dem Hintergrund der regionalen Entwicklung zugelassen werden könne, und viertens der Aufgabe des VPP-Programms ausreichend begründet hat.
50 So ergibt sich aus der Prüfung der angefochtenen Entscheidung erstens hinsichtlich der wirtschaftlichen Analyse, auf deren Grundlage die Kommission auf das Vorliegen eines Vorteils für die Klägerin geschlossen hat, dass die Kommission zunächst den wirtschaftlichen Zusammenhang dargestellt hat, in dem die Alumix-Entscheidung ergangen war (Erwägungsgründe 33 bis 38 der angefochtenen Entscheidung), sodann auf die erheblichen Veränderungen hingewiesen hat, die danach für den italienischen Strommarkt kennzeichnend gewesen seien (Erwägungsgründe 39 bis 43 der angefochtenen Entscheidung), und schließlich einen ganzen Abschnitt (Ziff. 6.2.1. [„Vorliegen eines Vorteils“] der angefochtenen Entscheidung) der Analyse des Marktes gewidmet hat, in den die Klägerin eingegriffen habe (Erwägungsgründe 145 bis 158 der angefochtenen Entscheidung). Unter Hinweis u. a. darauf, dass die Alumix-Entscheidung, die in einem monopolistischen Umfeld ergangen sei, nicht auf einen liberalisierten Strommarkt übertragen werden könne (150. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), hob die Kommission im Einklang mit dem Urteil vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission (Rn. 71), hervor, dass die „Bedingungen auf dem realen Markt“ (146. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung) heranzuziehen seien. Sie ging auch auf die Besonderheit des sardischen Marktes ein (Erwägungsgründe 155 und 226 bis 231 der angefochtenen Entscheidung).
51 Was zweitens den Marktpreis betrifft, stellte die Kommission fest, dass der Preis, den die Klägerin erhalten habe, aufgrund des Eingreifens des italienischen Staates unter dem Preis gelegen habe, den sie unter realen Marktbedingungen erzielt hätte, denn hätte sie diesen Preis direkt von einem Stromversorger in den entsprechenden Regionen erhalten können, wäre dieses Eingreifen nicht erforderlich gewesen (145. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). In den Erwägungsgründen 146 bis 152 der angefochtenen Entscheidung führte sie die Gründe an, aus denen sie die von der Klägerin vorgenommene Berechnung des Marktpreises zurückweisen müsse, und stellte darüber hinaus in den Erwägungsgründen 153 und 154 der angefochtenen Entscheidung fest, dass diese Berechnung fehlerhaft sei, da sie den Erzeugungsgrenzkosten der Grundlastkraftwerke, d. h. der wirtschaftlichsten Kraftwerke, entspreche. Solche Preise seien jedoch auf dem Markt nur zu den Spitzenlastzeiten erhältlich, wohingegen die Klägerin Strom nicht nur zu diesen Zeiten, sondern rund um die Uhr verbrauche. Schließlich ging die Kommission näher auf den Marktpreis auf Sardinien ein (230. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung) und führte dazu aus, dass, selbst angenommen, dass die in der Alumix-Entscheidung niedergelegten Kriterien anzuwenden seien, der Tarif, der der Klägerin zugute gekommen sei, diese Kriterien nicht erfülle (155. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
52 In Bezug auf die Zulässigkeit der Beihilfe vor dem Hintergrund der regionalen Entwicklung ergibt sich drittens aus den Erwägungsgründen 60 bis 67 der angefochtenen Entscheidung, dass die Kommission diese Möglichkeit entgegen dem Vorbringen der Klägerin auf der Grundlage der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung geprüft hat (60. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), nach denen Venetien nicht zu den Fördergebieten gehöre (61. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), so dass eines der Werke der Klägerin von einer Förderung ausgeschlossen sei. Zu dem zweiten, auf Sardinien ansässigen Werk stellte die Kommission fest, dass diese Region zwar bis zum 31. Dezember 2006 (62. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), nicht mehr jedoch gemäß den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007–2013 (ABl. 2006, C 54, S. 13) Fördergebiet gewesen sei, es sei denn, der Klägerin käme der Übergangszeitraum von zwei Jahren „für den linearen Abbau der bestehenden Betriebsbeihilfen“ zugute (66. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Die Kommission untersuchte daher, ob die Beihilfe notwendig gewesen sei (63. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung) und den regionalen Nachteilen in einem angemessenen Verhältnis entsprochen habe (64. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), und verneinte dies. Darüber hinaus enthalte die Beihilfe real keine degressive Staffelung (65. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), da es insgesamt nicht angebracht sei, „eine Betriebsbeihilfe für wenige Monate einzuführen“ und dann „schrittweise wieder auslaufen zu lassen“, nicht zuletzt „angesichts der bereits geäußerten Zweifel und des wettbewerbsverzerrenden Charakters der Beihilfe“ (66. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Die Kommission äußerte schließlich Zweifel an der Möglichkeit einer Genehmigung des Vorzugstarifs für die Klägerin „als Regionalbeihilfe oder auf einer anderen Rechtsgrundlage“ (67. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
53 Zudem enthält die angefochtene Entscheidung einen ganzen Abschnitt (Ziff. 6.5.1. [„Vereinbarkeit mit den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung (Sardinien)“]), der in 20 Erwägungsgründen den Standpunkt der Kommission zu diesem Thema, insbesondere zur Frage des „Beitrags zur regionalen Entwicklung“ (Ziff. 6.5.1.2 und Erwägungsgründe 232 bis 237 der angefochtenen Entscheidung) zusammenfasst (Erwägungsgründe 220 bis 240).
54 Viertens wird in der angefochtenen Entscheidung auch das VPP-Programm an mehreren Stellen erwähnt. Die Kommission nennt es im Rahmen der zeitlichen Abfolge des Rechtsstreits, wobei sie feststellt, sie habe die „Möglichkeit [zur Einführung]“ dieses Programms erkundet (18. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung) und darüber einen Schriftwechsel mit der Italienischen Republik geführt (Erwägungsgründe 18 bis 20 der angefochtenen Entscheidung). Auch hätten Treffen mit diesem Mitgliedstaat stattgefunden (ebd.). Vor allem enthält die angefochtene Entscheidung einen in zwei Teile gegliederten Abschnitt zu dieser Frage (Ziff. 6.5.3 [„Der Vorschlag eines virtuellen Kraftwerks (Sardinien)]“), in denen es um die „Beschreibung des italienischen VPP“ (Ziff. 6.5.3.1 der angefochtenen Entscheidung) und die „Vereinbarkeit des Tarifs auf der Grundlage des VPP“ (Ziff. 6.5.3.2 der angefochtenen Entscheidung) geht. In diesem Abschnitt (Erwägungsgründe 246 bis 259 der angefochtenen Entscheidung) werden das VPP-Programm sowie die Gründe, aus denen die Kommission „zu der Schlussfolgerung gelangt [ist], dass das VPP im vorliegenden Fall keine hinreichende Grundlage für die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt bildet, weder für einen Übergangszeitraum nach der Einführung des VPP noch für den Zeitraum vor der Einführung des VPP“ (253. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), im Einzelnen dargelegt.
55 Damit enthält die angefochtene Entscheidung, die bei Weitem nicht unvollständig ist, eine ausführliche und aussagekräftige Begründung zu den vier von der Klägerin speziell vorgetragenen Gesichtspunkten, so dass die Klägerin ihr die Gründe für die Entscheidung entnehmen und das Gericht der Europäischen Union seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.
56 Der zweite Teil des sechsten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen. Angesichts der Rücknahme des ersten Teils dieses Klagegrundes ist damit der Klagegrund zurückzuweisen.
57 An dieser Stelle ist der fünfte Klagegrund der Klägerin zu prüfen, da diese Prüfung das Gericht zu einer Klärung der genauen Tragweite der Alumix-Entscheidung veranlassen wird.
Fünfter Klagegrund: Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
58 Die Klägerin macht geltend, dass die Kommission mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung den Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt habe. Es ist darauf hinzuweisen, dass, wie im Übrigen auch die Klägerin einräumt, einige der Argumente, die sie im Rahmen dieses Klagegrundes vorträgt, „dem Gericht bereits im Rahmen der Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung [vom 19. Juli 2006] vorlagen“ (Rn. 225 der Klageschrift) und dass „[es] diesen nicht stattgegeben hat“ (ebd.). Die Klägerin beantragt insbesondere aufgrund der größeren Tragweite dieser Argumente und des Umstands, dass die angefochtene Entscheidung anderer Art sei als die Entscheidung vom 19. Juli 2006, deren Überprüfung. Folglich ist unter Berücksichtigung der Entscheidung des Gerichts und der anschließenden Entscheidung des Gerichtshofs, jedoch ohne Beschränkung darauf, auf die fünf Teile des fünften Klagegrundes einzugehen, mit denen Folgendes geltend gemacht wird: erstens, ein berechtigtes Vertrauen der Italienischen Republik und der Klägerin, dass es sich bei der fraglichen Beihilfe wegen ihrer kontinuierlichen Wirkungen für die Klägerin um eine bestehende und keine neue Beihilfe handele, so dass die angefochtene Entscheidung gegen Art. 88 EG (der von der Klägerin herangezogene Art. 108 AEUV ist in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar) verstoße, zweitens, ein berechtigtes Vertrauen aufgrund des Ausbleibens einer Reaktion der Kommission, die nach Auffassung der Klägerin von der Änderung der Rechtslage nach dem Ablauf der in dem Dekret von 1995 vorgesehenen Frist unterrichtet gewesen sei, auf den Erlass der neuen Vorschriften des italienischen Rechts, wodurch die Klägerin in der Annahme gelassen worden sei, dass die fragliche Beihilfe als bestehende Beihilfe anzusehen sei, drittens, die Unbefristetheit der Alumix-Entscheidung, viertens, das berechtigte Vertrauen aufgrund des Umstands, dass der sich aus dem Dekret von 1995 ergebende Tarif nicht als staatliche Beihilfe betrachtet worden sei, und, fünftens, die Bekräftigung des berechtigten Vertrauens der Klägerin durch die Haltung der Kommission im förmlichen Prüfverfahren, die insbesondere in einem Schreiben vom 19. Januar 2007 zum Ausdruck gekommen sei.
59 Vor der Prüfung der verschiedenen Teile des vorliegenden Klagegrundes ist in Erinnerung zu rufen, was unter dem Grundsatz des berechtigten Vertrauens zu verstehen ist und welche Voraussetzungen für seine Anwendung erfüllt sein müssen.
60 Als fundamentaler Grundsatz des Rechts der Europäischen Union (Urteil des Gerichtshofs vom 14. Oktober 1999, Atlanta/Europäische Gemeinschaft, C-104/97 P, Slg. 1999, I-6983, Rn. 52) ermöglicht es der Grundsatz des Vertrauensschutzes jedem Wirtschaftsteilnehmer, bei dem ein Organ begründete Erwartungen geweckt hat, sich auf diesen Grundsatz zu berufen (Urteile des Gerichtshofs vom 11. März 1987, Van den Bergh en Jurgens und Van Dijk Foods Products [Lopik]/EWG, 265/85, Slg. 1987, 1155, Rn. 44, und vom 24. März 2011, ISD Polska u. a./Kommission, C-369/09 P, Slg. 2011, I-2011, Rn. 123; Urteil des Gerichts vom 27. September 2012, Producteurs de légumes de France/Kommission, T‑328/09, Rn. 18). Ist ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer jedoch in der Lage, den Erlass einer Unionsmaßnahme vorauszusehen, die seine Interessen berühren kann, so kann er sich im Fall ihres Erlasses nicht auf diesen Grundsatz berufen (Urteil des Gerichtshofs vom 1. Februar 1978, Lührs, 78/77, Slg. 1978, 169, Rn. 6, und Urteil vom 25. März 2009, Alcoa Trasformazioni/Kommission, Rn. 102). Der Anspruch auf Vertrauensschutz hängt von drei kumulativen Voraussetzungen ab. Erstens muss die Unionsverwaltung dem Betroffenen präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Zusicherungen von zuständiger und zuverlässiger Seite gegeben haben. Zweitens müssen diese Zusicherungen geeignet sein, bei dem Adressaten begründete Erwartungen zu wecken. Drittens müssen die Zusicherungen im Einklang mit den anwendbaren Rechtsnormen stehen (vgl. Urteil Producteurs de légumes de France/Kommission, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Was insbesondere die Geltung dieses Grundsatzes im Bereich der staatlichen Beihilfen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass angesichts der grundlegenden Rolle, die die Notifizierungspflicht für die Wirksamkeit der Überwachung staatlicher Beihilfen durch die Kommission, bei der es sich um ein zwingendes Erfordernis handelt, spielt, dürfen die von einer Beihilfe begünstigten Unternehmen auf die Ordnungsmäßigkeit der genannten Beihilfe grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Einhaltung des in Art. 88 EG vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde; ein sorgfältiger Wirtschaftsteilnehmer muss regelmäßig in der Lage sein, sich zu vergewissern, dass dieses Verfahren eingehalten wurde. Insbesondere kann der Empfänger einer Beihilfe, die ohne vorherige Anmeldung bei der Kommission durchgeführt wurde, so dass sie gemäß Art. 88 Abs. 3 EG rechtswidrig ist, damit kein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit ihrer Gewährung haben (vgl. in diesem Sinne Urteil Producteurs de légumes de France/Kommission, Rn. 20 und 21 und die dort angeführte Rechtsprechung), es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor (Urteil des Gerichts vom 30. November 2009, Frankreich und France Télécom/Kommission, T-427/04 und T-17/05, Slg. 2009, II-4315, Rn. 263).
62 Angesichts der vorstehenden Erwägungen sind nacheinander der dritte, der zweite, der vierte, der erste und der fünfte Teil des vorliegenden Klagegrundes zu prüfen.
Zum dritten Teil des fünften Klagegrundes: Unbefristetheit der Alumix-Entscheidung
63 Da sich die Kommission mit der Alumix-Entscheidung zur Vereinbarkeit der mit dem Dekret von 1995, dessen Gültigkeit ausdrücklich am 31. Dezember 2005 endete, eingeführten Beihilfe mit dem Gemeinschaftsrecht geäußert hat, konnte ihre Entscheidung keine längere zeitliche Geltung aufweisen als die fragliche Maßnahme. Wie die Kommission in der Klagebeantwortung zutreffend ausführt, findet sich diese Überlegung bereits im Urteil vom 25. März 2009, Alcoa Trasformazioni/Kommission (Rn. 105 und 106). Dieses wurde vom Gerichtshof bestätigt, der befunden hat, dass die Feststellungen der Kommission in der Alumix-Entscheidung der Klägerin keinen berechtigten Anlass zu der Annahme geben konnten, dass sich die Schlussfolgerungen dieser Entscheidung auf den in der Entscheidung vom 19. Juli 2006 geprüften Tarif erstrecken würden (Urteil vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission, Rn. 134) und dass demzufolge das Gericht zu Recht festgestellt hat, dass die Alumix-Entscheidung bei der Klägerin kein berechtigtes Vertrauen auf den Fortbestand der darin enthaltenen Schlussfolgerungen habe hervorrufen können (Urteil vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission, Rn. 135).
64 Daher ist der dritte Teil des fünften Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes: berechtigtes Vertrauen aufgrund des Ausbleibens einer Reaktion der Kommission auf den Erlass der neuen Vorschriften des italienischen Rechts
65 Es ist festzustellen, dass zwar einerseits die Alumix-Entscheidung nur während der Dauer der mit dem Dekret von 1995 eingeführten Beihilfe galt, andererseits aber das Ausbleiben einer Reaktion der Kommission nicht dahin ausgelegt werden kann, dass es bei der Klägerin einen Vertrauensschutz entstehen lassen konnte.
66 Erstens nämlich beruht die Argumentation der Klägerin auf einer falschen Prämisse, da sie vorträgt, die streitigen Vorschriften seien der Kommission bekannt gewesen, während es hier um die Frage geht, ob sie ihr von der Italienischen Republik notifiziert worden waren. In Bezug auf das Dekret von 2004 geht aus der angefochtenen Entscheidung hervor (Erwägungsgründe 1 bis 3 dieser Entscheidung), dass die Italienische Republik der Kommission, die durch eine Reihe von Presseartikeln aufmerksam geworden war, auf deren Ersuchen Auskünfte erteilt hat. Was das Gesetz von 2005 betrifft, ergibt sich aus den Akten auch, dass, wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt, Art. 11 Abs. 11 dieses Gesetzes der Kommission nicht wie sein Art. 11 Abs. 12 notifiziert worden ist, was der Gerichtshof im Übrigen bereits festgestellt hatte (Urteil vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission, Rn. 16). Daher ist die vorstehend in Rn. 61 genannte Rechtsprechung anzuwenden, nach der der Beihilfeempfänger nicht auf die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe vertrauen kann, wenn diese ohne vorherige Notifizierung bei der Kommission durchgeführt wurde.
67 Genauso wenig kann behauptet werden, dass die Kommission untätig gewesen sei, da ihr die fraglichen Informationen im Rahmen der von ihr eingeleiteten Verfahren übermittelt worden sind. Da weder die Untätigkeit noch die Notifizierung nachgewiesen sind, konnte unter diesen Umständen kein Vertrauensschutz aus einer Untätigkeit der Kommission nach einer Notifizierung entstehen.
68 Zweitens fehlt es vorliegend jedenfalls an konkreten, nicht an Bedingungen geknüpften und übereinstimmenden Zusicherungen.
69 Auch der zweite Teil des fünften Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
Zum vierten Teil des fünften Klagegrundes: berechtigtes Vertrauen aufgrund des Umstands, dass der sich aus dem Dekret von 1995 ergebende Tarif nicht als staatliche Beihilfe betrachtet worden sei
70 Aus den Feststellungen im Zusammenhang mit der Prüfung des dritten Teils des fünften Klagegrundes ergibt sich, dass das Dekret von 1995, um das es in der Alumix-Entscheidung ging und das, da es am 31. Dezember 2005 auslief, befristet war, nur für den betreffenden Zeitraum keine staatliche Beihilfe darstellen konnte. Wie der Gerichtshof zu der vom Gericht insoweit vorgenommenen Prüfung festgestellt hat (Urteil vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission, Rn. 135), konnte bei die Klägerin kein berechtigtes Vertrauen auf den Fortbestand der in dieser Entscheidung enthaltenen Schlussfolgerungen geweckt werden.
71 Folglich ist der vierte Teil des fünften Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum ersten Teil des fünften Klagegrundes: berechtigtes Vertrauen, dass es sich bei der fraglichen Beihilfe wegen ihrer kontinuierlichen Wirkungen für die Klägerin um eine bestehende Beihilfe handele
72 Aus der in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung geht hervor, dass ein Wirtschaftsteilnehmer einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes nur geltend machen kann, wenn er hinreichend vorsichtig, aufmerksam und sorgfältig war. Unter diesen Voraussetzungen musste die Klägerin einerseits beachten, dass der Vorzugstarif, der ihr nach dem Dekret von 1995 zugute kam und der als solcher gegenüber dem Normalpreis Ausnahmecharakter hatte, für eine Dauer von zehn Jahren vorgesehen war und sie keineswegs mit seiner Verlängerung rechnen konnte. Andererseits konnte sie das Verfahren zur Bestimmung des Vorzugstarifs, über den sie ursprünglich verfügte, nicht außer Acht lassen und demzufolge auch nicht unberücksichtigt lassen, dass dieser verschiedene Entwicklungen durchlaufen hatte, zu denen die Kommission noch nicht Stellung bezogen hatte. Zudem ist es gerade wegen dieser Entwicklungen falsch, von einer kontinuierlichen Wirkung des durch das Dekret von 1995 eingeführten Vorzugstarifs auszugehen, da dieser mehrere Änderungen, insbesondere aufgrund des Gesetzes von 2005 in seiner Auslegung durch die AEEG eine jährliche, auf 4 % des Tarifs begrenzte Anpassung, erfahren hat (siehe oben, Rn. 6 und Erwägungsgründe 49 und 50 der angefochtenen Entscheidung).
73 Nach alledem konnte die Klägerin als hinreichend vorsichtiger, aufmerksamer und sorgfältiger Wirtschaftsteilnehmer nicht berechtigterweise darauf vertrauen, dass der ursprüngliche Tarif von dauerhafter Wirkung sei und als bestehende Beihilfe angesehen werde, insbesondere da er sich seit der Alumix-Entscheidung erheblich weiterentwickelt hatte, und zwar selbst dann nicht, wenn ihr weiterhin ein Vorzugstarif zugute kam.
74 Der erste Teil des fünften Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
Fünfter Teil des fünften Klagegrundes: Bekräftigung des berechtigten Vertrauens der Klägerin durch die Haltung der Kommission im förmlichen Prüfverfahren, die insbesondere in einem Schreiben vom 19. Januar 2007 zum Ausdruck gekommen sei
75 Dass die Kommission mit Schreiben vom 19. Januar 2007 Gespräche mit der Italienischen Republik (nicht aber mit der Klägerin) über das VPP-Programm aufgenommen hatte (Erwägungsgründe 18 bis 20 der angefochtenen Entscheidung), konnte nicht nur keine Auswirkungen auf den Charakter einer bestehenden Beihilfe haben, den die Klägerin den durch die umstrittenen Vorschriften des italienischen Rechts umgesetzten Maßnahmen zuschreiben lassen wollte, und daher auf den Vertrauensschutz, den sie zu Unrecht auf die Schlussfolgerungen der Kommission in der Alumix-Entscheidung glaubte gründen zu können, sondern konnte vor allem auch, da mit diesem Schreiben Verhandlungen zu möglichen Übergangsmaßnahmen aufgenommen wurden, per definitionem keine konkreten, nicht an Bedingungen geknüpften und übereinstimmenden Zusicherungen darstellen.
76 Daraus folgt, dass der fünfte Teil des fünften Klagegrundes und daher dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen ist.
77 Die weiteren vier Klagegründe werden in der sich aus den Schriftsätzen der Klägerin ergebenden Reihenfolge geprüft.
Zum ersten Klagegrund: rechtswidrige Einstufung als staatliche Beihilfe mangels eines Vorteils für die Klägerin
78 Der erste Klagegrund, mit dem die Klägerin einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV (in Wirklichkeit Art. 87 EG, der in zeitlicher Hinsicht anwendbar war), geltend macht, besteht aus mehreren Teilen, von denen sich der erste auf die Intensität der gerichtlichen Kontrolle im Bereich staatlicher Beihilfen und auf die Begründungspflicht bezieht, die der Kommission in diesem Bereich obliegt. Zu diesem letzten Gesichtspunkt wurde im Rahmen der Prüfung des zweiten Teils des sechsten Klagegrundes festgestellt, dass die angefochtene Entscheidung den Anforderungen von Art. 253 EG entspricht. Was die allgemeinen Überlegungen zur Kontrolle durch das Unionsgericht im Bereich staatlicher Beihilfen betrifft, fehlt es an einer konkreten Rüge, mit der die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung geltend gemacht wird; sie sind daher als ins Leere gehend zurückzuweisen.
79 Der erste Klagegrund lässt sich in Wirklichkeit auf drei Argumente zusammenfassen: Die Kommission hätte von der Anwendbarkeit der in der Alumix-Entscheidung aufgestellten Kriterien ausgehen und daher zum selben Ergebnis wie in dieser Entscheidung, nämlich dem Nichtvorliegen einer staatlichen Beihilfe, gelangen müssen (Abschnitte D und E des ersten Klagegrundes); sie hätte eine ökonomische Wertung vornehmen müssen, um festzustellen, ob ein Vorteil für die Klägerin vorgelegen habe (Abschnitt B des ersten Klagegrundes); dies hätte jedenfalls vorausgesetzt, dass die Kommission ihren Überlegungen einen normal funktionierenden Markt zugrunde gelegt hätte (Abschnitt C des ersten Klagegrundes).
80 Diese drei Kritikpunkte sind nacheinander zu prüfen.
81 Was die Kritik daran betrifft, dass die Kommission die in der Alumix-Entscheidung aufgestellten Kriterien im vorliegenden Fall für unanwendbar gehalten habe, ist klarzustellen, dass es hierbei nicht um eine Frage des zeitlichen Geltungsbereichs dieser Entscheidung geht, auf die im Rahmen der Prüfung des fünften Klagegrundes eingegangen worden ist, sondern um die Frage, ob seitdem wirtschaftliche und rechtliche Änderungen eingetreten sind, die der Wiederholung einer solchen Entscheidung entgegenstünden. Wie die Kommission jedoch zu Recht ausführt, „[ist] eine weiter gehende Änderung als der Übergang von dem Tarif, den ein Lieferant verlangt, zu einem staatlich subventionierten Tarif … kaum vorstellbar“ (Rn. 54 der Klagebeantwortung).
82 Während im ersten Fall der der Klägerin eingeräumte Tarif dem Rabatt entsprechen könnte, den ein Lieferant sogar bei einer Monopolstellung (im vorliegenden Fall dem ENEL-Monopol) einem seiner wichtigsten Kunden eingeräumt hat (vgl. hierzu Erwägungsgründe 36 und 37 der angefochtenen Entscheidung), umfassen die in der angefochtenen Entscheidung fraglichen Maßnahmen einen von den italienischen Behörden festgelegten Preisnachlass, der durch eine steuerähnliche Abgabe finanziert wurde, wodurch der Klägerin der Unterschied zwischen dem den Unternehmen in Rechnung gestellten Normaltarif und dem ihr gewährten Vorzugstarif erstattet werden konnte. Da sich jedoch bereits aus dem eingeführten Vorzugstarif als solchem ergibt, dass der Klägerin der Unterschied zwischen dem Stromtarif, der den Fabriken von ENEL in Rechnung gestellt wird, und dem durch das Dekret von 1995 vorgesehenen Tarif von der Ausgleichskasse aus öffentlichen Mitteln erstattet wurde, steht schon deshalb fest, dass die Werke der Klägerin nicht die Gesamtlasten trugen, die sie normalerweise zu tragen gehabt hätten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. März 2009, Alcoa Trasformazioni/Kommission, Rn. 68, und Urteil vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission, Rn. 83).
83 Die Kommission hat daher rechtsfehlerfrei angenommen, dass die in der Alumix-Entscheidung aufgestellten Kriterien im vorliegenden Fall keine Anwendung finden könnten.
84 Zum zweiten Kritikpunkt ist festzustellen, dass die Kommission, wie bereits im Rahmen der Prüfung des zweiten Teils des sechsten Klagegrundes ausgeführt, zahlreiche die Wirtschaft betreffende Hinweise zur Entwicklung des Marktes (Ende des Monopols) und zu den Eigenheiten der Werke der Klägerin (beispielsweise Analyse des sardischen Strommarktes) gegeben hat. Sie hat daher Art. 87 EG beachtet, wonach die Kommission nachzuweisen hat, dass dem begünstigten Unternehmen ein wirtschaftlicher Vorteil eingeräumt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 6. März 2003, Westdeutsche Landesbank Girozentrale und Land Nordrhein-Westfalen/Kommission, T-228/99 und T-233/99, Slg. 2003, II-435, Rn. 251 und 257, und vom 3. März 2010, Bundesverband deutscher Banken/Kommission, T-163/05, Slg. 2010, II-387, Rn. 98). Da sich bereits aus der Beschreibung des eingeführten Verfahrens ergibt, dass der Klägerin ein Vorteil eingeräumt worden war, brauchte die Kommission dagegen keine weiteren Argumente vorzubringen. Die komplexen ökonomischen Bewertungen, die beispielsweise für die Anwendung des Kriteriums des marktwirtschaftlich handelnden privaten Kapitalgebers erforderlich sind, konnten angesichts eines Ausgleichsverfahrens, das durch eine steuerähnliche Abgabe finanziert wurde, die eine Gesellschaft von der Zahlung eines Teils ihrer Stromkosten befreien sollte, die für die Herstellung der Waren, mit denen sie auf dem Unionsgebiet handelt, erforderlich waren, von keinerlei Nutzen sein. Es bedurfte daher keiner genaueren wirtschaftlichen Analyse durch die Kommission als der in der angefochtenen Entscheidung enthaltenen.
85 Zum dritten Argument der Klägerin, dass die Kommission ihren Überlegungen einen normalen Markt und nicht den bestehenden Markt hätte zugrunde legen müssen, genügt der Hinweis, dass nach ständiger Rechtsprechung eine staatliche Beihilfe als solche und nicht im Hinblick auf Ziele zu beurteilen ist, mit denen beispielsweise ein unzureichender Wettbewerbscharakter eines Marktes beseitigt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2004, Italien/Kommission, C-372/97, Slg. 2004, I-3679, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Der erste Klagegrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Rechtswidrigkeit aufgrund fehlender Bestimmung der Höhe der Beihilfe
87 Es ist hier darauf hinzuweisen, dass die Kommission in der angefochtenen Entscheidung zum einen die in Rede stehende Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und zum anderen ihre teilweise Rückzahlung anordnet. In Bezug auf diesen letzten Gesichtspunkt stellt sich die Frage der Bestimmung der Höhe der Beihilfe.
88 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt keine Vorschrift des Unionsrechts von der Kommission, bei der Anordnung der Rückzahlung einer für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfe den genauen Betrag der zu erstattenden Beihilfe festzusetzen. Es genügt, dass die Entscheidung der Kommission Angaben enthält, die es ihrem Adressaten ermöglichen, diesen Betrag ohne übermäßige Schwierigkeiten selbst zu bestimmen (Urteile des Gerichtshofs vom 12. Oktober 2000, Spanien/Kommission, C-480/98, Slg. 2000, I-8717, Rn. 25, und vom 18. Oktober 2007, Kommission/Frankreich, C-441/06, Slg. 2007, I-8887, Rn. 29; Urteil des Gerichts vom 15. Juni 2010, Mediaset/Kommission, T-177/07, Slg. 2010, II-2341, Rn. 181).
89 Die angefochtene Entscheidung genügt diesen Anforderungen, da sie, wie im Übrigen im Beschluss vom 9. Juli 2010, Alcoa Trasformazioni/Kommission (Rn. 11), festgestellt, ohne den genauen Betrag der zu erstattenden Beihilfe zu nennen, die Methode zur Berechnung dieses Betrags enthält. Dieser entspricht der Differenz zwischen dem vertraglich vereinbarten Preis und dem Vorzugstarif und stimmt damit mit den Ausgleichszahlungen überein, die die Klägerin im fraglichen Zeitraum erhalten hat (285. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Art. 1 der angefochtenen Entscheidung nimmt ausdrücklich auf diesen Erwägungsgrund Bezug. In Art. 2 dieser Entscheidung wird klargestellt, dass dieser Betrag zu verzinsen sei, und es werden die Modalitäten der Zinsberechnung festgelegt. Aus der Prüfung dieser Vorschrift ergibt sich schließlich, dass die Kommission in Bezug auf das Werk auf Sardinien auf die Rückzahlung der Beihilfe für die Zeit vom 19. Januar 2007 bis zum 19. November 2009 verzichtet hat.
90 Somit ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: fehlerhafte Einstufung als Betriebsbeihilfe, hilfsweise, Förderfähigkeit einer solchen Beihilfe nach den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung
91 Es ist bereits an dieser Stelle auf die Beschränkung des dritten Klagegrundes hinzuweisen, der, da Venetien keine Region ist, die für die Gewährung staatlicher Beihilfen mit regionaler Zielsetzung nach Art. 87 Abs. 3 Buchst. a EG in Betracht kommt, nur das Werk auf Sardinien betrifft. Die Kommission führt in der angefochtenen Entscheidung (240. Erwägungsgrund dieser Entscheidung) und in der Klagebeantwortung aus, dass Sardinien von Ende 2006 an nicht mehr als Fördergebiet gegolten habe. Folglich sind die beiden Teile des dritten Klagegrundes nur insoweit zu prüfen, als damit die Rechtswidrigkeit der Beihilfe für das Werk auf Sardinien in der Zeit vor diesem Zeitpunkt gerügt wird.
Fehlerhafte Einstufung der fraglichen Beihilfe als Betriebsbeihilfe
92 Die Klägerin macht im Rahmen ihrer Zweifel an der Analyse der Kommission, die fragliche Beihilfe sei mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, geltend, es habe sich nicht um eine Betriebsbeihilfe gehandelt, die als solche vom Anwendungsbereich der Leitlinien hinsichtlich der staatlichen Beihilfen mit regionaler Zielsetzung grundsätzlich ausgeschlossen sei (Ziff. 4.14 bis 4.17 der genannten Leitlinien). Sie beruft sich u. a. auf den temporären Charakter der betreffenden Maßnahme und auf deren im Wesentlichen regionale Zielsetzung. Dieses Argument vermag jedoch nicht zu überzeugen. Zum einen kam der Klägerin nämlich 15 Jahre lang ein Vorzugstarif zugute (seit Inkrafttreten des Dekrets von 1995 bis zur Bekanntgabe der angefochtenen Entscheidung, insbesondere ihres Art. 4, nach dem die Italienische Republik alle ausstehenden Zahlungen für die fragliche Beihilfe einzustellen hatte). Zum anderen betraf der Vorzugstarif nicht nur Sardinien, sondern auch Venetien. Jedenfalls sind nach ständiger Rechtsprechung Betriebsbeihilfen Beihilfen, mit denen ein Unternehmen von den Kosten befreit werden soll, die es normalerweise im Rahmen seiner laufenden Verwaltung oder seiner üblichen Tätigkeit hätte tragen müssen (Urteile des Gerichtshofs vom 19. September 2000, Deutschland/Kommission, C-156/98, Slg. 2000, I-6857, Rn. 30, und vom 21. Juli 2011, Freistaat Sachsen und Land Sachsen-Anhalt/Kommission, C‑459/10 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 34; Urteil Kronoply/Kommission, Rn. 75). Demnach war die fragliche Beihilfe, mit deren Hilfe die Klägerin die Kosten für ihren Stromverbrauch, der definitionsgemäß Teil ihrer laufenden Verwaltung war, verringern konnte, sehr wohl eine Betriebsbeihilfe. Dies gilt umso mehr, als der Stromerwerb für die Klägerin von wesentlicher Bedeutung war, da die Gewinnung von Primäraluminium besonders energieaufwändig ist (74. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
93 Der erste Teil des dritten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
Hilfsweise, Förderfähigkeit der fraglichen Beihilfe nach den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung
94 Auch Betriebsbeihilfen konnten ausnahmsweise als Beihilfen zur Förderung bestimmter Gebiete nach Art. 87 Abs. 3 Buchst. a EG zugelassen werden, vorausgesetzt, dass sie aufgrund ihres Beitrags zur Regionalentwicklung und ihrer Art gerechtfertigt waren und ihre Höhe den auszugleichenden Nachteilen entsprach. Diese Beihilfen mussten zeitlich begrenzt und degressiv gestaffelt sein. Die Klägerin macht hilfsweise geltend, die Kommission hätte daher in Bezug auf ihr Werk auf Sardinien die Beihilfe für förderfähig erklären müssen. Dieses Vorbringen kann nicht durchgreifen.
95 Zunächst – und schon aus diesem Grund konnte die Kommission es ablehnen, die Förderfähigkeit der in Rede stehenden Beihilfe gemäß den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung zu bejahen – war die fragliche Beihilfe, auch wenn die Tariferhöhung auf 4 % begrenzt war, nicht degressiv gestaffelt (Erwägungsgründe 65 und 239 der angefochtenen Entscheidung). Der Ausgleichsbetrag, der dem Begünstigten des Vorzugstarifs zugute kommt, wird nämlich nicht bereits durch die Anhebung des Nominalbetrags dieses Tarifs bis zu einer Obergrenze herabgesetzt, da die tatsächlichen Stromkosten für den Wirtschaftsteilnehmer über dem Preis bleiben können, den er diesem Begünstigten aufgrund des selbst um 4 % angehobenen Vorzugstarifs in Rechnung stellt. Folglich war, wie die Kommission zutreffend und insoweit unbestritten festgestellt hat, der Vorzugstarif nur dann degressiv, wenn die Nettodurchschnittspreise in der Union real gesunken sind, in allen anderen Fällen aber progressiv.
96 Ferner gab die Kommission völlig überzeugend die Gründe an, weshalb die fragliche Beihilfe nicht dauerhaft zur regionalen Entwicklung beitrage. So hat sie in den Erwägungsgründen 235 und 236 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt, die Klägerin habe selbst darauf hingewiesen, dass das Werk auf Sardinien ohne die Begünstigung durch den Vorzugstarif nicht tragfähig wäre, und dargetan, dass der ihr eingeräumte Preis selbst dann, wenn man die Auswirkungen berücksichtigte, die die Durchführung der neuen Infrastrukturprojekte (eine Gasleitung und ein Hochspannungs-Seekabel) auf den Marktpreis haben werde, demjenigen entspreche, der im übrigen Italien verlangt werde, aber in keiner Weise den Preis von 30 Euro/MWh erreichen könnte, der „notwendig ist, damit der Betrieb einer Aluminiumhütte wirtschaftlich ist“ (235. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). So hing das Werk der Klägerin, das weit davon entfernt war, dank der Beihilfe der Motor für eine künftige Entwicklung der Insel zu werden, selbst vollständig von dem Vorzugstarif ab.
97 Da schließlich die Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung verlangen, dass die Beihilfe, um förderfähig zu sein, in angemessenem Verhältnis zu den auszugleichenden Nachteilen steht, hat die Kommission geprüft, ob der Vorzugstarif der festzustellenden Spreizung für andere Kunden zwischen Sardinien und dem italienischen Festland entsprach. Sie hat jedoch festgestellt, dass die der Klägerin gewährte Unterstützung erheblich höher sei als jede sonst festzustellende Spreizung (238. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Unter diesen Umständen kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Beihilfe verhältnismäßig und daher förderfähig gewesen sei.
98 Da diese Kriterien nicht erfüllt waren, ist die Kommission zu Recht davon ausgegangen, dass dies gemäß den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung der Förderfähigkeit des Vorzugstarifs auf Sardinen entgegenstehe.
99 Daraus folgt, dass der zweite Teil des dritten Klagegrundes und somit der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen ist.
Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 AEUV in Bezug auf das VPP-Programm
100 Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Kommission mit dem Schreiben vom 19. Januar 2007 und allgemeiner mit ihrer Haltung in der Frage der Bewertung des VPP-Programms einen schweren und offensichtlichen Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und gegen Art. 107 Abs. 3 AEUV (in Wirklichkeit in Anbetracht des Zeitpunkts des Erlasses der angefochtenen Entscheidung Art. 87 Abs. 3 EG) begangen hat.
101 Zunächst ist festzustellen, dass zu den Garantien, die durch die Unionsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt werden, insbesondere der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung gehört, der die Verpflichtung umfasst, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen (Urteil des Gerichtshofs vom 21. November 1991, Technische Universität München, C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14, und Urteil des Gerichts vom 23. September 2009, Estland/Kommission, T-263/07, Slg. 2009, II-3463, Rn. 99).
102 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 281. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung erkannt hat, dass die Länge der 2007 aufgenommenen Diskussion um das VPP-Programm „nicht mit dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung im Einklang stand und das Verhalten des Begünstigten im Verlauf der Untersuchung beeinflusst hat“, obwohl sie zum großen Teil der späten Reaktion der Italienischen Republik auf den Vorschlag geschuldet gewesen sei.
103 Auch wenn das Gericht in keiner Weise durch die Beurteilung, die die Kommission von ihrem eigenen Verhalten haben kann, gebunden ist und seine eigene Kontrolle über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung ausüben kann, ist es jedoch im Rahmen dieser Kontrolle sowohl durch den Antrag als auch den genauen Gegenstand der angefochtenen Entscheidung gebunden.
104 Soweit der Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung in der Unschlüssigkeit der Kommission und ihrer zögernden Umsetzung des VPP-Programms für das Werk der Klägerin auf Sardinien besteht, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission es für angebracht gehalten hat, „für die Anlage auf Sardinien bezogen auf den Zeitraum zwischen dem Schreiben vom 19. Januar 2007 und dem Datum der [angefochtenen] Entscheidung keine Rückforderung vorzuschreiben“ (282. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Art. 2 Abs. 1 der angefochtenen Entscheidung ist Ausdruck dieser Beurteilung. Folglich ist der Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung insoweit als teilweise ins Leere gehend zurückzuweisen, als er die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Frage der Vereinbarkeit der fraglichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt nicht betreffen kann und keine Auswirkungen auf die Höhe der Beihilfe hat, deren Rückforderung von der Kommission für den Zeitraum nach am 18. Januar 2007 in Bezug auf das Werk auf Sardinien angeordnet worden ist.
105 Gleichwohl lässt sich aus diesem Klagegrund ablesen, dass die Klägerin ihn unter der Überschrift „Durchführung des Verwaltungsverfahrens durch die Kommission“ in einem weiteren Sinne versteht, wobei sie sich insbesondere auf die Zurückhaltung beruft, die sich aus einer Gegenüberstellung folgender Faktoren ergebe,:
—
dem Inhalt der Alumix-Entscheidung, in der die Kommission die mit dem Dekret von 1995 eingeführten Maßnahmen nicht als staatliche Beihilfe angesehen habe;
—
der Untätigkeit der Kommission, nachdem sie von den Änderungen der ursprünglichen Beihilfe erfahren habe;
—
dem Umstand, dass die Kommission in Bezug auf das Dekret von 2004 eine Untersuchung gegenüber den neuen Begünstigten des Vorzugstarifs, nicht aber gegenüber der Klägerin eingeleitet habe;
—
der Annahme der Entscheidung vom 19. Juli 2006;
—
der Annahme der angefochtenen Entscheidung unter Aufgabe eines möglichen VPP-Programms.
106 Gleichgültig ob getrennt oder zusammen betrachtet, können diese unterschiedlichen Faktoren keinen Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung ergeben. Erstens ist nämlich festgestellt worden, dass die Klägerin aus der Alumix-Entscheidung nicht schließen konnte, dass deren Anwendungsbereich über die zehn Jahre hinausgehe, die das Dekret von 1995 für die Gewährung des ihr eingeräumten Vorzugstarifs vorgesehen hat. Zweitens kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung nicht beachtet zu haben, wenn sie aufgrund eines ausschließlich einem Dritten zuzurechnenden Verhaltens an einer ordnungsgemäßen Verwaltung gehindert war. Im vorliegenden Fall konnte die Kommission jedoch unstreitig aus dem Grund, dass die Italienische Republik das Dekret von 2004 und Art. 11 Abs. 11 des Gesetzes von 2005 nicht notifiziert und sich damit rechtswidrig verhalten hat, nicht in der Weise Stellung nehmen, wie sie es bei Beachtung des Notifikationsverfahrens für staatliche Beihilfen hätte tun müssen. Zudem war die Kommission, wie vorstehend in den Rn. 65 bis 67 ausgeführt, nach dem Erlass der neuen Vorschriften durch die italienischen Stellen nicht untätig, sondern hat diese um die ihr erforderlich erscheinenden Informationen ersucht. Drittens hat sowohl das Gericht als auch der Gerichtshof festgestellt, dass die Entscheidung vom 19. Juli 2006 auch in Bezug auf die unterschiedliche Behandlung zwischen der Klägerin auf der einen und den in dem Dekret von 2004 genannten neuen Begünstigten eines Vorzugstarifs auf der anderen Seite rechtmäßig ist. Viertens wurde in der vorstehenden Rn. 104 festgestellt, dass die Kommission im Hinblick auf die Verzögerung, die durch die Aufnahme der Diskussion über das VPP-Programm und sodann dessen Aufgabe verursacht worden sei, davon ausging, dies durch Verzicht auf die Rückforderung des entsprechenden Beihilfebetrags selbst berücksichtigen zu müssen, was sicherlich keine schlechte Verwaltungsmaßnahme darstellen konnte.
107 Was schließlich den vermeintlichen Verstoß gegen Art. 87 Abs. 3 EG wegen der von der Kommission unterlassenen Prüfung der Wirkungen des VPP-Programms auf Sardinien betrifft, ist festzustellen, dass die Kommission in der angefochtenen Entscheidung zu Recht davon ausgegangen ist, dass dieses Programm weder für einen Übergangszeitraum nach der Einführung des VPP-Programms auf Sardinien, noch für den Zeitraum vor seiner Einführung eine hinreichende Grundlage für die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt bilde (253. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Sardinien galt nämlich von Ende 2006 an nicht mehr als förderfähiges Gebiet im Sinne dieser Bestimmung, und da die Diskussion zwischen der Kommission und der Italienischen Republik Anfang 2007 aufgenommen wurde, konnte Art. 87 Abs. 3 EG nicht dadurch verletzt werden, dass die Kommission dieses Programm nicht mehr berücksichtigte, zumal nach dem in Art. 87 Abs. 1 EG aufgestellten allgemeinen Grundsatz staatliche Beihilfen verboten und Ausnahmen von diesem Grundsatz eng auszulegen sind (Urteile des Gerichtshofs vom 29. April 2004, Deutschland/Kommission, C-277/00, Slg. 2004, I-3925, Rn. 20, und vom 23. Februar 2006, Atzeni u. a., C-346/03 und C-529/03, Slg. 2006, I-1875, Rn. 79; Urteil des Gerichts vom 2. Dezember 2008, Nuova Agricast und Cofra/Kommission, T‑362/05 und T‑363/05, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 80).
108 Nach alledem kann auch der vierte Klagegrund nur zurückgewiesen werden.
109 Da keinem der sechs Klagegründe stattgegeben worden ist, ist die Klage insgesamt zurückzuweisen.
Kosten
110 Da die Kommission beantragt hat, der Klägerin die Kosten aufzuerlegen und die Klägerin unterlegen ist, sind ihr nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen. Nach Art. 87 § 4 der Verfahrensordnung hat die dem Rechtsstreit als Streithelferin beigetretene Italienische Republik ihre eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Alcoa Trasformazioni Srl trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten, die der Europäischen Kommission entstanden sind, einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
3. Die Italienische Republik trägt ihre eigenen Kosten.
Gratsias
Kancheva
Wetter
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Oktober 2014.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 23. September 2014.#Vadzim Ipatau gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen – Beschränkungen der Einreise in und der Durchreise durch das Unionsgebiet – Nichtigkeitsklage – Rechtsbehelfsfrist – Zulässigkeit – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Ermessensfehler.#Rechtssache T‑646/11.
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62011TJ0646
|
ECLI:EU:T:2014:800
| 2014-09-23T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62011TJ0646 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 14. Juli 2014. # NIIT Insurance Technologies Ltd gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM). # Gemeinschaftsmarke - Anmeldung der Gemeinschaftswortmarke SUBSCRIBE - Absolutes Eintragungshindernis - Fehlende Unterscheidungskraft - Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 - Gleichbehandlung - Art. 56 AEUV. # Rechtssache T-404/13.
|
62013TJ0404
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ECLI:EU:T:2014:645
| 2014-07-14T00:00:00 |
Gericht
|
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 21. Mai 2014.#Toshiba Corp. gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Markt für Leistungstransformatoren – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird – Marktaufteilungsvereinbarung – Beweis für eine Distanzierung vom Kartell – Einschränkung des Wettbewerbs – Beeinträchtigung des Handels – Zugangsschranken – Geldbußen – Grundbetrag – Referenzjahr – Nr. 18 der Leitlinien von 2006 für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Heranziehung eines fiktiven Marktanteils auf dem Markt des EWR.#Rechtssache T‑519/09.
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62009TJ0519
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ECLI:EU:T:2014:263
| 2014-05-21T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62009TJ0519 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 30. April 2014.#Moritz Hagenmeyer und Andreas Hahn gegen Europäische Kommission.#Verbraucherschutz – Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 – Gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel – Nichtzulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos – Nennung eines Risikofaktors – Rechtmäßigkeit des Verfahrens für die Zulassung von Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos – Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Unmittelbare und individuelle Betroffenheit – Zulässigkeit – Verhältnismäßigkeit – Begründungspflicht.#Rechtssache T‑17/12.
|
62012TJ0017
|
ECLI:EU:T:2014:234
| 2014-04-30T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62012TJ0017
URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)
30. April 2014 (*1)
„Verbraucherschutz — Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 — Gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel — Nichtzulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos — Nennung eines Risikofaktors — Rechtmäßigkeit des Verfahrens für die Zulassung von Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos — Nichtigkeitsklage — Rechtsschutzinteresse — Unmittelbare und individuelle Betroffenheit — Zulässigkeit — Verhältnismäßigkeit — Begründungspflicht“
In der Rechtssache T‑17/12
Moritz Hagenmeyer, wohnhaft in Hamburg (Deutschland),
Andreas Hahn, wohnhaft in Hannover (Deutschland),
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt T. Teufer,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch I. Šulce, Z. Kupčová und M. Simm als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
wegen teilweiser Nichtigerklärung der Verordnung (EU) Nr. 1170/2011 der Kommission vom 16. November 2011 über die Nichtzulassung bestimmter gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel betreffend die Verringerung eines Krankheitsrisikos (ABl. L 299, S. 1)
erlässt
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Dittrich (Berichterstatter), des Richters J. Schwarcz und der Richterin V. Tomljenović,
Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2014
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Der Kläger Moritz Hagenmeyer ist Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter für Lebensmittelrecht an der Leibniz Universität Hannover (Deutschland); der Kläger Andreas Hahn ist Professor für Lebensmittelwissenschaft und Humanernährung an dieser Universität.
2 Am 11. Februar 2008 beantragten die Kläger gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (ABl. L 404, S. 9) in der zuletzt durch die Verordnung (EU) Nr. 116/2010 der Kommission vom 9. Februar 2010 (ABl. L 37, S. 16) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1924/2006) bei der zuständigen deutschen Behörde, dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (im Folgenden: Bundesamt), die Zulassung folgender Angabe über die Verringerung eines Krankheitsrisikos: „Regelmäßiger Verzehr signifikanter Mengen von Wasser kann das Risiko für die Entwicklung von Dehydratation und damit einhergehendem Leistungsabfall deutlich senken“ (im Folgenden: in Rede stehende Angabe). Der Antrag erstreckte sich auch auf jede Angabe, die für den Verbraucher voraussichtlich dieselbe Bedeutung hat.
3 Am 10. März 2008 übersandten die Kläger dem Bundesamt den Zulassungsantrag erneut, nachdem sie von diesem am 29. Februar 2008 auf eine Sachstandsanfrage informiert worden waren, dass der am 11. Februar 2008 übermittelte Antrag im zuständigen Referat des Bundesamts nicht aufzufinden sei.
4 Mit Schreiben vom 8. Mai 2008 bestätigte das Bundesamt den Eingang des am 11. Februar 2008 übermittelten Antrags.
5 Mit Schreiben vom 21. Juli 2008 wies das Bundesamt den ersten Kläger darauf hin, dass die Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 18. April 2008 die Verordnung (EG) Nr. 353/2008 zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen für Anträge auf Zulassung gesundheitsbezogener Angaben gemäß Artikel 15 der Verordnung Nr. 1924/2006 (ABl. L 109, S. 11) erlassen habe, und ersuchte ihn, den Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe unter Verwendung der von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hierfür herausgegebenen Vorlagen erneut einzureichen.
6 Mit Schreiben vom 21. August 2008 an das Bundesamt lehnten es die Kläger ab, ihren Antrag unter Verwendung der von der EFSA herausgegebenen Vorlagen erneut einzureichen, und beantragten die unverzügliche Weiterleitung ihres Antrags an die EFSA.
7 Mit Schreiben vom 15. September 2008 leitete das Bundesamt den Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe an die EFSA zur Stellungnahme gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 1924/2006 weiter.
8 Auf ein Schreiben der Kläger vom 20. Oktober 2008, in dem sich diese nach den Gründen für die zwischen der Einreichung ihres Antrags und seiner Weiterleitung an die EFSA liegende Zeitspanne erkundigten, wies das Bundesamt den ersten Kläger mit Schreiben vom 11. November 2008 darauf hin, dass es dazu angehalten sei, nur vollständige und gültige Anträge an die EFSA weiterzuleiten, und dass durch die formalen Vorgaben und den zwischenzeitlichen Erlass von Durchführungsvorschriften ein zeitlicher Mehraufwand im Rahmen der Prüfung der Anträge entstanden sei.
9 Mit Schreiben vom 10. November 2008 teilte das Bundesamt dem ersten Kläger mit, die EFSA habe gegenüber dem Bundesamt Zweifel geäußert, ob der Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe in den Anwendungsbereich von Art. 14 der Verordnung Nr. 1924/2006 falle, da weder unmittelbar noch mittelbar ein Bezug zu einer Krankheit hergestellt worden sei. Außerdem wies das Bundesamt darauf hin, dass es für die sachgerechte Prüfung des in Rede stehenden Antrags durch die EFSA erforderlich sei, in den Antragsunterlagen den wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen einem Risikofaktor und einem oder mehreren Krankheitsbildern zu benennen.
10 Nachdem die Kläger mit Schreiben vom 28. November 2008 dem Bundesamt mitgeteilt hatten, dass der Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe die Krankheit „Dehydratation und damit einhergehender Leistungsabfall“ betreffe, antwortete dieses mit Schreiben vom 18. Dezember 2008, dass für die Weiterleitung des in Rede stehenden Antrags noch die Nennung eines Risikofaktors erforderlich sei.
11 Mit Schreiben vom 10. Februar 2009 teilten die Kläger dem Bundesamt mit, dass die Nennung eines Risikofaktors nicht erforderlich sei; als solcher könne aber bei richtigem Verständnis der in Rede stehenden Angabe die Verringerung des Wassergehalts im Gewebe gelten. Zudem wiesen die Kläger darauf hin, dass der Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe sich auf jede Angabe beziehe, die für den Verbraucher voraussichtlich dieselbe Bedeutung habe, und schlugen andere Formulierungen der in Rede stehenden Angabe vor, in denen der Wasserverlust im Gewebe als Risikofaktor genannt wurde.
12 Mit Schreiben vom 20. März 2009 übermittelte das Bundesamt der EFSA die Schreiben der Kläger vom 28. November 2008 und 10. Februar 2009.
13 Auf Sachstandsanfragen und auf die Schreiben der Kläger vom 15. Juni 2009, 27. Juli 2009, 15. Oktober 2009 und 15. Januar 2010 antwortete die EFSA mit Schreiben vom 21. Juli 2009, 23. September 2009, 23. November 2009 und 27. Januar 2010, dass vor der wissenschaftlichen Bewertung der in Rede stehenden Angabe von der Kommission und den Mitgliedstaaten Auslegungsfragen bezüglich der anzuwendenden Bestimmungen zu klären seien.
14 Mit Schreiben vom 9. Juli 2010 teilte die Kommission dem ersten Kläger mit, aus Gesprächen der informellen Arbeitsgruppe für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben am 12. April 2010 ergebe sich, dass der Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 entspreche, weil im Antrag kein Risikofaktor genannt werde.
15 In Erwiderung auf das Schreiben der EFSA vom 1. Oktober 2010, mit dem die Kläger aufgefordert worden waren, den Risikofaktor anzugeben, auf den eingewirkt werde, um das Krankheitsrisiko zu verringern, hielten die Kläger mit Schreiben vom 25. Oktober 2010 an der in ihrem Schreiben vom 10. Februar 2009 vertretenen Auffassung fest.
16 Am 28. Januar 2011 gab die EFSA gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 1924/2006 ihre wissenschaftliche Stellungnahme zu der Frage ab, ob die beantragte Angabe als abgesichert gelten könne. In dieser Stellungnahme kam die EFSA zu dem Ergebnis, dass es sich bei den von den Klägern genannten Risikofaktoren um Messgrößen für Wassermangel und somit um Bestimmungsgrößen für die Krankheit handle. Deshalb entspreche die in Rede stehende Angabe nicht den Erfordernissen einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos nach Art. 14 der Verordnung Nr. 1924/2006.
17 Am 16. Februar 2011 wurde die wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 veröffentlicht. Innerhalb von 30 Tagen nach dieser Veröffentlichung reichten die Kläger sowie interessierte Dritte gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 bei der Kommission Bemerkungen zur wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA ein.
18 Am 28. April 2011 unterbreitete die Kommission dem Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit (im Folgenden: Ausschuss), der durch Art. 58 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der EFSA und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31, S. 1) eingerichtet worden war, einen Entwurf für eine Verordnung über die Nichtzulassung bestimmter gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel betreffend die Reduzierung eines Krankheitsrisikos, darunter der in Rede stehenden Angabe.
19 Am 30. Juni 2011 legte die EFSA der Kommission einen von dieser angeforderten technischen Report vor, mit dem auf Bemerkungen geantwortet wurde, die nach Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 von interessierten Dritten abgegeben worden waren.
20 Am 11. Juli 2011 sprach sich der Ausschuss in dem durch Art. 17 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1924/2006 vorgesehenen Regelungsverfahren mit Kontrolle einstimmig für die Annahme des Verordnungsentwurfs der Kommission aus, und am 26. Juli 2011 wurde dieser Entwurf dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union zur Kontrolle vorgelegt; diese erhoben keinen Widerspruch.
21 Am 16. November 2011 erließ die Kommission die Verordnung (EU) Nr. 1170/2011 über die Nichtzulassung bestimmter gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel betreffend die Verringerung eines Krankheitsrisikos (ABl. L 299, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung). Nach Art. 1 in Verbindung mit dem Anhang dieser Verordnung wird die in Rede stehende Angabe nicht in die Liste der zugelassenen Angaben der Europäischen Union gemäß Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 aufgenommen. Zur Begründung dieser Ablehnung der Zulassung führte die Kommission im sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 und auf die wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA insbesondere aus, dass die in Rede stehende Angabe nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 entspreche und nicht zugelassen werden sollte, da die Senkung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit nicht nachgewiesen worden sei.
22 Mit Schreiben vom 28. November 2011 teilte die Kommission den Klägern ihre in der angefochtenen Verordnung enthaltene endgültige Entscheidung über den Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe mit.
Verfahren und Anträge der Parteien
23 Mit Klageschrift, die am 16. Januar 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben.
24 Mit besonderem Schriftsatz, der am 30. März 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Am 14. Mai 2012 haben die Kläger ihre Stellungnahme zu der Unzulässigkeitseinrede eingereicht.
25 Mit Schriftsatz, der am 16. April 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rat beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Am 16. Mai 2012 hat der Präsident der Siebten Kammer des Gerichts entschieden, die Behandlung des Streithilfeantrags bis zur Entscheidung über die Unzulässigkeitseinrede auszusetzen.
26 Mit Beschluss des Gerichts (Siebte Kammer) vom 23. November 2012 ist die Entscheidung über die Unzulässigkeitseinrede und über die Kosten dem Endurteil vorbehalten worden.
27 Mit Beschluss des Präsidenten der Siebten Kammer des Gerichts vom 4. Februar 2013 ist dem Streithilfeantrag des Rates nach Anhörung der Parteien stattgegeben worden. Der Rat hat seinen Streithilfeschriftsatz am 15. März 2013 eingereicht. Die Kläger haben dazu mit Schriftsatz, der am 17. Mai 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, Stellung genommen. Die Kommission hat zum Streithilfeschriftsatz nicht Stellung genommen.
28 Infolge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Fünften Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb zugewiesen worden ist.
29 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Fünfte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
30 Die Parteien haben in der Sitzung vom 15. Januar 2014 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. In dieser Sitzung hat die Kommission ihren Erledigungsantrag zurückgenommen, was im Sitzungsprotokoll vermerkt worden ist.
31 Die Kläger beantragen,
—
die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie die in Rede stehende Angabe betrifft;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
32 Die Kommission beantragt,
—
die Klage als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen;
—
den Klägern die Kosten aufzuerlegen.
33 Der Rat beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
dementsprechend die Kosten zu regeln.
Entscheidungsgründe
34 Vor einer Prüfung des Vorbringens der Parteien zur Begründetheit ist auf die Unzulässigkeitseinrede der Kommission einzugehen.
Zur Zulässigkeit
35 Die Kommission stützt ihre Unzulässigkeitseinrede auf zwei Unzulässigkeitsgründe. Erstens fehle den Klägern das Rechtsschutzinteresse, und zweitens seien sie nicht klagebefugt, weil sie von der angefochtenen Verordnung weder unmittelbar noch individuell betroffen seien.
Zum ersten Unzulässigkeitsgrund: fehlendes Rechtsschutzinteresse
36 Die Kommission macht geltend, den Klägern fehle ein Rechtsschutzinteresse, weil die in Rede stehende Angabe nur aus einem akademischen Interesse an der Verordnung Nr. 1924/2006 erfunden worden sei. Dies ergebe sich zum einen daraus, dass die Kläger das Verwaltungsverfahren zu der in Rede stehenden Angabe unter Berufung auf ihre potenzielle Tätigkeit als Lebensmittelunternehmer oder als potenzielle Vertreter von Lebensmittelunternehmern betrieben hätten, und zum anderen daraus, dass sie bei der öffentlichen Vorstellung dieses Verwaltungsverfahrens in einer Fachzeitschrift ausgeführt hätten, die Möglichkeit, eine Zulassung zu beantragen, sei durch die Verordnung Nr. 1924/2006 jedem Menschen auf der ganzen Welt geschaffen worden. Selbst wenn jedermann ein Verfahren zur Zulassung einer Angabe im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 einleiten könne, folge daraus nicht, dass auch jedermann ein Interesse daran habe, die Nichtigerklärung einer Verordnung zu erwirken, mit der ein Antrag auf Aufnahme einer Angabe in die Liste der zugelassenen Angaben gemäß dieser Bestimmung abgelehnt werde. Das Rechtsschutzinteresse ergebe sich insbesondere nicht daraus, dass die Kläger die Zulassung der in Rede stehenden Angabe beantragt hätten und dass das Verwaltungsverfahren mit dem Erlass der angefochtenen Verordnung beendet worden sei.
37 Die Kläger tragen vor, sie hätten ein Rechtsschutzinteresse aufgrund ihres Rechts aus Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006, die Zulassung der in Rede stehenden Angabe zu beantragen. Sie hätten ein unmittelbares eigenes rechtliches Interesse, das auch wirtschaftlich verwertet werden könne. Zudem stehe ihnen kein anderes Mittel des Rechtsschutzes zur Verfügung, um die angefochtene Verordnung aus der Welt zu schaffen, mit der die Kommission ihren Zulassungsantrag nach sachlicher Auseinandersetzung abgelehnt habe. Es sei irrelevant, ob sie Lebensmittelunternehmer seien oder Lebensmittelunternehmer verträten. Sie könnten jederzeit nach Zulassung ihrer beantragten gesundheitsbezogenen Angabe Lebensmittelunternehmer werden bzw. mit Lebensmittelunternehmern zusammenarbeiten, um die Angabe kommerziell zu verwerten. Das Interesse der Kläger bestehe darin, die gesundheitsbezogene Angabe zur Zulassung zu bringen, sie selbst zu nutzen und sie zugleich für andere nutzbar zu machen.
38 Nach ständiger Rechtsprechung muss das Rechtsschutzinteresse eines Klägers im Hinblick auf den Klagegegenstand bei Klageerhebung gegeben sein; andernfalls ist die Klage unzulässig. Ebenso wie das Rechtsschutzinteresse muss auch der Streitgegenstand bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen – andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt –, was voraussetzt, dass die Klage der Partei, die sie erhoben hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 17. April 2008, Flaherty u. a./Kommission, C-373/06 P, C-379/06 P und C-382/06 P, Slg. 2008, I-2649, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung) und dass diese Partei ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung nachweist (vgl. Urteil des Gerichts vom 19. Juni 2009, Socratec/Kommission, T‑269/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieses Erfordernis stellt auf verfahrensrechtlicher Ebene sicher, dass der Unionsrichter nicht zur Erstattung von Gutachten oder wegen rein theoretischer Fragen angerufen wird (Urteil Socratec/Kommission, Rn. 38).
39 Aus der Rechtsprechung ergibt sich ferner, dass der Kläger selbst sein Rechtsschutzinteresse, das die wesentliche Grundvoraussetzung für jede Klage darstellt, nachweisen muss (Beschluss des Präsidenten der Zweiten Kammer des Gerichtshofs vom 31. Juli 1989, S./Kommission, 206/89 R, Slg. 1989, 2841, Rn. 8; Urteil des Gerichts vom 14. April 2005, Sniace/Kommission, T-141/03, Slg. 2005, II-1197, Rn. 31). Zudem muss er, wenn das von ihm geltend gemachte Interesse eine zukünftige Rechtssituation betrifft, nachweisen, dass deren Beeinträchtigung bereits feststeht. Ein Kläger kann somit zur Rechtfertigung seines Interesses an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung keine zukünftigen und ungewissen Situationen anführen (Urteile des Gerichts vom 17. September 1992, NBV und NVB/Kommission, T-138/89, Slg. 1992, II-2181, Rn. 33, und Sniace/Kommission, Rn. 26).
40 Es ist festzustellen, dass die angefochtene Verordnung, wie von den Klägern vorgetragen, hybrider Natur ist. Sie hat nämlich in Bezug auf alle Lebensmittelunternehmer normativen Charakter und in Bezug auf diejenigen, die die Zulassung beantragt haben, Entscheidungscharakter.
41 Zum einen soll mit der angefochtenen Verordnung durch die Nichtaufnahme der in Rede stehenden Angabe in die Unionsliste zulässiger Angaben gemäß Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 allen Lebensmittelunternehmern die Verwendung dieser Angabe verboten werden. Die Verordnung Nr. 1924/2006 gilt nämlich, wie aus ihrem Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 1 hervorgeht, für Angaben, die in kommerziellen Mitteilungen gemacht werden. Ferner muss ein Lebensmittelunternehmer gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verordnung, wenn er eine gesundheitsbezogene Angabe macht, ihre Verwendung begründen. Im Übrigen können gemäß Art. 17 Abs. 5 der Verordnung gesundheitsbezogene Angaben, die in der Liste nach Art. 14 enthalten sind, grundsätzlich von jedem Lebensmittelunternehmer verwendet werden.
42 Zum anderen geht es im vorliegenden Rechtsstreit um ein Verfahren zur Zulassung einer Angabe über die Verringerung eines Krankheitsrisikos im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006. Die endgültige Entscheidung über den von den Klägern gemäß Art. 15 dieser Verordnung gestellten Zulassungsantrag wurde von der Kommission in der angefochtenen Verordnung auf Art. 17 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1924/2006 gestützt, wie aus Art. 1 und dem Anhang der angefochtenen Verordnung hervorgeht. Mit der angefochtenen Verordnung, die den Abschluss des Zulassungsverfahrens im Sinne der Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 darstellt, wurde somit der Zulassungsantrag abgelehnt, was durch das Schreiben der Kommission an die Kläger vom 28. November 2011 bestätigt wird.
43 Dies ergibt sich auch aus den Erwägungsgründen 5, 6 und 9 der angefochtenen Verordnung, in denen ausdrücklich auf den Antrag der Kläger Bezug genommen wird. Im fünften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung heißt es hierzu, dass nach diesem Antrag die EFSA ersucht worden sei, eine Stellungnahme zu einer gesundheitsbezogenen Angabe hinsichtlich der Wirkung von Wasser auf die Verringerung des Risikos einer Dehydratation und eines damit verbundenen Leistungsabfalls abzugeben. Dieser Erwägungsgrund enthält auch den Wortlaut der in Rede stehenden Angabe. Im sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung wird das Zulassungsverfahren für die in Rede stehende Angabe zusammengefasst. Nach ihrem neunten Erwägungsgrund wurden die von den Antragstellern und anderen Personen gemäß Art. 16 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 gegenüber der Kommission abgegebenen Bemerkungen bei der Festlegung der in der angefochtenen Verordnung vorgesehenen Maßnahmen berücksichtigt.
44 Wie sich aus Art. 15 der Verordnung Nr. 1924/2006 ergibt, wollte der Gesetzgeber jeder natürlichen oder juristischen Person die Möglichkeit geben, einen Zulassungsantrag zu stellen, und er hat den Kreis der Antragsteller nicht eingeschränkt, was die Kommission im Übrigen in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt hat. Die Verfahrensbestimmungen der Art. 15 bis 17 und 19 der Verordnung Nr. 1924/2006 sehen nämlich, anders als die des Art. 18 dieser Verordnung, nicht vor, dass ein Lebensmittelunternehmer die Zulassung einer solchen Angabe beantragen kann. Dort ist lediglich allgemein von Antragstellern die Rede. Im Übrigen hat die Kommission den Antrag der Kläger nicht wegen ihrer mangelnden Antragsberechtigung für die Zulassung der in Rede stehenden Angabe abgelehnt.
45 Unter diesen Umständen hat eine Person, die unter Einhaltung der dafür geltenden Regeln einen Antrag auf Zulassung einer Angabe über die Verringerung eines Krankheitsrisikos gestellt hat, offenkundig ein Interesse daran, die Nichtigerklärung einer die entsprechende Zulassung ablehnenden Entscheidung zu beantragen. Die Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission, mit der die beantragte Zulassung versagt wird, hat nämlich für alle, deren Anträge abgelehnt wurden, zur Folge, dass die Erteilung einer Zulassung nach Abschluss der erneuten Prüfung der Anträge, zu der die Kommission verpflichtet ist, wieder möglich wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Flaherty u. a./Kommission, oben in Rn. 38 angeführt, Rn. 32 und 33, sowie Urteil des Gerichts vom 3. Dezember 2009, Iranian Tobacco/HABM – AD Bulgartabac [TIR 20 FILTER CIGARETTES], T‑245/08, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 17 bis 22).
46 Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen der Kommission in Frage gestellt, die Kläger hätten nur ein akademisches Interesse an der Verordnung Nr. 1924/2006. Es trifft zwar zu, dass der Unionsrichter nicht wegen rein theoretischer Fragen angerufen werden kann, doch betrifft der vorliegende Fall keine solchen Fragen. Bei der vorliegenden Klage geht es nämlich um die Ablehnung des von den Klägern entsprechend dem Verfahren der Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 gestellten individuellen Zulassungsantrags.
47 Folglich ist der erste Unzulässigkeitsgrund zurückzuweisen.
Zum zweiten Unzulässigkeitsgrund: fehlende Klagebefugnis
48 Die Kommission macht geltend, die Kläger seien nicht klagebefugt, weil sie durch die angefochtene Verordnung weder unmittelbar noch individuell betroffen seien.
– Zur unmittelbaren Betroffenheit der Kläger
49 Die Kommission trägt vor, die Kläger seien durch die angefochtene Verordnung nicht unmittelbar betroffen, weil die Einstufung der Angabe in der angefochtenen Verordnung nur die Lebensmittelunternehmer im Sinne der Verordnung Nr. 1924/2006 unmittelbar betreffe, denen die Verwendung dieser Angabe im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Betätigung aufgrund der angefochtenen Verordnung verwehrt sei. Die Kläger hätten weder vorgetragen, dass sie zum Zeitpunkt der Klageerhebung selbst als Lebensmittelunternehmer tätig gewesen seien, noch angegeben, ob, wie, in welchem Zusammenhang und für welche Produkte sie als Betroffene die in Rede stehende Angabe selbst verwendet hätten. Ein rein akademisches Interesse am System der Verordnung Nr. 1924/2006 und der in Rede stehenden Angabe reiche für die Annahme einer unmittelbaren Betroffenheit nicht aus.
50 Gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV kann jede natürliche oder juristische Person unter den Bedingungen nach den Abs. 1 und 2 dieses Artikels gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben.
51 Im vorliegenden Fall waren die Kläger nicht Adressaten der angefochtenen Verordnung, die somit nicht an sie gerichtet war. Die Kommission hatte die Kläger zwar mit Schreiben vom 28. November 2011 gemäß Art. 17 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1924/2006 über ihre in der angefochtenen Verordnung enthaltene endgültige Entscheidung über den Zulassungsantrag unterrichtet, doch kann daraus nicht geschlossen werden, dass die Kläger Adressaten der angefochtenen Verordnung waren. Eine Verordnung ist nämlich im Hinblick darauf, dass sie gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, nicht an einen bestimmten Adressaten gerichtet, sondern wird im Einklang mit Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. So wurde die angefochtene Verordnung gemäß ihrem Art. 2 am 17. November 2011 im Amtsblatt veröffentlicht.
52 Unter diesen Umständen setzte die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen die angefochtene Verordnung durch die Kläger nach Art. 263 Abs. 4 AEUV voraus, dass die Verordnung sie unmittelbar betrifft.
53 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt diese Voraussetzung, dass sich die betreffende Maßnahme erstens auf die Rechtsstellung des Betreffenden unmittelbar auswirkt und zweitens den mit ihrer Durchführung betrauten Adressaten keinerlei Ermessensspielraum lässt, da ihre Durchführung rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ergibt, ohne dass weitere Vorschriften angewandt werden (Urteile des Gerichtshofs vom 5. Mai 1998, Dreyfus/Kommission, C-386/96 P, Slg. 1998, I-2309, Rn. 43, vom 29. Juni 2004, Front national/Parlament, C-486/01 P, Slg. 2004, I-6289, Rn. 34, und vom 10. September 2009, Kommission/Ente per le Ville vesuviane und Ente per le Ville vesuviane/Kommission, C-445/07 P und C-455/07 P, Slg. 2009, I-7993, Rn. 45).
54 Somit ist zu prüfen, ob sich die angefochtene Verordnung auf die Rechtsstellung der Kläger unmittelbar auswirkt.
55 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die angefochtene Verordnung hybrider Natur ist (siehe oben, Rn. 40 bis 43).
56 Zum einen ist im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber jeder natürlichen oder juristischen Person die Möglichkeit geben wollte, einen Zulassungsantrag gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 1924/2006 zu stellen, und dass die endgültige ablehnende Entscheidung über den Zulassungsantrag der Kläger in der angefochtenen Verordnung enthalten ist, die den Abschluss des Zulassungsverfahrens im Sinne der Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 darstellt, festzustellen, dass sich die angefochtene Verordnung auf die Rechtsstellung der Kläger unmittelbar auswirkt. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass diese ablehnende Entscheidung rein automatisch erfolgt und sich allein aus der angefochtenen Verordnung ergibt, ohne dass weitere Vorschriften angewandt werden.
57 Folglich betrifft die angefochtene Verordnung die Kläger unmittelbar im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV.
– Zur individuellen Betroffenheit der Kläger
58 Die Kommission macht geltend, die Kläger seien durch die angefochtene Verordnung nicht individuell betroffen, da diese als sach- und nicht personenbezogene Regelung jedermann die Verwendung der in Rede stehenden Angabe verbiete. Ferner könne die bloße Einreichung eines Antrags auf Zulassung der Verwendung einer Angabe und der sich gegebenenfalls anschließende Schriftwechsel mit den befassten Behörden für sich genommen dem Antragsteller noch keine Klagebefugnis verleihen.
59 Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV ist die vorliegende Klage nur dann zulässig, wenn die Kläger durch die angefochtene Verordnung individuell betroffen sind oder diese einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter darstellt, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht.
60 Nach ständiger Rechtsprechung können andere Personen als die Adressaten eines Rechtsakts nur dann geltend machen, individuell betroffen zu sein, wenn dieser Rechtsakt sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder wegen sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten eines derartigen Rechtsakts (vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission, 25/62, Slg. 1963, 213, 238, und Flaherty u. a./Kommission, oben in Rn. 38 angeführt, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Aus den bereits oben in den Rn. 38 bis 45 in Bezug auf das Rechtsschutzinteresse dargelegten Gründen ist festzustellen, dass die angefochtene Verordnung die Kläger individuell betrifft. Da sie nämlich einen individuellen Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe eingereicht haben, genügt die Feststellung, dass es sich dabei um einen Umstand handelt, der nach der oben in Rn. 60 angeführten Rechtsprechung geeignet ist, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herauszuheben und sie in ähnlicher Weise zu individualisieren wie die Adressaten eines Rechtsakts (vgl. in diesem Sinne Urteil Flaherty u. a./Kommission, oben in Rn. 38 angeführt, Rn. 41, und Urteil des Gerichtshofs vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C-463/10 P und C-475/10 P, Slg. 2011, I-9639, Rn. 74).
62 Demzufolge greift das Vorbringen der Kommission zur individuellen Betroffenheit der Kläger nicht durch.
63 Der zweite Unzulässigkeitsgrund und damit die Unzulässigkeitseinrede der Kommission sind daher zurückzuweisen.
Zur Begründetheit
64 Die Kläger stützen ihre Klage auf neun Klagegründe. Mit den ersten vier Klagegründen wird die Verletzung von Unionsrecht gerügt, die sich erstens aus der Entbehrlichkeit der Nennung eines Risikofaktors, zweitens daraus, dass die Kommission einen tatsächlich genannten Risikofaktor nicht berücksichtigt habe, drittens aus der Unverhältnismäßigkeit der angefochtenen Verordnung und viertens aus dem Fehlen einer ausreichenden Rechtsgrundlage ergeben soll. Mit den folgenden vier Klagegründen wird eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften gerügt: Erlass einer Verordnung anstelle eines Beschlusses durch die Kommission (fünfter Klagegrund), Verstoß gegen die Kompetenzverteilung (sechster Klagegrund), nicht fristgemäße Entscheidung (siebter Klagegrund) und fehlende Ausschöpfung des Vortrags der Kläger und von interessierten Dritten (achter Klagegrund). Schließlich wird mit dem neunten Klagegrund eine Verletzung der Begründungspflicht gerügt.
Zum ersten Klagegrund: Rechtsfehler aufgrund der Entbehrlichkeit der Nennung eines Risikofaktors
65 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe dadurch Unionsrecht verletzt, dass sie die Nennung eines Risikofaktors im Zulassungsantrag als zwingend angesehen habe, obwohl sich eine solche Pflicht aus der Verordnung Nr. 1924/2006 nicht ergebe.
66 Aus dem sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung geht hervor, dass die Kommission die Zulassung der in Rede stehenden Angabe deshalb abgelehnt hat, weil sie mangels Nachweises der Senkung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 entspreche. Demzufolge setzte nach Auffassung der Kommission die Zulassung der in Rede stehenden Angabe voraus, dass der Antragsteller einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit nennt. Eine solche Nennung hätte nach ihrer Ansicht entweder im Vorschlag für die Formulierung der fraglichen Angabe oder in den Antragsunterlagen erfolgen können.
67 Somit ist zu prüfen, ob die Kläger bei der Einreichung des Antrags auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe im Vorschlag für deren Formulierung oder in den Antragsunterlagen einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit hätten nennen müssen.
68 Gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 können Angaben über die Verringerung eines Krankheitsrisikos gemacht werden, wenn sie nach dem Verfahren der Art. 15 bis 17 und 19 dieser Verordnung zur Aufnahme in eine Unionsliste zulässiger Angaben und aller erforderlichen Bedingungen für die Verwendung dieser Angaben zugelassen worden sind. Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1924/2006 bestimmt, was der Antragsteller in seinen Antrag aufnehmen muss.
69 Zwar wird, wie die Kläger vorbringen, in Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1924/2006 das Wort „Risikofaktor“ nicht erwähnt, doch wird der Begriff „Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos“ in Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung definiert. Nach dieser Definition bezeichnet er jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass der Verzehr einer Lebensmittelkategorie, eines Lebensmittels oder eines Lebensmittelbestandteils einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit beim Menschen deutlich senkt.
70 Die Kläger machen hierzu geltend, der Begriff „Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos“ in Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 sei weit auszulegen und schließe jegliche Suggestionen und mittelbaren Ausdrücke bezüglich der Senkung von Krankheitsrisikofaktoren ein, denn der Gesetzgeber habe nicht zwischen diesem Begriff und dem Begriff „Krankheitsrisiko“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 differenziert, wie auch aus einer Pressemitteilung der Kommission und dem Urteil des Gerichtshofs vom 18. Juli 2013, Green Swan (C‑299/12, Rn. 25), hervorgehe. Zudem gebe es nach den allgemeinen Regeln des Sprachverständnisses und im praktischen Sprachgebrauch keinen wesentlichen Unterschied zwischen „Risiko“ und „Risikofaktor“.
71 Diese Argumentation ist zurückzuweisen. Der Unionsrichter hat zwar bereits entschieden, dass ein bestimmter Bestandteil des Begriffs „gesundheitsbezogene Angabe“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1924/2006, nämlich der des „Zusammenhangs“, der zwischen einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits bestehen muss, weit zu verstehen ist (Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2012, Deutsches Weintor, C‑544/10, Rn. 34). Selbst wenn eine weite Auslegung des Begriffs „Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben sollte, würde dies jedoch nicht dazu berechtigen, den Begriffsbestandteil „Risikofaktor“ unbeachtet zu lassen. Überdies hätte der Gesetzgeber, wenn er jede Reduzierung eines Krankheitsrisikos unabhängig vom Erfordernis des Bestehens eines Risikofaktors hätte erfassen wollen, bei der Definition dieses Begriffs nicht ausdrücklich das Erfordernis eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit zu erwähnen brauchen. Im Übrigen ist zu der von den Klägern in diesem Zusammenhang angeführten Pressemitteilung der Kommission festzustellen, dass eine solche Verlautbarung im Rahmen der Prüfung der vorliegenden Rechtssache rechtlich belanglos ist.
72 Zum Vorbringen im Zusammenhang mit dem Urteil Green Swan (oben in Rn. 70 angeführt) ist festzustellen, dass der Gerichtshof Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 in dem Teil des Urteils, auf den sich die Kläger beziehen, dahin ausgelegt hat, dass es für die Qualifizierung als „Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos“ im Sinne dieser Vorschrift nicht erforderlich ist, dass mit der entsprechenden gesundheitsbezogenen Angabe ausdrücklich behauptet wird, dass der Verzehr einer Lebensmittelkategorie, eines Lebensmittels oder eines Lebensmittelbestandteils einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit beim Menschen „deutlich“ senkt. Diese Frage ist jedoch im vorliegenden Fall nicht relevant, so dass das Vorbringen der Kläger zurückzuweisen ist.
73 Die Zulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 setzt somit erstens voraus, dass neben einer Krankheit auch ein Risikofaktor für die Entwicklung dieser Krankheit genannt wird, und zweitens, dass eine deutliche Senkung dieses Risikofaktors durch den Verzehr einer Lebensmittelkategorie, eines Lebensmittels oder eines Lebensmittelbestandteils festgestellt wird.
74 Folglich mussten die Kläger, damit die Kommission mit der Prüfung des Antrags auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe fortfahren konnte, neben einer Krankheit einen Risikofaktor für die Entwicklung dieser Krankheit nennen.
75 Es genügte zwar, dass eine solche Nennung zumindest implizit aus dem Vorschlag für die Formulierung der Angabe oder den Antragsunterlagen hervorging, doch mussten die Kläger eine Krankheit und einen konkreten Risikofaktor für ihre Entwicklung nennen, der nach ihrer Ansicht deutlich gesenkt würde. Der Gesetzgeber hat nämlich in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 die Bedingtheit einer Krankheit durch mehrere Risikofaktoren anerkannt. Nach dieser Bestimmung muss die Kennzeichnung oder, falls diese fehlt, die Aufmachung der Lebensmittel oder die Lebensmittelwerbung außerdem eine Erklärung dahin gehend enthalten, dass die Krankheit, auf die sich die Angabe bezieht, durch mehrere Risikofaktoren bedingt ist und dass die Veränderung eines dieser Risikofaktoren eine positive Wirkung haben kann oder auch nicht. Folglich konnte die Kommission ohne die Nennung einer Krankheit und eines konkreten Risikofaktors durch die Kläger nicht beurteilen, welcher Risikofaktor für die Entwicklung welcher Krankheit durch den regelmäßigen Verzehr signifikanter Mengen von Wasser deutlich gesenkt würde.
76 Im Übrigen wird, wie von der Kommission vorgetragen, durch diese Auslegung des Begriffs „Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos“ der – in Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. L 109, S. 29) genannte – Grundsatz gewahrt, wonach die Etikettierung und die Art und Weise, in der sie erfolgt, einem Lebensmittel keine vorbeugenden Eigenschaften zuschreiben dürfen.
77 Das Vorbringen der Kläger, die Kommission habe die Nennung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit fälschlich als zwingend eingestuft, ist daher zurückzuweisen.
78 Dieses Ergebnis wird durch das übrige Vorbringen der Kläger nicht in Frage gestellt.
79 Erstens machen die Kläger geltend, ihr Zulassungsantrag habe nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden dürfen, dass er nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 entspreche, denn nach Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 1 dieser Verordnung wäre es Sache der Kommission gewesen, auf der Grundlage der Antragsunterlagen und der Stellungnahme der EFSA zu prüfen, ob die in Rede stehende Angabe durch wissenschaftliche Nachweise abgesichert sei und ob ihre Formulierung den Kriterien dieser Verordnung entsprochen habe. Die Kommission und die EFSA hätten jedoch die von den Klägern im Zulassungsverfahren vorgelegten wissenschaftlichen Nachweise nicht geprüft. Zudem habe die Kommission ihre Entscheidung entgegen Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 weder auf die erwähnten einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts noch auf andere relevante legitime Faktoren gestützt.
80 Hierzu genügt der Hinweis, dass der Kommission, damit sie auf der Grundlage der Antragsunterlagen und der Stellungnahme der EFSA die von den Klägern vorgelegten wissenschaftlichen Nachweise prüfen und dann über diesen Antrag unter Berücksichtigung aller einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und anderer für die zu prüfende Frage relevanter legitimer Faktoren endgültig entscheiden konnte, ein Antrag auf Zulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 vorliegen musste. Wie bereits festgestellt (siehe oben, Rn. 75), setzte ein solcher Antrag aber voraus, dass die Kläger neben der betreffenden Krankheit einen konkreten Risikofaktor für deren Entwicklung nennen, der ihrer Ansicht nach deutlich gesenkt würde.
81 Soweit die Kläger in diesem Zusammenhang unter Berufung darauf, dass die in Rede stehende Angabe nicht irreführend sei, geltend machen, in der Wissenschaft bestehe in Bezug auf diese Angabe Einigkeit, so dass ein wissenschaftlicher Nachweis entbehrlich gewesen sei, und die Kommission hätte die Beschränkung in der angefochtenen Verordnung nicht zum Schutz der Verbraucher vorsehen müssen, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission die Versagung der Zulassung der in Rede stehenden Angabe nicht darauf gestützt hat, dass der Zusammenhang zwischen Dehydratation und damit einhergehendem Leistungsabfall nicht nachgewiesen sei. Die Zulassung wurde versagt, weil die nach dem System der Verordnung Nr. 1924/2006 erforderliche Senkung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit nicht nachgewiesen war. Zudem ist nach diesem System, wie sich aus Art. 13 der Verordnung Nr. 1924/2006 ergibt, die Zulassung anderer gesundheitsbezogener Angaben als der Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos gestattet, bei denen kein Risikofaktor genannt werden muss. Dies ist jedoch bei dem in Rede stehenden Antrag nicht der Fall. Daher kann dem Vorbringen der Kläger nicht gefolgt werden.
82 Zweitens machen die Kläger geltend, in Ziff. 2.2.3 der Guidelines for use of nutrition and health claims der Codex-Alimentarius-Kommission der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1997 in der 2004 überarbeiteten und zuletzt 2008 geänderten Fassung (CAC/GL 23-1997) würden zwei Beispiele für Krankheitsrisikoreduktionsangaben erwähnt, bei denen kein spezifischer Risikofaktor genannt werde.
83 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass zwar, wie aus dem siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1924/2006 hervorgeht, der Gesetzgeber die in den Leitsätzen des Codex vorgegebenen Definitionen und Bedingungen entsprechend berücksichtigt hat. Jedoch hat er sich bei der Definition des Begriffs der Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos nicht mit einer Verweisung auf die Definition in diesen Leitsätzen begnügt, sondern in Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung eine eigene Definition aufgenommen. Zum anderen ist hervorzuheben, dass Ziff. 2.2.3 der Leitsätze in der Definition der Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos das Bestehen eines Risikofaktors erwähnt. Nach dieser Definition bedeutet nämlich die Reduzierung des Risikos die erhebliche Änderung eines oder mehrerer beträchtlicher Risikofaktoren für die Entwicklung einer Krankheit oder eines die Gesundheit betreffenden Zustands. Diese Definition besagt, dass Krankheiten durch mehrere Risikofaktoren bedingt sind und dass die Änderung eines dieser Faktoren eine positive Wirkung haben kann oder auch nicht. Daher ist das Vorbringen der Kläger zurückzuweisen.
84 Drittens ist das Vorbringen der Kläger zurückzuweisen, die Kommission habe in ihrer Verordnung (EG) Nr. 1024/2009 vom 29. Oktober 2009 zur Zulassung bzw. Verweigerung der Zulassung bestimmter gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel betreffend die Verringerung eines Krankheitsrisikos sowie die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern (ABl. L 283, S. 22) eine Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos hinsichtlich der Wirkung von Xylitol-Kaugummi/Pastillen auf das Kariesrisiko zugelassen, ohne die Nennung eines Risikofaktors für notwendig zu erachten. Der von der Kommission in der Verordnung Nr. 1024/2009 zugelassenen Angabe ist nämlich klar zu entnehmen, dass starker Zahnbelag der berücksichtigte Risikofaktor war. Überdies kann der Begriff „Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006, da es sich um einen Rechtsbegriff handelt, der anhand objektiver Kriterien ausgelegt werden muss, nicht von einer subjektiven Beurteilung durch die Kommission abhängen und ist unabhängig von jeder früheren Praxis dieses Organs zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 20. Mai 2010, Todaro Nunziatina & C., C-138/09, Slg. 2010, I-4561, Rn. 21, und des Gerichts vom 27. September 2012, Wam Industriale/Kommission, T‑303/10, Rn. 82). Zudem kann die Wiederholung einer unzutreffenden Auslegung eines Aktes nicht unter Berufung auf den Grundsatz der Gleichbehandlung gerechtfertigt werden (Urteil des Gerichtshofs vom 24. März 1993, CIRFS u. a./Kommission, C-313/90, Slg. 1993, I-1125, Rn. 45).
85 Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Rechtsverletzung aufgrund der Nichtberücksichtigung eines tatsächlich genannten Risikofaktors durch die Kommission
86 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe dadurch Unionsrecht verletzt, dass sie die tatsächliche Nennung eines Risikofaktors in ihren Formulierungsvorschlägen für die in Rede stehende Angabe nicht berücksichtigt habe. Sie hätten nämlich bereits in ihrem Schreiben vom 28. November 2008 auf den Wassergehalt im Gewebe hingewiesen und hätten, aufgrund der Empfehlung des Bundesamts in dessen Schreiben vom 18. Dezember 2008, in ihrem Schreiben vom 10. Februar 2009 den Wasserverlust im Gewebe als Risikofaktor angeführt. Zudem finde sich der Risikofaktor „Dehydratation“ bereits in dem Formulierungsvorschlag für die in Rede stehende Angabe im Kontext mit der Krankheit „Leistungsabfall“. Jedenfalls hätten die EFSA und die Kommission im Rahmen ihres Ermessens den Formulierungsvorschlag für die in Rede stehende Angabe ändern oder weit auslegen können.
87 Erstens ist zum Vorbringen der Kläger, die Kommission habe übersehen, dass sie den Wasserverlust im Gewebe als Risikofaktor angeführt hätten, festzustellen, dass die EFSA und die Kommission diese Nennung berücksichtigt haben. Zum einen gelangte nämlich die EFSA in ihrer wissenschaftlichen Stellungnahme vom 28. Januar 2011 zu dem Ergebnis, dass die von den Klägern angeführten Risikofaktoren – Wasserverlust im Gewebe bzw. verringerter Wassergehalt im Gewebe – Messgrößen für Wassermangel und somit Bestimmungsgrößen für die von den Klägern angeführte Krankheit „Dehydratation“ seien. Zum anderen heißt es im sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass die Kläger, nachdem sie um weitere Erläuterungen ersucht worden seien, als Risikofaktoren für eine Dehydratation Wasserverlust im Gewebe und verringerten Wassergehalt im Gewebe angegeben hätten. Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA kam die Kommission sodann zu dem Schluss, dass die Senkung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit nicht nachgewiesen worden sei.
88 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Wasserverlust im Gewebe, wie die Kommission vorgetragen hat und wie auch aus der wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2011 hervorgeht, keinen Risikofaktor für die Krankheit „Dehydratation“ darstellt, sondern eher den Zustand der Dehydratation und das Bestehen dieses Zustands entsprechend dem festgestellten Wasserverlust beschreibt. Die Kommission war somit im sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung auf der Grundlage der wissenschaftlichen Stellungnahme zu dem Schluss berechtigt, dass keine Reduzierung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit nachgewiesen worden war, weil der Wasserverlust im Gewebe eine Messgröße für Wassermangel und somit eine Bestimmungsgröße für die Krankheit „Dehydratation“ ist.
89 In diesem Kontext ist zum Vorbringen der Kläger, die EFSA und die Kommission hätten fälschlich die „Dehydratation“ und nicht, wie im Schreiben der Kläger vom 28. November 2008 angegeben, die „Dehydratation und [den] damit einhergehende[n] Leistungsabfall“ als Krankheit betrachtet, darauf hinzuweisen, dass ein begleitender Leistungsabfall, wie auch die Kommission ausgeführt hat, als solcher keine Krankheit, sondern die Folge oder das Symptom einer Krankheit ist. Im Übrigen haben die Kläger in ihrem Schreiben vom 28. November 2008 eingeräumt, dass ein Leistungsabfall eine klassische Begleiterscheinung der Dehydratation und eine dadurch bedingte Folgeerscheinung ist. Ebenso führten sie in ihrem Schreiben vom 25. Oktober 2010 aus, dass es sich bei einer Dehydratation um einen krankhaften Zustand handele, der mit einem Leistungsabfall einhergehe, und dass der regelmäßige Verzehr signifikanter Mengen von Wasser das Risiko einer Dehydratation mindere, ohne den damit einhergehenden Leistungsabfall zu erwähnen.
90 Zum Vorbringen der Kläger, sie hätten den Wasserverlust im Gewebe als Risikofaktor genannt und seien damit der Anregung des Bundesamts gefolgt, ist festzustellen, dass dieses in seinem Schreiben vom 18. Dezember 2008 es lediglich als vorstellbar erachtet hatte, dass die Kläger für die Nennung eines Risikofaktors auf den Wasserverlust im Gewebe eingingen. Das Bundesamt hat mithin keineswegs den Wasserverlust im Gewebe als Risikofaktor für die Krankheit „Dehydratation“ bezeichnet.
91 Zweitens genügt zum Vorbringen der Kläger, die Kommission habe fälschlich den im Formulierungsvorschlag für die in Rede stehende Angabe ausdrücklich enthaltenen Risikofaktor „Dehydratation“ für die Krankheit „Leistungsabfall“ nicht berücksichtigt, die Feststellung, dass auf die Aufforderung des Bundesamts in dessen Schreiben vom 10. November 2008 die Kläger mit Schreiben vom 28. November 2008 ausdrücklich darauf hinwiesen, dass sie sich auf die Krankheit „Dehydratation und damit einhergehender Leistungsabfall“ bezögen. Abgesehen davon, dass der Leistungsabfall nicht als Krankheit angesehen werden kann (siehe oben, Rn. 89), konnten somit die EFSA und die Kommission die Dehydratation nicht als Risikofaktor im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 betrachten.
92 Drittens ist zum Vorbringen der Kläger, die EFSA und die Kommission hätten in Ausübung ihres Ermessens den vorgeschlagenen Wortlaut der in Rede stehenden Angabe ändern, ihn weit auslegen oder die Verwendung der in Rede stehenden Angabe von der Benennung weiterer Faktoren abhängig machen müssen, bereits festgestellt worden (siehe oben, Rn. 75), dass der Antragsteller zumindest implizit eine Krankheit und einen konkreten Risikofaktor für deren Entwicklung, der nach seiner Ansicht deutlich gesenkt würde, nennen muss. Ohne eine solche Nennung konnte, unabhängig vom konkreten Wortlaut der in Rede stehenden Angabe, weder die EFSA noch die Kommission beurteilen, welcher Risikofaktor für die Entwicklung welcher Krankheit durch den Verzehr eines bestimmten Lebensmittels oder Lebensmittelbestandteils deutlich gesenkt würde. Im Übrigen haben, wie sich aus den Akten ergibt, das Bundesamt, die EFSA und die Kommission die Kläger mehrfach auf das Erfordernis hingewiesen, einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit zu nennen (siehe oben, Rn. 9, 10, 14 und 15).
93 Viertens genügt, soweit die Kläger in der Erwiderung die unzureichende Wasserzufuhr als Risikofaktor nennen, die Feststellung, dass diese unzureichende Wasserzufuhr, wie aus einer Erwägung der Kläger in der Erwiderung hervorgeht, einen weiteren, im Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe nicht genannten Risikofaktor darstellt.
94 Der zweite Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: Rechtsverletzung aufgrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
95 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe mit dem Erlass der angefochtenen Verordnung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Die Ablehnung des Antrags auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe sei weder geeignet noch erforderlich gewesen, um das Ziel der Verordnung Nr. 1924/2006, nämlich die Verwendung wissenschaftlich ausreichend nachgewiesener gesundheitsbezogener Angaben, zu erreichen. Denn die Kommission hätte die Möglichkeit gehabt, den Formulierungsvorschlag für die in Rede stehende Angabe unter Beibehaltung ihres Kerngehalts abzuändern. Sie hätte somit in dieser Formulierung den von ihr geforderten Risikofaktor ausreichend deutlich machen können. Insbesondere sei die Nichtzulassung nicht geeignet gewesen, weil die Verordnung Nr. 1924/2006 nicht den Zweck verfolge, die Kommunikation mit wissenschaftlich ausreichend gesicherten gesundheitsbezogenen Angaben zu unterbinden. Außerdem sei die Nichtzulassung nicht erforderlich gewesen, weil es für den Zusammenhang, auf den der Zulassungsantrag gestützt sei, unstreitig einen ausreichenden wissenschaftlichen Nachweis gebe. Die Nichtzulassung sei überdies unverhältnismäßig, weil sie die Unterrichtung der Verbraucher mit einer sachlich unstrittigen Information verhindere. Ferner verletze die angefochtene Verordnung die Freiheitsrechte der Kläger aus den Art. 6 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Im Übrigen habe die Kommission gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, da sie in der Vergangenheit vergleichbare Angaben zur Reduzierung eines Krankheitsrisikos ohne Nennung eines Risikofaktors zugelassen habe.
96 Als Erstes ist in Bezug auf das Vorbringen der Kläger, die Kommission habe mit dem Erlass der angefochtenen Verordnung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, festzustellen, dass die Kommission die Zulassung der in Rede stehenden Angabe wegen Nichteinhaltung eines in der Verordnung Nr. 1924/2006 vorgesehenen zwingenden Erfordernisses des Zulassungsverfahrens versagte. Nach dem sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ließ nämlich die Kommission die in Rede stehende Angabe nicht zu, weil die Kläger keine Senkung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit nachgewiesen hätten, da die von ihnen genannten Risikofaktoren Bestimmungsgrößen der Krankheit seien. Wie bereits festgestellt (siehe oben, Rn. 75), musste in einem Antrag auf Zulassung einer solchen Angabe neben der betreffenden Krankheit ein konkreter Risikofaktor für deren Entwicklung genannt werden, der nach Ansicht der Kläger deutlich gesenkt würde. Zudem hat die Prüfung des zweiten Klagegrundes ergeben, dass die Kläger keinen solchen Risikofaktor genannt haben. In einem solchen Fall konnte die Kommission daher nicht beurteilen, welcher Risikofaktor für die Entwicklung der fraglichen Krankheit durch den regelmäßigen Verzehr signifikanter Mengen von Wasser deutlich gesenkt würde. Entgegen dem Vorbringen der Kläger war die Nichtzulassung der in Rede stehenden Angabe daher nicht durch die konkrete Formulierung des für die in Rede stehende Angabe vorgeschlagenen Wortlauts bedingt. Ohne Nennung eines Risikofaktors durch die Kläger hätte eine etwaige Änderung dieses Wortlauts jedenfalls nicht zur beantragten Zulassung führen können. Daher ist das Vorbringen der Kläger, die Kommission habe mit dem Erlass der angefochtenen Verordnung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, zurückzuweisen.
97 Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen der Kläger in Frage gestellt, nach dem Urteil des Gerichtshofs vom 15. Juli 2004, Douwe Egberts (C-239/02, Slg. 2004, I-7007), gehe ein absolutes Werbeverbot über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die Verbraucher vor Täuschungen zu schützen, erforderlich sei. Der vorliegende Fall betrifft nämlich gerade kein absolutes Verbot der in Rede stehenden Angabe, sondern die Einhaltung der Erfordernisse des Zulassungsverfahrens nach den Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1924/2006.
98 Im Übrigen ist, soweit die Kläger geltend machen, die Ablehnung ihres Antrags sei unverhältnismäßig, weil sie die Unterrichtung der Verbraucher mit einer sachlich unstrittigen Information verhindert habe, darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1924/2006 gemäß ihrem Art. 13 auch die Zulassung anderer gesundheitsbezogener Angaben als der Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos gestattet, bei denen kein Risikofaktor genannt werden muss und durch die auf die positive Wirkung des hinreichenden Verzehrs von Wasser auf den menschlichen Körper und dessen Funktionen aufmerksam gemacht werden kann.
99 Als Zweites ist in Bezug auf das Vorbringen der Kläger, die angefochtene Verordnung verletze die Freiheitsrechte aus den Art. 6 und 16 der Grundrechtecharta, betreffend das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie die unternehmerische Freiheit, festzustellen, dass die Kläger sich darauf beschränken, die Verletzung dieser Regelungen im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes abstrakt aufzuzählen. Eine Verletzung der Art. 6 und 16 der Grundrechtecharta stellt jedoch einen eigenen Klagegrund dar, der vom vorliegenden Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unabhängig ist. Nach Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der nach deren Art. 53 Abs. 1 auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, und nach Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung muss die Klageschrift u. a. eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. In ihr ist deshalb darzulegen, worin der Klagegrund besteht, auf den die Klage gestützt wird, so dass seine bloß abstrakte Nennung den Erfordernissen der Satzung des Gerichtshofs und der Verfahrensordnung nicht entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 14. Februar 2008, Provincia di Imperia/Kommission, T-351/05, Slg. 2008, II-241, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass das Vorbringen der Kläger, mit dem eine Verletzung der Art. 6 und 16 der Grundrechtecharta gerügt wird, als unzulässig zurückzuweisen ist.
100 Als Drittes ist das Vorbringen der Kläger zurückzuweisen, dass die Kommission gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung verstoßen habe, da sie in der Vergangenheit gesundheitsbezogene Angaben ohne Nennung eines Risikofaktors zugelassen habe. Denn zum einen verweisen sie auf gesundheitsbezogene Angaben, die sich von den Angaben zur Reduzierung eines Krankheitsrisikos, die die Kommission gemäß Art. 13 der Verordnung Nr. 1924/2006 zugelassen hat, unterscheiden. Wie jedoch bereits ausgeführt worden ist (siehe oben, Rn. 81 und 98), braucht für die Zulassung dieser Angaben kein Risikofaktor genannt zu werden. Zum anderen verweisen sie auf die Zulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos hinsichtlich der Wirkung von Xylitol-Kaugummi/Pastillen auf das Kariesrisiko in der Verordnung Nr. 1024/2009. Dieses Vorbringen ist bereits im Rahmen des ersten Klagegrundes zurückgewiesen worden (siehe oben, Rn. 84).
101 Der dritte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum vierten Klagegrund: Fehlen einer ausreichenden Rechtsgrundlage
102 Die Kläger machen geltend, die angefochtene Verordnung sei für nichtig zu erklären, weil sie keine ausreichende Rechtsgrundlage habe. Sie beruhe auf Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006. Diese Vorschriften verstießen indes ihrerseits gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Art. 5 Abs. 4 EUV. Die Kläger erheben mithin mit dem vorliegenden Klagegrund eine Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006.
103 Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 9. März 2006, Zuid-Hollandse Milieufederatie und Natuur en Milieu, C-174/05, Slg. 2006, I-2443, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
104 Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit der in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1924/2006 ihre Rechtsgrundlage in Art. 95 EG hat, wonach der Gesetzgeber die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erlässt, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. Nach Art. 95 Abs. 3 EG hat der Gesetzgeber u. a. in den Bereichen Gesundheit und Verbraucherschutz ein hohes Schutzniveau anzustreben und dabei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen zu berücksichtigen. Damit der Unionsgesetzgeber das ihm gesetzte Ziel wirksam verfolgen kann, ist ihm in diesem Rahmen ein weites Ermessen zuzuerkennen, wenn er in einem Bereich wie dem hier in Rede stehenden tätig wird, in dem von ihm politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt werden und in dem er komplexe Beurteilungen vornehmen muss. Die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme kann nur dann beeinträchtigt sein, wenn sie zur Erreichung des von den zuständigen Organen verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rn. 123, vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C-210/03, Slg. 2004, I-11893, Rn. 48, vom 6. Dezember 2005, ABNA u. a., C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 69, und vom 12. Dezember 2006, Deutschland/Parlament und Rat, C-380/03, Slg. 2006, I-11573, Rn. 145; Urteil des Gerichts vom 9. September 2011, Dow AgroSciences u. a./Kommission, T-475/07, Slg. 2011, II-5937, Rn. 150).
105 Das mit der Verordnung Nr. 1924/2006 verfolgte Ziel besteht, wie sich aus ihrem Art. 1 Abs. 1 und ihren Erwägungsgründen 1 und 36 ergibt, darin, das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben sicherzustellen und gleichzeitig ein hohes Verbraucherschutzniveau zu bieten. Nach den Erwägungsgründen 1 und 18 der Verordnung Nr. 1924/2006 gehört der Gesundheitsschutz zu ihren Hauptzwecken (Urteil Deutsches Weintor, oben in Rn. 71 angeführt, Rn. 45). Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung heißt es hierzu, dass die im Handel befindlichen Produkte, einschließlich der eingeführten Produkte, sicher sein und eine angemessene Kennzeichnung aufweisen sollten. Nach ihrem neunten Erwägungsgrund zielen die mit ihr aufgestellten Grundsätze darauf ab, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, dem Verbraucher die notwendigen Informationen für eine sachkundige Entscheidung zu liefern und gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Lebensmittelindustrie zu schaffen. In diesem Zusammenhang heißt es im 23. Erwägungsgrund der Verordnung, dass gesundheitsbezogene Angaben für die Verwendung in der Union nur nach einer wissenschaftlichen Bewertung auf höchstmöglichem Niveau zugelassen werden sollten und dass, damit eine einheitliche wissenschaftliche Bewertung dieser Angaben gewährleistet ist, die EFSA solche Bewertungen vornehmen sollte.
106 Die Kläger führen als Erstes an, das in den Art. 10 Abs. 1, 14 Abs. 1 Buchst. a und 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 vorgesehene Zulassungsverfahren für eine Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos sei nicht geeignet, die Erreichung des Ziels einer Harmonisierung der Verwendung gesundheitsbezogener Angaben bei gleichzeitiger Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu ermöglichen. Das wissenschaftliche Bewertungsverfahren bei der EFSA sei völlig intransparent und führe zu inkonsistenten Ergebnissen.
107 Zur Stützung dieses Vorbringens verweisen die Kläger erstens darauf, dass Angaben wie die in Rede stehende in der Kommunikation mit den Verbrauchern nicht verwendet werden dürften, obwohl die EFSA die dahinterstehenden wissenschaftlichen Zusammenhänge in einer eigenständigen wissenschaftlichen Stellungnahme bereits als wissenschaftlich ausreichend gesichert angesehen habe. Zudem habe die EFSA im vorliegenden Fall die Nennung eines Risikofaktors gefordert, während sie die Nennung eines solchen Faktors in einem anderen, die Wirkung von Xylitol-Kaugummi/Pastillen auf das Kariesrisiko betreffenden Fall nicht für notwendig erachtet habe, was die Kommission gebilligt habe.
108 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass diese Kritik der Kläger im Wesentlichen die Art und Weise betrifft, in der die EFSA das in Rede stehende Zulassungsverfahren durchgeführt hat. Solche Gesichtspunkte können jedoch für sich genommen die Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens nicht in Frage stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 12. Juli 2005, Alliance for Natural Health u. a., C-154/04 und C-155/04, Slg. 2005, I-6451, Rn. 87 und 88). Zum anderen ist festzustellen, dass die von den Klägern herangezogene wissenschaftliche Stellungnahme allgemein die Nährstoffaufnahme-Referenzwerte von Wasser betrifft und sich somit nicht mit der Wirkung eines regelmäßigen Verzehrs signifikanter Mengen von Wasser auf einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit befasst. Das Vorbringen, dass ein Widerspruch zu dem die Wirkung von Xylitol-Kaugummi/Pastillen auf das Kariesrisiko betreffenden Fall bestehe, ist bereits zurückgewiesen worden (siehe oben, Rn. 84).
109 Zweitens genügt, soweit die Kläger ohne weitere Erläuterungen geltend machen, der Rechtsrahmen für das in Rede stehende Zulassungsverfahren sei nicht geeignet, da spezifische Vorgaben für die von der EFSA vorgenommene wissenschaftliche Prüfung fehlten, der Hinweis, dass die Arbeitsmethode der EFSA in Kapitel III der Verordnung Nr. 178/2002 ausführlich geregelt ist. Zudem enthält Art. 16 der Verordnung Nr. 1924/2006 Bestimmungen über die Stellungnahme der EFSA, und die Kommission hat mit der Verordnung Nr. 353/2008 Durchführungsvorschriften zu Art. 15 der Verordnung Nr. 1924/2006 erlassen, in denen auch die Erstellung und Einreichung eines Antrags auf Zulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos geregelt ist. Dieses Vorbringen ist daher zurückzuweisen.
110 Aus dem Vorbringen der Kläger ergibt sich folglich nicht, dass das in den Art. 10 Abs. 1, 14 Abs. 1 Buchst. a und 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 vorgesehene Zulassungsverfahren für eine Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos nicht geeignet ist, die Erreichung der Ziele dieser Verordnung zu ermöglichen.
111 Als Zweites führen die Kläger an, das in Rede stehende Zulassungsverfahren sei zur Erreichung der Ziele der Verordnung Nr. 1924/2006 nicht erforderlich. Dieses Verfahren sehe ein absolutes Werbeverbot mit Erlaubnisvorbehalt vor. Die Werbe- und Kommunikationsfreiheit der Betroffenen wäre jedoch weniger stark eingeschränkt, wenn es bei dem vor Erlass der Verordnung Nr. 1924/2006 existierenden Prinzip des Missbrauchsverbots in Art. 2 der Richtlinie 2000/13 geblieben wäre. Der Gesetzgeber hätte von Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/13 Gebrauch machen können, wonach das Werbeverbot für krankheitsbezogene Angaben eingeschränkt werden könne. Die Vorschriften dieser Richtlinie, nach denen die Verwendung gesundheitsbezogener Angaben im Einzelfall nachträglich auf nationaler Ebene behördlich und gerichtlich überprüft werden könne, seien ausreichend gewesen. Überdies sei nicht zu erkennen, weshalb die Ziele der Verordnung Nr. 1924/2006 mit der Prüfung durch die EFSA besser erreicht werden könnten als mit der Prüfung durch die nationalen Behörden, da der wissenschaftliche Maßstab derselbe sei.
112 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber die Erforderlichkeit der Verordnung Nr. 1924/2006 – und insbesondere des Zulassungsverfahrens für Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos – zur Erreichung der Ziele dieser Verordnung mit folgenden Erwägungen begründet hat. Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1924/2006 hat er darauf hingewiesen, dass die Unterschiede zwischen den nationalen Bestimmungen über solche Angaben den freien Warenverkehr bei Lebensmitteln behindern und ungleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen könnten und damit eine unmittelbare Auswirkung auf das Funktionieren des Binnenmarkts hätten. Nach dem zehnten Erwägungsgrund dieser Verordnung könnte die Verwendung der Kriterien für die Entscheidung, ob das Produkt Angaben tragen darf, auf nationaler Ebene zu Behinderungen des Handels innerhalb der Union führen und sollte daher harmonisiert werden. Dies wird im 14. Erwägungsgrund dieser Verordnung dahin gehend konkretisiert, dass es eine Vielzahl von Angaben gebe, die derzeit bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln und der Werbung hierfür in manchen Mitgliedstaaten gemacht würden und sich auf Stoffe bezögen, deren positive Wirkung nicht nachgewiesen worden sei bzw. zu denen derzeit noch keine ausreichende Einigkeit in der Wissenschaft bestehe. In diesem Zusammenhang wird im 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1924/2006 zum einen verlangt, dass eine wissenschaftliche Absicherung der Hauptaspekt sein sollte, der bei der Verwendung nährwert- und gesundheitsbezogener Angaben berücksichtigt werde, und zum anderen, dass die Lebensmittelunternehmer, die derartige Angaben verwendeten, diese auch begründen sollten. Nach diesem Erwägungsgrund sollte eine Angabe wissenschaftlich abgesichert sein, wobei alle verfügbaren wissenschaftlichen Daten berücksichtigt und die Nachweise abgewogen werden sollten. Ferner wird im 28. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1924/2006 darauf hingewiesen, dass die Ernährung nur einer von vielen Faktoren sei, die das Auftreten bestimmter Krankheiten beim Menschen beeinflussten, und dass andere Faktoren ebenfalls das Auftreten von Krankheiten beeinflussen könnten, weshalb für Angaben, die sich auf die Verringerung eines Krankheitsrisikos bezögen, spezifische Kennzeichnungsvorschriften gelten sollten.
113 Angesichts des Vorbringens der Kläger ist nicht ersichtlich, dass diese Erwägungen ungeeignet wären, die Erforderlichkeit der in Rede stehenden Bestimmungen über das Zulassungsverfahren für Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos zur Erreichung der Ziele der Verordnung Nr. 1924/2006 zu begründen. Zwar wäre die Werbe- und Kommunikationsfreiheit der Betroffenen möglicherweise weniger eingeschränkt worden, wenn die bis zum Erlass der Verordnung Nr. 1924/2006 geltende Regelung der Richtlinie 2000/13 beibehalten worden wäre. Doch ist angesichts der Gründe, die in den oben in Rn. 112 genannten Erwägungsgründen angeführt sind, nicht ersichtlich, dass auf die Regelung der Richtlinie 2000/13 gestützte Maßnahmen im Bereich der Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos zur Erreichung der oben in Rn. 105 genannten Ziele ebenso geeignet wären wie die in Rede stehenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 1924/2006. Dies liegt insbesondere daran, dass diese gesundheitsbezogenen Angaben wegen ihres durch die Verordnung Nr. 1924/2006 eingeführten grundsätzlichen Verbots mit Erlaubnisvorbehalt vorab zu prüfen sind.
114 Was die Übertragung der Prüfung der in Rede stehenden gesundheitsbezogenen Angaben von den nationalen Stellen auf die EFSA angeht, erscheint die im 23. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1924/2006 enthaltene Erwägung, dass die EFSA solche Bewertungen vornehmen sollte, damit eine harmonisierte wissenschaftliche Bewertung dieser Angaben gewährleistet ist, nicht fehlerhaft. Auch wenn die nationalen Stellen diese Angaben anhand derselben Kriterien bewerten müssen, ist nämlich die Vornahme der wissenschaftlichen Bewertungen durch eine einzige Stelle ein zusätzlicher zur Gewährleistung der Harmonisierung geeigneter Faktor. Zudem hat die EFSA, wie aus Art. 22 Abs. 2, 3 und 6 der Verordnung Nr. 178/2002 hervorgeht, insbesondere die Aufgabe, wissenschaftliche Gutachten zu erstellen, die als wissenschaftliche Grundlage für die Ausarbeitung und den Erlass von Maßnahmen der Union in den Bereichen dienen, die eine mittelbare oder unmittelbare Auswirkung auf die Lebensmittelsicherheit haben, und sie trägt zu einem hohen Gesundheitsschutzniveau bei.
115 Das Vorbringen der Kläger zur fehlenden Erforderlichkeit des Zulassungsverfahrens für die Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos ist daher zurückzuweisen.
116 Als Drittes führen die Kläger an, das in Rede stehende Zulassungsverfahren nach der Verordnung Nr. 1924/2006 sei nicht angemessen, da den Betroffenen ein langwieriges, teures und zudem intransparentes Verfahren aufgebürdet werde. Der bei der Regelung der Richtlinie 2000/13 sich stellenden Frage einer etwaigen unterschiedlichen Auslegung des Kriteriums eines ausreichenden wissenschaftlichen Nachweises durch die zuständigen nationalen Behörden hätte mit dem Verfahren des Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof begegnet werden können.
117 Zu dem Vorbringen, das in Rede stehende Zulassungsverfahren sei langwierig und intransparent, genügt der Hinweis, dass dieses Verfahren Fristen vorsieht und in den Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 detailliert geregelt ist. Insbesondere ergibt sich aus Art. 15 Abs. 2 dieser Verordnung, dass ein Antrag der zuständigen nationalen Behörde eines Mitgliedstaats zugeleitet wird, die den Erhalt schriftlich innerhalb von 14 Tagen nach Eingang bestätigt und unverzüglich die EFSA informiert. Gemäß Art. 16 Abs. 1 der Verordnung hält die EFSA bei der Abfassung ihrer Stellungnahme eine Frist von fünf Monaten ab dem Datum des Eingangs eines gültigen Antrags ein; diese Frist kann, wenn die EFSA zusätzliche Informationen anfordert, jeweils um bis zu zwei Monate verlängert werden. Schließlich legt die Kommission gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 dem Ausschuss innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme der EFSA einen Entwurf für eine Entscheidung über die Listen der zugelassenen gesundheitsbezogenen Angaben vor. Gemäß Art. 17 Abs. 3 der Verordnung wird die Entscheidung über den Antrag nach dem Regelungsverfahren mit Kontrolle getroffen.
118 Zum Vorbringen der Kläger, das in Rede stehende Verfahren sei teuer, ist festzustellen, dass weder die EFSA noch die Kommission für die Kosten des Verfahrens eine Gebühr erheben. Zudem haben die Kläger nicht nachgewiesen, dass das in Rede stehende Verfahren im Verhältnis zu den Zielen der Verordnung Nr. 1924/2006 zu teuer ist.
119 Demnach kann dem Vorbringen der Kläger zu einer Harmonisierung im Wege des Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof nicht gefolgt werden.
120 Angesichts des Vorbringens der Kläger ist daher nicht ersichtlich, dass das Zulassungsverfahren für eine Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos im Verhältnis zu den Zielen der Verordnung Nr. 1924/2006 unangemessen wäre.
121 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Art. 10 Abs. 1, 14 Abs. 1 Buchst. a und 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 zur Erreichung der von den Organen verfolgten Ziele nicht offensichtlich ungeeignet im Sinne der oben in Rn. 104 angeführten Rechtsprechung sind und dass sie demzufolge nicht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rechtswidrig sind.
122 Soweit die Kläger in der Erwiderung ohne nähere Erläuterungen einen Verstoß gegen die das Recht auf Bildung, die Berufsfreiheit und die unternehmerische Freiheit betreffenden Art. 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 und 16 der Grundrechtecharta rügen, ist ihr Vorbringen als unzulässig zurückzuweisen. Zum einen entspricht nämlich die bloß abstrakte Nennung eines solchen Verstoßes nicht den Erfordernissen der Satzung des Gerichtshofs und der Verfahrensordnung (siehe oben, Rn. 99). Zum anderen können nach Art. 48 § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, dass sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind, was hier offensichtlich nicht der Fall ist. Zudem stellt die Rüge eines Verstoßes gegen die Grundrechtecharta keine Erweiterung eines bereits zuvor – unmittelbar oder implizit – in der Klageschrift vorgetragenen Angriffsmittels dar. Jedenfalls ist festzustellen, dass das aus dem Abschluss des Verfahrens nach den Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 folgende Verbot einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos nicht gegen die Berufsfreiheit und die unternehmerische Freiheit verstößt (vgl. in diesem Sinne Urteil Deutsches Weintor, oben in Rn. 71 angeführt, Rn. 42 bis 59).
123 Der vierte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum fünften Klagegrund: Verletzung wesentlicher Formvorschriften durch den Erlass einer Verordnung
124 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe dadurch wesentliche Formvorschriften verletzt, dass sie die Zulassung der in Rede stehenden Angabe mittels einer Verordnung statt einer Entscheidung abgelehnt habe. Nach Art. 17 Abs. 1 bis 4 der Verordnung Nr. 1924/2006 habe die Kommission über die Zulassung gesundheitsbezogener Angaben durch Entscheidung bzw. Beschluss im Sinne von Art. 288 Abs. 1 AEUV zu befinden. Der Erlass einer Verordnung stehe im Widerspruch zum System des Verfahrens der Art. 15 ff. der Verordnung Nr. 1924/2006, da der Gesetzgeber dieses Verfahren als individuelles Antragsverfahren ausgestaltet habe.
125 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen. Zur Frage der Zulässigkeit dieses Klagegrundes führt sie aus, er sei unzulässig, da die Kläger durch die Rechtsform der Handlung, mit der ihr Antrag abgelehnt wurde, nicht beschwert seien. Sie behaupteten nämlich, auch durch eine Verordnung unmittelbar betroffen zu sein.
126 Diese Argumentation der Kommission ist widersprüchlich. Die Kommission kann nämlich nicht einerseits geltend machen, dass die Klage unzulässig sei, und andererseits den Nachweis der Unzulässigkeit des vorliegenden Klagegrundes auf Vorbringen der Kläger stützen, dem die Annahme zugrunde liegt, dass die Klage zulässig sei.
127 Der vorliegende Klagegrund ist jedoch, wie von der Kommission vorgetragen, unbegründet. Aus Art. 17 Abs. 1 bis 4 der Verordnung Nr. 1924/2006 geht nicht hervor, dass die Kommission eine Entscheidung bzw. einen Beschluss im Sinne von Art. 288 AEUV erlassen musste, um die Zulassung der in Rede stehenden Angabe abzulehnen. Die Verwendung des Begriffs „Entscheidung“ in Art. 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 bedeutet lediglich, dass die Kommission positiv oder negativ über den fraglichen Antrag befinden muss.
128 Nach ständiger Rechtsprechung sind nämlich bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts sowohl ihr Wortlaut als auch ihr Kontext und ihre Ziele zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 18. November 1999, Pharos/Kommission, C-151/98 P, Slg. 1999, I-8157, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall enthält Art. 17 Abs. 1 bis 4 der Verordnung Nr. 1924/2006 zwar denselben Ausdruck wie Art. 288 AEUV, doch ist der Ausdruck „Entscheidung“ in Art. 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem er verwendet wird, und des Zwecks dieser Bestimmung auszulegen.
129 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 Bestimmungen über den Abschluss des Zulassungsverfahrens für die in Art. 14 dieser Verordnung genannten gesundheitsbezogenen Angaben enthält, die eingreifen, wenn die EFSA ihre wissenschaftliche Stellungnahme gemäß Art. 16 der Verordnung abgegeben hat. So sieht Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 vor, dass die Kommission innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme der EFSA dem Ausschuss einen „Entwurf für eine Entscheidung“ über die Listen der zugelassenen gesundheitsbezogenen Angaben vorlegt und, wenn der „Entwurf der Entscheidung“ nicht mit der Stellungnahme übereinstimmt, die Gründe für die Abweichung erläutert. Art. 17 Abs. 2 enthält inhaltliche Vorgaben für den „Entwurf für eine Entscheidung“. Art. 17 Abs. 3 regelt das Verfahren für den Erlass der „endgültigen Entscheidung“, u. a. der „Entscheidung“ über die Zulassung oder Nichtzulassung der Angabe in den Fällen, in denen die Kommission auf das Ersuchen eines Antragstellers um den Schutz geschützter Daten hin beabsichtigt, die Verwendung der Angabe zugunsten des Antragstellers einzuschränken. Art. 17 Abs. 4 enthält die Verpflichtung zur Unterrichtung über die „Entscheidung“ und zur Veröffentlichung der „Entscheidung“ im Amtsblatt.
130 Aus der Verwendung des Ausdrucks „Entscheidung“ und insbesondere der Ausdrücke „Entwurf“ und „endgültig“ im Kontext mit dem Ausdruck „Entscheidung“ ergibt sich, dass Art. 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 die verschiedenen Verfahrensabschnitte betrifft, an die sich die Kommission beim Erlass einer endgültigen Entscheidung über einen Antrag nach Art. 14 dieser Verordnung halten muss. Dagegen fehlt es an genaueren Angaben zur Rechtsform dieser Entscheidung. Der Gesetzgeber hat die Wahl der Rechtsform für den zu erlassenden Rechtsakt vielmehr dem Ermessen der Kommission überlassen. Auch wenn sich aus Art. 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 nicht ergibt, dass der Erlass einer Verordnung durch die Kommission vom Gesetzgeber in Betracht gezogen wurde, lässt nichts die Annahme zu, dass diese Bestimmung den Erlass eines solchen Rechtsakts ausschließt.
131 Schließlich ist das Vorbringen der Kläger zurückzuweisen, der Erlass einer Verordnung stehe im Widerspruch zum System des in den Art. 15 ff. der Verordnung Nr. 1924/2006 vorgesehenen Verfahrens, da der Gesetzgeber dieses Verfahren als individuelles Antragsverfahren ausgestaltet habe. Auch wenn das in Rede stehende Zulassungsverfahren einen individuellen Antrag zum Gegenstand hat, können nämlich die von der Kommission zugelassenen gesundheitsbezogenen Angaben gemäß Art. 17 Abs. 5 dieser Verordnung von jedem Lebensmittelunternehmer verwendet werden. Da diese Bestimmung Wirkungen erga omnes vorsieht, hat das Zulassungsverfahren somit eine Doppelnatur, nämlich individuellen und allgemeinen Charakter. Der Erlass einer Verordnung, die allgemeine Geltung hat, steht daher nicht in Widerspruch zum System des in Rede stehenden Verfahrens.
132 Im Übrigen ist, soweit die Kläger in diesem Zusammenhang rügen, dass die Kommission in der angefochtenen Verordnung zu Unrecht ihre Adresse nicht genannt habe, festzustellen, dass eine solche Verpflichtung gemäß Art. 17 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 4 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 nur im Fall einer Entscheidung zur Änderung der Listen der zugelassenen gesundheitsbezogenen Angaben gemäß Art. 19 dieser Verordnung besteht. Das ist hier aber nicht der Fall.
133 Der fünfte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum sechsten Klagegrund: Verstoß gegen die Kompetenzverteilung
134 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe dadurch wesentliche Formvorschriften verletzt, dass sie im Verwaltungsverfahren die Kompetenzverteilung zwischen ihr, der EFSA und dem Bundesamt missachtet habe. Nach der Verordnung Nr. 1924/2006 sei für rechtliche Auslegungsfragen zum Anwendungsbereich dieser Verordnung ausschließlich die Kommission zuständig, während das Bundesamt nur eine „Briefkastenbehörde“ für die Einreichung von Anträgen sei und der EFSA nur die wissenschaftliche Prüfung der vorgelegten Daten und der vorgeschlagenen Formulierung anhand der in der Verordnung vorgesehenen Kriterien obliege. Im Verwaltungsverfahren hätten sich jedoch die EFSA und das Bundesamt zu zwei Rechtsfragen geäußert, nämlich zur Erforderlichkeit der Nennung eines Risikofaktors und dazu, ob nur Lebensmittelunternehmer einen Antrag auf Zulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos stellen könnten, was zu erheblichen Verzögerungen dieses Verfahrens geführt habe.
135 Als Erstes ist zu der Rüge, das Bundesamt habe seine Befugnisse überschritten, festzustellen, dass entgegen der Auffassung der Kläger die Rolle der zuständigen nationalen Behörde nicht nur die einer bloßen „Briefkastenbehörde“ für die Einreichung von Anträgen ist. Zwar trifft es zu, dass nach Art. 15 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 der Antrag auf Zulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos bei der zuständigen nationalen Behörde eines Mitgliedstaats einzureichen ist, die den Erhalt dieses Antrags schriftlich innerhalb von 14 Tagen nach Eingang bestätigt, unverzüglich die EFSA informiert und dieser den Antrag und alle vom Antragsteller ergänzend vorgelegten Informationen zur Verfügung stellt.
136 Aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 geht jedoch hervor, dass die Verantwortung für das Vorliegen eines gültigen Antrags zumindest auch die zuständige nationale Behörde trifft. Gemäß dieser Bestimmung hält die EFSA nämlich bei der Abfassung ihrer Stellungnahme eine Frist von fünf Monaten ab dem Datum des Eingangs eines gültigen Antrags ein. Demnach setzt der Übergang in den nächsten Verfahrensabschnitt – Abfassung einer wissenschaftlichen Stellungnahme durch die EFSA – voraus, dass der ihr von der zuständigen nationalen Behörde zugeleitete Antrag gültig ist. Dieser Antrag muss daher den formellen und materiellen Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 genügen, insbesondere dem Erfordernis der Nennung eines Risikofaktors, ohne den die EFSA ihre Stellungnahme nicht abfassen kann (vgl. hierzu den ersten Klagegrund).
137 Entgegen dem Vortrag der Kläger steht diese Auffassung nicht in Widerspruch zu Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1924/2006, wonach die in Satz 1 genannte Frist um bis zu zwei Monate nach dem Datum des Eingangs der vom Antragsteller übermittelten Informationen verlängert wird, wenn die EFSA, wie in Art. 16 Abs. 2 vorgesehen, beim Antragsteller zusätzliche Informationen anfordert. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 stellt nämlich das Erfordernis der Zuleitung eines gültigen Antrags durch die zuständige nationale Behörde, durch die die Fünfmonatsfrist in Gang gesetzt wird, binnen deren die EFSA dann ihre wissenschaftliche Stellungnahme abzufassen hat, nicht in Frage.
138 Daher stellt der Umstand, dass sich das Bundesamt im Verwaltungsverfahren zu den Anforderungen in Bezug auf die Gültigkeit des Zulassungsantrags für die in Rede stehende Angabe geäußert hat, keinen Verfahrensfehler dar.
139 Als Zweites ist zu der Rüge, die EFSA habe mit ihren Äußerungen zu rechtlichen Auslegungsfragen in Bezug auf Bestimmungen der Verordnung Nr. 1924/2006 ihre Befugnisse überschritten, festzustellen, dass die EFSA in ihren Schreiben vom 23. November 2009 und vom 27. Januar 2010 an den ersten Kläger klar zum Ausdruck brachte, dass sie für die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts nicht zuständig sei. Sie verwies insoweit auf die Kommission und die Mitgliedstaaten. Zudem ist, soweit die EFSA in ihrer wissenschaftlichen Stellungnahme davon ausging, dass grundsätzlich die Nennung eines Risikofaktors durch die Kläger erforderlich sei, darauf hinzuweisen, dass bereits aus den Gesprächen der informellen Arbeitsgruppe für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben am12. April 2010 hervorgegangen war, dass der Antrag auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 entsprach, weil darin kein Risikofaktor genannt wurde (siehe oben, Rn. 14). Daher ist das Vorbringen der Kläger zurückzuweisen.
140 Selbst wenn das Bundesamt oder die EFSA mit Äußerungen zu rechtlichen Auslegungsfragen in Bezug auf die Verordnung Nr. 1924/2006 ihre Befugnisse überschritten hätten, ist darauf hinzuweisen, dass ein Verfahrensfehler nur dann zur vollständigen oder teilweisen Nichtigerklärung eines Rechtsakts führt, wenn feststeht, dass der Rechtsakt ohne diesen Fehler einen anderen Inhalt hätte haben können (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 29. Oktober 1980, van Landewyck u. a./Kommission, 209/78 bis 215/78 und 218/78, Slg. 1980, 3125, Rn. 47, vom 21. März 1990, Belgien/Kommission, C-142/87, Slg. 1990, I-959, Rn. 48, und vom 25. Oktober 2005, Deutschland und Dänemark/Kommission, C-465/02 und C-466/02, Slg. 2005, I-9115, Rn. 37).
141 Die Kläger tragen vor, die Kommission habe ihre Befugnis zur rechtlichen Auslegung des Erfordernisses der Nennung eines Risikofaktors nicht ausgeübt, sondern lediglich die in der wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA enthaltene Auslegung übernommen. Es sei wahrscheinlich, dass die Kommission ihren Zulassungsantrag positiv beschieden hätte, wenn sich die EFSA auf ihren Kompetenzbereich beschränkt hätte.
142 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass bereits im Schreiben der Kommission vom 9. Juli 2010 darauf hingewiesen wurde, dass bei den Gesprächen der informellen Arbeitsgruppe für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben am 12. April 2010 die Nennung eines Risikofaktors für erforderlich gehalten worden sei (siehe oben, Rn. 14). Zum anderen enthalten die Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Kommission die wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA lediglich übernahm und die Anforderungen der Art. 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 nicht selbst auslegte. Vielmehr stellt das von den Klägern als Beispiel für die Kommissionspraxis angeführte Zulassungsverfahren für die Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos hinsichtlich der Wirkung von Xylitol-Kaugummi/Pastillen auf das Kariesrisiko ein Indiz dafür dar, dass die Kommission nicht in jedem Fall die wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA übernimmt. Aus den Erwägungsgründen 7 und 8 der Verordnung Nr. 1024/2009, mit der die Kommission diese Angabe zuließ, geht nämlich hervor, dass sie, nachdem die EFSA Stellung genommen hatte, den Wortlaut dieser Angabe änderte.
143 Die Kläger haben folglich nicht nachweisen können, dass die angefochtene Verordnung ohne die dem Bundesamt und der EFSA vorgeworfene Befugnisüberschreitung einen anderen Inhalt hätte haben können.
144 Der sechste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum siebten Klagegrund: Nichteinhaltung der vorgegebenen Fristen
145 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe dadurch wesentliche Formvorschriften verletzt, dass sie die nach der Verordnung Nr. 1924/2006 für die Weiterleitung ihres Zulassungsantrags, die Erstellung der wissenschaftlichen Stellungnahme und den Erlass der Zulassungsentscheidung vorgegebenen Fristen nicht eingehalten habe.
146 Als Erstes tragen sie vor, das Bundesamt habe unter Verstoß gegen Art. 15 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i und ii der Verordnung Nr. 1924/2006 den Erhalt ihres Zulassungsantrags nicht schriftlich innerhalb von 14 Tagen nach Eingang bestätigt, und ihren Antrag aufgrund der Anweisung der Kommission, wonach es rechtliche Auslegungsfragen zum Anwendungsbereich dieser Verordnung zu prüfen habe, nicht unverzüglich an die EFSA weitergeleitet.
147 Hierzu ist erstens festzustellen, dass nach den Akten das Bundesamt mit Schreiben vom 8. Mai 2008 den Eingang des am 11. Februar 2008 übermittelten Antrags bestätigte (siehe oben, Rn. 4). Selbst wenn für den Beginn der fraglichen Frist auf die zweite Übermittlung des Antrags mit Schreiben vom 10. März 2008 – die erfolgte, weil laut Bundesamt der erste übermittelte Antrag nicht aufzufinden war – abgestellt wird, hat das Bundesamt die in Art. 15 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1924/2006 für die Bestätigung des Erhalts des Antrags vorgesehene Frist von 14 Tagen nach Eingang nicht eingehalten.
148 Zweitens ist, was die Verpflichtung des Bundesamts zur Übermittlung des Antrags der Kläger an die EFSA angeht, darauf hinzuweisen, dass das Bundesamt gemäß Art. 15 Abs. 2 Buchst. a Ziff. ii und iii der Verordnung Nr. 1924/2006 zum einen die EFSA unverzüglich informieren und ihr zum anderen den Antrag und alle vom Antragsteller ergänzend vorgelegten Informationen zur Verfügung stellen muss. Insoweit ist, anders als bei der Informationspflicht gemäß Art. 15 Abs. 2 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 1924/2006, für die Übermittlung des Antrags und der vom Antragsteller ergänzend vorgelegten Informationen gemäß Art. 15 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iii der Verordnung Nr. 1924/2006 keine besondere Frist vorgesehen.
149 Gleichwohl ist nach einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts im Rahmen von Verwaltungsverfahren der Union eine angemessene Frist einzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 22. Oktober 1997, SCK und FNK/Kommission, T-213/95 und T-18/96, Slg. 1997, II-1739, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Angemessenheit einer Frist ist anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache, insbesondere anhand der Interessen, die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, der Komplexität der Rechtssache sowie des Verhaltens der Parteien zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 25. Januar 2007, Sumitomo Metal Industries und Nippon Steel/Kommission, C-403/04 P und C-405/04 P, Slg. 2007, I-729, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).
150 Im vorliegenden Fall vergingen zwischen der Übermittlung des Zulassungsantrags für die in Rede stehende Angabe am 11. Februar 2008 und seiner Weiterleitung an die EFSA am 15. September 2008 etwa sieben Monate. Wie aus den Akten und insbesondere dem Schreiben des Bundesamts vom 11. November 2008 hervorgeht, ist diese Zeitspanne zum einen darauf zurückzuführen, dass der Antrag der Kläger zunächst bei der zuständigen Stelle des Bundesamts nicht auffindbar war, und zum anderen darauf, dass das Bundesamt auf Ersuchen der Kommission vor der Weiterleitung des in Rede stehenden Antrags an die EFSA dessen Gültigkeit prüfte.
151 Diese Zeitspanne erscheint unter den Umständen des vorliegenden Falles zu lang. Denn auch wenn sich aus den Akten nicht ergibt, dass für die Kläger, die keine Lebensmittelunternehmer sind (siehe oben, Rn. 1), Interessen von besonderem Gewicht auf dem Spiel standen, hat doch das Bundesamt die Kläger nach ihrer Sachstandsanfrage vom 29. Februar 2008 und der erneuten Übersendung ihres Antrags mit Schreiben vom 10. März 2008, nachdem es den Eingang des Antrags mit Schreiben vom 8. Mai 2008 bestätigt hatte, mit Schreiben vom 21. Juli 2008 lediglich auf den Erlass der Verordnung Nr. 353/2008 hingewiesen und sie ersucht, den Antrag unter Verwendung der von der EFSA hierfür herausgegebenen Vorlagen erneut einzureichen (siehe oben, Rn. 3 bis 7). Zudem ist zwar auch zu berücksichtigen, dass die Kommission das Bundesamt aufforderte, nur gültige Anträge an die EFSA zu übermitteln, und dass nach der Verordnung Nr. 1924/2006, wie bereits ausgeführt, die Verantwortung für das Vorliegen eines gültigen Antrags zumindest auch das Bundesamt trifft (siehe oben, Rn. 136), doch sehen die Art. 15 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i und ii, 16 Abs. 1 und 17 Abs. 1 dieser Verordnung Fristen für die Abschnitte des in Rede stehenden Zulassungsverfahrens vor. So hat die nationale Behörde den Erhalt eines Antrags innerhalb von 14 Tagen nach Eingang zu bestätigen und die EFSA unverzüglich darüber zu informieren. Die EFSA hat ihre Stellungnahme grundsätzlich innerhalb einer Frist von fünf Monaten abzugeben. Die Kommission muss ihrerseits dem Ausschuss innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme der EFSA einen Entwurf für eine Entscheidung über die Listen der zugelassenen gesundheitsbezogenen Angaben vorlegen. Aus der Systematik dieser Vorschriften ergibt sich, dass die Kontrolle der Gültigkeit eines Antrags durch die nationale Behörde keinesfalls sieben Monate dauern darf. Die vom Bundesamt für die Weiterleitung des Antrags der Kläger an die EFSA benötigte Zeitspanne erscheint daher nicht angemessen.
152 Die Rüge der Kläger, das Bundesamt habe weder die Frist für die Bestätigung des Eingangs ihres Antrags noch die Frist für dessen Weiterleitung an die EFSA eingehalten, greift demnach durch.
153 Als Zweites tragen die Kläger vor, die EFSA habe unter Verstoß gegen Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 nicht die Fünfmonatsfrist für die Abgabe ihrer Stellungnahme eingehalten, sondern dafür 29 Monate benötigt.
154 Hierzu ist festzustellen, dass die EFSA gemäß Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 bei der Abfassung ihrer Stellungnahme eine Frist von fünf Monaten ab dem Datum des Eingangs eines gültigen Antrags einhält. Ein solcher Antrag muss, um gültig zu sein, die formellen und materiellen Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 erfüllen, einschließlich des Erfordernisses der Nennung eines Risikofaktors, ohne den die EFSA ihre Stellungnahme nicht abfassen kann (siehe hierzu den ersten Klagegrund und oben, Rn. 136).
155 Im vorliegenden Fall geht aus den Akten hervor, dass das Bundesamt nach der Weiterleitung des Antrags an die EFSA am 15. September 2008 die Kläger mit Schreiben vom 10. November und 18. Dezember 2008 zur Nennung eines Risikofaktors aufforderte. Mit Schreiben vom 10. Februar 2009 teilten die Kläger dem Bundesamt mit, dass die Nennung eines Risikofaktors nicht notwendig sei, dass aber die Verringerung des Wassergehalts im Gewebe als Risikofaktor gelten könne. Zudem schlugen die Kläger andere Formulierungen der in Rede stehenden Angabe vor, in denen der Wasserverlust im Gewebe als Risikofaktor genannt wurde (siehe oben, Rn. 11). Folglich haben die Kläger in ihrem Schreiben vom 10. Februar 2009 die Verringerung des Wassergehalts im Gewebe oder den Wasserverlust im Gewebe als Risikofaktoren genannt, wie sich im Übrigen auch aus dem sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ergibt. Da hier keine weiteren formellen und materiellen Anforderungen zur Gültigkeit des Antrags der Kläger in Frage stehen, ist festzustellen, dass der Antrag der Kläger nach der Nennung der Risikofaktoren in ihrem Schreiben vom 10. Februar 2009 gültig geworden ist.
156 Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen der Kommission in Frage gestellt, dass der Antrag erst mit dem Antwortschreiben der Kläger vom 25. Oktober 2010 auf das Schreiben der EFSA vom 1. Oktober 2010 gültig und vollständig geworden sei. Wie aus den Akten hervorgeht, betrafen nämlich die Fragen, die die EFSA von März 2009 bis September 2010 an der Abgabe ihrer Stellungnahme hinderten, die rechtliche Auslegung von Bestimmungen der Verordnung Nr. 1924/2006 und insbesondere das Erfordernis, einen Risikofaktor zu nennen (siehe oben, Rn. 13 und 14). Zudem hielten die Kläger in ihrer Antwort auf die im Schreiben der EFSA vom 1. Oktober 2010 enthaltene Aufforderung zur Nennung eines Risikofaktors lediglich an der in ihrem Schreiben vom 10. Februar 2009 vertretenen Auffassung fest, was die EFSA aber nicht an der Abfassung ihrer wissenschaftlichen Stellungnahme hinderte.
157 Wie aus den Akten hervorgeht, wurde das Schreiben der Kläger vom 10. Februar 2009 vom Bundesamt mit Schreiben vom 20. März 2009 an die EFSA übermittelt (siehe oben, Rn. 12). Folglich begann die Fünfmonatsfrist des Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 an dem Tag zu laufen, an dem das Schreiben des Bundesamts vom 20. März 2009 einging. Da die EFSA ihre wissenschaftliche Stellungnahme am 28. Januar 2011 abgab, hat sie somit die Fünfmonatsfrist nicht eingehalten.
158 Die Rüge der Kläger betreffend die Nichteinhaltung der Fünfmonatsfrist des Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 greift demnach durch.
159 Als Drittes rügen die Kläger, die Kommission habe die in Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 vorgesehene Frist für den Erlass der Entscheidung über den Zulassungsantrag nicht eingehalten. Hierzu ist festzustellen, dass nach dieser Bestimmung die Kommission innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme der EFSA dem Ausschuss einen Entwurf für eine Entscheidung über die Listen der zugelassenen gesundheitsbezogenen Angaben vorlegt. Im vorliegenden Fall gab die EFSA ihre Stellungnahme am 28. Januar 2011 ab, und diese wurde am 16. Februar 2011 bekannt gegeben. Mit der Vorlage eines Entscheidungsentwurfs an den Ausschuss am 28. April 2011 wurde daher die Frist des Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 nicht eingehalten. Die Rüge der Kläger greift folglich durch.
160 Als Viertes ist zu den Rechtsfolgen der Nichteinhaltung der in den Art. 15 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i, 16 Abs. 1 und 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1924/2006 vorgesehenen Fristen festzustellen, dass diese Verordnung keine Sanktion für die Überschreitung der in Rede stehenden Fristen vorsieht. In einem solchen Fall kann nach der Rechtsprechung die Überschreitung von Verfahrensfristen wie den hier in Rede stehenden mangels einer Vorschrift, die ausdrücklich oder stillschweigend die Folgen dieser Überschreitung regelt, nur dann zur Nichtigerklärung des Rechtsakts, der in der besagten Frist zu erlassen war, oder eines Teils desselben führen, wenn nachgewiesen ist, dass der Rechtsakt ohne diesen Regelverstoß einen anderen Inhalt hätte haben können (vgl. Urteil Dow AgroSciences u. a./Kommission, oben in Rn. 104 angeführt, Rn. 203 und die dort angeführte Rechtsprechung).
161 Die Kläger haben jedoch nicht dargetan, dass die Kommission ohne die Überschreitung der in Rede stehenden Fristen eine Verordnung mit einem anderen Inhalt erlassen hätte. Sie machen nämlich lediglich geltend, dass die Nichteinhaltung dieser Fristen im Wesentlichen auf die schlecht abgestimmte Kompetenzabgrenzung zwischen der Kommission, der EFSA und dem Bundesamt zurückzuführen sei. Ihres Erachtens wären, wenn das Verfahren ordentlich nach den gesetzlichen Vorgaben durchgeführt worden wäre, Ressourcen vorhanden gewesen, um sich ausreichend mit der Begründung ihres Antrags zu beschäftigen, mit der Folge, dass die Kommission die beantragte Angabe zugelassen hätte. Hierzu ist festzustellen, dass die Fragen, die die EFSA von März 2009 bis September 2010 an der Abgabe ihrer Stellungnahme hinderten, die rechtliche Auslegung von Bestimmungen der Verordnung Nr. 1924/2006 und insbesondere das Erfordernis, einen Risikofaktor zu nennen, betrafen. Die Nennung eines Risikofaktors war jedoch bereits vor der Abgabe der wissenschaftlichen Stellungnahme durch die EFSA als notwendig angesehen worden (siehe oben, Rn. 155).
162 Nach alledem ist der siebte Klagegrund zurückzuweisen.
Zum achten Klagegrund: mangelnde Ausschöpfung des Vorbringens der Kläger und interessierter Dritter
163 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe dadurch wesentliche Formvorschriften verletzt, dass sie bei der Entscheidung über die Zulassung der in Rede stehenden Angabe einen wesentlichen Teil ihres Vorbringens und des Vorbringens der gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 am Verfahren vor der Kommission beteiligten interessierten Dritten nicht beachtet habe. Die Kommission sei nicht auf die in diesem Vorbringen entwickelten Argumente eingegangen, und aus der angefochtenen Verordnung sei nicht zu ersehen, ob die Kommission es geprüft habe.
164 Es ist festzustellen, dass die Kläger allgemein geltend machen, die Kommission habe die gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 abgegebenen Bemerkungen nicht berücksichtigt. Sie führen im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes keine konkrete Bemerkung an, die von der Kommission nicht berücksichtigt worden sein soll.
165 Gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 können der Antragsteller bzw. Vertreter der Öffentlichkeit innerhalb von 30 Tagen nach der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA gegenüber der Kommission Bemerkungen dazu abgeben. Dieses Recht hat zur Folge, dass die im Verfahren, das zum Erlass der endgültigen Entscheidung über den in Rede stehenden Antrag führt, abgegebenen Bemerkungen zu berücksichtigen sind, begründet aber für die Kommission keine Verpflichtung zur Umsetzung der in diesen Bemerkungen enthaltenen Vorschläge (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Gerichtshofs vom 5. Mai 2009, WWF‑UK/Rat, C‑355/08 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 45).
166 Wie den Akten zu entnehmen ist, hat die Kommission neben den Bemerkungen der Kläger acht Bemerkungen interessierter Dritter erhalten. In ihren an die Absender dieser Bemerkungen gerichteten, den Eingang bestätigenden Antwortschreiben teilte die Kommission den Absendern mit, wie sie ihre Bemerkungen im Zulassungsverfahren zu behandeln gedenke. Demnach leitete sie die Bemerkungen zu Fragen des Risikomanagements und zur wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten weiter, um die Prüfung dieser Fragen im Rahmen des Zulassungsverfahrens gemäß Art. 17 der Verordnung Nr. 1924/2006 zu erleichtern. Zudem geht aus einem der Schreiben hervor, dass sie bestimmte Fragen eines interessierten Dritten unmittelbar beantwortete, und aus einem anderen Schreiben, dass sie Bemerkungen zur wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA auch an die EFSA weiterleitete, die am 30. Juni 2011 einen Technical Report vorlegte, in dem auf diese Bemerkungen eingegangen wurde.
167 Ausweislich des Protokolls über die Ausschusssitzung vom 11. Juli 2011 wurden die Bemerkungen nach Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 vom Ausschuss geprüft, der den Entwurf der angefochtenen Verordnung einstimmig befürwortete.
168 Nach alledem war die Kommission berechtigt, im neunten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung und in ihrem Schreiben vom 28. November 2011, mit dem sie den Klägern die endgültige Entscheidung über ihren Zulassungsantrag mitteilte, anzugeben, dass die von ihnen und Vertretern der Öffentlichkeit gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 gegenüber der Kommission abgegebenen Bemerkungen bei der Festlegung der in der angefochtenen Verordnung vorgesehenen Maßnahmen im Zulassungsverfahren berücksichtigt worden seien.
169 Soweit die Kläger rügen, die Kommission habe ihre Stellungnahme nicht an die EFSA weitergeleitet, genügt im Übrigen die Feststellung, dass die Kläger zum einen nichts dartun, was den Schluss zuließe, dass eine solche Weiterleitung erforderlich gewesen wäre, und zum anderen in ihren Bemerkungen keine solche Weiterleitung angeregt haben.
170 Die Rüge der Kläger, die Kommission habe bei der Entscheidung über die Zulassung der in Rede stehenden Angabe einen wesentlichen Teil ihres Vorbringens und des Vorbringens der gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 am Verfahren vor der Kommission beteiligten interessierten Dritten nicht beachtet, greift folglich nicht durch.
171 Der achte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum neunten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht
172 Die Kläger machen geltend, die Kommission habe gegen ihre Begründungspflicht verstoßen, indem sie in der angefochtenen Verordnung weder auf das Argument der Kläger, wonach die Nennung eines Risikofaktors nicht erforderlich sei, noch auf die Nennung anderer Risikofaktoren als den Wasserverlust im Gewebe und den verringerten Wassergehalt im Gewebe oder auf die Bemerkungen der Kläger und interessierter Dritter nach Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 eingegangen sei.
173 Nach ständiger Rechtsprechung muss die nach Art. 296 Abs. 2 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 Abs. 2 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere braucht die Kommission nicht auf alle Argumente einzugehen, die die Betroffenen vor ihr geltend gemacht haben, sondern es reicht aus, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführt, denen nach dem Aufbau der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukommt (vgl. Urteil Dow AgroSciences u. a./Kommission, oben in Rn. 104 angeführt, Rn. 246 und die dort angeführte Rechtsprechung).
174 Im vorliegenden Fall sind die Gründe für die Ablehnung des Antrags der Kläger auf Zulassung der in Rede stehenden Angabe in den Erwägungsgründen 5 und 6 der angefochtenen Verordnung enthalten. Im fünften Erwägungsgrund werden die Namen der Kläger und der Vorschlag für die Formulierung der in Rede stehenden Angabe angeführt. Im sechsten Erwägungsgrund werden nach einer Bezugnahme auf den Begriff der Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos in Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 Wasserverlust im Gewebe und verringerter Wassergehalt im Gewebe als von den Klägern angegebene Risikofaktoren angeführt. Die Kommission erwähnt dort auch die wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA, nach der es sich bei den genannten Risikofaktoren um Messgrößen für Wassermangel und somit um Bestimmungsgrößen für eine Krankheit handele, und führt aus, da nicht nachgewiesen worden sei, dass ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit gesenkt worden sei, entspreche die Angabe nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 und sollte nicht zugelassen werden.
175 Dieser Begründung konnten die Kläger die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen, und sie hat es dem Gericht ermöglicht, seine Kontrollaufgabe wahrzunehmen. Aus den genannten Erwägungsgründen gehen nämlich der Vorschlag für die Formulierung der in Rede stehenden Angabe, die von der Kommission angewandte Rechtsnorm und die von den Klägern angegebenen Risikofaktoren klar hervor. Zudem ist klar angegeben, dass es sich nach Auffassung der EFSA nicht um Risikofaktoren im Sinne der Verordnung Nr. 1924/2006 handele und dass die in Rede stehende Angabe folglich mangels Nachweises der Senkung eines Risikofaktors für die Entwicklung einer Krankheit nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1924/2006 entspreche und daher nicht zugelassen werden sollte.
176 Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen der Kläger nicht in Frage gestellt.
177 Erstens genügt in Bezug auf das Vorbringen, in der Begründung werde nicht auf die Argumentation der Kläger eingegangen, dass die Nennung eines Risikofaktors nicht erforderlich sei, die Feststellung, dass die Kommission mit der Angabe des Wortlauts von Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1924/2006 im sechsten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung das Erfordernis der Nennung eines Risikofaktors im vorliegenden Fall ausreichend begründet hat.
178 Zweitens ist in Bezug auf das Vorbringen, in der Begründung werde auf die übrigen von den Klägern genannten Risikofaktoren nicht eingegangen, bereits festgestellt worden, dass der einzige nach Ansicht der Kläger auch im Formulierungsvorschlag für die in Rede stehende Angabe enthaltene Risikofaktor die Dehydratation war, da die Kläger die unzureichende Wasserzufuhr in ihrem Zulassungsantrag für die in Rede stehende Angabe nicht als Risikofaktor genannt hatten (siehe oben, Rn. 91 und 93). Da die Dehydratation von den Klägern jedoch ausdrücklich als die in Rede stehende Krankheit benannt worden war, konnten die EFSA und die Kommission sie nicht als Risikofaktor im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1924/2006 betrachten (siehe oben, Rn. 91). Einer besonderen Begründung für die Nichteinstufung der Dehydratation als Risikofaktor bedurfte es somit nicht. Das Vorbringen der Kläger ist daher zurückzuweisen.
179 Drittens ist das Vorbringen zurückzuweisen, in der Begründung werde nicht auf die Bemerkungen der Kläger und interessierter Dritter nach Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 eingegangen. Aus der oben in Rn. 173 angeführten Rechtsprechung geht nämlich hervor, dass die Kommission nicht auf alle von den Betroffenen vor ihr geltend gemachten Argumente einzugehen brauchte, sondern dass es ausreichte, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführte, denen nach dem Aufbau der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukam. Die Kommission war daher berechtigt, sich auf den Hinweis im neunten Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung zu beschränken, dass die von den Klägern und Vertretern der Öffentlichkeit gemäß Art. 16 Abs. 6 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1924/2006 ihr gegenüber abgegebenen Bemerkungen bei der Festlegung der in der angefochtenen Verordnung vorgesehenen Maßnahmen berücksichtigt worden seien.
180 Diese Erwägung wird nicht durch das Vorbringen der Kläger in Frage gestellt, die Kommission hätte zumindest auf zwei in diesen Bemerkungen vorgetragene Punkte eingehen müssen, nämlich auf die wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA über die Nährstoffaufnahme-Referenzwerte von Wasser und ihre Entscheidungspraxis. Denn zum einen ist zu dieser wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA bereits festgestellt worden (siehe oben, Rn. 108), dass sie sich nicht mit der Wirkung eines regelmäßigen Verzehrs signifikanter Mengen von Wasser auf einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Krankheit befasst. Zum anderen verweisen die Kläger, was die Entscheidungspraxis der Kommission angeht, auf Zulassungen anderer gesundheitsbezogener Angaben als Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos und auf die Zulassung einer Angabe über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos hinsichtlich der Wirkung von Xylitol-Kaugummi/Pastillen auf das Kariesrisiko. Es ist jedoch bereits festgestellt worden (siehe oben, Rn. 84 und 100), dass bei anderen gesundheitsbezogenen Angaben als Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos kein Risikofaktor genannt zu werden braucht, während im Fall der Angabe hinsichtlich der Wirkung von Xylitol-Kaugummi/Pastillen der Zahnbelag der berücksichtigte Risikofaktor war. Die Kommission brauchte somit auf diese Gesichtspunkte in der Begründung der angefochtenen Verordnung nicht einzugehen.
181 Viertens machen die Kläger geltend, aus den Erwägungsgründen der angefochtenen Verordnung gehe hervor, dass die Kommission ihre Bemerkungen und die interessierter Dritter nicht geprüft, sondern die in der Stellungnahme der EFSA enthaltenen Erwägungen ohne eigene Prüfung pauschal übernommen habe. Hierzu ist festzustellen, dass die Begründungspflicht von der Frage der sachlichen Richtigkeit der Begründung des angefochtenen Rechtsakts zu unterscheiden ist (vgl. Urteil Dow AgroSciences u. a./Kommission, oben in Rn. 104 angeführt, Rn. 245 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Vorbringen, die Bemerkungen der Kläger und interessierter Dritter seien nicht geprüft worden, betrifft die materielle Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verordnung und kann daher nicht als Grundlage für die Rüge einer Verletzung der Begründungspflicht durch die Kommission dienen. Jedenfalls ist festzustellen, dass dieses Vorbringen bereits im Rahmen der Prüfung des sechsten und des siebten Klagegrundes zurückgewiesen worden ist (siehe oben, Rn. 141 und 142 sowie Rn. 163 bis 171).
182 Schließlich ist zum Vorbringen der Kläger, die Kommission hätte gemäß Art. 17 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1924/2006 ihre Adresse nennen müssen, bereits festgestellt worden (siehe oben, Rn. 132), dass im vorliegenden Fall keine solche Verpflichtung bestand.
183 Daher ist der neunte Klagegrund zurückzuweisen, so dass die Klage insgesamt abzuweisen ist.
Kosten
184 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 87 § 4 der Verfahrensordnung tragen die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
185 Da die Kläger unterlegen sind, sind ihnen neben ihren eigenen Kosten gemäß dem Antrag der Kommission deren Kosten aufzuerlegen. Der Rat trägt seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Herr Moritz Hagenmeyer und Herr Andreas Hahn tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen Kosten.
Dittrich
Schwarcz
Tomljenović
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. April 2014.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 27. Februar 2014.#Pohotovosť s. r. o. gegen Miroslav Vašuta.#Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Svidník.#Vorabentscheidungsersuchen – Verbraucherkreditvertrag – Missbräuchliche Klauseln – Richtlinie 93/13/EWG – Zwangsvollstreckung aus einem Schiedsspruch – Antrag auf Beitritt zu einem Vollstreckungsverfahren – Verbraucherschutzvereinigung – Nationale Regelung, die einen solchen Beitritt nicht erlaubt – Verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten.#Rechtssache C‑470/12.
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62012CJ0470
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ECLI:EU:C:2014:101
| 2014-02-27T00:00:00 |
Gerichtshof, Wahl
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0470
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
27. Februar 2014 (*1)
„Vorabentscheidungsersuchen — Verbraucherkreditvertrag — Missbräuchliche Klauseln — Richtlinie 93/13/EWG — Zwangsvollstreckung aus einem Schiedsspruch — Antrag auf Beitritt zu einem Vollstreckungsverfahren — Verbraucherschutzvereinigung — Nationale Regelung, die einen solchen Beitritt nicht erlaubt — Verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten“
In der Rechtssache C‑470/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okresný súd Svidník (Slowakei) mit Entscheidung vom 31. August 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2012, in dem Verfahren
Pohotovosť s.r.o.
gegen
Miroslav Vašuta,
Beteiligte:
Združenie na ochranu občana spotrebiteľa HOOS,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Pohotovosť s.r.o., vertreten durch J. Fuchs, konateľ spoločnosti,
—
der Združenie na ochranu občana spotrebiteľa HOOS, vertreten durch I. Šafranko, advokát,
—
der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und A. Tokár als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Dezember 2013
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6, 7 und 8 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29) sowie der Art. 38 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Pohotovosť s.r.o. (im Folgenden: Pohotovosť) und Herrn Vašuta um die Zwangsvollstreckung aus einem Schiedsspruch, mit dem Herrn Vašuta die Rückzahlung von Geldbeträgen im Zusammenhang mit einem Verbraucherkreditvertrag aufgegeben worden war.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 93/13
3 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:
„Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“
4 Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“
5 Art. 7 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.
(2) Die in Absatz 1 genannten Mittel müssen auch Rechtsvorschriften einschließen, wonach Personen oder Organisationen, die nach dem innerstaatlichen Recht ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, im Einklang mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften die Gerichte oder die zuständigen Verwaltungsbehörden anrufen können, damit diese darüber entscheiden, ob Vertragsklauseln, die im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung abgefasst wurden, missbräuchlich sind, und angemessene und wirksame Mittel anwenden, um der Verwendung solcher Klauseln ein Ende zu setzen.
(3) Die in Absatz 2 genannten Rechtsmittel können sich unter Beachtung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getrennt oder gemeinsam gegen mehrere Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors oder ihre Verbände richten, die gleiche allgemeine Vertragsklauseln oder ähnliche Klauseln verwenden oder deren Verwendung empfehlen.“
6 Art. 8 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können in dem unter diese Richtlinie fallenden Bereich mit dem EG-Vertrag in Einklang stehende strengere Bestimmungen erlassen oder aufrechterhalten, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher sicherzustellen.“
Slowakisches Recht
7 § 93 der Zivilprozessordnung in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung sieht vor:
„(1) Zur Unterstützung der Anträge des Klägers oder des Beklagten kann eine Person, die ein rechtliches Interesse am Ausgang des Verfahrens hat, dem Verfahren beitreten, es sei denn, es handelt sich um ein Scheidungsverfahren, ein Verfahren über die Gültigkeit einer Ehe oder zur Feststellung, ob eine Ehe besteht.
(2) Zur Unterstützung der Anträge des Klägers oder des Beklagten kann auch eine juristische Person, deren Tätigkeit im Schutz von Rechten nach einer besonderen Bestimmung besteht, dem Verfahren beitreten.
(3) Diese Person tritt dem Verfahren von sich aus oder auf vom Gericht zugestellten Antrag einer Partei bei. Das Gericht befindet nur auf entsprechenden Antrag über die Zulässigkeit des Beitritts.
(4) Im Rahmen des Verfahrens hat der Streithelfer die gleichen Rechte und Pflichten wie eine Partei des Verfahrens. Er handelt jedoch nur für sich selbst. Stehen seine Handlungen im Widerspruch zu denjenigen der von ihm unterstützten Partei, beurteilt das Gericht sie nach Prüfung sämtlicher Umstände.“
8 § 251 Abs. 4 der Zivilprozessordnung sieht vor:
„Für die Durchsetzung von Entscheidungen und das Vollstreckungsverfahren im Sinne der besonderen Regelung … gelten die Bestimmungen der vorstehenden Teile, sofern nicht in dieser besonderen Regelung etwas anderes bestimmt ist. Es wird jedoch stets durch Beschluss entschieden.“
9 § 37 Abs. 1 und 3 der Vollstreckungsordnung sieht in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung vor:
„(1) Die Parteien des Verfahrens sind der Gläubiger und der Schuldner; andere Personen können dem Verfahren nur insoweit beitreten, als ihnen die Parteieigenschaft in diesem Gesetz zuerkannt wird. Wenn das Gericht über die Kosten der Vollstreckung entscheidet, ist der beauftragte Gerichtsvollzieher ebenfalls Partei des Verfahrens.“
…
(3) Eine Vollstreckung gegen eine andere als die in der Entscheidung als Schuldner bezeichnete Person oder zugunsten einer anderen als der in der Entscheidung als Gläubiger bezeichneten Person darf nur dann vorgenommen werden, wenn dargetan ist, dass die Pflichten oder die Rechte aus dem Vollstreckungstitel gemäß § 41 übertragen worden sind. Treten Umstände ein, aufgrund deren Rechte und Pflichten aus dem Vollstreckungstitel übertragen oder ersetzt werden, sind die Parteien des Verfahrens verpflichtet, die Vollstreckungsstelle unverzüglich schriftlich davon zu benachrichtigen. Der Mitteilung ist eine Urkunde beizufügen, die die Übertragung oder Ersetzung der Rechte und Pflichten belegt. Die Vollstreckungsstelle ist verpflichtet, dem Gericht einen Antrag auf Genehmigung einer Änderung der Parteien des Verfahrens binnen 14 Tagen ab dem Tag, an dem sie Kenntnis von diesen Umständen erlangt hat, zuzustellen. Das Gericht entscheidet durch Beschluss binnen 60 Tagen ab Zustellung des Antrags. Die Entscheidung wird der Vollstreckungsbehörde, dem Gläubiger und dem Schuldner, die im Vollstreckungstitel aufgeführt sind, sowie der Partei zugestellt, der das Recht oder die Pflicht übertragen worden ist.“
10 Nach § 25 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 250/2007 über den Verbraucherschutz kann eine Vereinigung bei einem Verwaltungsorgan oder einem Gericht einen Rechtsbehelf zum Schutz der Rechte der Verbraucher einlegen oder Partei des Verfahrens sein, wenn Zwecke des Verbraucherschutzes den Hauptgegenstand ihrer Tätigkeit bilden oder sie im Verzeichnis der von der nationalen Kommission zugelassenen Personen aufgeführt ist; davon unberührt bleibt die Befugnis des Gerichts, zu prüfen, ob diese Person im Einzelfall einen Rechtsbehelf einlegen darf. Darüber hinaus kann eine Vereinigung auf der Grundlage eines Mandats einen Verbraucher in Verfahren vor staatlichen Organen vertreten, die die Wahrnehmung seiner Rechte, einschließlich des Ersatzes des durch die Verletzung der Verbraucherrechte verursachten Schadens, betreffen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Pohotovosť gewährte Herrn Vašuta einen Verbraucherkredit. Mit einer Entscheidung des Stály rozhodcovský súd (Ständiges Schiedsgericht) vom 9. Dezember 2010 wurde Herrn Vašuta aufgegeben, einen bestimmten Betrag an Pohotovosť zu zahlen.
12 Pohotovosť stellte einen Antrag auf Zwangsvollstreckung aus diesem rechtskräftig und vollstreckbar gewordenen Schiedsspruch. Am 25. März 2011 beantragte der von Pohotovosť beauftragte Gerichtsvollzieher beim Okresný súd Svidník (Bezirksgericht Svidník) die Genehmigung der Vollstreckung aus diesem Schiedsspruch. Mit Entscheidung von 29. Juni 2011 wurde der Antrag insoweit zurückgewiesen, als er die Eintreibung der Verzugszinsen und der Kosten dieser Eintreibung betraf. Das Gericht gab jedoch dem Antrag auf Zwangsvollstreckung aus dem Schiedsspruch in Bezug auf die anderen Forderungen statt.
13 Am 9. September 2011 beantragte die Združenie na ochranu občana spotrebiteľa HOOS (Verbraucherschutzvereinigung HOOS, im Folgenden: Združenie HOOS) gemäß § 93 Abs. 2 der Zivilprozessordnung, dem Vollstreckungsverfahren beizutreten. In der Sache rügte sie die fehlende Unparteilichkeit des beauftragten Gerichtsvollziehers und machte insbesondere geltend, dass dieser in der Vergangenheit in einem Arbeitsverhältnis mit Pohotovost’ gestanden habe. Nach der Rechtsprechung des Ústavný súd Slovenskej republiky (Verfassungsgerichtshof der Slowakischen Republik) sei aber der Umstand, dass dieser Gerichtsvollzieher bei Pohotovost’ beschäftigt gewesen sei, mit der Pflicht eines Gerichtsvollziehers zur Unparteilichkeit unvereinbar. Ferner beantragte die Združenie HOOS die Aussetzung des gesamten Zwangsvollstreckungsverfahrens.
14 Mit Schriftsatz vom 27. März 2012 rügte Pohotovosť die Unzulässigkeit des Beitritts der Združenie HOOS mit der Begründung, dass die Vollstreckungsordnung die Möglichkeit eines solchen Beitritts nicht ausdrücklich vorsehe.
15 Mit Beschluss vom 24. Mai 2012 erklärte das Okresný súd Svidník den Antrag der Združenie HOOS auf Beitritt zum Vollstreckungsverfahren für unzulässig und wies den Antrag auf Aussetzung dieses Verfahrens zurück.
16 Die Združenie HOOS legte am 18. Juni 2012 gegen diesen Beschluss einen Rechtsbehelf ein. Sie machte zum einen geltend, dass Herr Vašuta nicht hinreichend aufgeklärt worden sei. Zum anderen habe das Gericht nicht von Amts wegen zu dessen Gunsten Vorschriften angewandt, die genügenden Schutz gegen eine missbräuchliche Schiedsklausel böten. Auch habe es keine Rechtsfolgen aus der fehlenden Angabe des effektiven Jahreszinses im Verbraucherkreditvertrag gezogen. Das vorlegende Gericht habe die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, insbesondere das Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones (C-40/08, Slg. 2009, I-9579), und den Beschluss vom 16. November 2010, Pohotovosť (C-76/10, Slg. 2010, I-11557), nicht korrekt angewandt.
17 Aus den beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen geht hervor, dass der Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberster Gerichtshof der Slowakischen Republik) in einem Urteil vom 10. Oktober 2012 entschieden hat, dass der Streitbeitritt einer Verbraucherschutzvereinigung in einem Zwangsvollstreckungsverfahren gegen einen Verbraucher nicht zulässig sei, da es sich nicht um ein Streitverfahren, sondern ein Verfahren zur Erwirkung der Zwangsvollstreckung aus einer rechtskräftigen und für den Schuldner verbindlichen Sachentscheidung handele. Außerdem soll das Ústavný súd Slovenskej republiky in einem Urteil vom 15. Januar 2013 eine ähnliche Lösung gewählt haben.
18 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte die Auslegung der Richtlinie 93/13 durch den Gerichtshof die Entscheidung des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens maßgeblich beeinflussen.
19 Unter diesen Umständen hat das Okresný súd Svidník beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit den Art. 38 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Bestimmung wie der des § 37 Abs. 1 und 3 der Vollstreckungsordnung, der es einer Verbraucherschutzvereinigung nicht erlaubt, einem Vollstreckungsverfahren als Streithelferin beizutreten, entgegenstehen?
2. Sind, wenn die erste Frage in dem Sinn beantwortet wird, dass die oben genannte Bestimmung dem Unionsrecht nicht entgegensteht, die Bestimmungen des § 37 Abs. 1 und 3 der Vollstreckungsordnung dahin auszulegen, dass sie ein innerstaatliches Gericht nicht daran hindern, auf der Grundlage der Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 8 der genannten Richtlinie einer Verbraucherschutzvereinigung die Eigenschaft als Streithelferin in einem Vollstreckungsverfahren zuzuerkennen?
Zu den von Pohotovosť nach Abschluss des mündlichen Verfahrens gestellten Anträgen
20 Mit Antragsschrift vom 31. Januar 2014, bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen am 6. Februar 2014, hat Pohotovosť auf die am 12. Dezember 2013 vorgetragenen Schlussanträge des Generalanwalts hin die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung beantragt und dies mit unzureichenden Informationen über einen neuen Umstand begründet, der geeignet sei, maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung des Gerichtshofs auszuüben. Ferner hat Pohotovosť beim Gerichtshof beantragt, im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens die Partei eines anderen, beim Okresný súd Bardejov (Bezirksgericht Bardejov) anhängigen Verfahrens anzuhören, für deren Rechnung die Vereinigung HOOS eine auf rechtlich unzutreffendem Vorbringen beruhende Klage erhoben habe.
21 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auch auf Antrag der Parteien die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen für entscheidungserheblich erachtet (Urteil vom 12. Dezember 2013, Carratù, C‑361/12, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Zweitens hat der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Hierbei kann er ein Vorabentscheidungsersuchen gegebenenfalls in einem weiteren Kontext prüfen als in den vom vorlegenden Gericht oder den Parteien des Ausgangsverfahrens genau vorgegebenen Grenzen. Da die Schlussanträge des Generalanwalts oder die ihnen zugrunde liegende Begründung den Gerichtshof nicht binden, ist eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nach Art. 83 der Verfahrensordnung nicht stets dann unerlässlich, wenn der Generalanwalt einen rechtlichen Gesichtspunkt aufwirft, der zwischen den Parteien nicht erörtert worden ist (Urteil Carratù, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Im vorliegenden Fall bedarf die Rechtssache zum einen keiner Entscheidung auf der Grundlage eines zwischen den Parteien nicht erörterten Vorbringens. Zum anderen ist hinsichtlich des Antrags von Pohotovosť, dass der Gerichtshof im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren eine Person anhören möge, die Partei eines anderen bei einem nationalen Gericht anhängigen Verfahrens als des Ausgangsverfahrens ist, daran zu erinnern, dass das Verfahren nach Art. 267 AEUV ein Verfahren der Zusammenarbeit zwischen dem nationalen Gericht und dem Unionsgericht ist und dass die Parteien des Ausgangsverfahrens, wie aus Art. 97 Abs. 1 der Verfahrensordnung hervorgeht, diejenigen sind, die vom vorlegenden Gericht gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften als solche bezeichnet werden. Im vorliegenden Fall ist die in Rede stehende Person jedoch nicht vom vorlegenden Gericht als Partei des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens bezeichnet worden (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. März 2007, Cedilac, C‑368/06, Rn. 6).
24 Folglich sind die Anträge von Pohotovosť nach Anhörung des Generalanwalts zurückzuweisen.
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
25 In ihren gemäß Art. 23 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingereichten Erklärungen hat Pohotovosť dem Gerichtshof insbesondere mitgeteilt, dass sie am 14. November 2012 beim vorlegenden Gericht einen Schriftsatz eingereicht habe, in dem sie erklärt habe, ihren Antrag auf Zwangsvollstreckung insgesamt zurücknehmen zu wollen, und beantragt habe, das Verfahren abzuschließen. Das vorlegende Gericht sei verpflichtet, über diese Rücknahme durch Einstellung des Vollstreckungsverfahrens zu entscheiden. Jedenfalls müsse der Gerichtshof das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen als unzulässig zurückweisen, da das Ausgangsverfahren beendet sei.
26 Vom Gerichtshof aufgefordert, ihm angesichts der auf diese Weise bekannt gegebenen Antragsrücknahme zu bestätigen, ob der Rechtsstreit, in dessen Rahmen es ursprünglich sein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt habe, noch bei ihm anhängig sei und ob es unter diesem Aspekt dieses Ersuchen aufrechterhalte, hat das Okresný súd Svidník mit Schreiben, die am 8. Juli und am 10. September 2013 beim Gerichtshof eingegangen sind, geantwortet, dass Pohotovost’ bei ihm am 27. Dezember 2012 einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens der Vollstreckung aus dem Schiedsspruch eingereicht habe. Das vorlegende Gericht hat auch ausgeführt, dass sich die Akten des Ausgangsverfahrens jetzt beim Krajsky súd v Prešove (Regionales Gericht Prešov) befänden, da bei diesem ein Rechtsbehelf von Pohotovost’ gegen das Vorabentscheidungsersuchen anhängig sei. Das Okresný súd Svidník hat jedoch angegeben, dass das Ausgangsverfahren bei ihm noch anhängig sei und dass es aus diesem Grund sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalte.
27 In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a., C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau des Art. 267 AEUV folgt jedoch, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juni 1995, Zabala Erasun u. a., C-422/93 bis C-424/93, Slg. 1995, I-1567, Rn. 28, vom 12. März 1998, Djabali, C-314/96, Slg. 1998, I-1149, Rn. 18, sowie vom 20. Januar 2005, García Blanco, C-225/02, Slg. 2005, I-523, Rn. 27).
29 Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nämlich nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. Urteile vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 18, vom 25. März 2004, Azienda Agricola Ettore Ribaldi u. a., C-480/00 bis C-482/00, C-484/00, C-489/00 bis C-491/00 und C-497/00 bis C-499/00, Slg. 2004, I-2943, Rn. 72, sowie García Blanco, Rn. 28).
30 Im vorliegenden Fall hat das nationale Gericht, vom Gerichtshof befragt, angegeben, dass die Rechtssache bei ihm noch anhängig sei. Da das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (vgl. u. a. Urteile vom 16. Juli 1992, Meilicke, C-83/91, Slg. 1992, I-4871, Rn. 22, und vom 24. März 2009, Danske Slagterier, C-445/06, Slg. 2009, I-2119, Rn. 65), bindet eine derartige Angabe den Gerichtshof und kann grundsätzlich nicht von den Parteien des Ausgangsverfahrens in Zweifel gezogen werden.
31 Zu dem Umstand, dass gegen die Vorlageentscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, ist auszuführen, dass nach Art. 267 AEUV die Beurteilung der Erheblichkeit und der Erforderlichkeit der Vorabentscheidungsfrage grundsätzlich in der alleinigen Verantwortung des Gerichts liegt, das das Vorabentscheidungsersuchen beschließt. Dies gilt vorbehaltlich der eingeschränkten Überprüfung, die der Gerichtshof nach der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vornimmt. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, die Konsequenzen aus dem Urteil über das Rechtsmittel gegen die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen worden ist, zu ziehen und gegebenenfalls festzustellen, dass sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten, abzuändern oder zurückzuziehen ist (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio, C-210/06, Slg. 2008, I-9641, Rn. 96).
32 Daraus ergibt sich, dass der Gerichtshof in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, auch im Interesse der Klarheit und der Rechtssicherheit, an die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen worden ist, gebunden ist; diese muss ihre Wirkungen entfalten, solange sie nicht von dem Gericht, das sie erlassen hat, aufgehoben oder geändert worden ist, denn nur dieses Gericht kann eine solche Aufhebung oder Änderung beschließen (vgl. Urteil Cartesio, Rn. 97).
33 Nur wenn das für den Rechtsbehelf zuständige Gericht nach den anwendbaren Bestimmungen des nationalen Verfahrensrechts entscheiden würde, dass die Weigerung des vorlegenden Gerichts, der Antragsrücknahme der Vollstreckungsgläubigerin des Ausgangsverfahrens Folge zu leisten, aufzuheben und anzuordnen ist, dass das von ihm vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen zurückgezogen wird, könnte der Gerichtshof in Betracht ziehen, die Konsequenzen aus dieser Entscheidung zu ziehen und die Streichung der Rechtssache in seinem Register anzuordnen, nachdem er gegebenenfalls die Stellungnahme des vorlegenden Gerichts hierzu eingeholt hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. September 2013, BNP Paribas Personal Finance und Facet, C‑564/12, Rn. 1 bis 5).
34 Festzustellen ist jedoch, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache nicht vom vorlegenden Gericht oder einem anderen Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV von einer solchen Entscheidung des Krajsky súd v Prešove unterrichtet worden ist.
35 Nach alledem sind die vorgelegten Fragen zu beantworten.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
36 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 93/13, insbesondere deren Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 8, in Verbindung mit den Art. 38 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Streitbeitritt einer Verbraucherschutzvereinigung zur Unterstützung eines Verbrauchers als Vollstreckungsschuldner in einem gegen diesen betriebenen Verfahren zur Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch nicht zulässig ist.
37 In diesem Zusammenhang geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass im Ausgangsverfahren die Združenie HOOS in einem von Pohotovost’ gegen Herrn Vašuta betriebenen Vollstreckungsverfahren als Streithelferin zugelassen werden möchte, weil sie insbesondere der Ansicht ist, dass das Okresný súd Svidník mit seiner Entscheidung, das Verfahren der Zwangsvollstreckung aus dem Schiedsspruch nur für einen Teil der Forderung einzustellen und diese Vollstreckung im Übrigen zu genehmigen, angesichts des Vorliegens einer missbräuchlichen Schiedsklausel dem Verbraucher nicht von Amts wegen ausreichenden Schutz gewährt habe und auch nicht die rechtlichen Konsequenzen aus der unterbliebenen Angabe des effektiven Jahreszinses im Verbraucherkreditvertrag gezogen habe. Die letztgenannte Entscheidung stehe nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union insbesondere im Beschluss Pohotovost’.
38 Es verhält sich offenbar weiterhin so, dass nach § 93 Abs. 2 der slowakischen Zivilprozessordnung eine Verbraucherschutzvereinigung als Streithelferin in einem Rechtsstreit zur Sache zugelassen werden kann, an dem ein Verbraucher beteiligt ist. Hingegen erlaubt die Vollstreckungsordnung in Vollstreckungsverfahren, an denen ein Verbraucher beteiligt ist – gleichviel, ob es sich um die Vollstreckung aus dem Urteil eines nationalen Gerichts oder aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch handelt –, nach der Rechtsprechung des Najvyšší súd Slovenskej republiky und des Ústavný súd Slovenskej republiky nicht die Zulassung einer solchen Vereinigung als Streithelferin.
39 Nach ständiger Rechtsprechung beruht das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem auf dem Gedanken, dass der Verbraucher sich gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt, was dazu führt, dass er den vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen zustimmt, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können (Urteile vom 27. Juni 2000, Océano Grupo Editorial und Salvat Editores, C-240/98 bis C-244/98, Slg. 2000, I-4941, Rn. 25, und vom 26. Oktober 2006, Mostaza Claro, C-168/05, Slg. 2006, I-10421, Rn. 25, sowie Beschluss Pohotovost’, Rn. 37).
40 Um den durch die Richtlinie gewollten Schutz zu gewährleisten, hat der Gerichtshof wiederholt bekräftigt, dass die bestehende Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem nur durch ein positives Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite ausgeglichen werden kann (Urteile Océano Grupo Editorial und Salvat Editores, Rn. 27, Mostaza Claro, Rn. 26, Asturcom Telecomunicaciones, Rn. 31, sowie Beschluss Pohotovost’, Rn. 39).
41 Die Befugnis der Gerichte, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel zu prüfen, ist in dieser Hinsicht ein geeignetes Mittel, um das in Art. 6 der Richtlinie 93/13 festgelegte Ziel zu erreichen, das darin besteht, zu verhindern, dass der einzelne Verbraucher an eine missbräuchliche Klausel gebunden ist, und um die Verwirklichung des Ziels des Art. 7 der Richtlinie zu fördern, da eine solche Prüfung abschreckend wirken kann und damit dazu beiträgt, dass der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch Gewerbetreibende in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird (Urteile vom 21. November 2002, Cofidis, C-473/00, Slg. 2002, I-10875, Rn. 32, und Mostaza Claro, Rn. 27, sowie Beschluss Pohotovost’, Rn. 41).
42 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 55 und 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein – wie im Ausgangsverfahren – mit einem Antrag auf Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch befasstes nationales Gericht zu einem solchen positiven Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite verpflichtet, das in der Richtlinie vorgesehen ist, um die bestehende Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem auszugleichen. Sobald dieses Gericht über die erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt, muss es von Amts wegen die Missbräuchlichkeit der Vertragsbestimmungen prüfen, auf denen die in dem Schiedsspruch festgestellte Forderung beruht, wenn es nach den Bestimmungen des nationalen Verfahrensrechts von Amts wegen in einem derartigen Vollstreckungsverfahren den Verstoß einer Schiedsklausel gegen zwingende Vorschriften des nationalen Rechts zu beurteilen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juni 2009, Pannon GSM, C-243/08, Slg. 2009, I-4713, Rn. 32, und Asturcom Telecomunicaciones, Rn. 53, sowie Beschluss Pohotovost’, Rn. 51).
43 Zu der Rolle, die Verbraucherschutzvereinigungen spielen können, ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dafür sorgen müssen, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird (Urteil vom 26. April 2012, Invitel, C‑472/10, Rn. 35). Wie in diesem Zusammenhang aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie hervorgeht, schließen diese Mittel die Möglichkeit von Personen oder Organisationen, die ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, zur Anrufung der Gerichte ein, um klären zu lassen, ob Vertragsklauseln, die im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung abgefasst wurden, missbräuchlich sind, und um gegebenenfalls deren Verbot zu erreichen (vgl. Urteil vom 24. Januar 2002, Kommission/Italien, C-372/99, Slg. 2002, I-819, Rn. 14, und Invitel, Rn. 36).
44 Der präventive Charakter und der Abschreckungszweck der Unterlassungsklagen sowie ihre Unabhängigkeit von einzelnen konkreten Streitigkeiten haben zur Folge, dass diese Klagen auch dann zur Verfügung stehen müssen, wenn die Klauseln, deren Verbot beantragt wird, nicht konkret in Verträgen verwendet worden sind (vgl. Urteile Kommission/Italien, Rn. 15, und Invitel, Rn. 37).
45 Indessen ist, wie der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, festzustellen, dass weder die Richtlinie 93/13 noch die nachfolgenden Richtlinien, die die Regelung des Verbraucherschutzes ergänzt haben, eine Bestimmung über die Rolle enthalten, die Verbraucherschutzvereinigungen im Rahmen von Individualstreitigkeiten, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, zufallen kann oder muss. So regelt die Richtlinie 93/13 nicht die Frage, ob solche Vereinigungen das Recht haben sollten, als Streithelfer zur Unterstützung der Verbraucher in solchen Individualstreitigkeiten zugelassen zu werden
46 Daher ist es in Ermangelung einer Unionsregelung über eine für Verbraucherschutzvereinigungen bestehende Möglichkeit, Individualstreitigkeiten beizutreten, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, Sache des Rechts jedes einzelnen Mitgliedstaats, solche Bestimmungen nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie aufzustellen, sofern diese nicht ungünstiger als die Bestimmungen sind, die ähnliche, dem nationalen Recht unterliegende Fälle regeln (Äquivalenzprinzip), und sie die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht in der Praxis unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip).
47 Was erstens das Äquivalenzprinzip angeht, setzt dieses voraus, dass die streitige nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben (vgl. u. a. Urteil vom 29. Oktober 2009, Pontin, C-63/08, Slg. 2009, I-10467, Rn. 45).
48 Um festzustellen, ob dieser Grundsatz in der Rechtssache, mit der das vorlegende Gericht befasst ist, gewahrt ist, hat dieses, das allein eine unmittelbare Kenntnis der Verfahrensmodalitäten für Rechtsbehelfe im Bereich des innerstaatlichen Rechts besitzt, sowohl den Gegenstand als auch die wesentlichen Merkmale der angeblich vergleichbaren Rechtsbehelfe, die das innerstaatliche Recht betreffen, zu prüfen. Der Gerichtshof kann jedoch dem nationalen Gericht im Hinblick auf die von diesem vorzunehmende Prüfung einige Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben.
49 Hierzu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass § 37 Abs. 1 der Vollstreckungsordnung, wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, den Streitbeitritt sämtlicher dritter Personen in einem Verfahren zur Zwangsvollstreckung aus einer Entscheidung eines nationalen Gerichts oder einem rechtskräftigen Schiedsspruch unabhängig davon ausschließt, ob dieser Beitritt auf eine Verletzung des Unionsrechts oder einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützt wird.
50 Unter solchen Umständen kann nicht angenommen werden, dass eine solche Regelung gegen das Äquivalenzprinzip verstößt, wenn sie nicht die Möglichkeit vorsieht, den Streitbeitritt einer Verbraucherschutzvereinigung in einem Verfahren der Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch zuzulassen, wie es im Ausgangsverfahren in Rede steht.
51 Was zweitens den Effektivitätsgrundsatz angeht, ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (vgl. Urteil vom 5. Dezember 2013, Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, C‑413/12, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Hierzu bestimmt Art. 38 der Charta, dass die Politik der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellt. Dieses Gebot gilt für die Umsetzung der Richtlinie 93/13. Da jedoch die Richtlinie 93/13 keine Bestimmung enthält, die ein Recht der Verbraucherschutzvereinigungen auf Streitbeitritt in Individualstreitigkeiten vorsähe, an denen Verbraucher beteiligt sind, kann Art. 38 der Charta als solchem nicht das Gebot entnommen werden, die Richtlinie im Sinne der Anerkennung eines solchen Rechts auszulegen.
53 Diese Feststellung steht auch mit Art. 47 der Charta im Einklang, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Zugang zu einem unparteiischen Gericht gewährt, wozu es gehört, dass Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe gewährt wird, wenn diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten. Da die Richtlinie in Rechtsstreitigkeiten, an denen ein Gewerbetreibender und ein Verbraucher beteiligt sind, ein positives, von den Vertragsparteien unabhängiges Eingreifen durch das mit solchen Rechtsstreitigkeiten befasste nationale Gericht vorschreibt, kann jedenfalls nicht angenommen werden, dass die Ablehnung, den Streitbeitritt einer Vereinigung zum Schutz eines bestimmten Verbrauchers zuzulassen, eine Verletzung des Rechts dieses Verbrauchers auf einen wirksamen Rechtsbehelf darstellt, wie es durch Art. 47 der Charta gewährleistet wird. Auch kann der Streitbeitritt einer Verbraucherschutzvereinigung nicht einer Prozesskostenhilfe gleichgestellt werden, die nach Art. 47 der Charta in bestimmten Fällen Personen gewährt werden muss, die nicht über ausreichende Mittel verfügen.
54 Was schließlich die für eine Verbraucherschutzvereinigung bestehende Möglichkeit betrifft, sich in diesem Zusammenhang auf Art. 47 der Charta zu berufen, ist festzustellen, dass die Weigerung, sie in einem Verfahren, an dem ein Verbraucher beteiligt ist, als Streithelferin zuzulassen, ihren Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick auf die Verteidigung ihrer Rechte als Verbraucherschutzvereinigung, insbesondere ihre in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 anerkannten Rechte, kollektive Maßnahmen zu ergreifen, gleichfalls nicht beeinträchtigt.
55 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung eine Vereinigung einen solchen Verbraucher in jedem Verfahren einschließlich des Vollstreckungsverfahrens in dessen Auftrag unmittelbar vertreten kann.
56 Nach alledem verstößt eine nationale Regelung der im Ausgangsverfahren fraglichen Art dadurch, dass sie einer Verbraucherschutzvereinigung nicht die Möglichkeit einräumt, einem Verfahren zur Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung oder eines rechtskräftigen Schiedsspruchs beizutreten, nicht gegen das Effektivitätsprinzip.
57 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 93/13, insbesondere deren Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 8, in Verbindung mit den Art. 38 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Streitbeitritt einer Verbraucherschutzvereinigung zur Unterstützung eines Verbrauchers als Vollstreckungsschuldner in einem gegen ihn betriebenen Verfahren zur Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch nicht zulässig ist.
Zur zweiten Frage
58 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob § 37 Abs. 1 und 3 der Vollstreckungsordnung dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht nicht daran hindert, auf der Grundlage der Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 93/13 einer Verbraucherschutzvereinigung die Eigenschaft als Streithelferin in einem Verfahren zur Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch zuzuerkennen.
59 Tatsächlich befragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit dieser Frage danach, wie sein nationales Recht auszulegen ist.
60 Es ist indessen nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsnormen mit dem Unionsrecht zu beurteilen oder nationale Rechtsvorschriften auszulegen (vgl. Urteile vom 9. September 2003, Jaeger, C-151/02, Slg. 2003, I-8389, Rn. 43, und vom 23. März 2006, Enirisorse, C-237/04, Slg. 2006, I-2843, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Nach alledem ist die zweite Frage für unzulässig zu erklären.
Kosten
62 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, insbesondere deren Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 8, in Verbindung mit den Art. 38 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass sie nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Streitbeitritt einer Verbraucherschutzvereinigung zur Unterstützung eines Verbrauchers als Vollstreckungsschuldner in einem gegen ihn betriebenen Verfahren zur Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch nicht zulässig ist.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Slowakisch.
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 20. Februar 2013. # Melli Bank plc gegen Rat der Europäischen Union. # Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik - Restriktive Maßnahmen gegen Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation - Einfrieren von Geldern - Einrichtung, deren Anteile zu 100 % von einer Einrichtung gehalten werden, die bekanntermaßen an der nuklearen Proliferation beteiligt ist - Einrede der Rechtswidrigkeit - Begründungspflicht - Verteidigungsrechte - Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. # Rechtssache T-492/10.
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62010TJ0492
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ECLI:EU:T:2013:80
| 2013-02-20T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
20. Februar 2013 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen gegen Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation — Einfrieren von Geldern — Einrichtung, deren Anteile zu 100 % von einer Einrichtung gehalten werden, die bekanntermaßen an der nuklearen Proliferation beteiligt ist — Einrede der Rechtswidrigkeit — Begründungspflicht — Verteidigungsrechte — Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz“
In der Rechtssache T-492/10
Melli Bank plc mit Sitz in London (Vereinigtes Königreich), Prozessbevollmächtigte: zunächst S. Gadhia, S. Ashley, Solicitors, D. Anderson, QC, und R. Blakeley, Barrister, sodann S. Ashley, S. Jeffrey, A. Irvine, Solicitors, D. Wyatt, QC, und R. Blakeley,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bishop und R. Liudvinaviciute-Cordeiro als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch S. Boelaert und M. Konstantinidis als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
betreffend einen Antrag auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2010/413/GASP des Rates vom 26. Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP (ABl. L 195, S. 39), des Beschlusses 2010/644/GASP des Rates vom 25. Oktober 2010 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 281, S. 81), der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 (ABl. L 281, S. 1), des Beschlusses 2011/783/GASP des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 319, S. 71), der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1245/2011 des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Durchführung der Verordnung Nr. 961/2010 (ABl. L 319, S. 11) und der Verordnung (EU) Nr. 267/2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 961/2010 (ABl. L 88, S. 1), soweit diese Rechtsakte die Klägerin betreffen, sowie einen Antrag auf Feststellung, dass Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 auf die Klägerin nicht anwendbar sind,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin I. Pelikánová (Berichterstatterin), der Richterin K. Jürimäe und des Richters M. van der Woude,
Kanzler: N. Rosner, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 2012
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin, die Melli Bank plc, ist eine eingetragene Aktiengesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich, die von der Financial Services Authority (Aufsichtsbehörde für Finanzdienstleistungen im Vereinigten Königreich) zugelassen und beaufsichtigt wird. Die Klägerin nahm ihre Bankgeschäfte im Vereinigten Königreich am 1. Januar 2002 nach Umwandlung der in diesem Land bestehenden Zweigstelle der Bank Melli Iran (im Folgenden: BMI) auf. Die BMI, die als Muttergesellschaft die gesamten Anteile der Klägerin hält, ist eine vom iranischen Staat kontrollierte iranische Bank.
2 Hintergrund der vorliegenden Rechtssachen ist das System restriktiver Maßnahmen, das eingeführt wurde, um auf die Islamische Republik Iran Druck auszuüben, damit sie proliferationsrelevante nukleare Tätigkeiten und die Entwicklung von Trägersystemen für Kernwaffen (im Folgenden: nukleare Proliferation) einstellt.
3 Sowohl die BMI als auch ihre Tochtergesellschaften, einschließlich der Klägerin, wurden mit dem Gemeinsamen Standpunkt 2008/479/GASP des Rates vom 23. Juni 2008 zur Änderung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140 (ABl. L 163, S. 43) in die Liste des Anhangs II des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP des Rates vom 27. Februar 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 61, S. 49) aufgenommen.
4 In der Folge wurden die BMI und die Klägerin durch den Beschluss 2008/475/EG des Rates vom 23. Juni 2008 zur Durchführung von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 163, S. 29) in die Liste in Anhang V der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 des Rates vom 19. April 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 103, S. 1) aufgenommen, was zur Folge hatte, dass ihre Gelder eingefroren wurden.
5 Sowohl im Gemeinsamen Standpunkt 2008/479 als auch im Beschluss 2008/475 begründete der Rat der Europäischen Union dies hinsichtlich der BMI und all ihrer Zweigstellen und Niederlassungen wie folgt:
„Bereitstellung bzw. Bemühungen zur Bereitstellung von Finanzmitteln für Unternehmen, die Güter für Irans Nuklear- und Raketenprogramm beschaffen oder an deren Beschaffung beteiligt sind (AIO, SHIG, SBIG, AEOI, Novin Energy Company, Mesbah Energy Company, Kalaye Electric Company und DIO). Die [BMI] dient als Vermittler für Irans sensible Geschäfte. Hat mehrfach den Kauf sensibler Materialien für Irans Nuklear- und Raketenprogramm vermittelt. Hat eine Reihe von Finanzdienstleistungen im Auftrag von Einrichtungen getätigt, die mit der iranischen Nuklear- und Raketenindustrie verbunden sind, so z. B. die Eröffnung von Akkreditiven und die Verwaltung von Konten. Viele der vorgenannten Unternehmen wurden in den Resolutionen 1737 und 1747 des [Sicherheitsrates der Vereinten Nationen] benannt.“
6 Die Klägerin erhob gegen den Beschluss 2008/475 zwei Klagen vor dem Gericht. Dieses wies beide Klagen mit Urteil vom 9. Juli 2009, Melli Bank/Rat (T-246/08 und T-332/08, Slg. 2009, II-2629), ab.
7 In der Zeit von Juli 2009 bis Mai 2010 kam es im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen zu einem umfangreichen Schriftwechsel zwischen der Klägerin und dem Rat. So übersandte die Klägerin dem Rat am 6., 15. und 24. Juli, am 20. August und am 15. Oktober 2009 sowie am 22. März 2010 Schreiben, auf die der Rat am 23. Juli, 1. Oktober und 18. November 2009 sowie am 11. Mai 2010 antwortete.
8 Bei diesem Schriftwechsel ging es zum einen um die Gründe zur Rechtfertigung des Erlasses und der Aufrechterhaltung restriktiver Maßnahmen gegenüber der BMI und der Klägerin. Der Rat führte hierzu in seinem Schreiben vom 23. Juli 2009 aus, die Klägerin werde als Tochtergesellschaft von BMI restriktiven Maßnahmen unterworfen. Mit Schreiben vom 18. November 2009 stellte er nach einer Überprüfung fest, dass erstens die BMI die nukleare Proliferation unterstütze, zweitens die Klägerin im Eigentum der BMI stehe, die Einfluss auf die Klägerin ausüben könne, und sich drittens mit den von der Klägerin vorgeschlagenen Alternativmaßnahmen nicht die Gefahr vermeiden lasse, dass die BMI die gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen mit Hilfe der Klägerin unterlaufe. Der Rat hielt mit Schreiben vom 11. Mai 2010 an dieser Auffassung fest.
9 Zum anderen beantragte die Klägerin Einsicht in die Akten des Rates. In diesem Zusammenhang verweigerte der Rat mit Schreiben vom 23. Juli 2009 die Akteneinsicht hinsichtlich des ursprünglichen Vorschlags für den Erlass gegen die BMI und die Klägerin gerichteter restriktiver Maßnahmen (im Folgenden: ursprünglicher Vorschlag), weil dieses Dokument vertraulich sei. Mit Schreiben vom 1. Oktober 2009 nannte er der Klägerin zusätzliche Gründe, aus denen er von einer Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation ausging. Mit Schreiben vom 18. November 2009 übermittelte er der Klägerin eine nicht vertrauliche Fassung des Vorschlags für den Erlass restriktiver Maßnahmen, der sich auf die im Schreiben vom 1. Oktober 2009 genannten zusätzlichen Gründe bezog (im Folgenden: zusätzlicher Vorschlag).
10 Mit dem Erlass des Beschlusses 2010/413/GASP des Rates vom 26. Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP (ABl. L 195, S. 39) wurden sowohl die BMI als auch die Klägerin in die Liste des Anhangs II dieses Beschlusses aufgenommen. Dies wurde hinsichtlich der BMI wie folgt begründet:
„Bereitstellung bzw. Bemühungen um Bereitstellung von Finanzmitteln für Unternehmen, die Güter für Irans Nuklear- und Flugkörperprogramm beschaffen oder an deren Beschaffung beteiligt sind (AIO, SHIG, SBIG, AEOI, Novin Energy Company, Mesbah Energy Company, Kalaye Electric Company und DIO). Die [BMI] dient als Vermittler für Irans sensible Geschäfte. Hat mehrfach den Kauf sensibler Materialien für Irans Nuklear- und Flugkörperprogramm vermittelt. Hat eine Reihe von Finanzdienstleistungen im Auftrag von Einrichtungen getätigt, die mit der iranischen Nuklear- und Flugkörperindustrie verbunden sind, so z. B. die Eröffnung von Akkreditiven und die Verwaltung von Konten. Viele der vorgenannten Unternehmen sind in den Resolutionen 1737 (2006) und 1747 (2007) des [Sicherheitsrats der Vereinten Nationen] bezeichnet. Die [BMI] nimmt diese Aufgaben weiterhin wahr und unterstützt und fördert mit ihrer Tätigkeit Irans sensible Geschäfte. Nutzt ihre Bankbeziehungen nach wie vor, um Einrichtungen, die in den Listen der V[ereinten]N[ationen] und der EU geführt werden, bei sensiblen Geschäften zu unterstützen, und erbringt Finanzdienstleistungen für sie. Handelt auch im Namen und auf Anweisung dieser Einrichtungen, einschließlich der Bank Sepah, wobei die Abwicklung oft über Tochterunternehmen und verbundene Unternehmen erfolgt.“
11 Das Inkrafttreten der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 668/2010 des Rates vom 26. Juli 2010 zur Durchführung von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 423/2007 (ABl. L 195, S. 25) hat an der Nennung der Klägerin in Anhang V der Verordnung Nr. 423/2007 nichts geändert.
12 Mit Schreiben vom 27. Juli 2010 setzte der Rat die Klägerin von ihrer Aufnahme in die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 in Kenntnis.
13 Mit Schreiben vom 17. August 2010 ersuchte die Klägerin den Rat um Überprüfung der Entscheidung, sie in die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 aufzunehmen und sie weiterhin in der Liste des Anhangs V der Verordnung Nr. 423/2007 zu führen. Sie beantragte in diesem Zusammenhang die Übermittlung einer Kopie sämtlicher Akten des Rates zu den gegen sie erlassenen restriktiven Maßnahmen. Die Klägerin wiederholte außerdem ihr Angebot, Garantien zu stellen, um jegliche Gefahr eines Unterlaufens der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen zu verhindern.
14 Die Nennung der Klägerin in Anhang II des Beschlusses 2010/413 wurde mit dem Beschluss 2010/644/GASP des Rates vom 25. Oktober 2010 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 281, S. 81) beibehalten.
15 Nach der Aufhebung der Verordnung Nr. 423/2007 durch die Verordnung (EU) Nr. 961/2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 281, S. 1) wurden die BMI und die Klägerin vom Rat in Anhang VIII der letztgenannten Verordnung aufgenommen. Die Gelder und die wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin waren also gemäß Art. 16 Abs. 2 dieser Verordnung eingefroren.
16 Die im Beschluss 2010/644 und in der Verordnung Nr. 961/2010 angeführte Begründung ist die gleiche wie die im Beschluss 2010/413.
17 Mit Schreiben vom 28. Oktober 2010 setzte der Rat die Klägerin davon in Kenntnis, dass sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 geführt werde und in die Liste des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 aufgenommen worden sei. Er führte insoweit aus, dass die Stellungnahme der Klägerin vom 17. August 2010 die Aufhebung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen nicht rechtfertige und seine Akten keine sie betreffenden neuen Informationen oder Gesichtspunkte enthielten.
18 Mit Schreiben vom 29. Juli 2011 ersuchte die Klägerin den Rat um Überprüfung der Entscheidung, sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und der des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 zu führen. Sie wiederholte ihr Angebot, insbesondere im Hinblick auf die Ernennung und Abberufung ihrer Direktoren Garantien zu stellen, um jegliche Gefahr eines Unterlaufens der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen zu verhindern, und betonte die Wirksamkeit und Machbarkeit dieser Garantien.
19 Das Inkrafttreten des Beschlusses 2011/783/GASP des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 319, S. 71) und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1245/2011 des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Durchführung der Verordnung Nr. 961/2010 (ABl. L 319, S. 11) hat an der Nennung der BMI und der Klägerin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und in der des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 nichts geändert.
20 Mit Schreiben vom 5. Dezember 2011 setzte der Rat die Klägerin davon in Kenntnis, dass sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und der des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 geführt werde. Er stellte fest, dass die Stellungnahme der Klägerin vom 29. Juli 2011 die Aufhebung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen nicht rechtfertige, da insbesondere die von ihr angebotenen Garantien hinsichtlich der Ernennung und Abberufung ihrer Direktoren nicht ausreichten, um ihre Unabhängigkeit gegenüber der BMI sicherzustellen.
21 Mit Schreiben vom 31. Januar 2012 machte die Klägerin geltend, dass die Überprüfung der Aufrechterhaltung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen fehlerhaft sei. Insbesondere habe der Rat in seinem Schreiben die Weigerung, die von der Klägerin angebotenen zusätzlichen Garantien zu berücksichtigen, rechtlich nicht hinreichend begründet.
22 Mit Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat (C-380/09 P), hat der Gerichtshof das Rechtsmittel der Klägerin gegen das in Randnr. 6 des vorliegenden Urteils angeführte Urteil des Gerichts vom 9. Juli 2009, Melli Bank/Rat, zurückgewiesen.
23 Da die Verordnung Nr. 961/2010 durch die Verordnung (EU) Nr. 267/2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 88, S. 1) aufgehoben wurde, wurden die BMI und die Klägerin vom Rat in die Liste des Anhangs IX der letztgenannten Verordnung aufgenommen. Die in Bezug auf die BMI – einschließlich all ihrer Zweigstellen und Niederlassungen – angeführten Gründe stimmen mit den im Beschluss 2010/413 genannten Gründen überein. Die Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin wurden deshalb gemäß Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung eingefroren.
24 Mit Schreiben vom 24. April 2012 setzte der Rat die Klägerin davon in Kenntnis, dass sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 geführt werde und in die Liste des Anhangs IX der Verordnung Nr. 267/2012 aufgenommen worden sei. Er berief sich dabei auf die von ihm zuvor in seinem Schriftwechsel mit der Klägerin und vor dem Gericht angeführten Argumente. Außerdem verwies er die Klägerin auf die Feststellungen des Gerichtshofs in dem in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat.
Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten
25 Mit Klageschrift, die am 7. Oktober 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
26 Mit Schriftsatz, der am 5. November 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin ihre Anträge infolge des Erlasses des Beschlusses 2010/644 und der Verordnung Nr. 961/2010 angepasst.
27 Die Europäische Kommission hat mit Schriftsatz, der am 14. Januar 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 8. März 2011 hat die Präsidentin der Vierten Kammer des Gerichts diesem Antrag stattgegeben.
28 In ihrer am 7. März 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Erwiderung hat die Klägerin die Klage zurückgenommen, soweit sie sich gegen die Durchführungsverordnung Nr. 668/2010 richtete.
29 Mit Schriftsatz, der am 31. Januar 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin ihre Anträge infolge des Erlasses des Beschlusses 2011/783 und der Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 angepasst sowie beantragt, die angefochtenen Rechtsakte gegebenenfalls mit sofortiger Wirkung für nichtig zu erklären.
30 Mit Schriftsatz, der am 27. April 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin ihre Anträge infolge des Erlasses der Verordnung Nr. 267/2012 angepasst.
31 Das Gericht (Vierte Kammer) hat auf Bericht der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und den Verfahrensbeteiligten im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung des Gerichts schriftliche Fragen hinsichtlich der Konsequenzen, die für die vorliegende Rechtssache aus dem in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, zu ziehen sind, und zur Zulässigkeit des vierten Klagegrundes gestellt. Die Verfahrensbeteiligten haben auf diese Fragen geantwortet.
32 In ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts, die am 8. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin zunächst einen Teil der Rügen, die sie im Rahmen des ersten Klagegrundes erhoben hat, mit dem eine Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geltend gemacht wird, einen Teil der Rügen, die sie im Rahmen des zweiten Klagegrundes erhoben hat, mit dem ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde, geltend gemacht wird, und den dritten Klagegrund, mit dem die Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 geltend gemacht wird, zurückgenommen.
33 Die Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 3. Juli 2012 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
34 Mit Beschluss des Gerichts (Vierte Kammer) vom 4. September 2012 ist die mündliche Verhandlung wiedereröffnet worden, um die Stellungnahme der Klägerin zum Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Juli 2012, Akhras/Rat (C-110/12 P[R], nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), sowie die Stellungnahmen der anderen Verfahrensbeteiligten einzuholen. Die mündliche Verhandlung ist am 4. Oktober 2012 wieder geschlossen worden.
35 Die Klägerin beantragt,
—
mit sofortiger Wirkung Nr. 5 der Tabelle B des Anhangs II des Beschlusses 2010/413, Nr. 5 der Tabelle I.B des Anhangs des Beschlusses 2010/644, Nr. 5 der Tabelle B des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010, den Beschluss 2011/783, die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 und die Verordnung Nr. 267/2012 für nichtig zu erklären, soweit diese Rechtsakte sie betreffen;
—
festzustellen, dass Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 auf sie nicht anwendbar sind;
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
36 Der Rat und die Kommission beantragen,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
37 Die Klägerin macht in ihren Schriftsätzen fünf Klagegründe geltend. Mit dem ersten Klagegrund rügt sie einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Der zweite Klagegrund betrifft einen Beurteilungsfehler hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde. Mit dem dritten Klagegrund rügt sie, dass Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 unverhältnismäßig und daher rechtswidrig seien. Mit dem vierten Klagegrund wird ein Beurteilungsfehler in Bezug auf die Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation gerügt und mit dem fünften Klagegrund ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Eigentumsrecht der Klägerin sowie ihr Recht, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben.
38 Wie aus Randnr. 32 des vorliegenden Urteils hervorgeht, hat die Klägerin im Laufe des Verfahrens ihren dritten Klagegrund sowie einen Teil der im Rahmen des ersten und des zweiten Klagegrundes erhobenen Rügen zurückgenommen. Da der dritte Klagegrund der einzige Klagegrund ist, auf den die Klägerin den zweiten Klageantrag gestützt hat, mit dem die Feststellung begehrt wird, dass Art. 7 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 423/2007, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 nicht anwendbar sind, bedeutet die Teilrücknahme der Klage auch, dass sich der vorgenannte Klageantrag erledigt hat.
39 Der Rat und die Kommission halten die von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe für unbegründet. Außerdem hat der Rat in der Gegenerwiderung vorgetragen, die Klägerin könne keine Verletzung ihrer Grundrechte geltend machen, da sie als verlängerter Arm des iranischen Staates anzusehen sei.
40 Vorab ist zunächst die Zulässigkeit der von der Klägerin vorgenommenen Anpassung der Klageanträge, sodann die Zulässigkeit des vierten Klagegrundes und schließlich das Vorbringen des Rates zu der Möglichkeit für die Klägerin zu prüfen, sich auf den Schutz ihrer Grundrechte zu berufen.
Zur Zulässigkeit
Zur Zulässigkeit der Anpassung der Klageanträge
41 Nach der Einreichung der Klageschrift ist, wie sich aus den Randnrn. 14, 15 und 23 des vorliegenden Urteils ergibt, die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 durch eine neue, im Beschluss 2010/644 festgelegte Liste ersetzt und die Verordnung Nr. 423/2007 durch die Verordnung Nr. 961/2010 aufgehoben und ersetzt worden, die ihrerseits durch die Verordnung Nr. 267/2012 ersetzt und aufgehoben wurde. Zudem hat der Rat in den Erwägungsgründen des Beschlusses 2011/783 und der Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 ausdrücklich festgestellt, dass er die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und die des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 vollständig überprüft habe und zu dem Schluss gelangt sei, dass auf die dort namentlich genannten Personen, Einrichtungen und Organisationen, zu denen die Klägerin gehöre, weiterhin restriktive Maßnahmen angewandt werden sollten. Die Klägerin hat ihre ursprünglichen Anträge dahin gehend angepasst, dass sich ihr Antrag auf Nichtigerklärung neben dem Beschluss 2010/413 auf den Beschluss 2010/644, die Verordnung Nr. 961/2010, den Beschluss 2011/783, die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 und die Verordnung Nr. 267/2012 (im Folgenden zusammen: angefochtene Rechtsakte) bezieht. Der Rat und die Kommission haben gegen diese Anpassung keine Einwendungen erhoben.
42 In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass, wenn ein Beschluss oder eine Rechtsvorschrift, die einen Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft, während des Verfahrens durch einen Rechtsakt mit gleichem Gegenstand ersetzt wird, dieser als neue Tatsache anzusehen ist, die den Kläger zur Anpassung seiner Anträge und Klagegründe berechtigt. Es wäre nämlich mit einer geordneten Rechtspflege und dem Erfordernis der Prozessökonomie unvereinbar, wenn der Kläger eine weitere Klage erheben müsste. Außerdem wäre es ungerecht, wenn das betreffende Unionsorgan den Rügen in einer beim Unionsrichter gegen einen Rechtsakt eingereichten Klageschrift dadurch begegnen könnte, dass es den angefochtenen Rechtsakt anpasst oder durch einen anderen ersetzt und sich im Verfahren auf diese Änderung oder Ersetzung beruft, um es der Gegenpartei unmöglich zu machen, ihre ursprünglichen Anträge und Klagegründe auf den späteren Rechtsakt auszudehnen oder gegen diesen ergänzende Anträge zu stellen und zusätzliche Angriffsmittel vorzubringen (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T-256/07, Slg. 2008, II-3019, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Das Gleiche gilt für Rechtsakte wie den Beschluss 2011/783 und die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011, mit denen festgestellt wird, dass ein Beschluss oder eine Verordnung infolge eines in diesem Beschluss oder dieser Verordnung ausdrücklich vorgeschriebenen Überprüfungsverfahrens für bestimmte Einzelne weiterhin unmittelbar und individuell gelten soll.
44 Im vorliegenden Fall ist daher der Antrag der Klägerin zulässig, den Beschluss 2010/644, die Verordnung Nr. 961/2010, den Beschluss 2011/783, die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 und die Verordnung Nr. 267/2012 für nichtig zu erklären, soweit diese Rechtsakte sie betreffen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, oben in Randnr. 42 angeführt, Randnr. 47).
Zur Zulässigkeit des vierten Klagegrundes, mit dem ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation gerügt wird
45 Mit ihrem vierten Klagegrund macht die Klägerin geltend, dass der Erlass restriktiver Maßnahmen gegenüber der BMI nicht gerechtfertigt sei. Sie verweist insoweit auf die Klagen, die die BMI vor den Unionsgerichten erhoben habe, und vertritt insoweit die Ansicht, dass die gegen BMI selbst gerichteten Maßnahmen, falls die BMI zum Zeitpunkt der Verkündung des vorliegenden Urteils keinen restriktiven Maßnahmen mehr unterliege, für nichtig erklärt werden müssten.
46 Die Klägerin erhebt jedoch hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen keine konkrete Rüge. Insbesondere äußert sie sich nicht hinreichend genau zu den zusätzlichen Gründen für die angebliche Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation, die ihr mit Schreiben des Rates vom 1. Oktober 2009 (siehe oben, Randnr. 9) mitgeteilt wurden, denn sie gibt noch nicht einmal an, ob sie die Richtigkeit des der BMI zur Last gelegten Sachverhalts oder die Bewertung dieses Sachverhalts als Unterstützung der nuklearen Proliferation bestreitet.
47 Unter diesen Umständen ist das Gericht mangels hinreichender Substantiierung des Vorbringens der Klägerin nicht in der Lage, über den vierten Klagegrund zu entscheiden. Dieser Klagegrund ist daher, wie von der Kommission beantragt, gemäß Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung für unzulässig zu erklären.
Zur Zulässigkeit des Vorbringens des Rates zur Zulässigkeit der Klagegründe, mit denen eine Verletzung der Grundrechte der Klägerin geltend gemacht wird
48 Der Rat hat in seiner Gegenerwiderung vorgetragen, die Klägerin sei als verlängerter Arm des iranischen Staates anzusehen und könne sich daher nicht auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten berufen. Demzufolge seien die Klagegründe, mit denen eine Verletzung der Grundrechte der Klägerin behauptet werde, für unzulässig zu erklären.
49 Erstens bestreitet der Rat jedoch nicht das Recht der Klägerin, die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte zu beantragen, als solches. Er bestreitet lediglich, dass sie Inhaberin bestimmter Rechte sei, auf die sie sich beruft, um diese Nichtigerklärung zu erwirken.
50 Zweitens betrifft die Frage, ob die Klägerin Inhaberin des Rechts ist, auf das sie sich im Rahmen eines Klagegrundes zur Stützung eines Antrags auf Nichtigerklärung beruft, nicht die Zulässigkeit dieses Klagegrundes, sondern dessen Begründetheit. Demzufolge ist das Vorbringen des Rates, dass die Klägerin als verlängerter Arm des iranischen Staates anzusehen sei, zurückzuweisen, soweit dieses Vorbringen darauf abzielt, die teilweise Unzulässigkeit der Klage festzustellen.
51 Drittens erfolgt dieses Vorbringen erstmals in der Gegenerwiderung, ohne dass der Rat geltend gemacht hätte, dass es sich auf rechtliche oder tatsächliche Gründe stützt, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind. Hinsichtlich der Begründetheit der Klage stellt dieses Vorbringen somit ein neues Verteidigungsmittel im Sinne von Art. 48 § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung dar, so dass es für unzulässig zu erklären ist.
Zur Begründetheit
52 Infolge der teilweisen Klagerücknahme und aufgrund der Unzulässigkeit des vierten Klagegrundes brauchen nur der erste, der zweite und der fünfte Klagegrund geprüft zu werden.
53 Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst den zweiten Klagegrund, mit dem ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde, geltend gemacht wird, zusammen mit dem fünften Klagegrund zu prüfen, mit dem ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Eigentumsrecht und das Recht auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit gerügt wird. Sodann ist der erste Klagegrund zu prüfen, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht, den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geltend gemacht wird.
Zum zweiten Klagegrund eines Beurteilungsfehlers hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde, und zum fünften Klagegrund eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Eigentumsrecht und das Recht auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit
54 Die Klägerin hat in ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts, die am 8. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist (siehe oben, Randnr. 32), vorgetragen, dass sie infolge des in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, nicht mehr geltend mache, dass sie nicht im Eigentum der BMI im Sinne von Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413 und Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 961/2010 stehe und auch nicht zur BMI im Sinne von Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 gehöre. Der Erlass und die Aufrechterhaltung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen stellten jedoch eine unverhältnismäßige Beschränkung ihres Eigentumsrechts und ihres Rechts auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit dar.
55 Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass, wenn Gelder einer Einrichtung eingefroren werden, von der festgestellt wurde, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist, die nicht unerhebliche Gefahr besteht, dass sie auf die Einrichtungen, die in ihrem Eigentum oder unter ihrer Kontrolle stehen, Druck ausübt, um die Auswirkungen der gegen sie gerichteten Maßnahmen zu unterlaufen. Demzufolge ist das dem Rat nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 vorgeschriebene Einfrieren von Geldern dieser Einrichtungen erforderlich und angemessen, um die Wirksamkeit der erlassenen Maßnahmen zu gewährleisten und um zu garantieren, dass diese Maßnahmen nicht unterlaufen werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend das oben in Randnr. 22 angeführte Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, Randnrn. 39 und 58).
56 Des Weiteren ist nach der Rechtsprechung, wenn eine Einrichtung zu 100 % im Eigentum einer Einrichtung steht, die als an der nuklearen Proliferation beteiligt angesehen wird, die Voraussetzung gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413 und Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010, dass sie im Eigentum steht, erfüllt (vgl. entsprechend das oben in Randnr. 22 angeführte Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, Randnr. 79). Die gleiche Schlussfolgerung gilt für den in Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 enthaltenen Begriff einer Einrichtung, die „im Eigentum“ einer Einrichtung steht, von der angenommen wird, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist.
57 Daraus folgt, dass der Erlass restriktiver Maßnahmen gegenüber einer Einrichtung, die zu 100 % im Eigentum einer Einrichtung steht, von der angenommen wird, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist, oder zu 100 % dieser gehört (im Folgenden: im Eigentum stehende Einrichtung), nicht auf einer vom Rat vorgenommenen Beurteilung der Gefahr beruht, dass die Einrichtung die Auswirkungen der gegen ihre Muttergesellschaft erlassenen Maßnahmen unterlaufen könnte, sondern sich unmittelbar aus der Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Beschlusses 2010/413, der Verordnung Nr. 961/2010 und der Verordnung Nr. 267/2012 in ihrer Auslegung durch den Unionsrichter ergibt.
58 Demzufolge richtet sich das Vorbringen, mit dem die Verhältnismäßigkeit des Einfrierens von Geldern einer im Eigentum stehenden Einrichtung in Frage gestellt wird, nicht gegen die Rechtmäßigkeit einer vom Rat vorgenommenen Beurteilung der Umstände des vorliegenden Falles. Es bezieht sich letztlich auf die Rechtmäßigkeit allgemeiner Bestimmungen, nach denen der Rat die Gelder aller im Eigentum stehenden Einrichtungen einzufrieren hat, wie Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012.
59 Will daher eine im Eigentum stehende Einrichtung die Verhältnismäßigkeit der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen in Frage stellen, hat sie im Rahmen der Klage auf Nichtigerklärung der Rechtsakte, mit denen die genannten Maßnahmen erlassen oder aufrechterhalten wurden, die Unanwendbarkeit der genannten allgemeinen Vorschriften im Wege einer Rechtswidrigkeitseinrede im Sinne von Art. 277 AEUV geltend zu machen.
60 Im vorliegenden Fall wird nicht bestritten, dass die Klägerin zu 100 % im Eigentum der BMI steht oder dass sie dieser zu 100 % „gehört“. Es wird auch nicht bestritten, dass der Rat von einer Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation ausgeht.
61 Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Klägerin mit ihrem Vorbringen im Rahmen des zweiten und des fünften Klagegrundes eine Rechtswidrigkeitseinrede erhoben hätte.
62 Zum einen ist nämlich weder in den Schriftsätzen der Klägerin noch in ihrer Antwort vom 8. Juni 2012 auf die Fragen des Gerichts oder in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eine auf diese Argumente gestützte Rechtswidrigkeitseinrede erhoben worden.
63 Zum anderen stützt sich das Vorbringen der Klägerin im Rahmen des zweiten und des fünften Klagegrundes auf Umstände, die speziell sie betreffen, da es sich auf ihre konkrete Situation und die spezifischen Maßnahmen, die sie dem Rat vorgeschlagen hat, bezieht. Deshalb ist es für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der in Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 vorgesehenen allgemeinen Bestimmungen unerheblich.
64 Unter diesen Umständen greifen der zweite und der fünfte Klagegrund nicht durch und sind daher zurückzuweisen.
Zum ersten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht, des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
65 Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Klägerin geltend, der Rat habe die Begründungspflicht, ihre Verteidigungsrechte und ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzt, da er ihr zum einen nicht genügend Informationen übermittelt habe, um ihr eine sachgerechte Stellungnahme zum Erlass der restriktiven Maßnahmen gegen sie zu ermöglichen und ihr ein faires Verfahren zu gewährleisten, und da zum anderen die regelmäßige Überprüfung der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen mit mehreren Mängeln behaftet sei.
66 Der Rat tritt mit Unterstützung der Kommission dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Er meint insbesondere, dass die Klägerin sich nicht auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte berufen könne.
67 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, wie sie in Art. 296 Abs. 2 AEUV und im vorliegenden Fall insbesondere in Art. 24 Abs. 3 des Beschlusses 2010/413, in Art. 36 Abs. 3 der Verordnung Nr. 961/2010 und in Art. 46 Abs. 3 der Verordnung Nr. 267/2012 vorgesehen ist, zum einen dem Zweck dient, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsrichter zulässt, und außerdem dem Unionsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Rechtsakts zu ermöglichen. Die so verstandene Begründungspflicht ist ein wesentlicher Grundsatz des Unionsrechts, von dem Ausnahmen nur aufgrund zwingender Erwägungen möglich sind. Die Begründung ist dem Betroffenen daher grundsätzlich gleichzeitig mit dem ihn beschwerenden Rechtsakt mitzuteilen; ihr Fehlen kann nicht dadurch geheilt werden, dass der Betroffene die Gründe für den Rechtsakt während des Verfahrens vor dem Unionsrichter erfährt (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 14. Oktober 2009, Bank Melli Iran/Rat, T-390/08, Slg. 2009, II-3967, Randnr. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Soweit nicht der Mitteilung bestimmter Umstände zwingende Erwägungen der Sicherheit der Union oder ihrer Mitgliedstaaten oder der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen entgegenstehen, hat daher der Rat eine Einrichtung, gegen die sich restriktive Maßnahmen richten, von den besonderen und konkreten Gründen in Kenntnis zu setzen, aus denen er der Auffassung ist, dass sie erlassen werden sollten. Er hat somit die sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit der betreffenden Maßnahmen abhängt, sowie die Erwägungen aufzuführen, die ihn zum Erlass der Maßnahmen veranlasst haben (vgl. in diesem Sinne Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Außerdem muss die Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen worden ist, angepasst sein. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere ist ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihn in die Lage versetzt, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (vgl. Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Zweitens ist die Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere des Rechts auf Anhörung nach ständiger Rechtsprechung in allen möglicherweise zu einer beschwerenden Maßnahme führenden Verfahren gegen eine Einrichtung ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt (Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 91).
71 Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte erfordert zum einen, dass die der betroffenen Einrichtung zur Last gelegten Umstände, auf die sich der sie beschwerende Rechtsakt stützt, mitzuteilen sind. Zum anderen muss sie in die Lage versetzt werden, zu diesen Umständen sachgerecht Stellung zu nehmen (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 2006, Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat, T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Randnr. 93).
72 Daher hat die Mitteilung der zur Last gelegten Umstände bei einem ersten Rechtsakt, durch den die Gelder einer Einrichtung eingefroren werden, entweder gleichzeitig mit dem Erlass des betroffenen Rechtsakts oder so früh wie möglich im Anschluss daran zu erfolgen, es sei denn, dem stehen zwingende Erwägungen der Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten oder der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen entgegen. Auf Antrag der betroffenen Einrichtung hat diese auch das Recht, ihren Standpunkt zu diesen Umständen vorzubringen, nachdem der Rechtsakt erlassen wurde. Mit denselben Einschränkungen muss grundsätzlich vor jedem Folgebeschluss über das Einfrieren von Geldern der betroffenen Einrichtung eine Mitteilung der neuen zur Last gelegten Umstände zugehen, und die Einrichtung muss erneut die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt darzulegen (vgl. entsprechend Urteil Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat, oben in Randnr. 71 angeführt, Randnr. 137).
73 Außerdem verpflichtet der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, wenn hinreichend genaue Informationen mitgeteilt wurden, die es der betroffenen Einrichtung erlauben, zu den ihr vom Rat zur Last gelegten Umständen sachdienlich Stellung zu nehmen, den Rat nicht dazu, von sich aus Zugang zu den in seinen Akten enthaltenen Schriftstücken zu gewähren. Nur auf Antrag des Betroffenen hat er Einsicht in alle nichtvertraulichen Verwaltungspapiere zu gewähren, die die in Rede stehende Maßnahme betreffen (vgl. Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Drittens ist der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389) verankert ist. Die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle setzt voraus, dass das betreffende Organ der Union der betroffenen Einrichtung die Begründung für eine restriktive Maßnahme so weit wie möglich zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahme erlassen wird, oder wenigstens so bald wie möglich danach mitteilt, um der betroffenen Einrichtung die fristgemäße Wahrnehmung ihres Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz zu ermöglichen. Die Erfüllung dieser Verpflichtung zur Mitteilung der Begründung ist nämlich erforderlich, um zum einen den Adressaten der restriktiven Maßnahmen zu gestatten, ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für sie von Nutzen ist, den Unionsrichter anzurufen, und um zum anderen den Unionsrichter vollständig in die Lage zu versetzen, die ihm obliegende Kontrolle der Rechtmäßigkeit des fraglichen Rechtsakts auszuüben (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, Randnrn. 335 bis 337 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Aufgrund dieser Rechtsprechung ist das Gericht der Auffassung, dass zunächst das Eingangsargument des Rates und der Kommission zu prüfen ist, dass die Klägerin sich nicht auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte berufen könne. Sodann sind die geltend gemachte Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte der Klägerin und ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick darauf zu prüfen, dass sie über den Erlass der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht hinreichend informiert worden sein soll. Schließlich wird das Gericht auf die geltend gemachten Mängel eingehen, mit denen die regelmäßige Überprüfung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen behaftet sein soll.
– Zur Möglichkeit für die Klägerin, sich auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte zu berufen
76 Der Rat und die Kommission sind der Ansicht, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichts vom 19. Mai 2010, Tay Za/Rat (T-181/08, Slg. 2010, II-1965, Randnrn. 121 bis 123), tragen sie vor, die Klägerin sei von den restriktiven Maßnahmen nicht aufgrund ihrer eigenen Tätigkeit erfasst worden, sondern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur allgemeinen Gruppe der Personen und Einrichtungen, die der nuklearen Proliferation Vorschub geleistet hätten. Deshalb sei das Verfahren zum Erlass der restriktiven Maßnahmen nicht im Sinne der in Randnr. 70 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gegen die Klägerin eingeleitet worden, und sie könne sich daher nicht oder nur beschränkt auf die Verteidigungsrechte berufen.
77 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.
78 Zum einen nämlich ist das Urteil Tay Za/Rat, oben in Randnr. 76 angeführt, auf ein Rechtsmittel hin mit Urteil des Gerichtshofs vom 13. März 2012, Tay Za/Rat (C-376/10 P), in vollem Umfang aufgehoben worden. Daher sind die Feststellungen in dem angeführten Urteil nicht mehr Teil der Unionsrechtsordnung und können somit nicht wirksam vom Rat und von der Kommission geltend gemacht werden.
79 Zum anderen sehen Art. 24 Abs. 3 und 4 des Beschlusses 2010/413, Art. 36 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 46 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 267/2012 Bestimmungen vor, die die Verteidigungsrechte der Einrichtungen sicherstellen, gegen die sich die aufgrund dieser Rechtsakte erlassenen restriktiven Maßnahmen richten. Die Wahrung dieser Rechte fällt unter die unionsrichterliche Kontrolle (vgl. in diesem Sinne Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 37).
80 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass sich die Klägerin im vorliegenden Fall auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, wie er in den Randnrn. 70 bis 73 des vorliegenden Urteils dargestellt ist, berufen kann.
– Zur Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte der Klägerin und ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick darauf, dass sie über den Erlass der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht hinreichend informiert worden sein soll
81 Die Klägerin hat in ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts, die am 8. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist (siehe oben, Randnrn. 32 und 54), vorgetragen, dass sie infolge des in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, nicht mehr geltend mache, dass der Rat die Begründungspflicht und ihre Verteidigungsrechte dadurch verletzt habe, dass er ihr weder die Gründe mitgeteilt habe, weshalb er der Auffassung sei, dass sie im Eigentum der BMI stehe, noch Beweise zur Untermauerung dieser Auffassung vorgelegt habe.
82 Sie macht jedoch geltend, trotz wiederholter Auskunftsersuchen nicht hinreichend über die gegen die BMI erlassenen restriktiven Maßnahmen informiert worden zu sein. Insbesondere sei ihr kein Beweis für die angebliche Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation vorgelegt worden. Sie bestreitet in diesem Zusammenhang, dass der ursprüngliche Vorschlag, auf den sich der Rat ihr gegenüber berufen habe, vertraulich sei, und betont, dass die am 1. Oktober und 18. November 2009 übermittelten Angaben unzureichend seien.
83 Demzufolge hätten die übermittelten Informationen es ihr nicht ermöglicht, zum Erlass der gegen sie und die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen sachgerecht Stellung zu nehmen, und hätten ihr kein faires Verfahren gewährleisten können.
84 Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Klägerin seit dem 23. Juni 2008 von den restriktiven Maßnahmen betroffen ist. Seit diesem Zeitpunkt und dem Erlass des ersten der angefochtenen Rechtsakte, d. h. dem 26. Juli 2010, haben die Klägerin und der Rat mehrere Unterlagen ausgetauscht, darunter die Schreiben des Rates vom 1. Oktober und vom 18. November 2009, mit denen er der Klägerin die zusätzlichen Gründe für den Erlass restriktiver Maßnahmen nannte und ihr eine nicht vertrauliche Fassung des zusätzlichen Vorschlags übermittelte. Diese Unterlagen sind Teil des Kontexts für den Erlass der angefochtenen Rechtsakte und können daher bei der Prüfung des vorliegenden Klagegrundes berücksichtigt werden.
85 Außerdem ist festzustellen, dass die die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen eine doppelte Grundlage haben, zum einen den ursprünglichen Vorschlag und zum anderen die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte.
86 Angesichts des eigenständigen Charakters dieser beiden Grundlagen könnte eine Verletzung der Verfahrensrechte der Klägerin in Bezug auf den ursprünglichen Vorschlag, selbst wenn sie gegeben wäre, die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte nur dann rechtfertigen, wenn auch die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte als Begründung für den Erlass der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen allein nicht ausreichen.
87 Insoweit ist in den Randnrn. 45 bis 47 des vorliegenden Urteils bereits festgestellt worden, dass der vierte Klagegrund, der sich insbesondere auf die sachliche Richtigkeit der am 1. Oktober 2009 mitgeteilten Gründe bezieht, unzulässig ist.
88 Zudem bestreitet die Klägerin, wie sich aus Randnr. 82 des vorliegenden Urteils im Rahmen des ersten Klagegrundes ergibt, dass die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte ausreichend seien, zumal sie keinen Beweis für die angebliche Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation enthielten.
89 Zum einen ist festzustellen, dass die am 1. Oktober 2009 mitgeteilten zusätzlichen Gründe für den Erlass der restriktiven Maßnahmen hinreichend genau sind, um die in den Randnrn. 67 bis 74 des vorliegenden Urteils dargelegten Kriterien der Rechtsprechung zu erfüllen. So lassen sich anhand dieser Gesichtspunkte nicht nur die Einrichtungen bestimmen, denen die BMI Finanzdienstleistungen erbracht hat und die von den von der Union oder vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossenen restriktiven Maßnahmen betroffen sind, sondern auch der Zeitraum, in dem die fraglichen Dienstleistungen erbracht sein sollen, und in bestimmten Fällen die spezifischen Transaktionen, mit denen diese Dienstleistungen zusammenhängen sollen.
90 Zum anderen ist hinsichtlich der fehlenden Vorlage von Beweisen festzustellen, dass der Rat nach dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht verpflichtet ist, andere als die in seinen Akten enthaltenen Angaben mitzuteilen. Im vorliegenden Fall macht der Rat von der Klägerin unwidersprochen geltend, dass seine Akten in Bezug auf die am 1. Oktober 2009 mitgeteilten Gründe keine zusätzlichen Beweise enthalten.
91 Nach alledem ist das Vorbringen der Klägerin, wonach die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte unzureichend seien, als nicht stichhaltig zurückzuweisen.
92 Unter diesen Umständen greift angesichts der Ausführungen in den Randnrn. 85 und 86 des vorliegenden Urteils außerdem das Vorbringen der Klägerin, mit dem sie die unterlassene Mitteilung des ursprünglichen Vorschlags rügt, nicht durch und ist daher zurückzuweisen.
– Zu den Mängeln, mit denen die regelmäßige Überprüfung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen behaftet sein soll
93 Die Klägerin macht erstens geltend, der Rat habe die sie betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht wirklich überprüft, sondern sich lediglich auf die vorhandenen Angaben gestützt, zu denen Angaben gehörten, die ihr nicht mitgeteilt worden seien. Vor allem habe der Rat nicht die Garantien geprüft, die sie angeboten habe, um jede Gefahr eines Unterlaufens der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen zu verhindern.
94 Dazu ist zunächst festzustellen, dass sich aus den Randnrn. 85 und 86 des vorliegenden Urteils ergibt, dass die die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen eine doppelte Grundlage haben, zum einen den ursprünglichen Vorschlag und zum anderen die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte. Unter diesen Umständen haben die Mängel, mit denen die Überprüfung der im ursprünglichen Vorschlag enthaltenen Gründe behaftet sein soll, selbst wenn sie erwiesen wären, keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Überprüfung der Gründe, die sich auf die zu diesen Zeitpunkten übermittelten Informationen stützen.
95 Des Weiteren macht der Rat von der Klägerin unwidersprochen geltend, die Delegationen der Mitgliedstaaten hätten vor Erlass der angefochtenen Rechtsakte von der BMI und der Klägerin Stellungnahmen erhalten, die berücksichtigt worden seien. Außerdem ergibt sich aus den Schreiben des Rates vom 18. November 2009, 11. Mai und 28. Oktober 2010, 5. Dezember 2011 und 24. April 2012, dass dieser die genannte Stellungnahme geprüft und darauf geantwortet hat, u. a. in Bezug auf die von der Klägerin angebotenen zusätzlichen Garantien.
96 Schließlich ist in Bezug auf die letztgenannten Garantien darauf hinzuweisen, dass, wie in Randnr. 57 des vorliegenden Urteils festgestellt, der Erlass der restriktiven Maßnahmen gegenüber einer im Eigentum stehenden Einrichtung nicht auf einer vom Rat vorgenommenen Beurteilung der Gefahr beruht, dass die Einrichtung die Auswirkungen der gegen ihre Muttergesellschaft erlassenen Maßnahmen unterlaufen könnte, sondern sich unmittelbar aus der Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Beschlusses 2010/413, der Verordnung Nr. 961/2010 und der Verordnung Nr. 267/2012 in ihrer Auslegung durch den Unionsrichter ergibt. Unter diesen Umständen war der Rat im Rahmen der Überprüfung der restriktiven Maßnahmen jedenfalls nicht verpflichtet, die zusätzlichen Garantien zu berücksichtigen, die die Klägerin angeboten hatte, um die Gefahr eines Unterlaufens der in Rede stehenden Maßnahmen zu verhindern.
97 Zweitens geht nach Ansicht der Klägerin aus Drahtberichten hervor, dass auf die Mitgliedstaaten, insbesondere auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, Druck seitens der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ausgeübt worden sei, für den Erlass restriktiver Maßnahmen gegen iranische Einrichtungen zu sorgen. Dieser Umstand werfe Zweifel an der Rechtmäßigkeit der erlassenen Maßnahmen und des Verfahrens zu ihrem Erlass auf.
98 Der Umstand, dass einige Mitgliedstaaten diplomatischem Druck ausgesetzt gewesen sein sollen, bedeutet aber, selbst wenn er erwiesen wäre, für sich genommen nicht, dass dieser Druck Auswirkungen auf die vom Rat erlassenen angefochtenen Rechtsakte oder auf die von ihm bei deren Erlass vorgenommene Prüfung gehabt hätte.
99 Unter diesen Umständen ist das Vorbringen, wonach die regelmäßige Überprüfung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen mit Mängeln behaftet sein soll, als unbegründet zurückzuweisen.
100 Nach alledem ist der erste Klagegrund zurückzuweisen und somit die gesamte Klage abzuweisen, da der Antrag, die angefochtenen Maßnahmen mit sofortiger Wirkung für nichtig zu erklären, gegenstandslos geworden ist.
Kosten
101 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen.
102 Gemäß Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Organe, wenn sie einem Rechtsstreit beitreten, ihre eigenen Kosten. Daher trägt die Kommission ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Melli Bank plc trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates der Europäischen Union.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Pelikánová
Jürimäe
Van der Woude
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Februar 2013.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten
Rechtliche Würdigung
Zur Zulässigkeit
Zur Zulässigkeit der Anpassung der Klageanträge
Zur Zulässigkeit des vierten Klagegrundes, mit dem ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation gerügt wird
Zur Zulässigkeit des Vorbringens des Rates zur Zulässigkeit der Klagegründe, mit denen eine Verletzung der Grundrechte der Klägerin geltend gemacht wird
Zur Begründetheit
Zum zweiten Klagegrund eines Beurteilungsfehlers hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde, und zum fünften Klagegrund eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Eigentumsrecht und das Recht auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit
Zum ersten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht, des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
– Zur Möglichkeit für die Klägerin, sich auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte zu berufen
– Zur Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte der Klägerin und ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick darauf, dass sie über den Erlass der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht hinreichend informiert worden sein soll
– Zu den Mängeln, mit denen die regelmäßige Überprüfung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen behaftet sein soll
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T-492/10
Melli Bank plc mit Sitz in London (Vereinigtes Königreich), Prozessbevollmächtigte: zunächst S. Gadhia, S. Ashley, Solicitors, D. Anderson, QC, und R. Blakeley, Barrister, sodann S. Ashley, S. Jeffrey, A. Irvine, Solicitors, D. Wyatt, QC, und R. Blakeley,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bishop und R. Liudvinaviciute-Cordeiro als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch S. Boelaert und M. Konstantinidis als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
betreffend einen Antrag auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2010/413/GASP des Rates vom 26. Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP (ABl. L 195, S. 39), des Beschlusses 2010/644/GASP des Rates vom 25. Oktober 2010 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 281, S. 81), der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 (ABl. L 281, S. 1), des Beschlusses 2011/783/GASP des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 319, S. 71), der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1245/2011 des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Durchführung der Verordnung Nr. 961/2010 (ABl. L 319, S. 11) und der Verordnung (EU) Nr. 267/2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 961/2010 (ABl. L 88, S. 1), soweit diese Rechtsakte die Klägerin betreffen, sowie einen Antrag auf Feststellung, dass Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 auf die Klägerin nicht anwendbar sind,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin I. Pelikánová (Berichterstatterin), der Richterin K. Jürimäe und des Richters M. van der Woude,
Kanzler: N. Rosner, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1. Die Klägerin, die Melli Bank plc, ist eine eingetragene Aktiengesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich, die von der Financial Services Authority (Aufsichtsbehörde für Finanzdienstleistungen im Vereinigten Königreich) zugelassen und beaufsichtigt wird. Die Klägerin nahm ihre Bankgeschäfte im Vereinigten Königreich am 1. Januar 2002 nach Umwandlung der in diesem Land bestehenden Zweigstelle der Bank Melli Iran (im Folgenden: BMI) auf. Die BMI, die als Muttergesellschaft die gesamten Anteile der Klägerin hält, ist eine vom iranischen Staat kontrollierte iranische Bank.
2. Hintergrund der vorliegenden Rechtssachen ist das System restriktiver Maßnahmen, das eingeführt wurde, um auf die Islamische Republik Iran Druck auszuüben, damit sie proliferationsrelevante nukleare Tätigkeiten und die Entwicklung von Trägersystemen für Kernwaffen (im Folgenden: nukleare Proliferation) einstellt.
3. Sowohl die BMI als auch ihre Tochtergesellschaften, einschließlich der Klägerin, wurden mit dem Gemeinsamen Standpunkt 2008/479/GASP des Rates vom 23. Juni 2008 zur Änderung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140 (ABl. L 163, S. 43) in die Liste des Anhangs II des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP des Rates vom 27. Februar 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 61, S. 49) aufgenommen.
4. In der Folge wurden die BMI und die Klägerin durch den Beschluss 2008/475/EG des Rates vom 23. Juni 2008 zur Durchführung von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 163, S. 29) in die Liste in Anhang V der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 des Rates vom 19. April 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 103, S. 1) aufgenommen, was zur Folge hatte, dass ihre Gelder eingefroren wurden.
5. Sowohl im Gemeinsamen Standpunkt 2008/479 als auch im Beschluss 2008/475 begründete der Rat der Europäischen Union dies hinsichtlich der BMI und all ihrer Zweigstellen und Niederlassungen wie folgt:
„Bereitstellung bzw. Bemühungen zur Bereitstellung von Finanzmitteln für Unternehmen, die Güter für Irans Nuklear- und Raketenprogramm beschaffen oder an deren Beschaffung beteiligt sind (AIO, SHIG, SBIG, AEOI, Novin Energy Company, Mesbah Energy Company, Kalaye Electric Company und DIO). Die [BMI] dient als Vermittler für Irans sensible Geschäfte. Hat mehrfach den Kauf sensibler Materialien für Irans Nuklear- und Raketenprogramm vermittelt. Hat eine Reihe von Finanzdienstleistungen im Auftrag von Einrichtungen getätigt, die mit der iranischen Nuklear- und Raketenindustrie verbunden sind, so z. B. die Eröffnung von Akkreditiven und die Verwaltung von Konten. Viele der vorgenannten Unternehmen wurden in den Resolutionen 1737 und 1747 des [Sicherheitsrates der Vereinten Nationen] benannt.“
6. Die Klägerin erhob gegen den Beschluss 2008/475 zwei Klagen vor dem Gericht. Dieses wies beide Klagen mit Urteil vom 9. Juli 2009, Melli Bank/Rat (T-246/08 und T-332/08, Slg. 2009, II-2629), ab.
7. In der Zeit von Juli 2009 bis Mai 2010 kam es im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen zu einem umfangreichen Schriftwechsel zwischen der Klägerin und dem Rat. So übersandte die Klägerin dem Rat am 6., 15. und 24. Juli, am 20. August und am 15. Oktober 2009 sowie am 22. März 2010 Schreiben, auf die der Rat am 23. Juli, 1. Oktober und 18. November 2009 sowie am 11. Mai 2010 antwortete.
8. Bei diesem Schriftwechsel ging es zum einen um die Gründe zur Rechtfertigung des Erlasses und der Aufrechterhaltung restriktiver Maßnahmen gegenüber der BMI und der Klägerin. Der Rat führte hierzu in seinem Schreiben vom 23. Juli 2009 aus, die Klägerin werde als Tochtergesellschaft von BMI restriktiven Maßnahmen unterworfen. Mit Schreiben vom 18. November 2009 stellte er nach einer Überprüfung fest, dass erstens die BMI die nukleare Proliferation unterstütze, zweitens die Klägerin im Eigentum der BMI stehe, die Einfluss auf die Klägerin ausüben könne, und sich drittens mit den von der Klägerin vorgeschlagenen Alternativmaßnahmen nicht die Gefahr vermeiden lasse, dass die BMI die gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen mit Hilfe der Klägerin unterlaufe. Der Rat hielt mit Schreiben vom 11. Mai 2010 an dieser Auffassung fest.
9. Zum anderen beantragte die Klägerin Einsicht in die Akten des Rates. In diesem Zusammenhang verweigerte der Rat mit Schreiben vom 23. Juli 2009 die Akteneinsicht hinsichtlich des ursprünglichen Vorschlags für den Erlass gegen die BMI und die Klägerin gerichteter restriktiver Maßnahmen (im Folgenden: ursprünglicher Vorschlag), weil dieses Dokument vertraulich sei. Mit Schreiben vom 1. Oktober 2009 nannte er der Klägerin zusätzliche Gründe, aus denen er von einer Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation ausging. Mit Schreiben vom 18. November 2009 übermittelte er der Klägerin eine nicht vertrauliche Fassung des Vorschlags für den Erlass restriktiver Maßnahmen, der sich auf die im Schreiben vom 1. Oktober 2009 genannten zusätzlichen Gründe bezog (im Folgenden: zusätzlicher Vorschlag).
10. Mit dem Erlass des Beschlusses 2010/413/GASP des Rates vom 26. Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP (ABl. L 195, S. 39) wurden sowohl die BMI als auch die Klägerin in die Liste des Anhangs II dieses Beschlusses aufgenommen. Dies wurde hinsichtlich der BMI wie folgt begründet:
„Bereitstellung bzw. Bemühungen um Bereitstellung von Finanzmitteln für Unternehmen, die Güter für Irans Nuklear- und Flugkörperprogramm beschaffen oder an deren Beschaffung beteiligt sind (AIO, SHIG, SBIG, AEOI, Novin Energy Company, Mesbah Energy Company, Kalaye Electric Company und DIO). Die [BMI] dient als Vermittler für Irans sensible Geschäfte. Hat mehrfach den Kauf sensibler Materialien für Irans Nuklear- und Flugkörperprogramm vermittelt. Hat eine Reihe von Finanzdienstleistungen im Auftrag von Einrichtungen getätigt, die mit der iranischen Nuklear- und Flugkörperindustrie verbunden sind, so z. B. die Eröffnung von Akkreditiven und die Verwaltung von Konten. Viele der vorgenannten Unternehmen sind in den Resolutionen 1737 (2006) und 1747 (2007) des [Sicherheitsrats der Vereinten Nationen] bezeichnet. Die [BMI] nimmt diese Aufgaben weiterhin wahr und unterstützt und fördert mit ihrer Tätigkeit Irans sensible Geschäfte. Nutzt ihre Bankbeziehungen nach wie vor, um Einrichtungen, die in den Listen der V[ereinten]N[ationen] und der EU geführt werden, bei sensiblen Geschäften zu unterstützen, und erbringt Finanzdienstleistungen für sie. Handelt auch im Namen und auf Anweisung dieser Einrichtungen, einschließlich der Bank Sepah, wobei die Abwicklung oft über Tochterunternehmen und verbundene Unternehmen erfolgt.“
11. Das Inkrafttreten der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 668/2010 des Rates vom 26. Juli 2010 zur Durchführung von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 423/2007 (ABl. L 195, S. 25) hat an der Nennung der Klägerin in Anhang V der Verordnung Nr. 423/2007 nichts geändert.
12. Mit Schreiben vom 27. Juli 2010 setzte der Rat die Klägerin von ihrer Aufnahme in die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 in Kenntnis.
13. Mit Schreiben vom 17. August 2010 ersuchte die Klägerin den Rat um Überprüfung der Entscheidung, sie in die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 aufzunehmen und sie weiterhin in der Liste des Anhangs V der Verordnung Nr. 423/2007 zu führen. Sie beantragte in diesem Zusammenhang die Übermittlung einer Kopie sämtlicher Akten des Rates zu den gegen sie erlassenen restriktiven Maßnahmen. Die Klägerin wiederholte außerdem ihr Angebot, Garantien zu stellen, um jegliche Gefahr eines Unterlaufens der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen zu verhindern.
14. Die Nennung der Klägerin in Anhang II des Beschlusses 2010/413 wurde mit dem Beschluss 2010/644/GASP des Rates vom 25. Oktober 2010 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 281, S. 81) beibehalten.
15. Nach der Aufhebung der Verordnung Nr. 423/2007 durch die Verordnung (EU) Nr. 961/2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 281, S. 1) wurden die BMI und die Klägerin vom Rat in Anhang VIII der letztgenannten Verordnung aufgenommen. Die Gelder und die wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin waren also gemäß Art. 16 Abs. 2 dieser Verordnung eingefroren.
16. Die im Beschluss 2010/644 und in der Verordnung Nr. 961/2010 angeführte Begründung ist die gleiche wie die im Beschluss 2010/413.
17. Mit Schreiben vom 28. Oktober 2010 setzte der Rat die Klägerin davon in Kenntnis, dass sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 geführt werde und in die Liste des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 aufgenommen worden sei. Er führte insoweit aus, dass die Stellungnahme der Klägerin vom 17. August 2010 die Aufhebung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen nicht rechtfertige und seine Akten keine sie betreffenden neuen Informationen oder Gesichtspunkte enthielten.
18. Mit Schreiben vom 29. Juli 2011 ersuchte die Klägerin den Rat um Überprüfung der Entscheidung, sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und der des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 zu führen. Sie wiederholte ihr Angebot, insbesondere im Hinblick auf die Ernennung und Abberufung ihrer Direktoren Garantien zu stellen, um jegliche Gefahr eines Unterlaufens der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen zu verhindern, und betonte die Wirksamkeit und Machbarkeit dieser Garantien.
19. Das Inkrafttreten des Beschlusses 2011/783/GASP des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 319, S. 71) und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1245/2011 des Rates vom 1. Dezember 2011 zur Durchführung der Verordnung Nr. 961/2010 (ABl. L 319, S. 11) hat an der Nennung der BMI und der Klägerin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und in der des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 nichts geändert.
20. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2011 setzte der Rat die Klägerin davon in Kenntnis, dass sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und der des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 geführt werde. Er stellte fest, dass die Stellungnahme der Klägerin vom 29. Juli 2011 die Aufhebung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen nicht rechtfertige, da insbesondere die von ihr angebotenen Garantien hinsichtlich der Ernennung und Abberufung ihrer Direktoren nicht ausreichten, um ihre Unabhängigkeit gegenüber der BMI sicherzustellen.
21. Mit Schreiben vom 31. Januar 2012 machte die Klägerin geltend, dass die Überprüfung der Aufrechterhaltung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen fehlerhaft sei. Insbesondere habe der Rat in seinem Schreiben die Weigerung, die von der Klägerin angebotenen zusätzlichen Garantien zu berücksichtigen, rechtlich nicht hinreichend begründet.
22. Mit Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat (C-380/09 P), hat der Gerichtshof das Rechtsmittel der Klägerin gegen das in Randnr. 6 des vorliegenden Urteils angeführte Urteil des Gerichts vom 9. Juli 2009, Melli Bank/Rat, zurückgewiesen.
23. Da die Verordnung Nr. 961/2010 durch die Verordnung (EU) Nr. 267/2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 88, S. 1) aufgehoben wurde, wurden die BMI und die Klägerin vom Rat in die Liste des Anhangs IX der letztgenannten Verordnung aufgenommen. Die in Bezug auf die BMI – einschließlich all ihrer Zweigstellen und Niederlassungen – angeführten Gründe stimmen mit den im Beschluss 2010/413 genannten Gründen überein. Die Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin wurden deshalb gemäß Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung eingefroren.
24. Mit Schreiben vom 24. April 2012 setzte der Rat die Klägerin davon in Kenntnis, dass sie weiterhin in der Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 geführt werde und in die Liste des Anhangs IX der Verordnung Nr. 267/2012 aufgenommen worden sei. Er berief sich dabei auf die von ihm zuvor in seinem Schriftwechsel mit der Klägerin und vor dem Gericht angeführten Argumente. Außerdem verwies er die Klägerin auf die Feststellungen des Gerichtshofs in dem in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat.
Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten
25. Mit Klageschrift, die am 7. Oktober 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
26. Mit Schriftsatz, der am 5. November 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin ihre Anträge infolge des Erlasses des Beschlusses 2010/644 und der Verordnung Nr. 961/2010 angepasst.
27. Die Europäische Kommission hat mit Schriftsatz, der am 14. Januar 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 8. März 2011 hat die Präsidentin der Vierten Kammer des Gerichts diesem Antrag stattgegeben.
28. In ihrer am 7. März 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Erwiderung hat die Klägerin die Klage zurückgenommen, soweit sie sich gegen die Durchführungsverordnung Nr. 668/2010 richtete.
29. Mit Schriftsatz, der am 31. Januar 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin ihre Anträge infolge des Erlasses des Beschlusses 2011/783 und der Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 angepasst sowie beantragt, die angefochtenen Rechtsakte gegebenenfalls mit sofortiger Wirkung für nichtig zu erklären.
30. Mit Schriftsatz, der am 27. April 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin ihre Anträge infolge des Erlasses der Verordnung Nr. 267/2012 angepasst.
31. Das Gericht (Vierte Kammer) hat auf Bericht der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und den Verfahrensbeteiligten im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung des Gerichts schriftliche Fragen hinsichtlich der Konsequenzen, die für die vorliegende Rechtssache aus dem in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, zu ziehen sind, und zur Zulässigkeit des vierten Klagegrundes gestellt. Die Verfahrensbeteiligten haben auf diese Fragen geantwortet.
32. In ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts, die am 8. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin zunächst einen Teil der Rügen, die sie im Rahmen des ersten Klagegrundes erhoben hat, mit dem eine Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geltend gemacht wird, einen Teil der Rügen, die sie im Rahmen des zweiten Klagegrundes erhoben hat, mit dem ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde, geltend gemacht wird, und den dritten Klagegrund, mit dem die Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 geltend gemacht wird, zurückgenommen.
33. Die Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 3. Juli 2012 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
34. Mit Beschluss des Gerichts (Vierte Kammer) vom 4. September 2012 ist die mündliche Verhandlung wiedereröffnet worden, um die Stellungnahme der Klägerin zum Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Juli 2012, Akhras/Rat (C-110/12 P[R], nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), sowie die Stellungnahmen der anderen Verfahrensbeteiligten einzuholen. Die mündliche Verhandlung ist am 4. Oktober 2012 wieder geschlossen worden.
35. Die Klägerin beantragt,
– mit sofortiger Wirkung Nr. 5 der Tabelle B des Anhangs II des Beschlusses 2010/413, Nr. 5 der Tabelle I.B des Anhangs des Beschlusses 2010/644, Nr. 5 der Tabelle B des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010, den Beschluss 2011/783, die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 und die Verordnung Nr. 267/2012 für nichtig zu erklären, soweit diese Rechtsakte sie betreffen;
– festzustellen, dass Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 auf sie nicht anwendbar sind;
– dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
36. Der Rat und die Kommission beantragen,
– die Klage abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
37. Die Klägerin macht in ihren Schriftsätzen fünf Klagegründe geltend. Mit dem ersten Klagegrund rügt sie einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Der zweite Klagegrund betrifft einen Beurteilungsfehler hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde. Mit dem dritten Klagegrund rügt sie, dass Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 unverhältnismäßig und daher rechtswidrig seien. Mit dem vierten Klagegrund wird ein Beurteilungsfehler in Bezug auf die Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation gerügt und mit dem fünften Klagegrund ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Eigentumsrecht der Klägerin sowie ihr Recht, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben.
38. Wie aus Randnr. 32 des vorliegenden Urteils hervorgeht, hat die Klägerin im Laufe des Verfahrens ihren dritten Klagegrund sowie einen Teil der im Rahmen des ersten und des zweiten Klagegrundes erhobenen Rügen zurückgenommen. Da der dritte Klagegrund der einzige Klagegrund ist, auf den die Klägerin den zweiten Klageantrag gestützt hat, mit dem die Feststellung begehrt wird, dass Art. 7 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 423/2007, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 nicht anwendbar sind, bedeutet die Teilrücknahme der Klage auch, dass sich der vorgenannte Klageantrag erledigt hat.
39. Der Rat und die Kommission halten die von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe für unbegründet. Außerdem hat der Rat in der Gegenerwiderung vorgetragen, die Klägerin könne keine Verletzung ihrer Grundrechte geltend machen, da sie als verlängerter Arm des iranischen Staates anzusehen sei.
40. Vorab ist zunächst die Zulässigkeit der von der Klägerin vorgenommenen Anpassung der Klageanträge, sodann die Zulässigkeit des vierten Klagegrundes und schließlich das Vorbringen des Rates zu der Möglichkeit für die Klägerin zu prüfen, sich auf den Schutz ihrer Grundrechte zu berufen.
Zur Zulässigkeit
Zur Zulässigkeit der Anpassung der Klageanträge
41. Nach der Einreichung der Klageschrift ist, wie sich aus den Randnrn. 14, 15 und 23 des vorliegenden Urteils ergibt, die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 durch eine neue, im Beschluss 2010/644 festgelegte Liste ersetzt und die Verordnung Nr. 423/2007 durch die Verordnung Nr. 961/2010 aufgehoben und ersetzt worden, die ihrerseits durch die Verordnung Nr. 267/2012 ersetzt und aufgehoben wurde. Zudem hat der Rat in den Erwägungsgründen des Beschlusses 2011/783 und der Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 ausdrücklich festgestellt, dass er die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010/413 und die des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961/2010 vollständig überprüft habe und zu dem Schluss gelangt sei, dass auf die dort namentlich genannten Personen, Einrichtungen und Organisationen, zu denen die Klägerin gehöre, weiterhin restriktive Maßnahmen angewandt werden sollten. Die Klägerin hat ihre ursprünglichen Anträge dahin gehend angepasst, dass sich ihr Antrag auf Nichtigerklärung neben dem Beschluss 2010/413 auf den Beschluss 2010/644, die Verordnung Nr. 961/2010, den Beschluss 2011/783, die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 und die Verordnung Nr. 267/2012 (im Folgenden zusammen: angefochtene Rechtsakte) bezieht. Der Rat und die Kommission haben gegen diese Anpassung keine Einwendungen erhoben.
42. In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass, wenn ein Beschluss oder eine Rechtsvorschrift, die einen Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft, während des Verfahrens durch einen Rechtsakt mit gleichem Gegenstand ersetzt wird, dieser als neue Tatsache anzusehen ist, die den Kläger zur Anpassung seiner Anträge und Klagegründe berechtigt. Es wäre nämlich mit einer geordneten Rechtspflege und dem Erfordernis der Prozessökonomie unvereinbar, wenn der Kläger eine weitere Klage erheben müsste. Außerdem wäre es ungerecht, wenn das betreffende Unionsorgan den Rügen in einer beim Unionsrichter gegen einen Rechtsakt eingereichten Klageschrift dadurch begegnen könnte, dass es den angefochtenen Rechtsakt anpasst oder durch einen anderen ersetzt und sich im Verfahren auf diese Änderung oder Ersetzung beruft, um es der Gegenpartei unmöglich zu machen, ihre ursprünglichen Anträge und Klagegründe auf den späteren Rechtsakt auszudehnen oder gegen diesen ergänzende Anträge zu stellen und zusätzliche Angriffsmittel vorzubringen (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T-256/07, Slg. 2008, II-3019, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43. Das Gleiche gilt für Rechtsakte wie den Beschluss 2011/783 und die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011, mit denen festgestellt wird, dass ein Beschluss oder eine Verordnung infolge eines in diesem Beschluss oder dieser Verordnung ausdrücklich vorgeschriebenen Überprüfungsverfahrens für bestimmte Einzelne weiterhin unmittelbar und individuell gelten soll.
44. Im vorliegenden Fall ist daher der Antrag der Klägerin zulässig, den Beschluss 2010/644, die Verordnung Nr. 961/2010, den Beschluss 2011/783, die Durchführungsverordnung Nr. 1245/2011 und die Verordnung Nr. 267/2012 für nichtig zu erklären, soweit diese Rechtsakte sie betreffen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, oben in Randnr. 42 angeführt, Randnr. 47).
Zur Zulässigkeit des vierten Klagegrundes, mit dem ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation gerügt wird
45. Mit ihrem vierten Klagegrund macht die Klägerin geltend, dass der Erlass restriktiver Maßnahmen gegenüber der BMI nicht gerechtfertigt sei. Sie verweist insoweit auf die Klagen, die die BMI vor den Unionsgerichten erhoben habe, und vertritt insoweit die Ansicht, dass die gegen BMI selbst gerichteten Maßnahmen, falls die BMI zum Zeitpunkt der Verkündung des vorliegenden Urteils keinen restriktiven Maßnahmen mehr unterliege, für nichtig erklärt werden müssten.
46. Die Klägerin erhebt jedoch hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen keine konkrete Rüge. Insbesondere äußert sie sich nicht hinreichend genau zu den zusätzlichen Gründen für die angebliche Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation, die ihr mit Schreiben des Rates vom 1. Oktober 2009 (siehe oben, Randnr. 9) mitgeteilt wurden, denn sie gibt noch nicht einmal an, ob sie die Richtigkeit des der BMI zur Last gelegten Sachverhalts oder die Bewertung dieses Sachverhalts als Unterstützung der nuklearen Proliferation bestreitet.
47. Unter diesen Umständen ist das Gericht mangels hinreichender Substantiierung des Vorbringens der Klägerin nicht in der Lage, über den vierten Klagegrund zu entscheiden. Dieser Klagegrund ist daher, wie von der Kommission beantragt, gemäß Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung für unzulässig zu erklären.
Zur Zulässigkeit des Vorbringens des Rates zur Zulässigkeit der Klagegründe, mit denen eine Verletzung der Grundrechte der Klägerin geltend gemacht wird
48. Der Rat hat in seiner Gegenerwiderung vorgetragen, die Klägerin sei als verlängerter Arm des iranischen Staates anzusehen und könne sich daher nicht auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten berufen. Demzufolge seien die Klagegründe, mit denen eine Verletzung der Grundrechte der Klägerin behauptet werde, für unzulässig zu erklären.
49. Erstens bestreitet der Rat jedoch nicht das Recht der Klägerin, die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte zu beantragen, als solches. Er bestreitet lediglich, dass sie Inhaberin bestimmter Rechte sei, auf die sie sich beruft, um diese Nichtigerklärung zu erwirken.
50. Zweitens betrifft die Frage, ob die Klägerin Inhaberin des Rechts ist, auf das sie sich im Rahmen eines Klagegrundes zur Stützung eines Antrags auf Nichtigerklärung beruft, nicht die Zulässigkeit dieses Klagegrundes, sondern dessen Begründetheit. Demzufolge ist das Vorbringen des Rates, dass die Klägerin als verlängerter Arm des iranischen Staates anzusehen sei, zurückzuweisen, soweit dieses Vorbringen darauf abzielt, die teilweise Unzulässigkeit der Klage festzustellen.
51. Drittens erfolgt dieses Vorbringen erstmals in der Gegenerwiderung, ohne dass der Rat geltend gemacht hätte, dass es sich auf rechtliche oder tatsächliche Gründe stützt, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind. Hinsichtlich der Begründetheit der Klage stellt dieses Vorbringen somit ein neues Verteidigungsmittel im Sinne von Art. 48 § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung dar, so dass es für unzulässig zu erklären ist.
Zur Begründetheit
52. Infolge der teilweisen Klagerücknahme und aufgrund der Unzulässigkeit des vierten Klagegrundes brauchen nur der erste, der zweite und der fünfte Klagegrund geprüft zu werden.
53. Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst den zweiten Klagegrund, mit dem ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde, geltend gemacht wird, zusammen mit dem fünften Klagegrund zu prüfen, mit dem ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Eigentumsrecht und das Recht auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit gerügt wird. Sodann ist der erste Klagegrund zu prüfen, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht, den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geltend gemacht wird.
Zum zweiten Klagegrund eines Beurteilungsfehlers hinsichtlich der Feststellung, dass die Klägerin im Eigentum der BMI stehe oder von dieser kontrolliert werde, und zum fünften Klagegrund eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Eigentumsrecht und das Recht auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit
54. Die Klägerin hat in ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts, die am 8. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist (siehe oben, Randnr. 32), vorgetragen, dass sie infolge des in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, nicht mehr geltend mache, dass sie nicht im Eigentum der BMI im Sinne von Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413 und Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 961/2010 stehe und auch nicht zur BMI im Sinne von Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 gehöre. Der Erlass und die Aufrechterhaltung der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen stellten jedoch eine unverhältnismäßige Beschränkung ihres Eigentumsrechts und ihres Rechts auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit dar.
55. Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass, wenn Gelder einer Einrichtung eingefroren werden, von der festgestellt wurde, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist, die nicht unerhebliche Gefahr besteht, dass sie auf die Einrichtungen, die in ihrem Eigentum oder unter ihrer Kontrolle stehen, Druck ausübt, um die Auswirkungen der gegen sie gerichteten Maßnahmen zu unterlaufen. Demzufolge ist das dem Rat nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 vorgeschriebene Einfrieren von Geldern dieser Einrichtungen erforderlich und angemessen, um die Wirksamkeit der erlassenen Maßnahmen zu gewährleisten und um zu garantieren, dass diese Maßnahmen nicht unterlaufen werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend das oben in Randnr. 22 angeführte Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, Randnrn. 39 und 58).
56. Des Weiteren ist nach der Rechtsprechung, wenn eine Einrichtung zu 100 % im Eigentum einer Einrichtung steht, die als an der nuklearen Proliferation beteiligt angesehen wird, die Voraussetzung gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413 und Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010, dass sie im Eigentum steht, erfüllt (vgl. entsprechend das oben in Randnr. 22 angeführte Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, Randnr. 79). Die gleiche Schlussfolgerung gilt für den in Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 enthaltenen Begriff einer Einrichtung, die „im Eigentum“ einer Einrichtung steht, von der angenommen wird, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist.
57. Daraus folgt, dass der Erlass restriktiver Maßnahmen gegenüber einer Einrichtung, die zu 100 % im Eigentum einer Einrichtung steht, von der angenommen wird, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist, oder zu 100 % dieser gehört (im Folgenden: im Eigentum stehende Einrichtung), nicht auf einer vom Rat vorgenommenen Beurteilung der Gefahr beruht, dass die Einrichtung die Auswirkungen der gegen ihre Muttergesellschaft erlassenen Maßnahmen unterlaufen könnte, sondern sich unmittelbar aus der Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Beschlusses 2010/413, der Verordnung Nr. 961/2010 und der Verordnung Nr. 267/2012 in ihrer Auslegung durch den Unionsrichter ergibt.
58. Demzufolge richtet sich das Vorbringen, mit dem die Verhältnismäßigkeit des Einfrierens von Geldern einer im Eigentum stehenden Einrichtung in Frage gestellt wird, nicht gegen die Rechtmäßigkeit einer vom Rat vorgenommenen Beurteilung der Umstände des vorliegenden Falles. Es bezieht sich letztlich auf die Rechtmäßigkeit allgemeiner Bestimmungen, nach denen der Rat die Gelder aller im Eigentum stehenden Einrichtungen einzufrieren hat, wie Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012.
59. Will daher eine im Eigentum stehende Einrichtung die Verhältnismäßigkeit der gegen sie gerichteten restriktiven Maßnahmen in Frage stellen, hat sie im Rahmen der Klage auf Nichtigerklärung der Rechtsakte, mit denen die genannten Maßnahmen erlassen oder aufrechterhalten wurden, die Unanwendbarkeit der genannten allgemeinen Vorschriften im Wege einer Rechtswidrigkeitseinrede im Sinne von Art. 277 AEUV geltend zu machen.
60. Im vorliegenden Fall wird nicht bestritten, dass die Klägerin zu 100 % im Eigentum der BMI steht oder dass sie dieser zu 100 % „gehört“. Es wird auch nicht bestritten, dass der Rat von einer Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation ausgeht.
61. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Klägerin mit ihrem Vorbringen im Rahmen des zweiten und des fünften Klagegrundes eine Rechtswidrigkeitseinrede erhoben hätte.
62. Zum einen ist nämlich weder in den Schriftsätzen der Klägerin noch in ihrer Antwort vom 8. Juni 2012 auf die Fragen des Gerichts oder in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eine auf diese Argumente gestützte Rechtswidrigkeitseinrede erhoben worden.
63. Zum anderen stützt sich das Vorbringen der Klägerin im Rahmen des zweiten und des fünften Klagegrundes auf Umstände, die speziell sie betreffen, da es sich auf ihre konkrete Situation und die spezifischen Maßnahmen, die sie dem Rat vorgeschlagen hat, bezieht. Deshalb ist es für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der in Art. 20 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2010/413, Art. 16 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 267/2012 vorgesehenen allgemeinen Bestimmungen unerheblich.
64. Unter diesen Umständen greifen der zweite und der fünfte Klagegrund nicht durch und sind daher zurückzuweisen.
Zum ersten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht, des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
65. Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Klägerin geltend, der Rat habe die Begründungspflicht, ihre Verteidigungsrechte und ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzt, da er ihr zum einen nicht genügend Informationen übermittelt habe, um ihr eine sachgerechte Stellungnahme zum Erlass der restriktiven Maßnahmen gegen sie zu ermöglichen und ihr ein faires Verfahren zu gewährleisten, und da zum anderen die regelmäßige Überprüfung der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen mit mehreren Mängeln behaftet sei.
66. Der Rat tritt mit Unterstützung der Kommission dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Er meint insbesondere, dass die Klägerin sich nicht auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte berufen könne.
67. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, wie sie in Art. 296 Abs. 2 AEUV und im vorliegenden Fall insbesondere in Art. 24 Abs. 3 des Beschlusses 2010/413, in Art. 36 Abs. 3 der Verordnung Nr. 961/2010 und in Art. 46 Abs. 3 der Verordnung Nr. 267/2012 vorgesehen ist, zum einen dem Zweck dient, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsrichter zulässt, und außerdem dem Unionsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Rechtsakts zu ermöglichen. Die so verstandene Begründungspflicht ist ein wesentlicher Grundsatz des Unionsrechts, von dem Ausnahmen nur aufgrund zwingender Erwägungen möglich sind. Die Begründung ist dem Betroffenen daher grundsätzlich gleichzeitig mit dem ihn beschwerenden Rechtsakt mitzuteilen; ihr Fehlen kann nicht dadurch geheilt werden, dass der Betroffene die Gründe für den Rechtsakt während des Verfahrens vor dem Unionsrichter erfährt (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 14. Oktober 2009, Bank Melli Iran/Rat, T-390/08, Slg. 2009, II-3967, Randnr. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68. Soweit nicht der Mitteilung bestimmter Umstände zwingende Erwägungen der Sicherheit der Union oder ihrer Mitgliedstaaten oder der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen entgegenstehen, hat daher der Rat eine Einrichtung, gegen die sich restriktive Maßnahmen richten, von den besonderen und konkreten Gründen in Kenntnis zu setzen, aus denen er der Auffassung ist, dass sie erlassen werden sollten. Er hat somit die sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit der betreffenden Maßnahmen abhängt, sowie die Erwägungen aufzuführen, die ihn zum Erlass der Maßnahmen veranlasst haben (vgl. in diesem Sinne Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69. Außerdem muss die Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen worden ist, angepasst sein. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere ist ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihn in die Lage versetzt, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (vgl. Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70. Zweitens ist die Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere des Rechts auf Anhörung nach ständiger Rechtsprechung in allen möglicherweise zu einer beschwerenden Maßnahme führenden Verfahren gegen eine Einrichtung ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt (Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 91).
71. Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte erfordert zum einen, dass die der betroffenen Einrichtung zur Last gelegten Umstände, auf die sich der sie beschwerende Rechtsakt stützt, mitzuteilen sind. Zum anderen muss sie in die Lage versetzt werden, zu diesen Umständen sachgerecht Stellung zu nehmen (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 2006, Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat, T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Randnr. 93).
72. Daher hat die Mitteilung der zur Last gelegten Umstände bei einem ersten Rechtsakt, durch den die Gelder einer Einrichtung eingefroren werden, entweder gleichzeitig mit dem Erlass des betroffenen Rechtsakts oder so früh wie möglich im Anschluss daran zu erfolgen, es sei denn, dem stehen zwingende Erwägungen der Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten oder der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen entgegen. Auf Antrag der betroffenen Einrichtung hat diese auch das Recht, ihren Standpunkt zu diesen Umständen vorzubringen, nachdem der Rechtsakt erlassen wurde. Mit denselben Einschränkungen muss grundsätzlich vor jedem Folgebeschluss über das Einfrieren von Geldern der betroffenen Einrichtung eine Mitteilung der neuen zur Last gelegten Umstände zugehen, und die Einrichtung muss erneut die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt darzulegen (vgl. entsprechend Urteil Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat, oben in Randnr. 71 angeführt, Randnr. 137).
73. Außerdem verpflichtet der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, wenn hinreichend genaue Informationen mitgeteilt wurden, die es der betroffenen Einrichtung erlauben, zu den ihr vom Rat zur Last gelegten Umständen sachdienlich Stellung zu nehmen, den Rat nicht dazu, von sich aus Zugang zu den in seinen Akten enthaltenen Schriftstücken zu gewähren. Nur auf Antrag des Betroffenen hat er Einsicht in alle nichtvertraulichen Verwaltungspapiere zu gewähren, die die in Rede stehende Maßnahme betreffen (vgl. Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74. Drittens ist der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389) verankert ist. Die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle setzt voraus, dass das betreffende Organ der Union der betroffenen Einrichtung die Begründung für eine restriktive Maßnahme so weit wie möglich zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahme erlassen wird, oder wenigstens so bald wie möglich danach mitteilt, um der betroffenen Einrichtung die fristgemäße Wahrnehmung ihres Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz zu ermöglichen. Die Erfüllung dieser Verpflichtung zur Mitteilung der Begründung ist nämlich erforderlich, um zum einen den Adressaten der restriktiven Maßnahmen zu gestatten, ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für sie von Nutzen ist, den Unionsrichter anzurufen, und um zum anderen den Unionsrichter vollständig in die Lage zu versetzen, die ihm obliegende Kontrolle der Rechtmäßigkeit des fraglichen Rechtsakts auszuüben (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, Randnrn. 335 bis 337 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75. Aufgrund dieser Rechtsprechung ist das Gericht der Auffassung, dass zunächst das Eingangsargument des Rates und der Kommission zu prüfen ist, dass die Klägerin sich nicht auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte berufen könne. Sodann sind die geltend gemachte Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte der Klägerin und ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick darauf zu prüfen, dass sie über den Erlass der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht hinreichend informiert worden sein soll. Schließlich wird das Gericht auf die geltend gemachten Mängel eingehen, mit denen die regelmäßige Überprüfung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen behaftet sein soll.
– Zur Möglichkeit für die Klägerin, sich auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte zu berufen
76. Der Rat und die Kommission sind der Ansicht, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichts vom 19. Mai 2010, Tay Za/Rat (T-181/08, Slg. 2010, II-1965, Randnrn. 121 bis 123), tragen sie vor, die Klägerin sei von den restriktiven Maßnahmen nicht aufgrund ihrer eigenen Tätigkeit erfasst worden, sondern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur allgemeinen Gruppe der Personen und Einrichtungen, die der nuklearen Proliferation Vorschub geleistet hätten. Deshalb sei das Verfahren zum Erlass der restriktiven Maßnahmen nicht im Sinne der in Randnr. 70 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gegen die Klägerin eingeleitet worden, und sie könne sich daher nicht oder nur beschränkt auf die Verteidigungsrechte berufen.
77. Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.
78. Zum einen nämlich ist das Urteil Tay Za/Rat, oben in Randnr. 76 angeführt, auf ein Rechtsmittel hin mit Urteil des Gerichtshofs vom 13. März 2012, Tay Za/Rat (C-376/10 P), in vollem Umfang aufgehoben worden. Daher sind die Feststellungen in dem angeführten Urteil nicht mehr Teil der Unionsrechtsordnung und können somit nicht wirksam vom Rat und von der Kommission geltend gemacht werden.
79. Zum anderen sehen Art. 24 Abs. 3 und 4 des Beschlusses 2010/413, Art. 36 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 961/2010 und Art. 46 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 267/2012 Bestimmungen vor, die die Verteidigungsrechte der Einrichtungen sicherstellen, gegen die sich die aufgrund dieser Rechtsakte erlassenen restriktiven Maßnahmen richten. Die Wahrung dieser Rechte fällt unter die unionsrichterliche Kontrolle (vgl. in diesem Sinne Urteil Bank Melli Iran/Rat, oben in Randnr. 67 angeführt, Randnr. 37).
80. Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass sich die Klägerin im vorliegenden Fall auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, wie er in den Randnrn. 70 bis 73 des vorliegenden Urteils dargestellt ist, berufen kann.
– Zur Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte der Klägerin und ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick darauf, dass sie über den Erlass der sie betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht hinreichend informiert worden sein soll
81. Die Klägerin hat in ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichts, die am 8. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist (siehe oben, Randnrn. 32 und 54), vorgetragen, dass sie infolge des in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, nicht mehr geltend mache, dass der Rat die Begründungspflicht und ihre Verteidigungsrechte dadurch verletzt habe, dass er ihr weder die Gründe mitgeteilt habe, weshalb er der Auffassung sei, dass sie im Eigentum der BMI stehe, noch Beweise zur Untermauerung dieser Auffassung vorgelegt habe.
82. Sie macht jedoch geltend, trotz wiederholter Auskunftsersuchen nicht hinreichend über die gegen die BMI erlassenen restriktiven Maßnahmen informiert worden zu sein. Insbesondere sei ihr kein Beweis für die angebliche Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation vorgelegt worden. Sie bestreitet in diesem Zusammenhang, dass der ursprüngliche Vorschlag, auf den sich der Rat ihr gegenüber berufen habe, vertraulich sei, und betont, dass die am 1. Oktober und 18. November 2009 übermittelten Angaben unzureichend seien.
83. Demzufolge hätten die übermittelten Informationen es ihr nicht ermöglicht, zum Erlass der gegen sie und die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen sachgerecht Stellung zu nehmen, und hätten ihr kein faires Verfahren gewährleisten können.
84. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Klägerin seit dem 23. Juni 2008 von den restriktiven Maßnahmen betroffen ist. Seit diesem Zeitpunkt und dem Erlass des ersten der angefochtenen Rechtsakte, d. h. dem 26. Juli 2010, haben die Klägerin und der Rat mehrere Unterlagen ausgetauscht, darunter die Schreiben des Rates vom 1. Oktober und vom 18. November 2009, mit denen er der Klägerin die zusätzlichen Gründe für den Erlass restriktiver Maßnahmen nannte und ihr eine nicht vertrauliche Fassung des zusätzlichen Vorschlags übermittelte. Diese Unterlagen sind Teil des Kontexts für den Erlass der angefochtenen Rechtsakte und können daher bei der Prüfung des vorliegenden Klagegrundes berücksichtigt werden.
85. Außerdem ist festzustellen, dass die die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen eine doppelte Grundlage haben, zum einen den ursprünglichen Vorschlag und zum anderen die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte.
86. Angesichts des eigenständigen Charakters dieser beiden Grundlagen könnte eine Verletzung der Verfahrensrechte der Klägerin in Bezug auf den ursprünglichen Vorschlag, selbst wenn sie gegeben wäre, die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte nur dann rechtfertigen, wenn auch die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte als Begründung für den Erlass der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen allein nicht ausreichen.
87. Insoweit ist in den Randnrn. 45 bis 47 des vorliegenden Urteils bereits festgestellt worden, dass der vierte Klagegrund, der sich insbesondere auf die sachliche Richtigkeit der am 1. Oktober 2009 mitgeteilten Gründe bezieht, unzulässig ist.
88. Zudem bestreitet die Klägerin, wie sich aus Randnr. 82 des vorliegenden Urteils im Rahmen des ersten Klagegrundes ergibt, dass die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte ausreichend seien, zumal sie keinen Beweis für die angebliche Beteiligung der BMI an der nuklearen Proliferation enthielten.
89. Zum einen ist festzustellen, dass die am 1. Oktober 2009 mitgeteilten zusätzlichen Gründe für den Erlass der restriktiven Maßnahmen hinreichend genau sind, um die in den Randnrn. 67 bis 74 des vorliegenden Urteils dargelegten Kriterien der Rechtsprechung zu erfüllen. So lassen sich anhand dieser Gesichtspunkte nicht nur die Einrichtungen bestimmen, denen die BMI Finanzdienstleistungen erbracht hat und die von den von der Union oder vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossenen restriktiven Maßnahmen betroffen sind, sondern auch der Zeitraum, in dem die fraglichen Dienstleistungen erbracht sein sollen, und in bestimmten Fällen die spezifischen Transaktionen, mit denen diese Dienstleistungen zusammenhängen sollen.
90. Zum anderen ist hinsichtlich der fehlenden Vorlage von Beweisen festzustellen, dass der Rat nach dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht verpflichtet ist, andere als die in seinen Akten enthaltenen Angaben mitzuteilen. Im vorliegenden Fall macht der Rat von der Klägerin unwidersprochen geltend, dass seine Akten in Bezug auf die am 1. Oktober 2009 mitgeteilten Gründe keine zusätzlichen Beweise enthalten.
91. Nach alledem ist das Vorbringen der Klägerin, wonach die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte unzureichend seien, als nicht stichhaltig zurückzuweisen.
92. Unter diesen Umständen greift angesichts der Ausführungen in den Randnrn. 85 und 86 des vorliegenden Urteils außerdem das Vorbringen der Klägerin, mit dem sie die unterlassene Mitteilung des ursprünglichen Vorschlags rügt, nicht durch und ist daher zurückzuweisen.
– Zu den Mängeln, mit denen die regelmäßige Überprüfung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen behaftet sein soll
93. Die Klägerin macht erstens geltend, der Rat habe die sie betreffenden restriktiven Maßnahmen nicht wirklich überprüft, sondern sich lediglich auf die vorhandenen Angaben gestützt, zu denen Angaben gehörten, die ihr nicht mitgeteilt worden seien. Vor allem habe der Rat nicht die Garantien geprüft, die sie angeboten habe, um jede Gefahr eines Unterlaufens der gegen die BMI gerichteten restriktiven Maßnahmen zu verhindern.
94. Dazu ist zunächst festzustellen, dass sich aus den Randnrn. 85 und 86 des vorliegenden Urteils ergibt, dass die die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen eine doppelte Grundlage haben, zum einen den ursprünglichen Vorschlag und zum anderen die am 1. Oktober und 18. November 2009 mitgeteilten Gesichtspunkte. Unter diesen Umständen haben die Mängel, mit denen die Überprüfung der im ursprünglichen Vorschlag enthaltenen Gründe behaftet sein soll, selbst wenn sie erwiesen wären, keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Überprüfung der Gründe, die sich auf die zu diesen Zeitpunkten übermittelten Informationen stützen.
95. Des Weiteren macht der Rat von der Klägerin unwidersprochen geltend, die Delegationen der Mitgliedstaaten hätten vor Erlass der angefochtenen Rechtsakte von der BMI und der Klägerin Stellungnahmen erhalten, die berücksichtigt worden seien. Außerdem ergibt sich aus den Schreiben des Rates vom 18. November 2009, 11. Mai und 28. Oktober 2010, 5. Dezember 2011 und 24. April 2012, dass dieser die genannte Stellungnahme geprüft und darauf geantwortet hat, u. a. in Bezug auf die von der Klägerin angebotenen zusätzlichen Garantien.
96. Schließlich ist in Bezug auf die letztgenannten Garantien darauf hinzuweisen, dass, wie in Randnr. 57 des vorliegenden Urteils festgestellt, der Erlass der restriktiven Maßnahmen gegenüber einer im Eigentum stehenden Einrichtung nicht auf einer vom Rat vorgenommenen Beurteilung der Gefahr beruht, dass die Einrichtung die Auswirkungen der gegen ihre Muttergesellschaft erlassenen Maßnahmen unterlaufen könnte, sondern sich unmittelbar aus der Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Beschlusses 2010/413, der Verordnung Nr. 961/2010 und der Verordnung Nr. 267/2012 in ihrer Auslegung durch den Unionsrichter ergibt. Unter diesen Umständen war der Rat im Rahmen der Überprüfung der restriktiven Maßnahmen jedenfalls nicht verpflichtet, die zusätzlichen Garantien zu berücksichtigen, die die Klägerin angeboten hatte, um die Gefahr eines Unterlaufens der in Rede stehenden Maßnahmen zu verhindern.
97. Zweitens geht nach Ansicht der Klägerin aus Drahtberichten hervor, dass auf die Mitgliedstaaten, insbesondere auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, Druck seitens der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ausgeübt worden sei, für den Erlass restriktiver Maßnahmen gegen iranische Einrichtungen zu sorgen. Dieser Umstand werfe Zweifel an der Rechtmäßigkeit der erlassenen Maßnahmen und des Verfahrens zu ihrem Erlass auf.
98. Der Umstand, dass einige Mitgliedstaaten diplomatischem Druck ausgesetzt gewesen sein sollen, bedeutet aber, selbst wenn er erwiesen wäre, für sich genommen nicht, dass dieser Druck Auswirkungen auf die vom Rat erlassenen angefochtenen Rechtsakte oder auf die von ihm bei deren Erlass vorgenommene Prüfung gehabt hätte.
99. Unter diesen Umständen ist das Vorbringen, wonach die regelmäßige Überprüfung der die Klägerin betreffenden restriktiven Maßnahmen mit Mängeln behaftet sein soll, als unbegründet zurückzuweisen.
100. Nach alledem ist der erste Klagegrund zurückzuweisen und somit die gesamte Klage abzuweisen, da der Antrag, die angefochtenen Maßnahmen mit sofortiger Wirkung für nichtig zu erklären, gegenstandslos geworden ist.
Kosten
101. Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen.
102. Gemäß Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Organe, wenn sie einem Rechtsstreit beitreten, ihre eigenen Kosten. Daher trägt die Kommission ihre eigenen Kosten.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Melli Bank plc trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates der Europäischen Union.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 12. Juli 2012.#Association Kokopelli gegen Graines Baumaux SAS.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour dʼappel de Nancy.#Landwirtschaft – Richtlinien 98/95/EG, 2002/53/EG, 2002/55/EG und 2009/145/EG – Gültigkeit – Gemüse – Verkauf von Gemüsesaatgut, das im amtlichen gemeinsamen Sortenkatalog für Gemüsearten nicht aufgeführt ist, auf dem nationalen Saatgutmarkt – Nichtbeachtung der Regelung der vorherigen Zulassung für das Inverkehrbringen – Internationaler Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Unternehmerische Freiheit – Freier Warenverkehr – Gleichbehandlung.#Rechtssache C‑59/11.
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62011CJ0059
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ECLI:EU:C:2012:447
| 2012-07-12T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62011CJ0059
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
12. Juli 2012 (*1)
„Landwirtschaft — Richtlinien 98/95/EG, 2002/53/EG, 2002/55/EG und 2009/145/EG — Gültigkeit — Gemüse — Verkauf von Gemüsesaatgut, das im amtlichen gemeinsamen Sortenkatalog für Gemüsearten nicht aufgeführt ist, auf dem nationalen Saatgutmarkt — Nichtbeachtung der Regelung der vorherigen Zulassung für das Inverkehrbringen — Internationaler Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — Unternehmerische Freiheit — Freier Warenverkehr — Gleichbehandlung“
In der Rechtssache C-59/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Nancy (Frankreich) mit Entscheidung vom 4. Februar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Februar 2011, in dem Verfahren
Association Kokopelli
gegen
Graines Baumaux SAS
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters J. Malenovský, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Association Kokopelli, vertreten durch B. Magarinos Rey, avocat,
—
der Graines Baumaux SAS, vertreten durch P. de Jong, C. Ronse und S. Lens, avocats,
—
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, B. Cabouat und R. Loosli-Surrans als Bevollmächtigte,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
—
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch P. Mahnič Bruni und É. Sitbon Bercain als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Bianchi und Z. Malůšková als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Januar 2012
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit der Richtlinien
—
98/95/EG des Rates vom 14. Dezember 1998 zur Änderung der Richtlinien 66/400/EWG, 66/401/EWG, 66/402/EWG, 66/403/EWG, 69/208/EWG, 70/457/EWG und 70/458/EWG über den Verkehr mit Betarübensaatgut, Futterpflanzensaatgut, Getreidesaatgut, Pflanzkartoffeln, Saatgut von Öl- und Faserpflanzen, Gemüsesaatgut und über den gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzen, und zwar hinsichtlich der Konsolidierung des Binnenmarkts, genetisch veränderter Sorten und pflanzengenetischer Ressourcen (ABl. 1999, L 25, S. 1),
—
2002/53/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über einen gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten (ABl. L 193, S. 1),
—
2002/55/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut (ABl. L 193, S. 33) und
—
2009/145/EG der Kommission vom 26. November 2009 mit Ausnahmeregelungen für die Zulassung von Gemüselandsorten und anderen Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind, sowie von Gemüsesorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, sowie für das Inverkehrbringen von Saatgut dieser Landsorten und anderen Sorten (ABl. L 312, S. 44).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association Kokopelli (im Folgenden: Kokopelli) und der Graines Baumaux SAS (im Folgenden: Baumaux) über den Vertrieb von Gemüsesaatgut.
Rechtlicher Rahmen
Internationaler Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft
3 Der Rat hat mit dem Beschluss 2004/869/EG vom 24. Februar 2004 den Abschluss des Internationalen Vertrags über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (im Folgenden: Internationaler Vertrag) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt (ABl. L 378, S. 1).
4 Nach Art. 1 des Internationalen Vertrags hat dieser „im Einklang mit dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt die Erhaltung und nachhaltige Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft sowie die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile zur Erreichung einer nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährungssicherheit“ zum Ziel.
5 Art. 5 des Internationalen Vertrags sieht vor:
„5.1. Nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit anderen Vertragsparteien fördert jede Vertragspartei einen integrierten Ansatz zur Erforschung, Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft und wird insbesondere, sofern angebracht,
…
c)
die Bemühungen von Bauern und ortsansässigen Gemeinschaften um On-farm-Bewirtschaftung und -Erhaltung ihrer pflanzengenetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft gegebenenfalls fördern oder unterstützen;
…“
6 Art. 6 des Internationalen Vertrags bestimmt:
„6.1. Die Vertragsparteien erarbeiten geeignete politische und rechtliche Maßnahmen zur Förderung der nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft und erhalten diese Maßnahmen aufrecht.“
7 Nach Art. 7 Abs. 7.1 des Internationalen Vertrags nimmt „[j]ede Vertragspartei …, sofern angebracht, die in den Artikeln 5 und 6 genannten Tätigkeiten in ihre Politiken und Programme für die Landwirtschaft und die ländliche Entwicklung auf und arbeitet unmittelbar oder über die [Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO)] und andere einschlägige internationale Organisationen mit anderen Vertragsparteien bei der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft zusammen“.
8 Art. 9 des Internationalen Vertrags sieht vor:
„9.1. Die Vertragsparteien erkennen den außerordentlich großen Beitrag an, den die ortsansässigen und eingeborenen Gemeinschaften und Bauern aller Regionen der Welt, insbesondere in den Ursprungszentren und Zentren der Nutzpflanzenvielfalt, zur Erhaltung und Entwicklung pflanzengenetischer Ressourcen, welche die Grundlage der Nahrungsmittel- und Agrarproduktion in der ganzen Welt darstellen, geleistet haben und weiterhin leisten.
…
9.3. Dieser Artikel ist nicht so auszulegen, als schränke er irgendwelche Rechte der Bauern ein, auf dem Betrieb gewonnenes Saatgut/Vermehrungsmaterial vorbehaltlich des innerstaatlichen Rechts und, sofern angemessen, zurückzubehalten, zu nutzen, auszutauschen und zu verkaufen.“
Unionsrecht
Richtlinie 2002/55
9 Die Richtlinie 2002/55 stellt einen gemeinsamen Sortenkatalog für Gemüsearten auf.
10 Die Erwägungsgründe 2 bis 4 und 12 dieser Richtlinie lauten:
„(2)
Die Erzeugung von Gemüsesaatgut nimmt in der Landwirtschaft der Gemeinschaft einen wichtigen Platz ein.
(3) Der Erfolg des Anbaus von Gemüse hängt weitgehend von der Verwendung geeigneten Saatguts ab.
(4) Eine höhere Produktivität beim Gemüseanbau in der Gemeinschaft wird dadurch erreicht, dass die Mitgliedstaaten bei der Auswahl der zum Verkehr zugelassenen Sorten einheitliche und möglichst strenge Regeln anwenden.
…
(12) Saatgut der Sorten, die im gemeinsamen Katalog aufgeführt sind, darf innerhalb der Gemeinschaft im Hinblick auf die Sorte im Verkehr keinen Beschränkungen unterliegen.“
11 Die Richtlinie 2002/55 gilt nach ihrem Art. 1 „für die kommerzielle Erzeugung und das Inverkehrbringen von Saatgut von Gemüse in der Gemeinschaft“.
12 Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten schreiben vor, dass Gemüsesaatgut nur anerkannt, als Standardsaatgut kontrolliert und in den Verkehr gebracht werden darf, wenn seine Sorte in mindestens einem Mitgliedstaat amtlich zugelassen ist.“
13 Für die Zulassung der Arten zu den amtlichen Katalogen sieht Art. 4 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Sorte nur zugelassen wird, wenn sie unterscheidbar, beständig und hinreichend homogen ist.
…
(4) Im Interesse der Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen gemäß Artikel 44 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten von den in Absatz 1 genannten Zulassungskriterien abweichen, soweit nach dem in [Artikel] 46 Absatz 2 genannten Verfahren besondere Bedingungen unter Berücksichtigung der Erfordernisse von Artikel 44 Absatz 3 festgelegt werden.“
14 Art. 5 der Richtlinie 2002/55 lautet:
„(1) Eine Sorte ist unterscheidbar, wenn sie sich ohne Rücksicht darauf, ob das Ausgangsmaterial, aus dem sie entstanden ist, künstlichen oder natürlichen Ursprungs ist, durch ein oder mehrere wichtige Merkmale deutlich unterscheidet von jeder anderen in der Gemeinschaft bekannten Sorte.
Die Merkmale müssen genau erkannt und genau beschrieben werden können.
…
(2) Eine Sorte ist beständig, wenn sie nach ihren aufeinanderfolgenden Vermehrungen oder, wenn der Züchter einen besonderen Vermehrungszyklus festgelegt hat, am Ende eines jeden Zyklus in ihren wesentlichen Merkmalen ihrem Sortenbild entspricht.
(3) Eine Sorte ist hinreichend homogen, wenn die Pflanzen, aus denen sie sich zusammensetzt – von wenigen Abweichungen abgesehen –, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Vermehrung der Pflanzen in Bezug auf alle zu diesem Zweck festgelegten Merkmale ähnlich oder in genetischer Hinsicht identisch sind.“
15 Art. 44 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2002/55 bestimmt:
„(2) Nach dem in Artikel 46 Absatz 2 genannten Verfahren können besondere Bedingungen festgelegt werden, um die Entwicklung in Bezug auf die Erhaltung in situ und nachhaltige Nutzung der pflanzengenetischen Ressourcen durch Anbau und Inverkehrbringen von Saatgut von
a)
Landsorten und Sorten, die herkömmlicherweise an bestimmten Orten und in bestimmten Gebieten angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind, unbeschadet der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1467/94 des Rates vom 20. Juni 1994 über die Erhaltung, Beschreibung, Sammlung und Nutzung der genetischen Ressourcen der Landwirtschaft [ABl. L 159, S. 1] zu berücksichtigen;
b)
Sorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, zu berücksichtigen.
(3) Die in Absatz 2 genannten besonderen Bedingungen schließen insbesondere Folgendes ein:
a)
Im Fall von Absatz 2 Buchstabe a) werden solche Landsorten und Sorten in Übereinstimmung mit den Bestimmungen dieser Richtlinie zugelassen. Dabei werden insbesondere die Ergebnisse nicht amtlicher Prüfungen sowie Erkenntnisse, die aufgrund praktischer Erfahrung während des Anbaus, der Vermehrung und Nutzung gewonnen wurden, sowie die ausführlichen Beschreibungen der Sorten und ihre entsprechenden Bezeichnungen, wie sie den betreffenden Mitgliedstaaten mitgeteilt wurden, berücksichtigt, die, wenn sie ausreichend sind, zu einer Freistellung von der vorgeschriebenen amtlichen Prüfung führen. Nach ihrer Zulassung wird eine solche Landsorte oder Sorte im gemeinschaftlichen Sortenkatalog als ‚Erhaltungssorte‘ aufgeführt;
b)
im Fall von Absatz 2 Buchstaben a) und b) geeignete mengenmäßige Beschränkungen.“
16 Art. 48 der Richtlinie 2002/55 bestimmt:
„(1) Nach dem in Artikel 46 Absatz 2 genannten Verfahren können besondere Bedingungen festgelegt werden, um die Entwicklung in folgenden Bereichen zu berücksichtigen:
…
b)
Voraussetzungen, unter denen Saatgut unter Berücksichtigung der Erhaltung in situ und der nachhaltigen Nutzung der pflanzengenetischen Ressourcen in Verkehr gebracht werden darf, einschließlich Saatgutmischungen von Arten, die auch in Artikel 1 der Richtlinie 2002/53 ... aufgeführte Arten enthalten und mit spezifischen natürlichen und halbnatürlichen Lebensräumen assoziiert und von genetischer Erosion bedroht sind;
…
(2) Die besonderen Bedingungen gemäß Absatz 1 Buchstabe b) umfassen insbesondere folgende Punkte:
a)
die Herkunft des Saatguts dieser Arten muss bekannt und von den zuständigen Behörden in den einzelnen Mitgliedstaaten für das Inverkehrbringen des Saatguts in bestimmten Gebieten zugelassen sein;
b)
entsprechende mengenmäßige Beschränkungen.“
Richtlinie 2009/145
17 Mit der Richtlinie 2009/145 werden Art. 4 Abs. 4, Art. 44 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2002/55 mit dem Zweck durchgeführt, die pflanzengenetischen Ressourcen zu erhalten.
18 Die Erwägungsgründe 1 bis 3 und 14 der Richtlinie 2009/145 lauten:
„(1)
Die Aspekte Biodiversität und Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, wie verschiedene Entwicklungen auf internationaler und auf Gemeinschaftsebene zeigen. Als Beispiele seien genannt: der Beschluss 93/626/EWG des Rates vom 25. Oktober 1993 über den Abschluss des Übereinkommens über die biologische Vielfalt [ABl. L 309, S. 1], der Beschluss 2004/869 ..., die Verordnung (EG) Nr. 870/2004 des Rates vom 24. April 2004 über ein Gemeinschaftsprogramm zur Erhaltung, Charakterisierung, Sammlung und Nutzung genetischer Ressourcen in der Landwirtschaft und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1467/94 [ABl. L 162, S. 18] und die Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) [ABl. L 277, S. 1]. Im Rahmen der Richtlinie 2002/55 … sollten besondere Bedingungen festgelegt werden, um diesen Fragen hinsichtlich des Verkehrs mit Gemüsesaatgut Rechnung zu tragen.
(2) Zur Gewährleistung der In-situ-Erhaltung und der nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen sollten Landsorten und andere Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind (Erhaltungssorten), angebaut und in Verkehr gebracht werden, selbst wenn sie nicht die allgemeinen Anforderungen an die Zulassung von Sorten und das Inverkehrbringen von Saatgut erfüllen. Neben dem allgemeinen Ziel des Schutzes pflanzengenetischer Ressourcen liegt das besondere Interesse an der Erhaltung dieser Sorten in der Tatsache, dass sie an besondere örtliche Bedingungen hervorragend angepasst sind.
(3) Im Hinblick auf die nachhaltige Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen sollten Sorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden (für den Anbau [unter besonderen Bedingungen] gezüchtete Sorten), angebaut und in Verkehr gebracht werden, selbst wenn sie nicht die allgemeinen Anforderungen an die Zulassung von Sorten und das Inverkehrbringen von Saatgut erfüllen. Neben dem allgemeinen Ziel des Schutzes pflanzengenetischer Ressourcen liegt das besondere Interesse an der Erhaltung dieser Sorten in der Tatsache, dass sie für den Anbau unter besonderen klimatischen, pedologischen oder agrotechnischen Bedingungen (z. B. Pflege von Hand, Mehrfachernte) geeignet sind.
...
(14) Nach drei Jahren sollte die Kommission prüfen, ob die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, insbesondere die Bestimmungen über mengenmäßige Beschränkungen für das Inverkehrbringen von Saatgut von Erhaltungssorten und zum Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchteten Sorten, wirksam sind.“
19 Art. 1 der Richtlinie 2009/145 sieht vor:
„(1) Mit dieser Richtlinie werden für die von der Richtlinie 2002/55 … abgedeckten Gemüsearten gewisse Ausnahmeregelungen in Bezug auf die In-situ-Erhaltung und nachhaltige Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen durch Anbau und Inverkehrbringen festgelegt, und zwar:
a)
für die Zulassung zur Aufnahme von Landsorten und anderen Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind, nachstehend ‚Erhaltungssorten‘, in die nationalen Sortenkataloge für Gemüsearten gemäß der Richtlinie 2002/55 … und
b)
für die Zulassung zur Aufnahme von Sorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, nachstehend ‚für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtete Sorten‘, in die unter Buchstabe a genannten Kataloge und
c)
für das Inverkehrbringen von Saatgut solcher Erhaltungssorten und für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchteten Sorten.
(2) Sofern in dieser Richtlinie nicht anders bestimmt, gilt die Richtlinie 2002/55 …“
20 Art. 35 der Richtlinie 2009/145 sieht vor:
„Bis zum 31. Dezember 2013 bewertet die Kommission die Umsetzung dieser Richtlinie.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
21 Kokopelli ist eine Vereinigung ohne Erwerbszweck, die Saatgut alter Gemüse- und Blumensorten aus biologischem Anbau verkauft und ihren Mitgliedern Gemüsesorten zur Verfügung stellt, die in Frankreich wenig angebaut werden.
22 Baumaux erzeugt und vertreibt Samen von Blumen- und Gemüsepflanzen. Dieses Unternehmen erhob im Jahr 2005 Klage wegen unlauteren Wettbewerbs gegen Kokopelli und begehrte u. a. einen pauschalen Schadensersatz in Höhe von 50000 Euro und die Einstellung jeglicher Werbung für die von ihr vertriebenen Sorten.
23 Mit Urteil vom 14. Januar 2008 verurteilte das Tribunal de grande instance de Nancy Kokopelli dazu, Baumaux Schadensersatz wegen unlauteren Wettbewerbs zu zahlen. Dieses Gericht stellte fest, dass Kokopelli und Baumaux im Bereich alten oder Kollektionssaatguts tätig seien, in 233 Fällen identische oder ähnliche Erzeugnisse vertrieben und sich an dieselbe Kundschaft von Hobbygärtnern wendeten und daher in Wettbewerb miteinander stünden. Das Gericht kam infolgedessen zu dem Schluss, dass Kokopelli unlautere Wettbewerbshandlungen dadurch vornehme, dass sie Saatgut für Gemüsepflanzen zum Verkauf anbiete, das weder im französischen Katalog noch im gemeinsamen Katalog für Gemüsesorten enthalten sei.
24 Kokopelli legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour d’appel de Nancy ein.
25 Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Nancy das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Richtlinien 98/95/EG, 2002/53/EG und 2002/55/EG des Rates sowie 2009/145 der Kommission im Hinblick auf die nachstehenden Grundrechte und -prinzipien der Europäischen Union, nämlich die freie wirtschaftliche Betätigung, die Verhältnismäßigkeit, die Gleichbehandlung oder Nichtdiskriminierung, den freien Warenverkehr, sowie wegen der im Internationalen Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft übernommenen Verpflichtungen – insbesondere soweit sie Zwänge hinsichtlich der Erzeugung und des Vertriebs alten Saatguts und alter Pflanzen einführen – ungültig?
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit
26 Baumaux ist der Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, da sich Kokopelli nicht auf die Ungültigkeit der streitigen Richtlinien berufen könne, denn diese regelten weder Rechte noch Pflichten für Einzelpersonen. Kokopelli könne nur die Gültigkeit der nationalen Bestimmungen zur Umsetzung dieser Richtlinien anfechten.
27 Ferner ist nach Ansicht von Baumaux die Bezugnahme auf die Richtlinie 98/95 für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich. Die Richtlinie 2002/53 sei ebenfalls nicht einschlägig, da sie ausschließlich den Handel mit landwirtschaftlichen Pflanzenarten betreffe, während sich aus dem Sachverhalt in diesem Rechtsstreit ergebe, dass Kokopelli behaupte, ausschließlich Saatgut für Gemüsepflanzen zu vertreiben. Baumaux fügt hinzu, dass die Gültigkeit der Richtlinie 2009/145 die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht berühre, da sie erst lange nach Erhebung ihrer Klage gegen Kokopelli erlassen worden sei.
28 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, vor dem eine Frage nach der Gültigkeit einer Handlung der Organe der Europäischen Union aufgeworfen wird, zu beurteilen, ob für seine Entscheidung eine Klärung dieses Punktes erforderlich ist, und den Gerichtshof gegebenenfalls zu ersuchen, über diese Frage zu befinden. Betreffen die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen die Gültigkeit einer Bestimmung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 8. Juli 2010, Afton Chemical, C-343/09, Slg. 2010, I-7027, Randnr. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine von einem nationalen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage zu befinden, wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts, um die das vorlegende Gericht ersucht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist (Urteil Afton Chemical, Randnr. 14).
30 In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2002/53 den gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten betrifft. Da aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass der Ausgangsrechtsstreit den Vertrieb von Gemüsesaatgut durch Kokopelli betrifft, ist die Gültigkeit dieser Richtlinie nicht zu prüfen.
31 Außerdem ist klarzustellen, dass die Richtlinie 98/95 ein Rechtsakt zur Änderung der Richtlinien 66/400/EWG des Rates vom 14. Juni 1966 über den Verkehr mit Betarübensaatgut (ABl. 1966, Nr. 125, S. 2290), 66/401/EWG des Rates vom 14. Juni 1966 über den Verkehr mit Futterpflanzensaatgut (ABl. 1966, Nr. 125, S. 2298), 66/402/EWG des Rates vom 14. Juni 1966 über den Verkehr mit Getreidesaatgut (ABl. 1966, Nr. 125, S. 2309), 66/403/EWG des Rates vom 14. Juni 1966 über den Verkehr mit Pflanzkartoffeln (ABl. 1966, Nr. 125, S. 2320), 69/208/EWG des Rates vom 30. Juni 1969 über den Verkehr mit Saatgut von Öl- und Faserpflanzen (ABl. L 169, S. 3), 70/457/EWG des Rates vom 29. September 1970 über einen gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten (ABl. L 225, S. 1) und 70/458/EWG des Rates vom 29. September 1970 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut (ABl. L 225, S. 7) ist und dass die Bestimmungen der letztgenannten Richtlinien durch die Richtlinien 2002/53 und 2002/55 kodifiziert worden sind. Unter diesen Umständen ist die Gültigkeit der Richtlinie 98/95 ebenfalls nicht zu prüfen.
32 In Bezug auf die Richtlinie 2009/145 steht fest, dass sie im Lauf des Jahres 2009, also nach der Erhebung der Klage von Baumaux gegen Kokopelli wegen unlauteren Wettbewerbs, erlassen wurde. Wie die Generalanwältin in Nr. 48 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, könnte die Prüfung der Gültigkeit dieser Richtlinie jedoch dem vorlegenden Gericht für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von Nutzen sein.
33 Infolgedessen ist nicht offensichtlich, dass die Beurteilung der Gültigkeit der Richtlinien 2002/55 und 2009/145 in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder ein hypothetisches Problem betrifft.
34 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass in dem vollständigen System von Rechtsbehelfen und Verfahren, das der AEU-Vertrag geschaffen hat, um die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe zu gewährleisten, natürliche oder juristische Personen, die wegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV Unionshandlungen allgemeiner Geltung nicht unmittelbar anfechten können, die Möglichkeit haben, je nach den Umständen des Falles die Ungültigkeit solcher Handlungen entweder inzident nach Art. 277 AEUV vor dem Unionsrichter oder aber vor den nationalen Gerichten geltend zu machen und diese Gerichte, die nicht selbst die Ungültigkeit der genannten Handlungen feststellen können, zu veranlassen, dem Gerichtshof insoweit Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen (Urteil Afton Chemical, Randnr. 18).
35 Es genügt die Feststellung, dass Kokopelli unbestreitbar nicht befugt war, eine Klage nach den Art. 230 EG und 263 AEUV auf Nichtigerklärung der Richtlinien 2002/55 und 2009/145 zu erheben. Sie ist demnach berechtigt, im Rahmen einer nach dem nationalen Recht erhobenen Klage die Ungültigkeit dieser Richtlinien geltend zu machen, auch wenn sie gegen diese nicht innerhalb der in diesen Artikeln vorgesehenen Frist beim Unionsrichter eine Nichtigkeitsklage erhoben hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Afton Chemical, Randnrn. 19 bis 25).
36 Nach alledem ist die von dem vorlegenden Gericht gestellte Frage zulässig, soweit sie die Gültigkeit der Richtlinien 2002/55 und 2009/145 betrifft.
Zur Beantwortung der Frage
37 Mit seiner Frage begehrt das vorlegende Gericht Auskunft über die Gültigkeit der Richtlinien 2002/55 und 2009/145 in Anbetracht der Grundsätze der freien Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und des freien Warenverkehrs sowie in Ansehung der von der Union nach dem Internationalen Vertrag eingegangenen Verpflichtungen.
Zur Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
38 Nach ständiger Rechtsprechung gehört der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dessen geltend gemachte Verletzung an erster Stelle zu prüfen ist, zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und verlangt, dass die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (Urteile vom 6. Dezember 2005, ABNA u. a., C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Randnr. 68, vom 7. Juli 2009, S.P.C.M. u. a., C-558/07, Slg. 2009, I-5783, Randnr. 41, und vom 8. Juni 2010, Vodafone u. a., C-58/08, Slg. 2010, I-4999, Randnr. 51).
39 In Bezug auf die gerichtliche Nachprüfung der in der vorhergehenden Randnummer des vorliegenden Urteils aufgeführten Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen verfügt, das der politischen Verantwortung entspricht, die ihm die Art. 40 AEUV und 43 AEUV übertragen, und dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein kann, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist (vgl. Urteile vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat, C-280/93, Slg. 1994, I-4973, Randnrn. 89 und 90, vom 13. Dezember 1994, SMW Winzersekt, C-306/93, Slg. 1994, I-5555, Randnr. 21, und vom 2. Juli 2009, Bavaria und Bavaria Italia, C-343/07, Slg. 2009, I-5491, Randnr. 81).
40 Zwar kann die Bedeutung der angestrebten Ziele Einschränkungen rechtfertigen, die sogar beträchtliche negative Folgen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer haben können (Urteil vom 17. Juli 1997, Affish, C-183/95, Slg. 1997, I-4315, Randnr. 42), doch ist zu ermitteln, ob der Unionsgesetzgeber bei der Prüfung der mit verschiedenen möglichen Maßnahmen verbundenen Belastungen neben dem verfolgten Hauptziel den betroffenen Interessen in vollem Umfang Rechnung getragen hat (Urteil vom 12. Januar 2006, Agrarproduktion Staebelow, C-504/04, Slg. 2006, I-679, Randnr. 37).
41 Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die in den Richtlinien 2002/55 und 2009/145 vorgesehene Regelung der Zulassung des Saatguts von Gemüsesorten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/55 beschränkt nämlich die Anerkennung, die Kontrolle als Standardsaatgut und das Inverkehrbringen von Gemüsesaatgut auf solches Saatgut, dessen Sorte in mindestens einem Mitgliedstaat amtlich zugelassen ist. Nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie kann eine Sorte indessen nur dann zu den amtlichen Katalogen zugelassen werden, wenn sie unterscheidbar, beständig und hinreichend homogen ist.
42 Kokopelli macht geltend, es sei ihr unmöglich, Saatgut „alter“ Gemüsesorten in den Verkehr zu bringen, da diese wegen ihrer Merkmale die Kriterien der Unterscheidbarkeit, der Beständigkeit und der Homogenität nicht erfüllen könnten und damit in ungerechtfertigter Weise von den amtlichen Katalogen ausgeschlossen seien.
43 Hierzu geht aus den Erwägungsgründen 2 bis 4 der Richtlinie 2002/55 hervor, dass das Hauptziel der Bestimmungen über die Zulassung des Saatguts von Gemüsesorten in der Steigerung der Produktivität beim Gemüseanbau in der Union besteht. Dieses Ziel gehört ausdrücklich zu den Zielen der gemeinsamen Agrarpolitik, wie sie in Art. 39 Abs. 1 Buchst. a AEUV aufgeführt sind.
44 Zur Gewährleistung einer gesteigerten Produktivität dieser Kulturen erweist sich die Aufstellung eines gemeinsamen Gemüsesortenkatalogs auf der Grundlage nationaler Kataloge im Rahmen vereinheitlichter und bei der Auswahl der zum Verkehr zugelassenen Sorten möglichst strenger Regeln als geeignet, dieses Ziel zu gewährleisten.
45 Eine solche Zulassungsregelung, die verlangt, dass Saatgut von Gemüsesorten unterscheidbar, beständig und homogen ist, erlaubt nämlich die Verwendung geeigneten Saatguts und damit eine gesteigerte Produktivität der Landwirtschaft, die auf der Verlässlichkeit der Eigenschaften dieses Saatguts beruht.
46 Ferner gilt die Richtlinie 2002/55 nach ihrem Art. 1 für die kommerzielle Erzeugung und das Inverkehrbringen von Saatgut von Gemüse in der Union. In ihrem 12. Erwägungsgrund wird klargestellt, dass Saatgut der Sorten, die im gemeinsamen Katalog aufgeführt sind, innerhalb der Union im Hinblick auf die Sorte im Verkehr keinen Beschränkungen unterliegen darf.
47 Damit dient die Richtlinie 2002/55 auch der Errichtung des Binnenmarkts für Gemüsesaatgut, indem sie dessen freien Verkehr innerhalb der Union gewährleistet. Im vorliegenden Fall ist die in dieser Richtlinie vorgesehene Zulassungsregelung geeignet, zur Verwirklichung dieses Ziels beizutragen, da eine solche Regelung garantiert, dass Saatgut, das in den verschiedenen Mitgliedstaaten in den Verkehr gebracht wird, den gleichen Anforderungen entspricht.
48 Auch geht aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2002/55 hervor, dass sie der Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen dient. Die Mitgliedstaaten können daher nach den in Art. 44 Abs. 3 und Art. 46 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Verfahren von den in ihrem Art. 4 Abs. 1 aufgestellten Zulassungskriterien abweichen.
49 In dieser Hinsicht erweist sich eine solche – durch die Richtlinie 2009/145 umgesetzte – abweichende Zulassungsregelung für Saatgut von Landsorten und anderen Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind (Erhaltungssorten), sowie Saatgut von Sorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, als geeignet, die Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen zu gewährleisten.
50 Somit ist die in den Richtlinien 2002/55 und 2009/145 vorgesehene Zulassungsregelung geeignet, das Erreichen der mit diesen Richtlinien angestrebten Ziele zu ermöglichen.
51 In Bezug auf die Frage, ob diese Regelung über das für die Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgeht, macht Kokopelli geltend, dass diese Regelung die einschneidendste Weise der Regelung der Ausübung einer wirtschaftlichen Betätigung darstelle.
52 Der Rat der Europäischen Union führt aus, dass Kokopelli nicht die Gründe angegeben habe, aus denen sie der Ansicht sei, dass die genannte Zulassungsregelung offensichtlich außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehe. Jedenfalls seien andere, weniger einschneidende Maßnahmen wie die Etikettierung kein ebenso wirksames Mittel, um das mit der Richtlinie 2002/55 verfolgte Produktivitätsziel zu gewährleisten, denn diese ermögliche den Verkauf und die Aussaat von Saatgut, das möglicherweise schädlich sei oder keine bestmögliche landwirtschaftliche Produktion erlaube.
53 Hierzu ist festzustellen, dass Saatgut, das im Binnenmarkt in den Verkehr gebracht wird, im Hinblick auf die Gewährleistung einer gesteigerten landwirtschaftlichen Produktivität die notwendigen Garantien für eine bestmögliche Nutzung der landwirtschaftlichen Ressourcen bieten muss.
54 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber annehmen durfte, dass die in der Richtlinie 2002/55 vorgesehene Zulassungsregelung erforderlich war, damit die landwirtschaftlichen Erzeuger eine hinsichtlich des Ertrags verlässliche und qualitätsvolle Produktion erreichen.
55 Zunächst verlangt nämlich Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/55, dass eine Gemüsesorte unterscheidbar in dem Sinne ist, dass sie sich ohne Rücksicht darauf, ob das Ausgangsmaterial, aus dem sie entstanden ist, künstlichen oder natürlichen Ursprungs ist, durch ein oder mehrere wichtige Merkmale deutlich von jeder anderen in der Union bekannten Sorte unterscheidet. Diese Unterscheidbarkeit verschafft damit den landwirtschaftlichen Erzeugern die notwendigen Informationen in Bezug auf die Eigenschaften des unterschiedlichen Saatguts und erlaubt es ihnen, eine Auswahl zu treffen, die ihnen einen bestmöglichen Ertrag gewährleistet.
56 Sodann heißt es in Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass eine Sorte beständig ist, wenn sie nach ihren aufeinanderfolgenden Vermehrungen oder, wenn der Züchter einen besonderen Vermehrungszyklus festgelegt hat, am Ende eines jeden Zyklus in ihren wesentlichen Merkmalen ihrem Sortenbild entspricht. Das Kriterium der Beständigkeit gewährleistet auf diese Weise, dass die qualitativen Eigenschaften eines zugelassenen Saatguts über die Jahre hinweg beständig bleiben.
57 Schließlich bezieht sich nach Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie das Erfordernis der Homogenität darauf, dass die Pflanzen, aus denen sich eine Sorte zusammensetzt, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Vermehrung der Pflanzen in Bezug auf alle zu diesem Zweck festgelegten Merkmale ähnlich oder in genetischer Hinsicht identisch sind. Das Kriterium der Homogenität fördert einen bestmöglichen Ertrag dadurch, dass es gewährleistet, dass alles unter einem bestimmten Namen verkaufte Saatgut die gleichen genetischen Merkmale aufweist.
58 Daher erlauben die Pflicht zur Aufnahme in die amtlichen Kataloge und die damit verbundenen Zulassungskriterien die Beschreibung der Sorte und die Überprüfung ihrer Beständigkeit und Homogenität, um sicherzustellen, dass Saatgut einer Sorte die notwendigen Eigenschaften besitzt, um eine gesteigerte, qualitätsvolle, verlässliche und über die Zeit gleichbleibende landwirtschaftliche Erzeugung zu gewährleisten.
59 Unter diesen Umständen – und insbesondere im Hinblick auf das weite Ermessen, über das der Unionsgesetzgeber im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik verfügt und das wirtschaftliche Entscheidungen verlangt, bei denen er komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss – durfte er berechtigterweise annehmen, dass andere Maßnahmen wie die Etikettierung es nicht erlauben würden, dasselbe Ergebnis zu erzielen wie die Vorschriften der hier in Rede stehenden Art, die eine Regelung der vorherigen Zulassung des Saatguts von Gemüsesorten vorsehen, und dass diese Vorschriften daher im Hinblick auf die Ziele, die der Gesetzgeber verfolgen möchte, geeignet waren.
60 Eine weniger einschneidende Maßnahme wie die Etikettierung würde nämlich kein ebenso wirksames Mittel darstellen, da sie den Verkauf und infolgedessen die Aussaat von Saatgut ermöglichen würde, das möglicherweise schädlich ist oder keine bestmögliche landwirtschaftliche Erzeugung erlaubt. Somit können die streitigen Vorschriften nicht als im Hinblick auf diese Ziele offensichtlich ungeeignet betrachtet werden.
61 Der Unionsgesetzgeber hat mit seinem Vorgehen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht verletzt, da diese Vorschriften zwar – sogar beträchtliche – negative Folgen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer haben können, aber festzustellen ist, dass die in den Richtlinien 2002/55 und 2009/145 vorgesehene Zulassungsregelung, mit der insbesondere eine gesteigerte landwirtschaftliche Produktivität und der freie Verkehr des zugelassenen Saatguts gewährleistet werden soll, in Anbetracht der mit ihr verfolgten Ziele gleichzeitig die wirtschaftlichen Interessen der landwirtschaftlichen Erzeuger und die Interessen der Wirtschaftsteilnehmer, die zugelassenes Gemüsesaatgut in den Verkehr bringen, fördert.
62 Was Wirtschaftsteilnehmer wie Kokopelli anbelangt, die „alte Sorten“, die nicht den Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2002/55 genügen, zum Verkauf anbieten, ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie in Art. 44 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 1 Buchst. b für die Erhaltungssorten und die Sorten, die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, die Festlegung besonderer Bedingungen für die Zulassung und das Inverkehrbringen vorsieht.
63 Insbesondere sieht Art. 44 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2002/55 vor, dass Saatgut von Erhaltungssorten ohne amtliche Prüfung auf der Grundlage insbesondere der Ergebnisse nichtamtlicher Prüfungen und der praktischen Erfahrung während ihres Anbaus zur Aufnahme in den Unionskatalog zugelassen werden kann. Außerdem sind nach Art. 44 Abs. 3 Buchst. b dieser Richtlinie geeignete mengenmäßige Beschränkungen für Erhaltungssorten und Sorten anzuwenden, die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden. In diesem Zusammenhang wurde die Richtlinie 2009/145 in Anwendung dieser Artikel der Richtlinie 2002/55 erlassen.
64 Die Richtlinien 2002/55 und 2009/145 berücksichtigen die wirtschaftlichen Interessen von Wirtschaftsteilnehmern wie Kokopelli, indem sie das Inverkehrbringen „alter Sorten“ nicht ausschließen. Zwar schreibt die Richtlinie 2009/145 geografische, mengenmäßige und die Verpackung betreffende Beschränkungen für Saatgut von Erhaltungssorten und Sorten, die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, vor, doch fügen sich diese Beschränkungen in den Kontext der Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen ein.
65 Im Übrigen beabsichtigte der Unionsgesetzgeber, wie die Organe, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, geltend machen, nicht die Liberalisierung des Marktes für Saatgut der Erhaltungssorten und der für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchteten Sorten, sondern war bestrebt, die Zulassungsbestimmungen flexibler zu gestalten und dabei zugleich die Bildung eines Parallelmarkts für dieses Saatgut zu verhindern, der den Binnenmarkt für Saatgut von Gemüsesorten zu behindern drohte.
66 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Art. 35 der Richtlinie 2009/145 verlangt, dass die Kommission deren Umsetzung bis zum 31. Dezember 2013 bewertet. Der 14. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt, dass die Kommission nach drei Jahren prüfen sollte, ob insbesondere die Bestimmungen über mengenmäßige Beschränkungen für das Inverkehrbringen von Saatgut von Erhaltungssorten und zum Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchteten Sorten wirksam sind. Diese Richtlinie kann somit nach Maßgabe der Ergebnisse der durchgeführten Prüfungen geändert werden.
67 Daher konnte der Unionsgesetzgeber mit Recht annehmen, dass die geeignete Art und Weise, die mit den Richtlinien 2002/55 und 2009/145 angestrebten Ziele, die in den Randnrn. 43 bis 49 des vorliegenden Urteils dargestellt sind, und die Interessen aller beteiligten Wirtschaftsteilnehmer miteinander zu vereinbaren, darin bestand, eine allgemeine Zulassungsregelung für das Inverkehrbringen von Standardsaatgut und besondere Bedingungen für den Anbau und das Inverkehrbringen von Saatgut der Erhaltungssorten und der Sorten, die für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, vorzusehen.
68 Außerdem ist festzustellen, dass in Anbetracht der Bedeutung, die das Ziel der Produktivität im Rahmen von Art. 39 AEUV hat, Maßnahmen wie die in Rede stehenden, die es erlauben, die Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und einen bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren zu gewährleisten, auch dann, wenn sie nachteilige wirtschaftliche Folgen für einige Wirtschaftsteilnehmer nach sich ziehen können, unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen dieser Wirtschaftsteilnehmer nicht offensichtlich außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.
69 Nach alledem verletzen die Richtlinien 2002/55 und 2009/145 den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht.
Zur Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung
70 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung oder das Diskriminierungsverbot, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, eine solche Behandlung ist objektiv gerechtfertigt (Urteile vom 17. Oktober 1995, Fishermen’s Organisations u. a., C-44/94, Slg. 1995, I-3115, Randnr. 46, vom 9. September 2004, Spanien/Kommission, C-304/01, Slg. 2004, I-7655, Randnr. 31, vom 8. November 2007, Spanien/Rat, C-141/05, Slg. 2007, I-9485, Randnr. 40, und vom 15. Mai 2008, Spanien/Rat, C-442/04, Slg. 2008, I-3517, Randnr. 35).
71 Kokopelli macht geltend, dass die durch die Richtlinien 2002/55 und 2009/145 vorgeschriebene Zulassungsregelung eine nicht gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung von Saatgut der Erhaltungssorten und Standardsaatgut, das in die amtlichen Kataloge aufgenommen werden könne, einführe. Wegen dieser Regelung sei es Kokopelli nämlich nicht möglich, das Saatgut der Erhaltungssorten in den Verkehr zu bringen.
72 Standardsaatgut und Saatgut der Erhaltungssorten befinden sich wegen ihrer jeweiligen Eigenschaften in unterschiedlichen Situationen. Das Saatgut der Erhaltungssorten genügt nämlich grundsätzlich nicht den Anforderungen von Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2002/55. Es wird herkömmlicherweise an besonderen Orten und in besonderen Gebieten angebaut und ist von genetischer Erosion bedroht.
73 Unter Berücksichtigung der jeweiligen Eigenschaften der verschiedenen Saatgutsorten sieht die durch die Richtlinien 2002/55 und 2009/145 aufgestellte Zulassungsregelung zum einen allgemeine Regeln für das Inverkehrbringen des Standardsaatguts und zum anderen besondere Bedingungen für den Anbau und das Inverkehrbringen des Saatguts der Erhaltungssorten vor.
74 Diese besonderen Bedingungen fügen sich nämlich in den Rahmen der In-situ-Erhaltung und der nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen ein.
75 Hierzu heißt es in den Erwägungsgründen 2 und 3 der Richtlinie 2009/145, dass neben dem allgemeinen Ziel des Schutzes pflanzengenetischer Ressourcen das besondere Interesse an der Erhaltung der Erhaltungssorten in der Tatsache liegt, dass sie an besondere örtliche Bedingungen hervorragend angepasst sind und dass sie für den Anbau unter besonderen klimatischen Bedingungen geeignet sind.
76 Somit hat der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er mit der Richtlinie 2002/55 und mit der Richtlinie 2009/145, die zu ihrer Umsetzung erlassen wurde, besondere Bedingungen für den Anbau und das Inverkehrbringen von Saatgut der Erhaltungssorten festgelegt hat, unterschiedliche Sachverhalte unterschiedlich behandelt. Infolgedessen verletzen diese Richtlinien den Grundsatz der Gleichbehandlung nicht.
Zur Missachtung des Rechts auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit
77 Nach ständiger Rechtsprechung gehört das Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts. Diese Grundsätze können jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich kann das Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (vgl. u. a. Urteile vom 11. Juli 1989, Schräder HS Kraftfutter, 265/87, Slg. 1989, 2237, Randnr. 15, und vom 12. Juli 2005, Alliance for Natural Health u. a., C-154/04 und C-155/04, Slg. 2005, I-6451, Randnr. 126).
78 Im vorliegenden Fall ist zwar die Zulassungsregelung für Gemüsesaatgut in den Richtlinien 2002/55 und 2009/145 geeignet, die freie Ausübung der beruflichen Tätigkeit der Händler für Saatgut alter Sorten wie Kokopelli zu beschränken.
79 Die Bestimmungen der Art. 3 bis 5 der Richtlinie 2002/55 dienen jedoch der Steigerung der Produktivität beim Gemüseanbau in der Union, der Errichtung des Binnenmarkts für Gemüsesaatgut durch Gewährleistung seines freien Verkehrs in der Union und der Erhaltung der pflanzengenetischen Ressourcen, die Ziele des Allgemeininteresses darstellen. Wie aus den Entscheidungsgründen des vorliegenden Urteils, die die gerügte Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit betreffen, hervorgeht, zeigt sich nicht, dass diese Bestimmungen und die darin vorgesehenen Maßnahmen zur Verwirklichung dieser Ziele ungeeignet wären, und das Hemmnis für die freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, das solche Maßnahmen darstellen, kann in Anbetracht der verfolgten Ziele nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf die Ausübung dieser Freiheit angesehen werden.
Zur Missachtung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs
80 Nach ständiger Rechtsprechung gilt das in Art. 34 AEUV vorgesehene Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen sowie von Maßnahmen gleicher Wirkung nicht nur für nationale Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen der Unionsorgane (vgl. Urteile vom 17. Mai 1984, Denkavit Nederland, 15/83, Slg. 1984, I-2171, Randnr. 15, und Alliance for Natural Health u. a., Randnr. 47).
81 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die in den Richtlinien 2002/55 und 2009/145 vorgesehene Zulassungsregelung, wie aus den Randnrn. 43 bis 47 des vorliegenden Urteils hervorgeht, zur Steigerung der Produktivität beim Gemüseanbau in der Union und zur Errichtung des Binnenmarkts für Gemüsesaatgut dadurch beiträgt, dass sie dessen freien Verkehr in der Union gewährleistet. Somit wird der freie Warenverkehr durch diese Regelung eher gefördert als beschränkt.
Zur Missachtung des Internationalen Vertrags
82 Nach Art. 1 des Internationalen Vertrags hat dieser die Erhaltung und nachhaltige Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft zum Hauptziel.
83 Hierzu vertritt Kokopelli die Ansicht, dass die in der Richtlinie 2002/55 vorgesehene Regelung die Bestimmungen des Internationalen Vertrags nicht beachte.
84 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Organe der Union, wenn von dieser Übereinkünfte geschlossen werden, nach Art. 216 Abs. 2 AEUV an solche Übereinkünfte gebunden; die Übereinkünfte haben daher gegenüber den Rechtsakten der Union Vorrang (Urteil vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a., C-366/10, Slg. 2011, I-13755, Randnr. 50).
85 Die Gültigkeit des betreffenden Rechtsakts der Union kann an völkerrechtlichen Normen gemessen werden, wenn die Union an diese Normen gebunden ist und wenn Art und Struktur des betreffenden völkerrechtlichen Vertrags dem nicht entgegenstehen und dessen Bestimmungen inhaltlich unbedingt und hinreichend genau erscheinen (vgl. in diesem Sinne Urteil Air Transport Association of America u. a., Randnrn. 51 bis 54).
86 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Union als Vertragspartei an den Internationalen Vertrag gebunden ist. Wie jedoch die Generalanwältin in Nr. 53 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, enthält dieser Vertrag keine Bestimmung, die inhaltlich unbedingt und hinreichend genau wäre, um die Gültigkeit der Richtlinien 2002/55 und 2009/145 in Frage zu stellen.
87 Insbesondere sieht nämlich Art. 5 Abs. 5.1 des Internationalen Vertrags vor, dass jede Vertragspartei nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit anderen Vertragsparteien einen integrierten Ansatz zur Erforschung, Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft fördert und insbesondere, sofern angebracht, eine Reihe von Maßnahmen ergreifen wird.
88 Ferner erarbeiten die Vertragsparteien nach Art. 6 dieses Vertrags geeignete politische und rechtliche Maßnahmen zur Förderung der nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft und erhalten diese Maßnahmen aufrecht.
89 Somit überlassen es diese Bestimmungen der Beurteilung der Mitgliedstaaten, welche Maßnahmen in den einzelnen Arten von Fällen zu ergreifen sind.
90 Ferner erkennen die Vertragsparteien nach Art. 9 des Internationalen Vertrags, auf den sich Kokopelli beruft, den außerordentlich großen Beitrag an, den die ortsansässigen und eingeborenen Gemeinschaften und Bauern aller Regionen der Welt, insbesondere in den Ursprungszentren und Zentren der Nutzpflanzenvielfalt, zur Erhaltung und Entwicklung pflanzengenetischer Ressourcen, welche die Grundlage der Nahrungsmittel- und Agrarproduktion in der ganzen Welt darstellen, geleistet haben und weiterhin leisten.
91 Art. 9 Abs. 9.3 dieses Vertrags bestimmt, dass dieser Artikel nicht so auszulegen ist, als schränke er irgendwelche Rechte der Bauern ein, auf dem Betrieb gewonnenes Saatgut/Vermehrungsmaterial vorbehaltlich des innerstaatlichen Rechts und sofern angemessen, zurückzubehalten, zu nutzen, auszutauschen und zu verkaufen.
92 Somit enthält dieser Artikel ebenfalls keine Verpflichtung, die hinreichend unbedingt und genau ist, um Zweifel an der Gültigkeit der Richtlinien 2002/55 und 2009/145 zu begründen.
93 Nach alledem hat die Prüfung der vorgelegten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinien 2002/55 und 2009/145 beeinträchtigen könnte.
Kosten
94 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der vorgelegten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Richtlinien 2002/55/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut und 2009/145/EG der Kommission vom 26. November 2009 mit Ausnahmeregelungen für die Zulassung von Gemüselandsorten und anderen Sorten, die traditionell an besonderen Orten und in besonderen Regionen angebaut werden und von genetischer Erosion bedroht sind, sowie von Gemüsesorten, die an sich ohne Wert für den Anbau zu kommerziellen Zwecken sind, aber für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtet werden, sowie für das Inverkehrbringen von Saatgut dieser Landsorten und anderen Sorten beeinträchtigen könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Beschluss des Gerichtshofes (Siebte Kammer) vom 22. März 2012. # Italienische Republik gegen Europäische Kommission. # Rechtsmittel - Art. 119 der Verfahrensordnung - Staatliche Beihilfen - Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt - Entscheidung der Kommission - Nichtigkeitsklage - Verordnung [EG] Nr. 659/1999 - Art. 1 Buchst. c - Änderung einer bestehenden Beihilfe - Verordnung [EG] Nr. 794/2004 - Art. 4 Abs. 1 -Befristete Schutzmaßnahmen für den Schiffbau. # Rechtssache C-200/11 P.
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62011CO0200
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ECLI:EU:C:2012:165
| 2012-03-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 22. März 2012 – Italien/Kommission
(Rechtssache C‑200/11 P)
„Rechtsmittel – Art. 119 der Verfahrensordnung – Staatliche Beihilfen – Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt – Entscheidung der Kommission – Nichtigkeitsklage – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 1 Buchst. c – Änderung einer bestehenden Beihilfe – Verordnung (EG) Nr. 794/2004 – Art. 4 Abs. 1 – Befristete Schutzmaßnahmen für den Schiffbau“
1. Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, mit der die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit Art. 87 Abs. 1
EG festgestellt wird – Bestimmung der Tragweite der Entscheidung – Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Entscheidung,
sondern auch des Inhalts der Mitteilung (Art. 87 Abs. 1 EG) (vgl. Randnr. 27)
2. Staatliche Beihilfen – Bestehende und neue Beihilfen – Maßnahme zur Änderung einer bestehenden Beihilferegelung – Qualifizierung
als neue Beihilfen (Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 1 Buchst. c; Verordnung Nr. 794/2004 der Kommission, Art. 4 Abs. 1)
(vgl. Randnrn. 30-31)
3. Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Prüfung durch die Kommission – Anwendung von zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung
durch die Kommission geltenden materiellen Rechtsvorschriften (Art. 88 Abs. 3 EG; Verordnung Nr. 1177/2002 des Rates, Art. 5)
(vgl. Randnrn. 37-39, 43)
4. Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Unterrichtung der Kommission – Umfang der Verpflichtung – Mitteilung, die wegen
seiner Auswirkungen auf die Zulässigkeit der geplanten Beihilfen deren geschätzten Gesamtbetrag beinhalten muss (Art. 88 Abs. 3
EG; Verordnung Nr. 1177/2002 des Rates, Art. 5) (vgl. Randnrn. 47-49)
5. Rechtsmittel – Darlegung der Rechtsmittelgründe in der Rechtsmittelschrift – Nicht ausreichend erläuterter Rechtsmittelgrund
– Unzulässigkeit (Art. 256 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 112 Abs. 1
Buchst. c) (vgl. Randnrn. 52-54)
6. Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, mit der die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit Art. 87 Abs. 1
EG festgestellt wird – Kein berechtigtes Vertrauen im Fall einer über den Rahmen der Genehmigungsentscheidung hinausgehenden
Änderung der Beihilferegelung (Art. 87 Abs. 1 EG) (vgl. Randnrn. 65-68)
7. Unionsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Begriff – Ungleichbehandlung aufgrund einer befristeten Genehmigung zur Gewährung
von staatlichen Beihilfen in einem Marktsegment – Objektive Rechtfertigung (Verordnung Nr. 1177/2002 des Rates, Art. 5) (vgl.
Randnrn. 74-76)
Gegenstand
Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 3. Februar 2011, Italien/Kommission (T‑3/09), mit dem das Gericht
die Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung 2010/38/EG der Kommission vom 21. Oktober 2008 über die staatliche Beihilfe
C 20/08 (ex N 62/08), die Italien im Rahmen einer Änderung der Beihilferegelung N 59/04 zur Einführung betreffend befristete
Schutzmaßnahmen für den Schiffbau gewähren will (ABl. 2010, L 17, S. 50), abgewiesen hat
Tenor
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Italienische Republik trägt die Kosten.
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Beschluss des Gerichtshofes (Siebte Kammer) vom 22. März 2012. # Cantiere navale De Poli SpA gegen Europäische Kommission. # Rechtsmittel - Art. 119 der Verfahrensordnung - Staatliche Beihilfen - Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt - Entscheidung der Kommission - Änderung einer bestehenden Beihilfe - Verordnung [EG] Nr. 794/2004 -Verordnung [EG] Nr. 1177/2002 - Befristete Schutzmaßnahmen für den Schiffbau. # Rechtssache C-167/11 P.
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62011CO0167
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ECLI:EU:C:2012:164
| 2012-03-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 22. März 2012 – Cantiere navale De Poli/Kommission
(Rechtssache C‑167/11 P)
„Rechtsmittel – Art. 119 der Verfahrensordnung – Staatliche Beihilfen – Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt – Entscheidung der Kommission – Änderung einer bestehenden Beihilfe – Verordnung (EG) Nr. 794/2004 –Verordnung (EG) Nr. 1177/2002 – Befristete Schutzmaßnahmen für den Schiffbau“
1. Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Unterrichtung der Kommission – Ermessen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den
Zeitpunkt der Mitteilung – Erfordernis, im Fall befristeter Schutzmaßnahmen die Mitteilung vor Auslaufen der Verordnung über
die Gewährung von Beihilfen erfolgen zu lassen (Art. 88 Abs. 3 EG; Verordnung Nr. 1177/2002 des Rates, Art. 5) (vgl. Randnrn. 31-32)
2. Rechtsmittel – Gründe – Vorbringen gegen eine Erwägung im Urteil, die kein tragender Bestandteil der Entscheidung ist – Ins
Leere gehender Rechtsmittelgrund (vgl. Randnr. 43)
3. Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Prüfung durch die Kommission – Anwendung von zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung
durch die Kommission geltenden materiellen Rechtsvorschriften (Art. 88 Abs. 3 EG; Verordnung Nr. 1177/2002 des Rates, Art. 5)
(vgl. Randnrn. 51-53)
4. Unionsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Begriff – Ungleichbehandlung aufgrund einer befristeten Genehmigung zur Gewährung
von staatlichen Beihilfen in einem Marktsegment – Objektive Rechtfertigung (Verordnung Nr. 1177/2002 des Rates, Art. 5) (vgl.
Randnrn. 74-76)
5. Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, mit der die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit Art. 87 Abs. 1
EG festgestellt wird – Kein berechtigtes Vertrauen im Fall einer über den Rahmen der Genehmigungsentscheidung hinausgehenden
Änderung der Beihilferegelung (Art. 87 Abs. 1 EG) (vgl. Randnrn. 85-87)
6. Rechtsmittel – Darlegung der Rechtsmittelgründe in der Rechtsmittelschrift – Rechtsmittelgrund, der offensichtlich nicht gegen
das Urteil gerichtet ist – Unzulässigkeit (Art. 256 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1; Verfahrensordnung des
Gerichtshofs, Art. 112 Abs. 1 Buchst. c) (vgl. Randnrn. 99-100, 115)
Gegenstand
Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 3. Februar 2011, Cantiere navale De Poli/Kommission (T‑584/08),
mit dem das Gericht die Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung 2010/38/EG der Kommission vom 21. Oktober 2008 über die
staatliche Beihilfe C 20/08 (ex N 62/08), die Italien im Rahmen einer Änderung der Beihilferegelung N 59/04 betreffend befristete
Schutzmaßnahmen für den Schiffbau gewähren will (ABl. 2010, L 17, S. 50), abgewiesen hat
Tenor
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Cantiere navale De Poli SpA trägt die Kosten.
3. Die Italienische Republik trägt ihre eigenen Kosten.
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 2. März 2010.#Arcelor SA gegen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union.#Umwelt - Richtlinie 2003/87/EG - System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten - Antrag auf Nichtigerklärung - Keine unmittelbare und individuelle Betroffenheit - Antrag auf Schadensersatz - Zulässigkeit - Hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen Rechtsnorm, die den Einzelnen Rechte verleiht - Eigentumsrecht - Freie Berufsausübung - Verhältnismäßigkeit - Gleichbehandlung - Niederlassungsfreiheit - Rechtssicherheit.#Rechtssache T-16/04.
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62004TJ0016
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ECLI:EU:T:2010:54
| 2010-03-02T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung 2010 II-00211
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62004TJ0016_DE
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑16/04
Arcelor SA mit Sitz in Luxemburg (Luxemburg), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte W. Deselaers, B. Meyring und B. Schmitt-Rady, dann Rechtsanwälte W. Deselaers und B. Meyring,
Klägerin,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten zunächst durch K. Bradley und M. Moore, dann durch L. Visaggio und I. Anagnostopoulou als Bevollmächtigte,
und
Rat der Europäischen Union , vertreten zunächst durch B. Hoff-Nielsen und M. Bishop, dann durch E. Karlsson und A. Westerhof Löfflerova, dann durch Letztere und K. Michoel als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Europäische Kommission , vertreten durch U. Wölker als Bevollmächtigten,
Streithelferin,
wegen teilweiser Nichtigerklärung der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. L 275, S. 32) und wegen Ersatzes des Schadens, den die Klägerin aufgrund des Erlasses dieser Richtlinie erlitten hat,
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten J. Azizi (Berichterstatter), der Richterin E. Cremona und des Richters S. Frimodt Nielsen,
Kanzler: K. Pocheć, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. April 2008
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rechtlicher Rahmen
I – Bestimmungen des EG-Vertrags
1. Art. 174 EG bestimmt u. a.:
„(1) Die Umweltpolitik der Gemeinschaft trägt zur Verfolgung der nachstehenden Ziele bei:
– Erhaltung und Schutz der Umwelt sowie Verbesserung ihrer Qualität;
– Schutz der menschlichen Gesundheit;
– umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen;
– Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme.
(2) Die Umweltpolitik der Gemeinschaft zielt unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Gemeinschaft auf ein hohes Schutzniveau ab. Sie beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung, auf dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem Ursprung zu bekämpfen, sowie auf dem Verursacherprinzip.
…
(3) Bei der Erarbeitung ihrer Umweltpolitik berücksichtigt die Gemeinschaft
– die verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Daten;
– die Umweltbedingungen in den einzelnen Regionen der Gemeinschaft;
– die Vorteile und die Belastung aufgrund des Tätigwerdens bzw. eines Nichttätigwerdens;
– die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gemeinschaft insgesamt sowie die ausgewogene Entwicklung ihrer Regionen.
…“
2. Art. 175 Abs. 1 EG sieht vor:
„Der Rat beschließt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 [EG] und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen über das Tätigwerden der Gemeinschaft zur Erreichung der in Artikel 174 [EG] genannten Ziele.“
II – Angefochtene Richtlinie
3. Mit der am 25. Oktober 2003 in Kraft getretenen Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. L 275, S. 32, im Folgenden: angefochtene Richtlinie) wird ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Europäischen Gemeinschaft (im Folgenden: Emissionshandelssystem) geschaffen, um auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung von Treibhausgasemissionen, vor allem von Kohlendioxid (im Folgenden: CO 2 ), hinzuwirken (Art. 1 der angefochtenen Richtlinie). Der Richtlinie liegen die Verpflichtungen der Gemeinschaft aus dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen und dem Kyoto-Protokoll zugrunde. Letzteres wurde mit der Entscheidung des Rates 2002/358/EG vom 25. April 2002 über die Genehmigung des Protokolls von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen im Namen der Europäischen Gemeinschaft sowie die gemeinsame Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtungen (ABl. L 130, S. 1) genehmigt. Das Protokoll von Kyoto trat am 16. Februar 2005 in Kraft.
4. Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten verpflichteten sich, ihre gemeinsamen anthropogenen Treibhausgasemissionen, die in Anhang A des Kyoto-Protokolls aufgeführt sind, im Zeitraum 2008 bis 2012 gegenüber dem Stand von 1990 um 8 % zu senken (vierter Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie). Zu diesem Zweck sind sie übereingekommen, ihre Verpflichtungen zur Verringerung von Emissionen gemäß Art. 4 des Kyoto-Protokolls aufgrund eines sogenannten „Lastenteilungsübereinkommens“ zu erfüllen; Anhang II der Entscheidung 2002/358 enthält die Tabelle mit den von jedem Mitgliedstaat zu erbringenden Beiträgen.
5. Um den Vertragsparteien die Erreichung ihrer Ziele der Verringerung von Treibhausgasemissionen zu ermöglichen, sieht das Kyoto-Protokoll drei Mechanismen vor, nämlich erstens den internationalen Emissionshandel, zweitens die gemeinsame Durchführung von Projekten zur Reduktion und drittens den Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung, wobei die beiden letztgenannten Mechanismen auch als „flexible Mechanismen“ bezeichnet werden. Während die gemeinsame Durchführung von Projekten zur Reduktion auf die Verringerung von Treibhausgasemissionen in den Ländern abzielt, die Vertragsparteien des Kyoto-Protokolls sind, betrifft der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung Projekte zur Emissionsreduktion, die von den Entwicklungsländern durchzuführen sind, die den Zielen des Kyoto-Protokolls nicht zugestimmt haben.
6. Zum Zweck der Verwirklichung der im Kyoto-Protokoll und in der Entscheidung 2002/358 vorgesehenen Reduktionsziele innerhalb der Gemeinschaft bestimmt die angefochtene Richtlinie, dass die Betreiber der in ihrem Anhang I genannten Anlagen im Rahmen des Emissionshandelssystems ihre Treibhausgasemissionen mit den ihnen nach nationalen Zuteilungsplänen (im Folgenden: NZP) zugeteilten Zertifikaten decken müssen. Gelingt es einem Betreiber, seine Emissionen zu senken, kann er die überschüssigen Zertifikate an andere Betreiber verkaufen. Umgekehrt kann der Betreiber einer Anlage, von der überhöhte Emissionen ausgehen, die erforderlichen Zertifikate von einem Betreiber erwerben, der über Überschüsse verfügt.
7. In den Anwendungsbereich der angefochtenen Richtlinie fallen nach ihrem Anhang I u. a. bestimmte Feuerungsanlagen zur Erzeugung von Energie sowie zur Eisenmetallerzeugung und -verarbeitung bestimmte Anlagen wie die „Anlagen für die Herstellung von Roheisen oder Stahl (primär- oder Sekundärschmelzbetrieb), einschließlich Stranggießen, mit einer Kapazität über 2,5 Tonnen pro Stunde“.
8. Die angefochtene Richtlinie sieht eine erste Phase von 2005 bis 2007 (im Folgenden: erste Zuteilungsperiode) vor, die dem ersten Verpflichtungszeitraum des Kyoto-Protokolls vorangeht, und anschließend eine zweite Phase von 2008 bis 2012 (im Folgenden: zweite Zuteilungsperiode), die dem ersten Verpflichtungszeitraum entspricht (Art. 11 der angefochtenen Richtlinie). Während der ersten Zuteilungsperiode gilt die angefochtene Richtlinie nur für ein einziges der in Anhang II aufgeführten Treibhausgase, nämlich CO 2 , und ausschließlich für die Emissionen aus den in Anhang I aufgeführten Tätigkeiten (Art. 2 der angefochtenen Richtlinie), darunter die Eisenmetallerzeugung und -verarbeitung.
9. Konkreter beruht das Emissionshandelssystem zum einen auf der Vorabgenehmigungspflicht für Treibhausgasemissionen (Art. 4 bis 8 der angefochtenen Richtlinie) und zum anderen auf der Zuteilung von Zertifikaten, die dem daraus berechtigten Betreiber die Emission einer bestimmten Treibhausgasmenge erlauben und ihn verpflichten, jedes Jahr die Anzahl von Zertifikaten abzugeben, die den Gesamtemissionen der Anlage entspricht (Art. 12 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie).
10. Demnach muss jede der in Anhang I der angefochtenen Richtlinie genannten Anlagen über eine von der zuständigen nationalen Behörde erteilte Genehmigung verfügen. Gemäß Art. 4 der angefochtenen Richtlinie „stellen [die Mitgliedstaaten] sicher, dass ab dem 1. Januar 2005 Anlagen die in Anhang I genannten Tätigkeiten, bei denen die für diese Tätigkeiten spezifizierten Emissionen entstehen, nur durchführen, wenn der Betreiber über eine Genehmigung verfügt, die von einer zuständigen Behörde gemäß den Artikeln 5 und 6 erteilt wurde, oder wenn die Anlage gemäß Artikel 27 [dieser Richtlinie] vorübergehend aus dem [Emissionshandelssystem] ausgeschlossen wurde“.
11. Art. 6 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie sieht zudem vor:
„Genehmigungen zur Emission von Treibhausgasen enthalten folgende Angaben:
…
c) Überwachungsauflagen, in denen Überwachungsmethode und ‑häufigkeit festgelegt sind,
d) Auflagen für die Berichterstattung und
e) eine Verpflichtung zur Abgabe von Zertifikaten in Höhe der – nach Artikel 15 [der angefochtenen Richtlinie] geprüften – Gesamtemissionen der Anlage in jedem Kalenderjahr binnen vier Monaten nach Jahresende.“
12. Die Voraussetzungen und Verfahren, nach denen die zuständigen nationalen Behörden den Betreibern von Anlagen auf der Grundlage eines NZP Zertifikate zuteilen, sind in den Art. 9 bis 11 der angefochtenen Richtlinie vorgesehen.
13. Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der angefochtenen Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten stellen für jeden in Artikel 11 Absätze 1 und 2 [der angefochtenen Richtlinie] genannten Zeitraum einen [NZP] auf, aus dem hervorgeht, wie viele Zertifikate sie insgesamt für diesen Zeitraum zuzuteilen beabsichtigen und wie sie die Zertifikate zuzuteilen gedenken. Dieser [NZP] ist auf objektive und transparente Kriterien zu stützen, einschließlich der in Anhang III genannten Kriterien, wobei die Bemerkungen der Öffentlichkeit angemessen zu berücksichtigen sind. Die Kommission erarbeitet unbeschadet des [EG-]Vertrags bis spätestens 31. Dezember 2003 eine Anleitung zur Anwendung der in Anhang III aufgeführten Kriterien.“
14. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften erließ eine erste Fassung der genannten Anleitung im Rahmen ihrer Mitteilung KOM (2003) 830 endg. vom 7. Januar 2004 über Hinweise zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der in Anhang III der angefochtenen Richtlinie aufgelisteten Kriterien sowie über die Bedingungen für den Nachweis höherer Gewalt. Mit ihrer Mitteilung KOM (2005) 703 endg. vom 22. Dezember 2005 gab die Kommission neue Hinweise zu den NZP für die zweite Zuteilungsperiode bekannt (im Folgenden: neue Hinweise der Kommission).
15. Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der angefochtenen Richtlinie lautet:
„Für den in Artikel 11 Absatz 1 [der angefochtenen Richtlinie] genannten Zeitraum wird der [NZP] spätestens am 31. März 2004 veröffentlicht und der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten übermittelt. Für die folgenden Zeiträume werden die [NZP] mindestens achtzehn Monate vor Beginn des betreffenden Zeitraums veröffentlicht und der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten übermittelt.“
16. Art. 9 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie bestimmt:
„Innerhalb von drei Monaten nach Übermittlung eines [NZP] durch einen Mitgliedstaat gemäß Absatz 1 kann die Kommission den [NZP] oder einen Teil davon ablehnen, wenn er mit den in Anhang III aufgeführten Kriterien oder mit Artikel 10 [der angefochtenen Richtlinie] unvereinbar ist. Der Mitgliedstaat trifft eine Entscheidung nach Artikel 11 Absatz 1 oder 2 [der angefochtenen Richtlinie] nur dann, wenn Änderungsvorschläge von der Kommission akzeptiert werden. Ablehnende Entscheidungen sind von der Kommission zu begründen.“
17. Gemäß Art. 10 der angefochtenen Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten für die erste Zuteilungsperiode mindestens 95 % der Zertifikate und für die zweite Zuteilungsperiode mindestens 90 % kostenlos zuteilen.
18. Art. 11 („Zuteilung und Vergabe von Zertifikaten“) der angefochtenen Richtlinie sieht vor:
„(1) Für den am 1. Januar 2005 beginnenden Dreijahreszeitraum entscheidet jeder Mitgliedstaat über die Gesamtzahl der Zertifikate, die er für diesen Zeitraum zuteilen wird, sowie über die Zuteilung dieser Zertifikate an die Betreiber der einzelnen Anlagen. Diese Entscheidung wird mindestens drei Monate vor Beginn des Zeitraums getroffen, und zwar auf der Grundlage des gemäß Artikel 9 [der angefochtenen Richtlinie] aufgestellten [NZP], im Einklang mit Artikel 10 [dieser Richtlinie] und unter angemessener Berücksichtigung der Bemerkungen der Öffentlichkeit.
(2) Für den am 1. Januar 2008 beginnenden Fünfjahreszeitraum und jeden folgenden Fünfjahreszeitraum entscheidet jeder Mitgliedstaat über die Gesamtzahl der Zertifikate, die er für diesen Zeitraum zuteilen wird, und leitet das Verfahren für die Zuteilung dieser Zertifikate an die Betreiber der einzelnen Anlagen ein. Diese Entscheidung wird mindestens zwölf Monate vor Beginn des betreffenden Zeitraums getroffen, und zwar auf der Grundlage des gemäß Artikel 9 [der angefochtenen Richtlinie] aufgestellten [NZP] des Mitgliedstaats, im Einklang mit Artikel 10 [dieser Richtlinie] und unter angemessener Berücksichtigung der Bemerkungen der Öffentlichkeit.
(3) Entscheidungen gemäß Absatz 1 oder 2 müssen im Einklang mit dem Vertrag, insbesondere mit den Artikeln 87 und 88, stehen. Bei der Entscheidung über die Zuteilung berücksichtigen die Mitgliedstaaten die Notwendigkeit, neuen Marktteilnehmern den Zugang zu Zertifikaten zu ermöglichen.
…“
19. Anhang III der angefochtenen Richtlinie nennt elf Kriterien, die für die NZP gelten.
20. Kriterium 1 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie lautet:
„Die Gesamtmenge der Zertifikate, die im jeweiligen Zeitraum zugeteilt werden sollen, muss mit der in der Entscheidung [2002/358] und im Kyoto-Protokoll enthaltenen Verpflichtung des Mitgliedstaats zur Begrenzung seiner Emissionen in Einklang stehen unter Berücksichtigung des Anteils der Gesamtemissionen, dem diese Zertifikate im Vergleich zu Emissionen aus Quellen entsprechen, die nicht unter diese Richtlinie fallen, sowie der nationalen energiepolitischen Maßnahmen; ferner sollte sie dem nationalen Klimaschutzprogramm entsprechen. Die Gesamtmenge der zuzuteilenden Zertifikate darf nicht höher sein als der wahrscheinliche Bedarf für die strikte Anwendung der Kriterien dieses Anhangs. Bis 2008 muss die Menge so groß sein, dass sie mit einem Weg zur Erreichung oder Übererfüllung der Zielvorgaben jedes Mitgliedstaats gemäß der Entscheidung [2002/358] und dem Kyoto-Protokoll vereinbar ist.“
21. Kriterium 3 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie sieht vor:
„Die Mengen der Zertifikate, die zugeteilt werden sollen, müssen mit dem Potenzial – auch dem technischen Potenzial – der unter dieses [Emissionshandelssystem] fallenden Tätigkeiten zur Emissionsverringerung in Einklang stehen. Die Mitgliedstaaten können bei ihrer Aufteilung von Zertifikaten die durchschnittlichen Treibhausgasemissionen je Erzeugnis in den einzelnen Tätigkeitsbereichen und die in diesen Tätigkeitsbereichen erreichbaren Fortschritte zugrunde legen.“
22. Gemäß Kriterium 6 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie muss „[d]er [NZP] Angaben darüber enthalten, wie neue Marktteilnehmer sich am [Emissionshandelssystem] in dem betreffenden Mitgliedstaat beteiligen können“.
23. Dem Kriterium 7 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie zufolge kann „[d]er [NZP] Vorleistungen [zur Emissionsverringerung] berücksichtigen, und er muss Angaben darüber enthalten, wie Vorleistungen Rechnung getragen wird“. Ferner dürfen nach diesem Kriterium „[a]us Referenzdokumenten … zu den besten verfügbaren Technologien resultierende Benchmarks von den Mitgliedstaaten bei der Aufstellung ihrer [NZP] verwendet werden, und diese Benchmarks können ein Element der Ermöglichung frühzeitiger Maßnahmen [zur Emissionsverringerung] enthalten“.
24. Gemäß Art. 12 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie sind Zertifikate zwischen natürlichen und juristischen Personen innerhalb der Gemeinschaft und auf natürliche und juristische Personen in Drittländern übertragbar, soweit zwischen diesen Ländern und der Gemeinschaft gemäß Art. 25 der angefochtenen Richtlinie ein Abkommen geschlossen wurde und eine gegenseitige Anerkennung dieser Zertifikate durch die zuständige Behörde eines jeden Mitgliedstaats gegeben ist. Art. 12 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie bestimmt, dass der Betreiber für jede Anlage bis zum 30. April jeden Jahres eine Anzahl von Zertifikaten an die zuständige Behörde abgibt, die den Gesamtemissionen der Anlage im vorhergehenden Kalenderjahr entspricht, und dass diese Zertifikate anschließend gelöscht werden.
25. Gemäß Art. 13 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie sind die Zertifikate nur gültig für Emissionen während des Zeitraums, für den sie vergeben werden.
26. Gemäß Art. 16 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Namen der Betreiber, die gegen die Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie zur Abgabe einer ausreichenden Anzahl von Zertifikaten verstoßen, veröffentlicht werden. Art. 16 Abs. 3 und 4 der angefochtenen Richtlinie bestimmt, dass Betreibern, die keine ausreichende Anzahl von Zertifikaten zur Abdeckung ihrer Emissionen im Vorjahr abgegeben haben, eine Sanktion wegen Emissionsüberschreitung auferlegt wird, die für jede von der Anlage ausgestoßene und nicht durch ein abgegebenes Zertifikat abgedeckte Tonne CO 2 -Äquivalent in der ersten Zuteilungsperiode 40 Euro und in den folgenden Perioden 100 Euro beträgt. Darüber hinaus entbindet die Zahlung der für die Emissionsüberschreitung auferlegten Sanktion den Betreiber nicht von der Verpflichtung, Zertifikate in Höhe seiner Gesamtemissionen abzugeben.
27. Vorbehaltlich der Billigung durch die Kommission nach dem in Art. 23 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie in Verbindung mit dem Beschluss 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (ABl. L 184, S. 23) genannten Verfahren können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 24 der angefochtenen Richtlinie das Emissionshandelssystem unter Berücksichtigung aller einschlägigen Kriterien, insbesondere der Auswirkungen auf den Binnenmarkt, möglicher Wettbewerbsverzerrungen, der Umweltwirksamkeit des Emissionshandelssystems und der Zuverlässigkeit des vorgesehenen Überwachungs- und Berichterstattungsverfahrens, auf zusätzliche Tätigkeiten, Anlagen und Treibhausgase ausweiten.
28. Art. 27 der angefochtenen Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten bei der Kommission auch beantragen können, dass bestimmte Anlagen vorübergehend aus dem Emissionshandelssystem ausgeschlossen werden; die Kommission kann diesem Antrag durch Entscheidung stattgeben. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 28 der angefochtenen Richtlinie mit Zustimmung der Kommission den Betreibern, die dies beantragt haben, erlauben, einen Fonds ihrer Anlagen aus demselben Tätigkeitsbereich zu bilden. Gemäß Art. 29 der angefochtenen Richtlinie schließlich können die Mitgliedstaaten bei der Kommission beantragen, dass für bestimmte Anlagen in Fällen höherer Gewalt zusätzliche Zertifikate vergeben werden dürfen.
29. Art. 30 („Überprüfung und weitere Entwicklung“) der angefochtenen Richtlinie sieht vor:
„…
(2) Auf der Grundlage der Erfahrungen mit der Anwendung dieser Richtlinie und der Fortschritte bei der Überwachung der Treibhausgasemissionen sowie angesichts der Entwicklungen auf internationaler Ebene erstellt die Kommission einen Bericht über die Anwendung dieser Richtlinie, in dem sie auf folgende Punkte eingeht:
a) die Frage, wie und ob Anhang I dahin gehend geändert werden sollte, dass im Hinblick auf eine weitere Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz des [Emissionshandelssystems] andere betroffene Sektoren, wie etwa die Sektoren Chemie, Aluminium und Verkehr, andere Tätigkeiten und Emissionen anderer in Anhang II aufgeführter Treibhausgase aufgenommen werden;
…“
Sachverhalt und Verfahren
30. Die Klägerin, die Arcelor SA, entstand durch einen Zusammenschluss von ARBED, Aceralia und Usinor im Jahr 2001. Seit ihrem Zusammenschluss mit Mittal im Jahr 2006 trägt sie die Bezeichnung ArcelorMittal und ist zum führenden Stahlerzeuger weltweit geworden. Gleichwohl entfielen zum Zeitpunkt der Erhebung der vorliegenden Klage mit einem Produktionsvolumen von 44 Millionen Tonnen pro Jahr, von denen über 90 % in der Europäischen Union erzeugt wurden, weniger als 5 % der weltweiten Stahlerzeugung auf die Klägerin. Sie verfügt in der Union über 17 Anlagen zur Herstellung von Roheisen und Stahl in Frankreich (Fos-sur-Mer, Florange und Dünkirchen), in Belgien (Lüttich und Gent), in Spanien (Gijón-Avilés) und in Deutschland (Bremen und Eisenhüttenstadt).
31. Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 15. Januar 2004 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
32. In der Klageschrift beantragt die Klägerin,
– Art. 4, Art. 6 Abs. 2 Buchst. e, Art. 9, Art. 12 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 2 bis 4 in Verbindung mit Art. 2, Anhang I und Kriterium 1 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie insoweit für nichtig zu erklären, als diese Bestimmungen (im Folgenden: streitige Bestimmungen) für Anlagen zur Herstellung von Roheisen oder Stahl einschließlich des Stranggießens mit einer Kapazität von über 2,5 Tonnen pro Stunde gelten;
– festzustellen, dass das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union den ihr durch den Erlass der streitigen Bestimmungen entstandenen Schaden zu ersetzen haben;
– dem Parlament und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
33. In der Erwiderung beantragt die Klägerin darüber hinaus hilfsweise, die angefochtene Richtlinie insgesamt für nichtig zu erklären.
34. Mit besonderen Schriftsätzen, die am 1. und 6. April 2004 in das Register des Gerichts eingetragen worden sind, haben das Parlament und der Rat jeweils eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 der Verfahrensordnung des Gerichts erhoben. Die Klägerin hat ihre Stellungnahme zu diesen Einreden am 25. Oktober 2004 eingereicht.
35. Die Kommission hat mit Schriftsatz, der am 5. Mai 2004 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, gemäß Art. 115 § 1 der Verfahrensordnung beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung des Parlaments und des Rates zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 24. Juni 2004 hat der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts diese Streithilfe zugelassen. Die Kommission hat im Einklang mit Art. 116 § 4 der Verfahrensordnung ihren auf die Frage der Zulässigkeit beschränkten Streithilfeschriftsatz am 2. September 2004 eingereicht.
36. Das Parlament und der Rat im Rahmen der Erhebung der Einrede der Unzulässigkeit und die Kommission in ihrem Streithilfeschriftsatz zur Zulässigkeit beantragen,
– die Klage als unzulässig abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
37. Durch Beschluss des Gerichts vom 26. September 2005 sind die Entscheidung über diese Einreden und die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehalten worden.
38. Der Rat in seiner Klagebeantwortung, das Parlament in seiner Gegenerwiderung und die Kommission in ihrem Streithilfeschriftsatz zur Begründetheit beantragen darüber hinaus hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen.
39. Das Gericht (Dritte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen; es hat im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 64 der Verfahrensordnung das Parlament, den Rat und die Kommission ersucht, vor der Sitzung schriftliche Fragen zu beantworten. Parlament, Rat und Kommission haben diese Fragen fristgemäß beantwortet.
40. Die Parteien haben in der Sitzung vom 15. April 2008 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
41. Der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts hat in der mündlichen Verhandlung das Verfahren nach Anhörung der Parteien gemäß Art. 77 Buchst. a der Verfahrensordnung in Verbindung mit Art. 54 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs bis zum Erlass des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑127/07 ausgesetzt, was im Sitzungsprotokoll vermerkt worden ist.
42. Nachdem der Gerichtshof am 16. Dezember 2008 das Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a. (C‑127/07, Slg. 2008, I‑9895) verkündet hat, sind die Parteien aufgefordert worden, zu der Frage Stellung zu nehmen, welche Folgen im Rahmen des vorliegenden Verfahrens gegebenenfalls aus diesem Urteil zu ziehen sind. Nachdem die Parteien fristgerecht Stellung genommen hatten, ist die mündliche Verhandlung geschlossen worden.
43. Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 hat das Gericht beschlossen, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, und es hat die Parteien aufgefordert, zu der Frage Stellung zu nehmen, welche Folgen aus diesem Umstand und insbesondere aus dem Inkrafttreten von Art. 263 Abs. 4 AEUV im Rahmen des vorliegenden Verfahrens gegebenenfalls zu ziehen sind. Nachdem die Parteien Stellung genommen hatten, ist die mündliche Verhandlung geschlossen worden.
Rechtliche Würdigung
I – Zur Zulässigkeit des Antrags auf Nichtigerklärung
A – Vorbringen der Parteien
1. Vorbringen des Parlaments, des Rates und der Kommission
44. Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, sind der Meinung, dass der Antrag auf teilweise Nichtigerklärung der angefochtenen Richtlinie unzulässig sei.
45. Nach Ansicht des Parlaments und des Rates ist die angefochtene Richtlinie eine „echte Richtlinie“ im Sinne von Art. 249 Abs. 3 EG, d. h. ein Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, der von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen ist und abstrakt für objektiv bestimmte Situationen gilt. Eine Klage Einzelner gegen eine solche Richtlinie sei in Art. 230 Abs. 4 EG nicht vorgesehen.
46. Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, sind ferner der Meinung, dass die Klägerin von den streitigen Bestimmungen weder unmittelbar noch individuell im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG betroffen sei.
47. Zum Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit tragen das Parlament und der Rat im Wesentlichen vor, anders als eine Verordnung könne eine „echte Richtlinie“ nicht unmittelbar rechtsverbindliche Auswirkungen auf die Rechtsstellung eines Einzelnen haben oder diesem gar Rechtspflichten auferlegen, bevor auf nationaler oder gemeinschaftlicher Ebene Maßnahmen zu ihrer Umsetzung erlassen worden seien oder die Umsetzungsfrist abgelaufen sei. Daher könne eine derartige Richtlinie als solche diesen Einzelnen nicht unmittelbar im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG betreffen. Somit erlegten die streitigen Bestimmungen hinsichtlich u. a. der Erteilung von Emissionsgenehmigungen, der Verpflichtungen auf dem Gebiet der Überwachung und der Berichterstattung, der Erstellung eines NZP sowie der Vergabe und der Zuteilung von Emissionszertifikaten der Klägerin keinerlei Verpflichtung auf und änderten deren Rechtsstellung nicht, solange sie nicht durch nationale Vorschriften umgesetzt seien.
48. Im Übrigen sind das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, der Ansicht, die angefochtene Richtlinie belasse hinsichtlich ihrer Umsetzung durch nationale Umsetzungsmaßnahmen den Mitgliedstaaten einen sehr weiten Ermessensspielraum, insbesondere in Bezug auf die Ausarbeitung des NZP nach ihrem Art. 9, die Festlegung des Mindestprozentsatzes an kostenlos zuzuteilenden Zertifikaten gemäß ihrem Art. 10, die Festlegung der Gesamtzahl der Zertifikate für die fragliche Zuteilungsperiode nach ihrem Art. 11 und die Vergabe von Zertifikaten an die Betreiber von Anlagen nach den in Anhang III der angefochtenen Richtlinie aufgeführten Kriterien.
49. Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt der Auffassung entgegen, die angefochtene Richtlinie nehme der Klägerin den Vorteil, den sie durch die aufgrund der Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24. September 1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. L 257, S. 26) erteilten Emissionsgenehmigungen erlangt habe. Die Richtlinie 96/61 sei nur ein Instrument der Koordinierung, das einen allgemeinen Rahmen für die sektoriellen Rechtsvorschriften setze und u. a. die allgemeinen Pflichten der Betreiber und die Genehmigungsauflagen festlege (neunter Erwägungsgrund der Richtlinie 96/61). Sie verleihe jedoch keine Emissionsrechte und bilde auch keine unmittelbare Rechtsgrundlage für deren Verleihung. Insbesondere werde in der Richtlinie 96/61 selbst kein Emissionsniveau festgesetzt (Art. 18 der Richtlinie 96/61).
50. Das Parlament und der Rat ziehen aus alledem den Schluss, dass die Klägerin von den streitigen Bestimmungen nicht unmittelbar betroffen sei.
51. Zum Kriterium der individuellen Betroffenheit führt der Rat aus, die angefochtene Richtlinie gelte generell und abstrakt für alle Marktteilnehmer, die die in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten ausübten, sowie für alle CO 2 emittierenden Großanlagen, einschließlich der Anlagen zur Herstellung von Roheisen oder Stahl. Die Klägerin habe jedoch nicht nachgewiesen, dass sich ihre Lage von der anderer Hersteller von Roheisen oder Stahl unterscheide. Zudem seien die Mitgliedstaaten gemäß Kriterium 6 des Anhangs III und Art. 11 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie verpflichtet, neuen Marktteilnehmern den Zugang zu Zertifikaten zu erleichtern. Darüber hinaus habe die angefochtene Richtlinie seit dem 1. Mai 2004 für die Hersteller von Roheisen oder Stahl mit Sitz in den zehn Mitgliedstaaten gegolten, die der Union zu diesem Zeitpunkt beigetreten seien und deren Tätigkeiten ebenfalls von Anhang I dieser Richtlinie erfasst würden.
52. Das Parlament und der Rat sind der Meinung, dass weder Art. 175 Abs. 1 EG als Rechtsgrundlage für Handlungen der Gemeinschaft im Umweltbereich noch Art. 174 EG dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine Verpflichtung auferlegt, bei Erlass von Maßnahmen mit allgemeiner Geltung die besondere Situation bestimmter Marktteilnehmer zu berücksichtigen. Eine solche Verpflichtung ergebe sich auch nicht aus einer anderen höherrangigen Rechtsnorm wie den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung oder den Grundrechten. Nach Ansicht des Parlaments und des Rates würden die Anforderungen des Art. 230 Abs. 4 EG aber ihres Inhalts beraubt, könnte man aus diesen höherrangigen Rechtsnormen das Recht eines Einzelnen zur Erhebung einer Direktklage vor dem Gemeinschaftsrichter ableiten. Auf jeden Fall habe die Klägerin nicht dargetan, dass die streitigen Bestimmungen für ihre besondere Situation so „dramatische Folgen“ zeitigten, dass sie als Verstoß gegen die geltend gemachten höherrangigen Rechtsnormen betrachtet werden könnten.
53. Insoweit tritt der Rat dem Vorbringen der Klägerin entgegen, sie sei als größter Stahlhersteller in Europa, dessen Lage aufgrund seiner laufenden Umstrukturierung, seines begrenzten Gewinns und der bereits erzielten erheblichen Reduzierungen der CO 2 -Emissionen einzigartig sei, besonders stark betroffen. Dafür, dass ein Rechtsakt bestimmte Marktteilnehmer individuell betreffe, reiche es nicht aus, dass sie von diesem Rechtsakt wirtschaftlich stärker betroffen seien als ihre Konkurrenten. Die Klägerin sei schlicht aufgrund ihrer objektiven Situation als Hersteller von Roheisen oder Stahl in gleicher Weise betroffen wie jeder andere Marktteilnehmer in gleicher Lage. Auch der Umstand, dass ein Rechtsakt mit allgemeiner Geltung für die einzelnen Rechtssubjekte, für die er gelte, unterschiedliche konkrete Auswirkungen haben könne, sei nicht geeignet, die Klägerin aus dem Kreis all er übrigen betroffenen Marktteilnehmer herauszuheben, da die Anwendung dieses Rechtsakts, wie die der angefochtenen Richtlinie, aufgrund einer objektiv bestimmten Situation erfolge.
54. Auf das Vorbringen der Klägerin, die angefochtene Richtlinie behindere die Umstrukturierung ihres Konzerns dadurch, dass sie keine grenzüberschreitende Übertragung von Zertifikaten erlaube, die an die Produktionskapazitäten von in verschiedenen Mitgliedstaaten belegenen Anlagen geknüpft seien, entgegnet der Rat, die Klägerin habe nicht erläutert, aus welchen Gründen sie der einzige betroffene Hersteller sein solle, obwohl sie selbst das Beispiel der laufenden Umstrukturierung der Gesellschaft Corus erwähnt habe. Jedenfalls stehe die etwaige Möglichkeit, die stillgelegten Anlagen zugeteilten Zertifikate zu verwenden, weitgehend im Ermessen der Mitgliedstaaten. So habe fast die Hälfte von ihnen die Übertragung von Zertifikaten einer stillgelegten Anlage auf eine Ersatzanlage gestattet, auch wenn in mehreren Fällen diese Übertragungen nur innerhalb desselben Mitgliedstaats möglich seien. Der Rat, unterstützt durch die Kommission, macht darüber hinaus geltend, dass sich sämtliche Mitgliedstaaten in Ausübung ihres Ermessens dafür entschieden hätten, gemäß Art. 11 Abs. 3 und Kriterium 6 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie neuen Marktteilnehmern kostenlos Zertifikate aus der Reserve zuzuteilen. Zudem könnte die Klägerin, selbst unterstellt, sie sei nicht in der Lage, die stillzulegenden Anlagen zugeteilten Zertifikate auf andere Anlagen ihres Konzerns zu übertragen, bei der Ausweitung der Kapazitäten dieser anderen Anlagen gleichwohl Anspruch auf kostenlose Zuteilung von Zertifikaten erheben, da der Begriff „neuer Marktteilnehmer“ im Sinne von Art. 3 Buchst. h der angefochtenen Richtlinie die Erweiterung einer bestehenden Anlage erfasse. Schließlich weist der Rat in Bezug auf etwaige Vorleistungen zur Emissionsverringerung darauf hin, dass gemäß Kriterium 7 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie ein NZP solche Maßnahmen berücksichtigen könne und dass die Mitgliedstaaten insoweit über einen gewissen Handlungsspielraum verfügten.
55. Nach Ansicht des Parlaments und des Rates hat die Klägerin nicht dargetan, dass sie sich im Hinblick auf die angefochtene Richtlinie in einer Situation befunden habe, die derjenigen der Klägerinnen in den Rechtssachen entspreche, in denen die Urteile des Gerichtshofs vom 17. Januar 1985, Piraiki-Patraiki u. a./Kommission (11/82, Slg. 1985, 207), vom 26. Juni 1990, Sofrimport/Kommission (C‑152/88, Slg. 1990, I‑2477, Randnr. 28), und vom 18. Mai 1994, Codorníu/Rat (C‑309/89, Slg. 1994, I‑1853), und die Urteile des Gerichts vom 14. September 1995, Antillean Rice Mills u. a./Kommission (T‑480/93 und T‑483/93, Slg. 1995, II‑2305, Randnr. 67), und vom 17. Juni 1998, UEAPME/Rat (T‑135/96, Slg. 1998, II‑2335), ergangen seien. Was das Vorbringen zu den langfristigen Gaslieferungsverträgen angeht, die die Klägerin vor dem Erlass der angefochtenen Richtlinie mit Kraftwerken geschlossen habe, vertritt der Rat die Ansicht, dass die beiden kumulativen Voraussetzungen, auf die in den genannten Urteilen bei der Ermittlung des Vorliegens einer individuellen Betroffenheit im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG abgestellt worden sei, nämlich zum einen das Vorliegen einer höherrangigen Rechtsnorm, die die Gemeinschaftsorgane verpflichte, die besondere Situation des Klägers gegenüber der aller übrigen betroffenen Personen zu berücksichtigen, und zum anderen der Umstand, dass die Erfüllung der in Rede stehenden Verträge durch den angefochtenen Rechtsakt ganz oder teilweise verhindert werde, im vorliegenden Fall nicht erfüllt seien. Die Klägerin bestätige selbst, dass das von diesen Verträgen erfasste Gas sowohl an ihre eigenen als auch an dritte Kraftwerke geliefert werde. Folglich könne sie Zertifikate in Anspruch nehmen, die den ihrer Gruppe zugehörenden Kraftwerken zugeteilt seien, oder sie zwischen ihren verschiedenen Produktionsanlagen übertragen. Nach Nr. 92 der Hinweise der Kommission (siehe oben, Randnr. 14) obliege es nämlich den Mitgliedstaaten, über die Verteilung der Zertifikate zwischen zwei Anlagen zu entscheiden, wenn ein Abgas aus dem Produktionsprozess einer Anlage in einer anderen Anlage als Brennstoff eingesetzt werde. Somit könne der Mitgliedstaat beschließen, Zertifikate dem Betreiber der Anlage zuzuteilen, die das Abgas überträgt, im vorliegenden Fall also einem Hersteller von Roheisen oder Stahl, und zwar selbst dann, wenn die Emissionen aus der Verbrennung dieses Gases nicht von der Stahlproduktionsanlage als solcher, sondern vom Kraftwerk erzeugt würden. Unter diesen Umständen habe die Klägerin nicht dargetan, dass die angefochtene Richtlinie die Erfüllung der fraglichen Gaslieferungsverträge verhindere. Jedenfalls lasse sich allein anhand des Umstands, dass durch die angefochtene Richtlinie über nationale Umsetzungsmaßnahmen die Erfüllung dieser Verträge erschwert werden könnte, nicht feststellen, dass die Klägerin individuell betroffen sei.
56. Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, weisen darauf hin, dass die Klägerin auch nicht dargetan habe, dass sie zu einer geschlossenen Gruppe von Herstellern gehöre. Da die angefochtene Richtlinie eine Maßnahme mit allgemeiner Geltung sei, die auf alle Betreiber Anwendung finde, die die in ihrem Anhang I umschriebenen Tätigkeiten ausübten, sei die Klägerin nur in ihrer objektiven Eigenschaft als Hersteller von Roheisen und Stahl in gleicher Weise betroffen wie alle übrigen Marktteilnehmer in gleicher Lage. Dass es zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Richtlinie möglicherweise nur 15 Hersteller von Roheisen oder Stahl gegeben habe, reiche daher nicht aus, um die Klägerin zu individualisieren. Nach Ansicht des Parlaments kann selbst die Tatsache, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Richtlinie zu einer „geschlossenen und feststellbaren“ Gruppe gehört habe oder wirtschaftlich stärker betroffen gewesen sei als ihre Konkurrenten, nicht dazu führen, sie als Adressatin zu individualisieren.
57. Der Rat bestreitet, dass die Klägerin aufgrund ihrer besonderen Situation zum „Nettokäufer von Zertifikaten“ werden könne. Er erinnert insoweit erstens daran, dass die Mitgliedstaaten in der ersten Zuteilungsperiode mindestens 95 % der im NZP vorgesehenen Zertifikate gegenüber mindestens 90 % in der zweiten Zuteilungsperiode kostenlos zuteilen müssten. Zweitens seien gemäß Art. 12 Abs. 1 und 2 der angefochtenen Richtlinie die Zertifikate ohne Einschränkung sowohl innerhalb derselben Unternehmensgruppe als auch auf weitere Personen in der Gemeinschaft oder in Drittstaaten übertragbar. Drittens werde die Zahl der ursprünglich zugeteilten Zertifikate durch Ermessensentscheidung eines jeden Mitgliedstaats unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren und Kriterien festgelegt (siehe oben, Randnrn. 48 ff.). Schließlich böten die flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls (siehe oben, Randnr. 5) den Herstellern von Roheisen oder Stahl die Möglichkeit, aufgrund der betroffenen Projekte erlangte Emissionsgutschriften im Rahmen des Emissionshandelssystems in nutzbare Zertifikate umzuwandeln. Folglich sei die Klägerin in der Lage, für ihre gesamten Emissionen kostenlos Zertifikate zu erlangen.
58. Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt anhand von Studien der Auffassung entgegen, die Hersteller von Roheisen oder Stahl befänden sich in einer „Situation einzigartiger Einschnürung“, weil der Stahlindustrie die technische Möglichkeit zur stärkeren Verringerung von CO 2 -Emissionen fehle. Er macht insoweit im Wesentlichen geltend, dass es im Stahlsektor sowohl kurz- als auch langfristig technische Möglichkeiten zur Verringerung dieser Emissionen gebe, dass die Gemeinschaft für entsprechende Forschungen eine erhebliche finanzielle Unterstützung bereitstelle und dass das Emissionshandelssystem den Herstellern von Roheisen oder Stahl wirtschaftliche Anreize biete, ihre CO 2 -Emissionen stärker zu reduzieren.
59. Zur Behauptung der Klägerin, die Hersteller von Roheisen oder Stahl seien nicht in der Lage, eine sich aus der Notwendigkeit zum Kauf von Emissionszertifikaten ergebende etwaige Erhöhung der Produktionskosten auf ihre Kunden abzuwälzen, bemerkt der Rat, unterstützt durch die Kommission, dass das etwaige Bedürfnis eines solchen Herstellers, Zertifikate zu kaufen, von der ihm aufgrund des NZP zugeteilten ursprünglichen Menge an Zertifikaten sowie von seinen Anstrengungen um eine Emissionsverringerung abhängen werde. Die Klägerin verweise selbst auf den Umstrukturierungsprozess in ihrem Konzern und auf den Rückgang der Anzahl ihrer Hochöfen bis 2012, der vermutlich als solcher zu einer Emissionsverringerung führen müsste. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Hochöfen der Klägerin entsprechend ihrer öffentlichen Ankündigung durch Lichtbogenöfen ersetzt würden, deren CO 2 -Emissionen pro Tonne erzeugten Stahls geringer seien. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Klägerin zusätzliche Zertifikate kaufen müsste, könnten die damit verbundenen Kosten aufgrund eines erheblichen Preisanstiegs im wachsenden Stahlsektor zumindest teilweise auf die Verbraucher abgewälzt werden.
60. Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, ziehen aus alledem den Schluss, dass die Klägerin von der angefochtenen Richtlinie nicht individuell betroffen sei und dass der Antrag auf Nichtigerklärung dementsprechend für unzulässig erklärt werden müsse.
61. Des Weiteren macht das Parlament, unterstützt durch die Kommission, die Unzulässigkeit des Antrags auf Nichtigerklärung insoweit geltend, als die streitigen Bestimmungen sich nicht vom Rest der angefochtenen Richtlinie trennen ließen, ohne diese ihres Inhalts zu berauben. Würde nämlich, so das Parlament, beispielsweise die Genehmigungspflicht für Treibhausgasemissionen (Art. 4 und 6) und für NZP (Art. 9) aufgehoben, führte dies zu einem Rechtsakt mit völlig „umgekehrtem“ Inhalt.
62. Das Parlament tritt insoweit der Behauptung der Klägerin entgegen, das Emissionshandelssystem bleibe „im Wesentlichen unangetastet“, wenn die Hersteller von Roheisen oder Stahl von seinem Anwendungsbereich ausgenommen würden, denn dieser Aspekt stehe in keinerlei Zusammenhang mit der Frage, ob die Nichtigerklärung der streitigen Bestimmungen eine inhaltliche Änderung des verbleibenden Teils der angefochtenen Richtlinie bewirken würde. Darüber hinaus kann nach Ansicht des Parlaments und des Rates der verspätete Versuch der Klägerin, im Stadium der Erwiderung und damit entgegen Art. 48 § 2 der Verfahrensordnung, ihren Antrag dahin zu ändern, dass ihre Klage nunmehr so zu verstehen sei, dass sie „einen Antrag auf vollständige Nichtigerklärung der [angefochtenen] Richtlinie umfasst, falls eine teilweise Nichtigerklärung nicht möglich ist“, keinen Erfolg haben. Diese Vorgehensweise laufe darauf hinaus, den ursprünglichen, auf eine „teilweise Nichtigerklärung“ der angefochtenen Richtlinie gerichteten Antrag der Klägerin nicht einzuschränken, sondern ihn zu erweitern. Die Klägerin habe jedoch keine neuen rechtlichen und tatsächlichen Gründe vorgebracht, die im Sinne von Art. 48 § 2 der Verfahrensordnung erst während des Verfahrens zutage getreten seien und die Einführung eines neuen Angriffsmittels rechtfertigen könnten.
63. Demnach ist der Antrag auf Nichtigerklärung nach Ansicht des Parlaments und des Rates auch aus diesem Grund für unzulässig zu erklären.
64. In ihrer Stellungnahme zu der Frage, welche Folgen aus dem Inkrafttreten von Art. 263 Abs. 4 AEUV zu ziehen sind, tragen das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, vor, dieser Umstand sei nicht geeignet, diese Beurteilung zu ändern, da dieser Artikel auf das vorliegende Verfahren nicht anwendbar sei und es sich bei der angefochtenen Richtlinie nicht um einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne dieser Bestimmung handele.
2. Vorbringen der Klägerin
65. Die Klägerin macht zunächst geltend, dass nach ständiger Rechtsprechung zu Art. 230 Abs. 4 EG der Umstand, dass es sich bei der angefochtenen Maßnahme um eine Richtlinie handelt, allein nicht ausreiche, um eine Nichtigkeitsklage für unzulässig zu erklären. Eine gegen bestimmte Vorschriften einer Richtlinie gerichtete Klage sei daher zulässig, wenn der Kläger von diesen Bestimmungen unmittelbar und individuell betroffen sei.
66. Was das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit angehe, lasse, auch wenn unmittelbare Auswirkungen der Richtlinie auf die Rechtsstellung von Marktteilnehmern gemäß Art. 249 Abs. 3 EG eine Umsetzungsmaßnahme seitens der Mitgliedstaaten voraussetzten, dieses Erfordernis allein noch nicht den Schluss zu, dass die Klägerin nicht im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG unmittelbar betroffen sei. Andernfalls könnten Richtlinien nie von einem solchen Marktteilnehmer angefochten werden, was weder mit der Rechtsprechung noch mit dem Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu vereinbaren wäre. Belasse eine Maßnahme der Gemeinschaft, eine Richtlinie eingeschlossen, den Mitgliedstaaten hinsichtlich der dem Kläger aufzuerlegenden Verpflichtung keinen Ermessensspielraum, erfolge ihre Umsetzung also vielmehr rein automatisch, sei ein solcher Kläger unmittelbar betroffen. Die Organe könnten nämlich nicht allein durch die Wahl der Form des erlassenen Rechtsakts diesem Kläger den in Art. 230 Abs. 4 EG vorgesehenen gerichtlichen Rechtsschutz nehmen.
67. Im vorliegenden Fall beließen die streitigen Bestimmungen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der der Klägerin aufzuerlegenden Verpflichtungen keinen Ermessensspielraum.
68. Die Klägerin weist hierzu erstens darauf hin, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 der angefochtenen Richtlinie sicherstellen müssten, dass ab dem 1. Januar 2005 die Hersteller von Roheisen oder Stahl ihre Anlagen nicht ohne Emissionsgenehmigung betrieben. Die Mitgliedstaaten verfügten insoweit über keinerlei Ermessen. Art. 27 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie sehe lediglich die Möglichkeit eines vorübergehenden Ausschlusses bestimmter Anlagen aus dem Emissionshandelssystem bis zum 31. Dezember 2007 vor, was zur Folge habe, dass die Genehmigungspflicht spätestens seit dem 1. Januar 2008 bestanden hätte. Auch die in Art. 27 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie vorgesehene Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, einen vorübergehenden Ausschluss von 2005 bis 2007 zu gewähren, verleihe ihnen kein Ermessen und sei aufgrund ihrer restriktiven Voraussetzungen nicht von praktischem Interesse.
69. Zweitens sei das Argument, die Mitgliedstaaten verfügten bei der Ausarbeitung der NZP über ein weites Ermessen, unerheblich, da die angefochtene Richtlinie klar zwischen der Genehmigung (Art. 4) und den Zertifikaten (Art. 9) unterscheide. Schon die Genehmigungspflicht für CO 2 -Emissionen als solche wirke sich dadurch auf die Rechtsstellung der Klägerin aus, als sie die aufgrund der Richtlinie 96/61 erteilten Betriebsgenehmigungen und Rechte zur Emission von CO 2 , die sie früher für ihre Produktionsanlagen erhalten habe, teilweise wertlos mache. Gemäß Art. 6 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie sei diese Genehmigung nämlich von zusätzlichen Anforderungen hinsichtlich der Überwachung und Berichterstattung sowie der Verpflichtung zur Abgabe der in jedem Kalenderjahr zur Abdeckung der CO 2 -Emissionen der betreffenden Anlage erforderlichen Zertifikate abhängig. Die Mitgliedstaaten hätten hinsichtlich der der Klägerin insoweit aufzuerlegenden Verpflichtungen keinen Ermessensspielraum.
70. Drittens müsse gemäß Art. 9 der angefochtenen Richtlinie in Verbindung mit Kriterium 1 des Anhangs III dieser Richtlinie die Gesamtmenge der Zertifikate, die in der Referenzzuteilungsperiode zugeteilt würden, zum einen mit der Verpflichtung des Mitgliedstaats gemäß der Entscheidung 2002/358 und dem Kyoto-Protokoll zur Begrenzung seiner Emissionen im Einklang stehen und dürfe zum anderen nicht höher sein als der Bedarf für die strikte Anwendung der Kriterien des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie. Demnach hätten die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Gesamtmenge der zuzuteilenden Zertifikate ohne jeden Ermessensspielraum eine „absolute Obergrenze an Zertifikaten“ zu beachten. Diese Auslegung werde durch Nr. 10 der Neuen Hinweise der Kommission zu Kriterium 3 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie bestätigt (siehe oben, Randnr. 14).
71. Viertens schließlich müssten die Mitgliedstaaten gemäß Art. 12 Abs. 3 und Art. 16 der angefochtenen Richtlinie, ohne insoweit über ein Ermessen zu verfügen, alle Betreiber verpflichten, spätestens am 30. April jeden Jahres eine Menge von Zertifikaten abzugeben, die ihren Gesamtemissionen im vorhergehenden Kalenderjahr entspreche, und Sanktionen gegen sie verhängen, falls sie dieser Verpflichtung nicht nachkämen.
72. Die Klägerin leitet daraus ab, dass die streitigen Bestimmungen den Mitgliedstaaten hinsichtlich der ihr aufzuerlegenden Verpflichtungen keinen Ermessensspielraum beließen und diese Bestimmungen sie daher im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG unmittelbar beträfen.
73. Die Klägerin hält sich von den streitigen Bestimmungen auch für individuell betroffen. Zum einen sei der Gemeinschaftsgesetzgeber verpflichtet, die sich aus ihnen ergebenden schwerwiegenden Folgen für die besondere Situation der Klägerin zu berücksichtigen, und zum anderen gehöre sie zu einer geschlossenen Gruppe, die aus einer begrenzten Anzahl von Herstellern von Roheisen oder Stahl bestehe, die von diesen Bestimmungen betroffen seien.
74. Erstens sei die Verpflichtung des Gemeinschaftsgesetzgebers, die Folgen des Rechtsakts, den er zu erlassen beabsichtige, für die Situation bestimmter Einzelner zu berücksichtigen, geeignet, diese zu individualisieren (oben in Randnr. 55 angeführte Urteile Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Randnr. 19, Sofrimport/Kommission, Randnr. 11, und Codorníu/Rat, Randnr. 20), wobei diese Verpflichtung ihren Ursprung entweder in einer besonderen Bestimmung des EG-Vertrags (Urteil Antillean Rice Mills u. a./Kommission, oben in Randnr. 55 angeführt, Randnr. 67) oder in jeder anderen höherrangigen Rechtsnorm (Urteil UEAPME/Rat, oben in Randnr. 55 angeführt, Randnr. 90) wie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Grundsatz der Gleichbehandlung und den Grundrechten haben könne.
75. Die Klägerin trägt hierzu im Wesentlichen vor, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber zur Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie ihres Eigentumsrechts und ihrer Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung die sehr schwerwiegenden Folgen der angefochtenen Richtlinie für ihre besondere Situation hätte berücksichtigen müssen. So habe er dadurch, dass er es entgegen den ursprünglichen Vorschlägen des Parlaments und der Kommission unterlassen habe, weitere Sektoren – insbesondere die konkurrierenden Sektoren der Nichteisenmetalle und der chemischen Erzeugnisse – in Anhang I der angefochtenen Richtlinie einzubeziehen, gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Aufrechterhaltung eines unverfälschten Wettbewerbs verstoßen. Ebenso habe er das Eigentumsrecht, die Niederlassungsfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung der Klägerin sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch verletzt, dass er verkannt habe, dass den Herstellern von Roheisen oder Stahl eine stärkere Verringerung von CO 2 -Emissionen technisch und wirtschaftlich nicht möglich sei. Damit habe der Gemeinschaftsgesetzgeber der Klägerin eine übermäßige Belastung auferlegt, die ihre Existenz bedrohe, da sie zwangsläufig zu einem „Nettokäufer von Zertifikaten“ werde, ohne die Möglichkeit zu haben, die damit verbundenen Kosten auf ihre Kunden abzuwälzen. Darüber hinaus seien die streitigen Bestimmungen auch insofern unverhältnismäßig, als sie nicht von Maßnahmen begleitet würden, die ihre verheerenden Folgen für die Klägerin zumindest milderten, wie ein Mechanismus zur Regelung des Preises der Zertifikate oder die Möglichkeit ihrer grenzüberschreitenden Übertragung innerhalb derselben Unternehmensgruppe. Durch das Fehlen einer solchen Übertragungsmöglichkeit, das die Umstrukturierungsbemühungen der Klägerin und ihre Wettbewerbsfähigkeit ernsthaft beeinträchtige, verletze die angefochtene Richtlinie auch das Eigentumsrecht der Klägerin und ihre Niederlassungsfreiheit. Die nicht hinnehmbare Beschränkung ihrer Niederlassungsfreiheit, die sich daraus ergebe, dass es in der angefochtenen Richtlinie an einer Vorschrift fehle, die die grenzüberschreitende Übertragung von Emissionszertifikaten zwischen verschiedenen Anlagen derselben Unternehmensgruppe zulasse, könne nicht durch das Vorbringen relativiert werden, bei einer Ausweitung der Produktionskapazitäten einer Anlage könnten die Vorschriften über die Zuteilung für die „neuen Marktteilnehmer“ in Anspruch genommen werden, da deren Anwendung im Ermessen des betreffenden Aufnahmemitgliedstaats stehe.
76. Zweitens gehöre die Klägerin zu einer geschlossenen Gruppe von Unternehmen, die von der angefochtenen Richtlinie besonders betroffen seien. In der Union mit 15 Mitgliedstaaten hätten nur 15 Unternehmen oder Unternehmensgruppen Anlagen zur Herstellung von Roheisen oder Stahl betrieben, nämlich die Klägerin, Corus, ThyssenKrupp, HKM, Riva, Luccini, SSAB, Voest Alpine, Salzgitter, Duferco, Rauttaruukki, Fundia, Saint-Gobain, DHS und die Neue Maxhütte, zu denen seit dem 1. Mai 2004 fünf Hersteller von Roheisen oder Stahl aus den zehn neuen Mitgliedstaaten hinzugekommen seien, nämlich Ispat Polska, die Czech Steel Company, Moravia Steel, Dunaferr Dunai und US Steel Košice. Allein aufgrund der Erweiterung der Union könne diese Gruppe jedoch nicht ihre Eigenschaft als geschlossene Gruppe im Sinne der Rechtsprechung verloren haben, da diese Erweiterung bereits vor dem Inkrafttreten der angefochtenen Richtlinie in Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33) vorgesehen gewesen sei. Außerdem sei der Markteintritt neuer Marktteilnehmer durch die Aufnahme des Neubetriebs von Hochöfen keine wirtschaftlich gangbare Option und daher faktisch ausgeschlossen. Seit dem Inkrafttreten der angefochtenen Richtlinie und in Anbetracht des Rückgangs der Anzahl von Hochöfen in der Union seit 1975 könne sich ein neuer Marktteilnehmer nämlich nur über einen Erwerb auf dem Markt etablieren.
77. Die „Situation einzigartiger Einschnürung“ dieser Gruppe von Herstellern, die sie von jeder anderen Person unterscheide, ergebe sich daraus, dass, im Unterschied zur Situation in anderen betroffenen Wirtschaftssektoren wie dem Zement-, dem Strom-, dem Papier- und dem Glassektor, die Hersteller von Roheisen oder Stahl aus technischen Gründen in absehbarer Zukunft nicht in der Lage seien, gemäß den Zielen der angefochtenen Richtlinie die CO 2 -Emissionen nennenswert zu verringern. Daher hätten die zu dieser Gruppe zählenden Hersteller in Wirklichkeit nicht die Wahl zwischen einer Emissionsverringerung und dem Kauf zusätzlicher Zertifikate, so dass sie zwangsläufig zu „Nettokäufern von Zertifikaten“ würden. Im Prozess der Stahlerzeugung sei wegen der Verwendung von Kohle als Roh- und nicht als Brennstoff die Emission von CO 2 unvermeidlich. Es gebe auch keine rentable Ersatzlösung zur Verringerung von CO 2 -Emissionen, beispielsweise durch den Einsatz eines anderen Brennstoffs wie Erdgas. Die Perfektionierung der Hochofentechnologie sei in Bezug auf die Energieeffizienz an ihre theoretische Grenze gestoßen, was immer noch den Ausstoß von zwei Tonnen CO 2 je Tonne erzeugten Stahls bedeute. Eine weitere Emissionsverringerung sei nur durch einen technischen Fortschritt möglich, dessen Entwicklung mindestens 20 bis 30 Jahre dauere. Demgegenüber sei eine Drosselung der Produktion nicht möglich, da Hochöfen aus technischen Gründen stets auf einem Niveau nahe ihrer vollen Auslastung betrieben werden müssten.
78. Die Klägerin trägt anhand von Studien vor, dass die Hochofenbetreiber die vorhandene Technik, bei der der Spielraum für Fortschritte sehr gering sei, etwa noch während der kommenden 25 Jahre einsetzen müssten, da alle Versuche, sie zu ersetzen, aus technischen und/oder wirtschaftlichen Gründen bisher gescheitert seien. Sie fügt hinzu, dass die von ihr bis zum Jahr 2002 erzielten Emissionsverringerungen entgegen dem Vorbringen des Rates nicht das Ergebnis technischer Verbesserungen, sondern hauptsächlich der Stilllegung von fünf Hochöfen, der Kapazitätsausweitung anderer Anlagen sowie der Ersetzung lothringischen Erzes durch brasilianisches Erz als Rohstoff mit besserer Energieeffizienz zu verdanken seien. Auch die von der Klägerin für den Zeitraum von 2008 bis 2012 angestrebte Verringerung müsse insbesondere durch die Stilllegung von Anlagen in Verbindung mit einer Verlagerung der Produktion auf Anlagen in anderen Mitgliedstaaten erzielt werden.
79. Zudem sei der Stahlsektor der einzige der vier in Anhang I der angefochtenen Richtlinie aufgeführten Bereiche, der sich dem Wettbewerb mit anderen, nicht in dieser Richtlinie aufgeführten Bereichen, nämlich dem Nichteisenmetall- und dem Kunststoffsektor, stellen müsse. Diese äußerst nachteilige Wettbewerbssituation der Hersteller von Roheisen oder Stahl werde noch durch eine „sehr konzentrierte“ Nachfrage insbesondere der Automobilindustrie auf der einen und durch einen verstärkten Wettbewerb aus nicht von der angefochtenen Richtlinie erfassten Bereichen sowie durch Stahlhersteller aus Drittstaaten wie den Vereinigten Staaten von Amerika, die nicht den sich aus dem Kyoto-Protokoll ergebenden Verpflichtungen unterlägen und auf die 65 % der weltweiten Erzeugung entfielen, auf der anderen Seite verschärft. Somit seien die europäischen Stahlhersteller nicht in der Lage, den durch die Notwendigkeit zum Kauf von CO 2 -Zertifikaten verursachten Anstieg der Produktionskosten auf ihre Kunden abzuwälzen, was ihre ohnehin schon geringe Rentabilität weiter schmälere. Die Wettbewerbssituation der übrigen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Bereiche sei insoweit anders. Die Energielieferanten beispielsweise hätten in Anbetracht der Veranschlagung eines erheblichen Anstiegs der Strompreise die Möglichkeit, jede etwaige Erhöhung ihrer Produktionskosten auf ihre Kunden abzuwälzen und ihre Rentabilität spürbar zu verbessern.
80. Demgegenüber werde selbst der jüngste Anstieg des Stahlpreises die Klägerin nicht in die Lage versetzen, den sich aus der Notwendigkeit zum Kauf von Emissionszertifikaten ergebenden Anstieg der Produktionskosten auf ihre Kunden abzuwälzen. Dieser Preisanstieg sei lediglich das Ergebnis weltweit steigender Rohstoff- und Transportkosten. Die europäischen Hersteller von Roheisen oder Stahl sähen sich auf dem Weltmarkt aber einem starken Wettbewerb seitens der Hersteller aus Drittländern ausgesetzt, die entweder, wie die Vereinigten Staaten von Amerika, das Commonwealth of Australia und die Republik Türkei das Kyoto-Protokoll nicht ratifiziert hätten, oder wie die Republik Indien, die Volksrepublik China und die Föderative Republik Brasilien das Kyoto-Protokoll zwar ratifiziert hätten, zunächst aber nicht zu einer Verringerung ihrer CO 2 -Emissionen verpflichtet seien (Anlage B zum Kyoto-Protokoll) oder aufgrund des Kyoto-Protokolls lediglich verpflichtet seien, das gegenwärtige Emissionsniveau aufrechtzuerhalten, was bei der Russischen Föderation und der Ukraine der Fall sei. Daher entstünden allein den europäischen Herstellern von Roheisen oder Stahl zusätzliche Produktionskosten, die auf die Umsetzung des Kyoto-Protokolls zurückzuführen seien, wobei sie zugleich einem immer heftigeren Wettbewerbsdruck durch Stahleinfuhren aus Drittländern ausgesetzt seien, deren Umfang vom Preisniveau auf dem europäischen Markt abhänge. Unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Kosten von 26 Euro pro Emissionszertifikat für eine Tonne emittierten CO 2 verursache die Produktion einer Tonne Stahl, mit der die Emission von etwa zwei Tonnen CO 2 einhergehe, Zusatzkosten in Höhe von 52 Euro, während der Gesamtpreis für den Transport einer Tonne Stahl normalerweise nicht höher sei als 20 Euro. Anders als bei den Herstellern von Roheisen oder Stahl bestehe insbesondere bei den in Deutschland und im Vereinigten Königreich ansässigen Energielieferanten die Vermutung, dass sie den Wert der kostenlos erlangten Emissionszertifikate in den Strompreis einbezögen, um daraus außergewöhnliche Gewinne zu erzielen.
81. Die Klägerin kommt nach alledem zu dem Ergebnis, dass die Hersteller von Roheisen oder Stahl in der Union sich in einer „Situation einzigartiger Einschnürung“ befänden, die sie von jeder anderen Person unterscheide. Diese Situation werde noch dadurch verschärft, dass die angefochtene Richtlinie weder eine Obergrenze noch einen Mechanismus zur Regelung des Preises der Emissionszertifikate vorsehe. Jüngeren Studien zufolge sähen sich die Hersteller von Roheisen oder Stahl somit für ein Zertifikat, das den Ausstoß einer Tonne CO 2 erlaube, einem Preis von 20 bis 60 Euro und mehr ausgesetzt, während bereits ein Preis von 20 Euro den Bruttogewinn des Stahlsektors zunichte mache.
82. Drittens hält sich die Klägerin für durch die angefochtene Richtlinie besonders stark beeinträchtigt, da sie – mit einer Produktion von 40 Millionen Tonnen Stahl, gefolgt von Thyssen-Krupp (17 Millionen) und Corus (16 Millionen) – der bei Weitem größte Hersteller von Roheisen und Stahl in Europa sei. Durch den Einsatz ihrer sehr weit fortgeschrittenen Hochofentechnik habe sie ihre Treibhausgasemissionen einschließlich CO 2 seit 1990 bereits in einem viel größeren als dem im Kyoto-Protokoll angestrebten Verhältnis von 8 % verringert, nämlich in absoluten Zahlen um 19 % und um 24 % in relativen Zahlen (pro Tonne erzeugten Stahls) und könne aus den oben in den Randnrn. 77 und 78 genannten technischen Gründen die CO 2 ‑Emissionen nicht weiter nennenswert verringern. Im Übrigen habe sie im Jahr 2002 mit dem Betrieb ihrer Hochöfen einen Bruttogewinn von 16 Euro und einen Nettogewinn von 4 Euro pro Tonne emittierten CO 2 erzielt. Daraus folge, dass selbst bei dem nach gegenwärtiger Schätzung niedrigsten Preis von 20 Euro pro Emissionszertifikat, der Zusatzkosten von 40 Euro pro Tonne Stahl entspreche, die Produktion für die Klägerin so unrentabel werde, dass ihr eine Fortsetzung des Betriebs ihrer Anlagen in Europa nicht möglich sei.
83. Viertens sei die Klägerin der einzige europäische Hersteller von Roheisen und Stahl, der aufgrund der innerhalb ihrer Gruppe stattfindenden Umstrukturierung mit dem Ziel der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit mit einer durch die angefochtene Richtlinie geschaffenen besonderen Schwierigkeit konfrontiert sei. Diese durch den Zusammenschluss von 2001, d. h. vor dem Erlass der angefochtenen Richtlinie, ausgelöste Umstrukturierung (siehe oben, Randnr. 30) ziele auf die Stilllegung von Anlagen oder die Verringerung weniger rentabler Produktionskapazitäten in einem Mitgliedstaat und die entsprechende Erhöhung der Produktionskapazitäten in rentableren Anlagen in anderen Mitgliedstaaten ab. Dabei handle es sich um eine Sondersituation der Klägerin, die sie von allen anderen Herstellern von Roheisen oder Stahl, deren Anlagen sich in einem einzigen Mitgliedstaat befänden, unterscheide. Die einzige Ausnahme bilde Corus mit Anlagen im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden, die ihre Produktion jedoch bereits optimiert habe. Die angefochtene Richtlinie beeinträchtige diese Umstrukturierung aber dadurch schwerwiegend, dass sie den Mitgliedstaaten nicht die Verpflichtung auferlege, die grenzüberschreitende Übertragung der Zertifikate einer stillzulegenden Anlage auf andere Anlagen in anderen Mitgliedstaaten zu gestatten. So hätten die belgische und die deutsche Regierung bereits mitgeteilt, dass die Klägerin im Fall der Stilllegung ihre Zertifikate für die Anlagen in der Wallonie (Belgien) und in Bremen (Deutschland) verliere, so dass sie diese Zertifikate nicht auf ihre Anlagen in Spanien oder Frankreich übertragen könne, wo sie eine entsprechende Erhöhung der Produktionskapazitäten vorgesehen gehabt habe. Auch sähen der deutsche NZP und Art. 10 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs des deutschen Gesetzes über die Zuteilung der Zertifikate während der ersten Zuteilungsperiode den Verfall der Zertifikate im Fall der Stilllegung einer Anlage vor, es sei denn, der Betreiber nehme eine Neuanlage in Deutschland (und nicht in einem anderen Mitgliedstaat) in Betrieb. Entsprechend sehe der französische NZP vor, dass ein Betreiber die Zertifikate einer stillgelegten Anlage nur dann behalten dürfe, wenn die Tätigkeit auf eine andere Anlage im französischen Hoheitsgebiet verlagert werde. Somit sei die Klägerin gezwungen, ihrem Ziel der Umstrukturierung und der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit entgegenzuwirken. Sie müsse zusätzliche Emissionszertifikate kaufen, um die ursprünglich für die Stilllegung und die Verlagerung auf Anlagen in anderen Mitgliedstaaten bestimmten Produktionskapazitäten abzudecken, und weniger rentable Anlagen allein mit dem Ziel weiterbetreiben, die bereits zugeteilten Zertifikate nicht zu verlieren.
84. Ferner sei sie auch der einzige Marktteilnehmer aus allen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Bereichen, dem sich das Problem der grenzüberschreitenden Verlagerung von Produktionskapazitäten zwischen Anlagen in verschiedenen Mitgliedstaaten stelle. Die Sektoren Zement, Glas, Energie und Papier, in denen die Anlagen, anders als die Anlagen zur Stahlerzeugung, entweder in der Nähe der Kunden oder in Zonen angesiedelt seien, die Rohstoffe in ausreichender Menge böten, seien durch dieses Problem nicht beeinträchtigt. Daher seien die Stilllegung einer Anlage in einem Mitgliedstaat und die Verlagerung der Produktion in einen anderen Mitgliedstaat für die Hersteller in diesen Sektoren keine plausible Option.
85. Im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit sei es jedoch in keiner Weise gerechtfertigt, es dem Ermessen der Mitgliedstaaten zu überlassen, inwieweit die grenzüberschreitende Verlagerung von Produktionskapazitäten möglich sei. Dies gelte umso mehr, als für die Mitgliedstaaten erhebliche wirtschaftliche und politische Anreize bestünden, eine solche Verlagerung von Produktionskapazitäten einschließlich der Übertragung der mit ihnen verbundenen Emissionszertifikate nicht zu gestatten. Zum einen bestehe aus der Sicht des Mitgliedstaats, der diese Zertifikate ursprünglich zugeteilt habe, keinerlei Interesse, eine solche Verlagerung zu erleichtern und den Verlust sowohl der betreffenden Produktionskapazitäten und der damit verbundenen Arbeitsplätze in seinem Hoheitsgebiet als auch der bereits zugeteilten Zertifikate hinzunehmen. Zum anderen habe der Mitgliedstaat, in den eine solche Verlagerung stattfinden solle, insbesondere dann, wenn dieser Staat von geringer Größe sei, unter Berücksichtigung der Gefahr, die nationale Höchstmenge der Zertifikate zu überschreiten und damit seine Reduzierungsverpflichtungen aus der Entscheidung 2002/358 und dem Kyoto-Protokoll zu verletzen, nicht zwangsläufig ein Interesse an der kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten an einen neuen Marktteilnehmer. Wie aus Nr. 5 des Anhangs 4 der Neuen Hinweise der Kommission (siehe oben, Randnr. 14) hervorgehe, werde diese Zurückhaltung dadurch bestätigt, dass die meisten Mitgliedstaaten die grenzüberschreitende Übertragung von Zertifikaten nicht gestatteten. In diesen Hinweisen habe die Kommission selbst die Aufmerksamkeit auf dieses Problem gelenkt und betont, dass die Mitgliedstaaten während der ersten Zuteilungsperiode eine Vielzahl von Vorschriften über die Reserven für die neuen Marktteilnehmer, die Stilllegungen und die Übertragungen erlassen hätten, was zu einer großen Komplexität und einem Mangel an Transparenz auf dem Binnenmarkt beitrage, die Wettbewerbsverzerrungen nach sich zu ziehen drohten. Daraus habe die Kommission auf die Notwendigkeit geschlossen, die Einrichtung einer Gemeinschaftsreserve sowie eine Angleichung der für neue Marktteilnehmer, für Stilllegungen und für grenzüberschreitende Übertragungen im Binnenmarkt geltenden Verwaltungsvorschriften ins Auge zu fassen (Anhang 7 der Neuen Hinweise der Kommission). Die Klägerin beruft sich auch auf eine Studie, der zufolge es im Emissionshandelssystem unter Berücksichtigung des Interesses der Mitgliedstaaten, die Steuern und die mit den in ihrem Hoheitsgebiet angesiedelten Anlagen verbundenen Arbeitsplätze zu behalten, gegenwärtig für sie vernünftig sei, entweder die Zertifikate stillgelegter Anlagen einzuziehen oder zumindest den Verbleib dieser Zertifikate von der Eröffnung einer Neuanlage in ihrem Hoheitsgebiet abhängig zu machen, um zu verhindern, dass der Betreiber das Land verlasse. Daraus könne sich aber ein wirtschaftlich ineffizienter und politisch unerwünschter Regelungswettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten ergeben mit dem Ziel, die Investitionen zu halten und anzulocken. Aus diesen Gründen komme diese Studie zu dem Ergebnis, dass eine Angleichung der Vorschriften auf Gemeinschaftsebene erforderlich sei, mit denen gestattet werde, dass Anlagen ihre Zertifikate auch im Fall einer Stilllegung behielten. Die praktische Wirksamkeit der Niederlassungsfreiheit könne daher nur durch das Eingreifen des Gemeinschaftsgesetzgebers selbst gewahrt werden.
86. Fünftens hält sich die Klägerin für durch die angefochtene Richtlinie besonders stark beeinträchtigt, weil sie aufgrund langfristiger Verträge über die Bereitstellung von Hochofengas für die Stromerzeugung, das Kohlenmonoxid, CO 2 und Stickstoff enthalte, seit Langem an Kraftwerke gebunden sei, die teilweise nicht zu ihrem Konzern gehörten. Sie stelle sich die Frage, ob im Hinblick auf Art. 3 Buchst. b und e der angefochtenen Richtlinie die in Rede stehenden Emissionszertifikate ihr oder dem Kraftwerk zuzuteilen seien. Stünden diese Zertifikate dem Kraftwerk zu, verschlechterte sich die Situation der Klägerin weiter, da sie gegebenenfalls die erforderlichen Zertifikate auf dem Handelsmarkt erwerben oder im Fall der Einstellung der Lieferung durch das Kraftwerk ihr Hochofengas verbrennen müsste, ohne jedoch über die entsprechende Anzahl von Zertifikaten zu verfügen. Daraus ergäbe sich ein ernstzunehmender Wettbewerbsnachteil der Klägerin gegenüber ihren Konkurrenten, die ihre eigenen Kraftwerke nutzten.
87. Die Klägerin trägt schließlich sechstens vor, dass sie aufgrund der Tatsache, dass sie von den streitigen Bestimmungen besonders betroffen sei, am Rechtssetzungsverfahren, insbesondere bei verschiedenen Treffen mit Vertretern der Kommission, des Parlaments und des Rates, eng beteiligt gewesen sei. In diesem Zusammenhang sei zunächst eine Reihe der von ihr geäußerten Einwände berücksichtigt, letztlich jedoch ohne jede Begründung zurückgewiesen worden.
88. In Anbetracht all dessen gelangt die Klägerin zu dem Ergebnis, dass sie das Vorliegen für sie besonderer Umstände nachgewiesen habe, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushöben und dadurch zur Zulässigkeit ihres Antrags auf Nichtigerklärung im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG führten.
89. Zu der vom Parlament erhobenen Einrede der Unzulässigkeit des Antrags auf teilweise Nichtigerklärung der angefochtenen Richtlinie führt die Klägerin aus, dass sie nicht die vollständige Aufhebung der streitigen Bestimmungen beantrage, sondern lediglich, von ihrer Anwendung auf Anlagen zur Herstellung von Roheisen oder Stahl abzusehen. Dieser Antrag bedeute demnach keine Änderung des Emissionshandelssystems für die übrigen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Bereiche. Der Anwendungsbereich der angefochtenen Richtlinie lasse sich nämlich entweder auf andere Bereiche ausdehnen, wie es bereits für die Sektoren der Nichteisenmetalle und der chemischen Erzeugnisse vorgeschlagen worden sei, oder beschränken, ohne dass dies die Funktionsweise und das Wesen des Emissionshandelssystems beeinträchtigte. Die beantragte Teilnichtigerklärung führte somit lediglich zur Aufhebung des – deutlich begrenzten und umschriebenen – Teils von Anhang I der angefochtenen Richtlinie, der die Anlagen zur Herstellung von Roheisen oder Stahl betreffe.
90. Nach Ansicht der Klägerin wäre der Antrag auf Nichtigerklärung selbst dann zulässig, wenn man annähme, dass die streitigen Bestimmungen sich nicht von der angefochtenen Richtlinie als Ganzem trennen ließen. Stelle sich nämlich heraus, dass die Teilnichtigerklärung unmöglich sei, sei dieser Antrag dahin auszulegen, dass mit ihm die Nichtigerklärung der gesamten angefochtenen Richtlinie begehrt werde. Diese Beurteilung ergebe sich aus dem Erfordernis, den Antrag in seinem Zusammenhang und im Hinblick auf die mit der Klage verfolgten Ziele auszulegen, die darauf gerichtet sei, der Verletzung der Grundrechte der Klägerin ein Ende zu setzen. Für den Fall, dass sich das Gericht der oben in Randnr. 89 vertretenen Auffassung nicht anschließe, beantrage sie hilfsweise die vollständige Nichtigerklärung der angefochtenen Richtlinie, was auch nach Einreichung der Klageschrift noch möglich sei.
91. Die Klägerin zieht aus alledem den Schluss, dass der Antrag auf Nichtigerklärung zulässig sei.
92. In ihrer Stellungnahme zu der Frage, welche Folgen aus dem Inkrafttreten von Art. 263 Abs. 4 AEUV zu ziehen sind, trägt die Klägerin vor, zum einen sei diese Bestimmung auf das vorliegende Verfahren anwendbar und zum anderen handele es sich bei der angefochtenen Richtlinie ihrem Inhalt nach um einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne dieser Bestimmung, da die beanstandeten Bestimmungen den Mitgliedstaaten bei ihrer Anwendung keinerlei Ermessensspielraum beließen und die Klägerin somit von dem Nachweis befreit sei, dass sie von dieser Richtlinie unmittelbar betroffen sei.
B – Würdigung durch das Gericht
93. Gemäß Art. 230 Abs. 4 EG kann jede natürliche oder juristische Person gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen.
94. Der ständigen Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass allein der Umstand, dass diese Vertragsbestimmung die Zulässigkeit der von einer Privatperson gegenüber einer Richtlinie erhobenen Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 249 Abs. 3 EG nicht ausdrücklich anerkennt, nicht ausreicht, um eine solche Klage für unzulässig zu erklären. Die Gemeinschaftsorgane können nämlich den gerichtlichen Rechtsschutz, den der Vertrag für die Einzelnen vorsieht, nicht allein durch die Wahl der Form der betreffenden Handlung ausschließen, und zwar selbst dann nicht, wenn sie die Form einer Richtlinie hat (Beschlüsse des Gerichts vom 10. September 2002, Japan Tobacco und JT International/Parlament und Rat, T‑223/01, Slg. 2002, II‑3259, Randnr. 28, vom 30. April 2003, Villiger Söhne/Rat, T‑154/02, Slg. 2003, II‑1921, Randnr. 39, vom 6. September 2004, SNF/Kommission, T‑213/02, Slg. 2004, II‑3047, Randnr. 54, und vom 25. April 2006, Kreuzer Medien/Parlament und Rat, T‑310/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 40 und 41). Auch genügt die bloße Tatsache, dass die streitigen Bestimmungen zu einem Rechtsakt allgemeiner Geltung gehören, der eine wirkliche Richtlinie und nicht nur eine als Richtlinie ergangene Entscheidung im Sinne von Art. 249 Abs. 4 EG darstellt, für sich allein nicht, um die Möglichkeit auszuschließen, dass diese Bestimmungen einen Einzelnen unmittelbar und individuell betreffen (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse Japan Tobacco und JT International/Parlament und Rat, Randnr. 30, und vom 6. Mai 2003, Vannieuwenhuyze-Morin/Parlament und Rat, T‑321/02, Slg. 2003, II‑1997, Randnr. 21).
95. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die angefochtene Richtlinie sowohl der Form als auch dem Wesen nach ein Rechtsakt mit allgemeiner Geltung ist, der für objektiv bestimmte Situationen gilt und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen entfaltet, nämlich allen Anlagenbetreibern, die eine Tätigkeit im Sinne von Anhang I der angefochtenen Richtlinie, einschließlich der Herstellung von Roheisen oder Stahl, ausüben, zu denen die Klägerin gehört.
96. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass die Bestimmungen eines solchen Rechtsakts mit allgemeiner Geltung unter bestimmten Umständen einige von ihnen unmittelbar und individuell betreffen können (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 16. Mai 1991, Extramet Industrie/Rat, C‑358/89, Slg. 1991, I‑2501, Randnr. 13, Codorníu/Rat, oben in Randnr. 55 angeführt, Randnr. 19, und vom 25. Juli 2002, Unión de Pequeños Agricultores/Rat, C‑50/00 P, Slg. 2002, I‑6677, Randnr. 36).
97. Außerdem ist nach ständiger Rechtsprechung die Voraussetzung im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG, dass eine natürliche oder juristische Person von der mit der Klage angefochtenen Handlung unmittelbar betroffen sein muss, nur dann erfüllt, wenn diese Handlung sich auf die Rechtsstellung dieser Person unmittelbar auswirkt und ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihr Erlass vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne dass weitere Durchführungsvorschriften angewandt werden (Urteile des Gerichtshofs vom 29. Juni 2004, Front national/Parlament, C‑486/01 P, Slg. 2004, I‑6289, Randnr. 34, und vom 22. März 2007, Regione Siciliana/Kommission, C‑15/06 P, Slg. 2007, I‑2591, Randnr. 31).
98. Das Gericht hält es für angebracht, in erster Linie zu prüfen, ob die Klägerin von den streitigen Bestimmungen individuell betroffen ist. Nur hilfsweise wird es gegebenenfalls auch prüfen, ob sie von diesen Bestimmungen unmittelbar betroffen ist.
99. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine andere natürliche oder juristische Person als der Adressat einer Handlung nur dann geltend machen, im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG individuell betroffen zu sein, wenn die fragliche Handlung sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder wegen sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten (Urteile des Gerichtshofs vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission, 25/62, Slg. 1963, 213, 238, Unión de Pequeños Agricultores/Rat, oben in Randnr. 96 angeführt, Randnr. 36, und vom 1. April 2004, Kommission/Jégo-Quéré, C‑263/02 P, Slg. 2004, I‑3425, Randnr. 45).
100. Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist zu prüfen, ob die sich aus den streitigen Bestimmungen eventuell ergebenden Verpflichtungen die Klägerin als Adressaten individualisieren können. Die Klägerin beantragt die Nichtigerklärung erstens von Art. 4 der angefochtenen Richtlinie über die Einführung der Genehmigungspflichtigkeit von Emissionen, zweitens von Art. 6 Abs. 2 Buchst. e und von Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie über die Verpflichtung, eine Anzahl von Zertifikaten abzugeben, die den Gesamtemissionen der Anlage im vorhergehenden Kalenderjahr entspricht, drittens von Art. 9 dieser Richtlinie in Verbindung mit Kriterium 1 ihres Anhangs III betreffend die Erstellung der NZP und die angebliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anlagenbetreibern eine Höchstmenge an Emissionszertifikaten zuzuteilen, und viertens von Art. 16 Abs. 2 bis 4 dieser Richtlinie betreffend die Sanktionen im Fall der Nichteinhaltung der Abgabeverpflichtung, soweit alle diese Bestimmungen gemäß Art. 2 der angefochtenen Richtlinie in Verbindung mit ihrem Anhang I auf Hersteller von Roheisen oder Stahl anwendbar seien.
101. Was erstens ihr Vorbringen angeht, von den streitigen Bestimmungen individuell b etroffen zu sein, macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber aufgrund mehrerer höherrangiger Rechtsnormen einschließlich ihrer Grundrechte verpflichtet gewesen sei, die besondere Situation der Hersteller von Roheisen oder Stahl im Binnenmarkt, insbesondere ihre eigene, zu berücksichtigen (oben in Randnr. 55 angeführte Urteile Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Randnr. 19, Sofrimport/Kommission, Randnr. 11, und UEAPME/Rat, Randnr. 90).
102. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es keine ausdrückliche und spezifische Norm höherrangigen oder abgeleiteten Rechts gibt, nach der der Gemeinschaftsgesetzgeber verpflichtet gewesen wäre, im Verfahren des Erlasses der angefochtenen Richtlinie der Situation der Hersteller von Roheisen oder Stahl, oder gar derjenigen der Klägerin, gegenüber der Situation der Marktteilnehmer aus den anderen von Anhang I dieser Richtlinie erfassten Industriebereichen besonders Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2002, Rica Foods/Kommission, T‑47/00, Slg. 2002, II‑113, Randnrn. 41 und 42, vgl. auch Beschlüsse des Gerichts vom 6. Mai 2003, DOW AgroSciences/Parlament und Rat, T‑45/02, Slg. 2003, II‑1973, Randnr. 47, vom 25. Mai 2004, Schmoldt u. a./Kommission, T‑264/03, Slg. 2003, II‑1515, Randnr. 117, und vom 16. Februar 2005, Fost Plus/Kommission, T‑142/03, Slg. 2005, II‑589, Randnrn. 61 bis 65). So sehen insbesondere Art. 174 EG und Art. 175 Abs. 1 EG als Rechtsgrundlagen für die Regelungstätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Umwelt keine solche Verpflichtung vor. Im Übrigen beruft sich die Klägerin, abgesehen von einer Bezugnahme auf ihre Grundrechte und auf bestimmte, sie schützende allgemeine Rechtsgrundsätze, auf keine konkrete höherrangige, sie spezifisch oder zumindest die Hersteller von Roheisen und Stahl betreffende Rechtsnorm, die geeignet wäre, eine solche Verpflichtung zu ihren Gunsten zu schaffen.
103. Zwar müssen die Gemeinschaftsorgane beim Erlass eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung höherrangige Rechtsnormen einschließlich der Grundrechte beachten, doch genügt die Behauptung, ein solcher Rechtsakt verstoße gegen diese Vorschriften oder Rechte, für sich allein nicht, um die Zulässigkeit der Klage eines Einzelnen herbeizuführen, solange dieser behauptete Verstoß nicht geeignet ist, ihn in ähnlicher Weise zu individualisieren wie den Adressaten, denn sonst würden die Anforderungen des Art. 230 Abs. 4 EG ihres Inhalts beraubt (vgl. in Bezug auf das Eigentumsrecht Beschluss des Gerichts vom 28. November 2005, EEB u. a./Kommission, T‑94/04, Slg. 2005, II‑4919, Randnrn. 53 bis 55, vgl. auch in diesem Sinne Beschluss des Gerichts vom 29. Juni 2006, Nürburgring/Parlament und Rat, T‑311/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 65 und 66). In diesem Zusammenhang kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf das Urteil Codorníu (oben in Randnr. 55 angeführt, Randnrn. 20 bis 22) berufen, bei dem sich die Zulässigkeit der Klage gegen die angefochtene Verordnung allein daraus ergab, dass die streitige Bezeichnung aufgrund deren die Klägerin seit sehr langer Zeit die einzige Inhaberin eines Markenrechts war, sie im Hinblick auf die angefochtenen Bestimmungen individualisierte.
104. Jedenfalls hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass die streitigen Bestimmungen, insbesondere die Genehmigungspflichtigkeit von Emissionen gemäß Art. 4 der angefochtenen Richtlinie, die Abgabepflicht gemäß Art. 12 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie sowie die in Art. 16 Abs. 2 bis 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Sanktionen, ihre Grundrechte verletzt und bei ihr dadurch einen schweren Schaden verursacht haben, der geeignet wäre, sie gegenüber allen anderen von diesen Bestimmungen betroffenen Marktteilnehmern wie einen Adressaten zu individualisieren (vgl. in diesem Sinne Beschluss Nürburgring/Parlament und Rat, oben in Randnr. 103 angeführt, Randnr. 66). Diese Bestimmungen gelten nämlich generell und abstrakt für alle Marktteilnehmer im Sinne von Anhang I der angefochtenen Richtlinie und für objektiv bestimmte Situationen. Sie sind daher geeignet, die Rechtsstellung aller dieser Marktteilnehmer in gleicher Weise zu berühren.
105. Dementsprechend lässt das Vorbringen der Klägerin, der Gemeinschaftsgesetzgeber sei verpflichtet, bestimmte allgemeine Rechtsgrundsätze und die Grundrechte zu beachten, nicht den Schluss zu, dass die Klägerin von den streitigen Bestimmungen individuell betroffen ist, so dass insoweit nicht geprüft zu werden braucht, ob diese Bestimmungen sie unmittelbar betreffen.
106. Zweitens ist zu dem Argument der Klägerin, sie gehöre zu einem geschlossenen Kreis von Marktteilnehmern, die von den streitigen Bestimmungen besonders betroffen seien, zum einem daran zu erinnern, dass der Umstand, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Maßnahme die Personen, für die eine Maßnahme gilt, nach Zahl oder sogar Identität mehr oder weniger genau bestimmbar sind, keineswegs bedeutet, dass sie als von der Maßnahme individuell betroffen anzusehen sind, sofern nur feststeht, dass die Maßnahme aufgrund eines durch sie bestimmten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Gerichtshofs vom 8. April 2008, Saint-Gobain Glass Deutschland/Kommission, C‑503/07 P, Slg. 2008, I‑2217, Randnr. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum anderen genügt es nicht, dass bestimmte Marktteilnehmer von einem Rechtsakt mit allgemeiner Geltung wirtschaftlich stärker berührt sind als andere, um sie gegenüber diesen anderen Marktteilnehmern in gleicher Weise zu individualisieren, sofern seine Anwendung nach einem objektiv bestimmten Tatbestand erfolgt (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Gerichtshofs vom 18. Dezember 1997, Sveriges Betodlares und Henrikson/Kommission, C‑409/96 P, Slg. 1997, I‑7531, Randnr. 37, Beschlüsse des Gerichts vom 11. September 2007, Fels-Werke u. a./Kommission, T‑28/07, I‑0000, Randnr. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 10. Mai 2004, Bundesverband der Nahrungsmittel- und Speiseresteverwertung und Kloh/Parlament und Rat, T‑391/02, Slg. 2004, II‑1447, Randnr. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
107. Es ist aber festzustellen, dass die Klägerin von den streitigen Bestimmungen in erster Linie in ihrer objektiven Eigenschaft als Betreiberin von Anlagen, die Treibhausgasemissionen erzeugen, und als Herstellerin von Roheisen oder Stahl, und zwar in gleicher Weise wie jeder andere Marktteilnehmer oder Hersteller von Roheisen oder Stahl betroffen ist, dessen Tätigkeit von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfasst wird. Auch wenn die Klägerin zur Zeit des Inkrafttretens der angefochtenen Richtlinie zu einer Gruppe von nur 15 im Binnenmarkt tätigen Herstellern von Roheisen oder Stahl gehörte, reicht dies allein daher nicht aus, um sie gegenüber allen anderen Marktteilnehmern, die eine Tätigkeit im Sinne von Anhang I der angefochtenen Richtlinie ausüben, einschließlich der zu dieser Gruppe gehörenden Hersteller von Roheisen oder Stahl, in ähnlicher Weise zu individualisieren wie einen Adressaten.
108. Außerdem können alle Hersteller von Roheisen oder Stahl, selbst wenn man sie als eine in besonderer Weise betroffene Gruppe von Marktteilnehmern ansähe, aufgrund einer objektiv bestimmten Situation, nämlich der Einbeziehung ihrer Tätigkeit in Anhang I der angefochtenen Richtlinie, den gleichen rechtlichen und tatsächlichen Folgen ausgesetzt sein wie die Klägerin. So ist der Sektor der Herstellung von Roheisen oder Stahl durch die behauptete technische und wirtschaftliche Unmöglichkeit für diese Hersteller, im Unterschied zu den Marktteilnehmern anderer Industriesektoren ihre Treibhausgasemissionen stärker zu verringern und die beim Kauf von Emissionszertifikaten entstandenen Zusatzkosten auf ihre Kunden abzuwälzen, als Ganzes und in gleicher Weise betroffen. Auch sind aufgrund der Anwendung des Emissionshandelssystems alle diese Hersteller den Entwicklungen auf dem Handelsmarkt und dem in Rede stehenden Produktmarkt, einschließlich des von anderen Industriesektoren oder Herstellern von Roheisen oder Stahl aus Drittstaaten ausgehenden Wettbewerbs, in gleicher Weise ausgesetzt.
109. In diesem Zusammenhang ist auch die Ansicht der Klägerin zurückzuweisen, die Hersteller von Roheisen oder Stahl im Binnenmarkt stellten einen geschlossenen Kreis von Marktteilnehmern dar, dessen Zusammensetzung sich nicht mehr ändern könne. Das Parlament und der Rat nehmen insoweit zutreffend Bezug auf den Anstieg der Zahl von Herstellern von Roheisen oder Stahl, die aufgrund der Erweiterung der Union seit 2004 in den Anwendungsbereich der angefochtenen Richtlinie fallen, sowie auf die Möglichkeit, dass weitere, ebenfalls über einen Stahlsektor verfügende europäische Staaten der Union künftig beitreten. Darüber hinaus hat die Klägerin nicht dargetan, dass diese Hersteller von Roheisen oder Stahl zur Zeit des Inkrafttretens der angefochtenen Richtlinie besondere Merkmale aufgewiesen hätten, die sie von allen anderen Herstellern oder neuen Marktteilnehmern beispielsweise dadurch unterschieden hätten, dass sie Inhaber spezifischer älterer Rechte gewesen wären (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 13. März 2008, Kommission/Infront WM, C‑125/06 P, Slg. 2008, I‑1451, Randnrn. 71 bis 77). Selbst unterstellt, diese Hersteller hätten über gemäß der Richtlinie 96/61 zugeteilte Emissionsrechte verfügt (siehe oben, Randnr. 49), wären diese behaupteten Rechte nämlich keineswegs spezifische oder gar nur der Klägerin zustehende Rechte gewesen, sondern sie hätten in gleicher Weise allen Marktteilnehmern zugestanden, die die in Anhang I in dieser Richtlinie erfassten Tätigkeiten ausüben. Schließlich ist allein dadurch, dass nach Aussage der Klägerin ein Zutritt zum relevanten Markt nur über den Erwerb eines dort bereits ansässigen Herstellers möglich ist, nicht ausgeschlossen, dass dieser Hersteller oder der neue Marktteilnehmer, der ihn erwirbt, seine Identität wechselt und er so die Zusammensetzung der Gruppe der in Rede stehenden Hersteller ändert.
110. Demnach berühren die Rechtswirkungen der streitigen Bestimmungen, nämlich die Verpflichtungen zur Genehmigung der Emissionen und zur Abgabe der Zertifikate, die Sanktionen im Fall der Nichtbeachtung dieser Verpflichtungen sowie die behauptete Obergrenze der Zertifikate gemäß Art. 9 der angefochtenen Richtlinie, die wirtschaftliche Tätigkeit und die Rechtsstellung der von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Marktteilnehmer, einschließlich derjenigen des Sektors der Herstellung von Roheisen oder Stahl, in gleicher Weise und aufgrund einer objektiv bestimmten Situation. Diese Bestimmungen sind daher nicht geeignet, die tatsächliche und rechtliche Situation der Klägerin aus dem Kreis dieser anderen Marktteilnehmer herauszuheben und sie damit in ähnlicher Weise zu individualisieren wie einen Adressaten, so dass nicht geprüft zu werden braucht, ob sie sie unmittelbar betreffen.
111. Drittens ist zum Vorbringen der Klägerin betreffend ihre Größe, ihr jährliches Produktionsvolumen und ihr individuelles wirtschaftliches und/oder technisches Unvermögen, die CO 2 -Emissionen stärker zu verringern, festzustellen, dass die Klägerin nicht erläutert, aus welchen Gründen die mit ihr im Wettbewerb stehenden Hersteller von Roheisen oder Stahl nicht nach Maßgabe ihrer Größe, ihres Produktionsvolumens und ihrer Bemühungen um eine Emissionsverringerung entsprechenden Anpassungsproblemen und Schwierigkeiten ausgesetzt sein sollen. Ein kleinerer Marktteilnehmer mit einer geringeren Produktion von Roheisen oder Stahl als die Klägerin wird nämlich zwangsläufig über eine geringere Menge an Zertifikaten verfügen, so dass seine wirtschaftlichen und/oder technischen Schwierigkeiten, seine Emissionen zu reduzieren, im entsprechenden Verhältnis mit denen der Klägerin vergleichbar sein müssten. Nach Anhang I der angefochtenen Richtlinie gelten aber die sich aus den streitigen Bestimmungen ergebenden Verpflichtungen einheitlich und generell für alle Anlagenbetreiber, deren Produktion, ohne nach der Größe des Betreibers zu unterscheiden, den dort angegebenen Schwellenwert übersteigt. Im Übrigen hängt der Umfang dieser Verpflichtungen allein von der Emissionsmenge der Treibhausgase ab, die, mangels gegenteiligen Beweises, mit der Größe und der Produktionskapazität der in Rede stehenden Anlage steigen kann, so dass sich alle betroffenen Betreiber in einer vergleichbaren Lage befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 42 angeführt, Randnr. 34). Daher kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf eine besondere Betroffenheit berufen, die sie wie einen Adressaten individualisierte, so dass nicht geprüft zu werden braucht, ob sie insoweit unmittelbar betroffen ist.
112. Viertens hat die Klägerin nicht hinreichend dargetan, dass die von ihr behauptete angebliche „Situation einzigartiger Einschnürung“, insbesondere wegen der Umstrukturierung ihres Konzerns, geeignet war, sie gegenüber allen übrigen Marktteilnehmern zu individualisieren. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass sie der einzige Hersteller von Roheisen und Stahl im Gemeinsamen Markt ist, der eine solche Umstrukturierung eingeleitet hat, ist nicht erwiesen, dass es keine weiteren Hersteller aus anderen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Sektoren gibt, die aufgrund der Umsetzung dieser Richtlinie entsprechende Folgen zu tragen haben, weil sie ähnliche Schritte entweder unternommen oder darauf verzichtet haben. Insoweit ist das Vorbringen der Klägerin, die Unternehmen der anderen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Sektoren könnten nicht denselben Schwierigkeiten ausgesetzt sein, zu unbestimmt und hypothetisch, um eine entsprechende Betroffenheit weiterer Hersteller wie derjenigen des Energiesektors auszuschließen, die infolge der Liberalisierung dieses Sektors auf Gemeinschaftsebene eine tief greifende grenzüberschreitende Umstrukturierung erfahren haben.
113. Jedenfalls hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass ihre Betroffenheit aufgrund dieser von ihr behaupteten „Situation einzigartiger Einschnürung“ dergestalt speziell den Rechtswirkungen der streitigen Bestimmungen als solchen zuzuschreiben wäre, dass sie sie unmittelbar betreffen. Nach ihren eigenen Aussagen ergibt sich diese Situation im Wesentlichen erstens aus der behaupteten Knappheit kostenlos von den staatlichen Stellen zugeteilter Emissionszertifikate, die sie zu einem „Nettokäufer von Zertifikaten“ mache, zweitens aus dem etwaigen Anstieg und/oder dem hohen Niveau der Preise für die auf dem Handelsmarkt verfügbaren Zertifikate und drittens daraus, dass es ihr nicht möglich sei, die stillzulegenden Anlagen zugeteilten Zertifikate im Binnenmarkt auf andere Anlagen zu übertragen, in denen sie eine Ausweitung der Produktionskapazität plane.
114. Zudem ist, unterstellt, die vorgetragene Umstrukturierung wäre ein besonderes Merkmal der Klägerin, festzustellen, dass die sich nach deren Ansicht aus den oben in Randnr. 112 genannten Aspekten ergebende „Situation einzigartiger Einschnürung“ weder der Genehmigungspflichtigkeit von Emissionen gemäß Art. 4 der angefochtenen Richtlinie noch der Abgabepflicht gemäß Art. 12 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie, noch den in Art. 16 Abs. 2 bis 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Sanktionen zuzuschreiben, sondern, sollte sich diese Situation als gegeben herausstellen, die Folge dessen ist, dass die Mitgliedstaaten ihre NZP und die einschlägigen Rechtsvorschriften umsetzen. Diese Staaten verfügen aber gemäß Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie sowohl bei der Zuteilung von Kontingenten an Zertifikaten an die einzelnen Industriesektoren als auch bei der Vergabe von Zertifikaten an einzelne Betreiber und deren Einziehung, auch im Fall der Stilllegung einer Anlage, über einen weiten Ermessensspielraum (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 7. November 2007, Deutschland/Kommission, T‑374/04, Slg. 2007, II‑4431, Randnrn. 102 bis 106).
115. Art. 4 der angefochtenen Richtlinie verpflichtet nämlich lediglich jeden Treibhausgase emittierenden Betreiber dazu, eine Emissionsgenehmigung einzuholen, ohne jedoch die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Zuteilung oder gar die Einziehung von Emissionszertifikaten zu bezeichnen, wie sie von einigen Mitgliedstaaten vorgesehen sind und die der Klägerin zufolge die Ursache ihrer Umstrukturierungsschwierigkeiten darstellen. Diese Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 12 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Buchst. e der angefochtenen Richtlinie vorgesehene Abgabepflicht sowie für die in Art. 16 Abs. 2 bis 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Sanktionen, da die Klägerin nicht erläutert hat, was welchen Gründen sie der Auffassung ist, dass diese Bestimmungen in irgendeinem Zusammenhang mit diesen Schwierigkeiten stünden. Unter diesen Umständen kann ein etwaiger Schaden, der der Klägerin durch den Anstieg der Kosten für den Erwerb und/oder einen etwaigen Verlust von Zertifikaten entsteht, selbst wenn dieser Verlust aufgrund der Stilllegung einer ihrer Anlagen und der Einziehung der dazugehörigen Zertifikate durch die staatlichen Stellen erheblich und schwerwiegender wäre als bei anderen Marktteilnehmern, nicht den sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Verpflichtungen zugeschrieben werden, um die unmittelbare Betroffenheit der Klägerin im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG zu begründen.
116. Soweit schließlich die Klägerin auch Art. 9 der angefochtenen Richtlinie in Verbindung mit Kriterium 1 ihres Anhangs III deshalb beanstandet, weil er den Mitgliedstaaten eine „absolute Obergrenze an Zertifikaten“ vorschreibe, genügt der Hinweis, dass, selbst wenn dieses letztgenannte Argument begründet wäre, eine solche Obergrenze keine unmittelbare Betroffenheit der Klägerin im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG bewirken könnte, da sie nicht die auch nur ungefähre Feststellung zuließe, wie viele Zertifikate die staatlichen Stellen den verschiedenen Industriesektoren, und noch weniger, wie viele sie den einzelnen Betreibern zuteilen müssten. Diese Feststellung wird dadurch bestätigt, dass die Klägerin im Lauf des Verfahrens im Hinblick auf die angefochtene Richtlinie und die Entscheidung 2002/358 weder angeben noch vorhersagen konnte, welche Menge an Zertifikaten die Mitgliedstaaten ihr für ihre Produktionsanlagen im Binnenmarkt kostenlos zuteilen würden, noch, welchen Umfang die eventuell von ihr zu tragende Belastung hätte, falls diese Zertifikate nicht ausreichten.
117. Demnach hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass sie aufgrund ihrer sich ihrem Vorbringen nach insbesondere aus der grenzüberschreitenden Umstrukturierung ihres Konzerns ergebenden „Situation einzigartiger Einschnürung“ von den streitigen Bestimmungen unmittelbar und individuell betroffen ist.
118. Fünftens sind auch die langfristigen Gaslieferungsverträge, die die Klägerin vor dem Inkrafttreten der angefochtenen Richtlinie mit mehreren Kraftwerken geschlossen zu haben behauptet, nicht geeignet, sie im Hinblick auf die streitigen Bestimmungen zu individualisieren. Diese Bestimmungen regeln nämlich generell und abstrakt die Verpflichtungen der dem Emissionshandelssystem unterliegenden Betreiber, ohne jedoch die Voraussetzungen und Modalitäten der Zuteilung oder Einziehung von Emissionszertifikaten durch die Mitgliedstaaten genau festzulegen (siehe oben, Randnrn. 112 bis 116). Folglich kann sich eine etwaige Auswirkung auf die Erfüllung dieser Gaslieferungsverträge nur aus den nationalen Vorschriften über die Zuteilung der Zertifikate ergeben, so dass die Klägerin insoweit nicht mit Erfolg vortragen kann, unmittelbar betroffen zu sein. Im Übrigen trägt, wie der Rat geltend macht, die Klägerin selbst vor, dass diese Gaslieferungsverträge zumindest teilweise Kraftwerke beträfen, die zu ihrer Unternehmensgruppe gehörten. Soweit die Tätigkeit dieser Kraftwerke in den Anwendungsbereich von Anhang I der angefochtenen Richtlinie fällt, da sie das dort genannte Produktionsvolumen übersteigt, wird die Klägerin somit auf der Grundlage der NZP und der geltenden nationalen Vorschriften zwangsläufig über Emissionszertifikate für die Zwecke der Verbrennung der in Rede stehenden Gase verfügen. Schließlich hat die Klägerin, ungeachtet der Tatsache, dass die Stromerzeugung grundsätzlich eine von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfasste Tätigkeit darstellt, weder angegeben, inwieweit sie durch diese Gaslieferungsverträge an Drittkraftwerke gebunden ist, noch erklärt, ob diese aufgrund ihrer Einbeziehung in diesen Anhang für eigene Rechnung Emissionszertifikate hätten erhalten können oder ihrer bedurft hätten, noch erläutert, unter welchen Voraussetzungen sich ein etwaiger Mangel an Zertifikaten auf die Erfüllung dieser Verträge hätte auswirken können. Unter diesen Umständen ist zu folgern, dass die Klägerin nicht dargetan hat, dass sie aufgrund der behaupteten Auswirkung auf die Erfüllung der in Rede stehenden langfristigen Gaslieferungsverträge von den streitigen Bestimmungen unmittelbar und individuell betroffen ist.
119. Sechstens ist zu dem wenig substantiierten Vorbringen der Klägerin, sie sei an dem Entscheidungsverfahren beteiligt gewesen, das zum Erlass der angefochtenen Richtlinie geführt habe, darauf hinzuweisen, dass die Tatsache, dass eine Person in irgendeiner Weise in das Verfahren eingreift, das zum Erlass eines Gemeinschaftsrechtsakts führt, nur dann geeignet ist, diese Person hinsichtlich des fraglichen Rechtsakts zu individualisieren, wenn die anwendbare Gemeinschaftsregelung ihr bestimmte Verfahrensgarantien einräumt. Vorbehaltlich einer ausdrücklich gegenteiligen Bestimmung verlangen aber weder das Verfahren zur Ausarbeitung allgemein geltender Rechtsakte noch diese Rechtsakte selbst gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts wie etwa dem Recht auf Anhörung eine Beteiligung der Betroffenen, da davon ausgegangen wird, dass deren Interessen durch die für den Erlass dieser Rechtsakte zuständigen politischen Instanzen wahrgenommen werden. Mangels ausdrücklich garantierter Verfahrensrechte widerspräche es daher dem Wortlaut und dem Geist von Art. 230 EG, wenn ein Einzelner nur aufgrund seiner Beteiligung an der Vorbereitung eines Rechtssetzungsakts später gegen diesen Klage erheben dürfte (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Gerichts vom 14. Dezember 2005, Arizona Chemical u. a./Kommission, T‑369/03, Slg. 2005, II‑5839, Randnrn. 72 bis 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
120. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass zum einen das Verfahren zur Ausarbeitung und zur Annahme der angefochtenen Richtlinie gemäß Art. 175 Abs. 1 EG und Art. 251 EG ein Entscheidungsverfahren war, das die gemeinsame Beteiligung des Rates und des Parlaments als Gemeinschaftsgesetzgeber umfasste und in die Annahme einer Maßnahme mit allgemeiner Geltung mündete, ohne dass in diesem Zusammenhang irgendein Eingreifen der Marktteilnehmer vorgesehen wäre, und dass zum anderen die Klägerin weder geltend gemacht noch dargetan hat, dass sie über Verfahrensrechte verfügt habe, die geeignet wären, ihre Klagebefugnis im Sinne der oben in Randnr. 119 angeführten Rechtsprechung zu begründen.
121. Folglich ist die behauptete Beteiligung der Klägerin an dem Entscheidungsverfahren, das zur Annahme der angefochtenen Richtlinie geführt hat, nicht geeignet, sie im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG zu individualisieren, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob sie insoweit unmittelbar betroffen ist.
122. Nach alledem ist die Klägerin von den streitigen Bestimmungen entweder nicht individuell oder nicht unmittelbar im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG betroffen, und ihr Antrag auf Nichtigerklärung ist für unzulässig zu erklären, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob die streitigen Bestimmungen sich von der angefochtenen Richtlinie als Ganzes trennen lassen.
123. Dieses Ergebnis wird im Übrigen durch Art. 263 Abs. 4 AEUV nicht in Frage gestellt. Wie oben in Randnr. 114 ausgeführt worden ist, verfügen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der angefochtenen Richtlinie nämlich über einen weiten Ermessensspielraum. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin kann diese Richtlinie daher jedenfalls nicht als ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV angesehen werden.
II – Zur Zulässigkeit des Schadensersatzantrags
A – Vorbringen der Parteien
124. Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, machen geltend, dass auch der Schadensersatzantrag unzulässig sei.
125. Der Antrag der Klägerin genüge nicht den Anforderungen des Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung, da der behauptete Schaden zum einen weder unmittelbar drohe, noch sicher, noch hinreichend genau bezeichnet sei und zum anderen zwischen der angefochtenen Richtlinie und diesem Schaden kein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehe. Das Parlament fügt dem hinzu, dass die Klägerin den ihr obliegenden Beweis schuldig geblieben sei, dass die Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers in schwerwiegender Weise und offensichtlich gegen die geltend gemachten höherrangigen Rechtsnormen wie den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße. So habe sie nicht dargetan, dass die Sektoren Chemie und Aluminium dasselbe Marktsegment besetzten wie der Roheisen- und Stahlsektor und dass diese Sektoren so erhebliche unmittelbare CO 2 -Emissionen erzeugten, dass sie von vornherein in die angefochtene Richtlinie hätten einbezogen werden müssen.
126. Zum Vorliegen eines Schadens führt der Rat aus, dass die angefochtene Richtlinie, obwohl sie bereits in Kraft gewesen sei, zum Zeitpunkt der Einreichung der Klageschrift noch nicht die geringste Auswirkung auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin gehabt habe und dass etwaige künftige Auswirkungen nicht als unmittelbar bevorstehend angesehen werden könnten. Außerdem habe die Klägerin nicht das Vorliegen eines sicheren Schadens nachgewiesen, was in diesem Stadium aus mehreren Gründen unmöglich sei. Das Parlament und der Rat tragen hierzu insbesondere vor, dass die angebliche Situation der Klägerin als „Nettokäufer von Zertifikaten“ nur hypothetischer Natur und keine unmittelbare, zwangsläufige und sichere Folge der angefochtenen Richtlinie sei.
127. Nach Ansicht des Rates hängt die Frage, ob die Klägerin zum „Nettokäufer von Zertifikaten“ werde, von einer Reihe unbekannter und im vorliegenden Fall nicht feststehender Faktoren ab, wie der von den nationalen Behörden im Einklang mit den NZP ursprünglich zugeteilten Gesamtmenge an Zertifikaten und den Kosten einer Emissionsverringerung im Verhältnis zum Preis der Zertifikate auf dem Handelsmarkt. Die Gesamtmenge der zugeteilten Zertifikate hänge ihrerseits von verschiedenen Faktoren ab, wie dem für den Mitgliedstaat festgelegten Reduktionsziel, seiner etwaigen Absicht, auf dem Weltmarkt nach dem Kyoto-Protokoll vorgesehene Emissionseinheiten zu kaufen, sowie seiner Entscheidung über die Modalitäten der Aufteilung der notwendigen Emissionsverringerung auf die verschiedenen Industriesektoren. Sollte sich herausstellen, dass die zugeteilten Zertifikate nicht ausreichten, hingen die Auswirkungen der angefochtenen Richtlinie unter Berücksichtigung der entsprechenden Investitionskosten zudem von der Wahl des Betreibers zwischen dem Kauf zusätzlicher Zertifikate zur Abdeckung seiner CO 2 -Emissionen auf der einen und der Vornahme von Maßnahmen zur Emissionsverringerung auf der anderen Seite ab.
128. Dass es an einem sicheren Schaden fehle, werde dadurch bestätigt, dass die angefochtene Richtlinie in den Kriterien 3 und 7 ihres Anhangs III ausdrücklich vorsehe, dass die Menge der Zertifikate mit dem Potenzial – auch dem technischen Potenzial – der Tätigkeiten der Marktteilnehmer in Einklang stehen müsse und dass der NZP Vorleistungen wie die Verringerung von CO 2 -Emissionen, die die Klägerin seit 1990 vorgenommen zu haben behaupte, berücksichtigen könne. Im Übrigen könne die Klägerin nicht genutzte Zertifikate zwischen den Anlagen innerhalb ihres Konzerns grenzüberschreitend übertragen, da diese Möglichkeit gerade die Grundlage des Emissionshandelssystems sei.
129. Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, führen aus, dass es der Klägerin nicht gelungen sei, nachzuweisen, dass sie mit der Umsetzung der Richtlinie verbundene Zusatzkosten wie die Kosten für das mit der Überwachung der CO 2 -Emissionen und der Berichterstattung betraute Personal werde aufbringen müssen, da diese Verpflichtungen bereits in Anwendung der Richtlinie 96/61 bestünden. Nach Ansicht des Rates ist das Vorbringen der Klägerin zu den mit der Beschäftigung von zusätzlichem Personal verbundenen Kosten und zum Verlust künftiger Gewinne für den Nachweis eines künftigen Schadens zu unbestimmt und ungenau. Auch seien die etwaigen Verluste von Marktanteilen oder Gewinnen nicht sicher und von unbekannten und von der angefochtenen Richtlinie unabhängigen Faktoren, beispielsweise der Entwicklung der Preise für Roheisen und Stahl und derjenigen konkurrierender Erzeugnisse, abhängig.
130. Das Parlament und der Rat, unterstützt durch die Kommission, sind der Ansicht, dass die Klägerin auch nicht das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der angefochtenen Richtlinie und dem ihr angeblich künftig entstehenden Schaden nachgewiesen habe. Angesichts des den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Ermessens könne der Klägerin durch die angefochtene Richtlinie als solche nicht unmittelbar ein Schaden entstehen, da sich dieser nur aus den nationalen Umsetzungsvorschriften und insbesondere der Zuteilung von Emissionszertifikaten ergeben könne.
131. Die Klägerin meint, ihr Schadensersatzantrag genüge den Anforderungen des Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung und sei daher zulässig.
B – Würdigung durch das Gericht
132. Gemäß Art. 21 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 53 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung muss die Klageschrift den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Darstellung muss aus sich selbst heraus hinreichend klar und deutlich sein, damit der Beklagte seine Verteidigung vorbereiten und das Gericht, gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, über die Klage entscheiden kann. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage daher erforderlich, dass sich die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sich die Klage stützt, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben. Insbesondere genügt eine Klage auf Ersatz von Schäden, die ein Gemeinschaftsorgan verursacht haben soll, diesen Erfordernissen nur, wenn sie Angaben enthält, anhand deren sich das dem Organ vom Kläger vorgeworfene Verhalten bestimmen lässt, die Gründe angibt, aus denen nach Auffassung des Klägers ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden besteht, sowie Art und Umfang dieses Schadens bezeichnet (Urteile des Gerichts vom 3. Februar 2005, Chiquita Brands u. a./Kommission, T‑19/01, Slg. 2005, II‑315, Randnrn. 64 und 65, vom 10. Mai 2006, Galileo International Technology u. a./Kommission, T‑279/03, Slg. 2006, II‑1291, Randnrn. 36 und 37, vom 13. Dezember 2006, Abad Pérez u. a./Rat und Kommission, T‑304/01, Slg. 2006, II‑4857, Randnr. 44, und É. R. u. a./Rat und Kommission, T‑138/03, Slg. 2006, II‑4923, Randnr. 34, Beschluss des Gerichts vom 27. Mai 2004, Andolfi/Kommission, T‑379/02, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 41 und 42).
133. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Klageschrift diesen Formerfordernissen genügt und dass das Vorbringen des Parlaments und des Rates hierzu, das überwiegend die Beurteilung der Begründetheit, nicht aber die der Zulässigkeit des Schadensersatzantrags betrifft, zurückzuweisen ist. Die Klägerin hat nämlich in der Klageschrift genügend Anhaltspunkte vorgetragen, die die Feststellung ermöglichen, welches Verhalten dem Gemeinschaftsgesetzgeber vorgeworfen wird, aus welchen Gründen sie einen Kausalzusammenhang zwischen diesem Verhalten und dem von ihr geltend gemachten Schaden für gegeben hält sowie welcher Art dieser Schaden ist und welchen Umfang er hat; im Übrigen haben diese Anhaltspunkte dem Parlament und dem Rat ermöglicht, sich insoweit sachgerecht zu verteidigen, indem sie Argumente vorgetragen haben, mit denen in Wirklichkeit dargetan werden soll, dass der Schadensersatzantrag unbegründet sei.
134. Zu dem behaupteten rechtswidrigen Verhalten des Parlaments und des Rates ist festzustellen, dass die Klägerin im Einklang mit den in der Rechtsprechung anerkannten Erfordernissen (Urteile des Gerichtshofs vom 4. Juli 2000, Bergaderm und Goupil/Kommission, C‑352/98 P, Slg. 2000, I‑5291, Randnrn. 39 ff., und vom 12. Juli 2005, Kommission/CEVA und Pfizer, C‑198/03 P, Slg. 2005, I‑6357, Randnrn. 61 ff.) ausführliche Argumente vorgetragen hat, die auf den Nachweis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen mehrere Normen – und zwar auch gegen höherrangige Rechtsnormen – gerichtet sind, die wie der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Niederlassungsfreiheit bezwecken, dem Einzelnen Rechte zu verleihen.
135. In Bezug auf den Schaden ist zunächst festzustellen, dass dieser in Anbetracht der zum Zeitpunkt der Einreichung der Klageschrift gegebenen Umstände schon deshalb zwangsläufig zukünftiger Natur sein musste, weil die Umsetzung der angefochtenen Richtlinie in die nationalen Rechtsordnungen noch im Gang war und die Mitgliedstaaten mit der Vorbereitung ihrer NZP und ihrer Rechtsvorschriften für die erste Zuteilungsperiode erst begonnen hatten. Außerdem konnte die Klägerin in Anbetracht des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Emissionshandelssystems in ihrem Hoheitsgebiet in Umsetzung ihrer NZP (siehe oben, Randnr. 116) bei Klageerhebung nicht den genauen Umfang dieses künftigen Schadens angeben. Unter solchen besonderen Umständen, auf die die Klägerin Bezug genommen hat, ist es aber nicht unerlässlich, als Zulässigkeitsvoraussetzung in der Klageschrift den genauen Umfang des Schadens anzugeben, und erst recht nicht, die Höhe des begehrten Schadensersatzes zu beziffern, da dies in jedem Fall bis zum Stadium der Erwiderung möglich ist, sofern sich der Kläger auf derartige Umstände beruft und die Tatsachen angibt, die eine Beurteilung von Art und Umfang des Schadens erlauben, damit der Beklagte sich verteidigen kann (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse des Gerichts Andolfi/Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnrn. 48 und 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 22. Juli 2005, Polyelectrolyte Producers Group/Rat und Kommission, T‑376/04, Slg. 2005, II‑3007, Randnr. 55).
136. Ferner hat die Klägerin genügend Tatsachen vorgetragen, die ihren künftigen Schaden einschließlich seiner Art, seines Umfangs und seiner verschiedenen Bestandteile qualifizieren, um den Erfordernissen des Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung zu genügen. Sie hat nämlich in der Klageschrift erstens auf den Schaden Bezug genommen, der sich aus den Zusatzkosten ergebe, die durch die Beschäftigung von Personal entstünden, das die Überwachung und Berichterstattung nach den Art. 14 und 15 der angefochtenen Richtlinie vornehmen müsse. Zudem hat sie in ihrer Stellungnahme zu den Unzulässigkeitseinreden eine konkrete bezifferte Schätzung dieser Zusatzkosten abgegeben. Zweitens hat die Klägerin einen sowohl materiellen als auch immateriellen Schaden geltend gemacht, der sich aus dem Verlust von Marktanteilen und der Schädigung ihres Ansehens auf dem Gebiet des Umweltschutzes dadurch ergebe, dass versäumt worden sei, die konkurrierenden Sektoren der Nichteisenmetalle und der chemischen Erzeugnisse in den Anwendungsbereich der angefochtenen Richtlinie einzubeziehen. Drittens hat sich die Klägerin, gestützt auf bezifferte Schätzungen (siehe oben, Randnrn. 80 und 81), darauf berufen, dass aufgrund ihrer Situation als „Nettokäufer von Zertifikaten“ und des vorhersehbaren Anstiegs der Kosten für diese Zertifikate, der geeignet sei, ihren Bruttogewinn aufzuzehren, ein Schaden entstehe. Viertens hat sie beantragt, den Verlust des Gewinns zu ersetzen, der sich daraus ergebe, dass es ihr nicht möglich sei, ihre Strategie der grenzüberschreitenden Umstrukturierung umzusetzen. Folglich sind die Mindestvoraussetzungen für die Bezeichnung des Schadens im vorliegenden Fall erfüllt.
137. Zum Kausalzusammenhang zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem Schaden hat die Klägerin schließlich, der Logik ihrer Ausführungen entsprechend, hinreichend genau geltend gemacht, dass der Mitgliedstaat bei der Umsetzung der streitigen Bestimmungen und der sich für die Marktteilnehmer daraus ergebenden Verpflichtungen in nationales Recht keinen Ermessensspielraum habe und daher jeder ihr eventuell entstehende Schaden dem aus ihrer Sicht rechtswidrigen Verhalten des Gemeinschaftsgesetzgebers zuzuschreiben sei. Dem Vorbringen des Parlaments, des Rates und der Kommission hierzu, dass der Antrag der Klägerin nur dann zulässig wäre, wenn sie einen solchen Kausalzusammenhang „dargetan“ oder „bewiesen“ hätte, kann nicht gefolgt werden, da eine solche Beurteilung die Prüfung der Begründetheit dieses Antrags, nicht aber die seiner Zulässigkeit betrifft.
138. Nach alledem sind die Unzulässigkeitseinreden des Parlaments und des Rates zurückzuweisen, soweit sie den Schadensersatzantrag betreffen.
III – Zur Begründetheit des Schadensersatzantrags
A – Zu den Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft
139. Nach ständiger Rechtsprechung wird die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft für ein rechtswidriges Verhalten ihrer Organe im Sinne von Art. 288 Abs. 2 EG nur dann ausgelöst, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind, und zwar muss das den Organen vorgeworfene Verhalten rechtswidrig sein, es muss ein Schaden entstanden sein, und zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden muss ein Kausalzusammenhang bestehen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 9. November 2006, Agraz u. a./Kommission, C‑243/05 P, Slg. 2006, I‑10833, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, Urteile des Gerichts vom 16. November 2006, Masdar [UK]/Kommission, T‑333/03, Slg. 2006, II‑4377, Randnr. 59, Abad Pérez u. a./Rat und Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 97, É. R. u. a./Rat und Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 99, und vom 12. September 2007, Nikolaou/Kommission, T‑259/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 37).
140. Da diese Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen, ist die Klage insgesamt abzuweisen, wenn auch nur eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Abad Pérez u. a./Rat und Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 99, und É. R. u. a./Rat und Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).
141. In Bezug auf die erste Voraussetzung bedarf es des Nachweises eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen (Urteil Bergaderm und Goupil/Kommission, oben in Randnr. 134 angeführt, Randnr. 42). Für die Beurteilung der Frage, ob das Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes erfüllt ist, besteht das entscheidende Kriterium darin, ob das betreffende Gemeinschaftsorgan die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat. Nur wenn dieses Organ lediglich über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Ermessensspielraum verfügt, kann die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen (Urteil des Gerichtshofs vom 10. Dezember 2002, Kommission/Camar und Tico, C‑312/00 P, Slg. 2002, I‑11355, Randnr. 54, Urteile des Gerichts vom 12. Juli 2001, Comafrica und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, T‑198/95, T‑171/96, T‑230/97, T‑174/98 und T‑225/99, Slg. 2001, II‑1975, Randnr. 134, Abad Pérez u. a./Rat und Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 98, und É. R. u. a./Rat und Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 100).
142. Zunächst ist zu prüfen, ob die von der Klägerin geltend gemachten Rechtswidrigkeitsgründe im Licht der oben in Randnr. 141 aufgeführten Kriterien durchgreifen.
143. Hierzu ist im Kontext der vorliegenden Rechtssache festzustellen, dass ein etwaiger hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die in Rede stehenden Rechtsnormen auf einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des weiten Ermessens beruhen muss, über das der Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Ausübung der Befugnisse im Umweltbereich gemäß den Art. 174 EG und 175 EG verfügt (vgl. in diesem Sinne entsprechend zum einen Urteile des Gerichts vom 1. Dezember 1999, Boehringer/Rat und Kommission, T‑125/96 und T‑152/96, Slg. 1999, II‑3427, Randnr. 74, und vom 10. Februar 2004, Afrikanische Frucht-Compagnie/Rat und Kommission, T‑64/01 und T‑65/01, Slg. 2004, II‑521, Randnr. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung, und zum anderen Urteile des Gerichts vom 11. September 2002, Pfizer Animal Health/Rat, T‑13/99, Slg. 2002, II‑3305, Randnr. 166, und vom 26. November 2002, Artegodan/Kommission, T‑74/00, T‑76/00, T‑83/00 bis T‑85/00, T‑132/00, T‑137/00 und T‑141/00, Slg. 2002, II‑4945, Randnr. 201). Bei der Ausübung dieses Ermessens geht es nämlich darum, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber zum einen komplexe und ungewisse ökologische, wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklungen vorhersehen und bewerten und zum anderen die in Art. 174 EG genannten verschiedenen Ziele, Grundsätze und Interessen gegeneinander abwägen und miteinander versöhnen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 14. Juli 1998, Safety Hi-Tech, C‑284/95, Slg. 1998, I‑4301, Randnrn. 36 und 37, vom 15. Dezember 2005, Griechenland/Kommission, C‑86/03, Slg. 2005, I‑10979, Randnr. 88, und Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 42 angeführt, Randnrn. 57 bis 59, vgl. auch entsprechend Urteil Chiquita Brands u. a./Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 228). Dies schlägt sich in der angefochtenen Richtlinie in der Festlegung einer Reihe von teilweise gegenläufigen Haupt- und Nebenzielen nieder (vgl. in diesem Sinne Urteile Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 42 angeführt, Randnrn. 28 bis 33, und Deutschland/Kommission, oben in Randnr. 114 angeführt, Randnrn. 121 bis 125 und 136 bis 139).
144. Demnach ist zu prüfen, ob der behauptete Verstoß gegen die von der Klägerin herangezogenen Rechtsvorschriften in einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des weiten Ermessens besteht, über das der Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Annahme der angefochtenen Richtlinie verfügte.
145. Da sich das Vorbringen, auf das die Klägerin die ersten beiden Rechtswidrigkeitsgründe stützt, sehr weitgehend überschneidet, sind diese Gründe zusammen zu prüfen.
B – Zum Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Eigentumsrecht, die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
1. Vorbringen der Parteien
146. Die Klägerin trägt vor, die streitigen Bestimmungen seien ein Eingriff in ihr Eigentumsrecht und in ihre Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung, die durch die Gemeinschaftsrechtsordnung garantierte Grundrechte seien, was durch die Art. 16 und 17 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1) bestätigt werde. Zwingende Maßnahmen, die die „Nutzung des Eigentums“ von bestimmten Voraussetzungen abhängig machten, seien nämlich geeignet, die Ausübung des Eigentumsrechts zu beschränken, und tasteten, wenn diese Maßnahmen einem Einzelnen diese Ausübung verwehrten, dieses Recht in seinem Wesensgehalt an.
147. Die Klägerin sieht in den streitigen Bestimmungen einen unverhältnismäßigen Eingriff in den Wesensgehalt ihres Eigentumsrechts und ihrer Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung, da sie sie verpflichteten, ihre Anlagen unter wirtschaftlich nicht tragfähigen Bedingungen zu betreiben. Zum einen führten diese Bestimmungen dazu, dass die Klägerin zum „Nettokäufer von Zertifikaten“ werde (siehe oben, Randnrn. 75 und 77), da es ihr trotz ihrer in der Vergangenheit unternommenen Anstrengungen und anders als den Marktteilnehmern in anderen Sektoren technisch nicht möglich sei, ihre CO 2 -Emissionen in naher Zukunft stärker zu verringern (siehe oben, Randnrn. 77 und 78). Zum anderen sei sie in Anbetracht der besonderen Wettbewerbsbedingungen im Stahlsektor (siehe oben, Randnr. 79) nicht mehr in der Lage, den Anstieg ihrer Produktionskosten auf ihre Kunden abzuwälzen (siehe oben, Randnr. 80). Folglich werde sie mit Verlust produzieren und entweder den Betrieb unrentabler und ineffizienter Anlagen im Binnenmarkt fortsetzen oder sie stilllegen und in Länder verlagern müssen, die keine Verpflichtungen zur Emissionsverringerung nach dem Kyoto-Protokoll vorschrieben.
148. In der Erwiderung trägt die Klägerin vor, die angefochtene Richtlinie führe zu einer dreifachen Wettbewerbsverzerrung. Während erstens die Gemeinschaftsindustrie Zwängen zur Verringerung der CO 2 -Emissionen unterliege, die die Produktionskosten erhöhten, blieben die Produktionskosten in Drittländern unverändert, ja würden sogar aufgrund von Vorhaben im Rahmen des im Kyoto-Protokoll vorgesehenen Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (siehe oben, Randnr. 5) sogar noch sinken. Zweitens stiegen die Produktionskosten im Binnenmarkt aufgrund von Abweichungen zwischen den nationalen Emissionsreduktionszielen und den nationalen Politiken bei der Zuteilung von Zertifikaten unterschiedlich stark. Drittens gelte das Emissionshandelssystem allein für die Herstellung bestimmter Erzeugnisse, darunter Stahl. Nach Ansicht der Klägerin müssen jedoch alle Erzeugnisse unter Berücksichtigung sowohl des Produktionsverfahrens als auch des Lebenszyklus des betreffenden Erzeugnisses im Verhältnis zur emittierten CO 2 -Menge in gleicher Weise erfasst werden.
149. Die Klägerin hält die angefochtene Richtlinie nicht für geeignet, den Anlagenbetreibern einen Anreiz zur Verringerung ihrer Emissionen zu bieten. Sie ermutige zum einen nicht zu technischen Innovationen, da sie vorsehe, dass Neuanlagen Zertifikate nach Maßgabe ihres tatsächlichen Bedarfs erhielten, was die Hersteller dazu veranlasse, unrentable Anlagen weiterzubetreiben. Zum anderen würden die Emissionsverringerungen einschließlich der in der Vergangenheit im europäischen Stahlsektor unternommenen erheblichen Reduktionsbemühungen durch die angefochtene Richtlinie nicht belohnt. Die Stilllegung einer ineffizienten Anlage führe vielmehr zum Verlust der zugeteilten Zertifikate, da diese Zertifikate nicht auf Anlagen in einem anderen Mitgliedstaat übertragen werden könnten (siehe oben, Randnrn. 83 bis 85). Die Hersteller von Roheisen oder Stahl würden somit davon abgehalten, ihre Emissionen zu verringern oder ihre Produktion auf effizientere und damit umweltfreundlichere Anlagen zu verlagern. Angesichts dieser schwerwiegenden Verletzung ihres Eigentumsrechts, ihrer Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und ihrer Niederlassungsfreiheit bezweifelt die Klägerin darüber hinaus, dass das Ziel der angefochtenen Richtlinie, die Treibhausgasemissionen zu senken und die Umwelt zu schützen, erreicht werden könne. Für den Stahlsektor lasse sich wegen des Weiterbetriebs ineffizienter Anlagen und der Verlagerung der Stahlerzeugung in Drittländer insgesamt gesehen vermutlich überhaupt keine Emissionsverringerung erzielen.
150. Diesem Vorbringen, mit dem der Verstoß gegen ihr Eigentumsrecht, ihre Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und ihre Niederlassungsfreiheit dargetan werde, sei zu entnehmen, dass die streitigen Bestimmungen auch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstießen. Nach diesem Grundsatz setze die Rechtmäßigkeit der Handlungen und Maßnahmen der Gemeinschaft voraus, dass diese Handlungen und Maßnahmen zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich seien. Auch Art. 5 Abs. 3 EG verlange, dass die Rechtsakte der Gemeinschaft nicht die Grenzen dessen überschritten, was für die Erreichung der Ziele des EG-Vertrags erforderlich sei. Ferner sei dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stünden, die am wenigsten belastende zu wählen, und die auferlegten Belastungen dürften nicht gegenüber den angestrebten Zielen unangemessen sein. Die Einbeziehung der Anlagen zur Produktion von Roheisen oder Stahl in Anhang I der angefochtenen Richtlinie sei jedoch von Anfang an nicht geeignet gewesen, zur Erreichung der Emissionsreduktions- und Umweltschutzziele der angefochtenen Richtlinie beizutragen, und die streitigen Bestimmungen erlegten der Klägerin eine schwere und übermäßige Belastung auf, die sie in ihrer Existenz gefährde (siehe oben, Randnrn. 147 bis 149).
151. Das Parlament und der Rat bestreiten einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Eigentumsrecht der Klägerin und ihre Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung durch die angefochtene Richtlinie. Selbst wenn man davon ausginge, dass die sich aus ihr für die Klägerin ergebenden Verpflichtungen insoweit Beschränkungen seien, könnten diese in Anbetracht des mit der angefochtenen Richtlinie und dem Emissionshandelssystem verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels, nämlich dem Umweltschutz, nicht als unverhältnismäßiger, nicht tragbarer Eingriff in diese Rechte qualifiziert werden.
152. Daher seien der erste und der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
2. Würdigung durch das Gericht
153. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Eigentumsrecht und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung zwar zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehören, dass diese Grundsätze jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen können, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden müssen. Folglich können die Ausübung des Eigentumsrechts und die freie Berufsausübung Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 30. Juni 2005, Alessandrini u. a./Kommission, C‑295/03 P, Slg. 2005, I‑5673, Randnr. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil Chiquita Brands u. a./Kommission, oben in Randnr. 132 angeführt, Randnr. 220).
154. Zu dem geltend gemachten Eingriff in das Eigentumsrecht ist festzustellen, dass die Klägerin, abgesehen von der sehr allgemeinen Behauptung, die streitigen Bestimmungen führten dazu, dass sie ihre Anlagen zur Stahlerzeugung im Binnenmarkt nicht mehr rentabel werde betreiben können, nicht angegeben hat, inwieweit ihr Eigentumsrecht an bestimmten materiellen oder immateriellen zu ihren Produktionsmitteln gehörenden Gütern durch die Anwendung dieser Bestimmungen oder ihre Umsetzung in nationales Recht tatsächlich beeinträchtigt oder gar seines Inhalts beraubt werde. Sie hat auch nicht angegeben, welche dieser Produktionsanlagen von den streitigen Bestimmungen besonders betroffen sein sollen und aus welchen Gründen eine solche Beeinträchtigung unter Berücksichtigung der individuellen Lage jeder einzelnen dieser Einrichtungen im Hoheitsgebiet ihrer Niederlassung und im Licht des einschlägigen NZP bestehen soll. Die Klägerin hat insoweit nur vage geltend gemacht, sie könne bestimmte ineffiziente und unrentable Anlagen nicht stilllegen, um die ihnen zugeteilten Emissionszertifikate nicht zu verlieren, jedoch nicht erläutert, inwieweit diese fehlende Effizienz und Rentabilität sowie die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten speziell der Anwendung der streitigen Bestimmungen als solchen zuzuschreiben sein sollen. Ihren eigenen Aussagen zufolge bestanden diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten aber bereits lange vor dem Zusammenschluss von 2001 (siehe oben, Randnr. 30) und bildeten einen seiner wirtschaftlichen Gründe.
155. Im Übrigen ist es der Klägerin in Bezug auf die behauptete Verletzung des Eigentumsrechts und der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung insgesamt weder in ihren Schriftsätzen noch in der mündlichen Verhandlung gelungen, plausibel und auf konkrete Nachweise gestützt darzustellen, wodurch und in welchem Umfang sie aufgrund der Umsetzung der angefochtenen Richtlinie zum „Nettokäufer von Emissionszertifikaten“ werden könnte, deren Kosten sie nicht auf ihre Kunden abwälzen könne. Sie hat nämlich nicht geltend gemacht, dass sie während der ersten Zuteilungsperiode, die im Jahr 2007 endete, wegen eines etwaigen Mangels an Zertifikaten in einer ihrer Produktionsanlagen im Binnenmarkt zusätzliche Emissionszertifikate hätte erwerben müssen. In der mündlichen Verhandlung hat sie auf eine Frage des Gerichts vielmehr eingeräumt, im Jahr 2006 überschüssige Zertifikate auf dem Handelsmarkt verkauft und daraus einen Gewinn in Höhe von 101 Millionen Euro erzielt zu haben, was im Sitzungsprotokoll vermerkt worden ist. Es erscheint daher ausgeschlossen, dass sich aus den streitigen Bestimmungen insgesamt zwangsläufig nachteilige finanzielle Folgen ergeben, die einen Eingriff in das Eigentumsrecht der Klägerin und in ihre Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung darstellen.
156. Die Klägerin hat zudem im Rahmen ihres Schadensersatzantrags nicht vorgetragen, dass in einigen ihrer Produktionsanlagen im Binnenmarkt aufgrund der Anwendung der streitigen Bestimmungen Verluste entstanden seien, und sie hat keine genauen Zahlen darüber vorgelegt, wie sich die Rentabilität dieser Anlagen entwickelt hat, seit das Emissionshandelssystem einsatzbereit ist. Sie hat auch genaue Angaben zum einen dazu gemacht, wie sich diese einzelnen Anlagen jeweils an die verschiedenen Emissionsreduktionsziele in den betroffenen Mitgliedstaaten angepasst haben, von denen einige, wie das Königreich Spanien, nach der Entscheidung 2002/358 und dem Lastenteilungsplan sogar über die Möglichkeit verfügen, die Emissionen zu steigern, und zum anderen zu der Frage, ob das Kontingent an Emissionszertifikaten, das sie auf der Grundlage der verschiedenen NZP für diese Anlagen beanspruchen konnte, ausgereicht hat oder nicht. Schließlich hat die Klägerin, selbst unterstellt, die einzelnen NZP und nationalen Reduktionsziele könnten sie in ihren Rechten verletzen, weder vorgetragen noch dargetan, dass dieser Eingriff den streitigen Bestimmungen als solchen, nicht aber den innerstaatlichen Rechtsvorschriften zuzuschreiben sei, die die Mitgliedstaaten in Nutzung ihres Spielraums bei der Umsetzung der angefochtenen Richtlinie gemäß Art. 249 Abs. 3 EG erlassen haben.
157. Zum Vorbringen der Klägerin, die Stahlhersteller seien aus technischen und wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, ihre CO 2 -Emissionen stärker zu verringern, genügt der Hinweis, dass Kriterium 3 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, für die Zwecke der Festlegung der zuzuteilenden Menge an Emissionszertifikaten das Potenzial – auch das technische Potenzial – der unter das Emissionshandelssystem fallenden Tätigkeiten zur Emissionsverringerung zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro in der Rechtssache Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., Urteil oben in Randnr. 42 angeführt, Nr. 57). Folglich müssen die Mitgliedstaaten bei der Zuteilung der Zertifikate an die verschiedenen Industriesektoren sowie die in diesen Sektoren tätigen Anlagenbetreiber das Potenzial aller dieser Sektoren und Betreiber, einschließlich des Stahlsektors und der Hersteller von Roheisen oder Stahl, zur Emissionsverringerung berücksichtigen. Außerdem kann nach Kriterium 7 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie „[d]er [NZP] Vorleistungen [zur Emissionsverringerung] berücksichtigen“, so dass es den Mitgliedstaaten zumindest möglich ist, den in dem betreffenden Sektor und von den fraglichen Betreibern bereits unternommenen Anstrengungen zur Verringerung Rechnung zu tragen. Eine eventuelle nicht hinreichende Berücksichtigung dieser Verringerungsmöglichkeit durch einen Mitgliedstaat im Rahmen seiner Rechtsvorschriften zur Umsetzung der angefochtenen Richtlinie kann daher nicht den streitigen Bestimmungen zugeschrieben werden.
158. Unter diesen Umständen erscheint es ausgeschlossen, dass die streitigen Bestimmungen in das Eigentumsrecht der Klägerin und in ihre Berufsfreiheit eingreifen oder dass ihr durch diesen behaupteten Eingriff gar ein Schaden entstehen könnte. Die Klägerin hat folglich weder einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen diese Rechte noch deren übermäßige Einschränkung durch die streitigen Bestimmungen dargetan, noch, dass dieser behauptete Verstoß die Ursache eines ihr entstandenen Schadens sein könnte.
159. Soweit die Klägerin darüber hinaus als eigenständigen Rechtswidrigkeitsgrund einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geltend macht, ergibt sich bereits aus den oben in den Randnrn. 154 bis 158 dargelegten Erwägungen, dass sie das Vorliegen der von ihr behaupteten schweren und übermäßigen Belastung nicht dargetan hat. Auch ist das Hauptargument der Klägerin, die Beteiligung der Stahlhersteller als erwiesenermaßen größte industrielle Emittenten von CO 2 sei kein geeigneter oder zweckmäßiger Beitrag zur Erreichung des Hauptziels der angefochtenen Richtlinie, dem Schutz der Umwelt und der Verringerung von Treibhausgasemissionen, als offensichtlich haltlos zurückzuweisen, ohne dass die Stichhaltigkeit der Behauptungen zu den einzelnen Funktionsmängeln des Emissionshandelssystems (siehe oben, Randnrn. 149 und 150) geprüft zu werden braucht. Schließlich hat die Klägerin jedenfalls nicht nachgewiesen, dass das Emissionshandelssystem als solches zur Erreichung des Ziels einer Verringerung der CO 2 -Emissionen offensichtlich ungeeignet ist und dass der Gemeinschaftsgesetzgeber somit die Grenzen seines weiten Ermessens offenkundig und erheblich überschritten hat.
160. Daher sind die Rechtswidrigkeitsgründe eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Eigentumsrecht, die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als unbegründet zurückzuweisen.
C – Zum Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
1. Vorbringen der Parteien
161. Nach Ansicht der Klägerin verstoßen die streitigen Bestimmungen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
162. Zum einen seien die konkurrierenden Sektoren der Nichteisenmetalle und der chemischen Erzeugnisse ohne jede objektive Rechtfertigung vom Anwendungsbereich der angefochtenen Richtlinie ausgenommen, obwohl sie vergleichbare oder sogar höhere CO 2 -Emissionen erzeugten als der Stahlsektor. Die Klägerin stellt insoweit in Abrede, dass die Einbeziehung des Sektors der chemischen Erzeugnisse mit einer großen Zahl von Anlagen in das Emissionshandelssystem zu einer erheblichen Belastung der Verwaltung führen würde. Das Erfordernis zusätzlichen Verwaltungsaufwands könne als solches eine schwerwiegende Wettbewerbsverzerrung, wie sie im vorliegenden Fall gegeben sei, nicht rechtfertigen. Zudem hätten im Einklang mit dem ursprünglichen Vorschlag zumindest die Großanlagen zur Herstellung chemischer Grunderzeugnisse mit erheblichen Emissionen einbezogen werden müssen. Was den Ausschluss des Sektors der Nichteisenmetalle wie Aluminium angehe (15. Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie), hätten das Parlament und der Rat nicht einmal eine Begründung für diese Ungleichbehandlung vorgebracht. Schließlich sei diesen konkurrierenden Sektoren auch keine andere Maßnahme auferlegt worden, um die genannten Wettbewerbsverzerrungen abzuschwächen. Zum anderen verstoße der Umstand, dass der Stahlsektor und die übrigen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Sektoren ohne objektive Rechtfertigung gleichbehandelt würden, gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da diese Sektoren sich in unterschiedlichen Situationen befänden. Die „Situation einzigartiger Einschnürung“ der Hersteller von Roheisen oder Stahl (siehe oben, Randnrn. 76 ff.) unterscheide diese nämlich von den Herstellern in diesen anderen Sektoren und versetze sie unter allen Teilnehmern am Emissionshandelssystem in die Lage eines „natürlichen Verlierers“.
163. In der Erwiderung führt die Klägerin aus, dass die Sektoren der Nichteisenmetalle und der chemischen Erzeugnisse dem Stahlsektor vergleichbar seien und dass, wie die Praxis der Kommission auf dem Gebiet der Zusammenschlüsse bestätige, zwischen diesen einzelnen Sektoren Wettbewerbsbeziehungen bestünden. So ersetzten die großen Automobilhersteller Stahl zunehmend durch Aluminium für die „externen Teile“ wie Motor, Motorhaube und Türen. Zudem würden auf dem Markt der nichtalkoholischen Getränke Stahldosen zunehmend durch Aluminiumdosen und durch Kunststoffflaschen ersetzt. Im Übrigen sei der Umstand, dass die Gesamtmenge der CO 2 -Emissionen des Stahlsektors die des Aluminium- und des Kunststoffsektors übersteige, allein nicht ausreichend, diese Sektoren voneinander zu unterscheiden, da andere Sektoren mit einem geringeren Emissionsniveau als dem der chemischen Erzeugnisse, nämlich der Sektor Glas, Keramik und Baustoffe sowie der Sektor Papier und Druck ebenfalls von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfasst würden. Wegen der Vergleichbarkeit dieser Sektoren habe das Parlament nämlich vorgeschlagen, die „Anlagen für die Herstellung und Verarbeitung von Aluminium“ und die „chemische Industrie“ in die angefochtene Richtlinie einzubeziehen. Schließlich sei der Umstand, dass der Aluminiumsektor aufgrund des Strompreisanstiegs von der angefochtenen Richtlinie mittelbar betroffen sei, nicht ausreichend, um ihn vom Stahlsektor zu unterscheiden, der dieselben Folgen dieses Ausstiegs zu tragen habe.
164. Nach Ansicht der Klägerin ist eine Berufung auf Art. 24 der angefochtenen Richtlinie in diesem Zusammenhang nicht möglich. Die einseitige Einbeziehung weiterer Tätigkeiten und Anlagen in das Emissionshandelssystem gemäß dieser Bestimmung sei nur eine Möglichkeit, nicht aber eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten und setze die anhand verschiedener Kriterien erteilte Billigung der Kommission voraus. Jedenfalls wäre eine etwaige und ungewisse Einbeziehung der mit dem Stahlsektor konkurrierenden Sektoren durch die Mitgliedstaaten erst vom Jahr 2008 an möglich gewesen und könnte daher einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz während der ersten Zuteilungsperiode nicht heilen. Schließlich fehle es an einer objektiven Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung, da die streitigen Bestimmungen im Verhältnis zu dem verfolgten Zweck des Umweltschutzes weder erforderlich noch angemessen seien.
165. In der mündlichen Verhandlung und in ihrer Stellungnahme zu den Folgen, die aus dem Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a. (oben in Randnr. 42 angeführt) zu ziehen seien, hat die Klägerin ihr Vorbringen zum Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz wiederholt und ergänzt.
166. Das Parlament, der Rat und die Kommission beantragen, diesen Klagegrund zurückzuweisen, zumal der Gerichtshof im Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a. (oben in Randnr. 42 angeführt) abschließend in diesem Sinne entschieden habe.
2. Würdigung durch das Gericht
167. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der vorliegende Rechtswidrigkeitsgrund betreffend einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus zwei Teilen besteht, nämlich zum einen dem Vorwurf einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte und zum anderen dem einer Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte.
168. Zum ersten Teil ist auf die Randnrn. 25 ff. des Urteils Arcelor Atlantique et Lorraine u. a. (oben in Randnr. 42 angeführt) zu verweisen, in denen der Gerichtshof Folgendes ausgeführt hat:
„Zur unterschiedlichen Behandlung vergleichbarer Sachverhalte
25 Die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes durch eine unterschiedliche Behandlung setzt voraus, dass die betreffenden Sachverhalte im Hinblick auf alle Merkmale, die sie kennzeichnen, vergleichbar sind.
26 Die Merkmale unterschiedlicher Sachverhalte und somit deren Vergleichbarkeit sind u. a. im Licht des Ziels und des Zwecks der Gemeinschaftsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, dem die in Rede stehende Maßnahme unterfällt (vgl. in diesem Sinne Urteile [des Gerichtshofs] vom 27. Oktober 1971, Rheinmühlen Düsseldorf, 6/71, Slg. 1971, 823, Randnr. 14, vom 19. Oktober 1977, Ruckdeschel u. a., 117/76 und 16/77, Slg. 1977, 1753, Randnr. 8, vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat, C‑280/93, Slg. 1994, I‑4973, Randnr. 74, sowie vom 10. März 1998, T. Port, C‑364/95 und C‑365/95, Slg. 1998, I‑1023, Randnr. 83).
27 Im vorliegenden Fall ist die Gültigkeit der [angefochtenen] Richtlinie in Bezug auf die Einbeziehung des Stahlsektors in ihren Anwendungsbereich und die Nichteinbeziehung der Sektoren Chemie und Nichteisenmetalle, zu denen … der Kunststoff- und der Aluminiumsektor gehören, zu beurteilen.
28 Nach ihrem Art. 1 hat die [angefochtene] Richtlinie … die Einrichtung eines Systems für den Handel mit Zertifikaten … zum Gegenstand. Wie aus den Nrn. 4.2 und 4.3 des Grünbuchs [vom 8. März 2000 zum Handel mit Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union] hervorgeht, wollte die Kommission mit dieser Richtlinie ein solches System auf der Ebene der Unternehmen einführen, das somit die wirtschaftlichen Tätigkeiten erfassen sollte.
29 Nach ihrem fünften Erwägungsgrund soll die [angefochtene] Richtlinie mit der Einführung dieses Systems zur Erfüllung der Verpflichtungen der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten aus dem Protokoll von Kyoto beitragen, das die Verringerung der Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre auf einem Niveau vorsieht, das eine gefährliche anthropogene Beeinträchtigung des Klimasystems verhindert und dessen Endziel der Schutz der Umwelt ist.
30 Die Umweltpolitik der Gemeinschaft, der der im Ausgangsverfahren fragliche Rechtsetzungsakt zuzuordnen ist und zu dessen Hauptzielen der Umweltschutz gehört, zielt gemäß Art. 174 Abs. 2 EG auf ein hohes Schutzniveau ab und beruht auf dem Vorsorgeprinzip, dem Prinzip der Vorbeugung und dem Verursacherprinzip (vgl. Urteile [des Gerichtshofs] vom 5. Mai 1998, National Farmers’ Union u. a., C‑157/96, Slg. 1998, I‑2211, Randnr. 64, sowie vom 1. April 2008, Parlament/Kommission, C‑14/06 und C‑295/06, Slg. 2008, I‑1649, Randnr. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).
…
34 Daraus ergibt sich, dass sich die verschiedenen Quellen der Emission von Treibhausgasen, die einer wirtschaftlichen Tätigkeit zuzuordnen sind, im Hinblick auf den Gegenstand der [angefochtenen] Richtlinie, deren in Randnr. 29 des vorliegenden Urteils erwähnten Ziele und die Grundsätze, auf die sich die Politik der Gemeinschaft im Umweltbereich stützt, grundsätzlich in einer vergleichbaren Lage befinden, da jede Emission von Treibhausgasen zu einer gefährlichen Störung des Klimas beitragen kann und da jeder Wirtschaftssektor, der solche Gase emittiert, zum Funktionieren des Systems des Handels mit Zertifikaten beitragen kann.
35 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nach dem 25. Erwägungsgrund der [angefochtenen] Richtlinie Politik und Maßnahmen in allen Wirtschaftssektoren der Union durchgeführt werden sollten, um zu erheblichen Emissionsverringerungen zu gelangen, und dass Art. 30 der [angefochtenen] Richtlinie eine Überprüfung im Hinblick auf die Einbeziehung weiterer Sektoren in deren Anwendungsbereich vorsieht.
36 Was die Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Sektoren im Hinblick auf die [angefochtene] Richtlinie angeht, kann das Vorliegen einer Wettbewerbsbeziehung zwischen diesen Sektoren kein entscheidendes Kriterium sein …
37 … auch die von den jeweiligen Sektoren ausgestoßene CO 2 -Menge [ist] unter Berücksichtigung insbesondere der Ziele der [angefochtenen] Richtlinie und des Funktionierens des Systems des Handels mit Zertifikaten, wie diese in den Randnrn. 31 bis 33 des vorliegenden Urteils beschrieben sind, für die Beurteilung der Vergleichbarkeit dieser Sektoren nicht wesentlich.
38 Der Stahlsektor, der Chemiesektor und der Sektor der Nichteisenmetalle befinden sich daher für die Zwecke einer Prüfung der Gültigkeit der [angefochtenen] Richtlinie im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz in einer vergleichbaren Situation und werden unterschiedlich behandelt.
Zur Benachteiligung durch eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte
39 … dem Gemeinschaftsgesetzgeber [kann] die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes nur dann vorgeworfen werden, wenn vergleichbare Sachverhalte ungleich behandelt und dadurch bestimmte Personen gegenüber anderen benachteiligt werden (vgl. Urteile [des Gerichtshofs] vom 13. Juli 1962, Klöckner-Werke und Hoesch/Hohe Behörde, 17/61 und 20/61, Slg. 1972, 655, 692, vom 15. Januar 1985, Finsider/Kommission, 250/83, Slg. 1985, 131, Randnr. 8, sowie vom 22. Mai 2003, Connect Austria, C‑462/99, Slg. 2003, I‑5197, Randnr. 115).
…
42 Die Unterwerfung bestimmter Sektoren … unter das System für den Handel mit Zertifikaten … bedeutet für die betreffenden Unternehmen zum einen, dass sie über eine Genehmigung zur Emission von Treibhausgasen verfügen müssen, und zum anderen, dass sie unter Androhung finanzieller Sanktionen innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine den Gesamtemissionen ihrer Anlagen entsprechende Menge von Zertifikaten abgeben müssen. Übersteigen die Emissionen einer Anlage die Mengen, die dem betreffenden Betreiber im Rahmen eines nationalen Emissionsplans zugeteilt worden sind, so ist dieser verpflichtet, sich über das System für den Handel mit Zertifikaten zusätzliche Zertifikate zu beschaffen.
43 Dagegen bestehen auf Gemeinschaftsebene keine derartigen rechtlichen Verpflichtungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen für die Betreiber von Anlagen, die nicht von Anhang I der [angefochtenen] Richtlinie erfasst werden. Somit schafft die Einbeziehung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in den Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie für die betreffenden Betreiber einen Nachteil gegenüber denjenigen, die hierin nicht einbezogene Tätigkeiten ausüben.
44 Selbst unterstellt, dass … die Unterwerfung unter ein solches System nicht notwendigerweise und systematisch zu nachteiligen wirtschaftlichen Folgen führt, kann das Vorliegen eines Nachteils nicht allein aus diesem Grund verneint werden, da sich der im Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes zu berücksichtigende Nachteil auch auf die Rechtsstellung der durch eine unterschiedliche Behandlung betroffenen Person auswirken kann.
45 Im Übrigen kann … der Nachteil, der den Anlagenbetreibern entstanden ist, die den der [angefochtenen] Richtlinie unterliegenden Sektoren angehören, nicht durch Maßnahmen ausgeglichen werden, die sich nicht nach Gemeinschaftsrecht bestimmen.
Zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung
46 Der Gleichheitsgrundsatz ist jedoch nicht verletzt, wenn die unterschiedliche Behandlung des Stahlsektors einerseits und der Sektoren Chemie und Nichteisenmetalle andererseits gerechtfertigt ist.
47 Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (vgl. in diesem Sinne Urteile [des Gerichtshofs] vom 5. Juli 1977, Bela-Mühle Bergmann, 114/76, Slg. 1977, 1211, Randnr. 7, vom 15. Juli 1982, Edeka Zentrale, 245/81, Slg. 1982, 2745, Randnrn. 11 und 13, vom 10. März 1998, Deutschland/Rat, C‑122/95, Slg. 1998, I‑973, Randnrn. 68 und 71, sowie vom 23. März 2006, Unitymark und North Sea Fishermen’s Organisation, C‑535/03, Slg. 2006, I‑2689, Randnrn. 53, 63, 68 und 71).
48 Da es sich um einen Rechtsetzungsakt der Gemeinschaft handelt, obliegt es dem Gemeinschaftsgesetzgeber, das Vorliegen objektiver Kriterien, die als Rechtfertigung vorgebracht werden, darzutun, und dem Gerichtshof die Umstände vorzutragen, deren dieser bedarf, um das Vorliegen dieser Kriterien zu überprüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile [des Gerichtshofs] vom 19. Oktober 1977, Moulins et Huileries de Pont-à-Mousson und Providence agricole de la Champagne, 124/76 und 20/77, Slg. 1977, 1795, Randnr. 22, sowie vom 10. März 1998, Deutschland/Rat, Randnr. 71).
…
57 Der Gerichtshof hat dem Gemeinschaftsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen zugebilligt, wenn seine Tätigkeit politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen beinhaltet und wenn er komplexe Beurteilungen und Prüfungen vornehmen muss (vgl. Urteil vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, Slg. 2006, I‑403, Randnr. 80). Wenn er ferner ein komplexes System umstrukturieren oder schaffen muss, ist es ihm gestattet, einen schrittweisen Lösungsansatz zugrunde zu legen (vgl. in diesem Sinne Urteile [des Gerichtshofs] vom 29. Februar 1984, Rewe-Zentrale, 37/83, Slg. 1984, 1229, Randnr. 20, vom 18. April 1991, Assurances du crédit/Rat und Kommission, C‑63/89, Slg. 1991, I‑1799, Randnr. 11, sowie vom 13. Mai 1997, Deutschland/Parlament und Rat, C‑233/94, Slg. 1997, I‑2405, Randnr. 43) und insbesondere entsprechend der erworbenen Erfahrung vorzugehen.
58 Selbst wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber über eine solche Befugnis verfügt, ist er jedoch verpflichtet, seine Entscheidung auf Kriterien zu stützen, die objektiv sind und in angemessenem Verhältnis zu dem mit der in Rede stehenden Regelung verfolgten Ziel stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile [des Gerichtshofs] vom 15. September 1982, Kind/EWG, 106/81, Slg. 1982, 2885, Randnrn. 22 und 23, sowie Sermide, Randnr. 28), und dabei alle sachlichen Umstände sowie die zum Zeitpunkt des Erlasses der in Rede stehenden Maßnahme verfügbaren technischen und wissenschaftlichen Daten zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil [des Gerichtshofs] vom 14. Juli 1998, Safety Hi-Tech, C‑284/95, Slg. 1998, I‑4301, Randnr. 51).
59 Bei der Ausübung seiner Beurteilungsbefugnis muss der Gemeinschaftsgesetzgeber neben dem Hauptzweck des Umweltschutzes den betroffenen Interessen in vollem Umfang Rechnung tragen (vgl. in Bezug auf Maßnahmen im Bereich der Landwirtschaft Urteile [des Gerichtshofs] vom 10. März 2005, Tempelman und Van Schaijk, C‑96/03 und C‑97/03, Slg. 2005, I‑1895, Randnr. 48, sowie vom 12. Januar 2006, Agrarproduktion Staebelow, C‑504/04, Slg. 2006, I‑679, Randnr. 37). Bei der Prüfung der mit verschiedenen möglichen Maßnahmen verbundenen Belastungen ist zu bedenken, dass zwar die Bedeutung der angestrebten Ziele sogar beträchtliche Folgen wirtschaftlicher Art zum Nachteil bestimmter Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile [des Gerichtshofs] vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, Slg. 1990, I‑4023, Randnrn. 15 bis 17, sowie vom 15. Dezember 2005, Griechenland/Kommission, C‑86/03, Slg. 2005, I‑10979, Randnr. 96); die Ausübung der Beurteilungsbefugnis des Gemeinschaftsgesetzgebers darf jedoch nicht zu Ergebnissen führen, die offenkundig weniger angemessen als die Ergebnisse aufgrund anderer für diese Ziele ebenfalls geeigneter Maßnahmen sind.
60 Im vorliegenden Fall steht zum einen fest, dass das durch die [angefochtene] Richtlinie eingeführte System für den Handel mit Zertifikaten ein neues und komplexes System ist, dessen Einführung und Funktionieren durch die Einbindung einer zu großen Zahl von Teilnehmern gestört worden wäre, und zum anderen, dass die ursprüngliche Begrenzung des Anwendungsgebiets der [angefochtenen] Richtlinie durch das Ziel geboten war, eine kritische Masse von Teilnehmern zu erhalten, die für die Einführung dieses Systems notwendig war.
61 In Anbetracht der Neuheit und der Komplexität dieses Systems fügte sich die ursprüngliche Begrenzung des Anwendungsbereichs der [angefochtenen] Richtlinie und das gewählte schrittweise Vorgehen, das sich insbesondere auf die in der ersten Phase seiner Umsetzung gesammelte Erfahrung stützt, um die Umsetzung dieses Systems nicht zu stören, in den Wertungsspielraum ein, über den der Gemeinschaftsgesetzgeber verfügte.
62 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gemeinschaftsgesetzgeber zwar berechtigterweise auf ein solches schrittweises Vorgehen bei der Einführung des Systems für den Handel mit Zertifikaten stützen durfte, er ist jedoch insbesondere im Hinblick auf die Ziele der [angefochtenen] Richtlinie und der Gemeinschaftspolitik im Umweltbereich verpflichtet, die eingeführten Maßnahmen insbesondere in Bezug auf die von der [angefochtenen] Richtlinie erfassten Sektoren in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen, wie dies im Übrigen in Art. 30 dieser Richtlinie vorgesehen ist.
63 … jedoch … kann der Wertungsspielraum, über den der Gemeinschaftsgesetzgeber im Rahmen eines schrittweisen Vorgehens verfügte, ihn im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz nicht davon befreien, sich für die Bestimmung der Sektoren, die er als geeignet erachtete, von Anfang an in den Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie einbezogen zu werden, objektiver Kriterien zu bedienen, die auf den zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie verfügbaren technischen und wissenschaftlichen Daten beruhten.
64 Was erstens den Chemiesektor betrifft, geht aus der Entstehungsgeschichte der [angefochtenen] Richtlinie hervor, dass dieser eine besonders hohe Zahl von Anlagen, nämlich rund 34 000 umfasste, und zwar nicht nur im Verhältnis zu den Emissionen, die diese hervorrufen, sondern auch im Verhältnis zu der Zahl von gegenwärtig in den Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie einbezogenen Anlagen, die sich auf rund 10 000 beläuft.
65 Die Einbeziehung dieses Sektors in den Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie hätte daher die Steuerung des Systems für den Handel mit Zertifikaten erschwert und den Verwaltungsaufwand erhöht, so dass die Möglichkeit einer Störung des Funktionierens dieses Systems bei seiner Einführung aufgrund dieser Einbeziehung nicht ausgeschlossen werden kann. Zudem durfte der Gemeinschaftsgesetzgeber davon ausgehen, dass die Vorteile der Nichteinbeziehung des gesamten Sektors bei Einführung des Systems für den Handel mit Zertifikaten die Vorteile seiner Einbeziehung für die Verwirklichung des Ziels der [angefochtenen] Richtlinie überwogen. Somit hat der Gemeinschaftsgesetzgeber rechtlich hinreichend dargetan, dass er sich für die Nichteinbeziehung des gesamten Chemiesektors in den Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie in der ersten Anwendungsphase des Systems für den Handel mit Zertifikaten auf objektive Kriterien gestützt hat.
66 Das Vorbringen …, dass die Einbeziehung der Unternehmen dieses Sektors, die eine eine bestimmte Schwelle übersteigende CO 2 -Menge ausstießen, in den Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie keine Probleme auf Verwaltungsebene hervorgerufen hätte, kann die vorstehende Beurteilung nicht in Frage stellen.
…
69 Nach alledem und in Anbetracht des schrittweisen Vorgehens, auf dem die [angefochtene] Richtlinie beruht, kann in der ersten Phase der Einführung des Systems für den Handel mit Zertifikaten die unterschiedliche Behandlung des Chemiesektors im Vergleich zum Stahlsektor als gerechtfertigt betrachtet werden.
70 Was zweitens den Nichteisenmetallsektor betrifft, [beliefen sich] bei der Ausarbeitung und dem Erlass der [angefochtenen] Richtlinie … die unmittelbaren Emissionen dieses Sektors 1990 auf 16,2 Mio. t CO 2 …, während der Stahlsektor 174,8 Mio. t ausstieß.
71 Der Gemeinschaftsgesetzgeber war angesichts seiner Absicht, den Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie so zu begrenzen, dass die verwaltungstechnische Durchführbarkeit des Systems für den Handel mit Zertifikaten in seiner Anfangsphase nicht durch die Einbindung einer zu großen Zahl von Teilnehmern gestört würde, nicht verpflichtet, allein auf das Mittel der Einführung eines Emissionsschwellenwertes für jeden CO 2 ausstoßenden Wirtschaftssektor zurückzugreifen, um das angestrebte Ziel zu verwirklichen. Daher konnte er unter Umständen wie denjenigen, die zum Erlass der [angefochtenen] Richtlinie geführt haben, bei der Einführung dieses Systems den Anwendungsbereich der Richtlinie durch ein sektorbezogenes Vorgehen begrenzen, ohne die Grenzen seiner Beurteilungsbefugnis zu überschreiten.
72 Der Unterschied der Menge direkter Emissionen zwischen den beiden betroffenen Sektoren ist so erheblich, dass ihre unterschiedliche Behandlung bei der ersten Anwendungsphase des Systems für den Handel mit Zertifikaten in Anbetracht des schrittweisen Vorgehens, auf dem die [angefochtene] Richtlinie beruht, als gerechtfertigt betrachtet werden kann, ohne dass für den Gemeinschaftsgesetzgeber die Notwendigkeit bestand, die auf die verschiedenen Sektoren entfallenden mittelbaren Emissionen zu berücksichtigen.
73 Daher ist festzustellen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber den Gleichheitsgrundsatz nicht durch die unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Situationen verletzt hat, als er vom Anwendungsbereich der [angefochtenen] Richtlinie den Chemiesektor und den Nichteisenmetallsektor ausgenommen hat.“
169. Da auf den ersten Teil des vorliegenden Rechtswidrigkeitsgrundes betreffend die fehlende Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung des Stahlsektors auf der einen und der Sektoren der Nichteisenmetalle und der chemischen Erzeugnisse auf der anderen Seite in den Gründen des vorgenannten Urteils des Gerichtshofs eine umfassende Antwort gegeben wird, ist dieser Teil als unbegründet zurückzuweisen.
170. Zum zweiten Teil betreffend die fehlende Rechtfertigung einer Gleichbehandlung des Stahlsektors und der übrigen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Sektoren, obwohl der Stahlsektor, anders als diese anderen Sektoren, ein „natürlicher Verlierer“ sei, der sich in einer „Situation einzigartiger Einschnürung“ befinde, genügt die Feststellung, dass sich alle diese Sektoren unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Ziels des Umweltschutzes durch die Verringerung von Treibhausgasemissionen und des Verursacherprinzips in vergleichbarer Lage befinden (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 42 angeführt, Randnrn. 29 bis 38). Ferner geht aus den vorstehenden Randnrn. 112 bis 116 hervor, dass die Klägerin nicht dargetan hat, dass sich der Stahlsektor in einer besonderen Lage befand, die ihn von allen anderen von Anhang I der angefochtenen Richtlinie erfassten Sektoren unterscheidet (vgl. in diesem Sinne auch Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro in der Rechtssache Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 157 angeführt, Nr. 57).
171. Folglich ist der Rechtswidrigkeitsgrund betreffend einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
D – Zum Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit
1. Vorbringen der Parteien
172. Nach Ansicht der Klägerin sind die streitigen Bestimmungen ein schwerwiegender Eingriff in ihre Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 Abs. 1 EG.
173. Das Verbot der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gelte nicht nur für staatliche Maßnahmen, sondern binde als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch die Gemeinschaft. Durch die Art. 39 EG und 43 EG solle nämlich der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EG verankerte fundamentale Grundsatz umgesetzt werden, wonach die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Art. 2 EG die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten umfasse. Darüber hinaus seien auch die Gemeinschaftsorgane verpflichtet, die Warenverkehrsfreiheit, die ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinsamen Marktes sei, aus dem sich die Niederlassungsfreiheit ableite, zu beachten. Art. 43 EG gewährleiste, dass die Unternehmen die Ansiedlung ihrer Produktion im Gemeinsamen Markt nach wirtschaftlichen Kriterien frei wählen könnten. Zudem verbiete diese Grundfreiheit die Schaffung von Hindernissen im Ursprungsmitgliedstaat mit dem Ziel, die Verlagerung von Unternehmen in einen anderen Mitgliedstaat zu verhindern, weil sonst die durch Art. 43 EG garantierten Rechte ihres Inhalts beraubt würden.
174. Die streitigen Bestimmungen griffen in das Recht der Klägerin, ihre Produktion aus einer weniger rentablen Anlage in einem Mitgliedstaat auf eine rentablere Anlage in einem anderen Mitgliedstaat zu verlagern, dadurch ein, dass sie nicht die gleichzeitige Übertragung der für die stillzulegende und zu übertragende Produktionskapazität zugeteilten Zertifikate gewährleisteten (siehe oben, Randnrn. 149 ff.). Somit müsse sie, ohne dass hierfür eine objektive Rechtfertigung bestünde, weniger rentable Produktionskapazitäten allein mit dem Ziel weiter nutzen, diese Zertifikate nicht zu verlieren. Unter Berücksichtigung dessen, dass die angefochtene Richtlinie zur Erreichung des verfolgten Zwecks des Umweltschutzes ungeeignet sei (siehe oben, Randnr. 149), und der grundlegenden Bedeutung der Ausübung der Niederlassungsfreiheit für die Vollendung des Binnenmarkts sei diese Beschränkung ihrer Niederlassungsfreiheit unverhältnismäßig.
175. Das Parlament und der Rat beantragen, diesen Klagegrund zurückzuweisen.
2. Würdigung durch das Gericht
176. Mit dem vorliegenden Klagegrund macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass das dem Gemeinschaftsgesetzgeber gemäß den Art. 174 EG und 175 EG zustehende Ermessen (siehe oben, Randnr. 143) im Licht der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 43 EG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EG so weit eingeschränkt sei, dass er nicht rechtmäßig darauf habe verzichten können, im Rahmen der angefochtenen Richtlinie, die gemäß Art. 175 Abs. 1 EG erlassen worden sei, die Frage der freien grenzüberschreitenden Übertragung von Emissionszertifikaten innerhalb einer Unternehmensgruppe selbst zu regeln, anstatt den Mitgliedstaaten für die Zwecke der Umsetzung dieser Richtlinie einen weiten Handlungsspielraum vorzubehalten, der zum Erlass voneinander abweichender nationaler Vorschriften führe, die geeignet seien, rechtswidrige Hindernisse für die Niederlassungsfreiheit zu errichten.
177. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach gefestigter Rechtsprechung die Gemeinschaftsorgane wie auch die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten, wie die Niederlassungsfreiheit, beachten müssen, die dazu dienen, eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft, insbesondere das in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EG verankerte Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts, zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 29. Februar 1984, Rewe-Zentrale, 37/83, Slg. 1984, 1229, Randnr. 18).
178. Aus dieser allgemeinen Verpflichtung ergibt sich jedoch nicht, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber verpflichtet wäre, das in Rede stehende Sachgebiet so zu regeln, dass das Gemeinschaftsrecht, insbesondere wenn es die Gestalt einer Richtlinie im Sinne von Art. 249 Abs. 3 EG annimmt, eine erschöpfende und abschließende Lösung bestimmter, sich unter dem Blickwinkel der Verwirklichung des Binnenmarkts stellender Probleme liefert oder dass es eine vollständige Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften vornimmt, um jede nur denkbare Behinderung des innergemeinschaftlichen Handels zu vermeiden. Wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber ein komplexes System wie das Emissionshandelssystem umstrukturieren oder schaffen muss, steht es ihm frei, einen Lösungsansatz in Etappen zugrunde zu legen (vgl. in diesem Sinne Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 42 angeführt, Randnr. 57) und nur eine schrittweise Harmonisierung der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften vorzunehmen, da die Durchführung solcher Maßnahmen im Allgemeinen schwierig ist, weil sie voraussetzt, dass die zuständigen Gemeinschaftsorgane ausgehend von unterschiedlichen und komplexen nationalen Bestimmungen gemeinsame Vorschriften ausarbeiten, die den im EG-Vertrag festgelegten Zielen entsprechen und die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Rates finden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs Rewe-Zentrale, oben in Randnr. 177 angeführt, Randnr. 20, vom 18. April 1991, Assurances du crédit/Rat und Kommission, C‑63/89, Slg. 1991, I‑1799, Randnr. 11, vom 13. Mai 1997, Deutschland/Parlament und Rat, C‑233/94, Slg. 1997, I‑2405, Randnr. 43, vom 17. Juni 1999, Socridis, C‑166/98, Slg. 1999, I‑3791, Randnr. 26, und vom 13. Juli 2006, Sam Mc Cauley Chemists [Blackpool] und Sadja, C‑221/05, Slg. 2006, I‑6869, Randnr. 26). Dies ist auch bei den Gemeinschaftsvorschriften im Bereich des Umweltschutzes nach den Art. 174 EG und 175 EG der Fall.
179. Des Weiteren ist zu beachten, dass zum einen gemäß Art. 249 Abs. 3 EG eine Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlässt, was denknotwendig bedeutet, dass die Mitgliedstaaten über den erforderlichen Beurteilungsspielraum beim Erlass der Umsetzungsmaßnahmen verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 29. Januar 2008, Promusicae, C‑275/06, Slg. 2008, I‑271, Randnr. 67), und dass zum anderen der 30. Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie auf den in Art. 5 Abs. 2 EG verankerten Subsidiaritätsgrundsatz verweist. Nach diesem Grundsatz wird die Gemeinschaft in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Den Art. 174 EG bis 176 EG ist zu entnehmen, dass im Bereich des Umweltschutzes die Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten geteilt sind. Mit der Gemeinschaftsregelung in diesem Bereich wird somit keine vollständige Harmonisierung angestrebt, und Art. 176 EG sieht die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vor, verstärkte Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die nur zur Voraussetzung haben, dass sie mit dem EG-Vertrag vereinbar sein müssen und der Kommission notifiziert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 14. April 2005, Deponiezweckverband Eiterköpfe, C‑6/03, Slg. 2005, I‑2753, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
180. Im Einklang mit diesen Grundsätzen sieht die angefochtene Richtlinie keine vollständige Harmonisierung der Voraussetzungen auf Gemeinschaftsebene vor, die der Schaffung und der Funktionsweise des Emissionshandelssystems zugrunde liegen. Vorbehaltlich der Beachtung der Vorschriften des EG-Vertrags verfügen die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieses Systems, insbesondere im Rahmen der Erarbeitung ihrer NZP und ihrer eigenständigen Entscheidungen über die Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie nämlich über ein weites Ermessen (Urteil Deutschland/Kommission, oben in Randnr. 114 angeführt, Randnrn. 102 bis 106). Daher rechtfertigt allein der Umstand, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber eine besondere, in den Anwendungsbereich der angefochtenen Richtlinie sowie in den einer Grundfreiheit fallende Frage offengelassen hat, so dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, diese Frage in Ausübung ihres Ermessens, selbstverständlich im Einklang mit den höherrangigen Normen des Gemeinschaftsrechts, zu regeln, an sich nicht, dieses Unterlassen als Verstoß gegen die Vorschriften des EG-Vertrags einzustufen (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Niederlande/Parlament und Rat, C‑377/98, Urteil des Gerichtshofs vom 9. Oktober 2001, Slg. 2001, I‑7079, I‑7084, Nrn. 87 und 88). Dies gilt umso mehr, als die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit gemäß Art. 10 EG die praktische Wirksamkeit der Richtlinien gewährleisten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 8. September 2005, Yonemoto, C‑40/04, Slg. 2005, I‑7755, Randnr. 58), was auch bedeutet, dass sie das innerstaatliche Recht im Licht der Ziele und der Grundsätze auszulegen haben, die der in Rede stehenden Richtlinie zugrunde liegen (vgl. zum Grundsatz der Auslegung im Licht einer Richtlinie Urteil des Gerichtshofs vom 5. Juli 2007, Kofoed, C‑321/05, Slg. 2007, I‑5795, Randnr. 45).
181. Im Übrigen müssen sowohl der Gemeinschaftsgesetzgeber beim Erlass einer Richtlinie als auch die Mitgliedstaaten bei deren Umsetzung in innerstaatliches Recht die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wahren. So haben nach ständiger Rechtsprechung auch die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Schutzes der in der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätze, zu denen auch die Grundrechte zählen, bei der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen zu beachten; sie müssen diese Regelungen deshalb, soweit irgend möglich, so anwenden, dass diese Erfordernisse nicht verkannt werden (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769, Randnr. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung, vgl. in diesem Sinne auch Urteil des Gerichtshofs vom 6. November 2003, Lindqvist, C‑101/01, Slg. 2003, I‑12971, Randnrn. 84 bis 87).
182. Nach Auffassung des Gerichts gelten diese Grundsätze entsprechend auch für die Grundfreiheiten des EG-Vertrags. Soweit nämlich die angefochtene Richtlinie, insbesondere Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1, den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum belässt, ist dieser grundsätzlich weit genug, um ihnen die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie in einer mit den Erfordernissen des Schutzes der Grundrechte und der Grundfreiheiten des EG-Vertrags im Einklang stehenden Weise zu ermöglichen. Da im Übrigen die Durchführung der angefochtenen Richtlinie der Kontrolle durch die nationalen Gerichte unterliegt, haben diese dem Gerichtshof unter den Voraussetzungen des Art. 234 EG ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, wenn sie auf Schwierigkeiten hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit dieser Richtlinie stoßen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil Parlament/Rat, oben in Randnr. 181 angeführt, Randnrn. 104 und 106).
183. Somit haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit der angefochtenen Richtlinie auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinie stützen, die mit den durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten, den übrigen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts oder den Grundfreiheiten des EG-Vertrags wie der Niederlassungsfreiheit kollidiert (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile des Gerichtshofs Lindqvist, oben in Randnr. 181 angeführt, Randnr. 87, vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, Slg. 2007, I‑5305, Randnr. 28, und Promusicae, oben in Randnr. 179 angeführt, Randnr. 68).
184. Nach alledem kann dem Gemeinschaftsgesetzgeber nicht vorgeworfen werden, dass er im Rahmen einer Richtlinie eine bestimmte, in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fallende Frage nicht erschöpfend und abschließend geregelt hat, wenn diese Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum vorbehält, der ihnen eine umfassende Beachtung der Vorschriften des EG-Vertrags und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ermöglicht.
185. Im vorliegenden Fall hält es das Gericht in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen für angebracht, zu prüfen, ob die angefochtene Richtlinie von den Mitgliedstaaten im Einklang mit der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 EG ausgelegt und umgesetzt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 20. Mai 2003, Österreichischer Rundfunk u. a., C‑465/00, C‑138/01 und C‑139/01, Slg. 2003, I‑4989, Randnrn. 68 und 91, und vom 29. April 2004, Orfanopoulos, C‑482/01 und C‑493/01, Slg. 2004, I‑5257, Randnrn. 109 und 110).
186. Wie die Klägerin geltend macht, sieht die angefochtene Richtlinie keine spezielle Regelung vor, die den Anlagenbetreibern, die dem Emissionshandelssystem unterfallen, die Möglichkeit böte, das einer Anlage zugeteilte Kontingent an Zertifikaten nach Stilllegung der Anlage auf eine andere, in einem anderen Mitgliedstaat belegene und zu derselben Unternehmensgruppe gehörende Anlage zu übertragen.
187. Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Buchst. a und g der angefochtenen Richtlinie ist jedoch zu entnehmen, dass „[d]ie Mitgliedstaaten [sicherstellen], dass Zertifikate übertragbar sind zwischen … [natürlichen und juristischen] Personen innerhalb der Gemeinschaft“. Ferner haben gemäß Art. 12 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie „[d]ie Mitgliedstaaten [sicherzustellen], dass Zertifikate, die von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats vergeben wurden, für die Erfüllung der Verpflichtungen eines Betreibers [zur Abgabe nicht genutzter Zertifikate] aus [Art. 12] Absatz 3 genutzt werden können“. Somit hat zum einen im Einklang mit dem im fünften Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie genannten Ziel, einen „effizienten europäischen Markt für Treibhausgasemissionszertifikate“ zu schaffen, der durch die angefochtene Richtlinie eingeführte Handelsmarkt gemeinschaftsweite Bedeutung, und zum anderen beruht dieser Markt auf dem Grundsatz der freien grenzüberschreitenden Übertragung von Emissionszertifikaten zwischen natürlichen und juristischen Personen.
188. Fehlte es nämlich an einer freien, grenzüberschreitenden Übertragung von Emissionszertifikaten im Sinne von Art. 12 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 3 Buchst. a der angefochtenen Richtlinie, wären die Kosteneffizienz und die wirtschaftliche Effizienz des Emissionshandelssystems im Sinne von Art. 1 der angefochtenen Richtlinie erheblich beeinträchtigt. Deshalb erlegt Art. 12 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie den Mitgliedstaaten die allgemeine Verpflichtung auf, „sicherzustellen“, dass diese Freiheit im Rahmen des einschlägigen nationalen Rechts nutzbar gemacht wird. Umgekehrt sieht die angefochtene Richtlinie keine Einschränkung der grenzüberschreitenden Übertragung von Zertifikaten zwischen juristischen Personen derselben Unternehmensgruppe, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen und/oder ihrem Gesellschaftssitz im Binnenmarkt, vor. Im Licht der vorgenannten Bestimmungen der angefochtenen Richtlinie kann daher nicht der Schluss gezogen werden, dass diese eine rechtswidrige Beschränkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, einschließlich der Niederlassungsfreiheit, enthielte oder den Mitgliedstaaten einen Anreiz böte, diese Freiheiten nicht zu beachten.
189. Wie die Klägerin in ihren Schriftsätzen selbst vorträgt, findet das von ihr aufgeworfene Problem seinen Ursprung vielmehr in den zum Teil voneinander abweichenden Rechtsvorschriften, die die Mitgliedstaaten zum Zweck der Umsetzung der angefochtenen Richtlinie erlassen haben, ohne dass diese Vorgehensweise einer ihrer Bestimmungen oder gar den streitigen Bestimmungen zuzuschreiben wäre. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der ihnen durch Art. 249 Abs. 3 EG zuerkannten Freiheit verpflichtet sind, diejenigen Formen und Mittel zu wählen, die für die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinien am geeignetsten sind (Urteil Yonemoto, oben in Randnr. 180 angeführt, Randnr. 58), und ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien und den Grundfreiheiten des EG-Vertrags wie der Niederlassungsfreiheit anzuwenden (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile Lindqvist, oben in Randnr. 181 angeführt, Randnr. 87, und Promusicae, oben in Randnr. 179 angeführt, Randnr. 68).
190. Ohne dass die Frage beantwortet werden müsste, ob die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, aufgrund deren die Klägerin keine Möglichkeit hat, Kontingente von Zertifikaten frei zwischen ihren in verschiedenen Mitgliedstaaten belegenen Anlagen zu übertragen, mit der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 EG im Einklang stehen oder nicht, ist daher der Schluss zu ziehen, dass eine solche Beschränkung dieser Freiheit nicht allein deshalb der angefochtenen Richtlinie zugeschrieben werden kann, weil diese eine solche Praxis der Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich verbietet. Dem Gemeinschaftsgesetzgeber kann erst recht nicht vorgeworfen werden, insoweit die Grenzen seines Ermessens gemäß Art. 174 EG in Verbindung mit Art. 43 EG offenkundig und erheblich überschritten zu haben.
191. Unter diesen Umständen ist nicht zu prüfen, ob die Argumente der Verfahrensbeteiligten zur etwaigen Möglichkeit der Klägerin, die nationalen Vorschriften in Anspruch zu nehmen, die für neue Marktteilnehmer einen kostenlosen Zugang zu Zertifikaten aus der Reserve vorsehen, begründet sind. Art. 11 Abs. 3 in Verbindung mit Kriterium 6 des Anhangs III der angefochtenen Richtlinie verlangt zwar, dass die Mitgliedstaaten der Notwendigkeit Rechnung tragen, neuen Marktteilnehmern den Zugang zu Zertifikaten zu eröffnen, doch ist die Einrichtung einer solchen Reserve als solche in der angefochtenen Richtlinie nicht vorgesehen. Somit könnte es gleichfalls nicht dem Gemeinschaftsgesetzgeber zugerechnet werden, wenn dieser Zugang zum Ausgleich des im Zusammenhang mit der Stilllegung einer Anlage entstandenen Verlusts von Zertifikaten unzureichend wäre.
192. Folglich ist der Rechtswidrigkeitsgrund betreffend einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit als unbegründet zurückzuweisen.
E – Zum Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit
1. Vorbringen der Parteien
193. Nach Ansicht der Klägerin verstoßen die streitigen Bestimmungen gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Das Gemeinschaftsrecht, die Richtlinien eingeschlossen, müsse eindeutig, klar und bestimmt sein, und seine Anwendung müsse für den Betroffenen vorhersehbar sein, damit dieser seine Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit seine Vorkehrungen treffen könne. Diese Anforderungen gälten in besonderem Maße, wenn es sich um eine Regelung handele, die finanzielle Folgen haben könne.
194. Die streitigen Bestimmungen verstießen aus zwei Gründen gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. In Ermangelung einer in der angefochtenen Richtlinie vorgesehenen Obergrenze oder eines Mechanismus zur Regelung des Preises der Zertifikate müsse die Klägerin als „Nettokäufer von Zertifikaten“, da es ihr nicht möglich sei, die CO 2 -Emissionen zu verringern, Zertifikate zu „völlig unvorhersehbaren Preisen“ kaufen, die sie auf zwischen 20 und 60 Euro pro Zertifikat schätze (siehe oben, Randnrn. 80 ff.). Außerdem enthalte die angefochtene Richtlinie keine Vorschrift, die die Übertragung von Zertifikaten, die ursprünglich einer stillzulegenden Anlage zugeteilt worden seien, auf eine in einem anderen Mitgliedstaat belegene Anlage desselben Konzerns vorsähe. Die Mitgliedstaaten hätten aber größtes Interesse daran, die für die Stilllegung bestimmten Anlagen zugeteilten Zertifikate zu löschen, da ihnen diese Stilllegungen eine stärkere Verringerung ihrer CO 2 -Emissionen ermöglichten, um ihr Reduktionsziel im Sinne der Entscheidung 2002/358 zu erreichen. Die sich daraus ergebende Rechtsunsicherheit hindere die Klägerin an einer langfristigen Planung ihrer Geschäfte und an Fortschritten bei ihrer Umstrukturierungsstrategie, die Produktion auf ihre rentabelsten Anlagen zu verlagern. Da diese Umstrukturierungsstrategie der Grund für den Zusammenschluss von 2001 gewesen sei (siehe oben, Randnr. 30), verstoße die angefochtene Richtlinie auch gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes. In der Erwiderung führt die Klägerin aus, dass jede langfristige Planung ihrer Investitionen und wirtschaftlichen Projekte insbesondere durch die Veränderungen unmöglich geworden sei, denen die Ziele und Maßnahmen zur Emissionsverringerung in den einzelnen Mitgliedstaaten unterworfen seien. Diese Unsicherheit werde durch den erheblichen Anstieg des Preises für CO 2 -Zertifikate verstärkt. So sei der Preis für CO 2 -Zertifikate zwischen Februar 2005 und März 2006 um etwa 6 Euro auf über 26 Euro gestiegen. Im Übrigen sei die künftige Zuteilung von Emissionszertifikaten, insbesondere für die zweite Zuteilungsperiode und die folgenden Zeiträume, nicht absehbar.
195. Das Parlament und der Rat beantragen, diesen Klagegrund zurückzuweisen.
2. Würdigung durch das Gericht
196. Mit dem vorliegenden Klagegrund macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass die streitigen Bestimmungen nicht hinreichend klar und bestimmt seien, da sie für sie mit einer finanziellen Belastung verbunden seien, die ihr die Planung ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen unmöglich mache. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hätte insoweit zum einen eine Obergrenze oder einen Mechanismus zur Regelung des Preises der Emissionszertifikate und zum anderen eine besondere Vorschrift vorsehen müssen, die die grenzüberschreitende Übertragung von Zertifikaten zwischen verschiedenen Anlagen derselben Unternehmensgruppe gewährleiste.
197. Soweit die Klägerin im Rahmen des zweiten Teils ihr Vorbringen zu einem Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit wiederholt, ergibt sich aus den oben in den Randnrn. 176 bis 192 dargelegten Erwägungen, dass dieses Vorbringen auch in Bezug auf einen behaupteten hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit nicht durchgreifen kann. Daher ist der zweite Teil des vorliegenden Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
198. Zum ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes ist zunächst auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass Rechtsvorschriften, vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können, klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2005, VEMW u. a., C‑17/03, Slg. 2005, I‑4983, Randnr. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
199. Hierzu ist sodann festzustellen, dass die angefochtene Richtlinie keine Bestimmung in Bezug auf das Ausmaß der finanziellen Folgen enthält, die sich sowohl daraus ergeben können, dass die an eine Anlage vergebenen Emissionszertifikate unzureichend sein könnten, als auch aus dem Preis dieser Zertifikate, der ausschließlich durch die Kräfte des Marktes bestimmt wird, der im Anschluss an die Schaffung des Emissionshandelssystems entstanden ist, das gemäß Art. 1 der angefochtenen Richtlinie darauf gerichtet ist, „auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung von Treibhausgasemissionen hinzuwirken“. In Anbetracht der Erwägungen in den vorstehenden Randnrn. 178 bis 184 war der Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht verpflichtet, insoweit spezielle Bestimmungen zu erlassen und so den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der angefochtenen Richtlinie zu beschränken.
200. Eine gemeinschaftliche Regelung des Preises der Zertifikate wäre im Gegenteil geeignet, dem Hauptziel der angefochtenen Richtlinie zuwiderzulaufen, nämlich der Verringerung der Treibhausgasemissionen durch ein effizientes Emissionshandelssystem, in dessen Rahmen die Kosten der Emissionen und der zu ihrer Verringerung getätigten Investitionen im Wesentlichen durch die Marktmechanismen bestimmt werden (fünfter Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie). Mangelt es an Zertifikaten, setzt der Anreiz für die Betreiber, ihre Treibhausgasemissionen zu verringern oder nicht, demnach eine komplexe wirtschaftliche Entscheidung voraus, die in Anbetracht insbesondere der Preise für die auf dem Handelsmarkt verfügbaren Emissionszertifikate auf der einen und der Kosten etwaiger Maßnahmen zur Emissionsverringerung auf der anderen Seite getroffen werden, die entweder eine Drosselung der Produktion oder die Investition in energieeffizientere Produktionsmittel zum Gegenstand haben können (20. Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie, vgl. in diesem Sinne auch Urteil Deutschland/Kommission, oben in Randnr. 114 angeführt, Randnrn. 132 ff.).
201. In einem solchen System kann der von einer Reihe wirtschaftlicher Parameter abhängige Anstieg der Emissionskosten und damit des Preises der Zertifikate nicht vom Gemeinschaftsgesetzgeber im Voraus geregelt werden, ohne dass die wirtschaftlichen Anreize, die die Grundlage für das Funktionieren des Systems bilden, gemindert oder sogar beseitigt werden und somit die Effizienz des Emissionshandelssystems beeinträchtigt wird. Außerdem fällt die Schaffung eines solchen Systems, einschließlich seiner wirtschaftlichen Prämissen, für die Zwecke der Einhaltung der sich aus dem Kyoto-Protokoll ergebenden Verpflichtungen in den weiten Ermessensspielraum, über den der Gemeinschaftsgesetzgeber gemäß Art. 174 EG verfügt (siehe oben, Randnr. 143), und bildet an sich eine von ihm getroffene rechtmäßige und geeignete Entscheidung, deren Richtigkeit als solche von der Klägerin nicht in Abrede gestellt worden ist.
202. Im Übrigen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber auf der Grundlage dieser rechtmäßigen Entscheidung das Emissionshandelssystem auf die Prämisse gestützt, dass gemäß Art. 9 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie die Mitgliedstaaten auf der Grundlage ihrer NZP und in Ausübung des ihnen insoweit vorbehaltenen Ermessens darüber zu entscheiden haben, welche Gesamtzahl an Zertifikaten zugeteilt wird und wie die individuelle Vergabe dieser Zertifikate an die Anlagen in ihrem Hoheitsgebiet erfolgen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil Deutschland/Kommission, oben in Randnr. 114 angeführt, Randnrn. 102 bis 106). Zudem unterliegt diese Entscheidung nur einer eingeschränkten Vorabkontrolle durch die Kommission gemäß Art. 9 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie, insbesondere im Hinblick auf die in deren Anhang III genannten Kriterien (Beschluss des Gerichts vom 30. April 2007, EnBW Energie Baden-Württemberg/Kommission, T‑387/04, Slg. 2007, II‑1195, Randnrn. 104 ff.). Daher sind die Abweichungen, denen die Ziele und die Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten zur Emissionsverringerung unterliegen, die sich aus deren Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll ergeben, so wie sie in dem in der Entscheidung 2002/358 vorgesehenen Lastenteilungsplan zum Ausdruck kommen, und somit die Ungewissheit über den Umfang der Gesamtmenge und der individuellen Menge an Zertifikaten, die den einzelnen Industriesektoren und den Betreibern auf der Grundlage der einzelnen NZP zugeteilt werden sollen, nicht den streitigen Bestimmungen als solchen zuzuschreiben.
203. Schließlich hat die Klägerin nicht speziell die Klarheit und Bestimmtheit der übrigen streitigen Bestimmungen in Frage gestellt, um darzutun, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, ihre sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten unzweideutig zu erkennen. Die Genehmigungspflichtigkeit von Emissionen gemäß Art. 4 der angefochtenen Richtlinie, die Abgabepflicht gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie sowie die in Art. 16 Abs. 2 bis 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Sanktionen sind nämlich hinreichend klare, bestimmte und in ihren Auswirkungen absehbare Bestimmungen, deren tatsächliche Tragweite nur von der den Betreibern kostenlos zur Verfügung gestellten Menge an Zertifikaten oder dem Preis der auf dem Handelsmarkt verfügbaren Zertifikate abhängt. Zu diesem letzteren Aspekt ist aber daran zu erinnern, dass die fehlende Vorhersehbarkeit der Entwicklung des Handelsmarkts ein Umstand ist, der dem wirtschaftlichen Mechanismus, der das Emissionshandelssystem charakterisiert, das den klassischen, einen freien und wettbewerbsorientierten Markt im Sinne der in Art. 1 in Verbindung mit dem siebten Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie sowie in Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und g EG verankerten Prinzipien kennzeichnenden Regeln von Angebot und Nachfrage unterliegt, untrennbar innewohnt. Dieser Aspekt kann demnach nicht als dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufend eingestuft werden, sollen nicht die wirtschaftlichen Grundlagen des Emissionshandelssystems selbst, wie sie in der angefochtenen Richtlinie im Einklang mit den Vorschriften des EG-Vertrags gelegt wurden, in Frage gestellt werden.
204. Unter diesen Umständen kann das Fehlen einer speziellen Vorschrift in der angefochtenen Richtlinie, mit der eine Obergrenze oder ein Mechanismus zur Regelung des Preises der Zertifikate festgelegt wird, nicht als schwerwiegende und offenkundige Missachtung der Grenzen des Ermessens des Gemeinschaftsgesetzgebers eingestuft werden.
205. Folglich ist der vorliegende Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
206. Nach alledem hat die Klägerin nicht dargetan, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber mit dem Erlass der angefochtenen Richtlinie rechtswidrig gehandelt oder gar einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm begangen hätte, die bezweckt, ihr Rechte zu verleihen. Folglich ist der Schadensersatzantrag zurückzuweisen, ohne dass über die weiteren, die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft begründenden Voraussetzungen oder über die vom Rat in Bezug auf einige Anlagen zur Erwiderung erhobene Einrede entschieden zu werden braucht.
Kosten
207. Gemäß Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr entsprechend den Anträgen von Parlament und Rat die Kosten aufzuerlegen.
208. Gemäß Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Organe, wenn sie einem Rechtsstreit beitreten, ihre eigenen Kosten. Die Kommission, die dem Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung des Parlaments und des Rates beigetreten ist, trägt daher ihre eigenen Kosten.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Arcelor SA trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
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Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 11. September 2024.#NKO AO National Settlement Depository (NSD) gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens der Klägerin in die Liste und Belassung ihres Namens auf der Liste – Begründungspflicht – Beurteilungsfehler – Begriff ‚materielle oder finanzielle Unterstützung der Regierung der Russischen Föderation‘ – Unternehmerische Freiheit – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-494/22.
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62022TJ0494
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ECLI:EU:T:2024:607
| 2024-09-11T00:00:00 |
Gericht
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62022TJ0494
URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
11. September 2024 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens der Klägerin in die Liste und Belassung ihres Namens auf der Liste – Begründungspflicht – Beurteilungsfehler – Begriff ‚materielle oder finanzielle Unterstützung der Regierung der Russischen Föderation‘ – Unternehmerische Freiheit – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache T‑494/22,
NKO AO National Settlement Depository (NSD) mit Sitz in Moskau (Russland), vertreten durch Rechtsanwältinnen N. Tuominen und M. Krestiyanova, Rechtsanwalt J.‑P. Fierens sowie Rechtsanwältin C. Gieskes,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bishop als Bevollmächtigten im Beistand von Rechtsanwalt B. Maingain,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland, G. von Rintelen, L. Mantel und M. Carpus Carcea als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
erlässt
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten D. Spielmann, der Richterin M. Brkan (Berichterstatterin), sowie der Richter I. Gâlea, T. Tóth und S. L. Kalėda,
Kanzler: I. Kurme, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere
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der am 12. August 2022 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Klageschrift,
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der Beschlüsse vom 31. März 2023, NSD/Rat (T‑494/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:196), und vom 31. März 2023, NSD/Rat (T‑494/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:197), mit denen die Anträge von Herrn A. Lipatov und der Maritime Bank JSC auf Zulassung zur Streithilfe zurückgewiesen wurden,
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des am 25. April 2023 von der Klägerin bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Anpassungsschriftsatzes,
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des am 24. November 2023 von der Klägerin bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Anpassungsschriftsatzes,
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Januar 2024,
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die NKO AO National Settlement Depository (NSD), erstens die Nichtigerklärung des Beschlusses (GASP) 2022/883 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 153, S. 92), und der Durchführungsverordnung (EU) 2022/878 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 153, S. 15, im Folgenden: ursprüngliche Rechtsakte), zweitens des Beschlusses (GASP) 2023/572 des Rates vom 13. März 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 134), und der Durchführungsverordnung (EU) 2023/571 des Rates vom 13. März 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 1, im Folgenden: Fortsetzungsrechtsakte von März 2023), sowie drittens des Beschlusses (GASP) 2023/1767 des Rates vom 13. September 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 226, S. 104), und der Durchführungsverordnung (EU) 2023/1765 des Rates vom 13. September 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 226, S. 3, im Folgenden: Fortsetzungsrechtsakte von September 2023), soweit alle diese Rechtsakte (im Folgenden: angefochtene Rechtsakte) ihren Namen in die Listen in den Anhängen dieser Rechtsakte aufnehmen und dort belassen.
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Klägerin, eine Gesellschaft russischen Rechts, ist eine zugelassene Verwahrstelle, die als zentrale Verwahrstelle Archivierungs- und Verwahrungsdienstleistungen für Wertpapiere sowie zudem Finanzdienstleistungen erbringt, u. a. als Finanzinstitut des Nichtbankensektors mit einer Lizenz zur Erbringung von Settlement-Dienstleistungen.
3 Hintergrund der vorliegenden Rechtssache sind die von der Europäischen Union verabschiedeten restriktiven Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen.
4 Am 17. März 2014 erließ der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage von Art. 29 EUV den Beschluss 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2014, L 78, S. 16).
5 Am selben Tag erließ der Rat auf der Grundlage von Art. 215 AEUV die Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2014, L 78, S. 6).
6 Am 25. Februar 2022 erließ der Rat angesichts der sehr ernsten Lage in der Ukraine einerseits den Beschluss (GASP) 2022/329 zur Änderung des Beschlusses 2014/145 (ABl. 2022, L 50, S. 1) und andererseits die Verordnung (EU) 2022/330 zur Änderung der Verordnung Nr. 269/2014 (ABl. 2022, L 51, S. 1), um insbesondere die Kriterien zu ändern, nach denen natürliche oder juristische Personen, Einrichtungen oder Organisationen den betreffenden restriktiven Maßnahmen unterworfen werden konnten.
7 Art. 2 Abs. 1 und 2 des Beschlusses 2014/145 in der so geänderten Fassung (im Folgenden: geänderter Beschluss 2014/145) sieht vor:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum stehen oder gehalten oder kontrolliert werden von:
…
f)
natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die die Regierung der Russischen Föderation, die für die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich ist, materiell oder finanziell unterstützen oder von dieser profitieren …
(2) Den im Anhang aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugute kommen.“
8 Die Modalitäten des Einfrierens werden in den darauffolgenden Absätzen von Art. 2 des geänderten Beschlusses 2014/145 festgelegt.
9 Die Verordnung Nr. 269/2014 in der durch die Verordnung 2022/330 geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Verordnung Nr. 269/2014) sieht die Annahme von Maßnahmen des Einfrierens von Geldern vor und regelt die Modalitäten dieses Einfrierens im Wesentlichen wortgleich mit dem geänderten Beschluss 2014/145. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis g dieser Verordnung übernimmt nämlich im Wesentlichen Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis g dieses Beschlusses.
10 Am 3. Juni 2022 erließ der Rat in Anbetracht der Fortsetzung des Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine die ursprünglichen Rechtsakte, mit denen er den Namen der Klägerin in die im Anhang des geänderten Beschlusses 2014/145 und in Anhang I der geänderten Verordnung Nr. 269/2014 enthaltenen Listen der Personen, Organisationen und Einrichtungen, die restriktiven Maßnahmen unterliegen (im Folgenden: streitige Listen), aufnahm.
11 Die Gründe für die Aufnahme des Namens der Klägerin in die streitigen Listen sind folgende:
„D[ie Klägerin] ist ein russisches Finanzinstitut des Nichtbankensektors und Russlands zentrale Wertpapierverwahrstelle. [Sie] ist nach Marktwert der verwahrten Aktien und Schuldverschreibungen die größte Wertpapierverwahrstelle in Russland und die einzige, die Zugang zum internationalen Finanzsystem hat.
[Die Klägerin] wird von der Regierung und der russischen Zentralbank als systemrelevantes russisches Finanzinstitut eingestuft. [Sie] spielt für das Funktionieren des russischen Finanzsystems und seine Anbindung an das internationale Finanzsystem eine wesentliche Rolle, wodurch [sie] direkt und indirekt die Tätigkeiten, politischen Maßnahmen und Ressourcen der russischen Regierung unterstützt.
D[ie Klägerin] befindet sich fast vollständig im Eigentum der Moskauer Börse, deren Aufgabe es ist, für einen umfassenden Zugang zu den russischen Finanzmärkten zu sorgen. Die Moskauer Börse wiederum wird aufgrund ihrer Rolle und ihrer Aktionäre in hohem Maße von der russischen Regierung kontrolliert. Somit unterstützt d[ie Klägerin] materiell oder finanziell die Regierung der Russischen Föderation, die für die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich ist.“
12 Der Rat veröffentlichte im Amtsblatt der Europäischen Union vom 3. Juni 2022 (ABl. 2022, C 219 I, S. 1) eine Mitteilung an die Personen, Organisationen und Einrichtungen, die den in den ursprünglichen Rechtsakten vorgesehenen restriktiven Maßnahmen unterliegen. Dort hieß es u. a., dass die betroffenen Personen beim Rat unter Vorlage von Nachweisen beantragen können, dass die Entscheidung über die Aufnahme ihrer Namen in die streitigen Listen überprüft wird.
13 Mit Schreiben vom 4. August 2022 ersuchte die Klägerin den Rat, die Begründung und die Beweise für ihre Aufnahme in die streitigen Listen vorzulegen.
14 Am 10. August 2022 übermittelte der Rat der Klägerin die Akte WK 7236/2022/EXT 1 (im Folgenden: erste Beweisakte), auf die er seine Entscheidung gestützt hatte.
II. Sachverhalt nach Klageerhebung
15 Am 14. September 2022 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2022/1530 zur Änderung des Beschlusses 2014/145 (ABl. 2022, L 239, S. 149) und die Durchführungsverordnung (EU) 2022/1529 zur Durchführung der Verordnung Nr. 269/2014 (ABl. 2022, L 239, S. 1). Aus dem Beschluss 2022/1530 geht hervor, dass der Beschluss 2014/145 bis zum 15. März 2023 gilt und die für die Klägerin geltenden individuellen restriktiven Maßnahmen somit verlängert werden, wobei ihr Name aus denselben wie den oben in Rn. 11 dargelegten Gründen auf den streitigen Listen belassen wird.
16 Mit Schreiben vom 22. Dezember 2022 teilte der Rat der Klägerin mit, dass er beabsichtige, die gegen sie getroffenen restriktiven Maßnahmen aufrechtzuerhalten, übermittelte ihr die Akte WK 17708/2022 INIT (im Folgenden: zweite Beweisakte) und forderte sie auf, bis zum 12. Januar 2023 Stellung zu nehmen.
17 Am 13. März 2023 erließ der Rat die Fortsetzungsrechtsakte von März 2023. Aus dem Beschluss 2023/572 geht hervor, dass der Beschluss 2014/145 bis zum 15. September 2023 gilt und die für die Klägerin geltenden individuellen restriktiven Maßnahmen somit verlängert werden, wobei ihr Name aus denselben wie den oben in Rn. 11 dargelegten Gründen auf den streitigen Listen belassen wird.
18 Mit Schreiben vom 14. März 2023 informierte der Rat die Klägerin über seine Entscheidung, ihre Eintragung in den streitigen Listen beizubehalten, und forderte sie auf, bis zum 1. Juni 2023 Stellung zu nehmen.
19 Mit Schreiben vom 10. Juli 2023 teilte der Rat der Klägerin mit, dass er beabsichtige, die gegen sie getroffenen restriktiven Maßnahmen aufrechtzuerhalten, übermittelte ihr die Akte WK 7807/2023 REV2 (im Folgenden: dritte Beweisakte) und forderte sie auf, bis zum 25. Juli 2023 Stellung zu nehmen.
20 Am 13. September 2023 erließ der Rat die Fortsetzungsrechtsakte von September 2023. Aus dem Beschluss 2023/1767 geht hervor, dass der Beschluss 2014/145 bis zum 15. März 2024 gilt und die für die Klägerin geltenden individuellen restriktiven Maßnahmen somit verlängert werden, wobei ihr Name aus denselben wie den oben in Rn. 11 dargelegten Gründen auf den streitigen Listen belassen wird.
III. Anträge der Parteien
21 Die Klägerin beantragt,
–
die angefochtenen Rechtsakte für nichtig zu erklären;
–
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
22 Der Rat, unterstützt durch die Europäische Kommission, beantragt,
–
die Nichtigkeitsklage abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
IV. Rechtliche Würdigung
23 Vor der Prüfung der Begründetheit der Klagegründe ist die Zulässigkeit der Klage zu prüfen, soweit sie die Durchführungsverordnung 2023/1765 betrifft.
A.
Zur Zulässigkeit der Klage, soweit sie sich auf die Durchführungsverordnung 2023/1765 bezieht
24 In ihrer Stellungnahme zum zweiten Schriftsatz zur Anpassung der Klageschrift trägt die Kommission vor, dass dieser Schriftsatz offensichtlich unzulässig sei, soweit er auf die Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2023/1765 gerichtet sei, da er nicht die Voraussetzungen von Art. 86 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts erfülle. Die Kommission ist der Ansicht, dass diese Durchführungsverordnung die angefochtenen Rechtsakte in Bezug auf die Klägerin weder ersetze noch ändere.
25 Die Klägerin macht geltend, der zweite Schriftsatz zur Anpassung der Klageanträge sei zulässig, da er die Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2023/1765, soweit er sie betreffe, zum Gegenstand habe.
26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger nach Art. 86 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wenn ein Rechtsakt, dessen Nichtigerklärung beantragt wird, durch einen anderen Rechtsakt mit demselben Gegenstand ersetzt oder geändert wird, vor Abschluss des mündlichen Verfahrens oder vor der Entscheidung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden, die Klageschrift anpassen kann, um diesem neuen Umstand Rechnung zu tragen.
27 Die Beurteilung der Zulässigkeit der gegen die Durchführungsverordnung 2023/1765 erhobenen Klage muss im Licht der Verpflichtung des Rates erfolgen, die Liste in Anhang I der Verordnung Nr. 269/2014 gemäß Art. 14 Abs. 4 dieser Verordnung regelmäßig zu überprüfen. Hierzu ist festzustellen, dass die im Anschluss an Überprüfungen erlassenen Durchführungsverordnungen, einschließlich der Durchführungsverordnung 2023/1765, nur die an den streitigen Listen im Anschluss an diese Überprüfung vorgenommenen Änderungen und Streichungen erwähnen, so dass nach diesen Durchführungsverordnungen die Eintragungen, die nicht geändert oder gestrichen wurden, verlängert werden (vgl. entsprechend Urteil vom 28. April 2021, Sharif/Rat, T‑540/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:220, Rn. 48).
28 Nach der Rechtsprechung ist selbst dann, wenn die betroffene Person in einem nachfolgenden Rechtsakt zur Änderung der Liste, in die ihr Name aufgenommen wurde, nicht genannt wird, und selbst dann, wenn dieser nachfolgende Rechtsakt die Gründe, aus denen ihr Name ursprünglich aufgenommen wurde, nicht ändert, ein solcher Rechtsakt als Ausdruck des Willens des Rates zu verstehen, den Namen der betroffenen Person auf dieser Liste zu belassen, so dass ihre Gelder eingefroren bleiben, da der Rat verpflichtet ist, diese Liste regelmäßig zu überprüfen (vgl. Urteil vom 8. Juli 2020, Neda Industrial Group/Rat, T‑490/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:318, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Darüber hinaus muss der Rat gemäß Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 269/2014, wenn eine Stellungnahme abgegeben oder stichhaltige neue Beweise vorgelegt werden, seinen Beschluss, eine Person in die streitigen Listen aufzunehmen, überprüfen. Im vorliegenden Fall hat der Rat der Klägerin mit Schreiben vom 15. September 2023 mitgeteilt, dass er auf ihren Antrag vom 25. Juli 2023 hin, ihre Aufnahme in die streitigen Listen zu überprüfen, beschlossen habe, die restriktiven Maßnahmen, die durch den Erlass des Beschlusses 2023/1767 und der Verordnung Nr. 269/2014 in der durch die Durchführungsverordnung 2023/1765 geänderten Fassung gegen sie ergriffen worden seien, aufrechtzuerhalten. Daher ist davon auszugehen, dass sowohl der Beschluss 2023/1767 als auch die Durchführungsverordnung 2023/1765 das Ergebnis einer Überprüfung der Situation der Klägerin sind.
30 Im Übrigen trifft es zwar zu, dass die Gründe für die Aufnahme der Klägerin in die streitigen Listen in den Fortsetzungsrechtsakten von September 2023 nicht geändert wurden, doch ist festzustellen, dass diese auf zusätzlichen Beweisen beruhen, die vom Rat in der dritten Beweisakte vorgelegt wurden.
31 Nach alledem ist festzustellen, dass die vorliegende Klage zulässig ist, soweit mit ihr die Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2023/1765, soweit sie die Klägerin betrifft, erwirkt werden soll.
B.
Zur Begründetheit
32 Die Klägerin stützt ihre Klage auf vier Gründe, mit denen sie erstens eine Verletzung der Begründungspflicht, zweitens einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, drittens eine unverhältnismäßige Verletzung von Grundrechten und viertens unzureichende Beweise geltend macht.
1. Zum ersten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht
33 Die Klägerin macht geltend, die Begründung der angefochtenen Rechtsakte entspreche nicht den von der Rechtsprechung zu Art. 296 AEUV aufgestellten Anforderungen. Der Rat habe sich darauf beschränkt, das Aufnahmekriterium, auf dessen Grundlage ihr Name in die streitigen Listen aufgenommen worden sei, umzuformulieren. Darüber hinaus enthielten die angefochtenen Rechtsakte keine genauen und konkreten Informationen und gäben weder an, wann und unter welchen Umständen die Tätigkeiten, politischen Maßnahmen und Ressourcen der russischen Regierung unterstützt worden seien, noch erwähnten sie eine spezifische Transaktion. Darüber hinaus sei die Begründung, sie werde indirekt von der russischen Regierung kontrolliert, falsch.
34 Außerdem wirft die Klägerin dem Rat vor, die Gründe dafür nicht dargelegt zu haben, dass die Vermögenswerte ihrer Kunden durch die gegen sie ergriffenen restriktiven Maßnahmen eingefroren wurden.
35 Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
36 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, die aus dem Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte folgt, dem Zweck dient, zum einen den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsrichter zulässt, und zum anderen dem Unionsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts zu ermöglichen (Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, EU:C:2012:718, Rn. 49).
37 Die nach Art. 296 AEUV erforderliche Begründung muss der Art des fraglichen Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen wurde, angemessen sein. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt dieses Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen insbesondere weder alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden noch muss auf die Erwägungen des Betroffenen bei seiner Anhörung vor Erlass des Rechtsakts im Einzelnen eingegangen werden, da die Frage, ob eine Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Ein beschwerender Rechtsakt ist folglich hinreichend begründet, wenn er in einem Kontext ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihm gestattet, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, EU:C:2012:718, Rn. 53 und 54; vgl. auch Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Die an die Genauigkeit der Begründung eines Rechtsakts zu stellenden Anforderungen müssen somit den tatsächlichen Möglichkeiten sowie den technischen und zeitlichen Bedingungen angepasst werden, unter denen der Rechtsakt zu ergehen hat (vgl. Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Nach der Rechtsprechung muss überdies in der Begründung eines Rechtsakts des Rates, mit dem eine restriktive Maßnahme verhängt wird, nicht nur die Rechtsgrundlage dieser Maßnahme genannt werden, sondern es müssen auch die besonderen und konkreten Gründe angegeben werden, aus denen der Rat es in Ausübung seines Ermessens für angebracht hielt, den Betroffenen einer solchen Maßnahme zu unterwerfen (vgl. Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Im vorliegenden Fall werden sowohl in den ursprünglichen Rechtsakten als auch in den Fortsetzungsrechtsakten von März 2023 und September 2023 im Rahmen ihrer jeweiligen Erwägungsgründe der Kontext und die Rechtsgrundlagen angegeben, auf denen sie erlassen wurden. Insbesondere geht aus den Präambeln der angefochtenen Rechtsakte hervor, dass die sehr ernste Lage in der Ukraine sowie die Fortsetzung von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit dieses Landes untergraben oder bedrohen, die Aufnahme der genannten Personen in die streitigen Listen sowie ihre Belassung auf diesen Listen rechtfertigen.
41 Darüber hinaus enthält die oben in Rn. 11 wiedergegebene Darstellung der tatsächlichen Umstände eine hinreichend klare und genaue Begründung, die es der Klägerin ermöglicht, nachzuvollziehen, warum ihr Name in die streitigen Listen aufgenommen und anschließend dort belassen wurde, und dem Gericht ermöglicht, seine Kontrolle auszuüben. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin geht aus den angefochtenen Rechtsakten hervor, dass sie sich nicht auf eine Umformulierung des in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f des geänderten Beschlusses 2014/145 vorgesehenen Aufnahmekriteriums beschränken. Im Einzelnen heißt es in den Gründen für die Aufnahme, dass die Klägerin die größte Wertpapierverwahrstelle in Russland sei, Zugang zum internationalen Finanzsystem habe und als systemrelevantes Finanzinstitut eingestuft werde, das eine wesentliche Rolle für das Funktionieren des russischen Finanzsystems spiele, so dass sie direkt oder indirekt die Tätigkeiten, politischen Maßnahmen und Mobilisierung der Ressourcen der russischen Regierung unterstütze. Darüber hinaus wird in den Gründen für die Aufnahme auch die Tatsache erwähnt, dass die Klägerin von der russischen Regierung kontrolliert werde.
42 Da außerdem weder alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden brauchen, noch auf die Erwägungen des Betroffenen bei seiner Anhörung vor Erlass des Rechtsakts im Einzelnen eingegangen werden muss, kann das Vorbringen, dass in den angefochtenen Rechtsakten nicht angegeben werde, wann und unter welchen Umständen die Regierung unterstützt worden sei, und auch keine spezifische Transaktion genannt werde, keinen Erfolg haben.
43 Was das Vorbringen betrifft, die Begründung der Aufnahme in die Liste sei insoweit fehlerhaft, als behauptet werde, die Klägerin werde indirekt von der russischen Regierung kontrolliert, ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Stichhaltigkeit der Gründe zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Die Begründung eines Rechtsakts soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen dieser Rechtsakt beruht. Weisen die Gründe Fehler auf, so beeinträchtigen diese die materielle Rechtmäßigkeit des Rechtsakts, nicht aber dessen Begründung, die, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält, zureichend sein kann (Urteile vom 5. November 2014, Mayaleh/Rat, T‑307/12 und T‑408/13, EU:T:2014:926, Rn. 96, und vom 22. Juni 2022, Haswani/Rat, T‑479/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:383, Rn. 57). Folglich ist das Vorbringen der Klägerin zurückzuweisen.
44 Zu dem Vorbringen der Klägerin, dass der Rat die Gründe dafür nicht dargelegt habe, dass die Vermögenswerte ihrer Kunden durch die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen eingefroren worden seien, und dass der Rat alle von diesen Maßnahmen betroffenen Kunden der Klägerin hätte bestimmen und prüfen müssen, ob jeder einzelne dieser Kunden individuell die in den Aufnahmekriterien vorgesehenen Voraussetzungen erfülle, ist festzustellen, dass die Begründungspflicht, wie der Rat geltend macht, keine Verpflichtung begründet, alle Auswirkungen des Erlasses des angefochtenen Rechtsakts auf andere Personen darzulegen, und den Rat auch nicht verpflichtet, alle Personen zu bestimmen, die von den restriktiven Maßnahmen gegen die Klägerin mittelbar betroffen sein könnten.
45 Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
2. Zum zweiten und zum vierten Klagegrund: offensichtlicher Beurteilungsfehler und Unzulänglichkeit der Beweise
46 Das Vorbringen, auf das sich der vierte Klagegrund stützt, beschränkt sich im Wesentlichen auf den Vortrag, dass die Gründe für die Aufnahme in die Liste nicht durch ausreichende Beweise untermauert seien. Da die Prüfung des Beurteilungsfehlers die Prüfung umfasst, ob die tatsächliche Grundlage, auf die sich der Rat gestützt hat, ausreichend ist, ist der vierte Klagegrund zusammen mit dem zweiten Klagegrund zu prüfen, mit dem ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht wird.
47 Der zweite Klagegrund besteht aus drei Teilen, mit denen offensichtliche Beurteilungsfehler geltend gemacht werden, erstens insoweit, als festgestellt werde, dass die Klägerin eine wichtige Einrichtung für das russische Finanzsystem sei, die die Tätigkeiten, politischen Maßnahmen und Mobilisierung der Ressourcen der russischen Regierung unterstütze, zweitens insoweit, als festgestellt werde, dass die Klägerin von dieser Regierung kontrolliert werde, und drittens insoweit, als der Rat nicht nachgewiesen habe, dass eine hinreichende Verbindung zwischen der Klägerin und der russischen Regierung bestehe.
a) Vorbemerkungen
48 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass mit dem zweiten Klagegrund ein Beurteilungsfehler und nicht ein offensichtlicher Beurteilungsfehler gerügt wird. Denn es trifft zwar zu, dass der Rat einen gewissen Beurteilungsspielraum hat, um im Einzelfall festzustellen, ob die rechtlichen Kriterien, auf die die betreffenden restriktiven Maßnahmen gestützt werden, erfüllt sind, doch müssen die Unionsgerichte eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Union gewährleisten (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gewährleistete Effektivität der gerichtlichen Kontrolle erfordert u. a., dass sich die Unionsgerichte vergewissern, ob die Entscheidung, mit der restriktive Maßnahmen erlassen oder aufrechterhalten werden und die eine individuelle Betroffenheit der betroffenen Person oder Organisation begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der tatsächlichen Umstände voraus, die in der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Begründung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um diese Entscheidung zu stützen – erwiesen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 119, und vom 26. Oktober 2022, Ovsyannikov/Rat, T‑714/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:674, Rn. 62).
50 Bei dieser Beurteilung sind die Beweise und Informationen nicht isoliert, sondern in dem Zusammenhang zu prüfen, in dem sie stehen. Der Rat erfüllt die ihm obliegende Beweislast, wenn er vor dem Unionsgericht auf ein Bündel von Indizien hinweist, die hinreichend konkret, genau und übereinstimmend sind und die Feststellung ermöglichen, dass eine hinreichende Verbindung zwischen der Person oder der Organisation, die einer Maßnahme des Einfrierens ihrer Gelder unterworfen ist, und dem bekämpften Regime oder ganz allgemein den bekämpften Situationen besteht (vgl. Urteil vom 20. Juli 2017, Badica und Kardiam/Rat, T‑619/15, EU:T:2017:532, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung, Urteil vom 26. Oktober 2022, Ovsyannikov/Rat, T‑714/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:674, Rn. 63 und 66).
51 Im Streitfall ist es Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person oder Organisation vorliegenden Gründe nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person oder Organisation, den Nachweis zu erbringen, dass diese Gründe nicht stichhaltig sind. Hierzu braucht der Rat dem Unionsgericht nicht sämtliche Informationen und Beweise vorzulegen, die mit den Gründen zusammenhängen, die in dem Rechtsakt, dessen Nichtigerklärung beantragt wird, angegeben werden. Die vorgelegten Informationen oder Beweise müssen die Gründe stützen, die gegen die betroffene Person oder Organisation vorliegen (Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 121 und 122, und vom 28. November 2013, Rat/Fulmen und Mahmoudian, C‑280/12 P, EU:C:2013:775, Rn. 66 und 67; vgl. auch Urteil vom 1. Juni 2022, Prigozhin/Rat, T‑723/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:317, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 In diesem Fall ist es Sache des Unionsgerichts, die inhaltliche Richtigkeit der vorgetragenen Tatsachen anhand dieser Informationen oder Beweise zu prüfen und deren Beweiskraft anhand der Umstände des Einzelfalls und im Licht etwaiger dazu abgegebener Stellungnahmen, insbesondere der betroffenen Person oder Organisation, zu würdigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 124).
53 Was insbesondere die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Rechtsakte betrifft, mit denen der Name der betroffenen Person auf den streitigen Listen belassen wurde, ist daran zu erinnern, dass restriktive Maßnahmen Sicherungscharakter haben und definitionsgemäß vorläufiger Natur sind, so dass ihre Gültigkeit immer von der Fortdauer der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die ihrem Erlass zugrunde gelegen haben, sowie von der Notwendigkeit abhängig ist, sie zur Erreichung des mit ihnen verbundenen Ziels aufrechtzuerhalten. Insoweit obliegt es dem Rat bei der regelmäßigen Überprüfung dieser Maßnahmen, eine aktualisierte Bewertung der Lage vorzunehmen und eine Bilanz der Auswirkungen dieser Maßnahmen zu ziehen, um festzustellen, ob sie es ermöglicht haben, die mit der ursprünglichen Aufnahme der Namen der betreffenden Personen und Einrichtungen in die streitigen Listen verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob im Hinblick auf diese Personen und Organisationen nach wie vor dieselbe Schlussfolgerung gezogen werden kann (vgl. Urteil vom 27. April 2022, Ilunga Luyoyo/Rat, T‑108/21, EU:T:2022:253, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil vom 26. Oktober 2022, Ovsyannikov/Rat, T‑714/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:674, Rn. 67).
54 Daraus folgt, dass es dem Rat nicht verwehrt ist, sich zur Rechtfertigung der Belassung des Namens einer Person auf einer Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen und Organisationen auf die gleichen Beweise zu stützen, die die ursprüngliche Aufnahme, die erneute Aufnahme oder die frühere Belassung des Namens dieser Person auf dieser Liste gerechtfertigt haben, sofern zum einen die Gründe für die Aufnahme unverändert bleiben und sich zum anderen der Kontext nicht in einer Weise weiterentwickelt hat, dass diese Beweise obsolet geworden wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. September 2020, Kaddour/Rat, T‑510/18, EU:T:2020:436, Rn. 99). Insoweit zu berücksichtigen sind bei der Weiterentwicklung des Kontexts einerseits die Situation des Landes, gegenüber dem das System restriktiver Maßnahmen errichtet wurde, sowie die besondere Situation der betroffenen Person (Urteil vom 26. Oktober 2022, Ovsyannikov/Rat, T‑714/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:674, Rn. 78; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 23. September 2020, Kaddour/Rat, T‑510/18, EU:T:2020:436, Rn. 101) und andererseits alle relevanten Umstände und insbesondere die Erreichung der mit den restriktiven Maßnahmen angestrebten Ziele (Urteil vom 27. April 2022, Ilunga Luyoyo/Rat, T‑108/21, EU:T:2022:253, Rn. 56; vgl. in diesem Sinne und entsprechend auch Urteil vom 12. Februar 2020, Amisi Kumba/Rat, T‑163/18, EU:T:2020:57, Rn. 82 bis 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Als Zweites ist festzustellen, dass der Name der Klägerin auf der Grundlage des in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f des geänderten Beschlusses 2014/145 vorgesehenen Kriteriums in die streitigen Listen aufgenommen wurde, das u. a. juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen erfasst, die die Regierung der Russischen Föderation materiell oder finanziell unterstützen (im Folgenden: Kriterium der materiellen oder finanziellen Unterstützung der Regierung).
56 Die mit den restriktiven Maßnahmen verfolgte Zielsetzung besteht darin, größtmöglichen Druck auf die russischen Behörden auszuüben, damit sie ihre Aktionen und ihre Politik zur Destabilisierung der Ukraine sowie den militärischen Angriff auf dieses Land beenden (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 163 und die dort angeführte Rechtsprechung), insbesondere durch die Erhöhung der Kosten für die die territoriale Unversehrtheit, die Souveränität und die Unabhängigkeit der Ukraine untergrabenden Handlungen der Russischen Föderation (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, Rosneft u. a./Rat, T‑715/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:544, Rn. 157).
57 Hinzuweisen ist darauf, dass das Kriterium der materiellen oder finanziellen Unterstützung der Regierung nicht erfordert, dass die betreffenden Personen oder Organisationen eine Unterstützung leisten, die direkt oder indirekt mit der Annexion der Krim oder der Destabilisierung der Ukraine zusammenhängt. Unter materieller oder finanzieller Unterstützung im Sinne dieses Kriteriums ist nämlich jede Unterstützung zu verstehen, die dieser Regierung aufgrund ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung Ressourcen oder Fazilitäten materieller oder finanzieller Art zur Verfügung stellen kann, die es ihr ermöglichen, ihre Handlungen zur Destabilisierung der Ukraine fortzusetzen (vgl. entsprechend Urteil vom 7. April 2016, Central Bank of Iran/Rat, C‑266/15 P, EU:C:2016:208, Rn. 44).
58 Im Licht dieser Grundsätze ist zu prüfen, ob der Rat einen Beurteilungsfehler begangen hat, indem er entschied, den Namen der Klägerin auf der Grundlage des Kriteriums der materiellen oder finanziellen Unterstützung der Regierung in die streitigen Listen aufzunehmen und sodann darauf zu belassen.
b) Zum Inhalt der Beweisakten des Rates
59 Im vorliegenden Fall hat der Rat drei Beweisakten vorgelegt, um die Aufnahme und die Belassung des Namens der Klägerin auf den streitigen Listen zu rechtfertigen.
60 Zur Rechtfertigung der ursprünglichen Aufnahme der Klägerin in die streitigen Listen hat der Rat die erste Beweisakte mit öffentlich zugänglichen Informationen vorgelegt, nämlich Links zu Websites, Screenshots und Nachrichtenartikeln. Es handelt sich u. a. um Folgendes:
–
einen Screenshot einer Präsentationsseite der Klägerin auf ihrer Website, abgerufen am 29. April 2022 (Beweisstück Nr. 1);
–
einen Screenshot einer anderen Präsentationsseite der Klägerin auf ihrer Website, abgerufen am 12. Mai 2022 (Beweisstück Nr. 2);
–
einen Auszug aus einer im Juli 2016 veröffentlichten technischen Notiz mit dem Titel „Programm zur Bewertung des Finanzsektors der Russischen Föderation, Finanzinfrastruktur“, verfügbar auf der Website „worldbank.org“, abgerufen am 12. Mai 2022 (Beweisstück Nr. 7);
–
einen Auszug aus einem am 2. September 2021 auf der Website der Association of Eurasian central securites depositories (Vereinigung der eurasischen Zentralverwahrer) veröffentlichten Bericht über die finanzielle Leistung der Klägerin im zweiten Quartal 2021, abgerufen am 12. Mai 2022 (Beweisstück Nr. 8);
–
eine am 31. März 2022 auf der Nachrichten-Website „reuters.com“ veröffentlichte Meldung mit dem Titel „Russland hat Coupons für sieben OFZ-Anleihen gezahlt – Finanzministerium“, abgerufen am 2. Mai 2022 (Beweisstück Nr. 11).
61 Zur Rechtfertigung der Belassung der Klägerin auf den streitigen Listen im Rahmen der Fortsetzungsrechtsakte von März 2023 hat sich der Rat auch auf die Beweise gestützt, die in der zweiten Beweisakte vorgelegt werden, die öffentlich zugängliche Informationen enthält, nämlich Links zu Websites, Screenshots und Nachrichtenartikeln. Es handelt sich u. a. um Folgendes:
–
einen Auszug aus dem am 4. März 2022 veröffentlichten Jahresbericht der Moskauer Börse (im Folgenden: MOEX) für das Jahr 2021, verfügbar auf der Website dieses Unternehmens, abgerufen am 22. November 2022 (Beweisstück Nr. 2);
–
eine am 15. November 2022 auf der Website der Klägerin veröffentlichte Pressemitteilung zu ihrem Finanzrating, abgerufen am 22. November 2022 (Beweisstück Nr. 3);
–
eine am 5. Oktober 2022 auf der Nachrichten-Website „interfax.ru“ veröffentlichte Meldung mit dem Titel „Das Finanzministerium hat 4,9 Mrd. Rubel an die NSD übertragen, um den Coupon für die Eurobonds Russia 2042 zu zahlen“, abgerufen am 25. November 2022 (Beweisstück Nr. 5);
–
eine am 16. September 2022 auf der Nachrichten-Website „ria.ru“ veröffentlichte Meldung mit dem Titel „Das Finanzministerium hat Coupons für zwei Eurobond-Emissionen in Rubel gezahlt“, abgerufen am 17. November 2022 (Beweisstück Nr. 8);
–
einen am 29. September 2022 auf der Nachrichtenseite „ria.ru“ veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Das Finanzministerium hat den Coupon für im Jahr 2035 fällige Eurobonds in Rubel gezahlt“, abgerufen am 17. November 2022 (Beweisstück Nr. 9);
–
einen Screenshot einer Veröffentlichung auf der offiziellen Website des russischen Finanzministers zur erfolgreichen Zahlung von Coupons für Eurobonds, abgerufen am 25. November 2022 (Beweisstück Nr. 10).
62 Da im vorliegenden Fall die Gründe für die Aufnahme und die Belassung der Klägerin auf den streitigen Listen unverändert geblieben sind, ist es nicht erforderlich, zwischen den ursprünglichen Rechtsakten einerseits und den Fortsetzungsrechtsakten von März 2023 und September 2023 andererseits zu unterscheiden, weil sich die Überprüfung der Informationen, die in der Begründung und in den in den Beweisakten enthaltenen Beweisen angegeben sind, im Wesentlichen auf die gleichen tatsächlichen Umstände bezieht.
c) Zu den Beweisen, die den Schriftsätzen des Rates beigefügt sind
63 In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin vorgetragen, dass die Beweise, die der Rat der Klagebeantwortung und der Gegenerwiderung beigefügt habe, nicht zuzulassen seien.
64 Als Erstes macht die Klägerin in Bezug auf die der Gegenerwiderung beigefügten Beweise geltend, dass diese unter Verstoß gegen Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung verspätet vorgelegt worden seien.
65 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung bestimmt, dass Beweise und Beweisangebote im Rahmen des ersten Schriftsatzwechsels vorzulegen sind. Nach Abs. 2 dieses Artikels können die Hauptparteien für ihr Vorbringen noch in der Erwiderung oder in der Gegenerwiderung Beweise oder Beweisangebote vorlegen, sofern die Verspätung der Vorlage gerechtfertigt ist.
66 Außerdem ist Art. 85 Abs. 2 der Verfahrensordnung im Zusammenhang mit Art. 92 Abs. 7 der Verfahrensordnung zu sehen, der ausdrücklich vorsieht, dass Gegenbeweis und Erweiterung der Beweisangebote vorbehalten bleiben. Folglich sind nach ständiger Rechtsprechung der Gegenbeweis und die Erweiterung der Beweisangebote im Anschluss an einen Gegenbeweis der Gegenpartei von der Präklusionsvorschrift von Art. 85 Abs. 2 der Verfahrensordnung nicht erfasst (Urteile vom 18. September 2017, Uganda Commercial Impex/Rat, T‑107/15 und T‑347/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:628, Rn. 72, und vom 13. September 2023, ITD und Danske Fragtmænd/Kommission, T‑525/20, EU:T:2023:542, Rn. 78).
67 Im vorliegenden Fall geht aus der Gegenerwiderung hervor, dass die Anlagen D.1 bis D.6 dieses Schriftsatzes Beweise für die Bedeutung der Zentralverwahrer (im Folgenden: CSDs) und der Klägerin für das ordnungsgemäße Funktionieren des Finanzsystems darstellen. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Rat diese Beweise vorgelegt hat, um auf das Vorbringen der Klägerin in der Erwiderung zu antworten, mit dem die Zuverlässigkeit der in der Klagebeantwortung enthaltenen Angaben in Frage gestellt werden soll.
68 Die Anlage D.7 der Gegenerwiderung betrifft systemrelevante Zahlungssysteme und ist vom Rat als Antwort auf das Vorbringen der Klägerin in ihrer Erwiderung vorgelegt worden, mit dem die Klägerin bestreitet, dass sie die russische Regierung als Betreiber eines systemrelevanten Zahlungssystems begünstigt habe.
69 Mit den Anlagen D.8 und D.9 zur Gegenerwiderung, die sich auf die Russische Zentralbank beziehen, wird auf das Vorbringen in der Erwiderung eingegangen, dass diese Institution von den russischen föderalen Behörden unabhängig sei. Anlage D.10 der Gegenerwiderung, die die Sberbank betrifft, ist vorgelegt worden, um dem Vorbringen in der Erwiderung entgegenzutreten, in der auf die Unabhängigkeit dieses Finanzinstituts von der Regierung der Russischen Föderation hingewiesen wird. Mit den Anlagen D.11 und D.12 zur Gegenerwiderung, die die VEB.RF zum Gegenstand haben, wird auf das Vorbringen in der Gegenerwiderung geantwortet, wonach dieses Finanzinstitut sein Vermögen unabhängig verwalte.
70 Somit ist davon auszugehen, dass die Anlagen zur Gegenerwiderung darauf abzielen, das Vorbringen oder die Beweise, die die Klägerin in der Erwiderung vorgelegt hat, zu widerlegen, und somit einen Gegenbeweis im Sinne von Art. 92 Abs. 7 der Verfahrensordnung darstellen.
71 Die Anlagen zur Gegenerwiderung sind daher zulässig.
72 Als Zweites macht die Klägerin geltend, das Gericht könne die der Klagebeantwortung und der Gegenerwiderung beigefügten Beweise nicht berücksichtigen, da sie nicht in der ersten Beweisakte enthalten gewesen seien.
73 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand des Sachverhalts und der Rechtslage zu beurteilen, die zur Zeit des Erlasses des Aktes bestanden (Urteile vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission,C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 22, und vom 8. März 2023, Prigozhina/Rat, T‑212/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:104, Rn. 80).
74 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die dem Gericht obliegende Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit, insbesondere im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über restriktive Maßnahmen, nicht nur auf der Grundlage der in den Begründungen der streitigen Rechtsakte enthaltenen Angaben, sondern auch auf der Grundlage der Angaben zu erfolgen hat, die der Rat dem Gericht im Bestreitensfall vorlegt, um die Stichhaltigkeit der in diesen Begründungen behaupteten Tatsachen nachzuweisen (Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 64).
75 Wie die Klägerin feststellt, hatte das Gericht in der Rechtssache, in der das Urteil vom 1. Juni 2022, Prigozhin/Rat (T‑723/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:317), ergangen ist, zwar entschieden, dass der Rat zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Rechtsakte über Angaben verfügen muss, um die Stichhaltigkeit der in der Begründung behaupteten Tatsachen nachzuweisen (Rn. 52 dieses Urteils). Damit wollte das Gericht jedoch nicht jede Möglichkeit ausschließen, bei seiner Kontrolle der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rechtsakte zusätzliche Beweise zu berücksichtigen, die nicht in der Beweisakte enthalten waren und vorgelegt werden, um die Stichhaltigkeit der in den Gründen für die Aufnahme behaupteten Tatsachen zu bestätigen, sofern diese Beweise zum einen Angaben untermauern, die dem Rat zur Verfügung standen, und sich zum anderen auf Umstände beziehen, die vor dem Erlass der in Rede stehenden angefochtenen Rechtsakte lagen.
76 Im vorliegenden Fall ist in Bezug auf die Anlagen B.1 bis B.6 zur Klagebeantwortung, d. h. die biografischen Angaben zu bestimmten Mitgliedern des Verwaltungsrats der MOEX, festzustellen, dass sich mehrere Angaben auf Persönlichkeiten beziehen, die zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Rechtsakte nicht Mitglieder des amtierenden Verwaltungsrats waren. Folglich können die in den Anlagen B.1 bis B.6 zur Klagebeantwortung vorgelegten Beweise nicht berücksichtigt werden, um die Stichhaltigkeit der ursprünglichen Rechtsakte zu überprüfen.
77 Was die Anlagen zur Gegenerwiderung betrifft, so sind diese, wie sich oben aus den Rn. 67 bis 69 ergibt, vom Rat nicht vorgelegt worden, um die Stichhaltigkeit der in den Gründen für die Aufnahme behaupteten Tatsachen zu untermauern, sondern um auf das Vorbringen der Klägerin in ihrer Erwiderung einzugehen. Da es sich nicht um Beweise handelt, die vorgelegt worden sind, um die Stichhaltigkeit der in den Gründen für die Aufnahme dargelegten Tatsachen zu untermauern, sind die oben in den Rn. 73 bis 75 angeführten Grundsätze nicht anwendbar. Somit können im vorliegenden Fall die im Stadium der Gegenerwiderung vorgelegten Beweise vom Gericht berücksichtigt werden, um die Stichhaltigkeit der Ausführungen der Klägerin zu prüfen.
d) Zum ersten Teil des zweiten Klagegrundes: Die Klägerin ermögliche der Regierung nicht, deren Ressourcen zu mobilisieren
78 Die Klägerin trägt vor, die Behauptung, sie sei die einzige Wertpapierverwahrstelle in Russland mit Zugang zum internationalen Finanzsystem, sei falsch, da andere Verwahrstellen in Russland Wertpapierkonten bei internationalen CSDs unterhielten.
79 Die Klägerin führt aus, dass sie als CSD im Sinne des russischen Rechts Teil der internationalen Kette des Wertpapierhandels sei und an der Verwertung, Verwahrung, Abwicklung und Zahlung in Bezug auf verschiedene Wertpapiere beteiligt sei. Der Großteil ihrer Tätigkeiten als CSD richte sich an private Marktteilnehmer und nicht an die russische Regierung. In Bezug auf die vom russischen Finanzministerium ausgegebenen Anleihen argumentierte sie, dass sie nur eines von zahlreichen Finanzinstituten sei, die sich an den Anleiheemissionen beteiligten. Außerdem handele sie als CSD ausschließlich für Rechnung und im Auftrag von Kunden und übertrage keine eigenen Vermögenswerte auf ihre Konten bei ausländischen CSDs; diese Konten halte sie nur treuhänderisch für Rechnung ihrer Kunden. Als CSD seien ihre Beziehungen zu Organisationen, die mit der russischen Regierung verbunden seien, Geschäftsbeziehungen unter Marktbedingungen, die sich nicht von ihren Beziehungen zu ihren übrigen Kunden des öffentlichen und des privaten Sektors unterschieden. Sie bestreitet daher, dass ihre Beziehungen zu den mit der russischen Regierung verbundenen Organisationen als materielle oder finanzielle Unterstützung dieser Regierung angesehen werden können. Darüber hinaus macht die Klägerin in ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz der Kommission geltend, dass das russische Finanzministerium Anleihen ausgeben könne, ohne ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.
80 Darüber hinaus stellt die Klägerin die Bedeutung des von ihr betriebenen Zahlungssystems in Abrede und ist jedenfalls der Ansicht, dass der Rat nicht nachgewiesen habe, dass der Betrieb eines Zahlungssystems von nationaler und systemischer Bedeutung impliziere, dass der russischen Regierung ermöglicht werde, ihre Tätigkeiten und politischen Maßnahmen durchzuführen sowie ihre Ressourcen zu mobilisieren. Die Klägerin trägt in diesem Zusammenhang vor, dass ihre Beziehungen zu den mit der russischen Regierung verbundenen Organisationen in ihrer Eigenschaft als Betreiberin eines Zahlungssystems unter Marktbedingungen stattfänden, so dass die Erbringung von Dienstleistungen in dieser Eigenschaft nicht mit einer materiellen oder finanziellen Unterstützung dieser Regierung gleichzusetzen sei. Darüber hinaus weist die Klägerin darauf hin, dass das Ziel, das Funktionieren der russischen Wirtschaft zu beeinträchtigen, nicht erreicht worden sei, da es viele andere bedeutende Zahlungssysteme gebe, die die gleichen Funktionen erfüllen könnten.
81 Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
82 Als Erstes ist zu prüfen, ob der Rat einen Beurteilungsfehler begangen hat, indem er davon ausging, dass die Klägerin ein systemrelevantes Finanzinstitut sei, das eine wesentliche Rolle für das Funktionieren des russischen Finanzsystems spiele.
83 In diesem Zusammenhang ergibt sich aus Beweisstück Nr. 1 der ersten Beweisakte, dass die Klägerin als „ein wesentlicher Bestandteil der russischen Finanzinfrastruktur“ angesehen wird. Aus Beweisstück Nr. 2 dieser Beweisakte geht hervor, dass die Zentralbank der Russischen Föderation die Klägerin als „eine systemrelevante Finanzmarktinfrastruktur“ betrachtet, als „systemrelevanten Zentralverwahrer für Wertpapiere, Abrechnungsverwahrstelle, Transaktionsregister und Register für Finanzgeschäfte“. Darüber hinaus wird in Beweisstück Nr. 2 der ersten Beweisakte ausgeführt, dass das von der Klägerin betriebene Zahlungssystem von systemischer und nationaler Bedeutung sei. In diesem Beweisstück wird auch auf die Verbindung der Klägerin zum internationalen Finanzsystem hingewiesen, indem sie als Inhaberin von Wertpapierkonten bei anderen CSDs und internationalen CSDs in acht Ländern, von Konten bei ausländischen Depotbanken sowie von Korrespondenzkonten bei großen ausländischen und russischen Banken dargestellt wird. Darüber hinaus habe sich der Wert der durch die von der Klägerin verwahrten Wertpapiere verbrieften Vermögensrechte laut Beweisstück Nr. 2 der ersten Beweisakte im Jahr 2020 auf 63,6 Bio. Rubel (d. h. etwa 636 Mrd. Euro) belaufen.
84 Auch im Beweisstück Nr. 7 der ersten Beweisakte wird auf die Verbindungen der Klägerin zum internationalen Finanzsystem hingewiesen, und das Beweisstück Nr. 8 dieser Akte bestätigt den Umfang der durch die von ihr verwahrten Wertpapiere verbrieften Vermögensrechte, die im zweiten Quartal 2020 einen Betrag von 69,5 Bio. Rubel (d. h. etwa 695 Mrd. Euro) erreicht hätten.
85 Somit ist festzustellen, dass der Rat ab dem Zeitpunkt, zu dem die ursprünglichen Rechtsakte erlassen wurden, über eine hinreichende tatsächliche Grundlage verfügte, um davon auszugehen, dass die Klägerin ein für das russische Finanzsystem wichtiges Finanzinstitut mit Verbindungen zum internationalen Finanzsystem war.
86 Darüber hinaus bestätigt das Beweisstück Nr. 3 der zweiten Beweisakte die Bedeutung der Klägerin für das russische Finanzsystem im Stadium des Erlasses der Fortsetzungsrechtsakte von März 2023 und September 2023, da sie als CSD von „entscheidender Bedeutung“ beschrieben wird, der eine „außergewöhnliche Rolle auf dem russischen Finanzdienstleistungsmarkt [zukommt], um das ordnungsgemäße Funktionieren der Marktinfrastruktur zu gewährleisten“.
87 Das Vorbringen der Klägerin ist nicht geeignet, diese Schlussfolgerung in Frage zu stellen.
88 Erstens stellt die Klägerin die Bedeutung der CSDs im Finanzsystem und ihre Verbindungen zu Regierungen in Abrede. Aus den Erläuterungen des Rates in seinen Schriftsätzen und der Kommission in der mündlichen Verhandlung geht jedoch hervor, dass die CSDs als systemrelevante Organisationen angesehen werden, die insbesondere für die wirksame Umsetzung der Geldpolitik, die Glaubwürdigkeit eines Programms zur Verwaltung der öffentlichen Schulden, die Verwaltung von Sicherheiten sowie die Sicherheit und Effizienz der Wertpapiermärkte von wesentlicher Bedeutung sind. Die Behauptungen der Klägerin werden nicht nur durch die Arbeitspapiere des Internationalen Währungsfonds (Anlage D.1 zur Gegenerwiderung), sondern auch durch die Angaben der Deutschen Bundesbank (Deutschland) (Anlage D.3 zur Gegenerwiderung) und der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) (Anlage D.4 zur Gegenerwiderung) widerlegt. Es ist festzustellen, dass die Klägerin nichts vorgetragen hat, was die Zuverlässigkeit dieser Angaben in Frage stellen könnte.
89 Was zweitens das Vorbringen betrifft, mit dem die Klägerin die Bedeutung des von ihr betriebenen Zahlungssystems bestreitet, ist festzustellen, dass sie keinen Beweis zur Untermauerung ihrer Behauptung erbracht hat, ihr Zahlungssystem sei im Wesentlichen nur deshalb als systemrelevant anerkannt worden, weil es Zahlungsvorgänge im Rahmen des organisierten Handels abwickele. Wie der Rat zutreffend ausführt, legt nämlich Art. 22 Abs. 1 des von der Klägerin vorgelegten russischen Föderalen Gesetzes Nr. 161-FZ vom 27. Juni 2011 über das nationale Zahlungssystem die Kriterien für die Einstufung eines Zahlungssystems als systemrelevant fest, enthält aber keine Angabe dazu, dass die Klägerin aufgrund des Kriteriums der Verarbeitung von im Rahmen des organisierten Handels getätigten Transaktionen als solches eingestuft wird. Außerdem wurde das Zahlungssystem der Klägerin entgegen ihrem Vorbringen nicht allein deshalb als von nationaler Bedeutung angesehen, weil sich die von ihr verwendeten IT‑Infrastrukturen in Russland befanden. Zwar ist nach Art. 22 Abs. 13 des genannten Gesetzes in Verbindung mit dem von der Klägerin zu den Akten gereichten Vermerk der Zentralbank der Russischen Föderation vom 25. Juli 2014 über die Anforderungen an die Informationstechnologie, die von den Betreibern von Zahlungsdiensten für die Zwecke der Anerkennung als Zahlungssystem von nationaler Bedeutung eingesetzt wird, eines der Kriterien für die Anerkennung als Einrichtung von nationaler Bedeutung, dass sich die IT‑Infrastruktur in Russland befindet. Diese Bestimmung verlangt jedoch auch die Erfüllung eines weiteren Kriteriums, nämlich den Nachweis, dass die Russische Föderation, die Zentralbank der Russischen Föderation oder Bürger der Russischen Föderation den Betreiber des Zahlungssystems und die Betreiber der Zahlungsinfrastrukturdienste direkt oder indirekt kontrollieren. Jedenfalls ist festzustellen, dass weder das russische föderale Gesetz Nr. 161-FZ vom 27. Juni 2011 über das nationale Zahlungssystem noch der vorgenannte Vermerk der Zentralbank der Russischen Föderation die Bedeutung des von der Klägerin betriebenen Zahlungssystems oder die Tatsache, dass es sich um ein systemrelevantes Finanzinstitut in Russland handelt, in Frage stellen können. Im Übrigen geht aus der Anlage C.6 zur Erwiderung hervor, dass das Zahlungssystem der Klägerin von der Zentralbank der Russischen Föderation insbesondere im Rahmen der Refinanzierung von Kreditinstituten oder von Offenmarktgeschäften verwendet wird, die die Bereitstellung oder Verwaltung von Liquidität auf dem Markt ermöglichen. Da das von der Klägerin betriebene Zahlungssystem u. a. für die Umsetzung der russischen Geldpolitik verwendet wird, kann sie daher nicht geltend machen, dass es ohne jede Bedeutung sei.
90 Zu dem Vorbringen der Klägerin, das Ziel, das Funktionieren der russischen Wirtschaft zu beeinträchtigen, sei nicht erreicht worden, insbesondere weil es 54 andere Zahlungssysteme gebe, die die gleichen Funktionen wie das von ihr betriebene Zahlungssystem erfüllen könnten, ist festzustellen, dass sie weder Beweise für die Existenz dieser anderen Zahlungssysteme vorlegt noch einen Anhaltspunkt liefert, der die Annahme zuließe, dass es sich um systemrelevante Zahlungssysteme handelt. Außerdem kann der behauptete Umstand, dass die restriktiven Maßnahmen ihr Ziel nicht erreicht hätten, nichts an der Feststellung ändern, dass die Klägerin ein systemrelevantes Zahlungssystem betreibt. Dieser Umstand steht nämlich in keinem Zusammenhang mit der systemrelevanten Bedeutung des Zahlungssystems.
91 Drittens bestreitet die Klägerin nicht, dass sie Verbindungen zum internationalen Finanzsystem hat, sondern behauptet, dass andere russische Wertpapierverwahrstellen ebenfalls Zugang zum internationalen Finanzsystem hätten. Insbesondere weist sie darauf hin, dass zwei weitere Finanzinstitute Wertpapierkonten direkt bei Euroclear unterhielten. Daher habe der Rat einen Beurteilungsfehler begangen, indem er in den Gründen für die Aufnahme in die Listen festgestellt habe, dass sie die einzige russische Verwahrstelle mit Zugang zum internationalen Finanzsystem sei. Hierzu ist festzustellen, dass die Aufnahme der Klägerin in die streitigen Listen aufgrund ihrer Rolle für das Funktionieren des russischen Finanzsystems, insbesondere als zentrale Wertpapierverwahrstelle, und durch ihre Verbindungen zum internationalen Finanzsystem gerechtfertigt ist. Selbst wenn der Rat mit der Feststellung, die Klägerin sei die einzige Wertpapierverwahrstelle in Russland mit Verbindungen zum internationalen Finanzsystem, einen Fehler begangen haben sollte, könnte ein solcher Fehler für sich genommen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rechtsakte nicht beeinträchtigen. Der Umstand, dass es andere Wertpapierverwahrstellen mit Zugang zum internationalen Finanzsystem geben könnte, widerlegt nämlich nicht die Feststellung, dass die Klägerin die einzige zentrale Verwahrstelle in Russland war und eine wesentliche Rolle für das Funktionieren des russischen Finanzsystems spielte.
92 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, dass der Rat einen Beurteilungsfehler begangen hat, indem er feststellte, dass sie ein systemrelevantes Finanzinstitut sei, das eine wesentliche Rolle für das Funktionieren des russischen Finanzsystems spiele.
93 Als Zweites ist zu prüfen, ob der Rat angesichts der wichtigen Rolle der Klägerin im russischen Finanzsystem zu Unrecht festgestellt hat, dass die Klägerin direkt oder indirekt die Tätigkeiten, politischen Maßnahmen und Mobilisierung der Ressourcen der russischen Regierung unterstütze.
94 Erstens geht aus Beweisstück Nr. 2 der ersten Beweisakte hervor, dass die vom russischen Finanzministerium ausgegebenen Anleihen im Jahr 2020 einen Anteil von 22 % der gesamten von der Klägerin gehaltenen Vermögenswerte ausmachten, was einem Betrag von etwa 12,72 Bio. Rubel (d. h. etwa 127,2 Mrd. Euro) entsprach. Laut Beweisstück Nr. 8 dieser Beweisakte war der Wert des Saldos der von der Klägerin verwahrten Staatsanleihen im zweiten Quartal 2021 auf 15,2 Bio. Rubel (d. h. etwa 152 Mrd. Euro) gestiegen. Darüber hinaus verwaltet die Bank die Staatsanleihen, da sie, wie aus Beweisstück Nr. 11 der ersten Beweisakte hervorgeht, Zahlungen vom russischen Finanzministerium erhält, um die Zinszahlungen an die Gläubiger der Staatsanleihen sicherzustellen.
95 In Bezug auf die ursprünglichen Rechtsakte verfügte der Rat mit der ersten Beweisakte somit über eine hinreichende tatsächliche Grundlage, um festzustellen, dass die Klägerin durch die Dienstleistungen, die sie als CSD für die russische Regierung bei der Emission, Verwahrung und Verwaltung der Staatsanleihen erbrachte, die Tätigkeiten, politischen Maßnahmen und Ressourcen dieser Regierung unterstützte.
96 Diese Schlussfolgerung wurde im Stadium des Erlasses der Fortsetzungsrechtsakte von März 2023 und September 2023 bestätigt. Aus Beweisstück Nr. 2 der zweiten Beweisakte geht nämlich hervor, dass sich der Wert des Saldos der von der Klägerin verwahrten Staatsanleihen Ende 2021 auf 15,5 Bio. Rubel (d. h. etwa 155 Mrd. Euro) belief. Darüber hinaus enthält die zweite Beweisakte Beweisstücke, aus denen sich ergibt, dass das russische Finanzministerium Beträge in Höhe von mehreren Milliarden Rubel auf die Klägerin übertragen hat, um Coupons für bestimmte Anleihen zu zahlen, insbesondere für die „Russland-2042“-Eurobonds (Beweisstück Nr. 5) sowie für Eurobonds, die 2023 und 2043 (Beweisstück Nr. 8), 2035 (Beweisstück Nr. 9) sowie 2027 und 2032 (Beweisstück Nr. 10) fällig werden.
97 Das Vorbringen der Klägerin kann diese Schlussfolgerung nicht in Frage stellen.
98 Zunächst stellt der Umstand, dass die Klägerin die vom russischen Finanzministerium ausgegebenen Anleihen nicht auf eigene Rechnung erwirbt, sondern nur im Namen und im Auftrag von Kunden handelt, entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht die Feststellung in Frage, dass sie durch die Finanzdienstleistungen, die sie als CSD der Regierung der Russischen Föderation im Zusammenhang mit deren Anleiheemissionen anbietet – wie der Rat und die Kommission zu Recht geltend machen –, zur Glaubwürdigkeit des Programms zur Verwaltung der öffentlichen Schulden beiträgt. Durch ihre Rolle als Finanzmittler bei der Verwahrung und Verwaltung der Staatsanleihen ermöglicht die Klägerin somit der russischen Regierung, Ressourcen zu mobilisieren. Ebenso ist zu beachten, dass die Klägerin nach Beweisstück Nr. 2 der ersten Beweisakte und Beweisstück Nr. 2 der zweiten Beweisakte einen quantitativ bedeutenden Betrag an Staatsanleihen verwahrt und verwaltet, deren Integrität sie gewährleistet und für die sie die Auszahlung der Coupons an die Gläubiger für Rechnung der russischen Regierung sicherstellt.
99 Sodann trifft es zwar zu, dass die Klägerin bei den Anleiheemissionen des russischen Finanzministeriums neben anderen Finanzinstituten und internationalen Anwaltskanzleien an diesen Emissionen beteiligt ist, doch muss die entscheidende Rolle der von der Klägerin erbrachten Dienstleistungen bei der Verwaltung der öffentlichen Schulden der Russischen Föderation berücksichtigt werden. Wie oben in Rn. 98 festgestellt, tragen nämlich die Überwachung und die Verwahrung der Staatsanleihen sowie die Involvierung der Klägerin in die Zahlung von Zinsen an die Gläubiger zur Glaubwürdigkeit des Programms zur Verwaltung der öffentlichen Schulden bei, was sie von den anderen an den Emissionen von Staatsanleihen beteiligten Finanzinstituten unterscheidet. Insoweit ist festzustellen, dass das Vorbringen, das russische Finanzministerium könne Anleihen ausgeben, indem es die Dienste anderer russischer Wertpapierverwahrstellen oder ausländischer Wertpapierverwahrstellen in Anspruch nehme, durch keinen Beweis untermauert wird. Jedenfalls kann dieses Vorbringen keinen Erfolg haben. Selbst wenn man annimmt, dass die russische Regierung auf andere Marktteilnehmer zurückgreifen könnte, stellt diese Tatsache allein nicht die Bedeutung der Klägerin im Zusammenhang mit der Emission und der Verwaltung der Staatsanleihen in Frage, da sie Ende 2021 Staatsanleihen im Wert von mehreren Billionen Rubel, nämlich 15,5 Bio. Rubel (etwa 155 Mrd. Euro), in ihren Registern hielt. Darüber hinaus geht aus Beweisstück Nr. 2 der ersten Beweisakte hervor, dass die russische Regierung im Jahr 2020 die Dienste der Klägerin für die Emission von Staatsanleihen in Höhe von 4,7 Bio. Rubel (d. h. etwa 47 Mrd. Euro) in Anspruch genommen hat. Laut Beweisstück Nr. 2 der zweiten Beweisakte ist der Gesamtbetrag der von der Klägerin verwahrten Staatsanleihen zwischen 2020 und 2021 um 13,3 % gestiegen. Diese Gesichtspunkte bestätigen die Bedeutung der Dienstleistungen, die die Klägerin der russischen Regierung im Rahmen von deren Programm zur Ausgabe von Staatsanleihen angeboten hat. Darüber hinaus kann der Umstand, dass die Klägerin als CSD auch Dienstleistungen für private Unternehmen erbracht hat, nicht die Tatsache in Frage stellen, dass die Dienstleistungen, die der russischen Regierung im Rahmen der Verwaltung der öffentlichen Schulden erbracht wurden, dieser Regierung ermöglichten, ihre Ressourcen zu mobilisieren.
100 Was schließlich das Vorbringen anbelangt, die Beziehungen der Klägerin zu den mit der russischen Regierung verbundenen Organisationen seien Geschäftsbeziehungen unter Marktbedingungen, die mit den Geschäftsbeziehungen zu ihren Privatkunden vergleichbar seien, ist festzustellen, dass dieser Umstand für sich genommen die Bedeutung der von der Klägerin im Rahmen der Emission, Verwahrung und Verwaltung der Staatsanleihen angebotenen Dienstleistungen nicht in Frage stellen kann, da er in keinem Zusammenhang mit der Bedeutung dieser Dienstleistungen steht. Außerdem hat die Klägerin die Anleger laut Beweisstück Nr. 11 der ersten Beweisakte im März 2022 darüber informiert, dass ausländische Inhaber von Staatsanleihen gemäß einer Anordnung der russischen Zentralbank keine Couponzahlungen auf diese Anleihen mehr erhalten dürften. Da die Klägerin der Anordnung der Zentralbank Folge leisten musste, konnte der Rat zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Rechtsakte zu Recht davon ausgehen, dass sie nicht mehr in Übereinstimmung mit den üblichen geschäftlichen Standards tätig wurde. Es ist festzustellen, dass die Klägerin diese Tatsache nicht bestreitet, da sie in ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz der Kommission bestätigt hat, dass die Zentralbank der Russischen Föderation am 28. Februar 2022 eine verbindliche Anordnung an die Wertpapierverwahrstellen gerichtet hatte, wonach diese die Transaktionen zur Belastung von Wertpapieren russischer Emittenten auf Wertpapierkonten ausländischer treuhänderischer Inhaber oder ausländischer Inhaber vorübergehend auszusetzen hatten. Daraus folgt, dass die Klägerin ab dem Zeitpunkt, zu dem sie die Anordnung der Zentralbank der Russischen Föderation vom 28. Februar 2022 umsetzte, sich nicht mehr darauf berufen konnte, dass ihre Beziehungen zu den mit der russischen Regierung verbundenen Organisationen Beziehungen unter Marktbedingungen seien, die mit den Geschäftsbeziehungen zu ihren Privatkunden vergleichbar seien.
101 Zweitens ist festzustellen, dass das russische Föderale Schatzamt im Jahr 2021 laut Beweisstück Nr. 8 der ersten Beweisakte das Sicherheitenmanagementsystem der Klägerin für die Anlage liquider Mittel für Pensionsgeschäfte in Höhe von bis zu 40,8 Bio. Rubel (d. h. etwa 408 Mrd. Euro) verwendet hat. Diese Tatsache wird im Zusammenhang mit dem Erlass des Fortsetzungsrechtsakts von März 2023 durch Beweisstück Nr. 2 der zweiten Beweisakte bestätigt. In Beantwortung einer prozessleitenden Maßnahme hat die Klägerin bestätigt, dass das russische Föderale Schatzamt ihr Sicherheitenmanagementsystem verwende. In ihrer Antwort äußerte sie den Vorbehalt, dass die vom Rat vorgelegten Beweisstücke nicht zuverlässig seien. Es genügt jedoch der Hinweis, dass es sich bei dem Beweisstück Nr. 2 der zweiten Beweisakte um einen Bericht der MOEX handelt, d. h. der Gesellschaft, die mehr als 99 % der Anteile der Klägerin hält, so dass die Klägerin nicht geltend machen kann, dass die Angaben in diesem Bericht nicht zuverlässig seien. Was darüber hinaus die Behauptung anbelangt, dass das russische Föderale Schatzamt das Sicherheitenmanagementsystem der Klägerin unter Marktbedingungen nutze, die mit denen vergleichbar seien, die auf Privatkunden angewandt würden, kann sich die Klägerin aus den gleichen wie den oben in Rn. 100 dargelegten Gründen nicht auf eine solche Tatsache berufen, um die Bedeutung der Dienstleistungen, die sie für die russische Regierung erbracht hat, in Abrede zu stellen. In Anbetracht der Höhe der liquiden Mittel, die das russische Finanzministerium unter Inanspruchnahme des Sicherheitenmanagementsystems der Klägerin anlegte, ging der Rat daher ohne Beurteilungsfehler davon aus, dass das Sicherheitenmanagementsystem der Klägerin der russischen Regierung die Mobilisierung von Ressourcen ermöglichte.
102 Drittens geht auch aus Beweisstück Nr. 8 der ersten Beweisakte und aus Beweisstück Nr. 2 der zweiten Beweisakte hervor, dass die Zentralbank der Russischen Föderation das Sicherheitenmanagementsystem der Klägerin im Jahr 2021 für Transaktionen in Höhe von 2,3 Bio. Rubel (d. h. etwa 23 Mrd. Euro) verwendet hat. Darüber hinaus werden in Beweisstück Nr. 8 der ersten Beweisakte die umgekehrten Pensionsgeschäfte der Zentralbank der Russischen Föderation, die die Inanspruchnahme von Finanzdienstleistungen der Klägerin erfordern, als Geschäfte zur Unterstützung der nationalen Wirtschaft beschrieben.
103 Im Übrigen nutzt die Zentralbank der Russischen Föderation, wie oben in Rn. 89 dargelegt, das Zahlungssystem der Klägerin auch für die Durchführung von geldpolitischen Operationen.
104 Wie die Kommission in ihrer Antwort auf eine Frage des Gerichts festgestellt hat, ist das Liquiditätsmanagement eine wichtige Komponente der Geldpolitik, die sich auf die Leistung der russischen Wirtschaft und damit indirekt auf die Einnahmen der Russischen Föderation auswirkt. Daraus folgt, dass zu Recht davon ausgegangen werden konnte, dass die von der Klägerin für die Zentralbank der Russischen Föderation erbrachten Dienstleistungen es der russischen Regierung indirekt ermöglichten, Ressourcen zu mobilisieren.
105 Wie der Rat viertens zu Recht feststellt, trägt die Klägerin angesichts ihrer wichtigen, die Effizienz der Finanzmärkte stärkenden Rolle für das russische Finanzsystem dazu bei, Investitionen für Russland zu gewinnen, wodurch sie das Wirtschaftswachstum fördert und demzufolge der russischen Regierung indirekt ermöglicht, Ressourcen zu mobilisieren.
106 Nach alledem ist festzustellen, dass der Rat keinen Beurteilungsfehler begangen hat, als er davon ausging, dass die Klägerin die Tätigkeiten, politischen Maßnahmen und Mobilisierung der Ressourcen der russischen Regierung unterstütze. In Anbetracht der Bedeutung der von der Klägerin sowohl für diese Regierung als auch für die Zentralbank der Russischen Föderation erbrachten Finanzdienstleistungen und ihres allgemeineren Beitrags zum ordnungsgemäßen Funktionieren des russischen Finanzsystems ist festzustellen, dass der Rat davon ausgehen durfte, dass die Klägerin der Regierung der Russischen Föderation sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht eine erhebliche materielle oder finanzielle Unterstützung gewährt hat, die es dieser ermöglichte, ihre finanziellen Mittel zu mobilisieren, um ihre Handlungen zur Destabilisierung der Ukraine fortzusetzen.
107 Der erste Teil des zweiten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
e) Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: Die Klägerin werde nicht von der russischen Regierung kontrolliert
108 Die Klägerin bestreitet, dass sie von der russischen Regierung kontrolliert werde. Sie trägt vor, dass die MOEX und sie selbst eigenständige rechtliche Einheiten seien und der Rat nicht nachgewiesen habe, dass sie von der MOEX kontrolliert werde. Außerdem sei die Regierung nicht in der Lage, die MOEX in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht zu kontrollieren.
109 Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
110 Es ist festzustellen, dass das in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f des geänderten Beschlusses 2014/145 vorgesehene Kriterium der materiellen oder finanziellen Unterstützung der Regierung nicht den Nachweis erfordert, dass die Regierung eine Kontrolle über die Person, Organisation oder Einrichtung ausübt, die sie unterstützt.
111 Da die Prüfung des ersten Teils ergibt, dass der Rat über eine hinreichende tatsächliche Grundlage verfügte und keinen Beurteilungsfehler beging, als er feststellte, dass die Klägerin die russische Regierung materiell oder finanziell unterstützte, stellt die Feststellung, dass die Klägerin von dieser Regierung kontrolliert werde, einen zusätzlichen kontextuellen Gesichtspunkt dar, der für die Rechtfertigung ihrer Aufnahme in die streitigen Listen nicht ausschlaggebend sein kann.
112 Daraus folgt, dass das Vorbringen der Klägerin, mit dem sie die Stichhaltigkeit dieser Feststellung in Abrede stellt, ins Leere geht und zurückzuweisen ist.
113 Der zweite Teil des zweiten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
f) Zum dritten Teil des zweiten Klagegrundes: Fehlen einer hinreichenden Verbindung zwischen der Klägerin und der russischen Regierung
114 Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, dass aus den angefochtenen Rechtsakten nicht hervorgehe, inwiefern die gegen sie verhängten restriktiven Maßnahmen gegen die Russische Föderation ergriffen worden seien.
115 Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
116 Hierzu ist festzustellen, dass die Klägerin auf der Grundlage des in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f des geänderten Beschlusses 2014/145 vorgesehenen Kriteriums der materiellen oder finanziellen Unterstützung der Regierung in die streitigen Listen aufgenommen wurde. Aus der Prüfung des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes geht hervor, dass der Rat über ein Bündel von hinreichend konkreten, genauen und übereinstimmenden Indizien verfügte, um die Aufnahme der Klägerin in diese Listen auf der Grundlage dieses Kriteriums zu rechtfertigen. Daraus folgt, dass der Rat eine ausreichende Verbindung zwischen der Klägerin und der Russischen Föderation festgestellt hat. Eine zusätzliche Verbindung, die über die – in dem auf die Klägerin angewandten Aufnahmekriterium vorgesehene – materielle oder finanzielle Unterstützung hinausgeht, muss nicht nachgewiesen werden.
117 Folglich ist der dritte Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
118 Der zweite Klagegrund und – in Anbetracht der Erwägungen oben in den Rn. 46 und 47 – der vierte Klagegrund sind daher in vollem Umfang zurückzuweisen.
3. Zum dritten Klagegrund: unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte
119 Die Klägerin macht geltend, dass die angefochtenen Handlungen ihre unternehmerische Freiheit und ihr Eigentumsrecht verletzten, die in den Art. 16 und 17 der Charta garantiert seien. Sie ist der Ansicht, dass die angefochtenen Rechtsakte sie an der freien Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit und an der Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden hinderten, was ihre unternehmerische Freiheit und ihr Eigentumsrecht verletze.
120 Darüber hinaus ist die Klägerin der Ansicht, dass die angefochtenen Rechtsakte den Wesensgehalt ihrer in den Art. 16 und 17 der Charta garantierten Rechte antasteten. Die in Rede stehenden Maßnahmen seien für die vom Rat verfolgten Ziele weder geeignet noch erforderlich. Ferner ist sie der Ansicht, dass der Rat weder nachgewiesen habe, dass die in Rede stehenden Maßnahmen das am wenigsten belastende Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels gewesen seien, noch, dass keine weniger belastenden Maßnahmen hätten getroffen werden können.
121 Außerdem stünden die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen in keinem ausreichenden Zusammenhang mit den verfolgten Zielen, und es könne nicht akzeptiert werden, dass diese Maßnahmen allein deshalb gegen nicht vom Staat kontrollierte Unternehmen gerichtet werden könnten, weil diese in einem wichtigen Wirtschaftssektor tätig seien.
122 Die Klägerin macht ferner geltend, dass die gegen sie ergriffenen Maßnahmen die Grundrechte ihrer Kunden verletzten, denen dadurch die Verfügung über ihre Wertpapiere entzogen werde, die die Klägerin treuhänderisch auf ihren eingefrorenen Konten bei in der Union ansässigen Wertpapierverwahrstellen halte.
123 Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt diesem Vorbringen entgegen.
124 Es sei daran erinnert, dass die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht in Art. 16 bzw. Art. 17 der Charta verankert sind.
125 Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass die vom Kläger geltend gemachten Grundrechte nicht uneingeschränkt gelten und ihre Ausübung Beschränkungen unterworfen werden kann, die durch die dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen der Union gerechtfertigt sind, sofern die Beschränkungen tatsächlich diesen dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antasten würde (Urteile vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 148, und vom 25. Juni 2020, VTB Bank/Rat, C‑729/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:499, Rn. 80).
126 Um mit dem Unionsrecht vereinbar zu sein, muss eine Beeinträchtigung der betreffenden Grundrechte gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt dieser Rechte achten, einer als solche von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entsprechen und verhältnismäßig sein (vgl. Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 222 und die dort angeführte Rechtsprechung).
127 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die angefochtenen Rechtsakte einen unverhältnismäßigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht darstellen.
128 Als Erstes ist das Vorbringen der Klägerin zu prüfen, mit dem sie geltend macht, dass die gegen sie ergriffenen restriktiven Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen ihrer Kunden in Höhe von etwa 1,479 Mrd. Euro und damit zu einer Verletzung des Eigentumsrechts dieser Kunden geführt hätten.
129 Hierzu ist festzustellen, dass sich die Klägerin im Rahmen ihrer Nichtigkeitsklage nicht auf ein Eigentumsrecht berufen kann, dessen Inhaber sie nicht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2022, Anglo Austrian AAB und Belegging-MaatschappijFar-East/EZB, T‑797/19, mit Rechtsmittel angefochten, EU:T:2022:389, Rn. 285). Nach der Rechtsprechung kann nämlich die Verletzung eines subjektiven Rechts nur von der Person geltend gemacht werden, deren Recht angeblich verletzt wurde, nicht aber von Dritten (vgl. entsprechend Urteil vom 19. September 2019, Zhejiang Jndia Pipeline Industry/Kommission, T‑228/17, EU:T:2019:619, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, haben ihre Mandanten im vorliegenden Fall die Möglichkeit, Rechtsbehelfe bei nationalen Gerichten einzulegen, vor denen sie insbesondere eine Verletzung ihres in Art. 17 der Charta verankerten Eigentumsrechts geltend machen können.
130 Was darüber hinaus das Argument der Klägerin betrifft, dass die in Art. 2 Abs. 15 des geänderten Beschlusses 2014/145 und in Art. 6b Abs. 5 der geänderten Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehene Ausnahmeregelung es ihren Kunden nicht ermöglicht habe, die Freigabe ihrer eingefrorenen Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen zu erreichen, weil die nationalen Behörden untätig geblieben seien oder zu restriktive Bedingungen auferlegt hätten, ist festzustellen, dass die Klägerin mit diesem Argument in Wirklichkeit nicht die Rechtmäßigkeit der vom Rat angenommenen Ausnahmeregelung, sondern die Rechtmäßigkeit der von den nationalen Behörden im Rahmen der Umsetzung dieser Bestimmung ergriffenen Maßnahmen in Abrede stellt.
131 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Gericht nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV nicht befugt ist, die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen nationaler Behörden oder von Urteilen nationaler Gerichte zu überprüfen (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 5. Oktober 1983, Chatzidakis Nevas/Juristenkasse, Athen, 142/83, EU:C:1983:267, Rn. 4, und vom 24. August 2010, Grúas Abril Asistencia/Kommission, T‑386/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2010:331, Rn. 28). Nach gefestigter Rechtsprechung obliegt nämlich die Kontrolle der Gültigkeit nationaler Maßnahmen zur Durchführung von Handlungen der Union allein den nationalen Gerichten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 1996, Branco/Kommission, T‑271/94, EU:T:1996:103, Rn. 53, und vom 14. April 2016, Ben Ali/Rat, T‑200/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:216, Rn. 268).
132 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die zuständige nationale Behörde, wenn sie gemäß den im geänderten Beschluss 2014/145 und in der geänderten Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehenen Ausnahmeregelungen über einen Antrag auf Freigabe eingefrorener Gelder entscheidet, Unionsrecht umsetzt. Daher ist sie bei der Ausübung ihres Ermessens gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta gehalten, diese zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juni 2014, Peftiev, C‑314/13, EU:C:2014:1645, Rn. 24, und vom 14. April 2016, Ben Ali/Rat, T‑200/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:216, Rn. 266).
133 Daraus folgt, dass die nationalen Behörden im Hinblick auf die Kunden der Klägerin, gegen die keine restriktiven Maßnahmen ergriffen wurden und deren Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen infolge der gegenüber der Klägerin ergriffenen restriktiven Maßnahmen eingefroren wurden, bei der Prüfung eines Antrags auf Freigabe dieser Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen prüfen müssen, ob der Eingriff in das Eigentumsrecht dieser Kunden die Voraussetzungen von Art. 52 der Charta erfüllt.
134 Als Zweites ist festzustellen, dass die Klägerin durch die auf sie angewandten restriktiven Maßnahmen in ihrer unternehmerischen Freiheit sowie in ihrem Eigentumsrecht an ihren bei in der Union ansässigen Finanzinstituten verwahrten Eigenmitteln oder wirtschaftlichen Ressourcen eingeschränkt wird. Es ist daher zu prüfen, ob die oben in Rn. 126 angeführten Voraussetzungen für die Rechtfertigung eines Eingriffs in ihre Grundrechte erfüllt sind.
135 Erstens ist festzustellen, dass die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen gesetzlich vorgesehen sind, da sie in Rechtsakten festgelegt sind, die insbesondere allgemeine Geltung haben und für die es eine eindeutige Rechtsgrundlage im Unionsrecht gibt, nämlich Art. 29 EUV bzw. Art. 215 AEUV.
136 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die ergriffenen restriktiven Maßnahmen dazu führen, dass die Eigenmittel oder wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin zu Sicherungszwecken eingefroren werden. Wie in Art. 6 des Beschlusses 2014/145 vorgesehen, gelten die angefochtenen Rechtsakte darüber hinaus für sechs Monate und werden fortlaufend überprüft. Da diese Maßnahmen befristet und reversibel sind, ist davon auszugehen, dass sie den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit und des Eigentumsrechts der Klägerin nicht beeinträchtigen. Es ist festzustellen, dass die Klägerin keine substantiierte Argumentation vorgebracht hat, die dieses Ergebnis in Frage stellen könnte.
137 Drittens entsprechen die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel, das von der Union als solches anerkannt wird und geeignet ist, selbst erhebliche negative Konsequenzen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 150). Denn mit den in Rede stehenden Maßnahmen soll Druck auf die russischen Behörden ausgeübt werden, damit sie ihre Handlungen und Politiken beenden, die die Ukraine destabilisieren. In diesem Zusammenhang beabsichtigte der Rat im Februar 2022, die russische Wirtschaft strategisch zu schwächen, indem er einerseits namentlich die Finanzierung der Russischen Föderation, ihrer Regierung und ihrer Zentralbank verbot und andererseits entsprechende Maßnahmen insbesondere in den Bereichen Finanzen, Verteidigung und Energie traf. Darüber hinaus geht aus dem elften Erwägungsgrund des Beschlusses 2022/329 hervor, dass der Rat der Ansicht war, angesichts der sehr ernsten Lage in der Ukraine sollten die Kriterien für die Benennung geändert werden. Daher ist es offensichtlich, dass die Union bestrebt ist, die russischen Staatseinnahmen zu schmälern und Druck auf die russische Regierung auszuüben, um deren Fähigkeit zur Finanzierung von Handlungen zu verringern, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben, und um diese Handlungen im Hinblick auf die Wahrung der Stabilität Europas und der Welt zu beenden. Es handelt sich hierbei um eines der Ziele, die im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt werden und auf die in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b und c EUV Bezug genommen wird, wie etwa den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken.
138 Viertens ist zu prüfen, ob die Beschränkung der unternehmerischen Freiheit und des Eigentumsrechts der Klägerin in Bezug auf ihre Eigenmittel oder wirtschaftlichen Ressourcen in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit den restriktiven Maßnahmen verfolgten Ziel steht.
139 Was zunächst die Geeignetheit der restriktiven Maßnahmen gegen die Klägerin betrifft, so ist im Hinblick auf dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen, die für die Völkergemeinschaft derart grundlegend sind wie die Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit, darauf hinzuweisen, dass diese Maßnahmen für sich genommen nicht als unangemessen angesehen werden können (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 2. Dezember 2020, Kalai/Rat, T‑178/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:580, Rn. 171 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil vom 3. Februar 2021, Boshab/Rat, T‑111/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:54, Rn. 150 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall kann die Klägerin nicht geltend machen, dass die gegen sie ergriffenen restriktiven Maßnahmen wegen eines unzureichenden Zusammenhangs mit dem mit den angefochtenen Maßnahmen verfolgten Ziel ungeeignet seien, da sie deshalb in die streitigen Listen aufgenommen worden sei, weil sie in einem wichtigen Sektor der russischen Wirtschaft tätig sei. Da das Ziel der angefochtenen Rechtsakte darin besteht, die russischen Staatseinnahmen zu schmälern und Druck auf die russische Regierung auszuüben, um deren Fähigkeit zur Finanzierung von Handlungen zu verringern, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben, steht das Abzielen auf Wirtschaftsteilnehmer, die – wie die Klägerin – die russische Regierung materiell oder finanziell unterstützten, mit diesem Ziel in Einklang und kann demzufolge nicht als ungeeignet in Bezug auf das verfolgte Ziel angesehen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 147).
140 Was sodann die Erforderlichkeit der restriktiven Maßnahmen betrifft, so macht die Klägerin zwar geltend, dass die verfolgten Ziele mit weniger belastenden alternativen Maßnahmen hätten erreicht werden können, doch ist festzustellen, dass sie keine weniger belastenden alternativen Maßnahmen anführt und nicht nachweist, dass der Rat den Erlass weniger belastender Maßnahmen hätte in Betracht ziehen können, die ebenso geeignet gewesen wären wie die in den angefochtenen Rechtsakten vorgesehenen. Wie der Rat ausführt, ist jedoch bereits entschieden worden, dass alternative und weniger belastende Maßnahmen, z. B. ein System einer vorherigen Erlaubnis oder eine Verpflichtung, die Verwendung der gezahlten Beträge nachträglich zu belegen, es – namentlich in Anbetracht der Möglichkeit einer Umgehung der auferlegten Beschränkungen – nicht ermöglichen, das angestrebte Ziel ebenso wirksam zu erreichen (Urteile vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 182, und vom 1. Juni 2022, Prigozhin/Rat, T‑723/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:317, Rn. 136).
141 Schließlich zeigt die Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen, dass die Nachteile der restriktiven Maßnahmen für die Klägerin in Anbetracht der vorrangigen Bedeutung der Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit nicht unverhältnismäßig sind.
142 Wie der Rat und die Kommission festgestellt haben, beschränken sich die Wirkungen der restriktiven Maßnahmen nämlich auf das Gebiet der Union, so dass sie allenfalls einen Teil der Eigenmittel oder wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin betreffen und diese nicht daran hindern, ihre Tätigkeiten in dem Land, in dem sie niedergelassen ist, oder in anderen Drittländern auszuüben.
143 Ferner ist festzustellen, dass die restriktiven Maßnahmen die Klägerin zwar daran hindern, ihre eigenen Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen zu verwenden, ihr jedoch nicht das Recht nehmen, gemäß Art. 2 Abs. 6 Buchst. a des Beschlusses 2014/145 und Art. 7 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 269/2014 die Zinsen oder sonstigen Erträge ihrer eingefrorenen Konten, auf denen diese Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen verwahrt werden, zu vereinnahmen, sofern alle diese Zinsen und sonstigen Erträge ebenfalls eingefroren werden.
144 Darüber hinaus sehen die angefochtenen Rechtsakte Ausnahmeregelungen vor, die es den nationalen Behörden ermöglichen, die Freigabe bestimmter Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen zu genehmigen. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 sieht nämlich die Möglichkeit vor, die Verwendung eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen zur Deckung der Grundbedürfnisse der in den streitigen Listen aufgeführten juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen, zur Erstattung von Ausgaben für die Erbringung juristischer Dienstleistungen, zur Bezahlung von Gebühren oder Kosten für die routinemäßige Verwahrung oder Verwaltung eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen und zur Zahlung außergewöhnlicher Ausgaben zu genehmigen.
145 Außerdem sehen Art. 2 Abs. 5 des Beschlusses 2014/145 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 die Möglichkeit vor, bestimmte Eigenmittel oder wirtschaftliche Ressourcen der Klägerin freizugeben, um ihr zu ermöglichen, Zahlungen aufgrund eines Vertrags oder einer Vereinbarung zu leisten, der bzw. die vor dem Zeitpunkt eingegangen wurde, zu dem sie in die streitigen Listen aufgenommen wurde.
146 Daraus folgt, dass der Eingriff in die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht der Klägerin nicht als unverhältnismäßig angesehen werden kann.
147 Das übrige Vorbringen der Klägerin ist nicht geeignet, diese Schlussfolgerung in Frage zu stellen.
148 Erstens ist in Bezug auf das Vorbringen, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, der Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Klägerin sei umso schwerer, als es ihr angeblich unmöglich gewesen sei, ihren vertraglichen Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden nachzukommen, weil die Ausnahmeregelungen es ihr nicht ermöglicht hätten, ihren Kunden die auf ihren eingefrorenen Konten gehaltenen Wertpapiere zurückzugewähren, zunächst die in Art. 2 Abs. 5 des Beschlusses 2014/145 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehene Ausnahmeregelung, dann die in Art. 2 Abs. 19 des geänderten Beschlusses 2014/145 und in Art. 6b Abs. 5 der geänderten Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehene Ausnahmeregelung zu prüfen.
149 Zum einen ist festzustellen, dass nach der Ausnahmeregelung in Art. 2 Abs. 5 des Beschlusses 2014/145, die zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Rechtsakte galt, das Einfrieren von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen einer Person, Organisation oder Einrichtung eine solche Person, Organisation oder Einrichtung nicht daran hindert, Zahlungen aufgrund eines Vertrags zu leisten, der vor dem Zeitpunkt eingegangen wurde, zu dem eine solche natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung in die Liste im Anhang dieses Beschlusses aufgenommen wurde, sofern der jeweilige Mitgliedstaat festgestellt hat, dass die Zahlung weder unmittelbar noch mittelbar von einer in diese Liste aufgenommenen natürlichen oder juristischen Person, Organisation oder Einrichtung entgegengenommen wird.
150 Somit können die nationalen Behörden nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 die Freigabe bestimmter eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen einer Person, Organisation oder Einrichtung genehmigen, wenn sie festgestellt haben, dass – wie sich aus Buchst. a dieser Bestimmung ergibt – diese Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen für eine von dieser Person, Einrichtung oder Organisation geschuldete Zahlung verwendet werden sollen und – wie sich aus Buchst. b dieser Bestimmung ergibt – die zu leistende Zahlung nicht gegen das in Art. 2 Abs. 2 der Verordnung vorgesehene Verbot verstößt, den in die streitigen Listen aufgenommenen Personen, Organisationen oder Einrichtungen oder mit diesen in Verbindung stehenden Personen, Organisationen oder Einrichtungen unmittelbar oder mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
151 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Gelder“ in Art. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 269/2014 weit definiert ist, da er „finanzielle Vermögenswerte und Vorteile jeder Art“ betrifft. Dasselbe gilt für den in Art. 1 Buchst. d dieser Verordnung definierten Begriff „wirtschaftliche Ressourcen“, der „Vermögenswerte jeder Art, unabhängig davon, ob sie materiell oder immateriell, beweglich oder unbeweglich sind, bei denen es sich nicht um Gelder handelt, die aber für den Erwerb von Geldern, Waren oder Dienstleistungen verwendet werden können“ umfasst. Da Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen freigegeben werden können, um eine Person, Organisation oder Einrichtung in die Lage zu versetzen, eine „Zahlung“ aufgrund eines Vertrags oder einer Vereinbarung mit einem Dritten zu leisten, der bzw. die vor der Aufnahme in die streitigen Listen eingegangen wurde, muss der Begriff der Zahlung notwendigerweise weit ausgelegt werden und kann nicht auf Zahlungen in Form der Übertragung eines Geldbetrags beschränkt werden. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, stünde eine enge Auslegung des Begriffs „Zahlung“ nämlich im Widerspruch zu der Möglichkeit, Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen – in ihrer weiten Definition – freizugeben, um eine Zahlung zu tätigen.
152 Daraus folgt, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Rechtsakte die in Art. 2 Abs. 5 des Beschlusses 2014/145 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehene Ausnahmeregelung es den nationalen Behörden erlaubte, eine Freigabe von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin zu genehmigen, um ihr eine Zahlung in Form einer Rückgabe der Wertpapiere ihrer Kunden zu ermöglichen, die sie auf ihren eingefrorenen Konten bei in der Union ansässigen Wertpapierverwahrstellen hielt.
153 Entgegen dem Vorbringen des Rates und der Kommission steht Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 269/2014 im Rahmen der Transaktionen, die die Klägerin vorzunehmen hat, um gemäß der oben in Rn. 152 genannten Ausnahmeregelung ihren Kunden deren Wertpapiere zur Verfügung zu stellen, dem nicht entgegen, dass diese Kunden für die Vornahme dieser Geschäfte Gebühren oder Kosten an die Klägerin zahlen. Art. 7 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 269/2014 sieht nämlich ausdrücklich vor, dass die Klägerin Zahlungen als Gegenleistung für eine Dienstleistung erhalten kann, die in Erfüllung eines Vertrags oder einer Vereinbarung erbracht wurde, der bzw. die vor ihrer Aufnahme in die streitigen Listen eingegangen wurde, sofern diese Zahlungen der Kunden gemäß Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung eingefroren werden.
154 Zwar darf die von der Klägerin zu leistende Zahlung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 269/2014 nicht gegen deren Art. 2 Abs. 2 verstoßen, d. h. gegen das Verbot, den in die Liste in Anhang I dieser Verordnung aufgenommenen Personen, Organisationen oder Einrichtungen oder den mit diesen in Verbindung stehenden Personen, Organisationen oder Einrichtungen Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen unmittelbar oder mittelbar zur Verfügung zu stellen. Dieses Verbot betrifft jedoch nicht die Zahlungen, die die Kunden der Klägerin gegebenenfalls an diese als Gegenleistung für die Dienstleistung im Zusammenhang mit der Rückgabe ihrer Wertpapiere in Erfüllung eines Vertrags oder Vereinbarung leisten, der bzw. die vor ihrer Aufnahme in die Liste eingegangen wurde. Mit dem Verbot soll der Klägerin untersagt werden, eine Zahlung, im vorliegenden Fall die Rückgabe eines Wertpapiers, an eine von restriktiven Maßnahmen betroffene Person zu leisten. Wie sich aus Art. 2 Abs. 5 des Beschlusses 2014/145 ergibt, in dessen Licht Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 269/2014 auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 141), bezweckt die in dieser Bestimmung der Verordnung Nr. 269/2014 enthaltene Voraussetzung die Verpflichtung der nationalen Behörden, festzustellen, dass die Zahlung weder unmittelbar noch mittelbar von einer in die streitigen Listen aufgenommenen Person, Organisation oder Einrichtung entgegengenommen wird.
155 Das Vorbringen, dass die nationalen Behörden auf die Anträge der Klägerin, die in Art. 2 Abs. 5 des Beschlusses 2014/145 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehene Ausnahmeregelung anzuwenden, untätig geblieben seien, kann keinen Erfolg haben. Wie oben in Rn. 131 ausgeführt, ist das Gericht im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV nicht befugt, die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zu prüfen, die von den nationalen Behörden im Rahmen der Durchführung des Unionsrechts ergriffen werden.
156 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass vor dem Erlass der Fortsetzungsrechtsakte von März 2023 durch den Erlass des Beschlusses (GASP) 2022/1907 des Rates vom 6. Oktober 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145 (ABl. 2022, L 259 I, S. 98) und der Verordnung (EU) 2022/1905 des Rates vom 6. Oktober 2022 zur Änderung der Verordnung Nr. 269/2014 (ABl. 2022, L 259 I, S. 76) mit Art. 2 Abs. 19 des geänderten Beschlusses 2014/145 bzw. Art. 6b Abs. 5 der geänderten Verordnung Nr. 269/2014 eine Ausnahmeregelung eingeführt wurde, um die Freigabe eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen der Klägerin oder die Bereitstellung von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen an diese zu genehmigen, um Operationen, Verträge oder andere Vereinbarungen, die mit ihr geschlossen wurden oder an denen sie in anderer Weise beteiligt ist, bis zum 7. Januar 2023 zu beenden.
157 In der mündlichen Verhandlung hat der Rat darauf hingewiesen, dass diese Ausnahmeregelung eingeführt worden sei, um die Schwierigkeiten bei der Anwendung der in Art. 2 Abs. 5 des Beschlusses 2014/145 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehenen Ausnahmeregelung für Transaktionen zu überwinden, die es der Klägerin ermöglichen sollten, ihren Kunden deren Wertpapiere, die die Klägerin auf ihren eingefrorenen Konten bei in der Union ansässigen Wertpapierverwahrstellen halte, zurückzugewähren.
158 Aus dem Wortlaut der in Art. 2 Abs. 19 des geänderten Beschlusses 2014/145 und Art. 6b Abs. 5 der geänderten Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehenen Ausnahmeregelung ergibt sich, dass diese die Bedingungen festlegt, unter denen die nationalen Behörden die Freigabe von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin genehmigen können, um ihren Kunden zu ermöglichen, deren auf den eingefrorenen Konten der Klägerin verwahrte Wertpapiere zurückzuerhalten. Hierzu ist festzustellen, dass die Klägerin nicht die Rechtmäßigkeit dieser Ausnahmeregelung, sondern die Rechtmäßigkeit der von den nationalen Behörden im Rahmen ihrer Umsetzung ergriffenen Maßnahmen in Abrede stellt. Wie oben in Rn. 131 ausgeführt, ist das Gericht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV jedoch nicht befugt, die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zu prüfen, die von den nationalen Behörden zur Durchführung des Unionsrechts ergriffen wurden.
159 Außerdem ist festzustellen, dass durch den Erlass des Beschlusses (GASP) 2023/1218 des Rates vom 23. Juni 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145 (ABl. 2023, L 159 I, S. 526) und der Verordnung (EU) 2023/1215 des Rates vom 23. Juni 2023 zur Änderung der Verordnung Nr. 269/2014 (ABl. 2023, L 159 I, S. 330) in Art. 2 Abs. 25 des geänderten Beschlusses 2014/145 bzw. in Art. 6b Abs. 5a der geänderten Verordnung Nr. 269/2014 eine zusätzliche Ausnahmeregelung eingeführt wurde. Nach Art. 2 Abs. 25 des geänderten Beschlusses 2014/145 konnten die nationalen Behörden unter bestimmten Bedingungen Staatsangehörigen oder Gebietsansässigen eines Mitgliedstaats oder einer in der Union niedergelassenen Organisation bis zum 24. Dezember 2023 genehmigen, ein Aktienzertifikat, dem russische Wertpapiere zugrunde liegen und das bei der Klägerin gehalten wird, umzuwandeln, um das zugrunde liegende Wertpapier zu veräußern und die mit der Umwandlung des Aktienzertifikats und der Veräußerung der zugrunde liegenden Wertpapiere verbundenen Gelder auf direktem oder indirektem Weg der Klägerin zur Verfügung zu stellen.
160 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Klägerin weder in Bezug auf die ursprünglichen Rechtsakte noch in Bezug auf die Fortsetzungsrechtsakte von März 2023 und September 2023 einen etwaigen zusätzlichen Eingriff in ihre unternehmerische Freiheit geltend machen kann, der darauf gestützt wird, die im Beschluss 2014/145 und in der Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehenen Ausnahmeregelungen hätten es ihr nicht ermöglicht, die Wertpapiere ihrer Kunden, die sie auf ihren eingefrorenen Konten bei in der Union ansässigen Verwahrstellen halte, zurückzugewähren.
161 Zweitens kann die Klägerin nicht geltend machen, dass die Anwendung der gegen sie ergriffenen restriktiven Maßnahmen unverhältnismäßig sei, weil sie keine Zuwiderhandlung begangen habe. Bei den restriktiven Maßnahmen handelt es sich nämlich um gezielte Präventivmaßnahmen, die gemäß Art. 21 Abs. 2 Buchst. c EUV u. a. auf die Erhaltung des Friedens, die Konfliktverhütung und die Stärkung der internationalen Sicherheit abzielen. Darüber hinaus zielen die Bestimmungen des Beschlusses 2014/145 weder darauf ab, die Wiederholung eines bestimmten Verhaltens zu bestrafen, noch es zu verhindern. Diese Maßnahmen dienen ausschließlich dem Zweck, die Vermögenswerte, die sich im Besitz der in Art. 2 Abs. 1 dieses Beschlusses genannten Personen, Organisationen und Einrichtungen befinden, im Einklang mit den in Art. 21 Abs. 2 Buchst. c EUV genannten Zielen sicherzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Februar 2023, Belaeronavigatsia/Rat, T‑536/21, EU:T:2023:66, Rn. 34 und 35).
162 Drittens ist unter der Annahme, dass die Klägerin geltend macht, der Rat habe durch den Erlass der angefochtenen Rechtsakte in die Zuständigkeiten der Union im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik eingegriffen, darauf hinzuweisen, dass der Rat zur Erreichung der in Art. 21 Abs. 2 Buchst. c EUV genannten Ziele auf der Grundlage der Bestimmungen der Verträge über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere von Art. 29 EUV und Art. 215 Abs. 2 AEUV, befugt ist, restriktive Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nicht staatliche Einheiten zu erlassen. Darüber hinaus schließen sich die Zuständigkeiten der Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und nach anderen Bestimmungen des AEU-Vertrags, wie etwa der Gemeinsamen Handelspolitik, nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich, da jede ihren eigenen Anwendungsbereich hat und zur Erreichung unterschiedlicher Ziele dient (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 61). Im vorliegenden Fall betreffen die mit den angefochtenen Rechtsakten verfolgten Ziele jedoch nicht die Gemeinsame Handelspolitik, sondern die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Daher kann die Klägerin nicht geltend machen, dass der Rat mit dem Erlass restriktiver Maßnahmen, die sie beträfen, in die Zuständigkeit der Union im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik eingegriffen habe.
163 Folglich ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.
164 Nach alledem ist die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
V. Kosten
165 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Rates ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Rates aufzuerlegen.
166 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Im vorliegenden Fall trägt die Kommission ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die NKO AO National Settlement Depository (NSD) trägt ihre eigenen Kosten sowie die dem Rat der Europäischen Union entstandenen Kosten.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Spielmann
Brkan
Gâlea
Tóth
Kalėda
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. September 2024.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Zehnte erweiterte Kammer) vom 2. Februar 2022.#Scania AB u. a. gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Markt für Lkw-Bau – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen in Bezug auf die Verkaufspreise von Lkw, den Zeitplan für die Einführung von Abgastechnologien und die Weitergabe der mit diesen Technologien verbundenen Kosten an die Kunden – „Hybrides“, zeitlich gestuftes Verfahren – Unschuldsvermutung – Grundsatz der Unparteilichkeit – Charta der Grundrechte – Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung – Geografischer Umfang der Zuwiderhandlung – Geldbuße – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung.#Rechtssache T-799/17.
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62017TJ0799
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ECLI:EU:T:2022:48
| 2022-02-02T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62017TJ0799
URTEIL DES GERICHTS (Zehnte erweiterte Kammer)
2. Februar 2022 (*1)
„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Lkw-Bau – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen in Bezug auf die Verkaufspreise von Lkw, den Zeitplan für die Einführung von Abgastechnologien und die Weitergabe der mit diesen Technologien verbundenen Kosten an die Kunden – „Hybrides“, zeitlich gestuftes Verfahren – Unschuldsvermutung – Grundsatz der Unparteilichkeit – Charta der Grundrechte – Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung – Geografischer Umfang der Zuwiderhandlung – Geldbuße – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“
In der Rechtssache T‑799/17,
Scania AB mit Sitz in Södertälje (Schweden),
Scania CV AB mit Sitz in Södertälje,
Scania Deutschland GmbH mit Sitz in Koblenz (Deutschland),
vertreten durch die Rechtsanwälte D. Arts, F. Miotto, C. Pommiès, K. Schillemans, C. Langenius, L. Ulrichs und P. Hammarskiöld, S. Falkner und N. De Backer,
Klägerinnen,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch M. Farley und L. Wildpanner als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2017) 6467 final der Kommission vom 27. September 2017 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lkw) oder, hilfsweise, Herabsetzung der in diesem Beschluss gegen die Klägerinnen verhängten Geldbußen
erlässt
DAS GERICHT (Zehnte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas, der Richter A. Kornezov und E. Buttigieg (Berichterstatter), der Richterin K. Kowalik-Bańczyk und des Richters G. Hesse,
Kanzler: B. Lefebvre, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 2020
folgendes
Urteil
I. Vorgeschichte des Rechtsstreites
1 Die Klägerinnen, die Scania AB, die Scania CV AB und die Scania Deutschland GmbH (im Folgenden: Scania DE), sind drei juristische Personen des Unternehmens Scania (im Folgenden: Scania). Scania ist im Bereich der Herstellung und des Verkaufs von schweren Lkw (über 16 t) für Langstreckentransporte, Verteilung von Gütern, Bautransporte und Spezialarbeiten tätig.
2 Mit ihrem Beschluss C(2017) 6467 final vom 27. September 2017 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lkw) (im Folgenden: angefochtener Beschluss) stellte die Europäische Kommission fest, dass die Klägerinnen gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens verstoßen hätten, indem sie sich vom 17. Januar 1997 bis 18. Januar 2011 mit juristischen Personen der Unternehmen [vertraulich] (1 ), [vertraulich], [vertraulich], [vertraulich] und [vertraulich] an Absprachen über Preise, Erhöhungen der Bruttopreise für mittlere und schwere Lkw im EWR sowie den Zeitplan für die Einführung der aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschriebenen Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw sowie die Weitergabe der damit verbundenen Kosten beteiligt hätten (Art. 1 des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission verhängte gegen Scania AB und Scania CV AB als Gesamtschuldnerinnen eine Geldbuße in Höhe von 880523000 Euro, für die Scania DE in Höhe von 440003282 gesamtschuldnerisch haftet (Art. 2 des angefochtenen Beschlusses).
A. Dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegendes Verwaltungsverfahren
3 Am 20. September 2010 stellte [vertraulich] einen Antrag auf Erlass der Geldbuße nach Rn. 14 der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2006, C 298, S. 17, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit). Am 17. Dezember 2010 gewährte die Kommission [vertraulich] einen bedingten Erlass der Geldbuße.
4 Vom 18. bis 21. Januar 2011 führte die Kommission in den Geschäftsräumen u. a. der Klägerinnen Nachprüfungen durch.
5 Am 28. Januar 2011 beantragte [vertraulich] den Erlass der Geldbuße nach Rn. 14 der Mitteilung über Zusammenarbeit und hilfsweise eine Ermäßigung der Geldbuße nach Rn. 27 dieser Mitteilung. Dieses Vorgehen wählten in der Folge auch [vertraulich] und [vertraulich].
6 Im Laufe der Untersuchung richtete die Kommission u. a. an die Klägerinnen mehrere Auskunftsverlangen nach Art. 18 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den [Art. 101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).
7 Am 20. November 2014 leitete die Kommission gegen die Klägerinnen und die juristischen Personen der oben in Rn. 2 genannten Unternehmen das Verfahren nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ein und erließ eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die sie allen diesen Personen einschließlich der Klägerinnen zustellte.
8 Nach der Zustellung der Mitteilung der Beschwerdepunkte erhielten die Adressaten Einsicht in die Untersuchungsakten der Kommission.
9 Im [vertraulich] nahmen die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte informell Kontakt mit der Kommission auf und ersuchten sie, die Sache im Rahmen eines Vergleichsverfahrens nach Art. 10a der Verordnung Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Art. [101 und 102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) weiterzuverfolgen. Die Kommission beschloss, ein Vergleichsverfahren einzuleiten, nachdem jeder Adressat der Mitteilung der Beschwerdepunkte seine Bereitschaft zur Teilnahme an Vergleichsgesprächen bestätigt hatte.
10 Von [vertraulich] bis [vertraulich] fanden Vergleichsgespräche zwischen jedem Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte und der Kommission statt. Im Anschluss an diese Gespräche stellten einige der Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte bei der Kommission jeweils einen förmlichen Antrag auf einen Vergleich nach Art. 10a Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 (im Folgenden: Vergleichsparteien). Die Klägerinnen stellten keinen solchen Antrag.
11 Am 19. Juli 2016 erließ die Kommission auf der Grundlage von Art. 7 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens den an die Vergleichsparteien gerichteten Beschluss C(2016) 4673 final (Sache AT.39824 – Lkw) (im Folgenden: Vergleichsbeschluss).
12 Da die Klägerinnen beschlossen hatten, keinen förmlichen Vergleichsantrag zu stellen, setzte die Kommission die gegen sie gerichtete Untersuchung im Rahmen des normalen (nicht auf einen Vergleich gerichteten) Verfahrens fort.
13 Am 23. September 2016 legten die Klägerinnen, nachdem ihnen Akteneinsicht gewährt worden war, ihre schriftliche Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte vor.
14 Am 18. Oktober 2016 nahmen die Klägerinnen an einer Anhörung teil.
15 Am 7. April 2017 übermittelte die Kommission an Scania AB ein Tatbestandsschreiben nach Rn. 111 ihrer Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 [AEUV] (ABl. 2011, C 308, S. 6). Am 23. Juni 2017 übermittelte die Kommission dieses Tatbestandsschreiben auch an Scania CV AB und an Scania DE.
16 Am 12. Mai 2017 übermittelte Scania AB der Kommission ihre schriftliche Stellungnahme zu den Beweisen im Anhang des Tatbestandsschreibens, die auch den Standpunkt von Scania CV AB und von Scania DE widerspiegelte.
17 Am 27. September 2017 erließ die Kommission den angefochtenen Beschluss.
B. Angefochtener Beschluss
1. Struktur des Lkw-Marktes und Preisfestsetzungsmechanismus in der Lkw‑Industrie
18 Die Kommission begann den angefochtenen Beschluss in den Erwägungsgründen 22 bis 50 mit einer Darstellung der Struktur des Lkw-Marktes und des Preisfestsetzungsmechanismus in der Lkw‑Industrie, auch in Bezug auf Scania.
a)
Struktur des Lkw-Marktes
19 Zur Struktur des Lkw-Marktes führt die Kommission aus, dass diese durch ein hohes Maß an Transparenz und Konzentration gekennzeichnet sei, wobei die Parteien mehrmals im Jahr die Gelegenheit hätten, zusammenzukommen und die Marktlage zu erörtern. Nach Ansicht der Kommission konnten sich die Parteien durch den gesamten Austausch ein klares Bild von ihrer jeweiligen Wettbewerbssituation machen (Erwägungsgründe 22 und 23 des angefochtenen Beschlusses).
20 Die Kommission weist auch darauf hin, dass die Parteien, einschließlich Scania, auf den wichtigen nationalen Märkten über Tochtergesellschaften verfügten, die als Vertreiber ihrer Waren aufträten. Diese nationalen Vertreiber verfügten über ihr eigenes Händlernetz (25. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission stellt fest, dass Scania ihre Lkw über nationale Vertreiber verkaufe, die in allen EWR-Staaten mit Ausnahme von [vertraulich] hundertprozentige Tochtergesellschaften von Scania seien. Die nationalen Vertreiber von Scania verkauften die vom Unternehmenssitz erworbenen Lkw an Händler, die entweder hundertprozentige Tochtergesellschaften oder unabhängige Unternehmen seien. Die Kommission weist darauf hin, dass Scania in Deutschland über [vertraulich] Händler verfüge, die hundertprozentige Tochtergesellschaften seien (26. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
b)
Preisfestsetzungsmechanismus in der Lkw‑Industrie
21 Zum Preisfestsetzungsmechanismus in der Lkw‑Industrie stellt die Kommission fest, dass dieser bei allen Parteien die gleichen Stufen umfasse und im Allgemeinen auf einer ersten Stufe mit der Erstellung einer ersten Bruttopreisliste durch den Unternehmenssitz beginne. Zudem würden auf einer zweiten Stufe für den Verkauf der Lkw auf den verschiedenen nationalen Märkten Verrechnungspreise zwischen dem Unternehmenssitz der Hersteller und den nationalen Vertreibern, die unabhängige Unternehmen oder hundertprozentige Tochterunternehmen des Unternehmenssitzes seien, festgesetzt. Darüber hinaus würden auf einer dritten Stufe die von den Händlern an die Vertreiber gezahlten Preise und auf einer vierten Stufe der von den Verbrauchern gezahlte Nettoendpreis festgesetzt, der von den Händlern oder den Herstellern selbst ausgehandelt werde, wenn sie unmittelbar an Händler oder wichtige Kunden verkauften (38. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
22 Die Kommission stellt fest, dass zwar der von den Verbrauchern gezahlte Nettoendpreis variieren könne (beispielsweise aufgrund der Anwendung unterschiedlicher Rabatte auf verschiedenen Ebenen der Vertriebskette), dass sich jedoch auf allen Stufen der Vertriebskette alle anwendbaren Preise unmittelbar (im Fall von Verrechnungspreisen zwischen dem Unternehmenssitz und dem Vertreiber) oder mittelbar (im Fall des vom Händler an den Vertreiber gezahlten Preises oder im Fall des vom Endkunden gezahlten Preises) aus dem ersten Bruttopreis ergäben. Somit zeigt sich nach Ansicht der Kommission, dass die vom Unternehmenssitz zuerst erstellten Bruttopreislisten einen gemeinsamen und grundlegenden Bestandteil der Preisberechnungen darstellten, die auf jede Stufe der nationalen Vertriebsketten in ganz Europa anwendbar seien (38. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission führt weiter aus, dass alle Parteien mit Ausnahme von [vertraulich] von 2000 bis 2006 Bruttopreislisten mit für den ganzen EWR harmonisierten Bruttopreisen erstellt hätten (40. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
c)
Preisfestsetzungsmechanismus bei Scania
23 In den Erwägungsgründen 41 bis 50 des angefochtenen Beschlusses beschreibt die Kommission den Preisfestsetzungsmechanismus bei Scania und die an dieser Festsetzung beteiligten Akteure.
24 Gemäß dieser Beschreibung erstellt der Unternehmenssitz von Scania die Liste der Bruttopreise ab Fabrik (Factory Gross Price List; im Folgenden: FGPL) für alle verfügbaren Komponenten eines Lkw (44. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). [vertraulich].
25 Jeder nationale Vertreiber von Scania (beispielsweise Scania DE) handle mit dem Unternehmenssitz von Scania auf der Grundlage der ihm zur Verfügung gestellten FGPL einen „Nettopreis für den Vertreiber“ aus (den Preis, den der Vertreiber für jede Komponente an den Unternehmenssitz zahle). Der Nettopreis für den Vertreiber sei in einem Dokument mit der Bezeichnung „RPU“ angeführt, das die Differenz zwischen dem FGPL und dem Nettopreis für den Vertreiber im Hinblick auf Rabatte ausweise. Die dem Vertreiber gewährten Rabatte würden von [vertraulich] am Unternehmenssitz von Scania festgesetzt, jedoch auch im Preisausschuss diskutiert. Die endgültige Entscheidung über den Nettopreis für den Vertreiber von Scania treffe [vertraulich] (45. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
26 Zudem übermittle der nationale Vertreiber von Scania den Scania-Händlern in seinem Gebiet seine eigenen Bruttopreislisten (bestehend aus dem Nettopreis für den Vertreiber zuzüglich Gewinnspanne) für die verschiedenen verfügbaren Komponenten eines Lkw (46. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
27 Der Scania-Händler handle mit dem Vertreiber einen „Nettopreis für den Händler“ aus, der auf der Bruttopreisliste des Vertreibers abzüglich eines erheblichen Preisnachlasses für den Händler beruhe (47. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
28 [vertraulich].
29 Die Kunden, die die Lkw bei den Scania-Händlern kauften, zahlten den „Kundenpreis“. Der „Kundenpreis“ bestehe aus dem Nettopreis für den Händler zuzüglich Gewinnspanne des Händlers und möglicher Kosten aufgrund einer Individualisierung des Lkw und abzüglich der dem Kunden angebotenen Rabatte und Sonderaktionen (48. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission stellt fest, dass die Änderung des Preises auf irgendeiner Stufe der Vertriebskette einen begrenzten Einfluss oder gar keine Auswirkungen auf den von Verbraucher gezahlten Endpreis habe (48. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
30 Die Kommission stellt fest, dass die FGPL weltweit gelte, während der Nettopreis für den Vertreiber und der Bruttolistenpreis des Vertreibers auf das Gebiet anwendbar seien, in dem der Vertreiber tätig sei. Ebenso gelte der vom Händler ausgehandelte Preis in dem Gebiet, in dem der Händler tätig sei (49. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
31 Der 50. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses enthält eine Grafik der verschiedenen Stufen des Preisbildungsmechanismus bei Scania, wie oben in den Rn. 24 bis 29 beschrieben. Diese Grafik wurde von den Klägerinnen im Verwaltungsverfahren vorgelegt und stellt sich wie folgt dar:
d)
Auswirkungen von Preiserhöhungen auf europäischer Ebene auf die Preise auf nationaler Ebene
32 In den Erwägungsgründen 51 und 52 des angefochtenen Beschlusses prüft die Kommission die Auswirkungen von Preiserhöhungen auf europäischer Ebene auf die Preise auf nationaler Ebene. Insoweit stellt die Kommission fest, dass die nationalen Vertreiber der Hersteller, wie Scania DE, bei der Festlegung der Bruttopreise und der Erstellung der Bruttopreislisten nicht unabhängig seien und dass alle auf jeder Stufe der Vertriebskette bis zum Endverbraucher angewandten Preise auf den gesamteuropäischen Bruttopreislisten beruhten, die auf der Ebene des Unternehmenssitzes festgelegt würden (51. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
33 Daraus folgt nach Ansicht der Kommission, dass eine auf Ebene des Unternehmenssitzes beschlossene Erhöhung der Preise auf der gesamteuropäischen Bruttopreisliste die Entwicklung des „Nettopreises für den Vertreiber“, d. h. des Preises, den der Vertreiber an den Unternehmenssitz für den Kauf eines Lkw bezahle, bestimme. Folglich beeinflusse die Erhöhung der genannten Bruttopreise durch den Unternehmenssitz auch das Bruttopreisniveau des Vertreibers, nämlich den Preis, den der Händler an den Vertreiber zahle, auch wenn der Preis des Endverbrauchers nicht notwendigerweise im gleichen Verhältnis oder gar nicht geändert werde (52. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
2. Kollusive Kontakte zwischen Scania und den Vergleichsparteien
34 Im angefochtenen Beschluss stellte die Kommission fest, dass Scania an kollusiven Treffen und Kontakten mit den Vergleichsparteien in verschiedenen Foren und auf verschiedenen Ebenen teilgenommen habe, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hätten, während die teilnehmenden Unternehmen, die Ziele und die betroffenen Waren gleich geblieben seien (75. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
35 Von der Kommission wurden drei Ebenen von kollusiven Kontakten ermittelt.
36 Erstens stellt die Kommission fest, dass in den ersten Jahren der Zuwiderhandlung die Führungskräfte der Kartellteilnehmer ihre Preisabsichten, zukünftige Bruttopreiserhöhungen, manchmal auch die Entwicklung der Nettoverbraucherpreise diskutiert hätten und sich manchmal auf die Erhöhung ihrer Bruttopreise verständigt hätten. Im angefochtenen Beschluss bezeichnete die Kommission diese Ebene der kollusiven Kontakte als „Führungsebene“ (Top-Management). Die Kommission fügte hinzu, dass sich die Kartellteilnehmer bei Treffen auf Führungsebene außerdem über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von mit den Euro-3- bis Euro-5-Normen konformen Lkw-Modellen geeinigt hätten und dass bei einigen Gelegenheiten vereinbart worden sei, die betreffenden Technologien nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt einzuführen (75. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission stellte fest, dass die Treffen auf Führungsebene von 1997 bis 2004 stattgefunden hätten (Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses).
37 Zweitens stellte die Kommission fest, dass während eines begrenzten Zeitraums und parallel zu den Treffen auf Führungsebene mittlere Führungskräfte in den Unternehmenssitzen der Kartellteilnehmer Gespräche geführt hätten, die neben dem Austausch technischer Informationen auch einen Austausch über Preise und Bruttopreiserhöhungen umfasst hätten. Im angefochtenen Beschluss bezeichnete die Kommission diese Ebene der kollusiven Kontakte als „untere Ebene des Unternehmenssitzes“ (lower headquarters level) (75. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission stellte fest, dass die Treffen auf unterer Ebene des Unternehmenssitzes von 2000 bis 2008 stattgefunden hätten (Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses).
38 Drittens stellte die Kommission fest, dass die Kartellteilnehmer nach der Einführung des Euro und der Einführung von Bruttolistenpreisen auf europäischer Ebene durch gleichsam alle Lkw-Hersteller die systematische Koordinierung ihrer künftigen Preisabsichten über ihre deutschen Tochtergesellschaften fortgesetzt hätten. Im angefochtenen Beschluss bezeichnete die Kommission diese Ebene der kollusiven Kontakte als „deutsche Ebene“ (German level meetings). Die Kommission führte zudem aus, dass die Vertreter der deutschen Tochtergesellschaften ebenso wie die Kontakte in den ersten Jahren des Kartells künftige Erhöhungen der Bruttopreise sowie den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung der aufgrund der Euro-5- und Euro-6-Normen vorgeschriebenen Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw besprochen hätten. Sie hätten auch andere sensible wirtschaftliche Informationen ausgetauscht (76. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission stellte fest, dass die Treffen auf deutscher Ebene ab 2004 stattgefunden hätten (Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses).
3. Anwendung von Art. 101 AEUV und von Art. 53 des EWR-Abkommens
a)
Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen
39 Nach Ansicht der Kommission belegten die schriftlichen Beweise in den Akten, dass es bei den genannten Kontakten um Folgendes gegangen sei:
–
die von den Kartellbeteiligten geplanten Änderungen der Bruttopreise, der Bruttopreisliste, des Zeitplans für diese Änderungen sowie gelegentlich um einen Austausch über geplante Änderungen der Nettopreise oder über Änderungen der Kundenrabatte (Erwägungsgrund 212 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses);
–
den Zeitpunkt der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, sowie die Weitergabe der Kosten der Einführung dieser Technologien (Erwägungsgrund 212 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses).
–
den Austausch sonstiger wettbewerbsrelevanter Informationen, wie Informationen über Zielmarktanteile, aktuelle Nettopreise und Rabatte, Bruttolistenpreisen (auch vor deren Inkrafttreten), Lkw-Konfiguratoren, Bestellungen und Lagerbestände (Erwägungsgrund 212 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses).
40 Die Kommission stellte fest, dass die Parteien multilaterale Kontakte auf verschiedenen Ebenen gehabt hätten und dass sie bisweilen gemeinsame Kontakte und Treffen auf verschiedenen Ebenen gehabt hätten. Diese Kontakte seien durch ihren Inhalt, ihren Zeitpunkt, durch offene Bezugnahmen aufeinander und durch die gegenseitige Übermittlung der erhaltenen Informationen miteinander verknüpft gewesen (213. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
41 Die Kommission vertrat die Auffassung, dass diese Tätigkeiten eine Form der Koordinierung und Zusammenarbeit dargestellt hätten, mit der die Parteien bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs hätten treten lassen. Nach Ansicht der Kommission erfolgte das in Rede stehende Verhalten in Form einer Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise, bei der die konkurrierenden Unternehmen die Geschäftspolitik, die sie auf dem Markt zu betreiben beabsichtigt hätten, nicht eigenständig bestimmt hätten, sondern stattdessen ihr Preisverhalten durch unmittelbare Kontakte koordiniert und die Einführung der Technologien koordiniert verzögert hätten (214. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die systematische Beteiligung an kollusiven Kontakten habe ein Klima gegenseitiger Verständigung über die Preispolitik der Parteien geschaffen (215. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
42 Die Kommission stellte fest, dass Scania während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung regelmäßig an den verschiedenen Formen der Absprachen beteiligt gewesen sei, und kam zu dem Schluss, dass die Zuwiderhandlung, an der Scania beteiligt gewesen sei, in Form einer Vereinbarung und/oder abgestimmten Verhaltensweise im Sinne von Art. 101 AEUV und von Art. 53 des EWR-Abkommens erfolgt sei (229. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
b)
Beschränkung des Wettbewerbs
43 Die Kommission stellte fest, dass das wettbewerbswidrige Verhalten im vorliegenden Fall die Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt habe (236. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
44 Nach Ansicht der Kommission bestand der Hauptaspekt aller Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die als Beschränkung des Wettbewerbs eingestuft werden könnten, in der Koordinierung von Preisen und Bruttopreiserhöhungen im Rahmen von Preiskontakten, der Koordinierung des Zeitpunkts und der zusätzlichen Kosten aufgrund der Markteinführung neuer, den Abgasnormen entsprechender Lkw und dem Austausch sensibler Wettbewerbsinformationen (237. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
45 Die Kommission stellte fest, dass Scania an den oben in Rn. 39 beschriebenen kollusiven Kontakten beteiligt gewesen sei und dass sämtliche Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, an denen sie beteiligt gewesen sei, eine Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 101 AEUV bezweckt hätten (Erwägungsgründe 238 und 239 des angefochtenen Beschlusses).
c)
Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung
46 Die Kommission vertrat die Ansicht, dass die Vereinbarungen und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen zwischen Scania und den Vergleichsparteien eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV sowie gegen Art. 53 des EWR-Abkommens im Zeitraum vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011 dargestellt hätten. Die Zuwiderhandlung habe in einer Kollusion hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen im EWR für mittlere und schwere Lkw sowie hinsichtlich des Zeitplans und der Weitergabe der Kosten der Einführung von aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschriebenen Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw bestanden (315. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
47 Im Einzelnen vertrat die Kommission die Ansicht, dass die Parteien über wettbewerbswidrige Kontakte einen gemeinsamen Plan mit einem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel verfolgt hätten und dass Scania von der allgemeinen Reichweite und den wesentlichen Merkmalen des Netzes kollusiver Kontakte Kenntnis gehabt habe oder hätte haben müssen und die Absicht gehabt habe, durch ihre Handlungen zum Kartell beizutragen (316. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
48 Die Kommission stellte fest, dass das einheitliche wettbewerbswidrige Ziel in der Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR bestanden habe. Dieses Ziel sei durch Praktiken zur Verringerung der strategischen Ungewissheit zwischen den Parteien hinsichtlich der künftigen Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie des Zeitplans und der Weitergabe der Kosten der Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw erreicht worden (317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
d)
Geografischer Umfang der Zuwiderhandlung
49 Die Kommission vertrat die Ansicht, dass sich der geografische Umfang der Zuwiderhandlung während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung auf den gesamten EWR erstreckt habe (386. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
4. Adressaten
50 Erstens richtete die Kommission den angefochtenen Beschluss an die Scania CV AB und an Scania DE, die sie in den folgenden Zeiträumen als unmittelbar für die Zuwiderhandlung verantwortlich erachtete:
–
was die Scania CV AB betrifft, für den Zeitraum vom 17. Januar 1997 bis zum 27. Februar 2009;
–
was Scania DE betrifft, für den Zeitraum vom 20. Januar 2004 bis zum 18. Januar 2011 (410. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
51 Zweitens stellte die Kommission auch fest, dass Scania AB im Zeitraum vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011 unmittelbar oder mittelbar sämtliche Anteile an der Scania CV AB gehalten habe, die ihrerseits unmittelbar oder mittelbar sämtliche Anteile an Scania DE gehalten habe (411. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Folglich führte die Kommission aus, dass sie den angefochtenen Beschluss auch an die folgenden juristischen Personen richte, die als Muttergesellschaften gesamtschuldnerisch hafteten:
–
an die Scania AB, die zum einen im Zeitraum vom 17. Januar 1997 bis zum 27. Februar 2009 für das Verhalten der Scania CV AB und zum anderen im Zeitraum vom 20. Januar 2004 bis zum 18. Januar 2011 für das Verhalten von Scania DE hafte;
–
an die Scania CV AB als Verantwortliche für das Verhalten von Scania DE im Zeitraum vom 20. Januar 2004 bis zum 18. Januar 2011 (412. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
52 Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die Adressaten des angefochtenen Beschlusses die juristischen Personen Scania AB, Scania CV AB und Scania DE seien (413. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
5. Berechnung der Geldbuße
53 Die Kommission wandte im vorliegenden Fall die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen) an.
a)
Grundbetrag der Geldbuße
54 Was als Erstes den Wert der verkauften Waren betrifft, so wurde er auf der Grundlage der Verkäufe von schweren Lkw durch die Klägerinnen im EWR (angepasst, um der Entwicklung im Gebiet des EWR Rechnung zu tragen) im Jahr 2010 – dem letzten vollen Jahr der Zuwiderhandlung – berechnet (Erwägungsgründe 429 bis 431 des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission berechnete, dass dieser Wert dem Betrag von [vertraulich] Euro entspreche.
55 Die Kommission vertrat die Auffassung, dass angesichts des Ausmaßes des Umsatzes der Klägerinnen die Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 zugrunde liegenden Ziele der Abschreckung und Verhältnismäßigkeit erreicht werden könnten, ohne auf den Gesamtwert der Verkäufe schwerer Lkw durch die Klägerinnen im Jahr 2010 zurückzugreifen. Folglich beschloss die Kommission in Anwendung von Ziff. 37 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, nur einen Teil des Gesamtumsatzes für die Berechnung der Geldbuße heranzuziehen, nämlich den Betrag von [vertraulich] Euro (Erwägungsgründe 432 und 433 des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission wies darauf hin, dass der Prozentsatz des Umsatzes, den sie bei Scania zugrunde gelegt habe, dem Wert entspreche, den sie im Vergleichsbeschluss bei den Vergleichsparteien zugrunde gelegt habe (Erwägungsgrund 432 in fine des angefochtenen Beschlusses).
56 Was als Zweites die Schwere der Zuwiderhandlung betrifft, so vertrat die Kommission die Auffassung, dass der im vorliegenden Fall verwendete Schwerekoeffizient (nämlich der Prozentsatz des zugrunde gelegten Umsatzes) 17 % betrage und begründete dies erstens mit der Tatsache, dass die Vereinbarungen über die Koordinierung von Preisen ihrem Wesen nach zu den schwersten Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens zählten, zweitens mit dem Umstand, dass sich das Kartell auf den ganzen EWR erstreckt habe, und drittens mit dem hohen kumulierten Marktanteil der am Kartell beteiligten Unternehmen (der über 90 % gelegen sei) (Erwägungsgründe 434 bis 437 des angefochtenen Beschlusses).
57 Als Drittes multiplizierte die Kommission unter Berücksichtigung der Dauer der Teilnahme von Scania an der Zuwiderhandlung den sich aus Rn. 56 oben ergebenden Betrag mit 14, wobei diese Zahl der Anzahl der Jahre dieser Teilnahme entsprach (Erwägungsgründe 438 und 439 des angefochtenen Beschlusses).
58 Als Viertes erhöhte die Kommission gemäß Ziff. 25 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen den Grundbetrag um einen Zusatzbetrag (Eintrittsgebühr), der sich auf 17 % des zugrunde gelegten Umsatzes belief (Erwägungsgründe 440 und 441 des angefochtenen Beschlusses).
59 Auf der Grundlage dieser Berechnungen kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass sich der Grundbetrag der Geldbuße auf 880523000 Euro belaufe (442. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
b)
Endbetrag der Geldbuße
60 Die Kommission vertrat die Ansicht, dass im vorliegenden Fall keine erschwerenden oder mildernden Umstände vorlägen, die den Grundbetrag der gegen Scania verhängten Geldbuße ändern könnten (444. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Daher kam sie zu dem Ergebnis, dass sich der Endbetrag auf 880523000 Euro belaufe und dass dieser Betrag die rechtliche Obergrenze von 10 % des Umsatzes von Scania nicht übersteige (Erwägungsgründe 445 bis 447 des angefochtenen Beschlusses).
6. Verfügender Teil des angefochtenen Beschlusses
61 Der verfügende Teil des angefochtenen Beschlusses lautet:
„Artikel 1
Die folgenden juristischen Personen von Scania haben dadurch, dass sie sich über Preise und Bruttopreiserhöhungen im EWR für mittlere und schwere Lkw sowie über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung der aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschriebenen Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw abgestimmt haben, in den folgenden Zeiträumen gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens verstoßen:
a)
die Scania AB (publ) im Zeitraum vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011;
b)
die Scania CV AB (publ) im Zeitraum vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011;
c)
[Scania DE] im Zeitraum vom 20. Januar 2004 bis zum 18. Januar 2011.
Artikel 2
Für die in Artikel 1 genannte Zuwiderhandlung werden die folgenden Geldbußen verhängt:
gegen die Scania AB (publ) und die Scania CV AB (publ) als Gesamtschuldnerinnen eine Geldbuße in Höhe von 880523000 Euro, für die [Scania DE] in Höhe von 440003282 Euro gesamtschuldnerisch haftet.
…“
II. Verfahren und Anträge der Parteien
62 Mit Klageschrift, die am 11. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen die vorliegende Klage erhoben.
63 Mit Schreiben vom 20. Februar 2019 hat die Kanzlei des Gerichts den Parteien den Abschluss des schriftlichen Verfahrens bekannt gegeben.
64 Mit Schriftsatz, der am 11. März 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen beantragt, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Die Kommission hat sich innerhalb der gesetzten Frist nicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung geäußert.
65 Im Zuge der Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts nach Art. 27 Abs. 5 der Verfahrensordnung des Gerichts ist der Berichterstatter der Zehnten Kammer zugeteilt worden, der daher die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.
66 Auf Vorschlag des Berichterstatters hat das Gericht (Zehnte Kammer) beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen.
67 Auf Vorschlag der Zehnten Kammer hat das Gericht gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung beschlossen, die Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper zu verweisen.
68 Im Zusammenhang mit der COVID-19-Gesundheitskrise ist die für den 2. April 2020 vorgesehene mündliche Verhandlung verschoben worden.
69 Da ein Mitglied der Zehnten erweiterten Kammer an der Mitwirkung am Verfahren gehindert war, hat der Präsident des Gerichts den Vizepräsidenten des Gerichts dazu bestimmt, die Kammer zu ergänzen und damit die Funktion des Präsidenten dieser Kammer wahrzunehmen.
70 Mit Schreiben vom 5. Juni 2020 haben die Klägerinnen auf der Grundlage von Art. 66 der Verfahrensordnung beantragt, bestimmte im Sitzungsbericht enthaltene Angaben gegenüber der Öffentlichkeit wegzulassen. Mit Schreiben vom selben Tag hat die Kommission auf derselben Grundlage beantragt, bestimmte insbesondere im Sitzungsbericht und in dem das Verfahren beendenden Urteil enthaltene Angaben gegenüber der Öffentlichkeit wegzulassen.
71 Mit Schreiben vom 5. Juni 2020 hat die Kommission auf der Grundlage von Art. 109 Abs. 2 der Verfahrensordnung beantragt, die Öffentlichkeit bei der mündlichen Verhandlung auszuschließen. Die Klägerinnen haben ihre Stellungnahme zu diesem Antrag am 9. Juni 2020 eingereicht.
72 Am 12. Juni 2020 hat das Gericht beschlossen, die Öffentlichkeit bei der mündlichen Verhandlung auszuschließen.
73 Die Parteien haben in der Sitzung vom 18. Juni 2020 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
74 In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Parteien darauf hingewiesen, dass es die Prüfung bestimmter im angefochtenen Beschluss genannter Dokumente für die Entscheidung des Rechtsstreits als erforderlich erachte.
75 Nachdem die Kommission in einem Schreiben vom 23. Juni 2020 Klarstellungen zum Inhalt und zur rechtlichen Regelung der oben in Rn. 74 genannten Dokumente gemacht hatte, hat das Gericht mit Beschluss vom 14. Juli 2020 eine Beweiserhebung angeordnet und eine prozessleitende Maßnahme erlassen, mit der die Kommission aufgefordert wurde, diese Dokumente vorzulegen. Die Kommission ist der Aufforderung des Gerichts fristgerecht nachgekommen.
76 Am 26. Oktober 2020 ist das mündliche Verfahren abgeschlossen worden.
77 Die Klägerinnen beantragen,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
–
hilfsweise, den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig zu erklären, und die gegen sie verhängte Geldbuße gemäß Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 herabzusetzen;
–
die Beurteilung der Kommission hinsichtlich der Höhe der gegen sie verhängten Geldbuße durch die Beurteilung des Gerichts zu ersetzen und die Geldbuße gemäß Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 herabzusetzen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
78 Die Kommission beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
A. Weglassen bestimmter Angaben gegenüber der Öffentlichkeit
79 Die Kommission hat in ihrem Schreiben vom 5. Juni 2020 (vgl. Rn. 70 oben) u. a. beantragt, bestimmte Angaben gegenüber der Öffentlichkeit wegzulassen, deren Weglassen in der nicht vertraulichen Fassung des angefochtenen Beschlusses die Vergleichsparteien bei ihr beantragt hatten. Die Kommission hat dem Gericht mitgeteilt, dass die Vergleichsparteien, was die letztgenannten Anträge betrifft, auf der Grundlage von Art. 8 des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (ABl. 2011, L 275, S. 29) den Anhörungsbeauftragten angerufen hätten, und dass der Anhörungsbeauftragte zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die oben genannten Anträge der Vergleichsparteien entschieden habe.
80 Das Gericht muss im Rahmen der Anwendung von Art. 66 der Verfahrensordnung den Grundsatz der Bekanntmachung von Gerichtsentscheidungen mit dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten und dem Recht auf Schutz des Berufsgeheimnisses miteinander in Einklang bringen und dabei auch das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Gerichtsentscheidungen nach den Grundsätzen des Art. 15 AEUV berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 5. Oktober 2020, Broughton/Eurojust, T‑87/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:464, Rn. 49).
81 Um diese Grundsätze miteinander in Einklang zu bringen, hat das Gericht im vorliegenden Fall beschlossen, in der nicht vertraulichen Fassung des vorliegenden Urteils die Namen der natürlichen Personen zu anonymisieren und die Bezeichnungen anderer juristischer Personen als der Klägerinnen unkenntlich zu machen. Es hat auch beschlossen, bestimmte Angaben, die insbesondere den Preisfestsetzungsmechanismus bei Scania und die Berechnung der gegen sie verhängten Geldbuße betreffen, deren Unkenntlichmachung das Verständnis der nicht vertraulichen Fassung des Urteils nicht berührt, unkenntlich zu machen.
82 Dagegen hat das Gericht beschlossen, die Angaben, um die es in den an die Kommission gerichteten Anträgen der Vergleichsparteien geht, in der nicht vertraulichen Fassung des Urteils nicht unkenntlich zu machen (vgl. Rn. 79 oben). Einige dieser Angaben können aus dem Inhalt der auf der Website der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission veröffentlichten Dokumente abgeleitet werden und sind daher öffentlich zugänglich. Manch andere Angaben stellen lediglich rechtliche Qualifizierungen des Verhaltens der Vergleichsparteien und von Scania dar oder liefern tatsächliche Erläuterungen zu diesem Verhalten. Die Unkenntlichmachung dieser Angaben würde das Verständnis dieses Urteils des Gerichts durch die Öffentlichkeit beeinträchtigen.
83 Der von der Kommission ins Treffen geführte Umstand, dass der Anhörungsbeauftragte über die Anträge der Vergleichsparteien noch nicht entschieden hat, berührt die Beurteilung durch das Gericht nicht. Die Beurteilung des Anhörungsbeauftragten zielt auf die Erstellung der nicht vertraulichen Fassung des angefochtenen Beschlusses ab, während die vom Gericht im Rahmen von Art. 66 der Verfahrensordnung vorgenommene Beurteilung die Erstellung der nicht vertraulichen Fassung des Urteils betrifft. Diese beiden Beurteilungen haben also unterschiedliche Ziele, und daher muss das Gericht unabhängig vom Gang des Verfahrens vor dem Anhörungsbeauftragten vorgehen.
B. Begründetheit
84 Zur Stützung ihrer Klage machen die Klägerinnen neun Klagegründe geltend.
85 Im Rahmen des ersten Klagegrundes machen die Klägerinnen eine Verletzung der Verteidigungsrechte, des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Unschuldsvermutung geltend, die sich insbesondere aus dem Erlass des Vergleichsbeschlusses vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses ergebe. Im Rahmen des zweiten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und gegen Art. 27 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003 gerügt wird, werfen die Klägerinnen der Kommission im Wesentlichen vor, ihnen die Einsicht in sämtliche Erwiderungen von [vertraulich] und von [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte verweigert zu haben.
86 Der dritte, der vierte, der fünfte, der sechste und der siebte Klagegrund, mit denen u. a. eine fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens gerügt wird, richten sich im Wesentlichen gegen die Feststellung der Kommission, dass im vorliegenden Fall eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung vorliege, und gegen deren Zurechnung an Scania.
87 Im Rahmen des achten Klagegrundes, mit dem eine fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und von Art. 53 des EWR-Abkommens sowie von Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 gerügt wird, werfen die Klägerinnen der Kommission vor, gegen sie eine Geldbuße wegen eines verjährten Verhaltens verhängt zu haben, und jedenfalls die Tatsache nicht berücksichtigt zu haben, dass dieses Verhalten nicht fortgesetzt worden sei.
88 Mit dem neunten Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf die Höhe der Geldbuße gerügt. Auf der Grundlage dieses Klagegrundes beantragen die Klägerinnen außerdem hilfsweise, das Gericht möge die Geldbuße nach Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 herabsetzen.
1. Erster Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte, des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Unschuldsvermutung
89 Zur Stützung des ersten Klagegrundes machen die Klägerinnen im Wesentlichen geltend, der Vergleichsbeschluss und der angefochtene Beschluss, die auf der Grundlage derselben Beanstandungen erlassen worden seien, die in der sowohl an die Vergleichsparteien als auch an die Klägerinnen gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte erhoben worden seien, beträfen dasselbe mutmaßliche Kartell und stützten sich jeweils auf dieselben Tatsachen und Beweise.
90 Ausgehend von dieser Prämisse machen die Klägerinnen erstens geltend, der angefochtene Beschluss sei unter Verstoß gegen ihre in Art. 48 Abs. 2 der Charta und in Art. 27 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verankerten Verteidigungsrechte erlassen worden, da die Kommission im Vergleichsbeschluss eine rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts vorgenommen und das Verhalten, an dem Scania beteiligt gewesen sei, als Zuwiderhandlung eingestuft habe, bevor sie die Möglichkeit gehabt habe, ihre Verteidigungsrechte wirksam auszuüben.
91 Zweitens machen die Klägerinnen geltend, die Kommission sei ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, eine sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung durchzuführen, die sich aus dem in Art. 41 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung ergebe, da sie den Vergleichsbeschluss vor dem angefochtenen Beschluss erlassen habe und nicht mehr in der Lage gewesen sei, unparteiisch zu handeln und die von Scania im Rahmen des Verfahrens, in dem der angefochtene Beschluss erlassen worden sei, vorgebrachten Beweise und Argumente objektiv zu bewerten.
92 Die Klägerinnen fügen hinzu, dass der damit begangene Verstoß gegen Art. 41 Abs. 1 der Charta unter diesen Umständen auch nicht dadurch geheilt werden könne, dass das Gericht die Beweise, auf die sich die Kommission stütze und die in ihrer Akte enthalten seien, vollständig prüfe.
93 Drittens machen die Klägerinnen geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen die Unschuldsvermutung, deren Beachtung durch Art. 48 Abs. 1 der Charta gewährleistet sei. Im Speziellen machen sie geltend, der Vergleichsbeschluss lege den endgültigen Standpunkt der Kommission in Bezug auf denselben Sachverhalt wie den in der Mitteilung der Beschwerdepunkte beschriebenen fest und gelange zu dem Ergebnis, dass dieser Sachverhalt, an dessen Verwirklichung auch Scania beteiligt gewesen sein soll, eine Zuwiderhandlung darstelle. Diese Erklärung gehe über einen bloßen Hinweis auf eine mögliche Verantwortung von Scania hinaus und stelle daher eine Verletzung des Rechts auf Unschuldsvermutung dar, das Scania bis zu dem von der Kommission zu erbringenden Beweis des Gegenteils zugutekommen müsse.
94 Die Annahme, dass der Verstoß gegen die Unschuldsvermutung unerheblich sei, solange er die Kommission nicht dazu veranlasse, einen „schlechten“ Beschluss zu erlassen, nämlich einen Beschluss, in dem die Feststellung der Zuwiderhandlung nicht ordnungsgemäß durch Beweise untermauert werde, laufe in der Praxis darauf hinaus, dass diese Vermutung ihres Inhalts oder ihres Zwecks beraubt werde, da die klagende Partei, wenn sie nachweisen könne, dass der Beschluss fehlerhaft sei, keine Beeinträchtigung eines fairen Verfahrens geltend zu machen brauche.
95 Die Klägerinnen kommen zu dem Ergebnis, die Kommission habe den angefochtenen Beschluss gegen Scania, weil der Vergleichsbeschluss vor dem angefochtenen Beschluss erlassen worden sei, nicht völlig unvoreingenommen und ohne eine nicht wiedergutzumachende Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Unschuldsvermutung erlassen können.
96 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen und beantragt, den ersten Klagegrund zurückzuweisen.
97 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen, wie sie in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer Frage des Gerichts bestätigt haben, im Rahmen des ersten Klagegrundes den „hybriden“ Charakter des Verfahrens vor der Kommission beanstanden, der unter den Umständen des vorliegenden Verfahrens zu den behaupteten Verstößen geführt habe, nämlich zur Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, der Pflicht zur Unparteilichkeit und der Verteidigungsrechte von Scania, die sich aus dem Vergleichsverfahren zurückgezogen habe. Insbesondere die Tatsache, dass der Vergleichsbeschluss vor dem angefochtenen Beschluss erlassen worden sei, verschärfe diese Verstöße.
98 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10a („Vergleichsverfahren in Kartellfällen“) der Verordnung Nr. 773/2004 Folgendes vorsieht:
„(1) Nach Einleitung des Verfahrens gemäß Artikel 11 Absatz 6 der Verordnung … Nr. 1/2003 kann die Kommission eine Frist setzen, innerhalb der die Parteien schriftlich ihre Bereitschaft signalisieren können, Vergleichsgespräche im Hinblick auf die mögliche Vorlage von Vergleichsausführungen aufzunehmen. Die Kommission ist nicht verpflichtet, nach Ablauf dieser Frist eingegangene Antworten zu berücksichtigen.
…
(2) Die Kommission kann den Parteien, die an Vergleichsgesprächen teilnehmen, Folgendes offenlegen:
a)
die gegen sie erwogenen Beschwerdepunkte;
b)
die Beweise, anhand derer die erwogenen Beschwerdepunkte festgestellt wurden;
c)
nicht vertrauliche Fassungen sämtlicher in der Akte des Falles aufgeführter Unterlagen, sofern die Partei dies beantragt, damit sie ihre Position bezüglich eines Zeitraums oder anderer Gesichtspunkte des Kartells ermitteln kann, und
d)
die Höhe etwaiger Geldbußen.
…
Bei Fortschritten in den Vergleichsgesprächen kann die Kommission eine Frist setzen, innerhalb der sich die Parteien verpflichten können, das Vergleichsverfahren durch die Vorlage von Vergleichsausführungen anzunehmen, in denen die Ergebnisse der Vergleichsgespräche wiedergegeben und ihre Teilnahme an einer Zuwiderhandlung gegen Artikel [101 AEUV] einschließlich ihrer Haftbarkeit anerkannt wird. Die betreffenden Parteien haben Anspruch darauf, dass ihnen die in Unterabsatz 1 genannten Informationen auf Antrag rechtzeitig, bevor die Kommission eine Frist für die Vorlage von Vergleichsausführungen setzt, offengelegt werden. Die Kommission ist nicht verpflichtet, nach Ablauf dieser Frist eingegangene Vergleichsausführungen zu berücksichtigen.
(3) Wurde der Inhalt der Vergleichsausführungen in der den Parteien zugestellten Mitteilung der Beschwerdepunkte wiedergegeben, haben die Parteien in ihrer schriftlichen Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte innerhalb einer von der Kommission gesetzten Frist zu bestätigen, dass die ihnen zugestellte Mitteilung der Beschwerdepunkte den Inhalt ihrer Vergleichsausführungen wiedergibt. Daraufhin kann die Kommission nach Konsultationen im Beratenden Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen gemäß Artikel 14 der Verordnung … Nr. 1/2003 eine Entscheidung gemäß Artikel 7 und Artikel 23 der genannten Verordnung erlassen.
(4) Die Kommission kann während des Verfahrens jederzeit beschließen, die Vergleichsgespräche in einem bestimmten Fall insgesamt oder mit einer oder mehreren Parteien zu beenden, wenn sie zu der Auffassung gelangt, dass eine Rationalisierung des Verfahrens voraussichtlich nicht erzielt werden kann.“
99 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass diese Vorschrift der Möglichkeit der Kommission, ein „hybrides“ Verfahren im Rahmen der Anwendung von Art. 101 AEUV zu führen, nicht entgegensteht und sie nicht ausschließt.
100 Im Übrigen hat das Gericht bereits anerkannt, dass die Kommission berechtigt ist, auf ein solches „hybrides“ Verfahren zurückzugreifen und gegen Unternehmen, die Vergleichsausführungen vorlegen, ein Vergleichsverfahren zu führen und gleichzeitig gegen Unternehmen, die keine solchen Vergleichsausführungen unterbreiten möchten, das Verfahren gemäß den allgemeinen Vorschriften der Verordnung Nr. 773/2004 anstelle der Bestimmungen betreffend das Vergleichsverfahren durchzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2015, Timab Industries und CFPR/Kommission, T‑456/10, EU:T:2015:296, Rn. 70, 71 und 104, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Urteil vom 12. Januar 2017, Timab Industries und CFPR/Kommission, C‑411/15 P, EU:C:2017:11, Rn. 119 und 136).
101 Zudem hat das Gericht auch bestätigt, dass die Kommission die Möglichkeit hat, in einem ersten Schritt gegenüber den Parteien, die sich für einen Vergleich entschieden haben, einen Vergleichsbeschluss zu erlassen, und in einem zweiten Schritt gegenüber den Parteien, die sich gegen einen Vergleich entschieden haben, einen Beschluss nach dem ordentlichen Verfahren zu erlassen, jedoch vorausgesetzt, dass sie die Unschuldsvermutung beachtet, insbesondere, wenn es für den Erlass des Vergleichsbeschlusses nicht erforderlich ist, die Verantwortlichkeit der nicht am Vergleich beteiligten Partei zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2017, Icap u. a./Kommission, T‑180/15, EU:T:2017:795, Rn. 265 bis 268, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Urteil vom 10. Juli 2019, Kommission/Icap u. a., C‑39/18 P, EU:C:2019:584).
102 Wie die Kommission geltend macht, würde eine Verzögerung oder ein Abbruch eines Vergleichsverfahrens, weil sich eines der betroffenen Unternehmen, wie im vorliegenden Fall Scania, aus diesem Verfahren zurückgezogen hat, dem mit dem Vergleichsverfahren verfolgten Ziel, eine schnellere und effizienter Bearbeitung des Falles mit den Unternehmen, die sich für einen Vergleich entschieden haben, sicherzustellen, wie es im vierten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 622/2008 der Kommission vom 30. Juni 2008 zur Änderung der Verordnung Nr. 773/2004 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen (ABl. 2008, L 171, S. 3) dargelegt ist, zuwiderlaufen. Durch die Beachtung dieses Ziels dürfen jedoch die Erfordernisse, die mit der Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung und der Pflicht zur Unparteilichkeit im Zusammenhang stehen, nicht in Frage gestellt werden.
103 Aus den von den Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Umständen des vorliegenden Falles, nämlich der Tatsache, dass die vollständige Mitteilung der Beschwerdepunkte an alle Parteien gerichtet gewesen sei und dass diese vollständige Einsicht in die Ermittlungsakte erhalten hätten, lässt sich entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen nicht ableiten, dass der Rückgriff der Kommission auf das zeitlich gestaffelte „hybride“ Verfahren diesem Ziel der Schnelligkeit und Wirksamkeit nicht gerecht werden konnte. Dieses Ziel wird auch durch andere Umstände verfolgt, die für ein Vergleichsverfahren spezifisch sind, wie z. B. das eindeutige Anerkenntnis der Haftung der Parteien für die Zuwiderhandlung, die Akzeptanz der begrenzten Ausübung ihres Rechts auf Verteidigung und die Höhe der Geldbußen (vgl. Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Art. 7 und Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 in Kartellfällen [ABl. 2008, C 167, S. 1], Ziff. 20 und 21).
104 Folglich stellen entgegen dem wesentlichen Vorbringen der Klägerinnen die „hybriden“ Verfahren im Rahmen der Anwendung von Art. 101 AEUV, in denen der Erlass des Vergleichsbeschlusses und des Beschlusses nach dem ordentlichen Verfahren zeitlich gestaffelt sind, für sich genommen nicht unter allen Umständen einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, die Verteidigungsrechte oder die Pflicht zur Unparteilichkeit dar und haben nicht unweigerlich zur Folge, dass diese Grundsätze und diese Rechte verletzt wurden, wie sich aus der oben in Rn. 100 und 101 angeführten Rechtsprechung ergibt.
105 Daraus folgt, dass die Kommission berechtigt ist, auf ein solches „hybrides“ Verfahren zurückzugreifen, indem sie den Vergleichsbeschluss vor dem angefochtenen Beschluss erlässt, jedoch unter der Voraussetzung, dass die uneingeschränkte Beachtung dieser Grundsätze und Rechte gewährleistet ist.
106 Somit ist zu prüfen, ob die Kommission unter den Umständen des vorliegenden Falles die Unschuldsvermutung und ihre Pflicht zur Unparteilichkeit gegenüber Scania sowie deren Verteidigungsrechte gewahrt hat.
107 Die Klägerinnen stützen ihre Rügen des ersten Klagegrundes hauptsächlich auf die Prämisse, dass der Vergleichsbeschluss und der angefochtene Beschluss auf demselben Sachverhalt und denselben Beweisen beruhten. Sie verweisen insoweit auf die Tatsachen, die sich auf das Verhalten der Vergleichsparteien beziehen, wie die in Abschnitt 3 des Vergleichsbeschlusses dargelegten, die jedoch „notwendigerweise Scania einbeziehen“, so dass der Kreis der Unternehmen, deren Verhalten im Vergleichsbeschluss rechtlich qualifiziert worden sei, nicht auf die Adressaten dieses Beschlusses beschränkt sei, sondern auch Scania einschließe. Die Klägerinnen machen auch geltend, der Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung ergebe sich daraus, dass der Vergleichsbeschluss und der angefochtene Beschluss auf der Grundlage derselben Beanstandungen erlassen worden seien, die in der sowohl an die Vergleichsparteien als auch an die Klägerinnen gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte erhoben worden seien.
108 Was die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung anlangt, so ist in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei diesem Grundsatz um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts handelt, der nunmehr in Art. 48 Abs. 1 der Charta niedergelegt und in Verfahren wegen Verletzung der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, anwendbar ist (vgl. Urteil vom 22. November 2012, E.ON Energie/Kommission, C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 72 und 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
109 Art. 48 der Charta entspricht Art. 6 Abs. 2 und 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), wie den Erläuterungen zur Charta zu entnehmen ist. Folglich ist Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK nach Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung ihres Art. 48 als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen und es ist angezeigt, sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu Art. 6 Abs. 2 EMRK zu orientieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. [Unschuldsvermutung], C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 41 und 42). Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden (vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
110 Hierzu ist außerdem festzustellen, dass der EGMR in seinem Urteil vom 27. September 2011, A. Menarini Diagnostics S.R.L./Italien (CE:ECHR:2011:0927JUD004350908, §§ 39 bis 44), in Bezug auf eine Sanktion, die wegen ähnlicher wettbewerbswidriger Verhaltensweisen wie denen, die den Klägerinnen vorgeworfen wurden, von der italienischen Wettbewerbsbehörde verhängt wurde, ausgeführt hat, dass die Sanktion angesichts der Höhe der verhängten Geldbuße aufgrund ihrer Schwere Strafcharakter hat. Der EGMR hat jedoch auch entschieden, dass sich die Natur eines Verwaltungsverfahrens wie des in diesem Urteil in Rede stehenden in verschiedener Hinsicht von der Natur eines Strafverfahrens im strengen Wortsinn unterscheiden kann. Zwar können diese Unterschiede die Vertragsstaaten nicht von ihrer Pflicht befreien, alle durch den strafrechtlichen Teil von Art. 6 EMRK gebotenen Garantien zu beachten, sie können jedoch die Modalitäten ihrer Anwendung beeinflussen (EGMR, 27. September 2011, A. Menarini Diagnostics S.R.L./Italien, CE:ECHR:2011:0927JUD004350908, § 62; vgl. in diesem Sinne auch EGMR, 23. November 2006, Jussila/Finnland, CE:ECHR:2006:1123JUD007305301, § 43).
111 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung bedeutet, dass jede beschuldigte Person bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis ihrer Schuld als unschuldig gilt. Dieser Grundsatz verbietet damit jede ausdrückliche Feststellung und selbst jede Anspielung auf die Verantwortlichkeit einer eines bestimmten Verstoßes beschuldigten Person in einer verfahrensbeendenden Entscheidung, wenn diese Person nicht alle im Rahmen eines normalen, mit einer Sachentscheidung abzuschließenden Verfahrensablaufs zur Ausübung der Verteidigungsrechte erforderlichen Garantien in Anspruch nehmen konnte (vgl. Urteil vom 10. November 2017, Icap u. a./Kommission, T‑180/15, EU:T:2017:795, Rn. 257 und die dort angeführte Rechtsprechung, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Urteil vom 10. Juli 2019, Kommission/Icap u. a., C‑39/18 P, EU:C:2019:584).
112 Insoweit hat der EGMR festgestellt, dass eine vorzeitige Meinungsäußerung zur Schuld eines Verdächtigen in einem Urteil gegen getrennt verfolgte Verdächtige theoretisch auch gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen kann (vgl. EGMR, 27. Februar 2014 Karaman/Deutschland, CE:ECHR:2014:0227JUD001710310, § 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
113 Nach Ansicht des EGMR wird der Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt, wenn eine Gerichtsentscheidung oder eine offizielle Erklärung über einen Beschuldigten eine eindeutige Erklärung enthält, dass die betreffende Person eine Straftat begangen habe, ohne dass eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt. In diesem Zusammenhang hat der EGMR die Bedeutung betont, die der Wortwahl der Justizbehörden sowie den besonderen Umständen, unter denen die Äußerung getätigt wurde, und der Art und dem Kontext des fraglichen Verfahrens zukommt (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR: 2014:0227JUD001710310, § 63).
114 Der EGMR hat anerkannt, dass es so in komplexen Strafverfahren mit mehreren Verdächtigen, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Bewertung der Schuld der Angeklagten unerlässlich sein kann, dass das zuständige Gericht auf die Teilnahme Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird. Er hat jedoch weiter ausgeführt, dass, wenn Tatsachen in Bezug auf die Beteiligung Dritter eingeführt werden müssen, das betreffende Gericht es vermeiden sollte, mehr Informationen zu geben als für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der in dem betreffenden Verfahren angeklagten Personen nötig. Zudem hat der EGMR betont, dass die Begründung der Gerichtsentscheidungen in einer Art und Weise zu formulieren ist, die eine mögliche vorzeitige Beurteilung der Schuld der betroffenen Dritten vermeidet, die die faire Prüfung der gegen sie in einem gesonderten Verfahren erhobenen Vorwürfe gefährden könnte (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:0227JUD001710310, §§ 64 und 65, und EGMR, 23. Februar 2016, Navalnyy und Ofitserov/Russland, CE:ECHR:2016:0223JUD004663213‚ § 99).
115 Nach der Rechtsprechung des EGMR kann eine Verletzung der Unschuldsvermutung nicht nur von einem Richter oder einem Gericht ausgehen, sondern auch von anderen Behörden (vgl. EGMR, 15. März 2011, Begu/Rumänien, CE:ECHR:2011:0315JUD002044802, § 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).
116 Im vorliegenden Fall ist mit der Kommission darauf hinzuweisen, dass keine der von den Klägerinnen angeführten Passagen des Vergleichsbeschlusses einen Hinweis oder eine Anspielung auf Scania enthält, aus der sich ergeben würde, dass die Kommission ihre Verantwortlichkeit im Rahmen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV bereits zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses vorweg festgestellt hatte.
117 Insoweit ist erstens auf den Inhalt des vierten Erwägungsgrundes des Vergleichsbeschlusses hinzuweisen, der Folgendes vorsieht:
„Am 20. November 2014 leitete die Kommission gegen die Adressaten des vorliegenden Beschlusses und mehrere Einheiten eines anderen Unternehmens ein Verfahren nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ein. Dieses Unternehmen legte keine Vergleichsausführungen nach Art. 10a Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 vor. Zum Zeitpunkt dieses [Vergleichs‑]Beschlusses ist das Verwaltungsverfahren, das gegen dieses Unternehmen gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 geführt wird, anhängig. Um Unklarheiten auszuschließen, [wird darauf hingewiesen, dass] dieser [Vergleichs‑]Beschluss keine dieses Unternehmen betreffende Feststellung zu einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union [enthält].“
118 Somit nahm die Kommission im vierten Erwägungsgrund des Vergleichsbeschlusses implizit auf Scania Bezug, und zwar zum einen als Unternehmen, gegen das ein Verwaltungsverfahren nach Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 anhängig war, und zum anderen, indem sie ausführte, dass der Vergleichsbeschluss hinsichtlich einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union keine sie betreffende Schlussfolgerung enthalte. Ein solcher Hinweis ist allenfalls als Ausdruck eines Verdachts in Bezug auf eine noch nachzuweisende Verantwortlichkeit von Scania anzusehen, der keinen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darstellt (vgl. in diesem Sinne und entsprechend EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:2014:0227JUD001710310, § 63, und 31. Oktober 2017, Bauras/Litauen, CE:ECHR:2017:1031JUD005679513, § 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
119 Obwohl zweitens das Vorliegen eines ausdrücklichen Hinweises im Vergleichsbeschluss, dass es zu diesem Zeitpunkt noch kein Ergebnis in Bezug auf die Verantwortlichkeit von Scania nach Art. 101 AEUV gebe, den Willen der Kommission zeigt, ihrer Pflicht nachzukommen, den Grundsatz der Unschuldsvermutung zu wahren, wie er in der Rechtsprechung des EGMR aufgestellt worden ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:2014:0227JUD001710310, §§ 67, 69 und 70, und 31. Oktober 2017, Bauras/Litauen, CE:ECHR:2017:1031JUD005679513, § 54), nämlich klar anzugeben, dass gegen Scania ein gesondertes Strafverfahren anhängig sei und dass ihre Verantwortlichkeit noch nicht rechtsförmlich festgestellt sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. [Unschuldsvermutung], C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 45), reicht dies jedoch für sich genommen nicht aus, um einen Verstoß gegen diesen Grundsatz auszuschließen, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen eingeräumt hat.
120 Bei der Kontrolle der Beachtung der Unschuldsvermutung ist somit auch die Begründung des Vergleichsbeschlusses in ihrer Gesamtheit im Licht der besonderen Umstände, unter denen er erlassen worden ist, zu prüfen, um sicherzugehen, dass andere Abschnitte dieser Entscheidung, die wie eine vorzeitige Meinungsäußerung zur Verantwortlichkeit von Scania für eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstanden werden könnten, dem ausdrücklichen Hinweis auf die fehlende Feststellung ihrer Verantwortlichkeit nicht seinen Sinn nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. [Unschuldsvermutung], C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 46).
121 Insoweit verweisen die Klägerinnen auf Abschnitt 3 des Vergleichsbeschlusses, der der Beschreibung des Verhaltens von dessen Adressaten gewidmet ist, und insbesondere auf bestimmte Passagen, in denen die Kommission das Verhalten beschrieben hat, an dem „unter anderem“ die Adressaten dieses Beschlusses beteiligt waren (Erwägungsgründe 47 und 60 des Vergleichsbeschlusses).
122 Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass diese Bezugnahmen nicht so verstanden werden sollten, dass sie implizit auf Scania abzielten, auch wenn sie in Verbindung mit dem vierten Erwägungsgrund des Vergleichsbeschlusses gesehen würden. Die Klägerinnen haben keine Argumente vorgetragen, die diese Auslegung der Erwägungsgründe 47 und 60 des Vergleichsbeschlusses widerlegen könnten.
123 Jedenfalls betrifft eine solche Bezugnahme, selbst wenn man unterstellt, dass die Kommission, indem sie im Vergleichsbeschluss „unter anderem“ auf das Verhalten von dessen Adressaten Bezug nahm, implizit vor allem auf Scania abgezielt hat, nicht Scanias Verantwortlichkeit für die in Rede stehende Zuwiderhandlung im Sinne der oben in Rn. 111 angeführten Rechtsprechung, sondern allenfalls ihre Teilnahme an bestimmten Verhaltensweisen, die den Vergleichsparteien zur Last gelegt werden. Sie stellt daher keine „eindeutige“ Erklärung dar, dass Scania die in Rede stehende Zuwiderhandlung im Sinne der oben in Rn. 113 angeführten Rechtsprechung begangen hat, ohne dass eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt.
124 Im Vergleichsbeschluss hat die Kommission, wie sie geltend macht, eine rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts vorgenommen, wie er von dessen Adressaten als Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV anerkannt worden war, und im vierten Abschnitt des Vergleichsbeschlusses hat sie nur in Bezug auf dessen Adressaten Schlussfolgerungen hinsichtlich der Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung formuliert.
125 Die Klägerinnen machen jedoch geltend, ein Verstoß gegen die Vermutung der Unschuld von Scania ergebe sich daraus, dass der Vergleichsbeschluss den endgültigen Standpunkt der Kommission festlege, was denselben Sachverhalt wie den in der Mitteilung der Beschwerdepunkte beschriebenen betreffe, und dass die Kommission zu dem Ergebnis gelange, dass dieser Sachverhalt, an dessen Verwirklichung auch Scania beteiligt gewesen sein soll, eine Zuwiderhandlung darstelle. Diese Erklärung geht nach Ansicht der Klägerinnen über einen bloßen Hinweis auf eine mögliche Verantwortung von Scania hinaus.
126 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der im Vergleichsbeschluss dargelegte Sachverhalt von den Vergleichsparteien anerkannt wurde, wie sich aus dessen drittem Erwägungsgrund ergibt.
127 Die bloße Tatsache, dass die Adressaten des Vergleichsbeschlusses ihre Teilnahme an der Zuwiderhandlung zugegeben und so ihre Schuld eingestanden haben, kann nicht dazu führen, dass die Haftbarkeit von Scania aufgrund ihrer möglichen Beteiligung an demselben Sachverhalt anerkannt wird, indem somit die in Bezug auf die Vergleichsparteien gezogenen Schlussfolgerungen automatisch de facto und de jure in eine Art „verdecktes Urteil“ der Kommission über Scania verwandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2019, Pometon/Kommission, T‑433/16, EU:T:2019:201, Rn. 68).
128 Ein Schuldanerkenntnis der am Vergleichsverfahren beteiligten Kartellteilnehmer kann sich jedoch auf die Umstände bezüglich einer Beteiligung eines „anderen Unternehmens“, im vorliegenden Fall Scania, auswirken, das der Mitwirkung an demselben Kartell verdächtigt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 2019, Pometon/Kommission, T‑433/16, EU:T:2019:201, Rn. 92; vgl. in diesem Sinne und entsprechend EGMR, 23. Februar 2016, Navalnyy und Ofitserov/Russland, CE:ECHR:2016:0223JUD004663213, § 103). Folglich muss die Kommission dafür Sorge tragen, dass die von den Vergleichsparteien zugegebenen Tatsachen nicht in Bezug auf eine nicht an diesem Verfahren teilnehmende Partei wie Scania akzeptiert werden, ohne dass im ordentlichen Verfahren eine vollständige und angemessene Prüfung anhand der von dieser Partei vorgetragenen Argumente und Beweise erfolgt (vgl. in diesem Sinne und entsprechend EGMR, 23. Februar 2016, Navalnyy und Ofitserov/Russland, CE:ECHR:2016:0223JUD004663213, §§ 103 bis 105, und vom 31. Oktober 2017, Bauras/Litauen, CE:ECHR:2017:1031JUD005679513, § 53).
129 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich das betroffene Unternehmen und die Kommission im Rahmen des ordentlichen Verwaltungsverfahrens gegenüber dem Vergleichsverfahren in einer sogenannten „Tabula rasa“-Situation befinden, in der die Verantwortlichkeiten erst festgestellt werden müssen. Somit war die Kommission bei Erlass des Beschlusses gegenüber Scania nach Abschluss des ordentlichen Verwaltungsverfahrens zum einen nur an die Mitteilung der Beschwerdepunkte gebunden und zum anderen verpflichtet, unter Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens alle maßgeblichen Umstände, einschließlich aller von Scania in Wahrnehmung ihres Rechts auf Anhörung vorgetragenen Informationen und Argumente, zu berücksichtigen, so dass sie verpflichtet war, die Akte in Anbetracht dieser Beweise erneut zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2015, Timab Industries und CFPR/Kommission, T‑456/10, EU:T:2015:296, Rn. 90, 96 und 107, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Urteil vom 12. Januar 2017, Timab Industries und CFPR/Kommission, C‑411/15 P, EU:C:2017:11, Rn. 119 und 136).
130 Im Übrigen erfordert eine rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts, die die Kommission gegenüber den Vergleichsparteien vorgenommen hat, als solche nicht, dass die Kommission gegenüber Scania nach dem speziellen, sie betreffenden Verfahren notwendigerweise die gleiche rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts vornimmt, wie die Kommission im 366. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgehoben und in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer Frage des Gerichts bestätigt hat. Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, hindert die Kommission nichts daran, festzustellen, dass eine Partei einer Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise nach Art. 101 AEUV haftet, während die andere nicht haftet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2018, ABB/Kommission, T‑445/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:449, Rn. 177 bis 179 und die dort angeführte Rechtsprechung).
131 Was das Vorbringen der Klägerinnen betrifft, der Verstoß gegen die Unschuldsvermutung ergebe sich daraus, dass der Vergleichsbeschluss und der angefochtene Beschluss auf denselben Beweisen beruhten, so räumt die Kommission ein, dass es eine gewisse Überschneidung zwischen den Beweisen gebe, auf die sie sich in den beiden Beschlüssen gestützt habe.
132 Eine solche Überschneidung zwischen den Beweisen lässt jedoch für sich genommen nicht den Schluss zu, dass im vorliegenden Fall die Unschuldsvermutung gegenüber den Klägerinnen nicht beachtet wurde. Die bloße Tatsache, dass sich die Kommission in den beiden Beschlüssen auf dieselben Beweise gestützt hat, nimmt in keiner Weise den Schluss vorweg, den die Kommission daraus hinsichtlich der Verantwortlichkeit von Scania ziehen konnte.
133 Wie die Kommission im Übrigen zu Recht geltend macht, schließt der Grundsatz der Unschuldsvermutung zwar die ausdrückliche Feststellung einer Zuwiderhandlung oder jegliche Anspielung auf die Verantwortlichkeit der Klägerinnen im Vergleichsbeschluss aus, da sie im Rahmen von dessen Erlass nicht alle im Rahmen der Ausübung der Verfahrensrechte üblichen Garantien in Anspruch nehmen konnten, jedoch schließt dieser Grundsatz nicht die Möglichkeit aus, sich auf gemeinsame Beweise zu stützen, sofern die Klägerinnen die auf der Grundlage dieser Beweise getroffenen Feststellungen vor den Unionsgerichten anfechten können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Oktober 2007, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse/Kommission, T‑474/04, EU:T:2007:306, Rn. 76 und 77), was hier der Fall ist.
134 Ebenso wenig kann das Vorbringen der Klägerinnen Erfolg haben, wonach sich der Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung daraus ergebe, dass der Vergleichsbeschluss und der angefochtene Beschluss auf der Grundlage derselben Beanstandungen erlassen worden seien, die in der sowohl an die Vergleichsparteien als auch an die Klägerinnen gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte erhoben worden seien.
135 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Kommission zwar in der Mitteilung der Beschwerdepunkte, die sowohl an Scania als auch an die letztlich am Vergleichsverfahren beteiligten Parteien geschickt wurde, Schlussfolgerungen betreffend die Rolle und die Verantwortlichkeit von Scania für die in Rede stehende Zuwiderhandlung getroffen hat, dass jedoch entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen der Vergleichsbeschluss nicht unmittelbar auf diese Mitteilung der Beschwerdepunkte gestützt ist, sondern auf die gemeinsame Auslegung der Beschwerdepunkte durch die Vergleichsparteien und die Kommission nach den Vergleichsgesprächen gemäß Art. 10a Abs. 2 der Verordnung Nr. 773/2004 und Ziff. 16 und 17 der Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Art. 7 und Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 in Kartellfällen, wie die Kommission im 367. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgehoben hat.
136 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen durch nichts daran gehindert waren, in dem Verfahren, in dem der angefochtene Beschluss erlassen wurde, unter Wahrung ihrer Verteidigungsrechte die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte gegen sie gerichteten Beschwerdepunkte zu widerlegen.
137 Die Gewährung des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Kommission, den Beteiligten vor Erlass einer Bußgeldentscheidung Gelegenheit zu geben, sich zu den ihnen gegenüber in Betracht gezogenen Beschwerdepunkten gebührend zu äußern, insbesondere zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der behaupteten Tatsachen und Umstände sowie zu den von der Kommission für ihre Behauptung einer Zuwiderhandlung von Art. 101 AEUV herangezogenen Unterlagen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche/Kommission, 85/76, EU:C:1979:36, Rn. 9 und 11).
138 In einem Verfahren wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln stellt die Mitteilung der Beschwerdepunkte in dieser Hinsicht die wesentliche Verfahrensgarantie dar (vgl. Urteil vom 5. März 2015, Kommission u. a./Versalis u. a., C‑93/13 P und C‑123/13 P, EU:C:2015:150, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).
139 Daraus folgt, dass die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen, die Kommission habe gegen die Vermutung der Unschuld von Scania verstoßen, weil der angefochtene Beschluss und der Vergleichsbeschluss auf demselben Sachverhalt und denselben Beweisen sowie auf denselben Beanstandungen beruhten, die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte sowohl in Bezug auf die Vergleichsparteien als auch in Bezug auf Scania vorgebracht worden seien, außer Acht lassen, dass sie bei der Ausübung ihres Anspruchs auf Anhörung im Rahmen des ordentlichen Verwaltungsverfahrens berechtigt sind, alle Beweise zur Bestreitung der Tatsachen und Beweise vorzulegen, auf die sich die Kommission stützen möchte und die gegebenenfalls von dieser bei Erlass des Vergleichsbeschlusses berücksichtigt worden waren, und dass die Kommission verpflichtet ist, die Akte im Lichte dieser neuen Beweise erneut zu prüfen.
140 Im vorliegenden Fall bestreiten die Klägerinnen nicht, dass sie die Möglichkeit hatten, ihre Verteidigungsrechte im ordentlichen Verwaltungsverfahren vor Erlass des angefochtenen Beschlusses sowohl schriftlich als auch mündlich wirksam auszuüben und damit die Tatsachen und Beweise zu bestreiten, die die Kommission zur Stützung der gegen sie erhobenen Beschwerdepunkte angeführt hat. Wie insbesondere aus dem 379. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht und von den Klägerinnen nicht bestritten wird, hatten die Klägerinnen vor allem die Möglichkeit, zu den Beweisen Stellung zu nehmen, auf die sich die Kommission gestützt hat, insbesondere auf die, die nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte in die Ermittlungsakte aufgenommen wurden, wie Auszüge aus den Erwiderungen einiger Vergleichsparteien auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte oder zusätzliches Tatsachenmaterial, das die Kommission im Laufe des ordentlichen Verwaltungsverfahrens ermittelt hatte und das ihre vorläufigen Schlussfolgerungen in der Mitteilung der Beschwerdepunkte untermauerte, von denen Scania mit Tatbestandsschreiben vom 7. April 2017 in Kenntnis gesetzt wurde.
141 Die Klägerinnen sind jedoch der Ansicht, dass die von ihnen vorgebrachten Argumente und Beweise ins Leere gelaufen seien, da die Kommission bereits eine rechtliche Qualifizierung des Verhaltens, an dem Scania beteiligt gewesen sein soll, als Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV vorgenommen habe.
142 Sie machen im Wesentlichen geltend, dass die Kommission, da sie den Sachverhalt im Vergleichsbeschluss als Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV eingestuft habe, nicht mehr in der Lage gewesen sei, diese Beurteilung rückgängig zu machen und die von Scania vorgelegten Beweise und Argumente objektiv zu bewerten oder andere Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen, die diese im Vergleichsbeschluss vorgenommenen Beurteilungen hätten in Frage stellen oder abschwächen können. Somit habe der Vergleichsbeschluss die Untersuchungsstrategie der Kommission und letztlich auch den Inhalt der Beweise, auf die die Kommission den angefochtenen Beschluss gestützt habe, beeinflusst. Insoweit berufen sich die Klägerinnen auf bestimmte Umstände betreffend den Ablauf des Verfahrens, in dem der angefochtene Beschluss erlassen worden sei, aus denen sich die mangelnde Unparteilichkeit der Kommission ergebe.
143 So machen sie im Rahmen einer zweiten Rüge des ersten Klagegrundes geltend, die Kommission habe unter Verstoß gegen Art. 41 Abs. 1 der Charta ihre Pflicht zur Durchführung einer unparteiischen Untersuchung verletzt.
144 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission nach ständiger Rechtsprechung verpflichtet ist, in einem Verwaltungsverfahren in Kartellsachen den in Art. 41 der Charta der Grundrechte verankerten Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 154 und die dort angeführte Rechtsprechung).
145 Nach Art. 41 der Charta hat jede Person u. a. ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen der Union unparteiisch behandelt werden. Dieses Unparteilichkeitsgebot umfasst zum einen die subjektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass kein mit der Sache betrautes Mitglied des betroffenen Organs Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile zum Ausdruck bringen darf, und zum anderen die objektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass das Organ hinreichende Garantien bieten muss, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen (Urteil vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 155 und die dort angeführte Rechtsprechung).
146 Zu den Garantien, die das Unionsrecht für Verwaltungsverfahren vorsieht, die den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung umfassen, gehört die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen (vgl. Urteil vom 27. September 2012, Shell Petroleum u. a./Kommission, T‑343/06, EU:T:2012:478, Rn. 170 und die dort angeführte Rechtsprechung).
147 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit entgegen dem Vorbringen der Kommission unter ähnlichen Umständen wie im vorliegenden Fall nicht nur als mögliche Folge eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung bei Erlass des Vergleichsbeschlusses zu beurteilen ist, sondern sich auch aus anderen Versäumnissen der Kommission ergeben kann, hinreichende Garantien zu bieten, um jeden berechtigten Zweifel im Sinne der oben in Rn. 145 genannten Rechtsprechung an ihrer Unparteilichkeit bei der Durchführung des ordentlichen Verfahrens auszuschließen.
148 Keines der von den Klägerinnen vorgebrachten Argumente erlaubt jedoch die Feststellung, dass die Kommission im vorliegenden Fall nicht alle Garantien geboten hätte, um jeden berechtigten Zweifel an ihrer Unparteilichkeit bei der Prüfung der Sache in Bezug auf Scania und insbesondere bei der Prüfung der Argumente und Beweise auszuschließen, die Scania im Rahmen der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte im ordentlichen Verwaltungsverfahren vorlegen konnte.
149 Erstens ist hervorzuheben, dass die Kommission, wenn sie im Rahmen des ordentlichen Verfahrens die Beweise prüft, die von den Parteien vorgelegt wurden, die sich entschlossen haben, nicht am Vergleichsverfahren teilzunehmen, in keiner Weise an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Bewertungen gebunden ist, die sie im Vergleichsbeschluss gegenüber den Parteien getroffen hat, die sich für einen Vergleich entschieden haben. Somit kann die Kommission in Anwendung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung und ihrer Pflicht zur Unparteilichkeit zu anderen Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Qualifizierungen kommen als im Vergleichsbeschluss, wenn ihre erneute Prüfung der ihr zur Verfügung stehenden Beweise nach dem „Tabula rasa“-Grundsatz dies rechtfertigt.
150 Zweitens kann das Vorbringen der Klägerinnen keinen Erfolg haben, der Zweifel an der Unparteilichkeit der Kommission ergebe sich daraus, dass das für Wettbewerbsfragen zuständige Kommissionsmitglied anlässlich einer Pressekonferenz den Erlass des Vergleichsbeschlusses angekündigt habe, so dass die Kommission im Rahmen des angefochtenen Beschlusses von ihren Schlussfolgerungen in diesem Beschluss nicht mehr habe abweichen können. In der fraglichen Pressemitteilung wird nämlich ebenso wie im vierten Erwägungsgrund des Vergleichsbeschlusses (vgl. Rn. 117 oben) eindeutig darauf hingewiesen, dass das oben genannte Kommissionsmitglied keine Schlussfolgerung in Bezug auf die Verantwortlichkeit von Scania ziehe, gegen die das ordentliche Verfahren noch anhängig sei. Das für Wettbewerbsfragen zuständige Kommissionsmitglied hat sich damit in dieser Mitteilung darauf beschränkt, die Öffentlichkeit mit der zur Wahrung der Unschuldsvermutung gebotenen Diskretion und Zurückhaltung, was die Verantwortlichkeit von Scania für die in Rede stehende Zuwiderhandlung betrifft, über den Erlass des Vergleichsbeschlusses zu unterrichten, und hat daher seine Pflicht zur Unparteilichkeit nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2018, Servier u. a./Kommission, T‑691/14, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2018:922, Rn. 132 und 134).
151 Drittens legen die Klägerinnen nicht dar, inwiefern der Umstand, dass dieselben Dienststellen der Kommission, insbesondere die der Generaldirektion „Wettbewerb“, am Erlass sowohl des Vergleichsbeschlusses als auch des angefochtenen Beschlusses beteiligt waren, für sich genommen als Beweis geeignet sein soll, dass keine unparteiische Prüfung der Sache in Bezug auf sie stattgefunden hat. Die Beteiligung derselben Dienststellen am Erlass von zwei Beschlüssen erschwert es zwar, zu gewährleisten, dass die Prüfung der ein Unternehmen betreffenden Tatsachen und Beweise nach Erlass des Vergleichsbeschlusses nach dem von der Rechtsprechung aufgestellten „Tabula rasa“-Grundsatz erfolgt (vgl. Rn. 129 oben), was es rechtfertigen könnte, die Akten zwei verschiedenen Teams zuzuweisen, um die insoweit bestehenden Zweifel auszuräumen.
152 Im vorliegenden Fall legen die Klägerinnen jedoch nicht dar, dass ein am Erlass des angefochtenen Beschlusses beteiligtes Mitglied der Kommission oder eine daran beteiligte Dienststelle unter Verstoß gegen den Grundsatz der subjektiven Unparteilichkeit und insbesondere aufgrund einer Beteiligung am Erlass des Vergleichsbeschlusses eine persönliche Voreingenommenheit oder ein Vorurteil gegenüber Scania geäußert hätte, was die unparteiische Prüfung der Tatsachen und Beweise in Bezug auf Scania beeinträchtigen könnte.
153 Was viertens das Vorbringen der Klägerinnen anlangt, wonach die Kommission nicht bereit gewesen sei, neue Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen, die sie möglicherweise dazu veranlasst hätten, ihren im Vergleichsbeschluss vertretenen Standpunkt in Frage zu stellen, so ist darauf hinzuweisen, dass im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt (vgl. Urteil vom 29. Februar 2016, Schenker/Kommission, T‑265/12, EU:T:2016:111, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
154 Ebenso ist mit der Kommission festzustellen, dass sie über ein Ermessen verfügt, wenn es um die Frage geht, ob Ermittlungsmaßnahmen angemessen sind. Entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen kann daher aus dem Vorliegen eines solchen Ermessens hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung der Untersuchung nicht abstrakt eine Parteilichkeit der Kommission gegenüber den Klägerinnen abgeleitet werden. Dass andere Ermittlungsmaßnahmen nicht erlassen wurden, erklärt sich vielmehr vor allem dadurch, dass die Kommission ihr Ermessen in Bezug auf die Angemessenheit des Erlasses solcher Maßnahmen ausgeübt hat. Es war daher Sache der Klägerinnen, Argumente vorzubringen, mit denen konkret dargelegt werden konnte, dass das Unterbleiben zusätzlicher Ermittlungsmaßnahmen nur durch die Parteilichkeit der Kommission und nicht durch ihre rechtmäßige Ausübung ihres Ermessens bei der Durchführung der Untersuchung zu erklären war.
155 Die Klägerinnen machen insoweit geltend, die Kommission habe sich bei ihrer Beurteilung der Art und des (zeitlichen und geografischen) Umfangs des behaupteten Verhaltens insbesondere in den Erwägungsgründen 144 und 339 des angefochtenen Beschlusses auf eine Würdigung des Sachverhalts gestützt, die Scania ablehne und substantiiert zurückweise. In der Akte deute nichts darauf hin, dass die Kommission die Untersuchung fortgesetzt habe, um die Schlussfolgerungen von Scania zu überprüfen, beispielsweise durch Übermittlung eines Auskunftsverlangens an Scania mit der Aufforderung, schriftliche Beweise für ihre Erklärungen oder Einwände vorzulegen, oder durch ein an andere Parteien gerichtetes Auskunftsverlangen. Die Kommission habe somit eine „von Eigeninteressen geleitete Unterlassung“ begangen.
156 Dieses Vorbringen der Klägerinnen zeigt jedoch höchstens, dass die Kommission den von Scania vorgeschlagenen Schlussfolgerungen oder Auslegungen des Sachverhalts nicht gefolgt ist, insbesondere, indem sie die Ansicht vertreten hat, dass sie unglaubhaft seien (vgl. insbesondere 301. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), und fällt mit der Frage zusammen, ob die im angefochtenen Beschluss getroffenen Tatsachenfeststellungen durch die von der Kommission vorgelegten Beweise gebührend untermauert sind und ob sie bei ihrer Analyse Rechtsfehler begangen hat, was zur Prüfung der Stichhaltigkeit dieser Analyse gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2018, Servier u. a./Kommission, T‑691/14, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2018:922, Rn. 137 und die dort angeführte Rechtsprechung). Solche Behauptungen sind nicht für den Nachweis geeignet, dass sich die Kommission als parteiisch erwiesen hat, als sie in Ausübung ihres Ermessens beschlossen hat, die Untersuchung nicht fortzusetzen und insbesondere die Klägerinnen nicht um die Vorlage zusätzlicher Beweise zur Stützung ihres Vorbringens zu ersuchen.
157 Fünftens machen die Klägerinnen geltend, die Kommission habe nicht unabhängig gehandelt, da sie hinsichtlich der mutmaßlichen Kartelle die Behörde sei, die zugleich mit der Untersuchung, der Verfolgung und der Entscheidungsfindung betraut sei.
158 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Kumulierung der Funktionen der Ermittlung und der Sanktion von Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV durch die Kommission für sich genommen nicht gegen Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR verstößt und keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit darstellt, da ihre Entscheidungen der Kontrolle durch den Unionsrichter unterworfen sind, der die Garantien des Art. 6 EMRK wahrt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 33 bis 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 27. Juni 2012, Bolloré/Kommission, T‑372/10, EU:T:2012:325, Rn. 65 bis 67).
159 Was die Rüge einer Verletzung der Verteidigungsrechte anlangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen der Kommission nicht vorwerfen, sie habe im Verwaltungsverfahren, in dem der angefochtene Beschluss erlassen worden sei, nicht alle Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit der wirksamen Ausübung ihrer Verteidigungsrechte, wie sie insbesondere in den allgemeinen Bestimmungen der Verordnung Nr. 773/2004 (vgl. Rn. 140 oben) vorgesehen seien, beachtet, sondern die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte nur hinsichtlich der Tatsache geltend machen, dass die Kommission im Vergleichsbeschluss eine rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts vorgenommen habe, die auf das Verhalten der Vergleichsparteien abstelle, jedoch notwendigerweise auch Scania betreffe, ohne dass diese die Möglichkeit gehabt hätte, ihre Verteidigungsrechte auszuüben.
160 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern, führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wiederholt bekräftigt worden ist und in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankert worden ist (vgl. Urteil vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a., C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieser Grundsatz muss auch in einem Verwaltungsverfahren ausnahmslos eingehalten werden (vgl. Urteile vom 9. Juli 2009, Archer Daniels Midland/Kommission, C‑511/06 P, EU:C:2009:433, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. März 2015, Kommission u. a./Versalis u. a., C‑93/13 P und C‑123/13 P, EU:C:2015:150, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).
161 Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens ist Bestandteil der Verteidigungsrechte. Er gilt für jedes Verfahren, das zu einer Entscheidung eines Unionsorgans führen kann, durch die die Interessen eines Dritten spürbar beeinträchtigt werden (vgl. Urteil vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
162 Soweit die Klägerinnen geltend machen, der Vergleichsbeschluss sei erlassen worden, ohne dass sie hätten Stellung nehmen können, ist darauf hinzuweisen, dass der Vergleichsbeschluss, wie sich aus der Prüfung der Rüge eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung ergibt, die Interessen der Klägerinnen nicht im Sinne der oben in Rn. 161 angeführten Rechtsprechung spürbar beeinträchtigt hat, da die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen im Vergleichsbeschluss keine rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts gegenüber Scania vorgenommen hat und deren Verantwortlichkeit für die in Rede stehende Zuwiderhandlung keineswegs vorweg festgestellt hat. Folglich verletzt die Tatsache, dass Scania im Rahmen des Verfahrens, in dem der Vergleichsbeschluss erlassen wurde, nicht angehört wurde, ihre Verteidigungsrechte nicht.
163 Schließlich kann auch das Vorbringen der Klägerinnen keinen Erfolg haben, zwischen dem Vergleichsbeschluss und dem angefochtenen Beschluss bestehe ein „offensichtlicher Zusammenhang“, weil die Kommission die Vergleichsparteien im Rahmen der Erstellung der nicht vertraulichen Fassung des angefochtenen Beschlusses im Hinblick auf seine Veröffentlichung konsultiert habe. Zum einen erklären die Klägerinnen nicht, wie ein solcher „offensichtlicher Zusammenhang“ ihre im Rahmen des ersten Klagegrundes vorgetragenen Behauptungen stützen soll. Zum anderen hat die Kommission, wie sie geltend macht, jedenfalls mit ihrer Vorgehensweise der sich aus dem Urteil vom 12. Oktober 2007, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse/Kommission (T‑474/04, EU:T:2007:306), ergebenden Rechtsprechung Wirksamkeit verliehen, indem sie den Vergleichsparteien die Möglichkeit gegeben hat, die vertrauliche Behandlung bestimmter sie betreffender Angaben geltend zu machen, da sie zwar nicht Adressaten des angefochtenen Beschlusses waren, aber darin gleichwohl erwähnt wurden.
164 Ebenso wenig können die Klägerinnen mit Erfolg geltend machen, dass ein bloßer technischer Fehler, durch den auf der Website der Kommission in der den angefochtenen Beschluss betreffenden Rubrik ein Link zum Vergleichsbeschluss hergestellt worden sei, die Annahme zulasse, dass zwischen den beiden Beschlüssen ein Zusammenhang bestehe, so dass auf die Haftung von Scania nach Art. 101 AEUV geschlossen werden könne.
165 Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
2. Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 48 Abs. 2 der Charta und gegen Art. 27 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003
166 Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend, die Kommission habe unter Verstoß gegen Art. 48 Abs. 2 der Charta und gegen Art. 27 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ihre Verteidigungsrechte dadurch verletzt, dass sie ihnen die Einsicht in sämtliche Erwiderungen von [vertraulich] und von [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte verweigert habe, obwohl es wahrscheinlich sei, dass darin Beweise enthalten seien, die andere Parteien, darunter Scania, entlasteten und die nicht in den Auszügen dieser Erwiderungen aufschienen, zu denen der Anhörungsbeauftragte Scania Zugang gewährt habe.
167 Nach Ansicht der Klägerinnen haben [vertraulich] und [vertraulich] ihre Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte dazu verwendet, um die sie betreffenden Behauptungen der Kommission zu bestreiten, wie die Auszüge zeigten, die Scania habe prüfen dürfen. Die Klägerinnen sind der Ansicht, die Tatsache, dass die Kommission ihre Meinung zur Frage, ob die Erwiderungen von [vertraulich] und [vertraulich] belastend oder entlastend seien, teilweise geändert habe, lasse Zweifel an der Begründetheit der Verweigerung der vollständigen Einsicht in diese Erwiderungen aufkommen.
168 Unter Berufung auf die Rechtsprechung weist die Kommission das Vorbringen der Klägerinnen zurück, da sie nicht darlegten, dass durch die Weigerung, Scania Einsicht in sämtliche Erwiderungen von [vertraulich] und [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zu gewähren, die nicht Teil der eigentlichen Ermittlungsakte seien, die wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte und insbesondere ihres Rechts auf Einsichtnahme in Dokumente, die sie entlastende Beweise enthalten könnten, beeinträchtigt worden sei.
169 Wie aus der oben in Rn. 160 angeführten Rechtsprechung hervorgeht, stellt die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern, führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts dar, der in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankert worden ist. Dieser Grundsatz muss auch in einem Verwaltungsverfahren ausnahmslos eingehalten werden.
170 Nach Art. 27 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 müssen „[d]ie Verteidigungsrechte der Parteien … während des Verfahrens in vollem Umfang gewahrt werden“ und haben „[d]ie Parteien … Recht auf Einsicht in die Akten der Kommission, vorbehaltlich des berechtigten Interesses von Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse“.
171 Es ist darauf hinzuweisen, dass es die Wahrung der Verteidigungsrechte nach ständiger Rechtsprechung erfordert, dem Betroffenen im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen und Umstände sowie zu den Schriftstücken, auf die sie den Vorwurf einer Zuwiderhandlung gegen den Vertrag stützt, sachgerecht Stellung zu nehmen (Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
172 Als Ausfluss des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte bedeutet das Recht auf Akteneinsicht, dass die Kommission dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit geben muss, alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte zu prüfen, die möglicherweise für seine Verteidigung erheblich sind. Zu ihnen gehören sowohl belastende als auch entlastende Schriftstücke mit Ausnahme von Geschäftsgeheimnissen anderer Unternehmen, internen Schriftstücken der Kommission und anderen vertraulichen Informationen (Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 68).
173 Insoweit ist daran zu erinnern, dass das betroffene Unternehmen erst zu Beginn des kontradiktorischen Abschnitts des Verwaltungsverfahrens durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte über alle wesentlichen Gesichtspunkte informiert wird, auf die sich die Kommission in diesem Verfahrensstadium stützt, und zur Sicherstellung der wirksamen Ausübung seiner Verteidigungsrechte über ein Recht auf Zugang zu den Akten verfügt. Folglich gehört die Antwort anderer am Kartell beteiligter Unternehmen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte grundsätzlich nicht zu den Unterlagen der Ermittlungsakte, die die Beteiligten einsehen können (Urteile vom 14. Mai 2020, NKT Verwaltung und NKT/Kommission, C‑607/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:385, Rn. 263, und vom 30. September 2009, Hoechst/Kommission, T‑161/05, EU:T:2009:366, Rn. 163).
174 Wenn sich allerdings die Kommission auf eine Passage in einer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte oder auf eine Anlage zu einer solchen Antwort stützen will, um in einem Verfahren zur Anwendung von Art. 101 AEUV das Bestehen einer Zuwiderhandlung nachzuweisen, müssen die anderen Beteiligten dieses Verfahrens in die Lage versetzt werden, sich zu einem solchen Beweis zu äußern. Unter solchen Umständen stellt nämlich die fragliche Passage in einer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte oder die Anlage zu dieser Antwort Material dar, das die verschiedenen an der Zuwiderhandlung angeblich beteiligten Unternehmen belastet (Urteil vom 14. Mai 2020, NKT Verwaltung und NKT/Kommission, C‑607/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:385, Rn. 264; vgl. auch Urteil vom 30. September 2009, Hoechst/Kommission, T‑161/05, EU:T:2009:366, Rn. 164 und die dort angeführte Rechtsprechung).
175 Entsprechend stellt eine Passage in einer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte oder eine Anlage zu dieser Antwort, wenn sie für die Verteidigung eines Unternehmens von Bedeutung sein kann, da sie es diesem Unternehmen ermöglicht, sich auf Beweisstücke zu berufen, die nicht im Einklang mit den Ergebnissen der Kommission in diesem Verfahrensstadium stehen, einen entlastenden Beweis dar. In diesem Fall muss dem betroffenen Unternehmen Gelegenheit gegeben werden, die fragliche Passage oder das fragliche Dokument zu prüfen und sich zu ihm zu äußern (Urteil vom 12. Juli 2011, Mitsubishi Electric/Kommission, T‑133/07, EU:T:2011:345, Rn. 43).
176 Jedoch wird bloß aufgrund der Tatsache, dass sich andere Unternehmen auf dasselbe Vorbringen wie das betroffene Unternehmen gestützt haben und gegebenenfalls ihre Verteidigung aufwendiger gestalteten, dieses Vorbringen noch nicht zu Entlastungsmaterial (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2006, Jungbunzlauer/Kommission, T‑43/02, EU:T:2006:270, Rn. 353 und 355).
177 Was die Folgen anbelangt, wenn bei der Gewährung der Akteneinsicht gegen diese Regeln verstoßen wird, so muss das betroffene Unternehmen, wenn ein entlastendes Schriftstück nicht übermittelt wurde, nachweisen, dass das Unterbleiben seiner Offenlegung den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung der Kommission zu seinen Ungunsten beeinflussen konnte. Es genügt, dass das Unternehmen dartut, dass es das fragliche entlastende Schriftstück zu seiner Verteidigung hätte einsetzen können, und zwar in dem Sinne, dass das Unternehmen, wenn es sich im Verwaltungsverfahren auf diese Schriftstücke hätte berufen können, Gesichtspunkte hätte geltend machen können, die nicht mit den in diesem Stadium von der Kommission gezogenen Schlüssen übereinstimmten und daher, in welcher Weise auch immer, die von der Kommission in der Entscheidung vorgenommenen Beurteilungen zumindest in Bezug auf Schwere und Dauer des dem Unternehmen zur Last gelegten Verhaltens und damit die Höhe der Geldbuße hätten beeinflussen können (Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 74 und 75).
178 Die Möglichkeit, dass ein nicht übermitteltes Schriftstück Einfluss auf den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung der Kommission hätte haben können, kann nur nach einer vorläufigen Prüfung bestimmter Beweismittel nachgewiesen werden, die zeigt, dass die nicht übermittelten Schriftstücke eine Bedeutung – für diese Beweismittel – hätten haben können, die nicht hätte unberücksichtigt bleiben dürfen (Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 76).
179 Es liegt jedoch bei der klagenden Partei, einen ersten Hinweis auf den Nutzen der nicht übermittelten Dokumente für ihre Verteidigung zu liefern (vgl. Urteil vom 14. März 2013, Fresh Del Monte Produce/Kommission, T‑587/08, EU:T:2013:129, Rn. 690 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, NKT Verwaltung und NKT/Kommission, C‑607/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:385, Rn. 265 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere muss sie die etwaigen entlastenden Beweise benennen oder einen Hinweis liefern, der ihr Vorliegen und somit ihren Nutzen für das Verfahren glaubhaft macht (vgl. Urteil vom 16. Juni 2011, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, T‑240/07, EU:T:2011:284, Rn. 257 und die dort angeführte Rechtsprechung).
180 Anhand dieser Grundsätze ist zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Weigerung der Kommission, Einsicht in sämtliche Erwiderungen von [vertraulich] und [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zu gewähren, die Verteidigungsrechte der Klägerinnen beeinträchtigen konnte, da sie, wie sie behaupten, keine angemessene Einsicht in möglicherweise entlastendes Beweismaterial hatten.
181 Insoweit ist mit der Kommission darauf hinzuweisen, dass die Einsicht in eine Kartellakte der Kommission je nach dem Zeitpunkt, zu dem ein Dokument der Ermittlungsakte hinzugefügt wurde, unterschiedlich zu handhaben ist, was auch aus Ziff. 27 der Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Art. [101] und [102 AEUV], Art. 53, 54 und 57 des EWR-Abkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 (ABl. 2005, C 325, S. 7). Während die betroffenen Parteien, um ihr Verteidigungsrecht wirksam auszuüben, das Recht auf Einsicht in die Ermittlungsakte, wie sie zum Zeitpunkt der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte besteht, haben, und zwar, um zu den von der Kommission in diesem Stadium vorgebrachten Beschwerdepunkten sinnvoll Stellung nehmen zu können, ist die Einsicht in anschließend hinzugefügtes Aktenmaterial, insbesondere in die Erwiderungen der übrigen Kartellteilnehmer auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte, weder automatisch noch unbegrenzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, NKT Verwaltung und NKT/Kommission, C‑607/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:385, Rn. 265).
182 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Anhörungsbeauftragte den Klägerinnen Einsicht in bestimmte Passagen der von [vertraulich] und [vertraulich] vorgelegten Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte gewährt hat, wobei er die Ansicht vertreten hat, dass sie entlastendes Material über Scania enthalten könnten, da sie von einem Kronzeugen und einem Unternehmen stammten, an das die Kommission ein Auskunftsverlangen gerichtet habe, so dass sie Änderungen oder Widerrufe der Erklärungen enthalten könnten, auf die sich die Kommission gestützt habe.
183 Die Klägerinnen machen jedoch geltend, es sei „wahrscheinlich“, dass die von [vertraulich] und [vertraulich] vorgelegten Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte auch anderes entlastendes Material enthielten, auf das sie sich im Rahmen der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte mit Erfolg hätten berufen können.
184 Es ist jedoch festzustellen, dass die Klägerinnen, wie die Kommission im Wesentlichen geltend macht, sehr vage bleiben, was die Identifizierung von etwaigen entlastenden Beweisen anlangt, die in den Erwiderungen von [vertraulich] und [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte enthalten seien und ihnen nach dem Beschluss des Anhörungsbeauftragten nicht zugänglich gemacht worden seien, und dass sie daher keinen Hinweis liefern, der ihr Vorliegen und somit ihren Nutzen für ihre Verteidigung im Sinne der oben in Rn. 179 angeführten Rechtsprechung glaubhaft macht.
185 Die Klägerinnen legen keineswegs dar, welche Beurteilungen der Kommission im angefochtenen Beschluss hätten beeinflusst werden können, wenn ihnen vollständige Einsicht in die Erwiderungen von [vertraulich] und [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte gewährt worden wäre. Insbesondere nennen sie keine Schlussfolgerung in Bezug auf das rechtswidrige Verhalten von Scania, die die Kommission konkret auf einen Beweis gestützt hätte, der unter die Kronzeugenregelung des [vertraulich] oder die Antwort von [vertraulich] auf das Auskunftsersuchen fiel und gegebenenfalls von diesen Beteiligten in ihren Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte hätte geändert oder widerrufen werden können.
186 Die Klägerinnen stützen sich insoweit auf die besonderen verfahrensrechtlichen Umstände des vorliegenden Falles und konkret auf die Tatsache, dass [vertraulich] und [vertraulich], zwei Vergleichsparteien, der Kommission ihre Erwiderungen auf die Beschwerdepunkte zu dem Zeitpunkt übermittelt hätten, zu dem die Vergleichsgespräche gelaufen seien, nur einige Wochen, bevor sie „vermutlich“ ihre Vergleichsausführungen eingereicht hätten, und vor Erlass des Vergleichsbeschlusses. Daraus leiten die Klägerinnen ab, dass diese Erwiderungen notwendigerweise Einwände gegen die sie betreffenden Behauptungen der Kommission enthalten müssten, was sich auch aus den Auszügen der in Rede stehenden Erwiderungen ergebe, zu denen Scania Zugang gewährt worden sei.
187 Ein solcher sachlicher und zeitlicher Hinweis darauf, dass die Vergleichsparteien im Laufe des Vergleichsverfahrens ihre Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte eingereicht haben, reicht jedoch für sich genommen nicht aus, um nachzuweisen, dass diese Erwiderungen neue Beweise enthalten, die Scania entlasten.
188 Die Klägerinnen bestreiten nicht, dass die Auszüge aus den in Rede stehenden Erwiderungen, zu denen ihnen der Anhörungsbeauftragte Zugang gewährte, für die Verteidigung nützliche Beweise enthielten und versuchen nicht einmal, aus diesen Auszügen Hinweise darauf abzuleiten, dass die nicht offengelegten Teile dieser Erwiderungen in der Schlussfolgerung weitere für ihre Verteidigung nützliche Beweise enthalten könnten. Das Vorbringen der Klägerinnen hierzu ist nur allgemein und abstrakt.
189 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Klägerinnen keinen Hinweis geliefert haben, dass die nicht offengelegten Teile der Erwiderungen von [vertraulich] und [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte für ihre Vereidigung sachdienlich waren. Folglich haben sie nicht nachgewiesen, dass die Kommission dadurch, dass sie ihnen nicht die vollständigen Fassungen der in Rede stehenden Erwiderungen übermittelt hat, ihre Verteidigungsrechte verletzt hat.
190 Unter diesen Umständen ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass die von den Klägerinnen beantragte prozessleitende Maßnahme zu erlassen ist, mit der die Kommission aufgefordert werden soll, die vollständigen Fassungen der in Rede stehenden Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte vorzulegen.
3. Dritter, vierter, fünfter, sechster und siebter Klagegrund, soweit sie die Schlussfolgerung der Kommission zum Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung und ihre Zurechnung an Scania betreffen
a)
Vorbemerkungen
1) Begriff der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung
191 Nach ständiger Rechtsprechung kann sich ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV nicht nur aus einer isolierten Handlung, sondern auch aus einer Reihe von Handlungen oder einem fortgesetzten Verhalten ergeben, selbst wenn ein oder mehrere Teile dieser Reihe von Handlungen oder dieses fortgesetzten Verhaltens auch für sich genommen und isoliert betrachtet einen Verstoß gegen die genannte Vorschrift darstellen könnten. Fügen sich die verschiedenen Handlungen der betroffenen Unternehmen wegen ihres identischen Zwecks der Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes in einen „Gesamtplan“ ein, ist die Kommission somit berechtigt, die Verantwortung für diese Handlungen anhand der Beteiligung an der Zuwiderhandlung als Ganzes auferlegen (vgl. Urteil vom 6. Dezember 2012, Kommission/Verhuizingen Coppens, C‑441/11 P, EU:C:2012:778, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
192 Ein Unternehmen, das sich durch eigene Handlungen, die unter den Begriff von auf ein wettbewerbswidriges Ziel gerichteten Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV fielen und zur Verwirklichung der Zuwiderhandlung in ihrer Gesamtheit beitragen sollten, an einer solchen einheitlichen und komplexen Zuwiderhandlung beteiligt hat, kann somit für die gesamte Zeit seiner Beteiligung an der Zuwiderhandlung auch für das Verhalten verantwortlich sein, das andere Unternehmen im Rahmen der Zuwiderhandlung an den Tag legten. Dies ist dann der Fall, wenn das Unternehmen nachweislich durch sein eigenes Verhalten zur Erreichung der von allen Beteiligten verfolgten gemeinsamen Ziele beitragen wollte und von dem von anderen Unternehmen in Verfolgung dieser gleichen Ziele beabsichtigten oder an den Tag gelegten rechtswidrigen Verhalten wusste oder es vernünftigerweise vorhersehen konnte und bereit war, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen (vgl. Urteil vom 6. Dezember 2012, Kommission/Verhuizingen Coppens, C‑441/11 P, EU:C:2012:778, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
193 Es ist somit möglich, dass sich ein Unternehmen an dem gesamten wettbewerbswidrigen Verhalten, das die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung bildet, unmittelbar beteiligt hat; dann ist die Kommission berechtigt, es für dieses gesamte Verhalten und damit für die Zuwiderhandlung in ihrer Gesamtheit zur Verantwortung zu ziehen Es ist auch möglich, dass sich ein Unternehmen nur an einem Teil des wettbewerbswidrigen Verhaltens, das die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung bildet, unmittelbar beteiligt hat, aber von dem gesamten übrigen rechtswidrigen Verhalten, das die anderen Kartellbeteiligten in Verfolgung der gleichen Ziele beabsichtigten oder an den Tag legten, wusste oder es vernünftigerweise vorhersehen konnte und bereit war, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen. In einem solchen Fall ist die Kommission ebenfalls berechtigt, dieses Unternehmen für das gesamte wettbewerbswidrige Verhalten, das eine solche Zuwiderhandlung bildet, und damit für diese Zuwiderhandlung in ihrer Gesamtheit zur Verantwortung zu ziehen (Urteil vom 6. Dezember 2012, Kommission/Verhuizingen Coppens, C‑441/11 P, EU:C:2012:778, Rn. 43).
194 Hat sich ein Unternehmen dagegen an einer oder mehreren wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen, die eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung bilden, unmittelbar beteiligt, ist aber nicht nachgewiesen, dass es durch sein eigenes Verhalten zur Erreichung sämtlicher von den anderen Kartellbeteiligten verfolgten gemeinsamen Ziele beitragen wollte und von dem gesamten übrigen rechtswidrigen Verhalten, das die genannten Kartellbeteiligten in Verfolgung dieser Ziele beabsichtigten oder an den Tag legten, wusste oder es vernünftigerweise vorhersehen konnte und bereit war, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen, so ist die Kommission lediglich berechtigt, dieses Unternehmen für die Verhaltensweisen, an denen es sich unmittelbar beteiligt hat, und die Verhaltensweisen zur Verantwortung zu ziehen, die die anderen Kartellbeteiligten in Verfolgung der gleichen wie der von ihm verfolgten Ziele beabsichtigten oder an den Tag legten und für die nachgewiesen ist, dass es von ihnen wusste oder sie vernünftigerweise vorhersehen konnte und bereit war, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen (Urteil vom 6. Dezember 2012, Kommission/Verhuizingen Coppens, C‑441/11 P, EU:C:2012:778, Rn. 44).
195 Schließlich hat der Gerichtshof klargestellt, dass bei der Qualifizierung verschiedener Vorgänge als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung nicht zu prüfen ist, ob sie insofern in einem Komplementaritätsverhältnis stehen, als jede von ihnen eine oder mehrere Folgen des normalen Wettbewerbs beseitigen soll und durch Interaktion zur Verwirklichung sämtlicher wettbewerbswidriger Wirkungen beiträgt, die ihre Urheber im Rahmen eines auf ein einheitliches Ziel gerichteten Gesamtplans anstreben. Die den Begriff des einheitlichen Ziels betreffende Voraussetzung bedeutet vielmehr, dass geprüft werden muss, ob nicht Gesichtspunkte, die die verschiedenen die Zuwiderhandlung ausmachenden Verhaltensweisen kennzeichnen, vorliegen, die darauf hindeuten könnten, dass die von anderen beteiligten Unternehmen vorgenommenen Handlungen nicht das gleiche Ziel oder die gleiche wettbewerbswidrige Wirkung haben und sich daher nicht wegen ihres identischen Zwecks der Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts in einen „Gesamtplan“ einfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Siemens u. a./Kommission, C‑239/11 P, C‑489/11 P und C‑498/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:866, Rn. 247 und 248).
196 Wie aus der oben in den Rn. 191 und 192 angeführten Rechtsprechung hervorgeht, sind drei Elemente entscheidend für die Feststellung der Beteiligung eines Unternehmens an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung. Das erste betrifft das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung selbst. Die verschiedenen in Rede stehenden Verhaltensweisen müssen Teil eines „Gesamtplans“ mit einem einheitlichen Ziel sein. Das zweite und das dritte Element betreffen die Zurechenbarkeit der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung an ein Unternehmen. Zum einen muss dieses Unternehmen die Absicht gehabt haben, durch sein eigenes Verhalten zur Erreichung der von allen Teilnehmern verfolgten gemeinsamen Ziele beizutragen. Zum anderen muss es von dem von anderen Unternehmen in Verfolgung dieser Ziele beabsichtigten oder an den Tag gelegten rechtswidrigen Verhalten gewusst haben oder musste es vernünftigerweise vorhersehen können und bereit sein, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen (Urteil vom 24. September 2019, HSBC Holdings u. a./Kommission, T‑105/17, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2019:675, Rn. 208; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 16. Juni 2011, Team Relocations u. a./Kommission, T‑204/08 und T‑212/08, EU:T:2011:286, Rn. 37).
2) Beweislast und Beweisanforderungen
197 Soweit die Einstufung als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung dazu führt, dass einem Unternehmen die Beteiligung an einem Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht zugerechnet wird, sei darauf hingewiesen, dass die Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts bei Streitigkeiten über das Vorliegen einer Zuwiderhandlung die von ihr festgestellten Zuwiderhandlungen zu beweisen und die Beweise beizubringen hat, die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend belegen (vgl. Urteil vom 22. November 2012, E.ON Energie/Kommission, C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
198 Der Nachweis des Vorliegens einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV setzt voraus, dass die Kommission ernsthafte, genaue und übereinstimmende Beweise beibringt. Nicht jeder der von der Kommission beigebrachten Beweise muss jedoch notwendigerweise diesem Kriterium in Bezug auf jedes Element der Zuwiderhandlung genügen. Es genügt, dass das Bündel der von diesem Organ angeführten Indizien bei einer Gesamtbetrachtung dieses Erfordernis erfüllt (vgl. Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, EU:C:2010:389, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
199 Im Übrigen haben die betroffenen Unternehmen, wenn sich die Kommission im Rahmen der Feststellung eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht auf Schriftstücke als Beweis stützt, nicht nur eine plausible Alternative zur Darstellung der Kommission darzutun, sondern sie müssen außerdem aufzeigen, dass die im angefochtenen Beschluss angeführten Beweise für den Nachweis der mutmaßlichen Zuwiderhandlung nicht genügen (vgl. Urteil vom 16. Juni 2015, FSL u. a./Kommission, T‑655/11, EU:T:2015:383, Rn. 181 und die dort angeführte Rechtsprechung).
200 Außerdem müssen dem Richter verbleibende Zweifel dem Unternehmen, an das die eine Zuwiderhandlung feststellende Entscheidung gerichtet ist, zugutekommen (Urteil vom 16. Februar 2017, Hansen & Rosenthal und H&R Wax Company Vertrieb/Kommission, C‑90/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:123, Rn. 18). Es ist darauf hinzuweisen, dass die Unschuldsvermutung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der nunmehr in Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte niedergelegt ist. Dieser Grundsatz findet auf Verfahren wegen Verletzung der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, Anwendung (vgl. Rn. 108 oben).
3) Angefochtener Beschluss
201 Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission die Auffassung vertreten, dass Scania und die Vergleichsparteien einen gemeinsamen Plan mit dem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel, den Wettbewerb auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR zu beschränken, verfolgt hätten. Dieses Ziel sei durch Praktiken zur Verringerung der strategischen Ungewissheit zwischen den Parteien in Bezug auf die künftigen Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw erreicht worden (317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission hat ausgeführt, dass der Austausch zwischen den Parteien
–
geplante Änderungen der Bruttopreise und der Bruttopreislisten sowie gelegentlich geplante Änderungen der Nettopreise oder Änderungen der Kundenrabatte sowie des Zeitplans dieser Änderungen betroffen habe;
–
den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, betroffen habe;
–
ein Mittel zum Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen, wie Informationen über Lieferfristen, Bestellungen, Lagerbestände, Zielmarktanteile, aktuelle Nettopreise und Rabatte und Bruttopreislisten (auch vor ihrem Inkrafttreten) und über Lkw-Konfiguratoren dargestellt habe.
202 Nach Ansicht der Kommission war das oben beschriebene Verhalten aus den fünf unten in den Rn. 452 bis 462 im Einzelnen dargelegten Gründen Teil eines gemeinsamen Plans mit einem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel. Zu diesen Gründen gehörte insbesondere die Tatsache, dass die wettbewerbswidrigen Kontakte die gleichen Waren, nämlich mittlere und schwere Lkw, und dieselbe Gruppe von Lkw-Herstellern betroffen hätten, die Tatsache, dass die Art der geteilten Informationen (Preisinformationen und Informationen über den Zeitplan für die Einführung von speziellen Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modellen) während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung gleich geblieben sei, die Tatsache, dass die wettbewerbswidrigen Kontakte häufig und systematisch stattgefunden hätten, und die Tatsache, dass die Art, der Umfang und das Ziel dieser Kontakte während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung trotz des Umstandes, dass sich die Ebene und die internen Verantwortlichkeiten der an den Kontakten beteiligten Mitarbeiter im Laufe der Zuwiderhandlung geändert hätten, gleich geblieben seien.
4) Zum Vorbringen der Klägerinnen, der Begriff der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung setze voraus, dass die Kommission mehrere offensichtlich miteinander in Verbindung stehende Zuwiderhandlungen feststelle
203 In der Erwiderung haben die Klägerinnen geltend gemacht, der Rückgriff auf den Begriff der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung setze voraus, dass die Kommission mehrere offensichtlich miteinander in Verbindung stehende Zuwiderhandlungen feststelle. Nach Ansicht der Klägerinnen kann eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung keine Verhaltensweisen umfassen, die für sich genommen keine Zuwiderhandlung darstellen.
204 Ausgehend von dieser Prämisse machen die Klägerinnen an erster Stelle geltend, die Kommission hätte die Beweise für jede Ebene der Kontakte separat prüfen müssen, um festzustellen, ob es auf jeder Ebene zu einer Zuwiderhandlung gekommen sei, und bejahendenfalls ihren Umfang und das damit verfolgte wettbewerbswidrige Ziel bestimmen müssen. An zweiter Stelle hätte die Kommission prüfen müssen, ob die betreffenden Zuwiderhandlungen deshalb als eine einheitliche Gesamtzuwiderhandlung anzusehen seien, weil sie einen Gesamtplan verfolgten, der einem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel diene. Erst an dritter Stelle hätte die Kommission schließlich den zeitlichen und räumlichen Umfang der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung auf der Grundlage der Beweise in ihrer Gesamtheit prüfen müssen. Nach Ansicht der Klägerinnen hat die Kommission die beiden ersten Stufen außer Acht gelassen und die Feststellung einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung damit gerechtfertigt, dass sie den Kontakten auf unterer Ebene des Sitzes und den Kontakten auf deutscher Ebene die gleiche Qualität und Tragweite wie den Kontakten auf Führungsebene beigemessen habe. Dadurch habe die Kommission das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung festgestellt, wo es keine solche gebe.
205 Diese Argumentation der Klägerinnen, die vor der Prüfung des dritten, vierten, fünften, sechsten und siebten Klagegrundes zu prüfen ist, ist zurückzuweisen.
206 Die Prämisse, auf der diese Argumentation beruht, dass nämlich eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung Verhaltensweisen umfassen müsse, die isoliert betrachtet eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellten müssten, findet in der Rechtsprechung der Unionsgerichte keine Stütze. Wie bereits ausgeführt, kann sich nach der Rechtsprechung ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV aus einer Reihe von Handlungen oder einem fortgesetzten Verhalten ergeben, „selbst wenn ein oder mehrere Teile dieser Reihe von Handlungen oder dieses fortgesetzten Verhaltens auch für sich genommen und isoliert betrachtet einen Verstoß gegen die genannte Vorschrift darstellen könnten“ (siehe oben Rn. 191).
207 Fügen sich die verschiedenen Handlungen wegen ihres identischen Zweckes der Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes in einen „Gesamtplan“ ein, so ist die Kommission nach Auffassung des Gerichtshofs berechtigt, die Verantwortung für diese Handlungen anhand der Beteiligung an der Zuwiderhandlung als Ganzes aufzuerlegen (Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 258).
208 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass die Feststellung des Vorliegens einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung nicht notwendigerweise voraussetzt, dass die Kommission mehrere Zuwiderhandlungen feststellt, die alle unter Art. 101 AEUV fallen, sondern, dass sie nachweisen muss, dass die verschiedenen von ihr festgestellten Handlungen Teil eines Gesamtplans sind, mit dem ein einheitliches wettbewerbswidriges Ziel erreicht werden soll. Es ist daher von besonderer Bedeutung, dass die Kommission das Vorliegen eines solchen Plans und den Zusammenhang zwischen den oben genannten Handlungen und diesem Plan nachweist.
209 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass der Begriff der einheitlichen Zuwiderhandlung eine Situation erfasst, in der mehrere Unternehmen an einer Zuwiderhandlung beteiligt waren, die aus einem dauerhaften Verhalten bestand, mit dem ein einziges wirtschaftliches Ziel, nämlich die Verfälschung des Wettbewerbs, verfolgt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2019, Campine und Campine Recycling/Kommission, T‑240/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:778, Rn. 269 und die dort angeführte Rechtsprechung).
210 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss nicht die Handlungen innerhalb jeder der drei Kontaktebenen als Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens eingestuft hat. Sie hat jedoch die Ansicht vertreten, dass diese Handlungen zusammen genommen Teil eines Gesamtplans zur Verwirklichung des einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziels, den Wettbewerb auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR zu beschränken, gewesen seien. Die Kommission hat diese Schlussfolgerung im Einklang mit der oben in Rn. 195 angeführten Rechtsprechung auf die fünf Gesichtspunkte gestützt, die für die genannten und oben in Rn. 202 zusammengefassten Handlungen kennzeichnend sind. In Anbetracht der oben in Rn. 206 bis 208 dargelegten Analyse ist dieser Ansatz der Kommission mit keinem Fehler behaftet.
211 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Argumentation der Klägerinnen, soweit sie auf die unzutreffende Prämisse gestützt ist, dass der Rückgriff auf den Begriff der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung voraussetze, dass die Kommission mehrere Zuwiderhandlungen feststellen müsse, zurückzuweisen ist. Die nachfolgende Prüfung des dritten, vierten, fünften, sechsten und siebten Klagegrundes ermöglicht es dem Gericht, insbesondere die Begründetheit der Schlussfolgerung der Kommission zu überprüfen, dass die verschiedenen im angefochtenen Beschluss genannten Handlungen Teil eines Gesamtplans zur Verwirklichung eines einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziels seien, und somit eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung darstellten.
b)
Dritter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit der Informationsaustausch auf unterer Ebene des Sitzes als Zuwiderhandlung gegen diese Vorschriften angesehen worden sei
212 Im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes erheben die Klägerinnen zwei Rügen. Zum einen werfen sie der Kommission vor, davon ausgegangen zu sein, dass die drei Ebenen der kollusiven Kontakte miteinander in Verbindung gestanden hätten, insbesondere die untere Ebene des Unternehmenssitzes mit den beiden anderen Ebenen (erste Rüge). In diesem Zusammenhang tragen sie vor, zwischen diesen Ebenen, die getrennt voneinander gearbeitet hätten, habe weder ein Kontakt noch ein gemeinsames Treffen stattgefunden. Zum anderen werfen die Klägerinnen der Kommission vor, sie habe, insbesondere gestützt auf die angeblichen Verbindungen zwischen den drei oben genannten Ebenen, die Ansicht vertreten, dass die kollusiven Kontakte auf unterer Ebene des Sitzes eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens darstellten.
213 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
214 Bevor auf die beiden oben genannten Rügen eingegangen wird, ist auf die einschlägigen Passagen des angefochtenen Beschlusses hinzuweisen.
1) Angefochtener Beschluss
215 Im 213. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission in dem Teil über die Prüfung der Frage des Vorliegens von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen in Sinne von Art. 101 AEUV ausgeführt, dass die Kartellteilnehmer auf verschiedenen Ebenen miteinander in Kontakt gestanden hätten und dass die verschiedenen Ebenen manchmal gemeinsame Treffen gehabt hätten, so beispielsweise die Mitarbeiter der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und die Mitarbeiter auf deutscher Ebene. Die Kommission hat in dem oben genannten 213. Erwägungsgrund weiter ausgeführt, dass diese Kontakte durch ihren Inhalt, ihren Zeitplan, durch offene Bezugnahmen aufeinander und durch die Übermittlung der gesammelten Informationen miteinander verknüpft gewesen seien und insoweit Beispiele für die Übermittlung der auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen an die jeweiligen Unternehmenssitze der Kartellteilnehmer darstellten.
216 In den Erwägungsgründen 315 bis 317 des angefochtenen Beschlusses ist die Kommission zu dem Ergebnis gekommen, dass eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung vorliege, und hat festgestellt, dass sämtliche in Abschnitt 6.2 des angefochtenen Beschlusses in chronologischer Reihenfolge dargelegten kollusiven Kontakte (auf den drei Ebenen) einem gemeinsamen Plan mit dem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel der Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR dienten. Nach Ansicht der Kommission wurde dieses Ziel durch Praktiken zur Verringerung der strategischen Ungewissheit zwischen den Parteien in Bezug auf die künftigen Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw erreicht (317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
217 Um ihre Schlussfolgerung zu untermauern, dass die Verlagerung des Austauschs von der Führungsebene auf die deutsche Ebene die fortgesetzte Natur der Zuwiderhandlung nicht berührt habe, hat die Kommission in Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass es zwischen den auf den verschiedenen Ebenen abgehaltenen Treffen beträchtliche zeitliche Überschneidungen gegeben habe. Trotz der Unterbrechung der Kontakte auf Führungsebene im September 2004 seien die Kontakte auf den beiden anderen Ebenen fortgesetzt worden. Insbesondere von 2003 bis 2007 seien Treffen und Kontakte zwischen Wettbewerbern gemeinsam auf unterer Ebene des Sitzes und auf deutscher Ebene organisiert worden, und oft hätten Mitarbeiter des Unternehmenssitzes an Treffen auf deutscher Ebene teilgenommen und umgekehrt. Die Kommission hat auch darauf hingewiesen, dass die Parteien wiederholt auf unterer Ebene des Sitzes erörtert hätten, welche Informationen auf welcher Ebene ausgetauscht werden sollten.
2) Erste Rüge
218 Was die erste von den Klägerinnen erhobene Rüge anlangt, die die „Verbindungen“ zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte betrifft, so ist festzustellen, dass die Kommission die folgenden Gesichtspunkte als Beleg für das Bestehen solcher Verbindungen angeführt hat: die Tatsache, dass die Teilnehmer auf diesen Ebenen Mitarbeiter derselben Unternehmen gewesen seien, d. h. von Scania und den Vergleichsparteien; die Tatsache, dass der Austausch auf jeder der drei Ebenen den gleichen Inhalt gehabt habe; die Tatsache, dass es zwischen den auf den verschiedenen Ebenen abgehaltenen Treffen eine zeitliche Überschneidung gegeben habe; die Tatsache, dass die unterschiedlichen Ebenen aufeinander Bezug genommen hätten und gesammelte Informationen ausgetauscht hätten; die Tatsache, dass es manchmal gemeinsame Kontakte und Treffen zwischen verschiedenen Ebenen gegeben habe, wobei sich die Kommission im Speziellen auf gemeinsame Kontakte und Treffen zwischen Mitarbeitern auf unterer Ebene des Sitzes und Mitarbeitern auf deutscher Ebene der betreffenden Unternehmen bezieht (vgl. 213. Erwägungsgrund und Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses).
219 Die vorliegende Rüge der Klägerinnen stützt sich insbesondere darauf, dass es keine gemeinsamen Kontakte oder Treffen zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte gegeben habe.
220 Insoweit ist erstens anzumerken, dass die Kommission, wie sich aus den Rn. 215 und 217 oben und im Übrigen den Klarstellungen der Kommission in Rn. 122 der Klagebeantwortung ergibt, ihre Feststellung, dass die Ebenen der kollusiven Kontakte miteinander in Verbindung stünden, nicht auf die Tatsache gestützt hat, dass es Kontakte oder gemeinsame Treffen zwischen der Führungsebene und der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und zwischen der Führungsebene und der deutschen Ebene gegeben habe. Die Kommission hat sich nur auf das Vorliegen von Kontakten und gemeinsamen Treffen zwischen der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und der deutschen Ebene gestützt. Daher ist die Argumentation der Klägerinnen, mit der dargetan werden soll, dass es keine Kontakte und gemeinsamen Treffen zwischen der Führungsebene und der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und der Führungsebene und der deutschen Ebene gegeben habe, nicht stichhaltig.
221 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss die Ansicht vertreten hat, dass zwischen der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und der deutschen Ebene insbesondere von 2003 bis 2007 gemeinsame Kontakte und gemeinsame Treffen stattgefunden hätten (Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses). Aus dem angefochtenen Beschluss ergibt sich, dass dieser Gesichtspunkt einer der Gesichtspunkte war, auf die die Kommission ihre Schlussfolgerung gestützt hat, dass die Zuwiderhandlung fortgesetzt gewesen sei.
222 Was diese Feststellung der Kommission anlangt, so geht aus der Akte hervor, dass Treffen auf unterer Ebene des Unternehmenssitzes und auf deutscher Ebene oft zu derselben Zeit und am selben Ort organisiert wurden, um Handelsmessen vorzubereiten, und dass die Teilnehmer auf unterer Ebene des Sitzes über den Inhalt des Austauschs auf deutscher Ebene informiert waren, dass sie diesen Inhalt an ihre jeweiligen Unternehmen weitergaben und dass sie ganz allgemein mit den Teilnehmern am Austausch auf deutscher Ebene in Kontakt standen.
223 Insoweit verweist das Gericht insbesondere auf die im 137. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweise, die ein Treffen zwischen Wettbewerbern am 24. August 2004 in München (Deutschland) betreffen. Nach den Angaben von [vertraulich] nahmen Mitarbeiter der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und der deutschen Ebene an diesem Treffen teil. Für Scania waren A von der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und B von der deutschen Ebene anwesend. Bei diesem Treffen fand ein Informationsaustausch über künftige Preiserhöhungen auf dem deutschen Markt und über die Zeitpunkte der Markteinführung der den Umweltnormen entsprechenden Lkw statt. Eine von [vertraulich] erstellte Power-Point-Präsentation, die im 137. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnt wird, zeigt, dass die bei dem Treffen vom 24. August 2004 ausgetauschten Informationen an den Unternehmenssitz von [vertraulich] übermittelt wurden.
224 Das Gericht verweist auch auf die im 147. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweise, die belegen, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes über den Inhalt des Austausches über die Preise informiert waren, der beim Treffen zwischen den Wettbewerbern in München am 4. und 5. Juli 2005 stattfand. Im Speziellen bezieht sich das Gericht auf die E‑Mail, die von C von der unteren Ebene des Unternehmenssitzes von [vertraulich] an Mitarbeiter der anderen konkurrierenden Unternehmen, die ebenfalls der unteren Ebene des Unternehmenssitzes angehörten, versandt wurde. In dieser E‑Mail führte C unter Bezugnahme auf das Treffen vom 4. und 5. Juli 2005 insbesondere aus, dass [vertraulich] bei diesem Treffen den Wettbewerbern Informationen über die aktuelle Preisliste von [vertraulich] (auf der Grundlage des deutschen Marktes) geliefert habe, und ersuchte die Adressaten dieser E‑Mail u. a., dies ebenfalls zu tun. Der Mitarbeiter des Unternehmenssitzes von [vertraulich], der zu den Adressaten der oben genannten E‑Mail gehörte, antwortete, dass sein Unternehmen den Austausch über die Preise auf Marktebene (und zwar auf deutscher Ebene) aufrechterhalten wolle, und gab die Namen der Mitarbeiter von [vertraulich] an, die im Rahmen dieses Austauschs kontaktiert werden sollten. Die E‑Mail von C war auch an D von der unteren Ebene des Unternehmenssitzes von Scania adressiert, der an dem oben genannten Treffen vom 4. und 5. Juli 2005 teilgenommen hatte. Aus der Akte geht hervor, dass D die oben genannte E‑Mail nicht erhalten hat, weil sein Name falsch geschrieben war (vgl. 147. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die E‑Mail von C zeigt jedoch, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes, einschließlich der Mitarbeiter von Scania, über den Informationsaustausch über die Preise, der beim oben genannten Treffen vom 4. und 5. Juli 2005 stattfand, auf dem Laufenden waren.
225 Das Gericht merkt auch an, dass bestimmte Mitarbeiter der beteiligen Unternehmen, obwohl sie dem Unternehmenssitz angehörten, am Austausch auf deutscher Ebene teilnahmen, was die Schlussfolgerung der Kommission untermauert, dass es Verbindungen zwischen der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und der deutschen Ebene gab. Das Gericht verweist insbesondere auf den Fall von C von [vertraulich] und E von [vertraulich]. Diese Mitarbeiter gehörten zwar dem Unternehmenssitz an, waren jedoch auf deutscher Ebene aktiv und organisierten den Informationsaustausch.
226 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Feststellung der Kommission, wonach zwischen der unteren Ebene des Unternehmenssitzes und der deutschen Ebene Kontakte bestanden hätten, rechtlich hinreichend erwiesen ist.
227 Drittens wenden sich die Klägerinnen im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes auch gegen die Feststellung der Kommission im 213. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, wonach es auf der Ebene der kollusiven Kontakte offene Bezugnahmen aufeinander gegeben habe, und gegen die Feststellung in Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses, wonach die Kartellteilnehmer wiederholt auf unterer Ebene des Sitzes erörtert hätten, welche Informationen auf welcher Ebene ausgetauscht werden sollten.
228 Diese Feststellungen der Kommission sind rechtlich hinreichend erwiesen. Insbesondere aus den im 116. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten Beweisen, die ein Treffen zwischen Wettbewerbern auf unterer Ebene des Sitzes am 3. und 4. Juli 2001 betreffen, geht hervor, dass die Mitarbeiter des Sitzes über den Inhalt des Austausches auf deutscher Ebene auf dem Laufenden waren, dass sie der Auffassung waren, dass dieser Austausch „zu weitgehend“ und „potentiell gefährlich“ sei. Aus den im 117. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweisen geht hervor, dass die Wettbewerber bei dem oben genannten Treffen vom 3. und 4. Juli 2001 vereinbart haben, in Zukunft auf unterer Ebene des Unternehmenssitzes Informationen über Waren und technische Informationen auszutauschen, aber keine Informationen über Preise oder Vergleichsdaten. Ebenso ergibt sich aus den im 147. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweisen (vgl. Rn. 224 oben), dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes darüber diskutiert haben, welche Informationen auf welcher Ebene ausgetauscht werden sollten und dass in diesem Zusammenhang manche dieser Mitarbeiter den Wunsch geäußert hatten, dass der Austausch über Preise nur auf deutscher Ebene stattfinden sollte.
229 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass es den Klägerinnen im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes nicht gelingt, die Feststellungen der Kommission in Frage zu stellen, die insbesondere in den Erwägungsgründen 213 und 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses dargelegt werden und die Verbindungen zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte betreffen. Wie bereits ausgeführt, hat die Kommission eine bestimmte Anzahl von Gesichtspunkten ins Treffen geführt, die das Vorliegen von Verbindungen zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte belegen (vgl. Rn. 218 oben), die nicht bestritten worden sind, nämlich die Tatsache, dass die Teilnehmer Mitarbeiter derselben Unternehmen gewesen seien, und die Tatsache, dass es zwischen den Treffen auf den drei Ebenen der kollusiven Kontakte eine zeitliche Überschneidung gegeben habe, oder die bestritten worden sind, ohne im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes in Frage gestellt zu werden, nämlich die Tatsache, dass es zwischen den Mitarbeitern auf unterer Ebene des jeweiligen Sitzes der Kartellteilnehmer und den Mitarbeitern auf deutscher Ebene Kontakte gegeben habe. In Anbetracht dieser Gesichtspunkte ist das Gericht der Ansicht, dass die drei Ebenen der kollusiven Kontakte miteinander in Verbindung standen und dass sie nicht separat und unabhängig voneinander gehandelt haben.
3) Zweite Rüge
230 Hinsichtlich der zweiten Rüge der Klägerinnen (vgl. Rn. 212 oben) ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss die kollusiven Kontakte auf unterer Ebene des Sitzes (und im Übrigen auch die kollusiven Kontakte auf den beiden anderen Ebenen separat gesehen) nicht als Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens eingestuft hat, sondern dass sie die Ansicht vertreten hat, dass sämtliche Kontakte auf den drei Ebenen Teil einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gewesen seien, da damit ein gemeinsamer Plan mit dem wettbewerbswidrigen Ziel verfolgt worden sei, den Wettbewerb auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR insbesondere durch einen Informationsaustausch zu beschränken, der die strategische Ungewissheit in Bezug auf die künftigen Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie in Bezug auf den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, verringert habe (317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
231 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Kommission nicht verpflichtet war, den Austausch auf unterer Ebene des Sitzes separat betrachtet als gesonderte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens einzustufen, um auf das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung zu schließen (vgl. Rn. 208 oben).
232 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die vorliegende Rüge der Klägerinnen auf der falschen Prämisse beruht, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss den Austausch auf unterer Ebene des Sitzes als Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens eingestuft habe. Ungeachtet dieser falschen Prämisse ist angesichts der Erwägungen in den Rn. 208 bis 211 oben und im Lichte der Argumentation der Klägerinnen zu prüfen, inwiefern der Austausch auf unterer Ebene des Sitzes zur Verwirklichung des oben in Rn. 230 dargelegten gemeinsamen Plans beigetragen hat.
233 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes, wie im Rahmen der Prüfung der ersten Rüge festgestellt worden ist, über den Inhalt des Austausches auf deutscher Ebene informiert waren, dass sie diesen Inhalt an ihre jeweiligen Unternehmen weitergaben und dass sie ganz allgemein mit den Teilnehmern am Austausch auf deutscher Ebene in Kontakt standen (vgl. Rn. 222 oben). Es zeigt sich somit, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes dadurch, dass sie an dem Austausch beteiligt waren, der die strategische Ungewissheit hinsichtlich der zukünftigen Preise und Zeitpunkte der Markteinführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modellen verringerte, zur Verwirklichung des oben genannten gemeinsamen Plans beitrugen.
234 Zweitens zeigen die im 144. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweise für ein Treffen zwischen Wettbewerbern auf unterer Ebene des Sitzes am 3. und 4. Februar 2005 in Lyon (Frankreich), dass [vertraulich] die anderen Hersteller, darunter Scania, über die zukünftige Preiserhöhung von 5 % eines von ihr gebauten Lkw-Modells in Kenntnis gesetzt hat. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen geltend gemacht haben, dass diese Information zum Zeitpunkt des oben genannten Treffens öffentlich bekannt gewesen sei, und dass sie zur Stützung dieses Vorbringens im Stadium der Erwiderung und einige Tage vor der mündlichen Verhandlung einen Artikel einer Fachzeitschrift vorgelegt haben, dessen elektronische Fassung vom 4. Februar 2005 stammte. Unabhängig von der Zulässigkeit dieses Beweises ist das Gericht der Ansicht, dass der oben genannte Artikel kein Beleg für die Begründetheit des Vorbringens der Klägerinnen ist, da die Tragweite der von [vertraulich] beim Treffen vom 3. und 4. Februar 2005 übermittelten Information größer war als die in dem oben genannten Artikel enthaltene Information, in dem von einer Preiserhöhung des Lkw-Modells von [vertraulich] nur in Bezug auf den Markt des Vereinigten Königreichs die Rede war.
235 Die von [vertraulich] beim Treffen vom 3. und 4. Februar 2005 auf unterer Ebene des Unternehmenssitzes übermittelte Preisinformation zeigt, dass der Austausch auf dieser Ebene unabhängig von der Frage, ob er eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln darstellt, zur Verwirklichung des oben in Rn. 230 dargelegten gemeinsamen Plans beigetragen hat, da sie zeigt, dass es bei diesem Austausch auch um Fragen der Preisgestaltung von Lkw und nicht nur um technische Fragen ging.
236 Drittens ergibt sich aus einer im 146. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten internen E‑Mail von [vertraulich], die von F von der unteren Ebene des Sitzes dieses Unternehmens geschickt wurde und das Treffen der Wettbewerber am 4. und 5. Juli 2005 betrifft, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes, darunter Mitarbeiter des Sitzes von Scania, u. a. Informationen über den Zeitpunkt der Markteinführung von den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprechenden Lkw-Modellen austauschten. F informierte seine Kollegen beispielsweise über die beim Treffen von 4. und 5. Juli 2005 bekannt gewordene Tatsache, dass Scania „auf der [vertraulich]-Veranstaltung eine komplette Serie von Motoren vorstellen [wird], die der Euro-4[-Norm] entsprechen (und einige Motoren, die der Euro-5[-Norm] entsprechen“, und darüber, dass 2000 Bestellungen von der Euro-4-Norm entsprechenden Motoren bereits bei Scania eingegangen seien. F teilte seinen Kollegen beispielsweise auch mit, dass gemäß den von [vertraulich] bei dem oben genannten Treffen gelieferten Informationen die Preiserhöhung im Zusammenhang mit der Einführung der Euro-5-Norm von ihren Kunden nicht bekämpft werde und dass bereits 6000 dieser Norm entsprechende Lkw verkauft worden seien. Der Inhalt des Informationsaustauschs auf unterer Ebene des Unternehmenssitzes beim Treffen vom 4. und 5. Juli 2005 zeigt ebenfalls, dass der Austausch auf unterer Ebene des Sitzes zur Verwirklichung des oben in Rn. 230 dargelegten gemeinsamen Plans beigetragen hat, da er zeigt, dass es bei diesem Austausch auch um Fragen des Zeitpunkts der Einführung von Lkw-Modellen ging, die mit den speziellen Umweltnormen vereinbar waren.
237 Viertens ist darauf hinzuweisen, dass die Teilnehmer an den kollusiven Kontakten auf den drei Ebenen Mitarbeiter derselben Unternehmen waren, dass es zeitliche Überschneidungen der Treffen auf unterer Ebene des Sitzes mit den Treffen auf den beiden anderen Ebenen gab, und dass zwischen den Mitarbeitern auf unterer Ebene des Sitzes und den Mitarbeitern auf deutscher Ebene Kontakte bestanden (vgl. Rn. 218 und 229 oben).
238 Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass der Informationsaustausch auf unterer Ebene des Sitzes zur Verwirklichung des oben in Rn. 230 dargelegten gemeinsamen Plans beigetragen hat und dass ihn die Kommission daher zu Recht bei der Feststellung einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung berücksichtigt hat.
239 Nach alledem ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen.
c)
Vierter Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht und fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass die Klägerinnen eine Vereinbarung über den Zeitplan für die Markteinführung von Abgastechnologien geschlossen bzw. ihre Verhaltensweisen insoweit aufeinander abgestimmt hätten
240 Die Argumentation der Klägerinnen im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes lässt sich in drei Teile gliedern, die im Folgenden nacheinander geprüft werden.
1) Erster Teil des vierten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt wird
241 Die Klägerinnen machen geltend, die im angefochtenen Beschluss enthaltenen Erwägungen ermöglichten es ihr nicht, die Art und die Tragweite der ihnen zur Last gelegten Zuwiderhandlung nachzuvollziehen. Zum einen gehe aus Art. 1 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission die Auffassung vertreten habe, dass die Klägerinnen insbesondere dadurch eine Zuwiderhandlung begangen hätten, dass sie sich über den Zeitplan für die Einführung von Abgastechnologien abgestimmt hätten, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, und dass dieses Verhalten für sich genommen eine Zuwiderhandlung sei. Zum anderen scheine im angefochtenen Beschluss in den Erwägungsgründen 243 und 321 auch vertreten zu werden, dass der die genannte Absprache betreffende Sachverhalt mit dem angeblichen Preis- und Bruttopreiskartell „in Zusammenhang“ stehe und dieses „ergänze“, was vermuten lasse, dass der bloße Informationsaustausch über den Zeitpunkt der Einführung der Technologien für sich genommen keine Zuwiderhandlung darstelle.
242 Die Klägerinnen kommen zu dem Schluss, dass diese Inkohärenz in den Erwägungen der Kommission einen Verstoß gegen Art. 296 AEUV darstelle und dass der angefochtene Beschluss auf dieser Grundlage für nichtig zu erklären sei.
243 Die Klägerinnen werfen der Kommission auch vor, sie habe die Gründe nicht dargelegt, weshalb der Informationsaustausch über den Zeitplan für die Einführung der Abgastechnologien eine bezweckte Zuwiderhandlung darstelle.
244 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
245 Es ist festzustellen, dass es sich bei der in Art. 296 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht nach ständiger Rechtsprechung um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Unter diesem Blickwinkel muss die vorgeschriebene Begründung dem Wesen des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Was insbesondere die Begründung von Einzelentscheidungen angeht, hat die Pflicht zur Begründung solcher Entscheidungen neben der Ermöglichung einer gerichtlichen Überprüfung den Zweck, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob die Entscheidung eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung ermöglicht (vgl. Urteil vom 7. November 2019, Campine und Campine Recycling/Kommission, T‑240/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:778, Rn. 321 und die dort angeführte Rechtsprechung).
246 Im Übrigen ist das Begründungserfordernis nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Anforderungen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil vom 7. November 2019, Campine und Campine Recycling/Kommission, T‑240/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:778, Rn. 322 und die dort angeführte Rechtsprechung).
247 Außerdem verlangt die in Art. 296 AEUV vorgesehene Begründungspflicht, dass die Argumentation, auf die sich eine Entscheidung stützt, eindeutig und unmissverständlich ist. Somit muss die Begründung eines Rechtsakts folgerichtig sein und darf insbesondere keine inneren Widersprüche aufweisen, die das Verständnis der Gründe, die diesem Rechtsakt zugrunde liegen, erschweren (vgl. Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, EU:C:2011:620, Rn. 151 und die dort angeführte Rechtsprechung).
248 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im 236. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses in Abschnitt 7.2.3 („Beschränkung des Wettbewerbs“) ausgeführt, dass das wettbewerbswidrige Verhalten im vorliegenden Fall die Beschränkung des Wettbewerbs im Gebiet des EWR bezweckt habe.
249 Im 237. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission festgestellt, dass im vorliegenden Fall der Hauptaspekt aller Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, der als Beschränkung des Wettbewerbs eingestuft werden könne, in der Koordinierung der Preise und Bruttopreiserhöhungen durch [einen Informationsaustausch] über Preise, über den Zeitpunkt und die zusätzlichen Kosten der Markteinführung neuer Lkw-Modelle, die den Abgasnormen entsprächen, und im Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen bestanden habe.
250 In Erwägungsgrund 238 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission ausgeführt, dass Scania mit Wettbewerbern Vereinbarungen über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, abgeschlossen und/oder sich mit ihnen abgestimmt habe.
251 Im 239. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission festgestellt, dass sämtliche Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, an denen Scania teilgenommen habe, die Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV bezweckt und es den Unternehmen ermöglicht hätten, ihre Preisstrategie im Lichte der von den Wettbewerbern erhaltenen Informationen anzupassen.
252 Im 243. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission erklärt, dass die Klägerinnen dadurch, dass sie über den Zeitpunkt der Einführung neuer Umweltnormen und der durch die neue Technologie verursachten zusätzlichen Kosten gesprochen hätten, Informationen über die Absichten ihrer Wettbewerber in Bezug auf das Bruttopreisniveau erhalten hätten. Nach den Erläuterungen der Kommission führte die Weitergabe der Kosten der Einführung der neuen Umwelttechnologie zu Änderungen des Bruttopreises der betreffenden Lkw-Modelle. Die Parteien hätten den Zeitpunkt gekannt, zu dem die neuen Modelle (auf die die zusätzlichen Kosten abgewälzt worden seien) in die Bruttopreisliste der Wettbewerber aufgenommen worden seien, da sie den Zeitpunkt der Markteinführung dieser neuen Modelle gekannt hätten. Daher habe die Art dieser Gespräche und der Vereinbarungen über den Zeitpunkt der Markteinführung der neuen, mit den Umweltnormen vereinbaren Lkw-Modelle mit der Kollusion zwischen den Parteien hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen im Zusammenhang gestanden und habe diese ergänzt.
253 Im Übrigen ergibt sich aus den Erwägungsgründen 315 bis 350 in Abschnitt 7.2.4 („Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung“) des angefochtenen Beschlusses, dass die Kommission Scania eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens zugerechnet hat, die sie als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung eingestuft hat, die in kollusiven Kontakten zur Preisgestaltung und Erhöhung der Bruttopreise für mittlere und schwere Lkw im EWR sowie zum Zeitplan und zur Weitergabe der Kosten der Einführung von aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschriebenen Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw bestanden habe. Nach Ansicht der Kommission zielten diese kollusiven Kontakte darauf ab, den Wettbewerb durch eine Verringerung des Grads der strategischen Ungewissheit zwischen den Wettbewerbern in Bezug auf die künftigen Preise, die Bruttopreiserhöhungen, den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten für die Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modellen zu beschränken (317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
254 Im 321. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission ihre im 243. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegte Analyse wiederholt, wonach die Art der Gespräche und Vereinbarungen über den Zeitpunkt der Markteinführung der neuen, mit den Umweltnormen vereinbaren Lkw-Modelle in Zusammenhang mit der Kollusion zwischen den Parteien hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen gestanden und diese ergänzt habe.
255 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 des angefochtenen Beschlusses Folgendes bestimmt:
„Die folgenden juristischen Einheiten von Scania haben dadurch, dass sie sich über Preise und Bruttopreiserhöhungen im EWR für mittlere und schwere Lkw sowie über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben sind, abgestimmt haben, in den folgenden Zeiträumen gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 [des EWR-Abkommens] verstoßen …“
256 Zum einen ergibt sich aus der vorstehenden Darstellung des angefochtenen Beschlusses, dass die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen in diesem Beschluss die Absprache über den Zeitplan für die Einführung der Abgastechnologien nicht separat als gesonderte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV eingestuft hat. Dagegen ist klar, dass die genannte Absprache nach Ansicht der Kommission Teil einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung war, deren einheitliches wettbewerbswidriges Ziel die Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im Gebiet des EWR war.
257 Zum anderen ergibt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 236, 237, 239, 243 und 321 des angefochtenen Beschlusses, dass die Kommission der Ansicht war, dass der Informationsaustausch über den Zeitplan der Einführung der Abgastechnologien mit dem Informationsaustausch über Preise und Bruttopreiserhöhungen in Zusammenhang stand und diesen ergänzte und dass dieser gesamte Austausch es den betreffenden Unternehmen im Wesentlichen ermöglichte, ihre Preisstrategien nach Maßgabe der von den Wettbewerbern erhaltenen Informationen anzupassen, was eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellte.
258 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die im angefochtenen Beschluss enthaltene Begründung die Überlegungen der Kommission so klar und eindeutig zum Ausdruck bringt, dass das Gericht seine gerichtliche Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Im Übrigen zeigen der Inhalt und die Ausführlichkeit der Argumentation der Klägerinnen vor dem Gericht, dass es ihnen die Begründung des angefochtenen Beschlusses ermöglicht hat, den Beschluss vor dem Gericht in wirksamer Weise anzufechten.
259 Nach alledem ist der erste Teil des vorliegenden Klagegrundes zurückzuweisen.
2) Zweiter Teil des vierten Klagegrundes, mit dem eine fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens gerügt wird, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass die Klägerinnen eine Vereinbarung über den Zeitplan für die Markteinführung der Abgastechnologien geschlossen bzw. ihre Verhaltensweisen insoweit aufeinander abgestimmt hätten
260 Die Klägerinnen wenden sich gegen die Beurteilung der Kommission, wonach sie eine Vereinbarung über den Zeitplan für die Einführung von Abgastechnologien geschlossen bzw. ihre Verhaltensweisen insoweit aufeinander abgestimmt hätten.
261 Insoweit führen die Klägerinnen aus, die Verpflichtung, die Lkw-Motoren an die Euro-Normen anzupassen, ergebe sich aus der europäischen Regelung, die den Lkw-Herstellern bekannt sei, und sei nicht das Ergebnis eines Innovationswettbewerbs.
262 Die Klägerinnen machen auch geltend, Scania habe die verschiedenen Euro-Abgasnormen auch vor Geltung der in der europäischen Regelung vorgeschriebenen Fristen stets respektiert, und ihre Produktion sei im Allgemeinen ungefähr sechs oder sieben Jahre vor der in dieser Regelung vorgesehenen Frist für die Einführung von diesen Normen entsprechenden Technologien geplant worden. Diese Tatsache sei mit der Annahme der Kommission unvereinbar, dass Scania mit ihren Wettbewerbern eine Vereinbarung über den Zeitplan für die Markteinführung von den Euro-Normen entsprechenden Technologien geschlossen habe oder sich insoweit mit ihnen abgestimmt habe.
263 Die Klägerinnen berufen sich auch auf den Umstand, dass die Zeitpunkte der Markteinführung der Abgastechnologien zwischen den Lkw-Herstellern sehr unterschiedlich seien, was das Vorliegen einer Koordinierung dieser Zeitpunkte zwischen ihnen in Frage stelle.
264 Die Klägerinnen bestreiten auch, dass der im angefochtenen Beschluss beschriebene Informationsaustausch zeige, dass sie eine Vereinbarung über die Einführung neuer Abgastechnologien geschlossen bzw. ihre Verhaltensweisen insoweit aufeinander abgestimmt hätten.
265 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
266 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe „Vereinbarung“, „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ und „abgestimmte Verhaltensweise“ in subjektiver Hinsicht Formen der Kollusion erfassen, die in ihrer Art übereinstimmen, und dass sie sich nur in ihrer Intensität und ihren Ausdrucksformen unterscheiden (vgl. Urteil vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
267 In Bezug auf die Definition einer abgestimmten Verhaltensweise hat der Gerichtshof entschieden, dass es sich dabei um eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen handelt, die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen Sinn gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt (vgl. Urteil vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
268 Die Kriterien der Koordinierung und der Zusammenarbeit, die Voraussetzungen für eine abgestimmte Verhaltensweise sind, verlangen nicht die Ausarbeitung eines eigentlichen „Plans“; sie sind vielmehr im Sinne des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des [EG‑]Vertrags zu verstehen, wonach jeder Wirtschaftsteilnehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Binnenmarkt betreiben und welche Bedingungen er seiner Kundschaft gewähren will (vgl. Urteile vom 28. Mai 1998, Deere/Kommission, C‑7/95 P, EU:C:1998:256, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 119 und die dort angeführte Rechtsprechung).
269 Zwar nimmt dieses Selbständigkeitspostulat den Wirtschaftsteilnehmern nicht das Recht, sich dem festgestellten oder erwarteten Verhalten ihrer Mitbewerber mit wachem Sinn anzupassen; es steht jedoch streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die geeignet ist, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potenziellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Verhalten ins Bild zu setzen, das man selbst auf dem betreffenden Markt an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht, wenn diese Kontakte bezwecken oder bewirken, dass Wettbewerbsbedingungen entstehen, die im Hinblick auf die Art der Waren oder erbrachten Dienstleistungen, die Bedeutung und Zahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Bedingungen dieses Marktes entsprechen (vgl. Urteile vom 28. Mai 1998, Deere/Kommission, C‑7/95 P, EU:C:1998:256, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung).
270 So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Austausch von Informationen zwischen Wettbewerbern gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen kann, wenn er den Grad der Ungewissheit über das fragliche Marktgeschehen verringert oder beseitigt und dadurch zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führt (vgl. Urteil vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).
271 Im vorliegenden Fall hat die Kommission in Erwägungsgrund 238 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses bekräftigt, dass Scania mit ihren Wettbewerbern Vereinbarungen über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, abgeschlossen und/oder sich mit ihnen abgestimmt habe. Diese Bekräftigung der Kommission beruht auf mehreren Beweisen, die im angefochtenen Beschluss angeführt werden und seine Stichhaltigkeit belegen.
272 Erstens ist auf das im 103. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführte Protokoll eines Treffens auf Führungsebene vom 6. April 1998 in Brüssel (Belgien) hinzuweisen. Dieses Protokoll zeigt deutlich, dass die Teilnehmer an diesem Treffen Informationen über Preise sowie über den Zeitplan für die Einführung von Lkw-Modellen, die der Euro-3-Norm entsprechen, ausgetauscht haben und dass sie sich abgesprochen haben, die dieser Norm entsprechende Technologie nicht einzuführen, bevor diese Einführung verpflichtend wird. Das genannte Protokoll zeigt auch, dass die Teilnehmer am Treffen Informationen über die Auswirkungen der Einführung der neuen Technologie auf die Preise ausgetauscht haben. Da in diesem Protokoll auf „alle Mitglieder von [vertraulich]“ Bezug genommen wird, kann der Schluss gezogen werden, dass Scania an dem genannten Treffen vom 6. April 1998 teilgenommen hat.
273 Zweitens verweist das Gericht auf das Treffen auf Führungsebene vom 10. und 11. April 2003 in Göteborg (Schweden), an dem Scania teilgenommen hat, auf das im 127. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses eingegangen wird. In diesem Erwägungsgrund angeführte handschriftliche Notizen eines Vertreters von [vertraulich], der an diesem Treffen teilgenommen hat, zeigen, dass die Teilnehmer Informationen über Preise und über die Einführung von der Euro-4-Norm entsprechenden Technologien ausgetauscht haben. In diesen Aufzeichnungen heißt es:
„Verkäufe von [vertraulich] Euro 4 Okt. 2004. [vertraulich]/Scania kann sie früher einführen, wünscht dies aber nicht. Alle vereinbaren die Einführung [vertraulich] ‚Verkaufseinführung‘.“
274 Der Inhalt des oben in Rn. 273 genannten Treffens vom 10. und 11. April 2003 wird in einem Fax wiedergegeben, das [vertraulich] am 8. Mai 2003 an die Wettbewerber, darunter Scania, geschickt hat und das im 128. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt wird. Darin heißt es:
„Bei unserem Treffen in Göteborg haben wir die Markteinführung der Spezifikation Euro 4 besprochen. Ich habe die Initiative übernommen, diese Frage mit unserem Kollegen [G] zu besprechen. Obwohl [vertraulich] bezweifelt, dass wir alle unsere Versprechen halten, akzeptiert sie eine Markteinführung im September 2004 [vertraulich]. Ganz klar dürfen wir sie vor diesem Zeitpunkt nicht zum Verkauf anbieten. Ich gehe davon aus, dass wir uns noch immer einig sind und dass wir uns an dieses Datum halten werden. Wenn Sie das aus irgendeinem Grund nicht können, teilen Sie mir das bitte per Retourfax mit.“
275 Die Klägerinnen haben sich auf die Erklärungen von [vertraulich] im Verwaltungsverfahren berufen, wonach die oben in Rn. 273 genannten Notizen nicht auf das Vorliegen einer Vereinbarung zwischen den Lkw-Herstellern hindeuteten, sondern nur besagten, dass alle akzeptiert hätten, dass die der Euro-4-Norm entsprechenden Motoren wahrscheinlich nicht vor [vertraulich] im September 2004 auf den Markt gebracht würden. Diese nachträglich gelieferten Erklärungen, die dem klaren Wortlaut der Notizen des Vertreters von [vertraulich] und des Faxes vom 8. Mai 2003 widersprechen, aus denen sich ergibt, dass die Wettbewerber übereingekommen waren, die der Euro-4-Norm entsprechenden Motoren im September 2004 einzuführen, sind jedoch nicht überzeugend.
276 Drittens ist auf die von H, einem Vertreter von [vertraulich], am 16. September 2004 an die Wettbewerber, darunter Scania, geschickte E‑Mail zu verweisen, in der er seine Entscheidung mitteilte, an dem in Hannover (Deutschland) geplanten Treffen auf Führungsebene nicht teilzunehmen. In dieser E‑Mail, die im 138. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt wird, heißt es:
„Der Grund für diese Entscheidung ist Enttäuschung. Ich finde, dass das Verhalten mancher unserer Kollegen (vor allem von einem bestimmten) bei der Kommunikation über Euro 4 und 5 sowie die Art und Weise, wie diese Kollegen versucht haben, dem Ansehen der Lkw‑Industrie und insbesondere einiger ihrer Kollegen Schaden zuzufügen, nicht hinnehmbar sind…“
277 [Vertraulich] erläuterte in einer mündlichen Erklärung, die im Verwaltungsverfahren abgegeben wurde und im 138. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt wird, dass das Unternehmen die der Euro-4-Norm entsprechende Technologie vor dem mit den Wettbewerbern vereinbarten Zeitpunkt, nämlich dem September 2004, eingeführt habe (siehe oben Rn. 273 und 274) und dass dies der Grund für den Unmut sei, den der Vertreter von [vertraulich] in seiner E‑Mail ausgedrückt habe. Aus der Akte geht hervor, dass der Austausch auf Führungsebene nach diesem Vorfall eingestellt wurde (138. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
278 Die oben in Rn. 276 angeführte E‑Mail des Vertreters von [vertraulich] belegt in Zusammenschau mit den oben in den Rn. 273 und 274 dargestellten Beweisen, dass es zwischen den Wettbewerbern, darunter Scania, eine Vereinbarung über den Zeitpunkt der Markteinführung der der Euro-4-Norm entsprechenden Technologien gegeben hat.
279 Die Klägerinnen haben sich auf die eidesstattliche Erklärung des Vertreters von [vertraulich] berufen, der der Verfasser der oben in Rn. 276 angeführten E‑Mail ist, in der er erklärt habe, dass seine E‑Mail aufgrund von Spannungen zwischen [vertraulich] und [vertraulich] geschickt worden sei und dass es keine Vereinbarung zwischen den Lkw-Herstellern über den Zeitpunkt der Einführung von der Euro-4-Norm entsprechenden Motoren gebe. Nach Ansicht der Klägerinnen wird die eidesstattliche Erklärung dadurch untermauert, dass [vertraulich] und ihr Vertreter auf die Ankündigung von Scania auf einer Pressekonferenz vom 31. März 2004, ihren ersten der Euro-4-Norm entsprechenden Motor auf den Markt zu bringen, überhaupt nicht reagiert hätten. Nach Ansicht der Klägerinnen kann davon ausgegangen werden, dass der Vertreter von [vertraulich] in gleicher Weise auf die Ankündigung von Scania reagiert hätte, wenn die Hersteller eine Vereinbarung über den Zeitplan der Einführung der der Euro-4-Norm entsprechenden Technologie geschlossen hätten.
280 Diese Argumentation der Klägerinnen ist nicht überzeugend.
281 Was zum einen die oben genannte eidesstattliche Erklärung betrifft, so wurde sie vom Verfasser der oben in Rn. 276 angeführten E‑Mail mehrere Jahre nach den für das Verwaltungsverfahren relevanten Ereignissen und damit in tempore suspecto abgegeben. Daher kann ihr Inhalt den Beweiswert der aus der Zeit der Ereignisse stammenden und objektiveren Beweise, wie des oben in Rn. 274 angeführten Faxes, sowie den Beweiswert der oben in Rn. 277 angeführten Erklärung von [vertraulich] nicht in Frage stellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 2006, Archer Daniels Midland/Kommission, T‑59/02, EU:T:2006:272, Rn. 277; vom 8. Juli 2008, Lafarge/Kommission, T‑54/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2008:255, Rn. 379, und vom 29. Juni 2012, E.ON Ruhrgas und E.ON/Kommission, T‑360/09, EU:T:2012:332, Rn. 201). All diese Beweise belegen das Vorliegen einer Vereinbarung zwischen den Lkw-Herstellern über den Zeitpunkt der Einführung der der Euro-4-Norm entsprechenden Technologie.
282 Zum anderen ist hinsichtlich des auf die Pressekonferenz von Scania vom 31. März 2004 gestützten Arguments festzustellen, dass in der von den Klägerinnen vorgelegten Presseerklärung, die ihr Vorbringen keineswegs untermauert, die Einführung von der Euro-4-Norm entsprechenden 420-PS-Motoren im September 2004 angekündigt wurde, also zu einem Zeitpunkt, der mit dem von den Wettbewerbern beim Treffen vom 10. und 11. April 2003 in Göteborg vereinbarten Zeitpunkt übereinstimmt (siehe oben Rn. 273 und 274).
283 Viertens verweist das Gericht auf den Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern, darunter Scania DE, der zwischen dem 2. und dem 8. Dezember 2004 stattfand und bei dem es um Preiserhöhungen im Jahr 2005 ging (140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). In diesem Zusammenhang gab [vertraulich] an, dass sie 5410 Euro für die Umstellung von „Euro 3 auf Euro 4“ berechne.
284 Wie aus dem 141. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, schickte B, ein Vertreter von Scania DE, am 2. Dezember 2004 Mitarbeitern von konkurrierenden Unternehmen eine E‑Mail, in der er fragte, zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Bruttopreis die den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprechenden Motoren geliefert würden. Der Vertreter von [vertraulich] übermittelte in seiner Antwort die verlangten Informationen und wies insbesondere darauf hin, dass sich die zusätzlichen Preise für die den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprechenden Motoren auf jeweils 11500 Euro und 14800 Euro beliefen. Am 17. Dezember 2004 übermittelte B die erhaltenen Informationen an die Wettbewerber (142. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
285 Fünftens ist auf das Treffen vom 12. September 2005 zu verweisen, das im 149. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt wird, bei dem es vor allem um die Themen „Situation Euro 4/5“ und „für 2006 vorgesehene Preiserhöhungen“ ging. Aus den handschriftlichen Notizen geht hervor, dass die Wettbewerber, unter denen sich I, ein Vertreter von Scania DE, befand, bei diesem Treffen Informationen über den Zeitpunkt der Markteinführung der den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprechenden Lkw-Modelle und über ihre Preisgestaltung austauschten.
286 Sechstens ist auf eine E‑Mail vom 21. Juli 2009 zu verweisen, die im 180. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt wird, in der ein Mitarbeiter von [vertraulich] vorschlug, den folgenden Punkt auf die Tagesordnung des von Scania DE organisierten Treffens der Wettbewerber zu setzen, das am 17. und 18. September 2009 stattfinden sollte: „Euro VI – ich weiß – dürfen und wollen wir darüber sprechen?“
287 Im 181. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wird auf das oben in Rn. 286 angeführte Treffen vom 17. und 18. September 2009 Bezug genommen. Aus den von den Klägerinnen nicht bestrittenen Beweisen, die in dem genannten Erwägungsgrund angeführt werden, geht hervor, dass die Wettbewerber Informationen über den Zeitpunkt der Einführung der der Euro-6-Norm entsprechenden Technologie sowie über die für 2010 vorgesehenen Preiserhöhungen ausgetauscht haben.
288 Aus den oben in den Rn. 272 und 287 dargestelltem Beweisen und Tatsachen geht hervor, dass die Kommission in rechtlich hinreichender Weise nachgewiesen hat, dass Scania mit ihren Wettbewerbern Vereinbarungen über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben waren, abgeschlossen und/oder sich mit ihnen abgestimmt hatte.
289 Diese Schlussfolgerung wird durch die oben in Rn. 261 bis 263 dargestellte Argumentation der Klägerinnen nicht in Frage gestellt. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die europäische Regelung über die Zeitpunkte der Einführung der Euro-Abgasnormen nur auf die Fristen für die Einführung dieser Normen abzielte (vgl. sechster Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses) und die Lkw-Hersteller nicht verpflichtete, Informationen über den Zeitplan der Markteinführung der diesen Normen entsprechenden Waren auszutauschen. Im Übrigen ist der Umstand, dass Scania ihre Produktion mehrere Jahre vor der in der europäischen Regelung vorgesehenen Frist für die Einführung einer speziellen Euro-Norm geplant hat, kein Beweis dafür, dass sie nicht an der Absprache mit den anderen Lkw-Herstellern teilgenommen hat. Auch die Tatsache, dass die Zeitpunkte der Markteinführung der Abgastechnologien von Lkw-Hersteller zu Lkw-Hersteller unterschiedlich sind, ist kein Beweis dafür, dass zwischen ihnen kein Informationsaustausch stattgefunden hat, der es ihnen ermöglicht hat, die Pläne ihrer Wettbewerber zu kennen.
290 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist der zweite Teil des vorliegenden Klagegrundes zurückzuweisen.
3) Dritter Teil des vierten Klagegrundes, mit dem geltend gemacht wird, dass der Informationsaustausch über den Zeitplan für die Markteinführung der Abgastechnologien keine bezweckte Zuwiderhandlung darstelle
291 Die Klägerinnen machen geltend, die in der Akte enthaltenen Beweise zeigten allenfalls, dass die Parteien ausnahmsweise Informationen über den Zeitplan für die Markteinführung ihrer jeweiligen Abgastechnologien ausgetauscht hätten. Dieser seltene Austausch stelle jedoch keine bezweckte Zuwiderhandlung dar. Nach Ansicht der Klägerinnen wird im angefochtenen Beschluss nicht der Beweis erbracht, dass der Informationsaustausch über den Zeitplan für die Einführung der Abgastechnologien seinem Wesen nach als schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs angesehen werden könne, ohne dass seine Auswirkungen geprüft werden müssten.
292 Es sei schwer nachvollziehbar, wie der Austausch von Informationen über die Zeitpunkte der Markteinführung auch nur zur geringsten Verzögerung oder Behinderung des Wettbewerbs beim Angebot der fraglichen neuen Technologie führen könnte, da erstens die technische Entwicklung einer neuen Technologie der Emissionskontrolle ungefähr sechs oder sieben Jahre dauere, zweitens alle Hersteller verpflichtet seien, den Euro-Normen entsprechende neue Motoren zu entwickeln, und die in Rede stehenden Technologien vor den durch die europäischen Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Fristen auf den Markt gebracht hätten und drittens praktisch keine Nachfrage nach den Euro-Normen entsprechenden Lkw bestanden habe, bevor diese Normen verpflichtend geworden seien. Nach Ansicht der Klägerinnen bestand das Ziel des Informationsaustausches jedenfalls nicht darin, die Einführung der Abgastechnologien „zu verzögern“.
293 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
294 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in Erwägungsgrund 238 Buchst. b und im 239. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass sämtliche Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, an denen Scania beteiligt gewesen sei, zu denen die Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung der Abgastechnologien gehörten, eine Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV bezweckt und es den Unternehmen ermöglicht hätten, ihre Preisstrategie im Lichte der von den Wettbewerbern erhaltenen Informationen anzupassen. Im Übrigen hat die Kommission in den Erwägungsgründen 243 und 321 des angefochtenen Beschlusses erklärt, dass die Art der Gespräche und der Vereinbarungen über den Zeitpunkt der Markteinführung der neuen, den Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modelle mit der Kollusion zwischen den Parteien hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen in Zusammenhang gestanden und diese ergänzt habe. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Kommission das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung festgestellt hat, deren Ziel die Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR gewesen sei und die in Praktiken bestanden habe, die den Grad der strategischen Ungewissheit zwischen den Parteien in Bezug auf die künftigen Preise und die Bruttopreiserhöhungen verringert hätten (317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
295 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die oben in den Rn. 291 und 292 dargestellte Argumentation der Klägerinnen auf einer Reihe von falschen Prämissen beruht.
296 Wie bereits ausgeführt, hat die Kommission den Informationsaustausch über den Zeitplan für die Einführung der Abgastechnologien nicht als eigenständige Zuwiderhandlung eingestuft. Dieser Austausch wurde auch nicht isoliert als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung eingestuft, sondern zusammen mit anderen kollusiven Praktiken berücksichtigt. Im 239. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wurde „dieser Komplex von Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen“ als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung eingestuft, die es den Teilnehmern ermöglichte, ihre Preisstrategie im Licht der von den Wettbewerbern erhaltenen Informationen anzupassen.
297 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Schlussfolgerung der Kommission in Bezug auf das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung nicht auf die Feststellung gestützt ist, dass die Vereinbarungen oder die abgestimmten Verhaltensweisen über den Zeitplan für die Einführung der Abgastechnologien ein Hindernis für das Angebot der neuen Technologien dargestellt hätten, wie die oben in Rn. 292 angeführte Argumentation der Klägerinnen nahelegt. Die Schlussfolgerung der Kommission beruht auf der Feststellung, dass diese kollusiven Praktiken die abgestimmten Verhaltensweisen in Bezug auf die Preise und Bruttopreiserhöhungen ergänzten. Aus dem Inhalt des im angefochtenen Beschluss angeführten Informationsaustauschs zwischen den Wettbewerbern ergibt sich, dass sich die Einführung der Technologien, die sicherstellten, dass die Lkw-Motoren den Euro-Normen entsprachen, auf die Preise der betreffenden Lkw-Modelle auswirken und zu einer Erhöhung dieser Preise führen konnte. Die Wettbewerber erörterten untereinander nicht nur den Zeitplan, sondern auch die Weitergabe der Kosten der Einführung der neuen Technologie. Die Kommission hat daher in den Erwägungsgründen 243 und 321 des angefochtenen Beschlusses zu Recht festgestellt, dass die Wettbewerber dadurch, dass sie über den Zeitpunkt der Einführung der neuen Technologien und der dadurch verursachten zusätzlichen Kosten gesprochen hätten, Kenntnis vom geplanten Bruttopreisniveau und vom Zeitplan für die Bruttopreiserhöhung erlangt hätten. Daraus folgt, dass das oben in Rn. 292 dargelegte Vorbringen der Klägerinnen auf einem falschen Verständnis des angefochtenen Beschlusses beruht und ins Leere geht.
298 Was die Frage anlangt, ob der Informationsaustausch zwischen den Lkw-Herstellern, der es ihnen ermöglichte, das geplante Niveau der Bruttopreise ihrer Wettbewerber und den Zeitplan für die Bruttopreiserhöhung zu erfahren, eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellt, so ist diese nicht Gegenstand des Vorbringens der Klägerinnen im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes, das, wie bereits ausgeführt, auf einem falschen Verständnis beruht, wonach die Kommission diesen Herstellern vorwerfe, das Angebot der neuen Technologien zu behindern (vgl. Rn. 297 oben). Für alle Fälle ist darauf hinzuweisen, dass der Austausch von Informationen zwischen Wettbewerbern gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen kann, wenn er den Grad der Ungewissheit über das fragliche Marktgeschehen verringert oder beseitigt und dadurch zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führt (vgl. Rn. 270 oben). Insbesondere ist davon auszugehen, dass ein Informationsaustausch, der geeignet ist, die Unsicherheiten unter den Beteiligten hinsichtlich des Zeitpunkts, des Ausmaßes und der Modalitäten der von dem betreffenden Unternehmen vorzunehmenden Anpassung des Marktverhaltens auszuräumen, einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt (vgl. Urteil vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).
299 Im vorliegenden Fall ist angesichts der oben in Rn. 298 angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass ein Informationsaustausch zwischen den Wettbewerbern, der es ihnen ermöglicht, Informationen über das geplante Bruttopreisniveau und über den Zeitplan für die Bruttopreiserhöhung zu erlangen, wodurch die Ungewissheit über ihr künftiges Verhalten beseitigt wird, eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2013, Mamoli Robinetteria/Kommission, T‑376/10, EU:T:2013:442, Rn. 72).
300 Nach alledem ist der dritte Teil des vorliegenden Klagegrundes zurückzuweisen. Folglich ist dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
d)
Fünfter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission den Informationsaustausch auf deutscher Ebene als „bezweckte“ Zuwiderhandlung eingestuft habe
1) Vorbemerkungen
301 Die Klägerinnen tragen vor, die Kommission habe keine aussagekräftigen und übereinstimmenden Beweise beigebracht, die die These bestätigten, dass der Informationsaustausch auf deutscher Ebene eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs darstelle, um als „bezweckte“ Beschränkung im Sinne des Urteils vom 11. September 2014, CB/Kommission (C‑67/13 P, EU:C:2014:2204), eingestuft zu werden.
302 Die Klägerinnen tragen vor, dass eine Analyse des Inhalts, der Ziele und des wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmens der auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen zeige, dass die von der Kommission vorgenommene Bewertung [der Zuwiderhandlung] als „bezweckt“ mit einem Rechtsfehler oder einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet sei.
303 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
304 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 238. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erstens festgestellt hat, dass Scania mit den Vergleichsparteien Vereinbarungen über geplante Änderungen der Bruttopreise und Bruttopreislisten und über den Zeitplan für diese Änderungen und gelegentlich über die geplanten Änderungen der Nettopreise oder Kundenrabatte abgeschlossen und/oder sich mit ihnen abgestimmt habe, zweitens, dass Scania mit den Vergleichsparteien Vereinbarungen über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, abgeschlossen und/oder sich mit ihnen abgestimmt habe, und drittens, dass Scania und die Vergleichsparteien andere geschäftlich sensible Informationen, nämlich Informationen über Lieferfristen, Bestellungen und Lagerbestände, angestrebte Marktanteile, aktuelle Nettopreise und Rabatte, Bruttopreislisten (auch vor deren Inkrafttreten) und Lkw-Konfiguratoren ausgetauscht hätten.
305 Nach dem 212. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fanden die von der Kommission im 238. Erwägungsgrund dieses Beschlusses angeführten kollusiven Praktiken auf den drei oben in den Rn. 35 bis 38 beschriebenen Ebenen und insbesondere auf deutscher Ebene statt.
306 Die Kommission hat im 239. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass der im 238. Erwägungsgrund dargelegte Komplex von Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen die Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV bezweckt und es den Unternehmen ermöglicht habe, ihre Preisstrategie im Lichte der von den Wettbewerbern erhaltenen Informationen anzupassen.
307 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Kommission all diese kollusiven Verhaltensweisen als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung, die von 1997 bis 2011 gedauert habe, eingestuft hat. Nach Ansicht der Kommission verfolgten Scania und die Vergleichsparteien einen Gesamtplan mit dem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel der Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR. Dieses Ziel sei durch Praktiken erreicht worden, die den Grad der strategischen Ungewissheit zwischen den Wettbewerbern in Bezug auf die künftigen Preise und Bruttopreiserhöhungen, den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw verringert hätten (317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
308 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Kommission, auch wenn sie im vorliegenden Fall die kollusiven Kontakte auf deutscher Ebene nicht für sich genommen als Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV eingestuft hat, gleichwohl die Ansicht vertreten hat, dass diese Kontakte bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen darstellten und Teil einer Scania zurechenbaren einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung seien und zu deren Verwirklichung beitrügen. Im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes ist zu prüfen, ob die Beurteilung der Kommission zutrifft, wonach die kollusiven Kontakte auf deutscher Ebene eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellten.
309 Hierzu geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass bestimmte Arten der Koordination zwischen Unternehmen den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen, um davon ausgehen zu können, dass die Prüfung ihrer Wirkungen nicht notwendig ist (Urteile vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 49, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 113; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 14. März 2013, Allianz Hungária Biztosító u. a., C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 34).
310 Die Unterscheidung zwischen „bezweckten Verstößen“ und „bewirkten Verstößen“ liegt darin begründet, dass bestimmte Formen der Kollusion zwischen Unternehmen schon ihrer Natur nach als schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs angesehen werden können (Urteile vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 50, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 114; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 14. März 2013, Allianz Hungária Biztosító u. a.., C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 35).
311 So steht fest, dass bestimmte kollusive Verhaltensweisen, wie z. B. diejenigen, die zur horizontalen Festsetzung der Preise durch Kartelle führen, als derart geeignet angesehen werden können, negative Auswirkungen auf insbesondere den Preis, die Menge oder die Qualität der Waren und Dienstleistungen zu haben, dass für die Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV der Nachweis, dass sie konkrete Auswirkungen auf den Markt haben, als überflüssig erachtet werden kann. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass solche Verhaltensweisen Minderungen der Produktion und Preiserhöhungen nach sich ziehen, die zu einer schlechten Verteilung der Ressourcen zulasten insbesondere der Verbraucher führen (Urteile vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 51, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 115).
312 Lässt jedoch die Prüfung einer Art von Koordinierung zwischen Unternehmen keine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen, so sind ihre Auswirkungen zu untersuchen, und es müssen, damit sie vom Verbot erfasst wird, Merkmale vorliegen, aus denen sich insgesamt ergibt, dass der Wettbewerb tatsächlich spürbar verhindert, eingeschränkt oder verfälscht worden ist (Urteile vom 14. März 2013, Allianz Hungária Biztosító u. a., C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 34, vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 52, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 116).
313 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Prüfung der Frage, ob eine Vereinbarung zwischen Unternehmen oder ein Beschluss einer Unternehmensvereinigung eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen lässt, um als „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV aufgefasst zu werden, auf den Inhalt ihrer bzw. seiner Bestimmungen und die mit ihr bzw. ihm verfolgten Ziele sowie auf den wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang, in dem sie bzw. er steht, abzustellen. Im Rahmen der Beurteilung dieses Zusammenhangs sind auch die Art der betroffenen Waren und Dienstleistungen, die auf dem betreffenden Markt oder den betreffenden Märkten bestehenden tatsächlichen Bedingungen und die Struktur dieses Marktes oder dieser Märkte zu berücksichtigen (Urteile vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 53, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 117; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 14. März 2013, Allianz Hungária Biztosító u. a., C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 36).
314 Ferner ist es den Wettbewerbsbehörden und den Gerichten der Mitgliedstaaten und der Union nicht verwehrt, die Absicht der Beteiligten zu berücksichtigen, auch wenn sie kein notwendiges Element ist, um festzustellen, ob eine Vereinbarung zwischen Unternehmen wettbewerbsbeschränkenden Charakter hat (Urteile vom 14. März 2013, Allianz Hungária Biztosító u. a., C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 37; vom 11. September 2014, CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 54, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 118).
315 Was insbesondere den Austausch von Informationen zwischen Wettbewerbern betrifft, sind die Kriterien der Koordinierung und der Zusammenarbeit, die Voraussetzungen für aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sind, im Sinne des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des EG-Vertrags zu verstehen, wonach jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Binnenmarkt betreiben will (Urteile vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 32, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 119).
316 Zwar nimmt dieses Selbständigkeitspostulat den Wirtschaftsteilnehmern nicht das Recht, sich dem festgestellten oder erwarteten Verhalten ihrer Mitbewerber mit wachem Sinn anzupassen; es steht jedoch streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die geeignet ist, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potenziellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Verhalten ins Bild zu setzen, das man selbst auf dem betreffenden Markt an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht, wenn diese Kontakte bezwecken oder bewirken, dass Wettbewerbsbedingungen entstehen, die im Hinblick auf die Art der Waren oder erbrachten Dienstleistungen, die Bedeutung und Zahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Bedingungen dieses Marktes entsprechen (Urteile vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 33, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 120).
317 So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Austausch von Informationen zwischen Wettbewerbern gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen kann, wenn er den Grad der Ungewissheit über das fragliche Marktgeschehen verringert oder beseitigt und dadurch zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führt (Urteile vom 2. Oktober 2003,Thyssen Stahl/Kommission, C‑194/99 P, EU:C:2003:527, Rn. 81, vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 35, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 121).
318 Insbesondere ist davon auszugehen, dass ein Informationsaustausch, der geeignet ist, die Unsicherheiten unter den Beteiligten hinsichtlich des Zeitpunkts, des Ausmaßes und der Modalitäten der von dem betreffenden Unternehmen vorzunehmenden Anpassung des Marktverhaltens auszuräumen, einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt (Urteil vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 122; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 41).
319 Im Übrigen kann eine abgestimmte Verhaltensweise, auch wenn sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Verbraucherpreisen steht, als Verhaltensweise angesehen werden, die einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt. Der Wortlaut von Art. 101 Abs. 1 AEUV lässt nämlich nicht den Schluss zu, dass nur abgestimmte Verhaltensweisen verboten wären, die sich unmittelbar auf die von den Endverbrauchern zu zahlenden Preise auswirken (Urteil vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 123; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 36).
320 Aus Art. 101 Abs. 1 Buchst. a AEUV geht im Gegenteil hervor, dass aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die in der „unmittelbare[n] oder mittelbare[n] Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen“ bestehen, geeignet sind, einen wettbewerbswidrigen Zweck zu verfolgen (Urteile vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 37, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 124).
321 Jedenfalls ist Art. 101 AEUV, wie auch die übrigen Wettbewerbsregeln des Vertrags, nicht nur dazu bestimmt, die unmittelbaren Interessen einzelner Wettbewerber oder Verbraucher zu schützen, sondern auch die Struktur des Marktes und damit den Wettbewerb als solchen. Die Feststellung, dass mit einer abgestimmten Verhaltensweise ein wettbewerbswidriger Zweck verfolgt wird, setzt daher nicht voraus, dass ein unmittelbarer Zusammenhang mit den Verbraucherpreisen festgestellt wird (Urteile vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 38 und 39, sowie vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 125).
322 Schließlich ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 101 Abs. 1 AEUV, dass der Begriff der abgestimmten Verhaltensweise über die Abstimmung zwischen den Unternehmen hinaus ein dieser entsprechendes Marktverhalten und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden voraussetzt (Urteile vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 51, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 126).
323 Insoweit ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass vorbehaltlich des den betroffenen Unternehmen obliegenden Gegenbeweises die Vermutung gilt, dass die an der Abstimmung beteiligten und weiterhin auf dem Markt tätigen Unternehmen die mit ihren Wettbewerbern ausgetauschten Informationen bei der Festlegung ihres Marktverhaltens berücksichtigen. Insbesondere hat der Gerichtshof entschieden, dass eine abgestimmte Verhaltensweise selbst dann unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, wenn auf diesem Markt keine wettbewerbswidrigen Wirkungen eintreten (Urteile vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 51, und vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 127).
2) Inhalt der ausgetauschten Informationen
i) Zu den in Erwägungsgrund 238 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses genannten geplanten Änderungen der Bruttopreise und Bruttopreislisten und zum Zeitplan dieser Änderungen
324 Die Klägerinnen machen geltend, die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreise seien nicht geeignet gewesen, die „strategische“ Ungewissheit zwischen den Wettbewerbern zu verringern.
325 Insoweit machen die Klägerinnen erstens geltend, die auf deutscher Ebene ausgetauschten Preisinformationen hätten die geltenden Preise, die von den Vertreibern gegenüber den Händlern in Deutschland angewandt worden seien, und keine zukünftigen Preise oder Preisabsichten betroffen. Die Klägerinnen tragen zweitens vor, der Austausch auf deutscher Ebene habe Preise betroffen, die bereits öffentlich bekannt gewesen seien, und machen drittens geltend, die ausgetauschten Bruttopreise hätten keine Aussagekraft in Bezug auf die dem Endverbraucher tatsächlich in Rechnung gestellten Preise gehabt.
– Vorbringen der Klägerinnen zur Frage, ob sich die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen auf die Gegenwart oder auf die Zukunft bezogen haben
326 Im 240. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission festgestellt, dass die Wettbewerber untereinander mehrere Faktoren in Bezug auf die künftige Preisgestaltung und die künftige Entwicklung der Bruttopreise erörtert hätten.
327 Die Klägerinnen wenden sich gegen die Schlussfolgerung der Kommission im angefochtenen Beschluss, wonach die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreise künftige Bruttopreise und Preisabsichten betroffen hätten. Sie machen im Wesentlichen geltend, der Austausch dieser Informationen habe geltende Bruttopreise betroffen und sei daher nicht von so großer strategischer Bedeutung gewesen, dass er als „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung eingestuft werden könne. Bei den ausgetauschten Bruttopreisen habe es sich um geltende (aktuelle) Preise gehandelt, da sie vor dem Austausch bereits an die Händlernetze weitergegeben worden seien oder bereits auf Lieferungen oder Bestellungen von Kunden angewandt worden seien.
328 Insoweit ist festzustellen, dass die Akte zahlreiche Beweise enthält, die belegen, dass die Gespräche auf deutscher Ebene über die Erhöhungen der Bruttopreise eindeutig zukunftsbezogen waren und darauf abzielten, die Unsicherheiten hinsichtlich der künftigen Preispolitik der Wettbewerber zu beseitigen. Gegenstand des im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Informationsaustauschs vom 2. bis 8. Dezember 2004 waren die für das Jahr 2005 geplanten Preiserhöhungen, Gegenstand des im 149. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Informationsaustauschs vom 12. September 2005 waren die für das Jahr 2006 geplanten Preiserhöhungen, Gegenstand des im 158. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Informationsaustauschs im Juni und Juli 2007 waren die für das Jahr 2008 geplanten Preiserhöhungen, Gegenstand des im 166. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Informationsaustauschs vom12. und 13. März 2008 waren die für die Jahre 2008 und 2009 geplanten Preiserhöhungen, Gegenstand des im 179. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Informationsaustauschs vom Juli 2009 waren die für das Jahr 2010 geplanten Preiserhöhungen, und die im 190. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebene E‑Mail vom 14. Oktober 2010 belegt einen Informationsaustausch über die Preiserhöhungen im Jahr 2011. An all diesen Gesprächen nahmen Mitarbeiter von Scania DE teil.
329 Im Übrigen geht aus der Akte hervor, dass sowohl Scania als auch die anderen Wettbewerber einander gegenseitig die von ihnen geplanten Preiserhöhungen mitteilten, nachdem sie von einem der Wettbewerber dazu aufgefordert wurden. So ersuchte ein Mitarbeiter von [vertraulich] auf deutscher Ebene in einer im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebenen E‑Mail vom 2. Dezember 2004 Wettbewerber um Informationen über die für das Jahr 2005 geplanten Preiserhöhungen. Er schrieb: „Preiserhöhungen 2005: Wie jedes Jahr will der Chef wissen, ob und wann Sie im nächsten Jahr Ihre Preise erhöhen werden.“ Er fügte hinzu: „Aus diesem Grund ersuche ich Sie, diese Informationen an alle weiterzugeben, damit wir nicht mit einzelnen Anfragen Zeit verlieren.“ Ebenso heißt es in der im 179. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten E‑Mail vom 20. Juli 2009 in Bezug auf ein Auskunftsverlangen u. a. über Preiserhöhungen im Jahr 2010: „[W]ie jedes Jahr muss intern die Vorausplanung vorgenommen werden und [sind] damit verbundene Fragen [zu behandeln].“
330 Die Klägerinnen bestreiten, dass sich der Austausch über die Bruttopreise auf die Zukunft bezog und machen geltend, die auf deutscher Ebene ausgetauschten Preisinformationen hätten die Bruttopreislisten für den Verkauf vom Verteiler an den Händler betroffen, die den Händlern bereits übermittelt worden seien und bereits als Grundlage für die Bestellungen der Endkunden gedient hätten. Zur Stützung dieses Vorbringens berufen sich die Klägerinnen auf zwei von einer Wirtschaftsberatungsgesellschaft erstellte Berichte, wobei der erste vom 20. September 2016 der Kommission im Verwaltungsverfahren vorgelegt wurde (im Folgenden: Wirtschaftsbericht vom 20. September 2016) und der zweite vom 9. Dezember 2017 erstmals dem Gericht vorgelegt wurde (im Folgenden: Wirtschaftsbericht vom 9. Dezember 2017). In diesen Berichten wird der Informationsaustausch zwischen den Wettbewerbern untersucht, an dem Scania DE teilgenommen hat (und der in der Mitteilung der Beschwerdepunkte und im angefochtenen Beschluss erwähnt ist), und unter Bezugnahme auf von Scania gelieferte Daten angeblich nachgewiesen, dass es bei jedem dieser Treffen um Bruttopreislisten ging, die vor ihrer Übermittlung an die Wettbewerber von Scania DE bereits den Händlern von Scania in Deutschland mitgeteilt worden waren oder als Referenz für die Bestellungen der Endverbraucher gedient hatten.
331 Dieses Vorbringen der Klägerinnen überzeugt das Gericht nicht.
332 Unabhängig von der Verlässlichkeit und Genauigkeit der Daten, die in den beiden oben in Rn. 330 angeführten Berichten verwendet wurden, die von den Klägerinnen zu ihrer Verteidigung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens und vor dem Gericht in Auftrag gegeben worden waren, ist festzustellen, dass sich aus dem im angefochtenen Beschluss mehrmals dargestellten Informationsaustausch ergibt, dass die bei diesem Austausch besprochenen Preiserhöhungen auf die nach diesem Austausch vorgenommenen Bestellungen angewandt wurden. Folglich ist auch unter Zugrundelegung der von den Klägerinnen herangezogenen Analyse erwiesen, dass die ausgetauschten Informationen zukunftsbezogen waren. Insoweit verweist das Gericht beispielsweise auf den Informationsaustausch auf deutscher Ebene, der in den Erwägungsgründen 140, 149, 166, 171 und 190 des angefochtenen Beschlusses dargestellt wird. So teilte [vertraulich] bei dem im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten Treffen seinen Wettbewerbern mit, dass die Preislisten für die Fahrzeuge und die Optionen für Bestellungen nach dem 1. April 2005 um 3 % erhöht würden; im Rahmen einer Präsentation von [vertraulich] bei einem im 166. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten Treffen der Wettbewerber auf deutscher Ebene am 12. und 13. März 2008 setzte [vertraulich] seine Wettbewerber über die Erhöhung der Preise bestimmter Lkw-Modelle in Kenntnis, die auf Bestellungen ab April 2008, Oktober 2008 und April 2009 anwendbar seien; in der im 171. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten E‑Mail vom 7. November 2008 werden die Wettbewerber über die von [vertraulich] vorgenommenen Preiserhöhungen für Bestellungen ab April 2009 und über die von [vertraulich] vorgenommenen Preiserhöhungen für Bestellungen ab Februar 2009 in Kenntnis gesetzt.
333 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass auch dann, wenn die Lkw-Hersteller vor dem Austausch der Informationen über die Bruttopreiserhöhungen auf deutscher Ebene ihre Absicht, die Bruttopreise zu erhöhen, „intern“, d. h. mit ihren Händlern, besprochen haben sollten, und selbst wenn sie bereits Aufträge auf der Grundlage dieser Bruttopreise erhalten haben sollten, dies nicht bedeutet, dass die ausgetauschten Informationen für ihre Wettbewerber nicht nützlich waren, da diese Informationen nicht öffentlich waren und die künftige Preisstrategie der Lkw-Hersteller, die die Informationen lieferten, offenlegten.
334 Um ihre Behauptung zu untermauern, dass der Informationsaustausch zwischen den Herstellern auf deutscher Ebene die geltenden Bruttopreise betroffen habe und nicht die künftigen Preise, machen die Klägerinnen auch geltend, Scania DE habe ihre Preise nach den Informationen (über die Preise), die sie von ihren Wettbewerbern habe erhalten können, nicht geändert. Zur Stützung dieser Behauptung haben sich die Klägerinnen den Wirtschaftsbericht vom 9. Dezember 2017 gestützt, der angeblich zeige, dass auf der Grundlage der Preislisten erhebliche Umsätze erzielt worden seien, nachdem Scania DE sie den anderen Teilnehmern auf deutscher Ebene übermittelt habe.
335 Diesem Vorbringen, das im Licht der oben in den Rn. 322 und 323 dargelegten Grundsätze zu erörtern ist, kann auch nicht gefolgt werden, da es in keiner Weise belegt, dass Scania die im Rahmen des Austausches auf deutscher Ebene erhaltenen Informationen nicht berücksichtigt hat, um ihre Preisstrategie zu bestimmen. Der Umstand, dass Scania an dem Austausch mit ihren Wettbewerbern 14 Jahre lang und regelmäßig teilgenommen hat, zeigt den strategischen Wert, den diese Informationen für Scania hatten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 51).
336 Um zu bestreiten, dass die auf deutscher Ebene ausgetauschten [Informationen über die] Bruttopreise zukunftsbezogen waren, tragen die Klägerinnen zwei Argumente vor. Zum einen nehmen sie auf die in der Akte enthaltenen Erklärungen anderer Lkw-Hersteller Bezug, die bestätigen sollen, dass es beim Informationsaustausch auf deutscher Ebene nicht um zukünftige Preisgestaltungsabsichten gegangen sei. Zum anderen machen sie geltend, die an dem Austausch auf deutscher Ebene beteiligten Mitarbeiter von Scania DE hätten nicht die Aufgabe gehabt, die Preise festzusetzen, und sie seien überzeugt gewesen, dass „zukunftsbezogene“ Informationen über Preise nicht in ihrem Kontaktnetz ausgetauscht würden. Die Mitarbeiter von Scania DE hätten bestätigt, dass die den Mitarbeitern anderer Hersteller übermittelten Informationen stets bereits im Händlernetz von Scania weit verbreitet gewesen seien, und angenommen, dass die von den anderen Herstellern gelieferten Preisinformationen „aktuelle“ und nicht zukünftige Preise beträfen.
337 Dem oben in Rn. 336 dargelegten Vorbringen der Klägerinnen kann auch nicht gefolgt werden.
338 Zunächst haben die Lkw-Hersteller in den von den Klägerinnen ins Treffen geführten Erklärungen im Wesentlichen angegeben, dass die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreise den Händlern bereits (d. h. vor dem Austausch) mitgeteilt worden seien und daher nach Ansicht dieser Hersteller öffentlich seien. Die Frage, ob die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen „öffentlich“ waren, wird unten in den Rn. 342 bis 350 behandelt. In diesem Stadium der Prüfung ist anzumerken, dass die Akte Beweise enthält, die zeigen, dass der Austausch auf deutscher Ebene insbesondere künftige Bruttopreiserhöhungen zum Gegenstand hatte, und das wird auch durch die Erklärungen der Hersteller selbst belegt. Wie die Kommission in den Erwägungsgründen 89 und 91 des angefochtenen Beschlusses ausführt, hat die Mehrheit der Hersteller bestätigt, dass zu den Gesprächsthemen auf deutscher Ebene die zukünftigen Bruttopreiserhöhungen gehörten und dass dieser Austausch systematisch und regelmäßig erfolgte.
339 Sodann beruhen die Erklärungen der Mitarbeiter von Scania DE auf der falschen Prämisse, dass es sich bei den auf deutscher Ebene ausgetauschten [Informationen über] Bruttopreise um „aktuelle“ Preise gehandelt habe, da sie bereits den Händlernetzen mitgeteilt worden seien. Was die Wahrnehmung des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene durch die Mitarbeiter von Scania DE anlangt, so ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass es nach der Rechtsprechung keiner Kenntnis der Mitarbeiter des betreffenden Unternehmens von der Zuwiderhandlung bedarf, um einem Unternehmen eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV zurechnen zu können, sondern dass die Handlung einer Person genügt, die berechtigt ist, für das Unternehmen tätig zu werden (vgl. Urteil vom 14. März 2013, Dole Food und Dole Germany/Kommission, T‑588/08, EU:T:2013:130, Rn. 581 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall bestreiten die Klägerinnen, wie die Kommission ausführt, nicht, dass die am Informationsaustausch beteiligten Mitarbeiter von Scania DE hierzu berechtigt waren. Daher ist das Vorbringen der Klägerinnen, das sich auf die genannte Wahrnehmung der Mitarbeiter von Scania DE und ihre Verantwortung für die Preisfestsetzung stützt, nicht stichhaltig und zurückzuweisen.
340 Schließlich ist die Rüge der Klägerinnen zurückzuweisen, wonach die Kommission den oben in Rn. 330 genannten Wirtschaftsbericht vom 20. September 2016 nicht beachtet habe. Aus der Akte geht die Stichhaltigkeit dieser Rüge nicht hervor, und aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass dieser Bericht von begrenztem Nutzen war, da damit eine falsche Annahme untermauert werden sollte, und zwar, dass die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen „aktuell“ gewesen seien, da sie bereits den Händlernetzen übermittelt worden seien.
341 Nach alledem ist das gesamte Vorbringen der Klägerinnen zur Frage, ob die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen „gegenwartsbezogen“ waren, zurückzuweisen.
– Vorbringen der Klägerinnen zur Frage, ob die auf deutscher Ebene ausgetauschten Bruttopreise öffentlich bekannt waren
342 Die Klägerinnen machen geltend, die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreise seien angesichts des recht langen Zeitraums zwischen der Bestellung eines Lkw und seiner Lieferung von den Lkw-Herstellern bereits an ihre Händlernetze übermittelt und bereits bei den Verhandlungen zwischen den Händlern und den Kunden angesprochen wurden, so dass die öffentlich zugänglich gewesen seien. Daher hätten diese Informationen keinen strategischen Wert für die Wettbewerber gehabt. Die Klägerinnen machen geltend, ihre Analyse werde in gewissem Umfang durch Fn. 4 zu Rn. 74 der Leitlinien der Kommission zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit (ABl. 2011, C 11, S. 1) untermauert.
343 Dieses Vorbringen der Klägerinnen überzeugt das Gericht nicht.
344 Erstens ist allgemein festzustellen, dass der Informationsaustausch über Preise auf deutscher Ebene über mehrere Jahre hinweg häufig stattfand. Aus der Akte ergibt sich auch, dass dieser Austausch strukturiert und gut organisiert war und dass die Teilnehmer oft aufgefordert wurden, eine Excel-Tabelle mit Informationen auszufüllen, die u. a. die geplanten Erhöhungen der Bruttopreise betrafen, und das Gericht verweist insoweit beispielsweise auf die Erwägungsgründe 150, 166, 171, 172, 175, 179 und 188 des angefochtenen Beschlusses sowie auf die Erklärungen einiger Hersteller im Verwaltungsverfahren, die im 91. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegt sind. Angesichts dessen ist die Annahme, dass der Austausch auf deutscher Ebene für die Wettbewerber keinen Wert für die Planung ihrer Preisstrategie gehabt habe, nicht plausibel.
345 Zweitens weisen die Klägerinnen nicht nach, dass die Lkw-Hersteller die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen anders als über unmittelbare Kontakte zwischen den Wettbewerbern erlangen konnten, und räumen ein, dass sie nicht in der Lage sind, Beispiele für die Ankündigung von Preiserhöhungen durch eine allgemein zugängliche Quelle zu liefern. Die Klägerinnen bestreiten auch nicht die in den Erwägungsgründen 269 und 270 des angefochtenen Beschlusses angeführten Erklärungen einiger Wettbewerber im Verwaltungsverfahren, wonach die Bruttopreise und die Absichten, die Bruttopreise zu erhöhen, die Gegenstand des Austausches auf deutscher Ebene gewesen seien, im Allgemeinen nicht öffentlich zugänglich gewesen seien und nur teilweise aus öffentlich zugänglichen Quellen hätten erschlossen werden können, und dass die Informationen über die Bruttopreise, die öffentlich zugänglich gewesen seien, nicht so detailliert und genau gewesen seien wie die unmittelbar von den Wettbewerbern erhaltenen.
346 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen nicht nachweisen, dass die von den Händlern und Endkunden eines Lkw-Herstellers erlangten Informationen über künftige Bruttopreiserhöhungen andere Lkw-Hersteller auf einfache, direkte und systematische Weise erreichen. Insoweit hat ein Lkw-Hersteller im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass die Kunden im Allgemeinen die Informationen über geplante Bruttopreiserhöhungen der Wettbewerber im Rahmen ihrer Verhandlungen mit den Händlern nicht teilten, da diese Informationen ihre Verhandlungsposition gegenüber diesen Händlern nicht stärkten (vgl. 279. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
347 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Informationen über Erhöhungen der Bruttopreise durch ihre Weitergabe an die Händlernetze nicht „öffentlich zugänglich“ wurden, wobei öffentlich zugängliche Informationen offenkundige objektive Marktgegebenheiten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2008, BPB/Kommission, T‑53/03, EU:T:2008:254, Rn. 236).
348 Daraus ergibt sich auch, dass der Austausch auf deutscher Ebene über die auf die Bruttopreislisten anwendbaren Erhöhungen das einzige Mittel war, das es den Wettbewerbern ermöglichte, diese Informationen einfach, schnell und genau zu erhalten und ein Klima der gegenseitigen Gewissheit hinsichtlich ihrer künftigen Preispolitik zu schaffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2008, BPB/Kommission, T‑53/03, EU:T:2008:254, Rn. 236).
349 Daher ist die von der Kommission im angefochtenen Beschluss gezogene Schlussfolgerung zu bestätigen, dass die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen nicht öffentlich zugänglich waren (vgl. insbesondere 242. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Diese Schlussfolgerung der Kommission steht entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen (vgl. Rn. 342 oben) auch im Einklang mit den Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit. In Ziff. 74 dieser Leitlinien führt die Kommission aus, dass der Austausch unternehmensspezifischer Daten über geplantes künftiges Preis- oder Mengenverhalten unter Wettbewerbern als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung betrachtet werden sollte. Die Kommission stellt zwar in Fn. 4 zu dieser Rn. 74 klar, dass in besonderen Fällen, wenn Unternehmen sich verpflichten, ihr Angebot künftig zu Preisen zu verkaufen, die sie vorab öffentlich bekannt gemacht haben (und folglich nicht mehr ändern können), solche öffentlichen Bekanntmachungen künftiger individueller Preise oder Mengen nicht als Absichten und somit normalerweise nicht als geeignet angesehen würden, Wettbewerbsbeschränkungen zu bezwecken. Der Inhalt dieser Fußnote ist jedoch im vorliegenden Fall nicht relevant, da die Lkw-Hersteller, einschließlich Scania, die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Preise nicht öffentlich bekannt gemacht, sondern nur ihren Händlernetzen übermittelt haben.
350 Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen ist das Vorbringen der Klägerinnen zur Frage, ob die auf deutscher Ebene ausgetauschten Preisinformationen öffentlich zugänglich waren, zurückzuweisen.
– Vorbringen der Klägerinnen zum fehlenden Informationswert der auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreise für die bei den Geschäften auf dem Markt tatsächlich angewandten Preise
351 Die Klägerinnen machen geltend, die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreise gäben keinen Aufschluss über das künftige Preisverhalten der Wettbewerber. Sie erklären, die Bruttopreise und die Bruttopreislisten hätten entgegen der Beurteilung der Kommission im angefochtenen Beschluss aufgrund der Komplexität und der Anzahl der Faktoren bei der Preisgestaltung für Lkw keinen Informationswert für die bei den Geschäften auf dem Markt tatsächlich angewandten Preise.
352 Dieses Vorbringen der Klägerinnen wird im Rahmen ihrer Argumentation zum wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene wiederholt und näher ausgeführt. Daher wird es im Rahmen der Beurteilung dieser Argumentation erörtert werden.
ii) Zu den in Erwägungsgrund 238 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses genannten geplanten Änderungen der Nettopreise und Kundenrabatte
353 Die Kommission hat in Erwägungsgrund 238 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass Scania und die Vergleichsparteien gelegentlich Informationen zu geplanten Änderungen der Nettopreise und Änderungen der Kundenrabatte ausgetauscht hätten. Aus Erwägungsgrund 212 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses geht hervor, dass ein solcher Austausch mehrmals auf deutscher Ebene stattgefunden habe.
354 Die Klägerinnen bestreiten, dass ein solcher Austausch stattgefunden habe und machen geltend, die von der Kommission ins Treffen geführten schriftlichen Beweise seien kein Beleg dafür.
355 Aus der Akte ergibt sich, dass die Kommission in rechtlich hinreichender Weise das Vorliegen der oben in Rn. 353 genannten Praktiken nachgewiesen hat.
356 Der Informationsaustausch über Rabatte wird durch die handschriftlichen Notizen eines Mitarbeiters von [vertraulich] über ein Treffen von Wettbewerbern am 3. und 4. Mai 2004 in den Räumlichkeiten von Scania DE belegt, die im 134. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt werden. In diesen Notizen heißt es: „Durchschnitt der Preise +5, 6, 7,5 %! Keine Änderung der Bruttopreise, gleich bleibende Rabatte.“ Im Übrigen geht aus den im 156. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweisen hervor, dass am 7. September 2006 ein Mitarbeiter von [vertraulich] Mitarbeiter der anderen Wettbewerber auf deutscher Ebene, darunter einen Mitarbeiter von Scania DE, über eine von [vertraulich] vorgenommene Bruttopreiserhöhung in Kenntnis gesetzt und ausgeführt hat, dass „es … eine Preiserhöhung (nur [vertraulich]) ab 1. Oktober geben [wird]: 2 % für alle [vertraulich]-Modelle“ und dass „die Bruttopreislisten … nicht geändert [werden], sehr wohl aber der Verkäuferrabatt“. Ebenso geht aus dem im 158. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis hervor, dass am 10. Juli 2007 ein Mitarbeiter von [vertraulich] in Beantwortung eines Auskunftsverlangens eines Mitarbeiters von [vertraulich], das an Mitarbeiter der Wettbewerber auf deutscher Ebene gerichtet war, eine von [vertraulich] vorgenommene Änderung der Rabatte mitteilte. Mitarbeiter von Scania DE nahmen an dem oben genannten Informationsaustausch teil.
357 Was den Informationsaustausch über die Nettopreise betrifft, geht aus dem im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis hervor, dass [vertraulich] in Beantwortung eines Auskunftsverlangens eines Mitarbeiters von [vertraulich] vom 2. Dezember 2004 betreffend die geplanten Preiserhöhungen für das Jahr 2005 seine Wettbewerber u. a. darüber informiert hat, dass die Nettopreise ab 1. Januar 2005 für Optionen und ab 1. Februar 2005 für alle Serien um 1 % steigen würden. [vertraulich] führte weiter aus, die Preiserhöhung werde durch den Abbau von Rabatten erfolgen. Ebenso geht aus dem im 149. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis hervor, dass [vertraulich] im Rahmen eines Treffens von Wettbewerbern am 12. September 2005 auf deutscher Ebene, an dem Scania teilgenommen hatte, seine Wettbewerber über eine Preiserhöhung von 8 bis 10 % für das Lkw-Modell [vertraulich] informierte. Im Übrigen geht aus dem im 179. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis hervor, dass [vertraulich] in Beantwortung eines Auskunftsverlangens vom 20. Juli 2009 eines Mitarbeiters von [vertraulich] betreffend u. a. Preiserhöhungen für das Jahr 2010 seine Wettbewerber über eine Erhöhung der Nettopreise um 1,5 % für Bestellungen ab Oktober 2009 informierte. Der Austausch von Informationen über Nettopreise geht auch aus dem in den Erwägungsgründen 184 und 188 des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis hervor. Mitarbeiter von Scania DE nahmen an dem oben genannten Informationsaustausch teil.
358 Hinsichtlich des oben in den Rn. 356 und 357 genannten wiederholten Austauschs (beispielsweise des in den Erwägungsgründen 140, 149, 156 und 158 des angefochtenen Beschlusses genannten Austauschs), machen die Klägerinnen unter Bezugnahme auf die oben in den Rn. 327 und 342 angeführte Argumentation den Umstand geltend, dass die ausgetauschten Informationen „gegenwartsbezogene“ (und keine zukunftsbezogenen) Informationen gewesen seien, die öffentlich zugänglich gewesen seien. Da diese Argumentation vom Gericht bereits zurückgewiesen worden ist, stellt das Vorbringen der Klägerinnen die oben in Rn. 355 dargestellte Schlussfolgerung nicht in Frage.
iii) Zu der in Rn. 238 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses genannten Weitergabe der Kosten der Einführung der Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben waren
359 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in Erwägungsgrund 238 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass Scania und die Vergleichsparteien Vereinbarungen über die Weitergabe der Kosten der Einführung der Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, geschlossen und/oder sich abgestimmt hätten. Aus Erwägungsgrund 212 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses geht hervor, dass nach Ansicht der Kommission mehrere dieser kollusiven Praktiken auf deutscher Ebene stattfanden.
360 Die Klägerinnen bestreiten, sich auf deutscher Ebene hinsichtlich der Weitergabe der mit der Einführung der Abgastechnologien verbundenen Kosten (Bruttopreiserhöhung) abgestimmt zu haben. Während sie im Übrigen nicht in Frage stellen, dass auf deutscher Ebene Preisinformationen ausgetauscht worden seien, bestreiten sie, dass es sich bei den Preisen im Zusammenhang mit der Einführung der Technologien, um die es bei dem Informationsaustausch gegangen sei, um künftige oder geplante Preise gehandelt habe.
361 Aus der Akte geht hervor, dass die Kommission das Vorliegen der oben in Rn. 359 genannten kollusiven Praktiken und die Teilnahme von Scania an diesen Praktiken rechtlich hinreichend nachgewiesen hat.
362 Beispielsweise geht aus den im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweisen hervor, dass [vertraulich] im Rahmen eines Informationsaustauschs auf deutscher Ebene, der vom 2. bis 8. Dezember 2004 stattfand und an dem ein Mitarbeiter von Scana DE teilnahm, seine Wettbewerber über seine Absicht in Kenntnis setzte, die Preise für die neuen, der Euro-4-Norm entsprechenden Modelle um 5410 Euro zu erhöhen. Desgleichen geht aus den im 141. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweisen hervor, dass in Beantwortung einer an die Wettbewerber gerichteten E‑Mail von B, einem Mitarbeiter von Scania DE, in der um Informationen über Preise und Lieferzeitpunkte von Motoren, die den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprachen, gebeten worden war, J von der deutschen Tochtergesellschaft [vertraulich] antwortete, dass dieser Hersteller ab April oder Mai 2005 diesen Normen entsprechende Lkw liefern werde und dass die Mehrpreise für die den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprechenden Motoren jeweils 11500 und 14800 Euro betragen würden. Im Übrigen geht aus den im 149. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweisen hervor, dass bei einem Treffen der Wettbewerber auf deutscher Ebene am 12. September 2005 ein Informationsaustausch über die Preise stattfand. Zu den Diskussionsthemen gehörten die für das Jahr 2006 geplanten Preiserhöhungen. I von Scania DE war bei dem Treffen anwesend. Aus den handschriftlichen Notizen eines Teilnehmers des Treffens geht hervor, dass [vertraulich] seine Wettbewerber über die Zuschläge in Kenntnis setzte, die dieser Hersteller aufgrund der Einführung der den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprechenden Technologien anwenden würde. Aus den Beweisen in der Akte ergibt sich auch, dass I von Scania DE bei dem oben genannten Treffen vom 12. September 2005 detaillierte Ausführungen über die von Scania angewandten Preiserhöhungen aufgrund der Einführung der den Euro-4- und Euro-5-Normen entsprechenden Technologien machte. Aus den im 166. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweisen, die ein Treffen der Wettbewerber auf deutscher Ebene am 12. und 13. März 2008 betreffen, geht auch hervor, dass ein Informationsaustausch über geplante Preiserhöhungen stattfand. In einer Präsentation von [vertraulich] war von einer Erhöhung um 2350 Euro für der Euro-5-Norm entsprechende Motoren ab Mai 2008 die Rede.
363 Hinsichtlich des oben in Rn. 362 genannten wiederholten Austauschs (des in den Erwägungsgründen 141, 149 und 166 des angefochtenen Beschlusses genannten Austauschs) machen die Klägerinnen unter Bezugnahme auf die oben in den Rn. 327 und 342 angeführte Argumentation geltend, dass die ausgetauschten Informationen gegenwartsbezogen und nicht zukunftsbezogen gewesen seien und dass sie öffentlich zugänglich gewesen seien. Da diese Argumentation vom Gericht bereits zurückgewiesen worden ist, stellt das Vorbringen der Klägerinnen die oben in Rn. 361 dargestellte Schlussfolgerung nicht in Frage.
iv) Zum Austausch anderer geschäftlich sensibler Informationen, um den es in Erwägungsgrund 238 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses geht
364 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in Erwägungsgrund 238 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass Scania und die Vergleichsparteien andere geschäftlich sensible Informationen, nämlich Informationen über Lieferfristen, Bestellungen und Lagerbestände, angestrebte Marktanteile, aktuelle Nettopreise und Rabatte, Bruttopreislisten (auch vor deren Inkrafttreten) und Lkw-Konfiguratoren ausgetauscht hätten.
365 Die Klägerinnen machen insbesondere geltend, die „anderen geschäftlich sensiblen Informationen“, die manchmal auf deutscher Ebene ausgetauscht worden seien, seien technischer Natur gewesen und hätten die strategische Ungewissheit zwischen den Teilnehmern hinsichtlich ihres Marktverhaltens nicht beseitigen können. Nach Ansicht der Klägerinnen konnten diese Informationen für sich betrachtet oder in Verbindung mit den anderen im 238. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten Informationen nicht als Teil einer „bezweckten“ Zuwiderhandlung angesehen werden.
366 Insoweit ist anzumerken, dass sich aus dem 237. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, dass der oben in Rn. 364 beschriebene Austausch von geschäftlich sensiblen Informationen nach Ansicht der Kommission eines der Mittel darstellte, die von den Wettbewerbern zur Koordinierung der Preise und Bruttopreiserhöhungen eingesetzt worden seien, wobei es sich bei den anderen Mitteln um kollusive Kontakte in Bezug auf die Preisgestaltung, den Zeitplan und die zusätzlichen Kosten aufgrund der Markteinführung neuer, den Abgasnormen entsprechender Lkw-Modelle gehandelt habe (in Erwägungsgrund 238 Buchst. a und b des angefochtenen Beschlusses genannt).
367 Ferner geht aus dem 317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass nach Ansicht der Kommission der oben in Rn. 364 genannte Austausch geschäftlich sensibler Informationen eines der Mittel darstellte, die von den Wettbewerbern zur Verringerung der zwischen ihnen bestehenden strategischen Ungewissheit in Bezug auf die künftigen Preise, die Bruttopreiserhöhungen, den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modellen eingesetzt worden seien.
368 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass Art. 1 des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses nicht auf den in Erwägungsgrund 238 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses genannten Austausch von „anderen geschäftlich sensiblen Informationen“ Bezug nimmt.
369 Im Übrigen hat die Kommission in der Klagebeantwortung ausgeführt, dass die Bezugnahme auf „andere geschäftlich sensible Informationen“ ein Beispiel dafür gebe, wie die Kartellmitglieder ihre Abstimmung über die künftigen Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie über den Zeitplan für die Einführung der Technologien und die Weitergabe der damit verbundenen Kosten durchgeführt hätten, und dass diese Bezugnahme die Tragweite der Zuwiderhandlung nicht vergrößere.
370 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Prüfung der Stichhaltigkeit der Beurteilungen der Kommission betreffend den Austausch der „anderen geschäftlich sensiblen Informationen“ überflüssig wird, wenn es der Kommission gelingt, das Vorliegen der anderen kollusiven Praktiken, die in Erwägungsgrund 238 Buchst. a und b und in Erwägungsgrund 317 Buchst. a und b des angefochtenen Beschlusses bezeichnet werden, und die „bezweckte“ Beschränkung des Wettbewerbs aufgrund dieser Praktiken nachzuweisen. Das Gericht entscheidet über diese Frage unten in Rn. 394.
371 Insoweit berücksichtigt das Gericht auch den Umstand, dass die Schlussfolgerungen der Kommission über den Austausch von „anderen geschäftlich sensiblen Informationen“ keine Auswirkung auf die Dauer und Schwere der Zuwiderhandlung und daher auf die Höhe der Geldbuße hat, da diese durch die in Erwägungsgrund 238 Buchst. a und b und in Erwägungsgrund 317 Buchst. a und b des angefochtenen Beschlusses genannten kollusiven Praktiken bestimmt werden.
3) Zweck des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene
372 Die Klägerinnen machen geltend, beim Informationsaustausch auf deutscher Ebene sei es um technische Produktinformationen gegangen. Die Teilnehmer hätten das Ziel verfolgt, über die technische Entwicklung der Lkw auf dem Laufenden zu bleiben, um den Kunden besser zu dienen. Die im Namen von Scania DE am Informationsaustausch auf deutscher Ebene beteiligten Personen seien Verkaufstrainer gewesen und hätten nicht an den Preisentscheidungen von Scania DE mitgewirkt. Zur Stützung ihres Vorbringens haben die Klägerinnen eidesstattliche Erklärungen von Mitarbeitern von Scania DE vorgelegt, die am Informationsaustausch auf deutscher Ebene teilgenommen haben. Sie haben sich auch auf eine Erwiderung von [vertraulich] auf die Mitteilung der Beschwerdepunkt berufen.
373 Nach Ansicht der Kommission entbehrt das Vorbringen der Klägerinnen einer Grundlage.
374 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Inhalt der Akte die Behauptung der Klägerinnen nicht stützt, dass es beim Austausch auf deutscher Ebene vor allem um technische Fragen gegangen sein soll. Dagegen belegen die in der Akte enthaltenen Beweise, dass es bei einem erheblichen Teil dieses Informationsaustauschs um Preisinformationen ging, die entgegen der Auffassung der Klägerinnen zukunftsbezogen und nicht öffentlich zugänglich waren. Das wettbewerbswidrige Ziel des Informationsaustausches auf deutscher Ebene wird auch dadurch belegt, dass mehrere dieser Treffen aufgrund von Auskunftsersuchen von Mitarbeitern verschiedener Hersteller betreffend die geplanten künftigen Preiserhöhungen der Wettbewerber stattfanden. So schreibt K von [vertraulich] in der E‑Mail vom 2. Dezember 2004, die im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt wird, zu einer „Preiserhöhung 2005“, dass „der Chef … wie jedes Jahr wissen [will], ob und wann Sie im nächsten Jahr die Preise erhöhen werden“, und führt weiter aus: „Aus diesem Grund ersuche ich Sie, diese Informationen an alle weiterzugeben, damit wir einzelne Anfragen [vermeiden und dadurch] Zeit gewinnen.“ In der E‑Mail vom 21. Juli 2009, die im 180. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt wird, formulierte L, ein Mitarbeiter von [vertraulich], in Beantwortung einer E‑Mail von I von Scania DE, der die Diskussionsthemen für das Treffen der Wettbewerber auf deutscher Ebene am 17. und 18. September 2009 anfragte, „Spontane Themenvorschläge“ und führte aus: „Euro VI? Ich weiß – kann und will man über dieses Thema reden? – Wie können wir alle das Preisniveau in diesem Jahr erneut anheben?“
375 In ihren eidesstattlichen Erklärungen haben die Mitarbeiter von Scania DE bekräftigt, dass sie an der Entscheidungsfindung hinsichtlich der Preisgestaltung in dieser Gesellschaft nicht beteiligt gewesen seien, doch bestätigen diese Erklärungen weder die Behauptung, dass es beim Informationsaustausch auf deutscher Ebene um technische Informationen gegangen sei, noch die Behauptung, dass die genannten Mitarbeiter durch ihre Teilnahme an diesem Informationsaustausch beabsichtigt hätten, sich über die technischen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.
376 Auch die von den Klägerinnen ins Treffen geführte Behauptung von [vertraulich], wonach die Preisinformationen nicht der Hauptgrund für die Teilnahme ihrer Mitarbeiter am Informationsaustausch auf deutscher Ebene gewesen seien, und ihre Behauptung, dass sich diese Gesellschaft hauptsächlich deshalb für die Preislisten der anderen Hersteller interessiert habe, weil sie die einzigen Dokumente mit einer vollständigen Übersicht über die verschiedenen Lkw-Modelle und ‑Varianten gewesen seien, überzeugen das Gericht nicht. Wie die Kommission zu Recht anmerkt, erklären die oben genannten Behauptungen von [vertraulich] nicht, warum es zur Beschaffung der Liste der verschiedenen Lkw-Modelle und -Varianten erforderlich war, auch Informationen über künftige Preise auszutauschen. Außerdem geht aus der Akte hervor, dass dieser Hersteller im Verwaltungsverfahren (in seinen Antworten auf ein Auskunftsverlangen der Kommission) eindeutig angegeben hat, dass es beim Austausch auf deutscher Ebene auch um Informationen über geplante Erhöhungen der Listenpreise gegangen sei und dass dieser Austausch systematisch und regelmäßig erfolgt sei.
377 Nach alledem ist das Gericht nicht von dem oben in Rn. 372 dargestellten Vorbringen der Klägerinnen überzeugt. Hingegen belegt die Akte die Stichhaltigkeit der Schlussfolgerung der Kommission im 307. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, wonach der Austausch über die Erhöhung der Bruttopreise der Lkw über einen öffentlich zugänglichen Informationsaustausch hinausgegangen sei und bezweckt habe, die Transparenz zwischen den Parteien zu erhöhen und folglich die mit dem normalen Funktionieren des Marktes verbundenen Unsicherheiten zu verringern.
378 Selbst wenn man im Übrigen davon ausginge, dass mit dem Informationsaustausch auf deutscher Ebene zulässige Zwecke wie die von den Klägerinnen angeführten verfolgt wurden, die neben dem festgestellten wettbewerbswidrigen Ziel bestanden haben, würde dies die Schlussfolgerung der Kommission hinsichtlich des Vorliegens einer „bezweckten“ Wettbewerbsbeschränkung nicht in Frage stellen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, kann bei einem kollusiven Verhalten auch dann ein wettbewerbsbeschränkender Zweck angenommen werden, wenn es nicht ausschließlich auf eine Beschränkung des Wettbewerbs abzielt, sondern auch andere, zulässige Zwecke verfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. November 2008, Beef Industry Development Society und Barry Brothers, C‑209/07, EU:C:2008:643, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
379 Nach alledem ist das Vorbringen der Klägerinnen zum Ziel des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene zurückzuweisen.
4) Kontext des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene
380 Die Klägerinnen machen geltend, eine Analyse des wirtschaftlichen und rechtlichen Kontexts, insbesondere der Natur und der Struktur des Lkw-Marktes sowie der Voraussetzungen für sein Funktionieren, stelle die Feststellung der Kommission in Frage, dass die Zuwiderhandlung „bezweckt“ gewesen sei.
381 Die Klägerinnen erklären, dass Lkw in einer Vielzahl von Formen und Varianten nach den Bedürfnissen der Kunden hergestellt und vermarktet würden und dass ihr Endpreis von ihren Eigenschaften und den Besonderheiten des nationalen Marktes, in dem sie verkauft würden, abhänge. Die Klägerinnen merken auch an, dass die Käufer der Lkw Gewerbetreibende seien, die über eine erhebliche Verhandlungsmacht verfügten.
382 Die Klägerinnen kommen somit zu dem Ergebnis, dass die zwischen den Wettbewerbern ausgetauschten [Informationen über] Bruttopreise und Bruttopreislisten aufgrund der Komplexität der Lkw und der Vielzahl von Faktoren, die den dem Kunden in Rechnung gestellten Endpreis beeinflussten, der zu einem individualisierten Preis werde, keinen Informationswert in Bezug auf die Wettbewerbsparameter (d. h. in Bezug auf die bei Geschäften auf dem Markt zu berechnenden oder tatsächlich angewandten Preise) hätten, und dass die Kommission diesen Kontext zum Zeitpunkt der Bestimmung der Natur des Informationsaustausches nicht hinreichend berücksichtigt habe.
383 Die Klägerinnen machen auch geltend, Scania wende einen Preisfestsetzungsmechanismus an, der komplex sei und in dem die Preisentscheidungen auf mehreren voneinander unabhängigen Geschäftsebenen und auf der Grundlage freier Verhandlungen zwischen dem Sitz von Scania, den nationalen Vertreibern, den lokalen Händlern und den Endkunden getroffen würden. Schwankungen der Preise entlang der Lieferkette, die durch die Unabhängigkeit der Verhandlungen auf allen Ebenen hervorgerufen würden, führten daher zu einer Entkoppelung der Fabriks- und Verteilerpreise und Bruttopreislisten für den Verkauf vom Verteiler an den Händler vom tatsächlichen Transaktionspreis, der von den unabhängigen Händlern auf die Endkunden angewandt werde. Zur Stützung ihres Vorbringens berufen sich die Klägerinnen auf den Wirtschaftsbericht vom 9. Dezember 2017, der in Bezug auf Scania den großen Unterschied zwischen den Bruttopreisen für den Verkauf vom Verteiler an den Händler und den entsprechenden Transaktionspreisen sowie das Fehlen einer gemeinsamen Tendenz zu Bruttopreislisten und tatsächlichen Transaktionspreisen zeige. Daraus folge, dass ein Wettbewerber aus einer Änderung der Bruttopreisliste nicht auf die ungefähre Änderung des tatsächlichen Transaktionspreises habe schließen können.
384 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 22 bis 40 des angefochtenen Beschlusses die Struktur des Lkw-Marktes und den Preisfestsetzungsmechanismus in der Lkw‑Industrie dargelegt hat (siehe oben Rn. 19 bis 22).
385 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 51 und 52 des angefochtenen Beschlusses die Auswirkungen der Preiserhöhungen auf europäischer Ebene auf die Preise auf nationaler Ebene untersucht (vgl. Rn. 32 und 33 oben). Insoweit stellt die Kommission fest, dass die nationalen Vertreiber der Hersteller, wie beispielsweise Scania DE, bei der Festlegung der Bruttopreise und Erstellung der Bruttopreislisten nicht unabhängig seien und dass alle auf jeder Stufe der Vertriebskette bis zum Verbraucher angewandten Preise auf gesamteuropäischen Bruttopreislisten beruhten, die auf der Ebene des Unternehmenssitzes festgelegt würden (51. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
386 Daraus folgt nach Ansicht der Kommission, dass eine Erhöhung der Preise auf der gesamteuropäischen Bruttopreisliste, die auf Ebene des Unternehmenssitzes beschlossen werde, die Entwicklung des Nettopreises des Vertreibers, d. h. des Preises, den der Vertreiber an den Unternehmenssitz für den Kauf des Lkw zahle, bestimme. Folglich beeinflusse die Erhöhung der genannten Bruttopreise durch den Unternehmenssitz auch das Bruttopreisniveau des Vertreibers, nämlich den Preis, den der Händler an den Vertreiber zahle, auch wenn der Endkundenpreis nicht notwendigerweise im gleichen Verhältnis oder gar nicht geändert werde (52. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
387 Daher stellt die Kommission unter Berücksichtigung dieses tatsächlichen Kontexts im Rahmen der Beurteilung des wettbewerbswidrigen Charakters des Informationsaustauschs über künftige Bruttopreiserhöhungen im 284. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass aufgrund der erhöhten Transparenz des Lkw-Marktes und seiner großen Konzentration die einzige Ungewissheit für die Parteien darin bestanden habe, ob die offizielle Preispolitik ihrer Wettbewerber geändert werde, und, wenn dies der Fall sei, warum und wann. Die Kommission stellt fest, dass Scania und die Vergleichsparteien einen gut strukturierten und systematischen Austausch strategischer Informationen über die künftigen Preisentwicklungen aufgebaut hätten, um diese Ungewissheit zu beseitigen. Nach Ansicht der Kommission stellten die zukünftigen Bruttopreiserhöhungen einen Preisfestsetzungsfaktor dar, der auf die gesamteuropäischen Bruttopreislisten angewandt worden sei (über die alle Parteien verfügt hätten, außer [vertraulich]), wobei diese Listen die Grundlage für alle auf nationaler Ebene angewandten Preise, einschließlich der endgültigen Transaktionspreise, gewesen seien (284. Erwägungsgrund es angefochtenen Beschlusses).
388 Die Kommission stellt auch fest, dass der Umstand, dass es nicht möglich gewesen sei, die Endpreise der an die Verbraucher verkauften Lkw auf der Grundlage des Informationsaustauschs genau zu berechnen, irrelevant sei. Nach Ansicht der Kommission ermöglichte es der Informationsaustausch, der die Tendenz der zukünftigen Entwicklung der Bruttopreise habe erkennen lassen, den Wettbewerbern, nachzuvollziehen, wann und wie sich die Preise in Europa ändern würden. Im Übrigen habe es der Austausch der detaillierten Bruttopreislisten den Herstellern ermöglicht, durch die Kombination verschiedener Arten von Informationen, die sie erhalten hätten, Rückschlüsse auf die ungefähren aktuellen und/oder künftigen Nettopreise zu ziehen (285. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
389 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 41 bis 50 des angefochtenen Beschlusses den Preisfestsetzungsmechanismus bei Scania und die an dieser Festsetzung beteiligten Akteure beschreibt (vgl. Rn. 23 bis 31 oben).
390 Aus den Rn. 384 bis 389 oben geht hervor, dass die Kommission entgegen der Behauptung der Klägerinnen den Kontext hinreichend berücksichtigt hat, in dem der Informationsaustausch stattgefunden hat, an dem Scania beteiligt war, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass er eine „bezweckten“ Wettbewerbswidrigkeit darstelle. Insbesondere hat die Kommission die Merkmale des Lkw-Marktes und der Preisbildungsmechanismen für diese Lkw berücksichtigt, um festzustellen, dass der Austausch zukunftsbezogener Informationen insbesondere auf deutscher Ebene eine „bezweckte“ Wettbewerbswidrigkeit gewesen sei.
391 Drittens ist in Bezug auf das oben in Rn. 383 dargestellte Vorbringen der Klägerinnen erstens darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung mit einer abgestimmten Verhaltensweise ein wettbewerbswidriges Ziel verfolgt werden kann, auch wenn sie nicht unmittelbar mit den Verbraucherpreisen in Verbindung steht (vgl. Rn. 319 bis 321 oben). Dass eine Erhöhung der Bruttopreise, die auf irgendeiner Stufe der Vertriebskette von Scania beschlossen wird, möglicherweise keine Auswirkungen auf die vom Endverbraucher gezahlten Preise hat, genügt folglich nicht, um die Schlussfolgerung der Kommission in Frage zu stellen, dass der vor allem auf deutscher Ebene erfolgte Informationsaustausch über die künftigen Änderungen der Bruttopreise aufgrund des Nutzens der ausgetauschten Informationen für die Festlegung der Preisstrategie der Wettbewerber eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung dargestellt habe.
392 Zweitens belegt die oben in Rn. 383 dargestellte Argumentation der Klägerinnen nicht, dass die von den Mitarbeitern von Scania DE beim Informationsaustausch auf deutscher Ebene gelieferten Informationen über künftige Änderungen der Bruttopreise nicht strategisch waren. Wie aus der Darstellung des Preisfestsetzungsmechanismus von Scania (vgl. insbesondere Rn. 26, 27 und 31 oben) hervorgeht, stellten die von Scania DE angewandten Bruttopreise, auf die es Rabatte gab, die Grundlage für den Verkaufspreis von Lkw an die Händler auf dem deutschen Markt dar. Daraus folgt, dass die oben genannten künftigen Änderungen der Bruttopreise einen Faktor darstellen, der den Verrechnungspreis des Lkw von Scania DE an die deutschen Händler beeinflusst, und dass der Informationsaustausch über diese Änderungen somit strategischer Natur ist.
393 Viertens und ganz allgemein wird der strategische Charakter der auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die künftige Änderung der Bruttopreise auch durch die Häufigkeit, die Regelmäßigkeit und Systematik des Austauschs sowie durch die im 93. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführte und nicht bestrittene Tatsache belegt, dass diese Informationen bei den meisten Herstellern häufig an ihre jeweiligen Unternehmenssitze weitergeleitet und im Rahmen der Festlegung ihrer Preisstrategien berücksichtigt wurden.
394 Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen ist das Vorbringen der Klägerinnen zum Kontext des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene zurückzuweisen. Es ist auch festzustellen, dass die Einstufung des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene als „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung durch die Kommission nicht fehlerhaft ist. Daher ist der fünfte Klagegrund zurückzuweisen.
e)
Sechster Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass sich der geografische Umfang der Zuwiderhandlung auf deutscher Ebene auf das gesamte Gebiet des EWR erstreckt habe
395 Die Klägerinnen wenden sich gegen die Feststellung der Kommission im 386. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, wonach sich der geografische Umfang der Zuwiderhandlung während ihrer gesamten Dauer auf das gesamte Gebiet des EWR erstreckt habe und somit auch das Verhalten der Wettbewerber auf deutscher Ebene umfasst habe.
396 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im vorliegenden Fall festgestellt hat, dass zwischen dem 17. Januar 1997 und dem 18. Januar 2011 eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens vorgelegen habe.
397 Zum geografischen Umfang der Zuwiderhandlung hat die Kommission festgestellt, dass sich dieser während des gesamten Zeitraums vom 17. Januar 1997 bis 18. Januar 2011 auf das gesamte Gebiet des EWR erstreckt habe (386. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
398 Die Argumentation der Kommission, die der Schlussfolgerung im 386. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zugrunde liegt, wird in den Erwägungsgründen 388 und 389 des angefochtenen Beschlusses wie folgt dargelegt:
„(388)
Scania und die Vergleichsparteien verfügen über europaweit geltende Bruttopreise und Bruttopreislisten. Die Beweise zeigen, dass die Wettbewerber vor und nach der Einführung der europa- oder weltweiten Bruttopreislisten wettbewerbswidrige Gespräche führten, die sich auf das Gebiet der Vertragsstaaten des EWR-Abkommens erstreckten und dass sie sich über die Erhöhungen der Bruttopreise abstimmten, um die Preise für mittlere und schwere Lkw im EWR anzugleichen. Aus den Beweisen geht hervor, dass es vor der Einführung der europäischen Preislisten bei den Gesprächen nicht nur um bestimmte Länder ging, sondern dass sie ausdrücklich eine europäische Tragweite hatten (vgl. Erwägungsgründe 103 und 104). Nach der Einführung der europäischen Bruttopreislisten, die im gesamten Gebiet des EWR anwendbar waren, konnten die Wettbewerber die europäische Preisstrategie einschätzen, indem sie Informationen über Erhöhungen der Bruttopreise in Deutschland austauschten (175. Erwägungsgrund), da diese die von den Unternehmenssitzen auf ihre jeweiligen europäischen Bruttopreislisten angewandten Bruttopreiserhöhungen widerspiegelten.
(389) Darüber hinaus vereinbarten und/oder koordinierten sie den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung der Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis [Euro]-6-Normen vorgeschrieben und im gesamten Gebiet des EWR anwendbar waren. Der Austausch über den Zeitpunkt der Einführung der neuen technischen Normen (z. B. der Euro-3-Norm) und über die damit verbundenen Preiserhöhungen war nicht auf bestimmte Länder beschränkt, sondern umfasste den gesamten EWR (vgl. Erwägungsgründe 100 und 103).“
399 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss festgestellt hat, dass der Austausch zwischen den Wettbewerbern auf Führungsebene im September 2004 eingestellt worden sei und dass danach der Austausch zwischen den Wettbewerbern auf deutscher Ebene fortgesetzt worden sei (Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses).
400 Zu den Adressaten des angefochtenen Beschlusses gehörte Scania DE, wobei die Kommission davon ausging, dass dieses Unternehmen für den wettbewerbswidrigen Austausch im Zeitraum vom 20. Januar 2004 bis 18. Januar 2011 unmittelbar verantwortlich gewesen sei (Erwägungsgrund 410 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses).
401 Die Klägerinnen bringen zur Stützung ihrer Behauptung, dass der Informationsaustausch zwischen den Wettbewerbern auf deutscher Ebene keine über das deutsche Staatsgebiet hinausgehende Tragweite gehabt habe, im Wesentlichen zwei Gruppen von Argumenten vor.
402 Zum einen machen sie geltend, die Informationen, die Scania DE von ihren Wettbewerbern erhalten habe, seien nicht über den deutschen Markt hinaus von Interesse gewesen. Außerdem sei Scania DE nie davon ausgegangen, dass diese Informationen von solchem Interesse seien und dass sie die Ungewissheit in Bezug auf die europäische Preisstrategie ihrer Wettbewerber hätten verringern können.
403 Zum anderen machten die Klägerinnen geltend, Scania DE habe ihren Wettbewerbern keine Informationen geliefert, die über den deutschen Markt hinaus von Interesse gewesen wären und so ihre Ungewissheit in Bezug auf die Preisstrategie von Scania außerhalb von Deutschland verringert hätten. Außerdem habe Scania DE ihren Wettbewerbern gegenüber nicht den „Eindruck“ erweckt, Informationen zu liefern, die für den gesamten EWR von Interesse seien.
404 Diese beiden Gruppen von Argumenten werden im Folgenden geprüft.
1) Geografischer Umfang der Informationen, die Scania DE erhalten hat
405 Erstens ergibt sich aus der Akte, dass die Lkw-Hersteller ab dem Jahr 2000 begonnen haben, schrittweise europäische Bruttopreislisten anzuwenden, und dass im Jahr 2006 die meisten Hersteller über solche Listen verfügten, nämlich [vertraulich], [vertraulich], [vertraulich], [vertraulich] und [vertraulich]. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass dies auch bei Scania der Fall war, wie unten in den Rn. 426 bis 428 erläutert werden wird. Nur [vertraulich] besaß keine europäischen Bruttopreislisten.
406 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen in Bezug auf die anderen Parteien die Feststellung der Kommission in den Erwägungsgründen 51 und 52 des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage stellen, wonach die europäischen Bruttopreislisten am Sitz der Hersteller erstellt würden und die in diesen Listen angegebenen Preiserhöhungen das Preisniveau auf Ebene der Vertreiber und der Händler beeinflussten.
407 Zweitens enthält die Akte der vorliegenden Rechtssache Anhaltspunkte dafür, dass die Wettbewerber eine mehr oder weniger genaue Kenntnis von der Existenz solcher Listen hatten. So geht aus einer im 151. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten internen Präsentation von [vertraulich] vom 30. März 2006 hervor, dass dieser Hersteller Informationen über Preiserhöhungen der Wettbewerber hatte, die aus den europäischen Bruttopreislisten von [vertraulich] und von [vertraulich], von Scania und von [vertraulich], der italienischen Preisliste von [vertraulich] und der deutschen Preisliste von [vertraulich] stammten. Wie aus dem 160. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hatten gemäß einer Umfrage unter Mitarbeitern der in Spanien niedergelassenen Wettbewerber über die „Preisstruktur“, deren Ergebnisse in einer Tabelle aufgeführt waren, [vertraulich], [vertraulich], [vertraulich], [vertraulich] und [vertraulich] „gemeinsame Preise“ in der Union, während dies auf [vertraulich] und Scania nicht zutraf. Die Tabelle mit den Ergebnissen der Umfrage wurden den Mitarbeitern der in Spanien niedergelassenen Wettbewerber, einschließlich der Mitarbeiter von Scania Spanien, übermittelt.
408 Was die Bezugnahme der Klägerinnen auf eine interne Präsentation von [vertraulich] vom April 2008 anlangt, die nahelegen konnte, dass dieses Unternehmen im Jahr 2008 nicht davon ausging, dass seine Wettbewerber europäische Bruttopreislisten verwendeten, so erachtet sie das Gericht im Rahmen der Gesamtwürdigung der Beweise für nicht entscheidend. Im Übrigen bekräftigte dieses Unternehmen im Jahr 2010 im Rahmen seines Antrags auf Erlass der Geldbuße, dass es über eine europäische Bruttopreisliste verfüge und dass „dies … auch bei den Wettbewerbern der Fall sein [konnte]“, und deutete somit der Kommission gegenüber an, dass sich der geografische Umfang des Austauschs möglicherweise auf ganz Europa erstreckte.
409 Drittens haben manche Hersteller, die über europäische Bruttopreislisten verfügten ([vertraulich]) im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass die Preiserhöhungen, die sie auf deutscher Ebene mitgeteilt hätten, im Wesentlichen die Erhöhungen gewesen seien, die auf diesen europäischen Listen vorgenommen worden seien, da diese Listen die nationalen Listen ersetzt hätten. Das Gericht verweist insoweit auf die Antworten von [vertraulich] und von [vertraulich] auf das Auskunftsverlangen der Kommission vom 27. November 2012, die der Klagebeantwortung beigefügt sind, und auf die Antwort von [vertraulich] auf das Auskunftsverlangen der Kommission vom 19. September 2013, die von der Kommission nach einer vom Gericht erlassenen prozessleitenden Maßnahme vorgelegt wurde (vgl. Rn. 75 oben). Aus diesen Beweisen ergibt sich, dass der Umfang der wettbewerbswidrigen Informationen, die von zumindest einigen Wettbewerbern von Scania während des Austauschs auf deutscher Ebene geliefert wurden, an dem unstreitig auch Mitarbeiter von Scania DE teilnahmen, über den deutschen Markt hinausging.
410 Viertens geht, wie in Erwägungsgrund 327 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses ausgeführt wird, aus der Akte hervor, dass die Mitarbeiter der Hersteller, die am Austausch auf deutscher Ebene teilnahmen, diese Informationen mehrfach an den Unternehmenssitz weitergaben, was ein zusätzlicher Anhaltspunkt dafür ist, dass der Umfang dieses Austauschs über den deutschen Markt hinausging (vgl. 213. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, in dem Beispiele für die Übermittlung von auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen an den Sitz genannt werden). Insoweit ist insbesondere auf den Inhalt des 175. Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses hinzuweisen, der nicht nur die Übermittlung der auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen an den Sitz von [vertraulich] belegt, sondern auch die im 388. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegte Behauptung der Kommission untermauert, dass die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreiserhöhungen den Herstellern geholfen hätten, die Preisstrategie ihrer Wettbewerber auf europäischer Ebene nachzuvollziehen. So schreibt der Manager von [vertraulich] am Sitz der Gesellschaft ausweislich des im 175. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wiedergegebenen schriftlichen Beweises seinen Kollegen über den Informationsaustausch auf deutscher Ebene Folgendes: „Hiermit möchte ich Ihnen einen Überblick über den deutschen Markt hinsichtlich der Produktionsfristen und Preiserhöhungen unserer Wettbewerber geben. … Zumindest ist die Preisstrategie stark auf das gesamteuropäische Konzept der Wettbewerber abgestimmt.“
411 Auch der im Rahmen der Prüfung des dritten Klagegrundes festgestellte Umstand, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes über den Informationsaustausch auf deutscher Ebene auf dem Laufenden waren (vgl. Rn. 221 und 229 oben), untermauert die Behauptung der Kommission über den geografischen Umfang des Austauschs auf deutscher Ebene.
412 Fünftens ergibt sich aus der Akte, dass, wie die Kommission in Erwägungsgrund 327 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses ausführt, angesichts der Tatsache, dass die deutschen Tochtergesellschaften der Parteien keine Lkw herstellten und nicht mit der Entwicklung von Technologien befasst waren, da diese Verantwortlichkeit ausschließlich in die Zuständigkeit des Unternehmenssitzes fiel, davon auszugehen war, dass die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über den Zeitplan und die zusätzlichen Kosten im Zusammenhang mit der Einhaltung der Euro-5- und Euro-6-Normen vom Unternehmenssitz stammten und den gesamten EWR betrafen.
413 Die Feststellung oben in Rn. 412 wird durch den im 148. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis veranschaulicht, der Scania betrifft. In einer E‑Mail vom 26. Juli 2005 übermittelte I, ein Mitarbeiter von Scania DE, der am Austausch auf deutscher Ebene teilnahm, an E vom Unternehmenssitz von [vertraulich] Informationen über den Zeitpunkt, zu dem Scania ihr gesamtes Sortiment von Motoren vorstellen werde, die der Euro-4-Norm entsprachen, und über die Einführung von Lkw-Modellen, die der Euro-5-Norm entsprachen, und führte aus, dass er die genauen Zeitpunkte und Preise „nach dem Urlaub [der Mitarbeiter] im Werk Södertälje [Schweden]“ kennen werde. Da Södertälje die Stadt ist, in der Scania ihren Sitz hat, kann man aus dieser Angabe, die der Mitarbeiter von Scania DE gegenüber dem Mitarbeiter von [vertraulich] machte, schließen, dass die Informationen, auf die sich der Mitarbeiter von Scania DE bezog, vom Unternehmenssitz stammten und daher eine über den deutschen Markt hinausgehende Tragweite hatten. Der im 148. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführte schriftliche Beweis belegt auch den Einfluss des Sitzes von Scania bei der Festsetzung der auf den deutschen Markt angewandten Preise, eine Problematik, auf die unten in den Rn. 422 bis 438 eingegangen wird.
414 Nach einer Zusammenschau der Erwägungen in den Rn. 405 bis 413 ist festzustellen, dass die Tragweite der Informationen, die Scania DE im Rahmen des Austauschs auf deutscher Ebene erhalten hat, über den deutschen Markt hinausging.
415 Insoweit überzeugt die Behauptung der Klägerinnen das Gericht nicht, wonach die Mitarbeiter von Scania DE, die am Austausch auf deutscher Ebene teilgenommen hätten, niemals davon ausgegangen seien, dass sich die Informationen, die sie von den Vertretern der Tochtergesellschaften anderer Lkw-Hersteller erhalten hätten, auf europäische Preise bezogen hätten oder die Ungewissheit hinsichtlich der europäischen Preisstrategie der anderen Hersteller hätten verringern können.
416 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Akte der vorliegenden Rechtssache Anhaltspunkte dafür enthält, dass die Verwendung der europäischen Bruttopreislisten durch die Mehrheit der Hersteller kein Geheimnis war (vgl. Rn. 407 oben). Es kann daher durchaus davon ausgegangen werden, dass die Mitarbeiter von Scania DE und der Sitz in Schweden vom Vorliegen dieser Listen wussten und daher auf der Grundlage von Informationen, die sie auf deutscher Ebene erhielten, beispielsweise auf der Grundlage der Informationen über Bruttopreiserhöhungen, die auf die europäischen Preislisten der Wettbewerber angewandt wurden, Rückschlüsse auf die Preisstrategie ihrer Wettbewerber ziehen konnten (vgl. Rn. 409 oben).
417 Zweitens überzeugt das Gericht das Vorbringen der Klägerinnen nicht, dass Scania DE im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern am Informationsaustausch auf deutscher Ebene die auf deutscher Ebene erhaltenen Informationen nie an ihren Unternehmenssitz übermittelt habe. Zwar enthält die Akte keinen Beweis dafür, dass eine solche Übermittlung tatsächlich stattgefunden hat. Aus dem im 166. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis geht jedoch hervor, dass I von Scania DE, Organisator und Teilnehmer eines Treffens auf deutscher Ebene, das am 12. und 13. Mai 2008 in Koblenz (Deutschland) stattfand, seinen Kollegen von Scania DE Informationen über Preiserhöhungen übermittelte, die bei diesem Treffen ausgetauscht wurden, wobei er darauf hinwies, dass diese Informationen „noch“ nicht an den Unternehmenssitz in Schweden geschickt worden seien. Die Verwendung des Wortes „noch“ deutet darauf hin, dass die Absicht des genannten Mitarbeiters von Scania DE darin bestand, die Information an den Unternehmenssitz zu übermitteln, und dass diese Mitteilung an den Unternehmenssitz nicht außergewöhnlich war.
418 Jedenfalls ist es aufgrund der Tatsache, dass die Akte Beweise dafür enthält, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes von Scania über den Austausch wettbewerbswidriger Preisinformationen auf deutscher Ebene auf dem Laufenden waren (vgl. Rn. 228 oben), und dass die Treffen auf beiden Ebenen oft zur selben Zeit und am selben Ort stattfanden, nicht entscheidend, dass ein unmittelbarer Nachweis für die Übermittlung der auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen durch die Mitarbeiter von Scania DE an den Unternehmenssitz von Scania fehlt. Aus den beiden genannten Umständen kann nämlich geschlossen werden, dass der Inhalt dieser Informationen am Sitz von Scania bekannt war.
419 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass Mitarbeiter des Sitzes einiger Hersteller auch am Austausch auf deutscher Ebene teilnahmen. Dies war häufig bei [vertraulich] der Fall. Im Übrigen stellte C in einer im 139. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten E‑Mail vom 11. November 2004, die C vom Unternehmenssitz von [vertraulich] abgeschickt und an Mitarbeiter der Wettbewerber sowohl am Sitz als auch auf deutscher Ebene, darunter A vom Sitz von Scania und B von Scania DE, gerichtet hatte, zwei neue Mitarbeiter des Sitzes von [vertraulich] vor, die für die zentrale Preisbildung bei diesem Hersteller verantwortlich sein würden. Diese Umstände, die die Teilnahme der Mitarbeiter des Sitzes an dem auf deutscher Ebene stattfindenden Austausch betreffen, stellen ein Indiz dafür dar, dass die Mitarbeiter von Scania DE nicht umhin kamen, davon auszugehen, dass der Informationsaustausch auf deutscher Ebene für die Preisstrategie der Wettbewerber auf europäischer Ebene von Interesse war.
420 Viertens sind die eidesstattlichen Erklärungen der am Austausch auf deutscher Ebene beteiligten Mitarbeiter von Scania DE, die die oben in Rn. 415 dargelegte Behauptung stützen, angesichts der oben dargelegten Beweise für das Gericht nicht überzeugend. Im Übrigen besitzen diese Erklärungen, die nach Beendigung der Zuwiderhandlung und speziell zur Stützung der Position von Scania abgegeben wurden, aus den oben in Rn. 281 dargelegten Gründen einen beschränkten Beweiswert.
421 Aufgrund einer Gesamtbeurteilung der vorstehenden Gesichtspunkte (vgl. Rn. 198 oben) ist der Schluss zu ziehen, dass Scania DE durch die Teilnahme ihrer Mitarbeiter am Informationsaustausch auf deutscher Ebene Informationen von über den deutschen Markt hinausgehender Tragweite erhalten hat. Aufgrund dieser Feststellung ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen, und zwar unabhängig von der Frage, ob Scania DE auch Informationen geliefert hat, deren Tragweite über den deutschen Markt hinausging (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 12. Juli 2001, Tate & Lyle u. a./Kommission, T‑202/98, T‑204/98 und T‑207/98, EU:T:2001:185, Rn. 58). Das Gericht erachtet es hingegen für sachgerecht, letztere Frage für die Zwecke der Beurteilung der Schwere des von Scania begangenen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV und gegebenenfalls der Festsetzung der Höhe der Geldbuße zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, Kommission/Verhuizingen Coppens, C‑441/11 P, EU:C:2012:778, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
2) Geografischer Umfang der von Scania DE gelieferten Informationen
422 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 388. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Ansicht vertreten hat, dass die Lkw-Hersteller nach der Einführung der europäischen Bruttopreislisten in der Lage gewesen seien, die europäische Preisstrategie ihrer Wettbewerber nachzuvollziehen, indem sie Informationen über Erhöhungen der Bruttopreise auf dem deutschen Markt ausgetauscht hätten, da diese Erhöhungen die Erhöhungen widergespiegelt hätten, die von den Unternehmenssitzen der Hersteller auf ihren europäischen Bruttopreislisten vorgenommen worden seien.
423 Die Klägerinnen machten im Wesentlichen geltend, die Informationen über die Bruttopreislisten, die beim Austausch auf deutscher Ebene geliefert worden seien, hätten nicht die Preise von Scania auf europäischer Ebene widergespiegelt und daher nicht dazu beigetragen, die Ungewissheit der Wettbewerber von Scania hinsichtlich ihrer Preisstrategie außerhalb Deutschlands zu verringern.
424 Insoweit führen die Klägerinnen aus, es sei nicht richtig, dass die FGPL eine Bruttopreisliste auf Ebene des EWR darstelle und als Grundlage für die Verhandlungen im Rahmen des Preisgestaltungsprozesses diene. Zur Stützung ihres Vorbringens berufen sich die Klägerinnen auf den Wirtschaftsbericht von 9. Dezember 2017, der belege, dass es keine Korrelation zwischen der FGPL und dem Bruttopreis zwischen Vertreibern und Händlern in Deutschland gebe. Die FGPL sei ein internes Referenzinstrument, das der Sitz von Scania verwende, um das allgemeine Preisniveau der verschiedenen Teile eines Lkw im Herstellungsprozess von Scania zu verfolgen. Trotz ihres Namens sei die FGPL keine „Preisliste“, da sie den Verrechnungspreis für die Teile auf keiner Ebene des Vertriebsnetzes festlege. Die auf Augenhöhe stattfindenden Verhandlungen zwischen den Vertreibern und dem Sitz würden auf der Grundlage länderspezifischer, für den Verkauf vom Werk an den Vertreiber geltender Nettopreislisten geführt, und diese Listen würden jedes Mal ausgehandelt, wenn die Marktbedingungen eine Erhöhung oder Senkung der Preise rechtfertigten. Zur Stützung ihres Vorbringens zur Natur der FGPL haben die Klägerinnen eidesstattliche Erklärungen von Mitarbeitern des Unternehmenssitzes von Scania und von Scania DE vorgelegt. Zur Stützung ihrer Behauptung, dass die Verhandlungen zwischen den Vertreibern von Scania und dem Sitz auf Augenhöhe geführt würden und dass sie Verhandlungen zwischen Parteien, die als unabhängige Geschäftspartner und konkurrierende Profitzentren handelten, gleichkämen, berufen sich die Klägerinnen auf einen internen Bericht von Scania aus dem Jahr 2010, das „Verrechnungspreis-Masterfile“.
425 Das oben in Rn. 424 wiedergegebene Vorbringen der Klägerinnen offenbart eine Diskrepanz zwischen der Beschreibung des Preisgestaltungssystems von Scania, die im Rahmen der Antworten auf die Auskunftsverlangen der Kommission im Verwaltungsverfahren geliefert wurde, und der Beschreibung dieses Systems in der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte und vor dem Gericht.
426 Die Beschreibung des Preisgestaltungssystems von Scania im angefochtenen Beschluss (vgl. Rn. 23 bis 31 oben) war auf die Informationen gestützt, die Scania im Rahmen der Antworten auf die Auskunftsverlangen der Kommission u. a. vom 16. April und 5. Juli 2012 geliefert hatte. Die Grafik im 50. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses (vgl. Rn. 31 oben), die den Einfluss der FGPL auf die Preise zeigt, die in den verschiedenen Stufen der Vertriebskette angewandt wurden, wurde ebenfalls von Scania im Rahmen der genannten Antworten vorgelegt. Ebenso hatte Scania im Rahmen der Antwort von 5. Juli 2012 u. a. die Rolle des Preisausschusses und des Executive Vice President of Sales [vertraulich] beschrieben.
427 Hingegen spiegelt die oben in Rn. 424 dargelegte Argumentation die Position von Scania wider, die dieses Unternehmen in tempore suspecto, nämlich in seiner Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte und vor dem Gericht vertreten hat.
428 Unter diesen Umständen ist das Gericht mit der Kommission der Ansicht, dass den Antworten der Klägerinnen auf die Auskunftsersuchen der Kommission nach Art. 18 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ein höherer Beweiswert zuzuschreiben ist als den von den Klägerinnen später, als Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte gelieferten Erklärungen. Nach Art. 23 Abs. 1 der Verordnung Nr.1/2003 können gegen Unternehmen, die bei der Erteilung einer nach Art. 18 Abs. 2 verlangten Auskunft unrichtige oder irreführende Angaben machen, Geldbußen bis zu einem Höchstbetrag von 1 % ihres jährlichen Gesamtumsatzes verhängt werden.
429 Im Übrigen ist festzustellen, dass die Klägerinnen kein Dokument vorgelegt haben, das ihr Vorbringen zur Natur der FGPL untermauert. Wie die Kommission in Erwägungsgrund 299 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses feststellt, wäre es logisch, von Scania zu erwarten, dass sie in der Lage ist, Unterlagen zur Untermauerung ihrer Beurteilung der FGPL vorzulegen. Scania hat dies nicht getan und sich darauf beschränkt, eidesstattliche Erklärungen einiger ihrer Mitarbeiter vorzulegen, die eine beschränkte Beweiskraft haben und das Gericht nicht überzeugen (vgl. Rn. 420 oben).
430 Was den Verweis der Klägerinnen auf den Wirtschaftsbericht vom 9. Dezember 2017 anlangt, aus dem eine fehlende Korrelation zwischen der FGPL und den Bruttopreisen für den Verkauf vom Verteiler an den Händler in Deutschland hervorgeht (vgl. Rn. 424 oben), so wird in diesem Bericht festgestellt, dass die spezifischen Änderungen in der FGPL nicht mit identischen Änderungen der in Deutschland geltenden Bruttopreisliste für den Verkauf vom Verteiler an den Händler einhergehen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Analyse der Kommission im angefochtenen Beschluss nicht auf einer solchen Korrelation beruht, da sie keineswegs behauptet hat, dass eine Preiserhöhung in der FGPL zu einer identischen Erhöhung der Bruttopreise für den Verkauf vom Verteiler an den Händler in Deutschland führe. Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission festgestellt, dass eine Erhöhung der Preise in der FGPL die Nettopreise für den Verteiler (d. h. den Preis, den der Verteiler an den Sitz zahlt) und den Bruttopreis des Verteilers (d. h. den Preis, den der Händler an den Verteiler zahlt) beeinflusse, auch wenn sich der Preis für den Endverbraucher nicht notwendigerweise in demselben Verhältnis oder gar nicht ändere (52. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Der angefochtene Beschluss stützt sich somit nicht auf die im Wirtschaftsbericht vom 9. Dezember 2017 genannte Korrelation.
431 Aus den Rn. 423 bis 430 oben ergibt sich, dass die Auffassung der Kommission, dass die FGPL eine europäische Bruttopreisliste sei, die die Preisgestaltung der Lkw auf Ebene der nationalen Verteiler (und daher auf Ebene von Scania DE) beeinflusse, rechtlich hinreichend nachgewiesen ist.
432 Allgemeiner ausgedrückt zeigen die in der Akte enthaltenen Beweise, dass die nationalen Verteiler von Scania (und damit Scania DE) bei der Festlegung ihrer Preispolitik gegenüber den Händlern nicht unabhängig vom Sitz sind.
433 Insoweit ist erstens die Tatsache zu berücksichtigen, dass die FGPL auf der Ebene des Sitzes erstellt wird. Aus der oben in Rn. 31 wiedergegebenen Grafik geht hervor, dass die FGPL einen wichtigen Bestandteil der Preisgestaltung darstellt, da alle in den nachgelagerten Stufen der Vertriebskette von Scania angewandten Preise auf diese FGPL und auf die den verschiedenen Wirtschaftsteilnehmern gewährten Rabatte und Gewinnspannen zurückzuführen sind.
434 Zweitens ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Vertreiber von Scania ganz überwiegend Tochtergesellschaften waren, die zu 100 % vom Unternehmenssitz kontrolliert wurden (vgl. Rn. 20 oben), was im Übrigen bei Scania DE der Fall war. In Anbetracht dieses Umstands überzeugt das Vorbringen der Klägerinnen, die Preisverhandlungen zwischen diesen Vertreibern und dem Sitz seien Verhandlungen zwischen Parteien, die als unabhängige Geschäftspartner und konkurrierende Profitzentren handelten, das Gericht nicht.
435 Insoweit ist anzumerken, dass die in den Erwägungsgründen 249 und 250 des angefochtenen Beschlusses angeführten Beweise, die aus internen Dokumenten des Preisausschusses bestehen (vgl. Rn. 24 oben), belegen, dass dieses (dem Sitz von Scania angehörende) Gremium eine mächtige Stellung bei der Festlegung der Höhe der Rabatte hatte, die auf die nationalen Vertreiber angewandt wurden. Die Klägerinnen machen unter Berufung auf eine eidesstattliche Erklärung eines Mitglieds des Preisausschusses lediglich geltend, dass sich die genannten internen Dokumente auf ein außergewöhnliches Ereignis bezögen, nämlich die Markteinführung eines neuen Motors, der für Scania von großer strategischer Bedeutung sei, und keine übliche Situation widerspiegelten. Diese eidesstattliche Erklärung hat jedoch keinen hinreichenden Beweiswert, um den Beweiswert und den klaren Inhalt der in den Erwägungsgründen 249 und 250 des angefochtenen Beschlusses dargelegten Beweise in Frage zu stellen, und überzeugt das Gericht nicht.
436 Was im Übrigen die Berufung von Scania auf ihr „Verrechnungspreis-Masterfile“ des Jahres 2010 (vgl. Rn. 424 oben) anlangt, so ist darauf hinzuweisen, dass der Zweck dieses Dokuments darin besteht, im Falle einer Steuerprüfung nachzuweisen, dass Scania bei der Festsetzung der Verrechnungspreise innerhalb der Gruppe den Fremdvergleichsgrundsatz (arm’s length principle) beachtet hat. Das Gericht vertritt ebenso wie die Kommission (vgl. 296. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses) die Auffassung, dass die Tatsache, dass der Unternehmenssitz von Scania Verrechnungspreise anwendet, die dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprechen, nicht die Unabhängigkeit der Vertreiber von Scania bei den Preisverhandlungen beweist, sondern vielmehr zeigt, dass diese Verrechnungspreise auf einem Niveau festgelegt werden, das es ermöglicht, dass diese Preise von den zuständigen Finanzbehörden nicht beanstandet werden.
437 Drittens wird der Umstand, dass Scania DE bei der Festlegung ihrer Preispolitik nicht unabhängig ist, durch den im 148. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegten schriftlichen Beweis veranschaulicht (vgl. Rn. 413 oben). Er wird auch durch die in den Erwägungsgründen 134 und 135 des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweise veranschaulicht, die die Kohärenz der Informationen über Bruttopreiserhöhungen erkennen lassen, die den Wettbewerbern jeweils von den Mitarbeitern von Scania DE und von den Mitarbeitern von Scania auf Führungsebene geliefert wurden. Somit geht aus dem im 134. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis hervor, dass der Mitarbeiter von Scania DE beim Treffen vom 3. und 4. Mai 2004 auf deutscher Ebene die Wettbewerber darüber informierte, dass die Preise der neuen Lkw-Serie [vertraulich] durchschnittlich um 6 % höher sein würden als die der derzeitigen Serie [vertraulich]. Aus dem im 135. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegten schriftlichen Beweis geht hervor, dass der Vertreter von Scania, der am Treffen vom 27. und 28. Mai 2004 auf Führungsebene teilnahm, die Wettbewerber informierte, dass die Preise der Lkw-Serie [vertraulich] um 5 bis 6 % höher sein würden als die Preise der Serie [vertraulich]. Diese Kohärenz der Informationen, die während des Austauschs auf beiden Ebenen der genannten kollusiven Kontakte geliefert wurden, ist auch ein Beweis dafür, dass die von den Mitarbeitern von Scania DE bei den Treffen auf deutscher Ebene gelieferten Informationen eine über den deutschen Markt hinausgehende Tragweite hatten.
438 Angesichts der Rolle, die der Sitz von Scania bei der Festlegung der Preispolitik von Scania DE spielte, wie sie oben in den Rn. 433 bis 437 dargestellt worden ist, durfte die Kommission zu Recht davon ausgehen, dass die von den Mitarbeitern von Scania DE bei den Treffen auf deutscher Ebene an die Wettbewerber gelieferten wettbewerbswidrigen Preisinformationen eine auf der Ebene des Unternehmenssitzes festgelegte Preisstrategie widerspiegelten und daher eine über den deutschen Markt hinausgehende Tragweite hatten.
439 Diese Schlussfolgerung des Gerichts wird durch den Inhalt der von den Klägerinnen ins Treffen geführten Wirtschaftsberichte vom 20. September 2016 und vom 9. Dezember 2017 nicht in Frage gestellt.
440 Nach Ansicht der Klägerinnen zeigen die genannten Wirtschaftsberichte, dass die Bruttopreise für den Verkauf vom Vertreiber an den Händler von Scania DE nicht für die Preise in anderen europäischen Ländern repräsentativ seien und daher die Ungewissheit hinsichtlich der Preisstrategie von Scania im EWR nicht verringern könnten. Es ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss, was Scania betrifft, nicht auf die Annahme gestützt ist, dass es irgendeine Parallelität zwischen den in den verschiedenen europäischen Ländern angewandten Bruttopreisen für den Verkauf vom Verteiler an den Händler gibt, da, wie aus der in Rn. 31 oben dargestellten Grafik hervorgeht, der Bruttopreis des nationalen Vertreibers nach Maßgabe der auf die FGPL angewandten Rabatte und ihrer Gewinnspanne berechnet wird. Der angefochtene Beschluss beruht auf der Erwägung, dass jede auf die FGPL angewandte und daher vom Sitz beschlossene Erhöhung in unterschiedlichem Umfang (je nach den angewandten Rabatten) den Bruttopreis des nationalen Vertreibers beeinflusst (vgl. Erwägungsgründe 51 und 52 des angefochtenen Beschlusses).
441 Jedenfalls ist das Gericht der Ansicht, dass entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen die Akte rechtlich hinreichend belegt, dass Scania DE unabhängig vom tatsächlichen geografischen Umfang der von ihr gelieferten Informationen bei ihren Wettbewerbern den Eindruck erweckte, dass die Informationen, die sie ihnen lieferte, eine über den deutschen Markt hinausgehende Tragweite hatten und über diesen Markt hinaus von Interesse waren, und dass Scania DE somit zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele beigetragen hat, die mit dem Austausch von wettbewerbswidrigen Informationen auf deutscher Ebene verfolgt wurden.
442 Insoweit nimmt das Gericht auf den im 148. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargestellten Austausch Bezug (vgl. Rn. 413 oben). Angesichts der Andeutung eines Mitarbeiters von Scania DE, wonach die Information über die Zeitpunkte der Einführung der Lkw-Modelle und über die Preise, die er dem Mitarbeiter von [vertraulich] mitteilen werde, vom Unternehmenssitz von Scania stammen soll, kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass dieser Mitarbeiter von [vertraulich] diese Information so verstanden hat, dass sie über den deutschen Markt hinaus von Interesse war. Ferner ist auf die im 185. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführte E‑Mail vom 28. Oktober 2009 hinzuweisen, die belegt, dass der Sitz von [vertraulich] beim Austausch auf deutscher Ebene von Scania die Information bekommen hatte, dass zum 1. Januar 2010 eine mit einem „Facelift“ der Lkw in Zusammenhang stehende Erhöhung der Preise um 3 % geplant war. Da die Preiserhöhung, über die Scania ihren Wettbewerber in Kenntnis setzte, mit den Herstellungskosten der Lkw zusammenhing und da Scania DE keine Lkw herstellt, kann der Schluss gezogen werden, dass [vertraulich] die genannte Information über die Preiserhöhung so verstanden hatte, dass ihre Tragweite über den deutschen Markt hinausging.
443 Nach alledem ist der sechste Klagegrund zurückzuweisen.
f)
Siebter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission die Ansicht vertreten habe, dass das festgestellte Verhalten eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung darstelle und die Klägerinnen hierfür haftbar seien
444 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission die Ansicht vertreten hat, dass die Vereinbarungen zwischen Scania und den Vergleichsparteien und/oder die zwischen ihnen abgestimmten Verhaltensweisen eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung vom 17. Januar 1997 bis 18. Januar 2011 dargestellt hätten. Die Zuwiderhandlung habe in einer Kollusion hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen im EWR für mittlere und schwere Lkw sowie über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben gewesen seien, bestanden (315. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
445 Im Einzelnen hat die Kommission die Ansicht vertreten, dass die Parteien über wettbewerbswidrige Kontakte einen gemeinsamen Plan mit einem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel verfolgt hätten und dass Scania vom allgemeinen Anwendungsbereich und den wesentlichen Merkmalen des Netzes kollusiver Kontakte Kenntnis gehabt habe oder hätte haben müssen und die Absicht gehabt habe, durch ihre Handlungen zum Kartell beizutragen, so dass sie für die Zuwiderhandlung insgesamt zur Verantwortung gezogen werden könne (Erwägungsgründe 316 und 350 des angefochtenen Beschlusses).
446 Die Klägerinnen bestreiten im Wesentlichen das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung im vorliegenden Fall und wenden sich dagegen, dass ihnen diese gesamte Zuwiderhandlung zugerechnet wird.
1) Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung
i) Vorbemerkungen
447 Um das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung nachzuweisen, muss die Kommission darlegen, dass die verschiedenen in Rede stehenden Verhaltensweisen Teil eines „Gesamtplans“ mit einem einheitlichen Ziel sind (vgl. Rn. 196 oben).
448 In der Rechtsprechung sind mehrere Kriterien als für die Beurteilung der Frage maßgeblich herausgearbeitet worden, ob eine Zuwiderhandlung einheitlichen Charakter hat, nämlich die Identität der Ziele der betreffenden Praktiken, die Identität der betroffenen Waren und Dienstleistungen, die Identität der an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen und die Identität der Modalitäten ihrer Durchführung (vgl. Urteil vom 17. Mai 2013, Trelleborg Industrie und Trelleborg/Kommission, T‑147/09 und T‑148/09, EU:T:2013:259, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. auch Urteil vom 19. Dezember 2013, Siemens u. a./Kommission, C‑239/11 P, C‑489/11 P und C‑498/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:866, Rn. 243). Weitere Kriterien, die bei dieser Prüfung berücksichtigt werden können, sind die Identität der natürlichen Personen, die für die Unternehmen tätig wurden, und die Identität des räumlichen Anwendungsbereichs der betreffenden Praktiken (Urteil vom 17. Mai 2013, Trelleborg Industrie und Trelleborg/Kommission, T‑147/09 und T‑148/09, EU:T:2013:259, Rn. 60).
449 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass der Begriff des einheitlichen Ziels nicht durch einen allgemeinen Verweis auf die Verzerrung des Wettbewerbs auf dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Markt bestimmt werden kann, da die Beeinträchtigung des Wettbewerbs als Ziel oder Wirkung jedem von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfassten Verhalten eigen ist. Eine solche Definition des Begriffs des einheitlichen Ziels könnte dem Begriff der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung teilweise seinen Sinn nehmen, da sie zur Folge hätte, dass mehrere einen Wirtschaftssektor betreffende Verhaltensweisen, die nach der genannten Vorschrift verboten sind, systematisch als Bestandteile einer einheitlichen Zuwiderhandlung eingestuft werden müssten (Urteil vom 12. Dezember 2007, BASF und UCB/Kommission, T‑101/05 und T‑111/05, EU:T:2007:380, Rn. 180).
450 Wie bereits angeführt (vgl. Rn. 195 oben), bedeutet im Übrigen die den Begriff „einheitliches Ziel“ betreffende Voraussetzung, dass geprüft werden muss, ob es nicht die verschiedenen Verhaltensweisen, die Bestandteil der Zuwiderhandlung sind, kennzeichnende Gesichtspunkte gibt, die darauf hindeuten könnten, dass die von anderen beteiligten Unternehmen vorgenommenen Handlungen nicht das gleiche Ziel oder die gleiche wettbewerbswidrige Wirkung haben und sich daher nicht wegen ihres identischen Zwecks der Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt in einen „Gesamtplan“ einfügen.
ii) Angefochtener Beschluss
451 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss die Ansicht vertreten hat, dass die in dessen 317. Erwägungsgrund beschriebenen kollusiven Kontakte auf drei Ebenen aus folgenden Gründen Teil eines Gesamtplans mit einem wettbewerbswidrigen Ziel seien.
452 Erstens beträfen alle Kontakte die gleichen Waren, nämlich mittlere und schwere Lkw (319. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
453 Zweitens sei die Art der geteilten Informationen – Informationen über Preise, Preiserhöhungen, die Zeitpunkte der Markteinführung von Lkw, die den neuen Umweltnormen entsprächen, und die Absicht der Wettbewerber, die damit verbundenen Kosten an die Kunden weiterzugeben – während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung gleich geblieben (320. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission hat festgestellt, dass die Art der Gespräche und der Vereinbarungen über den Zeitplan für die Einführung von neuen, bestimmten Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modellen mit der Kollusion hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen im Zusammenhang gestanden und diese ergänzt habe (321. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
454 In diesem Zusammenhang hat die Kommission darauf hingewiesen, dass die Parteien, wenngleich sie ab September 2004 nicht mehr wie zuvor aktiv versucht hätten, eine bestimmte Vereinbarung über künftige gemeinsame Bruttopreiserhöhungen oder über konkrete Termine für die Markteinführung der den neuen Umweltnormen entsprechenden Lkw oder die Höhe der von den Parteien an die Verbraucher weitergegebenen Kosten dieser Lkw abzuschließen, dennoch weiterhin Absprachen getroffen hätten, indem sie die gleiche Art von Informationen ausgetauscht und das gleiche Ziel, nämlich den Wettbewerb durch die Verringerung des Grades der zwischen ihnen bestehenden strategischen Ungewissheit zu beschränken, verfolgt hätten (322. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
455 Drittens hätten die wettbewerbswidrigen Kontakte häufig stattgefunden und dieselbe Gruppe von Lkw-Herstellern, nämlich Scania und die Vergleichsparteien, betroffen. Die an den Kontakten beteiligten Personen hätten denselben Herstellern angehört und den Austausch in kleinen Gruppen von Mitarbeitern der Hersteller organisiert (323. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
456 Viertens hat die Kommission festgestellt, dass sich zwar die Ebene und die internen Verantwortlichkeiten der an dem Verhalten beteiligten Mitarbeiter während des Kartells geändert hätten, dass jedoch die Art, das Ziel und der Umfang der Kontakte und Treffen während der gesamten Dauer des Kartells gleich geblieben seien (325. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Insoweit hat die Kommission ausgeführt, dass mit allen kollusiven Kontakten, die auf den drei Ebenen stattgefunden hätten, das wettbewerbswidrige Ziel verfolgt worden sei, den Wettbewerb auf dem Markt für mittlere und schwere Lkw im EWR im Hinblick auf künftige Preise und Bruttopreiserhöhungen und den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten im Zusammenhang mit der Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw zu beschränken (326. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
457 Im 327. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission drei Gesichtspunkte angeführt, die ihre Schlussfolgerung untermauern sollen, dass die Verlagerung des Austauschs (the shift in the exchanges) von der Führungsebene auf die deutsche Ebene die fortgesetzte Natur der Zuwiderhandlung nicht berührt habe.
458 Erstens hat die Kommission festgestellt, dass es zwischen den auf den verschiedenen Ebenen abgehaltenen Treffen beträchtliche zeitliche Überschneidungen gegeben habe, wobei die Treffen auf der Führungsebene von 1997 bis 2004, die Treffen auf unterer Ebene des Sitzes von 2000 bis 2008 und die Gespräche auf deutscher Ebene ab 2004 stattgefunden hätten. Dies hat nach Ansicht der Kommission dazu geführt, dass die Kontakte auf den beiden anderen Ebenen ohne Unterbrechung fortgesetzt worden seien, obwohl die Treffen auf der Führungsebene nach dem 16. September 2004 nicht mehr fortgesetzt worden seien (Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses). In diesem Zusammenhang hat die Kommission auch festgestellt, dass zum einen während des Zeitraums von 2003 bis 2007 Kontakte zwischen den Mitarbeitern auf unterer Ebene des Sitzes und den Mitarbeitern auf deutscher Ebene stattgefunden hätten und gemeinsame Treffen organisiert worden seien, und dass die Parteien zum anderen wiederholt auf unterer Ebene des Sitzes erörtert hätten, welche Informationen auf welcher Ebene ausgetauscht werden sollten (Erwägungsgrund 327 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses).
459 Zweitens hat die Kommission festgestellt, dass die deutschen Tochtergesellschaften der Parteien keine Lkw hergestellt hätten und nicht mit der Entwicklung von Technologien befasst gewesen seien, da diese Verantwortlichkeit ausschließlich in die Zuständigkeit des Sitzes gefallen sei. Sofern also Mitarbeiter auf deutscher Ebene Informationen über den Zeitplan und die zusätzlichen Kosten der Einführung der den Euro-5- und Euro-6-Normen entsprechenden Technologien ausgetauscht hätten, tauschten sie nach Ansicht der Kommission vom Unternehmenssitz stammende Informationen aus, die den gesamten EWR betroffen hätten (Erwägungsgrund 327 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses).
460 Drittens hat die Kommission festgestellt, dass es in Bezug auf mehrere Kartellteilnehmer Beweise dafür gebe, dass die deutschen Tochtergesellschaften ihre Preisabsichten systematisch an den Sitz und vor allem an die am Informationsaustausch über die Preise beteiligten Personen im Bereich der zentralen Verwaltung weitergeleitet hätten. In diesem Zusammenhang hat die Kommission auch festgestellt, dass der Gesellschaftssitz von Scania die Befugnis gehabt habe, die Brutto-Werkpreise und die auf die Verteiler (bei denen es sich um hundertprozentige Tochtergesellschaften der Muttergesellschaft gehandelt habe) angewandten Rabatte zu bestimmen, und dass Scania über ein strukturiertes Sitzungsmuster verfügt habe, um eine rasche Umsetzung der strategischen Entscheidungen des Sitzes zu gewährleisten, was bedeute, dass der Sitz von Scania vernünftigerweise nicht in Unkenntnis dieser Informationen habe sein können.
461 Die Kommission ist im 328. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu dem Ergebnis gekommen, dass die Änderung des Kartells (the change in the cartel) mit dem Ziel, die Fortdauer des Austausches zu gewährleisten, gemeinschaftlich geleitet und zwischen den verschiedenen Parteien koordiniert worden sei.
462 Fünftens hat sich nach Ansicht der Kommission zwar die Art, wie die Informationen ausgetauscht worden seien, in den 14 Jahren, in denen die Zuwiderhandlung angedauert habe, natürlich verändert, doch sei dies schrittweise geschehen und der Grundcharakter des Austauschs gleich geblieben: die Kontakte hätten sich von einem multilateralen Informationsaustausch, Treffen oder Präsentationen auf persönlicher Ebene zu einem multilateralen E‑Mail-Austausch in Form von Zusammenstellungen künftiger Preisinformationen, die über E‑Mail organisiert und in einem Tabellenkalkulationsprogramm dargestellt worden seien, entwickelt (329. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
463 Auf der Grundlage dieser fünf Gesichtspunkte ist die Kommission zu dem Ergebnis gekommen, dass die kollusiven Kontakte miteinander in Verbindung gestanden und einander ergänzt hätten (330. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
iii) Würdigung
464 Erstens steht fest, dass die in Rede stehenden kollusiven Kontakte während ihrer gesamten Dauer die gleichen Waren betrafen, d. h. mittlere und schwere Lkw, und dass sie von derselben Gruppe von Lkw-Herstellern, nämlich Scania und den Vergleichsparteien, abgehalten wurden. Im Übrigen ergibt sich aus der Akte, dass an den Kontakten eine kleine Gruppe von Mitarbeitern auf jeder Ebene beteiligt war, deren Zusammensetzung relativ stabil blieb, und dass sie regelmäßig und häufig stattfanden.
465 Zweitens ist auf das Vorliegen von Verbindungen zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte hinzuweisen, nämlich darauf, dass die Teilnehmer auf diesen Ebenen Mitarbeiter derselben Unternehmen waren, d. h. von Scania und den Vergleichsparteien, dass der Austausch auf jeder Ebene den gleichen Inhalt hatte, dass es zwischen den auf verschiedenen Ebenen abgehaltenen Treffen eine zeitliche Überschneidung gab, dass die Ebenen aufeinander Bezug nahmen und gesammelte Informationen austauschten und dass es gemeinsame Kontakte zwischen den Ebenen gab (vgl. Rn. 218 oben). Es ist auch darauf hinzuweisen, dass es den Klägerinnen nicht gelungen ist, im Rahmen des dritten Klagegrundes die Feststellungen der Kommission zum Vorliegen von Verbindungen zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte in Frage zu stellen (vgl. Rn. 229 oben).
466 Drittens stellt das Gericht mit der Kommission fest (vgl. Rn. 453 und 454 oben), dass der Inhalt des Austauschs zwischen den Parteien sowie das Ziel dieses Austauschs, die Ungewissheit zwischen den Parteien, die im Wesentlichen ihre künftigen Preisstrategien betraf, zu verringern, gleich geblieben sind. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die Kommission nach Ansicht des Gerichts in den Erwägungsgründen 243 und 321 des angefochtenen Beschlusses zu Recht festgestellt hat, dass die Art der Gespräche und der Vereinbarungen über den Zeitplan für die Einführung von neuen, bestimmten Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modellen mit der Kollusion hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen in Verbindung gestanden und diese ergänzt habe (vgl. Rn. 297 oben).
467 Viertens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission zu Recht die Ansicht vertreten hat, dass sich der geografische Umfang des wettbewerbswidrigen Austauschs auf deutscher Ebene auf den gesamten EWR erstreckt habe, ebenso wie der des wettbewerbswidrigen Austauschs auf der Führungsebene.
468 Auf der Grundlage der vorstehenden Gesichtspunkte ist der Feststellung der Kommission zuzustimmen, dass der im 317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschriebene Austausch zwischen den Parteien Teil eines Gesamtplans mit einem einheitlichen wettbewerbswidrigen Ziel gewesen sei.
469 Das Vorbringen der Klägerinnen stellt die Schlussfolgerung des Gerichts nicht in Frage. Dieses Vorbringen lässt sich in drei Gruppen unterteilen. Erstens machen die Klägerinnen geltend, die Kommission habe dadurch, dass sie die drei Ebenen der Kontakte zwischen den Parteien gemeinsam bewertet habe, einen Fehler begangen. Zweitens wenden sie sich gegen die im 320. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses enthaltene Feststellung der Kommission, die auf den drei Ebenen ausgetauschten Informationen seien gleichartig gewesen. Drittens wenden sich die Klägerinnen gegen die im 327. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses vertretene Auffassung der Kommission, die „Verlagerung“ des Austauschs von der Führungsebene auf die deutsche Ebene habe die fortgesetzte Natur der Zuwiderhandlung nicht berührt.
– Gesamtbewertung der drei Kontaktebenen
470 Um das Vorliegen eines Gesamtplans im vorliegenden Fall zu bestreiten, machen die Klägerinnen im Wesentlichen geltend, die drei Ebenen der Kontakte müssten entgegen dem von der Kommission im angefochtenen Beschluss verfolgten Ansatz getrennt und nicht gemeinsam bewertet werden.
471 Zur Begründung dieser Auffassung machen die Klägerinnen erstens geltend, die Kommission habe keinen relevanten tatsächlichen Zusammenhang zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte nachgewiesen. Aus den oben in Rn. 465 aufgeführten Gründen ist diese Rüge zurückzuwiesen.
472 Zweitens machen die Klägerinnen geltend, der Umfang der Zuwiderhandlung müsse auf der Grundlage tatsächlicher Umstände bestimmt werden, die unmittelbar mit den Mitarbeitern verbunden seien, die an dem angeblichen kollusiven Verhalten beteiligt gewesen seien. Die Kommission habe nicht nachgewiesen, dass die Mitarbeiter der Unternehmen, die an den kollusiven Kontakten auf den verschiedenen Ebenen beteiligt gewesen seien, eine gemeinsame Kenntnis und ein gemeinsames Verständnis von der Tragweite des kollusiven Verhaltens gehabt hätten. In diesem Zusammenhang tragen die Klägerinnen vor, die Unternehmen seien auf den verschiedenen Kontaktebenen von verschiedenen Mitarbeitern vertreten worden.
473 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die in Rede stehenden kollusiven Kontakte während ihrer gesamten Dauer von derselben Gruppe von Lkw-Herstellern, nämlich von Scania und den Vergleichsparteien, gehalten wurden. Im Übrigen war an diesen Kontakten eine kleine Gruppe von Mitarbeitern auf jeder Ebene beteiligt, deren Zusammensetzung relativ stabil blieb, und sie fanden regelmäßig und häufig statt. Es ist auch auf die Verbindungen zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte hinzuweisen. In Anbetracht dieser Faktoren stellt der Umstand, dass nicht dieselben Mitarbeiter an den kollusiven Kontakten beteiligt waren, die Schlussfolgerung nicht in Frage, dass im vorliegenden Fall ein gemeinsamer Plan vorlag.
474 Was das oben in Rn. 472 wiedergegebene Vorbringen der Klägerinnen anlangt, wonach die Kommission nicht nachgewiesen habe, dass die Mitarbeiter der Unternehmen, die an den kollusiven Kontakten auf den verschiedenen Ebenen beteiligt gewesen seien, eine gemeinsame Kenntnis und ein gemeinsames Verständnis von der Tragweite des kollusiven Verhaltens gehabt hätten, so zielt dieses Vorbringen auf die Frage ab, ob das Bewusstsein über den Gesamtplan auf Ebene des Unternehmens oder auf Ebene seiner Mitarbeiter zu beurteilen ist. Die Klägerinnen werfen der Kommission vor, dieses Bewusstsein auf Ebene des Unternehmens beurteilt zu haben und es unterlassen zu haben, das Bewusstsein auf Ebene der Mitarbeiter zu prüfen.
475 Diese Rüge der Klägerinnen ist unbegründet.
476 Es ist darauf hinzuweisen, dass das Wettbewerbsrecht der Union die Tätigkeit von „Unternehmen“ betrifft, wobei unter dem Begriff des Unternehmens eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen ist, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet wird (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 54 und 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
477 Ferner ergibt sich in Bezug auf die Frage, ob Unternehmen Zuwiderhandlungen ihrer Mitarbeiter zugerechnet werden können, aus der Rechtsprechung, dass die Befugnis der Kommission, ein Unternehmen mit einer Sanktion zu belegen, nur die rechtswidrige Handlung einer Person voraussetzt, die im Allgemeinen berechtigt ist, für das Unternehmen tätig zu werden (vgl. Urteil vom 12. Dezember 2014, H & R ChemPharm/Kommission, T‑551/08, EU:T:2014:1081, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
478 Aus der oben in den Rn. 476 und 477 angeführten Rechtsprechung ergibt sich, dass die Frage, ob man sich bewusst war, dass ein Gesamtplan vorlag, zwangsläufig auf Ebene der beteiligten Unternehmen und nicht auf Ebene ihrer Mitarbeiter zu beurteilen ist. Wie die Kommission zutreffend anmerkt, wäre es ihr unmöglich, das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung nachzuweisen, wenn sie verpflichtet wäre, zu beweisen, dass jeder Mitarbeiter eines am Kartell beteiligten Unternehmens eine genaue Kenntnis vom Verhalten der anderen Mitarbeiter im Kartell hatte, zumal da Kartelle im Allgemeinen geheim sind und es in Kartellfällen oftmals nur lückenhafte und vereinzelte Beweise gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2011, Trade-Stomil/Kommission, T‑53/07, EU:T:2011:360, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall kann aus dem Vorliegen von Verbindungen zwischen den drei Ebenen der kollusiven Kontakte und insbesondere aus der Tatsache, dass die natürlichen Personen, die auf den drei Ebenen der kollusiven Kontakte beteiligt waren, Mitarbeiter derselben Unternehmen waren, abgeleitet werden, dass diese Unternehmen eine gemeinsame Kenntnis und ein gemeinsames Verständnis des Gesamtplans und damit des rechtswidrigen Verhaltens hatten.
479 Nach alledem ist das Vorbringen der Klägerinnen, die Kommission hätte die drei Ebenen der kollusiven Kontakte getrennt bewerten müssen, zurückzuweisen.
– Art der auf den drei Kontaktebenen ausgetauschten Informationen
480 Die Klägerinnen wenden sich gegen die insbesondere in den Erwägungsgründen 320 und 322 des angefochtenen Beschlusses geäußerte Erwägung, dass die auf den verschiedenen Kontaktebenen ausgetauschten Informationen gleicher Art gewesen seien und das gleiche wettbewerbswidrige Ziel verfolgt hätten.
481 Insoweit führen die Klägerinnen erstens den 322. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses an, der auf eine grundlegende Änderung der Art der Kontakte hinweise, da es dort heiße, dass die Parteien ab September 2004 nicht mehr aktiv versucht hätten, zu einer genauen Vereinbarung über die künftigen Bruttopreiserhöhungen zu kommen, wie sie es vor diesem Zeitpunkt getan hätten.
482 Dieses Vorbringen der Klägerinnen kann keinen Erfolg haben. Zwar heißt es im 322. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass die Parteien nach September 2004 nicht mehr versucht hätten, ausdrückliche Vereinbarungen abzuschießen, sondern sich im Wesentlichen mit dem Austausch von Informationen mit dem Ziel der Wettbewerbsbeschränkung begnügt hätten. Wie jedoch die Kommission zu Recht feststellt, betrifft diese Änderung, obwohl sie die Einstufung des in Rede stehenden Verhaltens als Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise beeinflussen kann, nicht die „Art“ der ausgetauschten Informationen, die nach dem 322. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses gleich geblieben ist und darauf abzielte, den Grad der strategischen Ungewissheit der Parteien in Bezug auf die künftigen Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von den neuen Umweltstandards entsprechenden Lkw zu verringern.
483 Zweitens verweisen die Klägerinnen auf die Erwägungsgründe 116 und 117 des angefochtenen Beschlusses, in denen ein Treffen auf unterer Ebene des Sitzes vom 3. und 4. Juli 2001 beschrieben wird, in dessen Rahmen die Mitarbeiter des Unternehmenssitzes der Parteien ihre Besorgnis über den ihrer Ansicht nach zu weit gehenden Austausch auf deutscher Ebene zum Ausdruck brachten und vereinbarten, in Zukunft nur noch technische Informationen und keine Preisinformationen auszutauschen. Nach Ansicht der Klägerinnen zeigen diese Erwägungsgründe, dass der Informationsaustausch auf unterer Ebene des Sitzes und auf deutscher Ebene nicht gleichartig gewesen sei und nicht dasselbe Ziel verfolgt habe.
484 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht bereits im Rahmen der Prüfung des dritten und fünften Klagegrundes festgestellt hat, dass der Austausch auf unterer Ebene des Sitzes und auf deutscher Ebene zur Verwirklichung des gemeinsamen Plans beigetragen hat und dass diese beiden Ebenen der kollusiven Kontakte sachlich miteinander in Verbindung standen, und zwar vor allem deshalb, weil die Beteiligten auf diesen Ebenen Mitarbeiter derselben Unternehmen waren, weil es zeitliche Überschneidungen zwischen den Treffen auf den beiden Ebenen gab, weil es zwischen den Mitarbeitern auf unterer Ebene des Sitzes und den Mitarbeitern auf deutscher Ebene Kontakte gab, und weil die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes über den Inhalt des Austauschs auf deutscher Ebene informiert waren (vgl. oben Rn. 224 und 228). Im Übrigen ergibt sich aus der Akte, dass trotz der Vereinbarung zwischen den Teilnehmern auf unterer Ebene des Sitzes im Jahr 2001, in Zukunft keine Preisinformationen mehr auszutauschen (vgl. oben Rn. 478), ein solcher Austausch stattfand (vgl. oben Rn. 229). Unter diesen Umständen ist das oben in Rn. 483 wiedergegebene Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen. Jedenfalls ist zu berücksichtigen, dass nach den im angefochtenen Beschluss angeführten und von den Klägerinnen nicht in Frage gestellten Beweisen die Treffen auf Führungsebene der Parteien, die bis September 2004, also parallel zu den Treffen auf unterer Ebene des Sitzes, stattfanden, eindeutig denselben wettbewerbswidrigen Zweck verfolgten wie der Austausch auf deutscher Ebene, der nach 2004 und bis zum Ende der Zuwiderhandlung im Jahr 2011 fortgesetzt wurde.
485 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Kommission keinen Fehler begangen hat, als sie festgestellt hat, dass im vorliegenden Fall ein Gesamtplan vorlag.
– Fortgesetzter Charakter der Zuwiderhandlung
486 Erstens ist festzustellen, dass die Unterbrechung der kollusiven Kontakte auf Führungsebene der Parteien im September 2004 zu keiner Unterbrechung der kollusiven Kontakte auf den beiden anderen Ebenen geführt hat.
487 So schrieb ausweislich des im 139. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweises C vom Unternehmenssitz von [vertraulich] am 11. November 2004 Mitarbeiter der anderen Hersteller an, die der unteren Ebene des Sitzes und der deutschen Ebene angehörten, um ihnen zwei neue Kontaktpersonen am Sitz von [vertraulich] vorzustellen, die für die zentrale Preisgestaltung der Waren am Sitz von [vertraulich] in [vertraulich] verantwortlich waren. C ersuchte die Wettbewerber, ihm Kontaktpersonen in ihren Organisationen zu nennen. Die E‑Mail von C war u. a. an A und an B gerichtet, die jeweils der unteren Ebene des Sitzes und der deutschen Ebene von Scania angehörten. Wie im 140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beschrieben, tauschten die Wettbewerber auch ab 2. Dezember 2004 auf deutscher Ebene Informationen über die für das Jahr 2005 geplanten Preiserhöhungen aus. Im Rahmen dieses Austauschs lieferte I, ein Mitarbeiter von Scania DE, die folgenden Informationen an K, einen Organisator dieses Informationsaustauschs und Mitarbeiter der deutschen Tochtergesellschaft von [vertraulich]: „[A]b März 2005 werden wir [die Preise von] alle[n] unsere[n] Serien [vertraulich] um 1,5 % erhöhen.“ Somit zeigt sich, dass der Austausch der Kartellteilnehmer auf deutscher Ebene den gleichen Inhalt hatte wie der Austausch auf Führungsebene und dass er mit Letzterem abgestimmt war.
488 Zweitens ist festzustellen, dass die Erwägungen der Kommission im 327. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses (siehe oben Rn. 457 bis 461) fehlerfrei sind. So steht fest, dass es zeitliche Überschneidungen zwischen den Treffen auf den verschiedenen Ebenen gab. Im Übrigen ist das Gericht im Rahmen des dritten Klagegrundes zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kommission das Vorliegen von Kontakten zwischen den Mitarbeitern der unteren Ebene des Sitzes und der deutschen Ebene und die Tatsache, dass die Mitarbeiter auf unterer Ebene des Sitzes über den Inhalt des Austauschs auf deutscher Ebene auf dem Laufenden waren, nachgewiesen hat. Zudem ist das Gericht im Rahmen des sechsten Klagegrundes zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kommission nachgewiesen hat, dass die auf deutscher Ebene ausgetauschten Preisinformationen vom Unternehmenssitz der Parteien stammten und dass die Mitarbeiter auf deutscher Ebene im Rahmen ihres Austauschs erhaltene Preisinformationen an den Sitz weitergaben.
489 Auf der Grundlage dieser Feststellungen gelangt das Gericht zu dem Schluss, dass die Kommission zu Recht davon ausgegangen ist, dass dasselbe Kartell (mit dem gleichen Inhalt und der gleichen Tragweite) trotz des Umstands, dass die kollusiven Kontakte auf Führungsebene im September 2004 unterbrochen wurden, nach diesem Zeitpunkt fortgesetzt wurde, mit dem einzigen Unterschied, dass die beteiligten Mitarbeiter aus verschiedenen Organisationsebenen der beteiligten Unternehmen und nicht aus der Führungsebene stammten.
490 Das Vorbringen der Klägerinnen stellt diese Schlussfolgerung nicht in Frage.
491 Zum einen werfen die Klägerinnen der Kommission vor, nicht erklärt zu haben, wie die „Verlagerung“ der kollusiven Kontakte von der Führungsebene auf die deutsche Ebene erfolgt sei. Damit eine „Verlagerung“ als Fortsetzung früherer Praktiken angesehen werden könne, hätte ihrer Meinung nach ein Kontrollmechanismus eingerichtet werden müssen, um die Kontinuität zu gewährleisten. Sie berufen sich auch auf das Urteil vom 10. November 2017, Icap u. a./Kommission (T‑180/15, EU:T:2017:795, Rn. 223), in dem das Gericht darauf hingewiesen habe, dass in Fällen, in denen die Fortsetzung einer Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise besonderer Durchführungsmaßnahmen bedürfe, die Kommission bei Fehlen eines Beweises für das Ergreifen dieser Maßnahmen nicht von der Fortsetzung des Kartells ausgehen dürfe.
492 Diesem Vorbringen der Klägerinnen kann nicht gefolgt werden. Aus dem angefochtenen Beschluss ergibt sich, dass die Kommission die Begriffe „Verlagerung“ oder „Umstellung“ des Austauschs von der Führungsebene auf die deutsche Ebene verwendet hat, um auszudrücken, dass es auf der Ebene der Mitarbeiter, die an den kollusiven Kontakten beteiligt waren, eine Änderung gegeben hat, und nicht, um auszudrücken, dass es irgendeine Unterbrechung des Kartells gegeben hätte. Im Übrigen hat die Kommission im 327. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die tatsächlichen Umstände dargelegt, die die Fortsetzung des Kartells nach September 2004 belegen (siehe oben Rn. 458 bis 460); angesichts dieser Umstände zeigt sich, dass keine „besondere Durchführungsmaßnahme“ im Sinne des Urteils vom 10. November 2017, Icap u. a./Kommission (T‑180/15, EU:T:2017:795, Rn. 223), erforderlich war.
493 Zum anderen werfen die Klägerinnen der Kommission vor, im angefochtenen Beschluss nicht nachgewiesen zu haben, dass die Mitarbeiter von Scania DE, die an den Treffen auf deutscher Ebene teilgenommen hätten, gewusst hätten, dass sie an der Fortsetzung von Praktiken beteiligt gewesen seien, die auf den beiden anderen Ebenen stattgefunden hätten, oder dass die Mitarbeiter von Scania, die an den Treffen auf unterer Ebene des Sitzes teilgenommen hätten, Kenntnis von den Treffen auf Führungsebene gehabt hätten.
494 Dieses Vorbringen der Klägerinnen beruht auf der Annahme, dass das Bewusstsein über das Vorliegen des Gesamtplans auf der Ebene der Mitarbeiter des Unternehmens und nicht auf der Ebene des Unternehmens selbst zu beurteilen ist. Wie bereits festgestellt, ist diese Annahme jedoch falsch (siehe oben Rn. 474 bis 478).
495 Zur Frage, ob sich Scania als Unternehmen trotz der „Verlagerung“ des Austauschs von der Führungsebene auf die deutsche Ebene des fortgesetzten Charakters der Zuwiderhandlung bewusst war, ist Folgendes anzumerken.
496 Erstens ist auf die wichtige Rolle hinzuweisen, die der Unternehmenssitz von Scania bei der Festsetzung der Preise auf der Ebene der nationalen Verteiler des Unternehmens und damit auf der Ebene von Scania DE spielt, die eine hundertprozentige Tochtergesellschaft ist. Der Preisfestsetzungsmechanismus bei Scania ist im Rahmen des sechsten Klagegrundes geprüft worden.
497 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die in der Akte enthaltenen Beweise zeigen, dass die Mitarbeiter am Unternehmenssitz von Scania (untere Ebene des Sitzes) vom Inhalt des Austauschs auf deutscher Ebene Kenntnis hatten (siehe oben Rn. 418). Es ist nicht plausibel, dass die leitenden Organe dieses Unternehmens davon keine Kenntnis haben sollten.
498 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die in der Akte enthaltenen Beweise nahelegen, dass die Mitarbeiter von Scania DE auf deutscher Ebene Informationen, die vom Sitz von Scania stammten, austauschten (siehe oben Rn. 413, 437, 438 und 442).
499 Diese drei Faktoren zeigen, dass das Unternehmen Scania und sein Sitz ungeachtet des Umstands, dass der Austausch auf Führungsebene im September 2004 beendet wurde, Kenntnis davon hatten, dass die gleiche Zuwiderhandlung nach September 2004 fortgesetzt wurde, mit dem einzigen Unterschied, dass die Mitarbeiter der Führungsebene nicht mehr an den kollusiven Kontakten beteiligt waren. Insoweit ist der von den Klägerinnen angeführte Umstand, dass die Mitarbeiter von Scania DE keine Kenntnis von den kollusiven Kontakten auf Führungsebene hatten, irrelevant.
500 Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die Schlussfolgerung der Kommission, dass im vorliegenden Fall eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung vorliege, nicht fehlerhaft ist.
2) Zurechenbarkeit der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung an Scania
501 Die Kommission hat im 332. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass Scania unmittelbar an allen relevanten Aspekten des Kartells beteiligt gewesen sei.
502 Außerdem hat die Kommission im 333. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angemerkt, dass Scania, obwohl sie nur schwere Lkw hergestellt und verkauft habe, gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass die anderen Kartellteilnehmer auch mittlere Lkw herstellten und dass es bei den kollusiven Kontakten um diese beiden Lkw-Typen (mittlere und schwere) gegangen sei. Die Kommission hat daher festgestellt, dass Scania wusste oder hätte wissen müssen, dass die wettbewerbswidrigen Praktiken mittlere und schwere Lkw betroffen hätten.
503 Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat die Kommission im 334. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses den Schluss gezogen, dass Scania die Absicht gehabt habe, zur Zuwiderhandlung beizutragen, und dass sie von ihrem Vorliegen gewusst habe oder hätte wissen müssen.
504 Die Klägerinnen bestreiten die Zurechenbarkeit der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung an Scania mit dem Argument, dass die Kommission das Vorliegen der erforderlichen „mentalen Komponente“ nicht nachgewiesen habe. Mit anderen Worten werfen sie ihr vor, im angefochtenen Beschluss nicht nachgewiesen zu haben, dass die im Urteil vom 8. Juli 1999, Kommission/Anic Partecipazioni (C‑49/92 P, EU:C:1999:356, Rn. 87), aufgestellten kumulativen Kriterien des Interesses, des Wissens und der Bereitschaft, die Gefahr auf sich zu nehmen, im vorliegenden Fall in Bezug auf die an den drei Kontaktebenen beteiligten Mitarbeiter von Scania erfüllt seien.
505 Da das Bewusstsein über das Vorliegen eines Gesamtplans auf der Ebene der beteiligten Unternehmen und nicht auf der Ebene ihrer Mitarbeiter zu prüfen ist (siehe oben Rn. 478), ist insoweit festzustellen, dass demgemäß die Faktoren, die die Zurechenbarkeit der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung bestimmen, auch auf der Ebene des Unternehmens beurteilt werden müssen.
506 Was zudem die Faktoren betrifft, die für die Zurechenbarkeit der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung an ein Unternehmen maßgeblich sind, so ergibt sich aus dem Urteil vom 6. Dezember 2012, Kommission/Verhuizingen Coppens (C‑441/11 P, EU:C:2012:778, Rn. 43 bis 45), dass die Kommission, wenn sich das in Rede stehende Unternehmen an dem gesamten wettbewerbswidrigen Verhalten, das die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung bildet, unmittelbar beteiligt hat, berechtigt ist, ihm die Zuwiderhandlung in ihrer Gesamtheit zuzurechnen, ohne dass sie nachweisen muss, dass die Kriterien des Interesses, des Wissens und der Bereitschaft, die Gefahr auf sich zu nehmen, erfüllt sind.
507 Im vorliegenden Fall kann festgestellt werden, dass das Unternehmen Scania gemäß den Feststellungen im 332. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses unmittelbar an sämtlichen relevanten Aspekten des Kartells beteiligt war. Seine Mitarbeiter waren an den kollusiven Kontakten beteiligt, die auf drei Ebenen stattfanden. Das Unternehmen Scania tauschte mit seinen Wettbewerbern Informationen über Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung der den Euro-3- bis Euro-6-Normen entsprechenden Technologien aus. Scania nahm aktiv am Kartell teil, organisierte Treffen und nahm am Austausch von E‑Mails teil (vgl. 332. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
508 Scania stellt zwar keine schweren Lkw her. Allerdings ergibt sich aus der Akte, dass die kollusiven Kontakte, an denen die Mitarbeiter von Scania beteiligt waren, unterschiedslos mittlere und schwere Lkw betrafen (vgl. 333. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Folglich war die Kommission berechtigt, dem Unternehmen Scania die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung auch in Bezug auf mittlere Lkw zuzurechnen, da dieses Unternehmen notwendigerweise Kenntnis von diesem Aspekt des Kartells hatte.
509 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Zurechnung der gesamten einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung an Scania nicht fehlerhaft ist. Demzufolge ist der siebte Klagegrund zurückzuweisen.
4. Achter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und von Art. 53 des EWR-Abkommens sowie von Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003, soweit die Kommission eine Geldbuße wegen eines verjährten Verhaltens verhängt habe und jedenfalls nicht berücksichtigt habe, dass dieses Verhalten nicht fortgesetzt worden sei
510 Erstens machen die Klägerinnen geltend, der Sachverhalt, der die Führungsebene betreffe und die Verhängung einer Geldbuße rechtfertige, sei nach Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 verjährt, da die Treffen auf dieser Ebene im September 2004, d. h. mehr als fünf Jahre vor Beginn der Untersuchung der Kommission, geendet hätten. Die Klägerinnen fügen hinzu, die Kommission habe unter diesen Umständen kein berechtigtes Interesse im Sinne von Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit dem Verhalten auf Führungsebene festzustellen.
511 Zweitens machen die Klägerinnen geltend, selbst wenn das Gericht den in Rede stehenden Sachverhalt als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung ansehen sollte (wovon nicht auszugehen sei), müsse der angefochtene Beschluss insoweit abgeändert werden, als er die Unterbrechungen der angeblichen Zuwiderhandlung in Bezug auf die die Führungsebene nicht berücksichtige. In diesem Zusammenhang tragen die Klägerinnen vor, der angefochtene Beschluss enthalte keine hinreichenden Beweise dafür, dass im Jahr 1999 Treffen auf Führungsebene stattgefunden hätten.
512 Außerdem sei im angefochtenen Beschluss in Anbetracht des Fehlens von Beweisen für die Teilnahme von Scania an den Treffen auf Führungsebene im Jahr 1999 und im Jahr 2002 zu Unrecht festgestellt worden, dass Scania zwischen dem 17. Januar 1997 und dem 24. September 2004 fortgesetzt an den Treffen auf Führungsebene teilgenommen habe. Vielmehr hätte festgestellt werden müssen, dass diese Treffen, zumindest was Scania betreffe, zwischen dem 3. September 1998 und dem 3. Februar 2000 (17 Monate Unterbrechung) und zwischen dem 20. November 2001 und dem 10. April 2003 (weitere 17 Monate Unterbrechung) unterbrochen worden seien.
513 Die Klägerinnen kommen zu dem Ergebnis, dass der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären sei und dass jedenfalls für alle Zuwiderhandlungen vor dem 10. April 2003 wegen Verjährung keine Geldbuße verhängt werden könne. Hilfsweise machen die Klägerinnen geltend, für alle Zuwiderhandlungen vor dem 3. Februar 2000 könne wegen Verjährung keine Geldbuße verhängt werden. Die Klägerinnen tragen außerdem vor, bei der Berechnung einer Geldbuße im Zusammenhang mit der Führungsebene müssten jedenfalls die langen Zeiträume geringerer Intensität der Zuwiderhandlung berücksichtigt werden.
514 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
515 Zunächst ist hinsichtlich des Vorbringens der Klägerinnen in Bezug auf die Verjährung der Befugnis zur Festsetzung einer Geldbuße durch die Kommission darauf hinzuweisen, dass nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung die Befugnis der Kommission, gegen Unternehmen Geldbußen wegen Zuwiderhandlungen u. a. gegen Art. 101 AEUV festzusetzen, in fünf Jahren verjährt. Art. 25 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht vor, dass die Verjährung bei dauernden oder fortgesetzten Zuwiderhandlungen erst mit dem Tag beginnt, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist. Art. 25 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht u. a. vor, dass die Verjährung der Befugnis zur Festsetzung von Geldbußen durch jede auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Handlung der Kommission unterbrochen wird.
516 Im vorliegenden Fall hat die Kommission fehlerfrei festgestellt, dass das Verhalten auf Führungsebene Teil einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gewesen sei, die am 18. Januar 2011 geendet habe. Folglich beginnt die fünfjährige Verjährungsfrist erst ab dem letztgenannten Zeitpunkt zu laufen, was bedeutet, dass im vorliegenden Fall die Befugnis der Kommission, eine Geldbuße festzusetzen, nicht verjährt ist.
517 Sodann ist zum Vorbringen der Klägerinnen zum angeblichen Fehlen von Beweisen für die Treffen auf Führungsebene im Jahr 1999 Folgendes festzustellen.
518 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss genügend Beweise für das Vorliegen von Treffen auf Führungsebene in den Jahren 1998 und 2000 enthält. Genauer gesagt, wird im 105. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ein schriftlicher Beweis für ein Treffen auf Führungsebene vom 3. September 1998 angeführt, bei dem die Vertreter der Parteien Marktprognosen für das Jahr 1999 austauschten. Nach diesem schriftlichen Beweis nahm N, ein Vertreter des Unternehmenssitzes von Scania, an diesem Treffen teil. Wie aus den Erwägungsgründen 109 bis 112 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, fanden ähnliche Treffen während des Jahres 2000 statt, an denen N vom Sitz von Scania ebenfalls teilnahm.
519 Zweitens geht aus dem im 106. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten schriftlichen Beweis hervor, dass das nächste Treffen auf Führungsebene nach dem Treffen, das am 3. September 1998 stattfand (siehe oben Rn. 518), für den Januar 1999 vorgesehen war.
520 Drittens nimmt die Kommission im 106. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses auf eine Kronzeugenerklärung von [vertraulich] Bezug, wonach im Zeitraum von 1998 bis 2001 zwischen den Wettbewerbern zumindest einmal pro Jahr Treffen stattgefunden haben sollen. Nach dieser Erklärung tauschten die Teilnehmer an diesen Treffen, die nicht zur Führungsebene gehört hätten, insbesondere Informationen über künftige Preiserhöhungen aus. Zu den Teilnehmern an diesen Treffen gehörte O, der Generaldirektor von Scania DE.
521 Viertens ist mit der Kommission darauf hinzuweisen, dass die Treffen auf Führungsebene Teil einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung waren und dass daher alle Treffen zwischen den Wettbewerbern auf jeder organisatorischen Ebene bei der Beurteilung, ob die Zuwiderhandlung im Jahr 1999 fortgesetzt wurde, zu berücksichtigen waren.
522 Fünftens ist auch darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere bei einer sich über mehrere Jahre erstreckenden Zuwiderhandlung das Fehlen eines unmittelbaren Beweises für die Beteiligung einer Gesellschaft an der Zuwiderhandlung während eines bestimmten Zeitraums nicht der Feststellung entgegensteht, dass sich die Gesellschaft auch während dieses Zeitraums daran beteiligt hat, sofern die Feststellung auf objektiven und übereinstimmenden Indizien beruht. Das Fehlen einer offenen Distanzierung der Gesellschaft kann als ein solches Indiz herangezogen werden (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑625/13 P, EU:C:2017:52, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
523 In Anbetracht der oben in den Rn. 518 bis 521 dargelegten Gesichtspunkte und der oben in Rn. 522 angeführten Rechtsprechung ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission fehlerfrei festgestellt hat, dass die einheitliche Zuwiderhandlung im vorliegenden Fall im Jahr 1999 nicht unterbrochen worden sei und dass Scania auch in diesem Jahr an dieser Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sei.
524 Ferner ist zu dem Vorbringen der Klägerinnen, dass die Teilnahme von Scania an den Treffen auf Führungsebene im Jahr 2002 nicht erwiesen sei, Folgendes festzustellen.
525 Erstens ergibt sich aus dem 119. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass ein Einladungsschreiben für ein Treffen auf Führungsebene, das am 7. Februar 2002 stattfand, an M vom Unternehmenssitz von Scania geschickt worden war.
526 Zweitens ergibt sich aus den im 123. Erwägungsgrund der im angefochtenen Beschluss dargelegten handschriftlichen Notizen eines Vertreters von [vertraulich] über ein Treffen auf Führungsebene vom 27. und 28. Juni 2002, dass Scania mehreren Ländern Verkaufszahlen für das Jahr 2002 übermittelt hat.
527 Drittens zeigt ein im 126. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannter interner Bericht von [vertraulich], in dem die bei einem Treffen auf Führungsebene vom 18. September 2002 ausgetauschten Informationen zusammengefasst wurden, dass Scania Informationen über ihre Preiserhöhungen im Jahr 2002 und über eine Klage, mit der sie im Vereinigten Königreich konfrontiert war, mitteilte.
528 In Anbetracht der oben in den Rn. 525 bis 527 dargestellten Beweise ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission die Teilnahme von Scania an den Treffen auf Führungsebene im Jahr 2002 rechtlich hinreichend nachgewiesen hat.
529 Diese Schlussfolgerung wird durch die eidesstattliche Erklärung von M, einem Vertreter von Scania bei den Treffen auf Führungsebene, nicht in Frage gestellt, wonach er im Jahr 2002 „nach seinen Erinnerungen“ an keinem Treffen dieser Art teilgenommen habe. Diese Erklärung ist recht vage und überzeugt das Gericht nicht. Im Übrigen ist bereits festgestellt worden, dass in tempore non suspecto erstellte Dokumente, wie während einem Treffen angefertigte handschriftlichen Notizen, einen viel größeren Beweiswert haben als Dokumente, die nicht aus der Zeit des Sachverhalts stammen, wie eidesstattliche Erklärungen.
530 Schließlich weist das Gericht darauf hin, dass die Klägerinnen in Fn. 554 der Klageschrift geltend machen, dass die Teilnahme von Scania an bestimmten Treffen auf Führungsebene, die im angefochtenen Beschluss angeführt seien, nicht erwiesen sei. Es handelt sich um die Treffen in Brüssel am 17. Januar 1997 (98. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses) und vom 6. April 1998 (103. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), in Amsterdam (Niederlande) am 3. Februar 2000 (Erwägungsgründe 108 bis 110) und in Eindhoven (Niederlande) am 6. September 2000 (111. Erwägungsgrund). Zur Stützung dieser Behauptung berufen sie sich auf die eidesstattliche Erklärung von N, der behauptet, sich nicht daran zu erinnern, daran teilgenommen zu haben.
531 Das Gericht stellt fest, dass die oben in Rn. 530 genannten Erwägungsgründe des angefochtenen Beschlusses schriftliche Beweise für die Teilnahme von Scania an den in Rede stehenden Treffen enthalten. Was den Inhalt der eidesstattlichen Erklärung von N und ihre Beweiskraft anlangt, so verweist das Gericht auf die Erwägungen oben in Rn. 529. Das Gericht stellt fest, dass das oben in Rn. 530 wiedergegebene Vorbringen der Klägerinnen nicht stichhaltig ist.
532 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen weist das Gericht den vorliegenden Klagegrund zurück, wobei es darauf hinweist, dass die von den Klägerinnen angeführten Gründe für die Abänderung des angefochtenen Beschlusses (vgl. Rn. 511 und 513) nicht stichhaltig sind, da sich aus der dem Gericht vorliegenden Akte weder eine Unterbrechung der festgestellten einheitlichen Zuwiderhandlung noch ein Vorliegen von weniger intensiven Zeiträumen dieser Zuwiderhandlung ergibt.
5. Neunter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Grundsatz der Gleichbehandlung hinsichtlich der Höhe der Geldbuße und jedenfalls Erforderlichkeit einer Herabsetzung der Geldbuße nach Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003
533 Die Klägerinnen machen geltend, der angefochtene Beschluss müsse abgeändert werden, da die verhängte Geldbuße nicht mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung im Einklang stehe. Im Übrigen fordern sie das Gericht jedenfalls auf, im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und die Geldbuße herabzusetzen.
534 Das Gericht versteht die Verwendung des Verbs „abändern“ durch die Klägerinnen dahin, dass sie das Gericht auffordern, seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auszuüben, die dem Unionsrichter durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 nach Art. 261 AEUV eingeräumt wird.
535 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das System der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen der Kommission in Verfahren nach den Art. 101 und 102 AEUV in einer Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe auf der Grundlage von Art. 263 AEUV besteht, die gemäß Art. 261 AEUV und auf Antrag der klagenden Parteien um die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung durch das Gericht hinsichtlich der in diesem Bereich von der Kommission verhängten Zwangsmaßnahmen ergänzt werden kann (vgl. Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
536 Wenn die Unionsgerichte ihre in Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ausüben, sind sie über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus befugt, die Beurteilung der Kommission, der Urheberin des Rechtsakts, in dem der Betrag dieser Zwangsmaßnahme ursprünglich festgelegt wurde, im Hinblick auf die Festsetzung dieses Betrags durch ihre eigene Beurteilung zu ersetzen (vgl. Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).
537 Der Umfang dieser Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ist allerdings – im Gegensatz zu der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Rechtmäßigkeitskontrolle – strikt auf die Festsetzung des Betrags der Geldbuße beschränkt (vgl. Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
538 Daraus ergibt sich, dass die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung, über die das Gericht auf der Grundlage von Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 verfügt, allein die Beurteilung der von der Kommission verhängten Geldbuße durch das Gericht betrifft, unter Ausschluss jeder Änderung der Tatbestandsmerkmale der Zuwiderhandlung, die die Kommission in der Entscheidung, über die das Gericht zu befinden hat, rechtmäßig festgestellt hat (Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 77).
539 Um die Höhe der zu verhängenden Geldbuße festzusetzen, hat das Gericht die Umstände des Einzelfalls und die Art der fraglichen Zuwiderhandlung selbst zu beurteilen. Dies setzt nach Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 für jedes sanktionierte Unternehmen die Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der betreffenden Zuwiderhandlung unter Wahrung der Grundsätze u. a. der Begründungspflicht, der Verhältnismäßigkeit, der individuellen Sanktionsfestsetzung und der Gleichbehandlung voraus, ohne dass das Gericht durch die von der Kommission in ihren Leitlinien definierten Richtlinien gebunden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 89 und 90).
a)
Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
540 Erstens machen die Klägerinnen geltend, im angefochtenen Beschluss sei die Schwere der Zuwiderhandlung nicht verhältnismäßig bewertet worden, da nicht berücksichtigt worden sei, dass die Mitarbeiter von Scania DE nicht hätten wissen können, dass die Informationen, die sie von den Wettbewerbern erhielten, eine europaweite Tragweite haben könnten. Selbst wenn die Mitarbeiter von Scania DE den Wettbewerb auf dem geografischen Markt (Deutschland), für den sie verantwortlich gewesen seien, hätten beeinträchtigen wollen (was nicht der Fall gewesen sei), stünde die durch den angefochtenen Beschluss verhängte Geldbuße folglich außer Verhältnis zur Schwere der beabsichtigten Zuwiderhandlung, da sie den Wert der Verkäufe auf Ebene des EWR berücksichtige.
541 Zweitens machen die Klägerinnen geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da er hinsichtlich der Festsetzung der Höhe der Geldbuße die Tatsache nicht berücksichtige, dass sich die Kontakte zwischen den Lkw-Herstellern im berücksichtigten Zeitraum ihrer Art und Intensität nach geändert hätten, wie im 322. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt worden sei.
542 Drittens machen die Klägerinnen geltend, die in den Erwägungsgründen des angefochtenen Beschlusses beschriebene Zuwiderhandlung sei weiter gefasst als diejenige, die im verfügenden Teil des angefochtenen Beschlusses mit einer Geldbuße belegt werde. Insoweit vergleichen sie den 317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, der auf den Austausch sensibler Wettbewerbsinformationen Bezug nehme, mit Art. 1 seines verfügenden Teils, der auf diesen Austausch keinen Bezug nehme. Nach Ansicht der Klägerinnen wirkt sich diese Darstellung auf die Berechnung der Höhe der Geldbuße aus, weshalb die im angefochtenen Beschluss festgelegte Geldbuße nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der Zuwiderhandlung stehe, wie sie die Kommission vorgeblich beschrieben habe.
543 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
544 Was das oben in Rn. 540 dargestellte Vorbringen der Klägerinnen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht im Rahmen der Prüfung des sechsten Klagegrundes die Behauptung der Klägerinnen zurückgewiesen hat, wonach die Mitarbeiter von Scania, die am Austausch auf deutscher Ebene beteiligt gewesen seien, niemals davon ausgegangen seien, dass sich die Informationen, die sie bei diesem Austausch erhalten hätten, auf europäische Preise bezogen hätten oder die Ungewissheit hinsichtlich der europäischen Preisstrategie der anderen Herstellen hätten verringern können (siehe oben Rn. 415). Daraus folgt, dass das oben in Rn. 540 dargestellte Vorbringen nicht belegt, dass die Geldbuße unverhältnismäßig ist.
545 Was das oben in Rn. 541 dargestellte Vorbringen der Klägerinnen anlangt, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 322. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses klargestellt hat, dass die Parteien, wenngleich sie ab September 2004 nicht mehr wie zuvor aktiv versucht hätten, eine bestimmte Vereinbarung über künftige gemeinsame Bruttopreiserhöhungen oder über konkrete Termine für die Markteinführung der den neuen Umweltnormen entsprechenden Lkw oder die Höhe der von den Parteien an die Verbraucher weitergegebenen Kosten dieser Lkw abzuschließen, dennoch weiterhin Absprachen getroffen hätten, indem sie die gleiche Art von Informationen ausgetauscht und das gleiche Ziel verfolgt hätten, den Wettbewerb durch die Verringerung des Grades der zwischen ihnen bestehenden strategischen Ungewissheit zu beschränken.
546 Es ist auch auf die Feststellung des Gerichts hinzuweisen, wonach die ab September 2004 vorgenommene Änderung, obwohl sie die Einstufung des in Rede stehenden Verhaltens als Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise beeinflussen kann, nicht die „Art“ der ausgetauschten Informationen beeinflusst, die nach dem 322. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses gleich geblieben ist (siehe oben Rn. 482).
547 Somit zeigt sich, dass der einzige Unterschied zwischen dem Verhalten der Parteien vor September 2004 und nach September 2004 in den Versuchen besteht, die sie vor September 2004 unternommen haben, um spezielle Preisvereinbarungen abzuschließen, die nach diesem Zeitpunkt eingestellt wurden. Wie die Kommission zu Recht anmerkt, ist das oben in Rn. 541 dargestellte Vorbringen der Klägerinnen in Anbetracht zum einen des Grundsatzes, dass abgestimmte Verhaltensweisen den Wettbewerb ebenso schädigen können wie Vereinbarungen, und zum anderen der Tatsache, dass die Kommission den maßgeblichen Schweregrad wegen der Versuche der Parteien, Preisvereinbarungen abzuschließen, nicht erhöht hat, kein Beleg für die Unverhältnismäßigkeit der Geldbuße.
548 Was das oben in Rn. 542 dargestellte Vorbringen der Klägerinnen anlangt, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission im 317. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses auf das Vorliegen von Praktiken hingewiesen hat, die den Grad der strategischen Ungewissheit zwischen den Parteien in Bezug auf künftige Preise, Bruttopreiserhöhungen, den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten der Einführung von den Umweltnormen entsprechenden Lkw-Modellen verringert haben. In Erwägungsgrund 317 Buchst. a bis c und wie sich aus der Verwendung des Ausdrucks „[i]nsoweit“ ergibt, hat die Kommission erläutert, worin die genannten Praktiken bestanden. In Erwägungsgrund 317 Buchst. c hat die Kommission darauf hingewiesen, dass „andere sensible Wettbewerbsinformationen“ geteilt worden seien.
549 In Art. 1 des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission die Kollusion hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie des Zeitplans und der Weitergabe der Kosten der Einführung der Abgastechnologien genannt.
550 Aus dem Vergleich des 317. Erwägungsgrundes mit Art. 1 des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses ergibt sich, dass zwischen den beiden Bestimmungen bei der Beschreibung der Zuwiderhandlung keine Divergenz besteht, da die Bezugnahme der Kommission auf das Teilen „anderer sensibler Wettbewerbsinformationen“ nur ein Beispiel für die Kollusion hinsichtlich der Preise und Bruttopreiserhöhungen sowie des Zeitplans und der Weitergabe der Kosten der Einführung der Abgastechnologien ist.
551 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass keines der Argumente der Klägerinnen die Unverhältnismäßigkeit der Geldbuße belegt.
b)
Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
552 Die Klägerinnen stützen ihre Behauptung, dass die Höhe der Geldbuße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße, auf drei Argumente.
553 Erstens machen die Klägerinnen geltend, der Wortlaut des angefochtenen Beschlusses unterstreiche ihre Rolle bei der Zuwiderhandlung in übertriebener Weise und lasse im Wesentlichen die Rolle der anderen Lkw-Hersteller außer Acht, wodurch die Realität verzerrt werde. Nach Ansicht der Klägerinnen ist es aufgrund dieses Wortlauts des angefochtenen Beschlusses unmöglich, ihre Rolle bei der Zuwiderhandlung mit der der anderen Lkw-Hersteller zu vergleichen, und aufgrund dieser Unmöglichkeit eines Vergleichs verstießen mehrere von der Kommission im angefochtenen Beschluss vorgenommene Bewertungen in Bezug auf die Höhe der Geldbuße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Die Klägerinnen nehmen auf den 444. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses Bezug, in dem die Kommission das Vorliegen erschwerender oder mildernder Umstände im vorliegenden Fall verneint habe. Die Klägerinnen nehmen auch auf den 432. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses Bezug, in dem die Kommission klargestellt habe, dass sie bei der Berechnung des Grundbetrags der gegen Scania verhängten Geldbuße denselben Anteil am Umsatz wie für die Vergleichsparteien im Vergleichsbeschluss zugrunde gelegt habe.
554 Die Klägerinnen machen auch geltend, der Umstand, dass der angefochtene Beschluss ihre Rolle bei dem in Rede stehenden Verhalten im Vergleich zur Beschreibung der Rolle der anderen Wettbewerber im Vergleichsbeschuss genauer und gezielter beschreibe, benachteilige sie im Rahmen von Schadensersatzklagen, denen sie ausgesetzt seien.
555 Zweitens machen die Klägerinnen geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, da er auf alle Hersteller dieselbe Methode für die Berechnung der Geldbuße anwende, ohne zu berücksichtigen, dass ihr Marktanteil auf europäischer Ebene geringer gewesen sei als der der anderen Hersteller und dass der Abstand zu den Marktführern, vor allem in Deutschland, sehr groß gewesen sei.
556 Die Klägerinnen machen auch geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da er die Tatsache nicht berücksichtige, dass die Mitarbeiter von Scania DE eine passive Rolle gespielt hätten bzw. dass sie zumindest im Vergleich zu den beiden großen Herstellern auf dem Markt keine führende Rolle bei dem in Rede stehenden Verhalten gespielt hätten.
557 Drittens machen die Klägerinnen geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da die von der Kommission zur Berechnung der gegen die Klägerinnen verhängten Geldbuße befolgte Methode dieselbe sei wie die auf die anderen Lkw-Hersteller angewandte, obwohl die Klägerinnen im Unterschied zu den Letztgenannten keine mittleren Lkw herstellten.
558 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen.
559 Bevor auf jedes der genannten Argumente eingegangen wird, ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung ein in den Art. 20 und 21 der Charta verankerter allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt er, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteile vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 132, und vom 26. Januar 2017, Zucchetti Rubinetteria/Kommission, C‑618/13 P, EU:C:2017:48, Rn. 38). Zudem dürfen ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung die Unternehmen, die an einer gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßenden Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise beteiligt waren, bei der Bemessung der Geldbuße nicht durch die Anwendung verschiedener Berechnungsmethoden ungleich behandelt werden (Urteile vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 133; vom 12. November 2014, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, C‑580/12 P, EU:C:2014:2363, Rn. 62, und vom 26. Januar 2017, Zucchetti Rubinetteria/Kommission, C‑618/13 P, EU:C:2017:48, Rn. 38).
560 Was das oben in Rn. 553 wiedergegebene Argument der Klägerinnen anlangt, ist mit der Kommission erstens darauf hinzuweisen, dass die Kommission nach Art. 296 AEUV verpflichtet war, den angefochtenen Beschluss rechtlich hinreichend zu begründen, was sie getan hat. Da Scania die einzige Adressatin des angefochtenen Beschlusses war, war es normal, dass sich die Beurteilung auf ihre Rolle im Kartell konzentrierte. Die anderen Kartellteilnehmer waren bereits Gegenstand des Vergleichsbeschlusses, in dem ihre Verantwortlichkeit für ihre Rolle im Kartell festgestellt wurde.
561 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Wortlaut des angefochtenen Beschlusses entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen die Rolle der anderen Lkw-Hersteller im Kartell nicht „außer Acht lässt“. Ihr Verhalten geht klar aus der in Abschnitt 6.2 des angefochtenen Beschlusses beschriebenen zeitlichen Abfolge der Ereignisse hervor, in dem auf die Art und den Inhalt des Austauschs sowie auf die am Austausch Beteiligten detailliert eingegangen wird. Daraus folgt, dass die Behauptung der Klägerinnen, dass es unmöglich sei, ihre Rolle im Kartell mit der der anderen Parteien zu vergleichen, unbegründet ist.
562 Drittens stellt das Gericht auf der Grundlage des angefochtenen Beschlusses und der ihm vorliegenden Akte fest, dass die Rolle von Scania im Kartell nicht anders war als die der anderen Parteien und dass die Klägerinnen keine Argumente und keinen Beweis für das Gegenteil beigebracht haben. Wie die Kommission zu Recht anmerkt, wurde außerdem jeder der Faktoren, die berücksichtigt wurden, um im Rahmen der Berechnung der Höhe der Geldbuße die Schwere der Zuwiderhandlung und die „Eintrittsgebühr“ zu bestimmen, nämlich die Art der Zuwiderhandlung, der kumulierte Marktanteil der beteiligten Unternehmen, der geografische Umfang der Zuwiderhandlung und ihre Durchführung, auf Scania und die anderen Parteien in gleicher Weise angewandt.
563 Nach alledem kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Kommission mit ihrer Entscheidung, bei Scania den gleichen Anteil am Umsatz zugrunde zu legen wie bei den anderen Herstellern und denselben Schwerekoeffizienten (17 %) und dieselbe „Eintrittsgebühr“ (17 %) anzuwenden wie auf die anderen Hersteller, keinen Fehler begangen hat.
564 Daher ist das oben in Rn. 553 wiedergegebene Argument zurückzuweisen.
565 Was das oben in Rn. 554 wiedergegebene Argument anlangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass im angefochtenen Beschluss das rechtswidrige Verhalten von Scania entsprechend den Anforderungen der Begründungspflicht der Kommission detailliert dargestellt wird, darauf zurückzuführen ist, dass der einzige Adressat dieses Beschlusses Scania ist, wobei dieses Unternehmen seine Verantwortlichkeit für das Kartell im Gegensatz zu den anderen Parteien, die einen förmlichen Vergleichsantrag gestellt haben, nicht anerkannt hat. Daraus folgt, dass sich die Klägerinnen nicht in der gleichen Lage wie die Vergleichsparteien befinden, so dass ihr oben in Rn. 554 wiedergegebenes Vorbringen einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht belegt.
566 Was das oben in Rn. 555 wiedergegebene Argument der Klägerinnen anlangt, ist anzumerken, dass die Kommission sowohl im angefochtenen Beschluss als auch im Vergleichsbeschluss bei der Berechnung der Geldbußen insbesondere auf den Wert der verkauften Waren, mit denen die Zuwiderhandlung der beteiligten Unternehmen im EWR in Zusammenhang stand, abgestellt hat, was im Übrigen ihren Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen entspricht. In Ziff. 6 dieser Leitlinien hat die Kommission erläutert, dass die Verbindung des Umsatzes auf den vom Verstoß betroffenen Märkten mit der Dauer eine Formel darstellt, die die wirtschaftliche Bedeutung der Zuwiderhandlung und das jeweilige Gewicht des einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens angemessen wiedergibt.
567 Im vorliegenden Fall hat das Gericht keinen Grund, die Entscheidung der Kommission in Frage zu stellen, bei allen beteiligten Unternehmen auf den Wert der verkauften Waren, mit denen die Zuwiderhandlung im EWR im Zusammenhang stand, abzustellen. Es handelt sich um eine Entscheidung, die das relative Gewicht jedes an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens angemessen wiedergibt, von der alle am Kartell beteiligten Unternehmen und nicht nur Scania betroffen waren.
568 Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Unionsrecht keinen allgemein anwendbaren Grundsatz enthält, wonach die Sanktion in angemessenem Verhältnis zur Bedeutung des Unternehmens auf dem Markt der Erzeugnisse stehen muss, die Gegenstand der Zuwiderhandlung sind (Urteil vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, C‑397/03 P, EU:C:2006:328, Rn. 101).
569 Aufgrund dieser Erwägungen ist festzustellen, dass das oben in Rn. 555 dargestellte Argument der Klägerinnen keinen Verstoß der Kommission gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz belegt und zurückzuweisen ist.
570 Das oben in Rn. 556 dargestellte Argument der Klägerinnen ist zurückzuweisen, da sich aus der Akte nicht ergibt, dass die Mitarbeiter von Scania DE bei dem im vorliegenden Fall festgestellten rechtswidrigen Verhalten eine passive oder untergeordnete Rolle gespielt haben. Daher ist die Geldbuße nicht auf dieser Grundlage herabzusetzen.
571 Zu dem oben in Rn. 557 wiedergegebenen Argument der Klägerinnen ist festzustellen, dass die Kommission, wie aus dem 429. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, bei der Berechnung der Höhe der gegen die Klägerinnen verhängten Geldbuße den Wert ihrer Verkäufe von schweren Lkw im EWR berücksichtigt hat, anders als bei der Berechnung der Höhe der gegen die Vergleichsparteien im Vergleichsbeschluss verhängten Geldbußen, bei der sie den Wert der Verkäufe von mittleren und schweren Lkw im EWR berücksichtigt hat (109. Erwägungsgrund des Vergleichsbeschlusses). Daraus folgt, dass die Rüge der Klägerinnen, wonach die Kommission nicht berücksichtigt habe, dass Scania keine mittleren Lkw hergestellt habe, unbegründet ist.
572 Nach alledem ist festzustellen, dass mit keinem der Argumente der Klägerinnen zum Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz dargetan ist, dass die Geldbuße herabzusetzen ist.
c)
Höhe der Geldbuße
573 Im Hinblick auf die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung, über die das Gericht im Bereich der Geldbußen wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verfügt, lässt nichts in den Rügen, Argumenten und rechtlichen sowie tatsächlichen Umständen, die von den Klägerinnen im Rahmen aller oben geprüfter Klagegründe vorgetragen werden, den Schluss zu, dass die Höhe der durch den angefochtenen Beschluss verhängten Geldbuße abzuändern ist.
IV. Kosten
574 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
575 Da die Klägerinnen unterlegen sind, sind ihnen entsprechend dem Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zehnte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Scania AB, die Scania CV AB und die Scania Deutschland GmbH tragen ihre eigenen Kosten sowie die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten.
Papasavvas
Kornezov
Buttigieg
Kowalik-Bańczyk
Hesse
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 2. Februar 2022.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreites
A. Dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegendes Verwaltungsverfahren
B. Angefochtener Beschluss
1. Struktur des Lkw-Marktes und Preisfestsetzungsmechanismus in der Lkw‑Industrie
a) Struktur des Lkw-Marktes
b) Preisfestsetzungsmechanismus in der Lkw‑Industrie
c) Preisfestsetzungsmechanismus bei Scania
d) Auswirkungen von Preiserhöhungen auf europäischer Ebene auf die Preise auf nationaler Ebene
2. Kollusive Kontakte zwischen Scania und den Vergleichsparteien
3. Anwendung von Art. 101 AEUV und von Art. 53 des EWR-Abkommens
a) Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen
b) Beschränkung des Wettbewerbs
c) Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung
d) Geografischer Umfang der Zuwiderhandlung
4. Adressaten
5. Berechnung der Geldbuße
a) Grundbetrag der Geldbuße
b) Endbetrag der Geldbuße
6. Verfügender Teil des angefochtenen Beschlusses
II. Verfahren und Anträge der Parteien
III. Rechtliche Würdigung
A. Weglassen bestimmter Angaben gegenüber der Öffentlichkeit
B. Begründetheit
1. Erster Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte, des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Unschuldsvermutung
2. Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 48 Abs. 2 der Charta und gegen Art. 27 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003
3. Dritter, vierter, fünfter, sechster und siebter Klagegrund, soweit sie die Schlussfolgerung der Kommission zum Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung und ihre Zurechnung an Scania betreffen
a) Vorbemerkungen
1) Begriff der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung
2) Beweislast und Beweisanforderungen
3) Angefochtener Beschluss
4) Zum Vorbringen der Klägerinnen, der Begriff der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung setze voraus, dass die Kommission mehrere offensichtlich miteinander in Verbindung stehende Zuwiderhandlungen feststelle
b) Dritter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit der Informationsaustausch auf unterer Ebene des Sitzes als Zuwiderhandlung gegen diese Vorschriften angesehen worden sei
1) Angefochtener Beschluss
2) Erste Rüge
3) Zweite Rüge
c) Vierter Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht und fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass die Klägerinnen eine Vereinbarung über den Zeitplan für die Markteinführung von Abgastechnologien geschlossen bzw. ihre Verhaltensweisen insoweit aufeinander abgestimmt hätten
1) Erster Teil des vierten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt wird
2) Zweiter Teil des vierten Klagegrundes, mit dem eine fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens gerügt wird, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass die Klägerinnen eine Vereinbarung über den Zeitplan für die Markteinführung der Abgastechnologien geschlossen bzw. ihre Verhaltensweisen insoweit aufeinander abgestimmt hätten
3) Dritter Teil des vierten Klagegrundes, mit dem geltend gemacht wird, dass der Informationsaustausch über den Zeitplan für die Markteinführung der Abgastechnologien keine bezweckte Zuwiderhandlung darstelle
d) Fünfter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission den Informationsaustausch auf deutscher Ebene als „bezweckte“ Zuwiderhandlung eingestuft habe
1) Vorbemerkungen
2) Inhalt der ausgetauschten Informationen
i) Zu den in Erwägungsgrund 238 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses genannten geplanten Änderungen der Bruttopreise und Bruttopreislisten und zum Zeitplan dieser Änderungen
– Vorbringen der Klägerinnen zur Frage, ob sich die auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen auf die Gegenwart oder auf die Zukunft bezogen haben
– Vorbringen der Klägerinnen zur Frage, ob die auf deutscher Ebene ausgetauschten Bruttopreise öffentlich bekannt waren
– Vorbringen der Klägerinnen zum fehlenden Informationswert der auf deutscher Ebene ausgetauschten Informationen über die Bruttopreise für die bei den Geschäften auf dem Markt tatsächlich angewandten Preise
ii) Zu den in Erwägungsgrund 238 Buchst. a des angefochtenen Beschlusses genannten geplanten Änderungen der Nettopreise und Kundenrabatte
iii) Zur der in Rn. 238 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses genannten Weitergabe der Kosten der Einführung der Abgastechnologien für mittlere und schwere Lkw, die aufgrund der Euro-3- bis Euro-6-Normen vorgeschrieben waren
iv) Zum Austausch anderer geschäftlich sensibler Informationen, um den es in Erwägungsgrund 238 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses geht
3) Zweck des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene
4) Kontext des Informationsaustauschs auf deutscher Ebene
e) Sechster Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission davon ausgegangen sei, dass sich der geografische Umfang der Zuwiderhandlung auf deutscher Ebene auf das gesamte Gebiet des EWR erstreckt habe
1) Geografischer Umfang der Informationen, die Scania DE erhalten hat
2) Geografischer Umfang der von Scania DE gelieferten Informationen
f) Siebter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, soweit die Kommission die Ansicht vertreten habe, dass das festgestellte Verhalten eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung darstelle und die Klägerinnen hierfür haftbar seien
1) Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung
i) Vorbemerkungen
ii) Angefochtener Beschluss
iii) Würdigung
– Gesamtbewertung der drei Kontaktebenen
– Art der auf den drei Kontaktebenen ausgetauschten Informationen
– Fortgesetzter Charakter der Zuwiderhandlung
2) Zurechenbarkeit der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung an Scania
4. Achter Klagegrund: Fehlerhafte Anwendung von Art. 101 AEUV und von Art. 53 des EWR-Abkommens sowie von Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003, soweit die Kommission eine Geldbuße wegen eines verjährten Verhaltens verhängt habe und jedenfalls nicht berücksichtigt habe, dass dieses Verhalten nicht fortgesetzt worden sei
5. Neunter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Grundsatz der Gleichbehandlung hinsichtlich der Höhe der Geldbuße und jedenfalls Erforderlichkeit einer Herabsetzung der Geldbuße nach Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003
a) Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
b) Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
c) Höhe der Geldbuße
IV. Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Nicht wiedergegebene vertrauliche Daten.
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Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 29. September 2021 (Auszüge).#Nippon Chemi-Con Corporation gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Markt für Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Abstimmung der Preise im gesamten EWR – Abgestimmte Verhaltensweise – Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Räumliche Zuständigkeit der Kommission – Verteidigungsrechte und Anspruch auf rechtliches Gehör – Unantastbarkeit des Rechtsakts – Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen von 2006 – Umsatz – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Schwere der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Ziff. 37 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen von 2006 – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung.#Rechtssache T-363/18.
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62018TJ0363
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ECLI:EU:T:2021:638
| 2021-09-29T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62018TJ0363
URTEIL DES GERICHTS (Neunte erweiterte Kammer)
29. September 2021 (*1)
„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Abstimmung der Preise im gesamten EWR – Abgestimmte Verhaltensweise – Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Räumliche Zuständigkeit der Kommission – Verteidigungsrechte und Anspruch auf rechtliches Gehör – Unantastbarkeit des Rechtsakts – Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen von 2006 – Umsatz – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Schwere der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Ziff. 37 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen von 2006 – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“
In der Rechtssache T‑363/18,
Nippon Chemi-Con Corporation mit Sitz in Tokio (Japan), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte H.‑J. Niemeyer und M. Röhrig, Rechtsanwältin I.‑L. Stoicescu und Rechtsanwalt P. Neideck,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch A. Cleenewerck de Crayencour, B. Ernst, T. Franchoo, C. Sjödin und L. Wildpanner als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2018) 1768 final der Kommission vom 21. März 2018 in einem Verfahren nach Art. 101 [AEUV] und Art. 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.40136 – Kondensatoren), soweit er die Klägerin betrifft, und hilfsweise auf Aufhebung oder Herabsetzung der mit diesem Beschluss gegen sie verhängten Geldbuße,
erlässt
DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. J. Costeira (Berichterstatterin), des Richters D. Gratsias, der Richterin M. Kancheva, des Richters B. Berke und der Richterin T. Perišin,
Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Oktober 2020
folgendes
Urteil (1 )
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Klägerin und betroffener Markt
1 Die Klägerin, die Nippon Chemi-Con Corporation, ist ein Unternehmen mit Sitz in Japan, das Aluminium-Elektrolytkondensatoren fertigt und vertreibt. Bis März 2005 fertigte sie auch Tantal-Elektrolytkondensatoren, die sie bis Januar 2011 mittels Direktverkäufen vertrieb, die im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bis Februar 2005 in Rechnung gestellt wurden. Die Klägerin hält 100 % der Anteile der Europe Chemi‑Con (Deutschland) GmbH, einer Gesellschaft deutschen Rechts, sowie 100 % der Anteile der United Chemi‑Con, einer Gesellschaft nach dem Recht der Vereinigten Staaten (im Folgenden: Europe Chemi‑Con und United Chemi‑Con; zusammen mit der Klägerin: Nippon Chemi‑Con‑Gruppe).
2 Die in Rede stehende Zuwiderhandlung betrifft Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren. Kondensatoren sind elektrische Bauelemente, die in einem elektrischen Feld statisch Energie speichern. Elektrolytkondensatoren werden in fast allen elektronischen Produkten wie PCs, Tablet-PCs, Telefonen, Klimaanlagen, Kühlschränken, Waschmaschinen, Kfz-Produkten und Industriegeräten verwendet. Der Kundenkreis ist daher sehr diversifiziert. Elektrolytkondensatoren, genauer gesagt Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren, sind Erzeugnisse, bei denen der Preis einen wichtigen Wettbewerbsfaktor darstellt.
B. Verwaltungsverfahren
3 Am 4. Oktober 2013 beantragten Panasonic und ihre Tochtergesellschaften bei der Europäischen Kommission einen sogenannten Marker nach den Rn. 14 und 15 der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2006, C 298, S. 17, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit von 2006) und übermittelten Informationen über eine mutmaßliche Zuwiderhandlung im Bereich der Elektrolytkondensatoren.
4 Am 28. März 2014 verlangte die Kommission gemäß Art. 18 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) Auskünfte von mehreren auf dem Markt für Elektrolytkondensatoren tätigen Unternehmen, so auch von der Klägerin.
5 Vom 3. bis zum 6. März 2015 nahm die Kommission gemäß Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 Nachprüfungen in den Räumlichkeiten von Europe Chemi‑Con vor.
6 Am 4. November 2015 nahm die Kommission eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an, die sie u. a. an die Klägerin adressierte.
7 Zwischen dem 12. November und dem 17. Dezember 2015 erhielten die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte im Wege einer „DVD zur Akteneinsicht“ Zugang zum Großteil der Akten.
8 Nachdem mehrere Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte Anträge auf Offenlegung der Namen von Kunden gestellt hatten, die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 4. November 2015 unkenntlich gemacht worden waren, stellte die Kommission zwei neue DVDs mit den Namen der Kunden zur Verfügung, die geschwärzt worden waren. Die Klägerin griff am 7. März und am 27. April 2016 darauf zu.
9 Am 4. Mai 2016 übersandte die Kommission den Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte ein Sachverhaltsschreiben zu bestimmten Aspekten dieser Mitteilung (im Folgenden: Sachverhaltsschreiben), dem eine neue, ungeschwärzte Fassung der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 4. November 2015 und ihrer Anlage 1 beigefügt war. Sie setzte den Adressaten eine Frist von zwei Wochen zur Beantwortung, die bis zum 20. Mai 2016 verlängert wurde.
10 Am 20. Mai 2016 übermittelte die Klägerin eine Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte und das Sachverhaltsschreiben.
11 Die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte, darunter die Klägerin, wurden von der Kommission in einer mündlichen Anhörung vom 12. bis zum 14. September 2016 angehört.
C. Angefochtener Beschluss
12 Am 21. März 2018 erließ die Kommission den Beschluss C(2018) 1768 final in einem Verfahren nach Art. 101 [AEUV] und Art. 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.40136 – Kondensatoren) (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
1. Zuwiderhandlung
13 Mit dem angefochtenen Beschluss stellte die Kommission das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens auf dem Markt für Elektrolytkondensatoren fest, an der neun Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen beteiligt gewesen seien, nämlich Elna, Hitachi AIC, Holy Stone, Matsuo, NEC Tokin, Nichicon, Rubycon, Sanyo (Bezeichnung für Sanyo und Panasonic gemeinsam) und die Klägerin (alle zusammen im Folgenden: Kartellteilnehmer) (erster Erwägungsgrund und Art. 1 des angefochtenen Beschlusses).
14 Die Kommission stellte im Wesentlichen fest, dass die in Rede stehende Zuwiderhandlung vom 26. Juni 1998 bis zum 23. April 2012 im gesamten EWR stattgefunden habe und in Vereinbarungen und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestanden habe, die die Koordinierung der Preispolitik in Bezug auf die Lieferung von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren zum Gegenstand gehabt hätten (erster Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
15 Das Kartell sei hauptsächlich im Wege multilateraler Treffen organisiert worden, die normalerweise in Japan stattgefunden hätten, und zwar monatlich oder jeden zweiten Monat auf Ebene der leitenden Vertriebsangestellten und alle sechs Monate auf Führungsebene unter Beteiligung der Geschäftsführer (Erwägungsgründe 63, 68 und 738 des angefochtenen Beschlusses).
16 Die multilateralen Treffen seien anfänglich, nämlich von 1998 bis 2003, unter der Bezeichnung „Elektrolytkondensatorenkreis“ oder „Elektrolytkondensatorenkonferenz“ (im Folgenden: EKK-Treffen) abgehalten worden. Von 2003 bis 2005 hätten sie sodann unter der Bezeichnung „Aluminium-Tantalkonferenz“ oder „Gruppe der Aluminium- oder Tantalkondensatoren“ stattgefunden (im Folgenden: ATC‑Treffen). Von 2005 bis 2012 seien die Treffen schließlich unter dem Namen „Marktforschungsgruppe“ oder „Marketinggruppe“ (im Folgenden: MK-Treffen) erfolgt. Parallel und ergänzend zu den MK‑Treffen hätten zwischen 2006 und 2008 Treffen zur „Kostensteigerung“ oder zur „Stärkung der Kondensatoren“ (im Folgenden: CUP-Treffen) stattgefunden (69. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
17 Über diese multilateralen Treffen hinaus habe es zwischen den Kartellteilnehmern bei Bedarf auch bi-/trilaterale Ad-hoc-Kontakte gegeben (Erwägungsgründe 63, 75 und 739 des angefochtenen Beschlusses) (im Folgenden zusammenfassend: wettbewerbswidrige Kontakte).
18 Im Rahmen der wettbewerbswidrigen Kontakte hätten die Kartellteilnehmer vor allem Informationen über Preise und die künftige Preisgestaltung, über künftige Preisnachlässe und die Bandbreite dieser Nachlässe sowie über Angebot und Nachfrage, auch in der Zukunft, ausgetauscht. In bestimmten Fällen hätten die Kartellteilnehmer Preisabsprachen getroffen, die angewandt und eingehalten worden seien (Erwägungsgründe 62, 715, 732 und 741 des angefochtenen Beschlusses).
19 Die Kommission war der Ansicht, dass das Verhalten der Kartellteilnehmer eine Form der Vereinbarung und/oder der abgestimmten Verhaltensweise dargestellt habe, die einem gemeinsamen Ziel gedient habe, nämlich sich einem Preiswettbewerb zu entziehen und das künftige Verhalten beim Verkauf von Elektrolytkondensatoren abzustimmen, um so die Unsicherheit auf dem Markt zu verringern (Erwägungsgründe 726 und 731 des angefochtenen Beschlusses).
20 Die Kommission kam zu dem Schluss, dass dieses Verhalten einem einzigen wettbewerbswidrigen Ziel gedient habe (743. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
2. Verantwortlichkeit der Klägerin
21 Die Kommission nahm die Verantwortlichkeit der Klägerin wegen ihrer unmittelbaren Teilnahme am Kartell vom 26. Juni 1998 bis zum 23. April 2012 an (959. Erwägungsgrund und Art. 1 Buchst. g des angefochtenen Beschlusses).
3. Gegen die Klägerin verhängte Geldbuße
22 Mit Art. 2 Buchst. j des angefochtenen Beschlusses wird eine Geldbuße in Höhe von 97921000 Euro gegen die Klägerin verhängt.
4. Festsetzung der Höhe der Geldbußen
23 Für die Festsetzung der Höhe der Geldbußen bediente sich die Kommission der in ihren Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 2006) dargelegten Methode (980. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
24 Erstens verwendete die Kommission zur Festsetzung des Grundbetrags der gegen die Klägerin verhängte Geldbuße gemäß Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 den Umsatz im letzten vollständigen Geschäftsjahr, in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war (989. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
25 Die Kommission berechnete die Höhe der Umsätze anhand der Beträge, die Kunden im EWR für den Kauf von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren in Rechnung gestellt worden waren (990. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
26 Außerdem berechnete sie die Höhe des relevanten Umsatzes für die beiden Produktkategorien (Aluminium-Elektrolytkondensatoren und Tantal-Elektrolytkondensatoren) getrennt und wandte dafür je nach Dauer unterschiedliche Multiplikatoren an (991. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
27 In Bezug auf die Klägerin vertrat die Kommission die Auffassung, dass als Referenzzeitraum einerseits für den Umsatz mit Aluminium-Elektrolytkondensatoren das letzte vollständige Jahr der Beteiligung an der Zuwiderhandlung (2011 bis 2012) zu berücksichtigen sei, und andererseits hinsichtlich der Tantal-Elektrolytkondensatoren das letzte vollständige Jahr, in dem die Klägerin diese verkauft habe (also 2003 bis 2004), da sie den Vertrieb von Tantal-Elektrolytkondensatoren vor dem Ende der Teilnahme an der Zuwiderhandlung eingestellt habe (Erwägungsgründe 34, 989 bis 991 und 1007, Tabelle 1 sowie Fn. 1657 des angefochtenen Beschlusses).
28 Zudem stellte sie fest, dass die Klägerin über Europe Chemi‑Con und United Chemi‑Con während der gesamten Dauer ihrer Beteiligung an der Zuwiderhandlung Direktverkäufe von Aluminium-Elektrolytkondensatoren im EWR in Rechnung gestellt habe (Erwägungsgründe 990 und 998 des angefochtenen Beschlusses). Direktverkäufe von Tantal-Elektrolytkondensatoren habe sie auf diesem Weg im EWR bis zum 1. Februar 2005 in Rechnung gestellt (Erwägungsgründe 34 und 1006 des angefochtenen Beschlusses).
29 Schließlich bestimmte die Kommission für die Klägerin hinsichtlich der Aluminium-Elektrolytkondensatoren einen Multiplikator von 13,82 für den Zeitraum vom 26. Juni 1998 bis zum 23. April 2012 sowie hinsichtlich der Tantal-Elektrolytkondensatoren einen Multiplikator von 5,26 für den Zeitraum vom 29. Oktober 1999 bis zum 1. Februar 2005 (1007. Erwägungsgrund, Tabelle 1 des angefochtenen Beschlusses).
30 Die Kommission setzte den nach Maßgabe der Schwere der Zuwiderhandlung zu bestimmenden Anteil am Umsatz auf 16 % fest. Insoweit führte sie aus, horizontale „Absprachen“ zur Abstimmung der Preise gehörten schon ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Verstößen gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens, und das Kartell habe sich auf den gesamten EWR erstreckt (Erwägungsgründe 1001 bis 1003 des angefochtenen Beschlusses).
31 Sie bestimmte gemäß Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 einen Zusatzbetrag in Höhe von 16 %, um eine ausreichende abschreckende Wirkung der verhängten Geldbuße sicherzustellen (1009. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
32 Dementsprechend setzte sie den Grundbetrag der Geldbuße für die Klägerin auf 205649000 Euro fest (1010. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
33 Was zweitens die Anpassungen des Grundbetrags der Geldbußen betrifft, stellte die Kommission hinsichtlich der Klägerin keine erschwerenden oder mildernden Umstände fest (1054. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
34 Drittens wandte die Kommission gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 die Obergrenze von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes an (Erwägungsgründe 1057 und 1058 des angefochtenen Beschlusses).
35 Die Kommission setzte daher den Gesamtbetrag der Geldbuße für die Klägerin auf 97921000 Euro fest (1139. Erwägungsgrund, Tabelle 3 des angefochtenen Beschlusses).
[nicht wiedergegeben]
II. Verfahren und Anträge der Parteien
37 Mit Klageschrift, die am 5. Juni 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
38 Die Klagebeantwortung der Kommission ist am 19. Oktober 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen.
39 Die Erwiderung und die Gegenerwiderung sind am 27. Februar bzw. am 5. Juni 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen.
40 Auf Vorschlag der Zweiten Kammer hat das Gericht beschlossen, die Rechtssache nach Art. 28 seiner Verfahrensordnung an einen erweiterten Spruchkörper zu verweisen.
41 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist die Berichterstatterin der Neunten erweiterten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache daher gemäß Art. 27 Abs. 5 der Verfahrensordnung zugewiesen worden ist.
42 Auf Vorschlag der Berichterstatterin hat das Gericht (Neunte erweiterte Kammer) beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen, und hat den Parteien im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 der Verfahrensordnung schriftliche Fragen gestellt und sie aufgefordert, diese in der mündlichen Verhandlung zu beantworten.
43 Die Parteien haben in der Sitzung vom 23. Oktober 2020 mündlich verhandelt und die schriftlichen und mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet.
44 Nach dem Tod von Richter Berke am 1. August 2021 haben die drei Richter, die das vorliegende Urteil unterzeichnet haben, gemäß den Art. 22 und 24 Abs. 1 der Verfahrensordnung die Beratungen fortgesetzt.
45 Die Klägerin beantragt,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit darin festgestellt wird, dass sie eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV begangen habe;
–
hilfsweise, die gegen sie verhängte Geldbuße aufzuheben oder, äußerst hilfsweise, sie herabzusetzen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
46 Die Kommission beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
[nicht wiedergegeben]
B. Zur Begründetheit
56 Die Klägerin stützt ihre Klage auf sechs Klagegründe, die sowohl ihren Hauptantrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses als auch den Hilfsantrag auf Aufhebung oder Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße untermauern.
57 Die ersten fünf Klagegründe richten sich gegen die Schlussfolgerung der Kommission, dass im Bereich der Elektrolytkondensatoren über einen Zeitraum von fast 14 Jahren im gesamten EWR-Raum eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV vorgelegen habe. Mit dem ersten Klagegrund werden eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, ein Verstoß gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), eine Verletzung der Verteidigungsrechte und ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unantastbarkeit des Rechtsakts geltend gemacht. Mit dem zweiten Klagegrund rügt die Klägerin das Fehlen von Beweisen für die Zuwiderhandlung sowie fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen; zudem macht sie den Eintritt der Verjährung geltend. Der dritte Klagegrund betrifft das Fehlen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung. Mit dem vierten Klagegrund wird geltend gemacht, dass keine bezweckte Zuwiderhandlung vorliege. Der fünfte Klagegrund richtet sich gegen die räumliche Unzuständigkeit der Kommission für die Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens.
58 Mit dem sechsten Klagegrund wendet sich die Klägerin gegen die Geldbuße, die gegen sie verhängt wurde, und beantragt deren Aufhebung oder Herabsetzung. Dieser Klagegrund wird auf Fehler bei der Berechnung der Höhe der Geldbuße, auf einen Verstoß gegen die Leitlinien von 2006 sowie auf einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit gestützt.
[nicht wiedergegeben]
1. Zum Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses
[nicht wiedergegeben]
a)
Zum fünften Klagegrund: fehlende räumliche Zuständigkeit der Kommission
71 Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, die Kommission sei im 660. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass sie im vorliegenden Fall für die Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens räumlich zuständig sei, weil das wettbewerbswidrige Verhalten weltweit, also auch im EWR, verwirklicht worden sei. Tatsächlich sei dieses Verhalten auf Asien ausgerichtet gewesen, und es sei weder im EWR verwirklicht worden, noch habe es nennenswerte Auswirkungen auf den EWR gehabt.
72 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
73 Zur territorialen Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 101 AEUV enthaltene unionsrechtliche Wettbewerbsregel Vereinbarungen und Verhaltensweisen verbietet, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs „innerhalb des Binnenmarkts“ bezwecken oder bewirken.
74 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzungen der territorialen Geltung von Art. 101 AEUV in zwei Konstellationen erfüllt sind.
75 Erstens ist die Anwendung von Art. 101 AEUV berechtigt, wenn die Verhaltensweisen, um die es in dieser Bestimmung geht, im Gebiet des Binnenmarkts verwirklicht werden, und zwar unabhängig davon, von wo sie ihren Ausgang nehmen. Würde man die Anwendbarkeit der wettbewerbsrechtlichen Verbote von dem Ort der Bildung des Kartells abhängig machen, liefe dies nämlich offensichtlich darauf hinaus, dass den Unternehmen ein einfaches Mittel an die Hand gegeben würde, sich diesen Verboten zu entziehen (Urteil vom 27. September 1988, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, 89/85, 104/85, 114/85, 116/85, 117/85 und 125/85 bis 129/85, EU:C:1988:447, Rn. 16).
76 Um zu bestimmen, ob sich der Ort der Durchführung des Kartells im EWR befindet, ist es zum einen unerheblich, ob die Kartellteilnehmer im EWR ansässige Tochterunternehmen eingeschaltet haben, um Kontakte zwischen sich und den dort ansässigen Abnehmern zu knüpfen, oder ob sie das nicht getan haben (Urteil vom 27. September 1988, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, 89/85, 104/85, 114/85, 116/85, 117/85 und 125/85 bis 129/85, EU:C:1988:447, Rn. 17). Zum anderen ist dieses Kriterium der Durchführung des Kartells als Kriterium für dessen Verknüpfung mit dem Gebiet der Union durch den bloßen Verkauf des kartellbefangenen Produkts in der Union unabhängig von der Lage der Versorgungsquellen oder der Produktionsanlagen erfüllt (vgl. Urteil vom 9. September 2015, LG Electronics/Kommission, T‑91/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:609, Rn. 149 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Zweitens ist die Anwendung von Art. 101 AEUV völkerrechtlich auch dann berechtigt, wenn vorhersehbar ist, dass die Verhaltensweisen, um die es in dieser Bestimmung geht, eine unmittelbare und wesentliche Auswirkung im Binnenmarkt hervorrufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 1971, Béguelin Import, 22/71, EU:C:1971:113, Rn. 11).
78 Im vorliegenden Fall ist die Kommission im 660. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu dem Ergebnis gelangt, dass sie sowohl für die Anwendung von Art. 101 AEUV, als auch, basierend auf Art. 56 des EWR‑Abkommens, für die Anwendung von Art. 53 des EWR‑Abkommens zuständig sei, da das Verhalten des Kartells weltweit, und damit auch im EWR, verwirklicht worden sei.
79 Hierzu vertrat sie die Auffassung, dass die Kartellteilnehmer zwar Unternehmen mit Sitz in Japan gewesen seien und die wettbewerbswidrigen Kontakte in Japan stattgefunden hätten, dass diese Kontakte aber entweder eine weltweite Reichweite gehabt hätten, die auch den EWR umfasst habe, oder unmittelbare Auswirkungen auf den EWR gehabt hätten. Der Zusammenhang mit dem EWR sei insbesondere dadurch gegeben gewesen, dass die Kartellteilnehmer, darunter auch die Klägerin, während des Zeitraums der Zuwiderhandlung im EWR Verkäufe von Elektrolytkondensatoren getätigt hätten. Zudem hätten die Kartellteilnehmer zum einen Informationen über Kunden mit Sitz im EWR oder über Kunden mit Produktionsstätten im EWR ausgetauscht und zum anderen ihre Geschäftspolitik koordiniert, insbesondere in Abhängigkeit von Wechselkursschwankungen, einschließlich solcher des Euro, und steigenden Rohstoffpreisen, und zwar ohne geografische Beschränkung. Schließlich hätten die ausgetauschten Informationen alle Verkäufe umfasst, unabhängig davon, ob sie nach Japan oder ins Ausland erfolgt seien, und unabhängig davon, ob es sich um japanische oder um ausländische Kunden gehandelt habe (Erwägungsgründe 665 bis 672 des angefochtenen Beschlusses).
80 Die Klägerin streitet zwar einen Zusammenhang zwischen bestimmten wettbewerbswidrigen Kontakten und dem EWR ab, was das Gericht im Rahmen der Klagegründe 2 und 3 prüfen wird, und macht geltend, der Zusammenhang zwischen dem Kartell und dem EWR sei begrenzt gewesen, was im Rahmen der Klagegründe 2, 3 und 6 zu prüfen sein wird.
81 Sie stellt jedoch nicht in Abrede, dass die Kartellteilnehmer, sie selbst eingeschlossen, auf direktem oder indirektem Wege weltweit Elektrolytkondensatoren verkauft haben, also auch in Europa, auch wenn sie behauptet, dass in diesem geografischen Gebiet nur sehr wenige Verkäufe erfolgt seien, die von ihren Tochtergesellschaften getätigt worden seien.
82 Daraus folgt, dass das Kriterium der Durchführung des Kartells als Kriterium für dessen Verknüpfung mit dem Gebiet der Union im vorliegenden Fall erfüllt ist, so dass die Zuwiderhandlung, auf die sich der angefochtene Beschluss bezieht, in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt. Folglich hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass sie für die Anwendung von Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens zuständig ist.
83 Der fünfte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
d)
Zum dritten Klagegrund: Fehlen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung
308 Mit ihrem dritten Klagegrund macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, die Kommission habe das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung, die sämtliche Elektrolytkondensatoren während der gesamten Dauer der behaupteten Zuwiderhandlung umfasst habe, nicht nachgewiesen.
309 Dieser Klagegrund besteht aus drei Teilen. Mit dem ersten Teil wird gerügt, dass kein Gesamtplan nachgewiesen worden sei. Der zweite Teil bezieht sich auf das Fehlen von Beweisen für ein Verhältnis der Komplementarität zwischen den wettbewerbswidrigen Kontakten. Mit dem dritten Teil wird geltend gemacht, die Kommission habe nicht berücksichtigt, dass die Kondensatorindustrie heterogen sei, was das Vorliegen der behaupteten Zuwiderhandlung unmöglich mache.
[nicht wiedergegeben]
314 Im vorliegenden Fall ist die Kommission davon ausgegangen, dass die verschiedenen wettbewerbswidrigen Kontakte, die in Abschnitt 4.3.6 des angefochtenen Beschlusses beschrieben sind, Teil eines Gesamtplans gewesen seien, der einem einzigen wettbewerbswidrigen Ziel gedient habe. Das von den Parteien verfolgte und sich aus diesen Kontakten ergebende Ziel habe darin bestanden, den Preiswettbewerb zu verhindern, ihr künftiges Verhalten im Zusammenhang mit dem Verkauf von Elektrolytkondensatoren abzustimmen und so die Ungewissheit auf dem Markt zu verringern (Erwägungsgründe 730 und 731 des angefochtenen Beschlusses).
315 Dieses einzige wettbewerbswidrige Ziel sei durch Gespräche über die Preise, einschließlich der künftigen Preisgestaltung, durch Gespräche über Angebot und Nachfrage, auch in der Zukunft (insbesondere über das Produktionsvolumen, die Steigerung oder die Verringerung von Lieferungen), verfolgt worden, und in bestimmten Fällen auch durch den Abschluss, die Anwendung und die Einhaltung von Preisabsprachen (Erwägungsgründe 62 und 715 des angefochtenen Beschlusses).
316 Die Kommission war der Ansicht, das Ziel des Kartells habe sich nicht geändert, auch wenn sich das Kartell mit der Zeit entwickelt habe. Die im angefochtenen Beschluss beschriebenen 113 wettbewerbswidrigen Kontakte hätten gemeinsame Merkmale in Bezug auf die Teilnehmer, die Art und den sachlichen Umfang der Gespräche gehabt, und es habe in all diesen Bereichen Überschneidungen gegeben. So hätten an den multilateralen Treffen, die unter verschiedenen Bezeichnungen stattgefunden hätten (EKK-Treffen von 1998 bis 2003, ATC‑Treffen von 2003 bis 2005, MK-Treffen von 2005 bis 2012 und CUP-Treffen von 2006 bis 2008), zu verschiedenen Zeitpunkten alle neun Kartellmitglieder teilgenommen, und es seien sowohl Aluminium- als auch Tantal-Elektrolytkondensatoren thematisiert worden. Parallel dazu habe es nach Bedarf bi- und trilaterale Kontakte gegeben, in deren Rahmen spezifische Fragen behandelt worden seien. Außerdem seien dieselben Personen, oder gegebenenfalls ihre Nachfolger, an den wettbewerbswidrigen Kontakten beteiligt gewesen (Erwägungsgründe 70 bis 75, 726, 732, 741 und 743 des angefochtenen Beschlusses).
317 Die Kommission gelangte zu dem Ergebnis, dass die Zuwiderhandlung trotz der Entwicklung der wirtschaftlichen Gegebenheiten, Umgestaltungen in der Organisationsstruktur einiger betroffener Unternehmen und Änderungen bei den an den Kontakten beteiligten Personen ununterbrochen begangen worden sei (Erwägungsgründe 76, 729, 742 und 745 des angefochtenen Beschlusses).
1) Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes: Fehlen eines Gesamtplans
318 Die Klägerin bringt vor, die Kommission habe das Vorliegen eines Gesamtplans nicht nachgewiesen, da sie erstens nicht bewiesen habe, dass jeder wettbewerbswidrige Kontakt dem gleichen einheitlichen Ziel gedient habe, obwohl der Umstand, dass es für die CUP-Treffen einen anderen „Mechanismus“ gegeben habe als für die übrigen Treffen, zeige, dass mit den verschiedenen wettbewerbswidrigen Kontakten unterschiedliche Ziele verfolgt worden seien. Zweitens sei die Beschreibung des Gesamtplans sowohl in der Mitteilung der Beschwerdepunkte als auch im angefochtenen Beschluss zu vage und zu ungenau, denn der Begriff des Gesamtplans erfordere einen Verweis auf spezifische Produkte, geografische Gebiete und kollusive Mechanismen. Drittens belegten die von der Kommission angeführten Beweise nicht, dass während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung ein einziges wettbewerbswidriges Ziel verfolgt worden sei.
319 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
320 Die von der Kommission im angefochtenen Beschluss angeführten Gesichtspunkte, insbesondere die oben in den Rn. 314 bis 317 wiedergegebenen, bezüglich der gemeinsamen Merkmale der wettbewerbswidrigen Kontakte, die letztlich die Abstimmung des Verhaltens hinsichtlich der Preise bezweckten, sind im Hinblick auf die Anforderungen, die sich aus der oben in den Rn. 150 und 151, 310 und 311 angeführten Rechtsprechung ergeben, für den Nachweis ausreichend, dass die Kontakte den gleichen Zweck verfolgten und Teil eines einzigen Gesamtplans waren.
321 Die Argumente der Klägerin vermögen diese Schlussfolgerung nicht in Frage zu stellen.
322 Erstens war die Kommission nicht verpflichtet, zu prüfen, ob jeder der verschiedenen wettbewerbswidrigen Kontakte eine oder mehrere Folgen des normalen Wettbewerbs beseitigen sollte und durch Interaktion zur Verwirklichung sämtlicher wettbewerbsrechtlicher Wirkungen beitrug, die ihre Urheber im Rahmen eines auf ein einziges Ziel gerichteten Gesamtplans anstrebten. Der Gesamtplan, auf den die oben in Rn. 313 genannte Rechtsprechung abstellt, besteht aus der Gesamtheit der von den Kartellteilnehmern angestrebten wettbewerbswidrigen Wirkungen.
323 Außerdem bringt die Klägerin keinen konkreten Anhaltspunkt dafür vor, dass bestimmte Verhaltensweisen Merkmale aufgewiesen hätten, die darauf schließen ließen, dass mit ihnen nicht dasselbe wettbewerbswidrige Ziel verfolgt worden sei und sie daher nicht Teil desselben Gesamtplans gewesen seien.
324 Insoweit macht die Klägerin zu Unrecht geltend, dass mit den CUP-Treffen ein anderes Ziel verfolgt worden sei, was sich daraus ergebe, dass es für diese Treffen einen anderen „Mechanismus“ gegeben habe als für die übrigen Treffen. Zwar hat die Kommission festgestellt, dass die Teilnehmer der CUP-Treffen Preisabsprachen getroffen und ein System der Berichterstattung über die Handlungen der Unternehmen zum Zweck der Kontrolle ihrer Strategie für Preiserhöhungen geschaffen hätten (siehe 72. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Wie sich jedoch aus Rn. 315 oben ergibt, war dieser „Mechanismus“ der Überwachung oder Kontrolle der Strategie für Preiserhöhungen nur eines der Mittel zur Erreichung des letztlichen Ziels der Abstimmung der Verhaltensweisen hinsichtlich der Preise. Außerdem stellte die Kommission fest, dass dieser Kontroll‑„Mechanismus“ Teil einer Gesamtstrategie sei, nach der die Unternehmen ihr wechselseitiges Verhalten generell und somit auch außerhalb der CUP-Treffen überwachten (siehe 716. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
325 Obwohl die CUP-Treffen den Teilnehmern zur Absprache von Preisen und zur Entwicklung eines Kontrollsystems für die Preisstrategie dienten, während im Rahmen anderer Treffen Informationen über Preise oder Angebot und Nachfrage ausgetauscht wurden, kann daraus nicht geschlossen werden, dass mit den CUP-Treffen ein anderes Ziel verfolgt wurde als mit den anderen wettbewerbswidrigen Kontakten.
326 Nach alledem ist das Argument der Klägerin, die Kommission habe vor dem Hintergrund des angeblich anderen Ziels der CUP-Treffen nicht nachgewiesen, dass die im angefochtenen Beschluss beschriebenen wettbewerbswidrigen Kontakte ein einziges Ziel verfolgten, zurückzuweisen.
327 Zweitens macht die Klägerin geltend, dass die Beschreibung des Gesamtplans im angefochtenen Beschluss „zu vage und zu ungenau“ sei und „nicht mehr als einen allgemeinen Verweis auf eine Verzerrung des Wettbewerbs auf dem Markt“ darstelle.
328 Wie sich aus der oben in Rn. 312 angeführten Rechtsprechung ergibt, kann der Begriff des einzigen Ziels zwar nicht durch einen allgemeinen Verweis auf die Verzerrung des Wettbewerbs auf dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Markt bestimmt werden.
329 Das Argument der Klägerin, der Gesamtplan sei in der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht hinreichend beschrieben, geht jedoch ins Leere. Gegenstand der vorliegenden Klage ist nämlich der angefochtene Beschluss und nicht die Mitteilung der Beschwerdepunkte, bei der es sich im Übrigen um eine rein vorläufige Maßnahme handelt. Obwohl in der Mitteilung der Beschwerdepunkte alle wesentlichen Tatsachen angegeben sein müssen, auf die sich die Kommission in diesem Stadium des Verfahrens stützt, kann dies in gedrängter Form erfolgen, und die Entscheidung braucht nicht notwendig ein Abbild der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu sein, da es sich bei Letzterer um ein vorbereitendes Dokument handelt, dessen tatsächliche und rechtliche Wertungen lediglich vorläufiger Natur sind (vgl. Urteil vom 5. Dezember 2013, SNIA/Kommission, C‑448/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:801, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
330 Außerdem ist die Beschreibung des Gesamtplans entgegen der Argumentation der Klägerin in Bezug auf die Produkte, die kollusiven Mechanismen und die betroffenen Märkte nicht „vage“. Alle diese Gesichtspunkte ergeben sich nämlich eindeutig aus der Beschreibung im angefochtenen Beschluss (zusammengefasst in dessen Art. 1), wonach die in Rede stehende Zuwiderhandlung vom 26. Juni 1998 bis zum 23. April 2012 im gesamten EWR stattgefunden hat und in Vereinbarungen und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestanden hat, die die Abstimmung der Preispolitik in Bezug auf die Lieferung von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren zum Gegenstand hatten (siehe oben, Rn. 14).
331 Schließlich ist festzustellen, dass sich das Argument der Klägerin, die Beschreibung des Gesamtplans sei „vage“, weitgehend auf die Erwägungsgründe 767, 769 und 770 des angefochtenen Beschlusses stützt, die die Antwort der Kommission auf das Vorbringen der Klägerin zur Mitteilung der Beschwerdepunkte und zum Sachverhaltsschreiben umfassen (siehe oben, Rn. 10). Wie die Kommission geltend macht, lässt die Klägerin die Erwägungsgründe 730 bis 743 des angefochtenen Beschlusses, in denen die Kommission die Gründe für die Feststellung eines Gesamtplans mit einem gemeinsamen Ziel darlegt, außer Acht.
332 Aus den genannten Erwägungsgründen 730 bis 743 des angefochtenen Beschlusses, wie auch aus weiteren, oben in den Rn. 314 bis 316 angeführten Erwägungsgründen, geht hervor, dass die Kommission zum einen den Gesamtplan dahin definiert hat, dass der Preiswettbewerb vermieden, das zukünftige Verhalten der Teilnehmer in Bezug auf den Verkauf von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren abgestimmt und so die Ungewissheit auf dem Markt verringert werden sollten. Zum anderen hat die Kommission erläutert, wie dieses gemeinsame Ziel verfolgt worden sei und warum die im angefochtenen Beschluss beschriebenen wettbewerbswidrigen Kontakte ein fortgesetztes Verhalten darstellten, mit dem ein einziges wirtschaftliches Ziel im Sinne der oben in Rn. 310 angeführten Rechtsprechung verfolgt worden sei.
333 Drittens macht die Klägerin geltend, die von der Kommission angeführten Beweise belegten nicht, dass während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung ein einziges wettbewerbswidriges Ziel verfolgt worden sei.
334 Insoweit steht das Argument der Klägerin, die Kommission berufe sich ausschließlich auf Beweise zu den EKK- und den ATC‑Treffen, ohne näher auf das den anderen Treffen zugrunde liegende Ziel einzugehen, unmittelbar im Widerspruch zum Inhalt des angefochtenen Beschlusses. Die Klägerin stützt sich nämlich im Wesentlichen auf den 733. Erwägungsgrund dieses Beschlusses, der keine erschöpfende Liste der Gesichtspunkte enthält, die das Ziel der Teilnehmer aufzeigen, sondern sich darauf beschränkt, bestimmte der sich aus Abschnitt 4.3.6 des angefochtenen Beschlusses ergebenden Gesichtspunkte als „Beispiele“ anzuführen.
335 Abschnitt 4.3.6 des angefochtenen Beschlusses enthält aber eine vollständige Chronologie der wettbewerbswidrigen Kontakte, mit Einzelheiten zu jedem multilateralen Treffen und jedem bi- oder trilateralen Kontakt. In den Fußnoten wird auch auf die von der Kommission verwendeten Beweismittel verwiesen. Zudem enthalten die Erwägungsgründe 77 bis 105 des angefochtenen Beschlusses eine kurze Übersicht über die wettbewerbswidrigen Kontakte (Daten, Orte, Teilnehmer und die im Rahmen der verschiedenen Arten von Treffen und Kontakten behandelten Themen). Die von der Kommission verwendeten Beweismittel sind ebenfalls in den Fußnoten zu diesen Erwägungsgründen genannt.
336 Nach alledem ist auch das Vorbringen der Klägerin zurückzuweisen, mit dem sie die Richtigkeit der von der Kommission im 733. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführten Äußerungen der Beteiligten bei bestimmten ATC‑Treffen bestreitet, nämlich dahin gehend, dass diese Äußerungen nicht in den Protokollen enthalten seien und kein weiter gehendes Ziel zum Ausdruck brächten. Die Argumentation der Klägerin beruht nämlich auf der falschen Annahme, dass die Kommission das gemeinsame Ziel des Kartells allein auf der Grundlage der genannten Äußerungen ermittelt habe, während diese in Wirklichkeit als Beispiele genannt werden und die Schlussfolgerung der Kommission zu diesem gemeinsamen Ziel auf mehrere andere Gesichtspunkte gestützt wurde. Selbst wenn also das Vorbringen der Klägerin zur Richtigkeit der Äußerungen der Beteiligten bei bestimmten ATC‑Treffen begründet wäre, könnte es die Schlussfolgerung der Kommission, dass alle wettbewerbswidrigen Kontakte ein gemeinsames Ziel verfolgten, nicht in Frage stellen.
337 Wie sich nämlich aus der oben in den Rn. 148 und 149 angeführten Rechtsprechung ergibt, muss nicht jeder der von der Kommission beigebrachten Beweise notwendigerweise diesen Kriterien in Bezug auf jedes Element der Zuwiderhandlung genügen. Es genügt, dass das Bündel der von der Kommission angeführten Indizien bei einer Gesamtbetrachtung dieses Erfordernis erfüllt. Somit sind die Indizien, die die Kommission im angefochtenen Beschluss zum Beweis eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV anführt, nicht einzeln zu würdigen, sondern in ihrer Gesamtheit.
[nicht wiedergegeben]
345 Der Umstand, dass im Rahmen bestimmter Treffen nicht ausdrücklich auf den EWR Bezug genommen wurde, bedeutet jedenfalls nicht, dass durch die Gesamtheit der von der Kommission im angefochtenen Beschluss angeführten wettbewerbswidrigen Kontakte kein Bezug zum EWR bewiesen wird. Im vorliegenden Fall ist zum einen, wie sich aus Rn. 271 oben ergibt, festzustellen, dass ein Bündel übereinstimmender Indizien vorliegt, das ausreicht, um eine Verbindung zwischen der Gesamtheit der beanstandeten Kontakte und dem EWR herzustellen. Zum anderen hat die Kommission zu Recht angenommen, dass die Kartellteilnehmer, einschließlich der Klägerin, im EWR Direktverkäufe von Elektrolytkondensatoren durchführten. In diesem Zusammenhang brauchte die Kommission zum Nachweis einer Verbindung mit dem EWR nicht darzutun, dass die Klägerin im EWR Verkäufe an alle Kunden tätigte, die im Rahmen der wettbewerbswidrigen Kontakte erreicht werden sollten.
346 Nach alledem hat die Kommission zu Recht auf das Vorliegen eines Gesamtplans geschlossen.
347 Der erste Teil des dritten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
3) Zum dritten Teil des dritten Klagegrundes: Heterogenität der Kondensatorindustrie
388 Die Klägerin macht geltend, dass eine sämtliche Elektrolytkondensatoren umfassende Kollusion aufgrund der Heterogenität der Kondensatorindustrie unmöglich sei. Sie argumentiert im Wesentlichen, dass die Kommission rechtlich nicht hinreichend nachgewiesen habe, dass eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung vorliege, die allgemein sämtliche Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren umfasse. Kondensatoren seien nämlich sehr diversifizierte Produkte, die sich durch eine Vielzahl an Merkmalen unterschieden und für die es in Anbetracht ihres vorherrschenden Beschaffungsmodells keinen einheitlichen Marktpreis gebe. Folglich habe die in Rede stehende Zuwiderhandlung nicht alle Verkäufe von Elektrolytkondensatoren in den EWR umfassen können. Die beiden unterschiedlichen Kategorien von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren deckten nämlich ein breites Sortiment von Produktarten ab, insbesondere in Bezug auf ihren Preis und das betroffene geografische Gebiet. Der Austausch allgemeiner Informationen im Rahmen wettbewerbswidriger Kontakte reiche nicht aus, um die Unsicherheit auf dem Markt zu verringern und eine Abstimmung der Preise unter den Wettbewerbern zu erleichtern, zumal nicht alle Arten von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren Gegenstand dieses Austauschs gewesen seien.
389 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
390 Vorab ist festzustellen, dass die Klägerin den angefochtenen Beschluss falsch versteht, wenn sie meint, die Kommission habe angenommen, dass eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung vorliege, die in der Gesamtbetrachtung alle Arten von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren umfasse.
391 Aus dem angefochtenen Beschluss, insbesondere aus dem 736. Erwägungsgrund, ergibt sich nämlich, dass die Kommission nach Prüfung aller Treffen und der entsprechenden Beweismittel festgestellt hat, dass alle wettbewerbswidrigen Kontakte ganz allgemein Aluminium- oder Tantal-Elektrolytkondensatoren oder sogar beide Arten von Kondensatoren betroffen hätten.
392 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission nicht verpflichtet ist, den relevanten Markt anhand wirtschaftlicher Kriterien abzugrenzen. Die Kartellteilnehmer bestimmen selbst, welche Produkte Gegenstand ihrer Gespräche und abgestimmten Verhaltensweisen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2005, Tokai Carbon u. a./Kommission, T‑71/03, T‑74/03, T‑87/03 und T‑91/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2005:220, Rn. 90).
393 Die von einem Kartell umfassten Produkte werden zudem anhand urkundlicher Beweise für ein tatsächliches wettbewerbswidriges Verhalten im Hinblick auf spezielle Produkte bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2003, Adriatica di Navigazione/Kommission, T‑61/99, EU:T:2003:335, Rn. 27).
394 Außerdem ist hervorzuheben, dass sich die Kommission insoweit nicht auf eine Vermutung stützen kann, für die es keinerlei Beweise gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. November 2019, ABB/Kommission, C‑593/18 P, EU:C:2019:1027, Rn. 44 und 45).
395 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im angefochtenen Beschluss jedoch erstens darauf hingewiesen, dass sich aus der Gesamtheit der wettbewerbswidrigen Kontakte, insbesondere aus den beispielhaft angeführten Treffen vom 29. August 2002, vom 22. Dezember 2006, vom 25. Juni 2008 und vom 20. Dezember 2010, ergebe, dass sich die ausgetauschten Informationen nicht auf bestimmte Untertypen von Aluminium- oder Tantal-Elektrolytkondensatoren beschränkt hätten, sondern Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren allgemein thematisiert worden seien (796. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
396 Zweitens hätten sich die ausgetauschten Informationen auch auf spezifische, aber für die Bestimmung des Verkaufspreises der Produkte bedeutsame Überlegungen bezogen, beispielsweise in Bezug auf steigende Rohstoffkosten und Wechselkursschwankungen, die sich nicht auf bestimmte Untertypen von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren beschränkt hätten (siehe insbesondere 796. Erwägungsgrund sowie Fn. 1417 und 1418 des angefochtenen Beschlusses).
397 Drittens sei die Definition der vom Kartell umfassten Produkte in den Unternehmenserklärungen der Kartellteilnehmer nicht eingeschränkt worden (797. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
398 Viertens sei die Mehrheit der Vertreter der Kartellteilnehmer allgemein für die Fertigung und/oder den Vertrieb von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren zuständig gewesen, und nicht nur für bestimmte Kondensator-Produktlinien (798. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
399 Unter diesen Umständen und im Licht der oben in den Rn. 151 und 392 bis 394 angeführten Rechtsprechung kann nicht beanstandet werden, dass die Kommission davon ausgegangen ist, dass die im Rahmen der wettbewerbswidrigen Kontakte ausgetauschten Informationen sämtliche Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren umfassten und sich die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung folglich auf alle diese Produkte erstreckte.
400 Demnach ist der dritte Teil des dritten Klagegrundes und damit der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
f)
Zum sechsten Klagegrund: Fehler bei der Berechnung der Geldbuße und Verstoß gegen die Leitlinien von 2006 sowie gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit
[nicht wiedergegeben]
1) Zum ersten Teil des sechsten Klagegrundes: Fehler bei der Berechnung des Umsatzes
[nicht wiedergegeben]
ii) Zur zweiten Rüge des ersten Teils des sechsten Klagegrundes: Fehler, da der Umsatz auch Verkäufe umfasse, die von den Tochtergesellschaften der Klägerin getätigt worden seien
460 Die Klägerin beanstandet im Wesentlichen, dass die Kommission bei der Berechnung des Umsatzes die Verkäufe der Nippon Chemi-Con-Gruppe, und insbesondere der Europe-Chemi-Con, miteinbezogen habe, die den Kunden im EWR in Rechnung gestellt worden seien. Erstens habe die Kommission nicht berücksichtigt, dass die Klägerin selbst keine Verkäufe in den EWR getätigt habe und das im angefochtenen Beschluss beschriebene Verhalten die Kunden der Nippon Chemi-Con-Gruppe nur am Rande betreffe. Unter den sechzig Kunden, die im angefochtenen Beschluss genannt seien, befänden sich nur zwei globale Kunden der United Chemi-Con und nur vier globale Kunden der Europe Chemi-Con. Zweitens habe die Kommission nicht berücksichtigt, dass Europe Chemi-Con und United Chemi-Con die Preise für ihre lokalen Kunden sowie für ihre globalen Kunden mit Sitz in Europa eigenständig festsetzen könnten, was ausreiche, um die Vermutung zu widerlegen, dass diese Tochtergesellschaften, deren Anteile zu 100 % von der Klägerin gehalten würden, Teil desselben Unternehmens seien. Drittens habe die Kommission weder nachgewiesen, dass die Verkäufe der Nippon Chemi-Con-Gruppe an ihre lokalen und globalen Kunden in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung stünden, noch, dass die Zuwiderhandlung spezifische Auswirkungen auf den EWR gehabt habe.
461 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
462 Nach ständiger Rechtsprechung betrifft das Wettbewerbsrecht der Union, insbesondere Art. 101 AEUV, die Tätigkeit von Unternehmen, und der Begriff des Unternehmens bezeichnet jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung (vgl. Urteile vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission,C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).
463 Der Gerichtshof hat dabei zum einen klargestellt, dass in diesem Zusammenhang unter dem Begriff Unternehmen eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen ist, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet wird, und zum anderen, dass eine solche wirtschaftliche Einheit, wenn sie gegen die Wettbewerbsregeln verstößt, nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung einzustehen hat (vgl. Urteil vom 26. Oktober 2017, Global Steel Wire u. a./Kommission, C‑457/16 P und C‑459/16 P bis C‑461/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:819, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).
464 Was ferner den Begriff des Unternehmens im Zusammenhang mit der Berechnung der Geldbuße betrifft, ist daran zu erinnern, dass bei der Festsetzung der Geldbuße sowohl der Gesamtumsatz des Unternehmens herangezogen werden darf, der – wenn auch nur annähernd und unvollständig – etwas über dessen Größe und Wirtschaftskraft aussagt, als auch der Teil dieses Umsatzes, der mit den Waren erzielt wurde, auf die sich die Zuwiderhandlung erstreckte, und der somit einen Anhaltspunkt für das Ausmaß dieser Zuwiderhandlung liefern kann (vgl. Urteil vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 145 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Teil des Gesamtumsatzes, der aus dem Verkauf der Produkte stammt, die den Gegenstand der Zuwiderhandlung bilden, ist nämlich am besten geeignet, die wirtschaftliche Bedeutung der Zuwiderhandlung wiederzugeben (vgl. Urteil vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 149 und die dort angeführte Rechtsprechung).
465 Im Übrigen besteht in dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft das gesamte oder nahezu gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, eine widerlegliche Vermutung, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausübt (vgl. Urteil vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑516/15 P, EU:C:2017:314, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 63). Eine solche Vermutung impliziert, sofern sie nicht widerlegt wird, dass die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaft als erwiesen gilt, und berechtigt die Kommission, die Muttergesellschaft für das Verhalten der Tochtergesellschaft zur Verantwortung zu ziehen, ohne zusätzliche Beweise beibringen zu müssen (vgl. Urteil vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑516/15 P, EU:C:2017:314, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
466 Zwar wurde die Vermutung der fehlenden Eigenständigkeit der Tochtergesellschaften von der Rechtsprechung entwickelt, damit das Verhalten einer rechtlichen Einheit (der Tochtergesellschaft) einer anderen Einheit (Muttergesellschaft) zugerechnet werden kann. Diese Vermutung der fehlenden Eigenständigkeit der Tochtergesellschaften gilt jedoch auch dann, wenn wie im vorliegenden Fall der Umsatz zu ermitteln ist, der für die Berechnung des Grundbetrags der Geldbuße maßgeblich ist, die gegen eine Muttergesellschaft zu verhängen ist, die unmittelbar an der Zuwiderhandlung beteiligt war und die während des Zeitraums der Zuwiderhandlung im EWR über ihre Tochtergesellschaften Produkte verkaufte, die von dieser Zuwiderhandlung umfasst waren.
467 Es steht fest, dass die Klägerin während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung 100 % der Anteile an Europe Chemi-Con sowie 100 % der Anteile an United Chemi-Con hielt (siehe oben, Rn. 1). Daraus folgt, dass sie und ihre Tochtergesellschaften nach der oben in Rn. 463 angeführten Rechtsprechung eine wirtschaftliche Einheit bilden und somit ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen. Das bedeutet auch, dass eine widerlegbare Vermutung besteht, dass die betreffenden Tochtergesellschaften nicht eigenständig sind.
468 Die Klägerin bringt keine konkreten Anhaltspunkte vor, die geeignet wären, die Vermutung der fehlenden Eigenständigkeit zu widerlegen und darzutun, dass ihre Tochtergesellschaften eigenständig ihre Preise festsetzen könnten. Dagegen ergibt sich aus der Prüfung des zweiten Klagegrundes, dass im Rahmen bestimmter wettbewerbswidriger Kontakte über einige Kunden von Europe Chemi-Con und United Chemi-Con mit Sitz oder Produktionsstätten in Europa gesprochen wurde (siehe oben, Rn. 249, 280 und 296), was die Klägerin in der Klageschrift im Übrigen selbst einräumt.
469 Somit ist festzustellen, dass die Vermutung, dass die Tochtergesellschaften der Klägerin nicht eigenständig sind, im vorliegenden Fall nicht widerlegt wurde.
470 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der für die Berechnung des Grundbetrags der Geldbuße relevante Umsatz dem Umsatz entsprechen muss, den das „Unternehmen“ in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung durch den Verkauf von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen im EWR erzielt hat (siehe oben, Rn. 434). Dies bedeutet, dass der Umsatz im vorliegenden Fall die Verkäufe von Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren umfassen muss, die im EWR von der wirtschaftlichen Einheit erzielt wurden, die die Klägerin zusammen mit den zu 100 % von ihr gehaltenen Tochtergesellschaften bildet.
471 Folglich ist es nicht zu beanstanden, dass die Kommission, um gemäß Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 den vom Unternehmen in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung erzielten Umsatz zu bestimmen, die Verkäufe von Elektrolytkondensatoren berücksichtigt hat, die die Tochtergesellschaften der Klägerin Kunden mit Sitz in Europa in Rechnung gestellt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 150).
[nicht wiedergegeben]
474 Die zweite Rüge des ersten Teils des sechsten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Nippon Chemi-Con Corporation trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.
Costeira
Gratsias
Kancheva
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. September 2021.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 14. Dezember 2018.#East West Consulting SPRL gegen Europäische Kommission.#Außervertragliche Haftung – Instrument für Heranführungshilfe – Drittstaat – Nationaler öffentlicher Auftrag – Dezentrale Verwaltung – Beschluss 2008/969/EG, Euratom – Frühwarnsystem (FWS) – Warnmeldung im FWS – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Weigerung der Kommission, eine Ex-ante-Genehmigung zu erteilen – Nichtvergabe des Auftrags – Zuständigkeit des Gerichts – Zulässigkeit der Beweise – Fehlende Rechtsgrundlage für die Warnmeldung – Verteidigungsrechte – Unschuldsvermutung – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Kausalzusammenhang – Materieller und immaterieller Schaden – Verlust des Auftrags – Verlust einer Chance, andere Aufträge zu erhalten.#Rechtssache T-298/16.
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62016TJ0298
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ECLI:EU:T:2018:967
| 2018-12-14T00:00:00 |
Gericht
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62016TJ0298
URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)
14. Dezember 2018 (*1)
„Außervertragliche Haftung – Instrument für Heranführungshilfe – Drittstaat – Nationaler öffentlicher Auftrag – Dezentrale Verwaltung – Beschluss 2008/969/EG, Euratom – Frühwarnsystem (FWS) – Warnmeldung im FWS – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Weigerung der Kommission, eine Ex-ante-Genehmigung zu erteilen – Nichtvergabe des Auftrags – Zuständigkeit des Gerichts – Zulässigkeit der Beweise – Fehlende Rechtsgrundlage für die Warnmeldung – Verteidigungsrechte – Unschuldsvermutung – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Kausalzusammenhang – Materieller und immaterieller Schaden – Verlust des Auftrags – Verlust einer Chance, andere Aufträge zu erhalten“
In der Rechtssache T‑298/16,
East West Consulting SPRL mit Sitz in Nandrin (Belgien), vertreten zunächst durch Rechtsanwälte L. Levi und A. Tymen, dann durch Rechtsanwalt L. Levi,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch F. Dintilhac und J. Estrada de Solà als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen einer Klage nach Art. 268 AEUV auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens, der der Klägerin dadurch entstanden sein soll, dass sie von einer Warnmeldung im Frühwarnsystem (FWS) betroffen war und daraufhin, gestützt auf diese Warnmeldung, der Abschluss des Vertrags über einen Auftrag, der an das von ihr geleitete Konsortium vergeben worden war und von der Europäischen Union im Rahmen des Instruments für Heranführungshilfe (IPA) finanziert werden sollte, verweigert wurde,
erlässt
DAS GERICHT (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin I. Pelikánová (Berichterstatterin) sowie der Richter V. Valančius und U. Öberg,
Kanzler: S. Bukšek Tomac, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2018
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Sachverhalt vor Erhebung der Klage
1 Die Klägerin, East West Consulting SPRL, ist eine Gesellschaft belgischen Rechts, die in Belgien oder im Ausland auf eigene Rechnung oder für Rechnung Dritter oder gemeinsam mit Dritten u. a. Dienstleistungen anbietet und deren Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter Herr L. ist. Darüber hinaus hält die Klägerin 40 % der Anteile an der European Consultants Organisation SPRL (im Folgenden: ECO3), eine Gesellschaft belgischen Rechts, deren Geschäftsführer ebenfalls Herr L. ist.
2 Am 17. Juli 2006 erließ der Rat der Europäischen Union die Verordnung (EG) Nr. 1085/2006 zur Schaffung eines Instruments für Heranführungshilfe (IPA) (ABl. 2006, L 210, S. 82, im Folgenden: Verordnung IPA). Nach Art. 1 der Verordnung IPA sollte die Europäische Union die in den Anhängen I und II aufgeführten Länder, darunter die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, bei ihrer schrittweisen Angleichung an die Standards und die Politik der Europäischen Union, gegebenenfalls einschließlich des gemeinschaftlichen Besitzstands, mit Blick auf eine künftige Mitgliedschaft unterstützen. Nach Art. 3 der Verordnung IPA waren die Programmierung und die Durchführung der Hilfe an fünf Komponenten ausgerichtet, von denen eine sich auf die „Entwicklung der Humanressourcen“ bezog.
3 Im Zuge von Ermittlungen über möglicherweise strafrechtlich relevante Handlungen in einem Verfahren zur Vergabe von Aufträgen, die von der Union finanziert wurden, sandte das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) an den Staatsanwalt beim Tribunal de grande instance de Paris (Regionalregricht von Paris, Frankreich) am 26. Februar 2007 Informationen über Sachverhalte, die strafrechtlich als Bestechung bei der Vergabe eines von der Union finanzierten Auftrags in der Türkei qualifiziert werden konnten (im Folgenden: Türkei-Komplex). Diese Informationen betrafen insbesondere Kameleons International Consulting, jetzt KIC Systems (im Folgenden: KIC), sowie Herrn L. Am 5. März 2007 wurde in Frankreich ein Ermittlungsverfahren in Bezug auf den Türkei-Komplex eingeleitet und an die Division nationale d’investigations financières (DNIF) (nationale Abteilung für Finanzermittlungen, im Folgenden: DNIF) abgegeben.
4 Am 12. Juni 2007 erließ die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Verordnung (EG) Nr. 718/2007 zur Durchführung der Verordnung IPA (ABl. 2007, L 170, S. 1).
5 Am 4. März 2008 wurde von der Regierung der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und der Kommission eine Rahmenvereinbarung bezüglich der Vorschriften für die Zusammenarbeit hinsichtlich der Finanzhilfe der Union für die genannte ehemalige Republik bei der Durchführung der Hilfe im Rahmen des IPA unterzeichnet.
6 Am 27. Juni 2008 übermittelte das OLAF dem belgischen Generalstaatsanwalt Informationen über den Verdacht der Bestechung im Rahmen der Vergabe eines von der Union in der Ukraine finanzierten Auftrags (im Folgenden: Ukraine-Komplex). Diese Informationen betrafen insbesondere die KIC, Herrn L. und ECO3. Eine Voruntersuchung und ein Untersuchungsverfahren im Ukraine-Komplex wurden in Belgien eingeleitet.
7 Am 17. September 2008 wurde in Belgien die gerichtliche Voruntersuchung in dem Ukraine-Komplex eingeleitet.
8 Am 14. und 15. Oktober 2008 wurden auf Antrag der DNIF u. a. am Sitz der KIC Durchsuchungen im Beisein mehrerer Bediensteter des OLAF durchgeführt, deren Anwesenheit zuvor am 18. September 2008 gerichtlich angeordnet worden war. Am 17. Oktober 2008 erwirkte die DNIF in Bezug auf die Bediensteten des OLAF weitere gerichtliche Anordnungen, damit diese die beschlagnahmten Daten auswerten konnten. Diese Untersuchungsmaßnahmen mündeten in die Verfahren bezüglich des Türkei-Komplexes in Frankreich und des Ukraine-Komplexes in Belgien.
9 Die Kommission trägt vor, das OLAF habe am 17. November 2008 nach Art. 5 Abs. 2 des Beschlusses K(2004) 193/3 der Kommission über das Frühwarnsystem (im Folgenden: FWS) in Bezug auf die ECO3 die Aktivierung einer W3b‑Warnmeldung in dem genannten System beantragt, das zur Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union eingerichtet worden sei. Dieser Warnmeldung habe der Umstand zugrunde gelegen, dass gegen ECO3 gerichtliche Verfahren wegen schwerwiegender Verwaltungsfehler und wegen Betrugs eingeleitet worden seien. Eine entsprechende Warnmeldung sei vom OLAF in Bezug auf Herrn L. beantragt worden.
10 Am 16. Dezember 2008 erließ die Kommission mit Wirkung zum 1. Januar 2009 den Beschluss 2008/969/EG, Euratom über das von den Anweisungsbefugten der Kommission und den Exekutivagenturen zu verwendende Frühwarnsystem (ABl. 2008, L 344, S. 125, im Folgenden: FWS-Beschluss). Der FWS-Beschluss hob den Beschluss K(2004) 193/3 auf und führte neue Vorschriften über das FWS ein.
11 Nach dem vierten Erwägungsgrund des FWS-Beschlusses sollte „[d]as FWS … die Weitergabe vertraulicher Informationen über Dritte gewährleisten, die dem Ruf oder den finanziellen Interessen der [Union] Schaden zufügen oder die ordnungsgemäße Bewirtschaftung der Gemeinschaftsmittel beeinträchtigen könnten“.
12 Nach den Erwägungsgründen 5 bis 7 des FWS-Beschlusses war das OLAF, das im Rahmen seiner Aufgaben im Zusammenhang mit der Durchführung von Untersuchungen und der Sammlung von Informationen zur Betrugsbekämpfung Zugang zum FWS erhielt, gemeinsam mit den verantwortlichen Anweisungsbefugten und dem Internen Auditdienst für die Beantragung der Eingabe, Änderung und Löschung von Warnmeldungen im FWS verantwortlich, deren Verwaltung vom Rechnungsführer der Kommission oder den ihm unterstehenden Bediensteten wahrgenommen wurde.
13 Insoweit bestimmte Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 des FWS-Beschlusses: „Der Rechnungsführer der Kommission [oder die ihm unterstehenden Bediensteten nehmen] auf Antrag des verantwortlichen [bevollmächtigten Anweisungsbefugten], des OLAF oder des Internen Auditdienstes (IAD) den Eintrag, die Änderung bzw. die Löschung einer [Warnmeldung im FWS] vor.“
14 In Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 3 des FWS-Beschlusses hieß es: „Bei Vergabe- und Finanzhilfeverfahren prüfen der verantwortliche [bevollmächtigte Anweisungsbefugte] bzw. seine Mitarbeiter bevor der Vergabebeschluss ergeht, ob eine FWS-Warnmeldung vorliegt.“
15 Art. 9 des FWS-Beschlusses bestimmte, dass FWS-Warnmeldungen je nach Art und Schwere des Sachverhalts, der dem Dienst, der die Eingabe der Warnmeldung beantragt hat, zur Kenntnis gebracht worden ist, einer der fünf mit W1 bis W5 bezeichneten Kategorien zugeordnet werden. Nach Art. 9 Nr. 3 des Beschlusses betraf die Kategorie W3 „einen Dritten[, gegen den] rechtliche Schritte eingeleitet [werden], die die Bekanntgabe eines Pfändungsbeschlusses zur Folge haben[,] bzw. … einen Dritten[, gegen den] wegen schwerwiegender Verwaltungsfehler oder Betrug ein Gerichtsverfahren angestrengt [wurde]“.
16 Art. 12 des FWS-Beschlusses („Warnmeldungen der Kategorie W3“) lautete u. a. wie folgt:
„(2) Der verantwortliche [bevollmächtigte Anweisungsbefugte, im Folgenden: BAB] beantragt die Aktivierung einer W3b‑Warnmeldung, wenn er davon Kenntnis erhält, dass gegen Dritte, insbesondere wenn diese unter seiner Verantwortung Gemeinschaftsmittel erhalten oder erhalten haben, Gerichtsverfahren aufgrund von schwerwiegenden Verwaltungsfehlern oder Betrug eingeleitet wurden.
Mündet eine Untersuchung des OLAF jedoch in ein Gerichtsverfahren oder trifft das OLAF Follow-up-Maßnahmen bzw. leistet dazu Amtshilfe, beantragt das OLAF die Eingabe der diesbezüglichen W3b‑Warnmeldung.
(3) Eine W3-Warnmeldung wird gespeichert, bis ein rechtskräftiges Urteil ergeht oder der Fall anderweitig beigelegt wird.“
17 Art. 17 Abs. 2 des FWS-Beschlusses, der insbesondere die Auswirkungen einer W3b‑Warnmeldung auf Verfahren zur Vergabe von Aufträgen oder zur Gewährung von Finanzhilfen regelt, bestimmte:
„Sollte der Dritte, für den im FWS eine W2‑, W3b‑ oder W4-Warnmeldung vorliegt, auf der Liste des Bewertungsausschusses oben stehen, trifft der verantwortliche BAB angesichts seiner Verpflichtung zum Schutz des Ansehens und der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und unter Berücksichtigung der Art und Schwere des die Warnmeldung begründenden Tatbestands, des Betrags und der Dauer des Auftrags bzw. der Finanzhilfe sowie gegebenenfalls der Dringlichkeit der Abwicklung eine der folgenden Entscheidungen:
a)
Er vergibt den Auftrag oder die Finanzhilfe an den Dritten trotz Vorliegens der FWS-Warnmeldung und stellt sicher, dass verschärfte Überwachungsmaßnahmen getroffen werden.
b)
Wird mit dem Vorliegen einer solchen Warnmeldung die ursprüngliche Bewertung in Bezug auf Einhaltung der Auswahl- und Zuschlagskriterien objektiv in Frage gestellt, veranlasst er, dass der Auftrag bzw. die Finanzhilfe auf der Grundlage einer von der ursprünglichen Bewertung abweichenden Bewertung in Bezug auf Einhaltung der Auswahl- und Zuschlagskriterien an einen anderen Bieter oder Bewerber vergeben wird und begründet seine Entscheidung in angemessener Weise.
c)
Er schließt das Vergabeverfahren ohne Zuschlagserteilung ab und begründet diese Maßnahme in der Mitteilung an den Bieter in gebührender Weise.
…“
18 Auf eine schriftliche Anfrage der ECO3 vom 16. Dezember 2008 bestätigte die Kommission mit Schreiben vom 12. Januar 2009, dass am 17. November 2008 gegen die ECO3 eine W3b‑Warnmeldung in das FWS eingegeben worden war.
19 Am 15. Januar 2009 übersandte der Direktor des OLAF seine Berichte über die Auswertung der aufgenommenen IT‑Daten an die DNIF.
20 Am 10. März 2009 legte die ECO3 beim Europäischen Bürgerbeauftragten wegen der gegen sie in das FWS eingegebenen Warnmeldung eine Beschwerde ein. Diese Beschwerde wurde unter dem Aktenzeichen 637/2009/(ELB)FOR in das Register eingetragen.
21 Am 17. März 2009 wurde in Frankreich eine Voruntersuchung wegen des Türkei-Komplexes eingeleitet.
22 Am 14. September 2009 übermittelte das OLAF dem belgischen Generalstaatsanwalt Informationen über den Verdacht der Bestechung im Rahmen der Vergabe eines von der Union in Serbien finanzierten Auftrags (im Folgenden: Serbien-Komplex). Diese Informationen betrafen insbesondere die KIC, Herrn L. und ECO3. Eine Voruntersuchung und ein Untersuchungsverfahren im Serbien-Komplex wurden in Belgien eingeleitet.
23 Am 1. Oktober 2009 wurde in Belgien die gerichtliche Voruntersuchung in dem Serbien-Komplex eingeleitet.
24 Am 16. Oktober 2009 erließ die Kommission den Beschluss K(2009) 7692 endg. zur Übertragung von Verwaltungszuständigkeiten betreffend die Komponente „Entwicklung der Humanressourcen“ des IPA auf die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien. Da es Hinweise auf bestimmte Gefahren gegeben hatte, wurde in Art. 1 dieses Beschlusses vorgesehen, dass die Verwaltungszuständigkeiten bezüglich der Komponente „Entwicklung der Humanressourcen“ des IPA auf die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien übertragen werden, dass die Kommission jedoch die in Anhang II aufgeführten Ex-ante-Kontrollen durchführt. Nach diesem Anhang musste die Kommission, sobald der Auftrag vergeben war, u. a. die den Auftrag betreffenden Vertragsunterlagen bestätigen.
25 Im Mai 2010 wurde Herr L. von einem französischen Untersuchungsrichter wegen Bestechung im Kontext des Türkei-Komplexes vernommen.
26 Die Kommission und das OLAF tragen vor, das OLAF habe im Juli 2010 nach Art. 12 des FES-Beschlusses die Aktivierung einer W3b‑Warnmeldung im FWS in Bezug auf die Klägerin beantragt. Die Kommission führt aus, die Aktivierung einer entsprechenden Warnmeldung sei von dem OLAF in Bezug auf Herrn L. beantragt worden.
27 Am 6. Juli 2010 wurde eine nicht offene Ausschreibung für einen Dienstleistungsauftrag mit dem Titel „Bekämpfung der Schwarzarbeit“ (im Folgenden: fraglicher Auftrag) im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2010, S 128‑194817) unter dem Aktenzeichen EuropAid/130133/D/SER/MK veröffentlicht. Der fragliche Auftrag erfolgte im Rahmen der Komponente „Entwicklung der Humanressourcen“ gemäß der Verordnung IPA. Gegenstand der Ausschreibung war der Abschluss eines Vertrags zur Verbesserung der Wirksamkeit und Effizienz des Kampfes gegen Schwarzarbeit in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien mit einem vorläufigen Budget von 1 Mio. Euro. Es handelte sich um einen ex-ante dezentralisierten öffentlichen Auftrag, dessen Auftraggeber die zentrale Abteilung für Finanzierung und Vergabe von Aufträgen des Finanzministeriums der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien (im Folgenden: nationaler Auftraggeber) war.
28 Das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags unterlag gemäß den Angaben, die in den Kopfzeilen der Hinweise für die Bieter dieses Auftrags enthalten waren, den Bestimmungen des „Handbuchs für Vergabeverfahren im Zusammenhang mit Maßnahmen betreffend Außenbeziehungen“ (im Folgenden: PRAG).
29 Nr. 2.2 des PRAG, der die Modalitäten der Verwaltung betraf, bestimmte insbesondere, dass im Rahmen eines dezentralen Programms, das eine Ex-ante-Kontrolle vorsieht, der Auftraggeber die Entscheidungen über die Verfahren und die Auftragsvergabe traf und sie der Kommission zur vorherigen Genehmigung vorlegte. Gemäß der genannten Bestimmung des PRAG bestand die Beteiligung der Kommission in der Genehmigung der Finanzierung der dezentralen Verträge, und die Maßnahmen ihrer Vertreter bei den dezentralen Verfahren zum Abschluss und zur Durchführung dieser Verträge betrafen nur die Feststellung, ob die Finanzierungsbedingungen der Union erfüllt waren. Daher berührten diese Maßnahmen nicht den Grundsatz – und konnten ihn nicht berühren –, dass die dezentralen Aufträge nationale Verträge blieben, für deren Vorbereitung, Aushandlung und Abschluss allein die dezentralen Auftraggeber verantwortlich waren. Zudem ergab sich aus der genannten Bestimmung, dass der in der Finanzierungsvereinbarung bezeichnete Auftraggeber, d. h. die Regierung oder Stelle des begünstigten Landes mit Rechtspersönlichkeit, mit der die Kommission die genannte Vereinbarung geschlossen hatte, den dezentralen Vertrag unterzeichnete und den Auftrag vergab, dass jedoch die genannte Regierung oder Stelle zuvor der Kommission das Prüfungsergebnis zur Genehmigung vorlegen musste und sodann nach Übermittlung dieses Ergebnisses an den Auftragnehmer, nach Entgegennahme und Prüfung der Nachweise bezüglich der Ausschluss- und Auswahlkriterien den Vertrag der Kommission zur Bestätigung (Genehmigung) vorlegen musste.
30 Nr. 2.4.13 des PRAG betreffend die Aufhebung des Vergabeverfahrens bestimmte, dass der Auftraggeber bis zur Unterzeichnung des Vertrags entweder auf die Auftragsvergabe verzichten oder das Vergabeverfahren aufheben konnte, ohne dass die Bewerber oder Bieter einen Anspruch auf Entschädigung hatten, und nannte hierfür den Fall, dass das Verfahren erfolglos geblieben war, weil kein qualitativ oder finanziell annehmbares Angebot eingegangen war. Nach der genannten Bestimmung lag die endgültige Entscheidung insoweit beim Auftraggeber (nach vorheriger Zustimmung der Kommission für Aufträge, die der Auftraggeber im Rahmen des Ex-ante-Systems vergeben hatte).
31 Nr. 2.4.15 des PRAG, der den Rechtsweg betraf, sah insbesondere vor, dass die Kommission, wenn sie nicht der Auftraggeber war und von der Beschwerde eines Bieters Kenntnis erhielt, der meinte, wegen eines Fehlers oder einer im Rahmen des Vergabeverfahrens begangenen Unregelmäßigkeit benachteiligt zu sein, ihre Stellungnahme dem Auftraggeber bekannt zu geben hatte und im Rahmen des Möglichen eine einvernehmliche Lösung zwischen dem beschwerdeführenden Bieter und dem Auftraggeber zu suchen hatte.
32 Nr. 2.9.2 des PRAG betreffend die Vorbereitung und die Unterzeichnung des Vertrags bestimmte, dass der Auftraggeber die Vertragsakte in dem ex-ante dezentralisierten System zwecks Bestätigung an die Delegation der Union übersendet, die alle Ausfertigungen des Vertrags unterzeichnen musste, um die Finanzierung der Union zu bestätigen.
33 Zudem heißt es in Nr. 14.1 der Hinweise für die Bieter des fraglichen Auftrags, dass der Auftragnehmer schriftlich von der Annahme seines Angebots in Kenntnis gesetzt werden musste, und in Nr. 15, dass das Vergabeverfahren insbesondere aufgehoben werden konnte, wenn das Verfahren erfolglos geblieben war, weil z. B. kein qualitativ oder finanziell annehmbares Angebot eingegangen war. Es wurde dort darauf hingewiesen, dass der nationale Auftraggeber in diesem Fall zu keiner Entschädigungsleistung verpflichtet war.
34 Ein Konsortium unter der Federführung der Klägerin bewarb sich auf die in Rede stehende Ausschreibung.
35 Am 13. September 2011 übersandte der nationale Auftraggeber an die Klägerin das Zustellungsschreiben, mit dem er diese davon in Kenntnis setzte, dass der fragliche Auftrag an das von ihr angeführte Konsortium vergeben worden sei, vorbehaltlich der Vorlage zulässiger Nachweise bezüglich der Ausschluss- und Auswahlkriterien des in Rede stehenden Vergabeverfahrens innerhalb von 14 Tagen. In dem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass der nationale Auftraggeber unter bestimmten Voraussetzungen noch die Ausschreibung aufheben könne, ohne dass er zu einer Entschädigung verpflichtet sei.
36 Mit E‑Mail vom 4. Oktober 2011 teilte der nationale Auftraggeber der Klägerin mit, dass er sämtliche Nachweise erhalten habe. Für eine abschließende Prüfung bat er die Klägerin, ihm ihre Bilanz für das Jahr 2006 zu übersenden oder ihm andernfalls bestimmte Informationen zu übermitteln. Die Klägerin fügte der E‑Mail, mit der sie am 5. Oktober 2010 antwortete, ihre Bilanz für das Jahr 2006 bei. Der nationale Auftraggeber bestätigte den Empfang mit E‑Mail vom selben Tag.
37 Mit E‑Mail vom 2. November 2011 erkundigte sich die Klägerin beim nationalen Auftraggeber über den Fortgang des Verfahrens.
38 Mit E‑Mail vom 3. November 2011 erwiderte der nationale Auftraggeber, dass er auf die Ex-ante-Genehmigung der Vertragsunterlagen durch die Delegation der Union in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien (im Folgenden: Delegation) warte, um das Vertragsunterzeichnungsverfahren abschließen zu können. Das Verfahren solle zügig beendet werden, so dass es von Bedeutung sei, dass die Klägerin sicherstelle, dass die wichtigsten Fachkräfte, die an der Durchführung des Vertrags beteiligt sein sollten, bis Ende des Jahres 2011 weiterhin zur Verfügung stünden.
39 Mit Schreiben vom 9. November 2011 bestätigte die Delegation den Empfang des Entwurfs eines Vertrags über den fraglichen Auftrag, den der nationale Auftraggeber ihr zwecks Bestätigung übersandt hatte. In dem Vermerk, auf den sie in dem genannten Schreiben verwies, teilte sie mit, dass sie sich gemäß Art. 17 Abs. 2 Buchst. c des FWS-Beschlusses entschieden habe, den Vertrag nicht zu bestätigen.
40 In dem oben in Rn. 39 angeführten Vermerk berief sich die Delegation auf ein Rechtmäßigkeits- bzw. Ordnungsmäßigkeitsproblem, das darauf zurückzuführen sei, dass gegen die für die Vergabe des Vertrags empfohlene Gesellschaft, also die Klägerin, eine W3b‑Warnmeldung in das FWS eingegeben worden sei, die im Zusammenhang mit einer wegen Betrugs oder schwerwiegender Verwaltungsfehler anhängigen Klage stehe. Sie empfahl dem nationalen Auftraggeber in diesem Vermerk schließlich, das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags ohne Vertragsschluss zu beenden und die Beendigung in der an den Bieter übermittelten Benachrichtigung in gebührender Weise zu begründen.
41 In dem Schreiben vom 9. November 2011 fügte die Delegation hinzu, sie habe die Entscheidung, den Vertrag nicht zu bestätigen, angesichts ihrer Verpflichtung zum Schutz des Ansehens und der finanziellen Interessen der Union und unter Berücksichtigung der Art und Schwere des die fragliche Warnmeldung begründenden Tatbestands getroffen. Sie schlug dem nationalen Auftraggeber vor, ein neues Vergabeverfahren einzuleiten.
42 Mit Schreiben vom 17. November 2011 wies der nationale Auftraggeber die Delegation darauf hin, dass er aufgrund ihrer Mitteilung, wonach das für die Vergabe des fraglichen Auftrags technisch einzig annehmbare Angebot eine Gesellschaft einbeziehe, gegen die eine W3b‑Warnmeldung in das FWS eingegeben worden sei, ihr einen Vermerk über die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags sowie ein Informationsschreiben für die nicht berücksichtigten Bieter zur Genehmigung übermittle.
43 Im November 2010 wurde die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags bekannt gemacht.
44 Mit einem „Schreiben an nicht berücksichtigte Bieter“ vom 6. Dezember 2011 setzte der nationale Auftraggeber die Klägerin davon in Kenntnis, dass er „im Hinblick auf die Notwendigkeit, das Ansehen und die finanziellen Interessen der Union zu schützen, und unter Berücksichtigung der Art und Schwere des die Warnmeldung begründenden Tatbestands“ beschlossen habe, das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags ohne Zuschlagserteilung für diesen Auftrag zu beenden, wie es in Art. 17 Abs. 2 Buchst. c des FWS-Beschlusses vorgesehen sei.
45 Mit Schreiben vom 12. Dezember 2011 an die Delegation und an den nationalen Auftraggeber machte die Klägerin geltend, dass die Entscheidung des nationalen Auftraggebers, das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags ohne Zuschlagserteilung für diesen Auftrag wegen der gegen die Klägerin eingegebenen FWS-Warnmeldung zu beenden, rechtswidrig sei, und verlangte die Rücknahme dieser Entscheidung. Sie berief sich insbesondere darauf, dass die Kommission die Warnmeldung in das FWS gegen sie eingegeben habe, ohne sie hiervon zu benachrichtigen, geschweige denn, sie zuvor anzuhören, sowie unter Verstoß gegen ihre Verteidigungsrechte, obwohl, wie sich aus dem Beschluss vom 13. April 2011, Planet/Kommission (T‑320/09, EU:T:2011:172), ergebe, diese Warnmeldung eine sie beschwerende Maßnahme gewesen sei. Jedenfalls habe der nationale Auftraggeber seine Entscheidung, das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags ohne Zuschlagserteilung für diesen Auftrag zu beenden, statt eine andere, weniger schädigende Lösung nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. c des FWS-Beschlusses zu wählen, nicht begründet.
46 Am 16. Dezember 2011 gab der Bürgerbeauftragte den Entwurf einer Empfehlung für seine Initiativuntersuchung OI/3/2008/FOR gegen die Kommission heraus. In diesem Entwurf empfahl er eine Überprüfung des FWS-Beschlusses, um sicherzustellen, dass seine Tragweite nicht über das zum Schutz der finanziellen Interessen der Union Erforderliche hinausgeht und er nicht gegen die Grundrechte der in das FWS eingegebenen Personen, insbesondere gegen das Recht dieser Personen auf Anhörung vor ihrer Eingabe, verstößt. Er empfahl in Nr. 141 des Entwurfs ferner, dass die W3b‑Warnmeldungen unter der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes nur Anwendung finden, wenn gemäß Entscheidung der Justizbehörden von der vorgerichtlichen Phase in die gerichtliche Phase übergegangen wird. Er war der Auffassung, dass allein die W1- oder W2-Warnmeldungen eventuell in der vorgerichtlichen Phase vorgenommen werden könnten.
47 Mit Schreiben vom 12. Januar 2012 an die Delegation sowie an den nationalen Auftraggeber bekräftigte die Klägerin ihren Standpunkt und stützte sich hierbei auf den Entwurf einer Empfehlung des Bürgerbeauftragten vom 16. Dezember 2011.
48 Mit Schreiben vom 1. März 2012 an die Delegation sowie an den nationalen Auftraggeber wies die Klägerin darauf hin, dass nach ihrer Auffassung im vorliegenden Fall die Union verantwortlich sei, und beantragte auf der Grundlage des Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dass ihr der gesamte Schriftverkehr zwischen der Kommission und den Behörden der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien sowie alle zwischen diesen ausgetauschten Dokumente bezüglich des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags zugänglich gemacht werden, soweit sie von ihnen betroffen ist.
49 Mit Schreiben vom 14. März 2012 entschuldigte sich die Delegation für die verspätete Beantwortung der Schreiben der Klägerin und teilte dieser mit, dass sie gemäß Art. 2.4.15 des PRAG mit dem nationalen Auftraggeber, der für das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags allein verantwortlich sei, nach einem Weg suche, wie ihrem Antrag auf Zugang zu bestimmten Dokumenten entsprochen werden könne.
50 Mit Schreiben vom 11. Mai 2012 an die Delegation und an die Kommission teilte die Klägerin mit, dass nach ihrer Auffassung die vom nationalen Auftraggeber getroffene Entscheidung über die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags nur die Folge der Entscheidung der Kommission über die Eingabe der Klägerin in das FWS und der nachfolgenden Entscheidung der Delegation sei, den Vertrag wegen dieser Eingabe nicht zu bestätigen. Sie erneuerte zudem ihren Antrag auf Übermittlung von Dokumenten.
51 Mit Urteil vom 24. Mai 2012 hob die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) die gerichtlichen Anordnungen vom 18. September und 17. Oktober 2008, die nachfolgenden Berichte des OLAF und alle nachfolgenden Maßnahmen auf.
52 Mit Schreiben vom 25. Juni 2012 erinnerte die Klägerin die Delegation und die Kommission erneut an ihren Antrag auf Übermittlung von Dokumenten.
53 Mit Schreiben vom 25. Juni 2012 stellte die Klägerin bei der Kommission auch den Antrag, ihr zu bestätigen, dass gegen sie eine Warnmeldung in das FWS eingegeben worden sei, und ihr mitzuteilen, welcher Art die Warnmeldung sei und wie ihre Begründung laute, sowie den Verfasser und das Datum des Antrags auf Warnmeldung zu nennen.
54 Am 6. Juli 2012 erließ der Bürgerbeauftragte eine Entscheidung, mit der er seine Initiativuntersuchung OI/3/2008/FOR gegen die Kommission abschloss.
55 Mit Schreiben vom 11. Juli 2012 bestätigte die Kommission der Klägerin, dass gegen sie eine W3b‑Warnmeldung im FWS gemäß Art. 12 des FWS-Beschlusses bestehe, der vorsehe, dass, „[wenn] eine Untersuchung des OLAF … in ein Gerichtsverfahren [mündet] oder … das OLAF Follow-up-Maßnahmen [trifft] bzw. … dazu Amtshilfe [leistet], … das OLAF die Eingabe der diesbezüglichen W3b‑Warnmeldung [beantragt].“ Sie wies ferner darauf hin, dass jeder verantwortliche Anweisungsbefugte die Folgen zu prüfen habe, die sich aus dieser Warnmeldung für die Vergabeverfahren und die laufenden Verträge ergäben.
56 Mit Schreiben vom 11. Juli 2012 teilte die Delegation der Klägerin mit, dass die Entscheidung über die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags vom nationalen Auftraggeber erlassen worden sei, dass sie über keine Akte verfüge, zu dem sie der Klägerin Zugang gewähren könne und dass sie daher ihren Antrag an die zuständigen nationalen Behörden weiterleiten werde.
57 Mit Schreiben vom 23. August 2012 legte die Klägerin beim Bürgerbeauftragen Beschwerde mit dem Antrag auf Feststellung ein, dass die Kommission gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen habe, indem sie gegen die Klägerin die Warnmeldung in das FWS eingegeben habe, ohne sie zuvor zu informieren, indem sie sich geweigert habe, die Klägerin mit den für das Verständnis dieser Warnmeldung erforderlichen Informationen zu versorgen, und indem sie sich vor diesem Hintergrund trotz ihrer späteren Einwände geweigert habe, den Vertrag über den an sie vergebenen Auftrag zu bestätigen. Sie beantragte beim Bürgerbeauftragten ferner Maßnahmen, um die gegen sie eingegebene Warnmeldung im FWS zu löschen. Diese Beschwerde wurde unter dem Aktenzeichen 604/2013/FOR eingetragen.
58 Mit Urteil vom 19. Dezember 2012, Kommission/Planet (C‑314/11 P, EU:C:2012:823), hat der Gerichtshof das gegen den Beschluss vom 13. April 2011, Planet/Kommission (T‑320/09, EU:T:2011:172), eingelegte Rechtsmittel mit der Feststellung zurückgewiesen, dass die Warnmeldung über ein Unternehmen im FWS, einschließlich einer W1-Warnmeldung, geeignet ist, das im FWS erfasste Unternehmen zu beschweren.
59 Als Konsequenz aus dem Urteil vom 19. Dezember 2012, Kommission/Planet (C‑314/11 P, EU:C:2012:823), traf die Kommission vorläufige Maßnahmen zur Durchführung des FWS-Beschlusses, damit die Unternehmen, gegen die ein Antrag auf Eingabe einer Warnmeldung W1 bis W4 vorlag, vor Eingabe der Warnmeldung schriftlich Stellung nehmen konnten.
60 Mit Beschluss vom 8. Mai 2013 schloss der Bürgerbeauftragte das Verfahren 637/2009/(ELB)FOR mit dem kritischen Vermerk: „Das OLAF versäumte es, die Rücknahme der gegen [ECO3] eingegebenen Warnmeldung W3b zu beantragen.“
61 Mit Schreiben vom 16. Dezember 2013 übermittelte der Bürgerbeauftragte an die Klägerin die Stellungnahme, die er vom OLAF mit Schreiben vom 2. Dezember 2013 erhalten hatte.
62 Mit Schreiben vom 8. Januar 2014 nahm die Klägerin gegenüber dem Bürgerbeauftragten Stellung zu dem Schreiben des OLAF vom 2. Dezember 2013.
63 Mit Schreiben vom 1. September 2014 übersandte der Bürgerbeauftragte an die Klägerin seinen Entwurf einer Empfehlung 604/2013/FOR, die lautete, dass die Kommission die gegen die Klägerin eingegebene Warnmeldung im FWS löscht oder die Gründe für deren Aufrechterhaltung mitteilt und an die Klägerin eine Kopie des Schriftverkehrs zwischen ihr und dem nationalen Auftraggeber bezüglich der genannten Warnmeldung übersendet.
64 Im Februar 2015 löschte die Kommission die gegen die Klägerin sowie gegen Herrn L. eingegebene FWS-Warnmeldung.
65 Mit Beschluss vom 16. April 2015 stellte der mit dem Türkei-Komplex betraute französische Untersuchungsrichter fest, dass für eine strafrechtliche Verfolgung des Herrn L. wegen Bestechung insoweit kein Grund bestehe, da sich aus den Informationen kein hinreichender Tatverdacht gegen Herrn L. ergeben habe.
66 Mit Schreiben vom 29. April 2015 übersandte der Bürgerbeauftragte an die Klägerin die Stellungnahme des OLAF zu dem Entwurf einer Empfehlung bezüglich der Beschwerde der Klägerin. In dieser Stellungnahme wies das OLAF darauf hin, dass es am 10. Februar 2015 an den Rechnungsführer der Kommission gemäß Art. 5 Abs. 3 Buchst. b des FWS-Beschlusses einen Antrag auf Aufhebung der gegen die Klägerin eingegebenen FWS-Warnmeldung gerichtet habe und dass der genannte Rechnungsführer am 16. Februar 2015 entschieden habe, die genannte Warnmeldung aufzuheben. In Bezug auf den Antrag auf Übersendung des Schriftverkehrs teilte das OLAF mit, dass es diesen Antrag an die zuständige Dienststelle der Kommission weitergeleitet habe.
67 Mit Schreiben vom 21. Mai 2015 an den Bürgerbeauftragten nahm die Klägerin die Rücknahme der gegen sie eingegebenen FWS-Warnmeldung zur Kenntnis, machte jedoch bezüglich der Stellungnahme des OLAF Vorbehalte.
68 Mit Beschluss vom 21. Mai 2015 brachte die Ratskammer des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (Französischsprachiges Amtsgericht Brüssel, Belgien) u. a. Herrn L. und ECO3 wegen des Verdachts der Bestechung in dem Ukraine-Komplex vor das Tribunal correctionnel (Strafgericht).
69 Mit Schreiben vom 26. Juni 2015, das bei der Klägerin am 1. Juli 2015 einging, übersandte die Kommission an die Klägerin den Schriftverkehr zwischen dem nationalen Auftraggeber und der Delegation, d. h. die Schreiben vom 9. und 17. November 2011, zu denen sie bis dahin keinen Zugang erhalten hatte.
Sachverhalt nach Erhebung der Klage
70 Mit Beschluss vom 14. Juni 2016 brachte die Ratskammer des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (Französischsprachiges Amtsgericht Brüssel) u. a. Herrn L. und ECO3 wegen des Verdachts der Bestechung in dem Serbien-Komplex vor das Tribunal correctionnel (Strafgericht).
71 Mit zwei Urteilen vom 5. Oktober 2017 erklärte das Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (Französischsprachiges Amtsgericht Brüssel) die Strafverfolgungen in dem Ukraine- und dem Serbien-Komplex für unzulässig, da die Grundlage für diese Verfolgungen unwiderruflich entfallen sei, nachdem die französische Justiz wesentliche Beweismittel für nichtig erklärt habe. Es stellte daher fest, dass es für eine Entscheidung über die Zivilklagen nicht zuständig sei. Da gegen diese Urteile kein Rechtsmittel eingelegt wurde, wurden sie rechtskräftig.
Verfahren und Anträge der Parteien
72 Mit Klageschrift, die am 13. Juni 2016 bei der Kanzlei des Gerichts einging, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. Die Rechtssache ist der Fünften Kammer des Gerichts zugewiesen worden.
73 Im Zuge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ist die Rechtssache am 6. Oktober 2016 der Siebten Kammer des Gerichts zugewiesen worden.
74 Am 14. Februar 2017 ist die Rechtssache im Interesse einer geordneten Rechtspflege einem neuen Berichterstatter zugewiesen worden, der der Ersten Kammer des Gerichts angehört.
75 Im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme nach Art. 89 der Verfahrensordnung des Gerichts, die den Parteien am 15. Juni 2017 zugestellt worden ist, sind diese zur Stellungnahme zu den möglichen Schlussfolgerungen aufgefordert worden, die in der vorliegenden Rechtssache aus dem Beschluss vom 13. September 2012, Diadikasia Symvouloi Epicheiriseon/Kommission u. a. (T‑369/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:425), im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Beschluss vom 4. Juli 2013, Diadikasia Symvouloi Epicheiriseon/Kommission u. a. (C‑520/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:457), zu ziehen sind. Dieser Aufforderung sind die Parteien innerhalb der gesetzten Fristen nachgekommen.
76 Das Gericht hat auf Vorschlag der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und die Parteien sind im Rahmen weiterer prozessleitender Maßnahmen, die ihnen am 23. März 2018 zugestellt worden sind, zur Beantwortung einiger schriftlicher Fragen aufgefordert worden. Die Parteien sind dieser Aufforderung innerhalb der gesetzten Fristen nachgekommen.
77 In der mündlichen Verhandlung vom 2. Mai 2018 haben die Parteien mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet. Danach ist die mündliche Verhandlung geschlossen worden.
78 Auf Vorschlag der Berichterstatterin hat das Gericht, das insbesondere ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansah, die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschlossen und im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme die Parteien aufgefordert, schriftlich eine Frage zu beantworten. Die Parteien sind dieser Aufforderung innerhalb der gesetzten Fristen nachgekommen, und die mündliche Verhandlung ist mit Beschluss der Präsidentin der Ersten Kammer des Gerichts erneut geschlossen worden.
79 Die Klägerin beantragt,
–
die Kommission zu verurteilen, ihr den materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihr dadurch entstanden ist, dass sie von einer FWS-Warnmeldung betroffen war und daraufhin, gestützt auf diese Warnmeldung, der Abschluss des Vertrags über den fraglichen Auftrag verweigert wurde, und der sich insgesamt auf 496000 Euro beläuft, von denen 166000 Euro auf den materiellen Schaden infolge des Verlusts des fraglichen Auftrags und 330000 Euro auf den materiellen und immateriellen Schaden infolge des Verlusts einer Chance entfallen, im Personalbereich und in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien weitere Aufträge zu erhalten;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
80 Die Kommission beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zur Zuständigkeit des Gerichts für die Entscheidung über die Klage
81 Während die Kommission in der Gegenerwiderung erklärt hat, sie wolle die Zulässigkeit der vorliegenden Klage nicht in Abrede stellen, führt sie in ihrer Antwort auf die am 15. Juni 2017 zugestellte prozessleitende Maßnahme aus, das Gericht müsse die vorliegende Klage von Amts wegen für unzulässig erklären. Aus Rn. 62 des Beschlusses vom 13. September 2012, Diadikasia Symvouloi Epicheiriseon/Kommission u. a. (T‑369/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:425), ergebe sich, dass, wenn die schadensbegründende Handlung von dem Auftraggeber eines Drittlandes ausgehe, allein die Gerichte dieses Landes für die Prüfung eines eventuellen Schadensersatzes zuständig seien. Die Handlung, auf die der von der Klägerin geltend gemachte Schaden zurückzuführen sei, sei eine Handlung des nationalen Auftraggebers, nämlich die vom nationalen Auftraggeber getroffene Entscheidung über die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags, von der die Klägerin mit Schreiben des genannten Auftraggebers vom 6. Dezember 2011 in Kenntnis gesetzt worden sei.
82 In ihrer Antwort auf die am 15. Juni 2017 und 23. März 2018 zugestellten prozessleitenden Maßnahmen vertritt die Klägerin die Auffassung, dass die vorliegende Klage zulässig sei. Zur Begründung führt sie aus, dass auch dann, wenn die Entscheidung des nationalen Auftraggebers, das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags ohne Vertragsschluss zu beenden, herangezogen werde, die als schadensbegründend angeführte rechtswidrige Handlung, d. h. die sie betreffende Eingabe in das FWS und die spätere Weigerung, den Vertrag über den fraglichen Auftrag zu bestätigen, der Kommission oder der Delegation zuzurechnen sei. Der Sachverhalt unterscheide sich daher von dem in der Rechtssache, die zu dem oben in Rn. 81 angeführten Beschluss geführt habe. Dort habe die Klägerin Ersatz des Schadens verlangt, der infolge der Entscheidung des Auftraggebers des Drittlandes, deren Rechtmäßigkeit sie in Frage gestellt habe, entstanden sei.
83 Im Rahmen der Zulässigkeit erörtern die Parteien im vorliegenden Fall die Frage, ob das Gericht für die Entscheidung über die vorliegende Klage zuständig ist oder ob die Klage in die Zuständigkeit der Gerichte der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien fällt.
84 Auch wenn die Parteien keinen förmlichen Antrag in Bezug auf die von ihnen erörterte Frage gestellt haben, kann der Unionsrichter sie von Amts wegen prüfen, da sie die Zuständigkeit des Unionsrichters für die Entscheidung des Rechtsstreits betrifft, die einen das zwingende Recht betreffenden Gesichtspunkt darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. März 1980, Ferriera Valsabbia u. a./Kommission, 154/78, 205/78, 206/78, 226/78 bis 228/78, 263/78, 264/78, 31/79, 39/79, 83/79 und 85/79, EU:C:1980:81, Rn. 7, und vom 15. März 2005, GEF/Kommission, T‑29/02, EU:T:2005:99, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Handlung, von der die Klägerin zur Begründung ihres Schadensersatzanspruchs meint, sie sei rechtswidrig, nicht die vom nationalen Auftraggeber getroffene Entscheidung über die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags ist, sondern die Entscheidung der Kommission über die Eingabe der Klägerin in das FWS sowie die spätere Weigerung der Delegation, den Vertrag über den fraglichen Auftrag zu bestätigen. Wie die Klägerin in ihrer Antwort auf die am 15. Juni 2017 und 23. März 2018 zugestellten prozessleitenden Maßnahmen ausführt, „stützt [sie] ihre Schadensersatzklage nicht auf die Entscheidung des nationalen Auftraggebers, der [zwar] im Rahmen eines sogenannten ex ante dezentralisierten Auftrags zuständig ist“, der aber „keinen Vertrag ohne die vorherige Zustimmung der Kommission schließen kann“, so dass allein die Kommission „für die Erteilung der Zustimmung oder die Verweigerung der Zustimmung verantwortlich“ sei.
86 Auch wenn daher die Entscheidung über die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags von dem nationalen Auftraggeber getroffen wurde, so geht doch die Rechtswidrigkeit, auf die sich zur Stützung der vorliegenden Klage berufen wird, von einem Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union aus, und es kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese auf eine nationale Behörde zurückzuführen ist.
87 Aus Art. 1 des Beschlusses K(2009) 7692 endg. in Verbindung mit Anhang II dieses Beschlusses und Nr. 2.2 des PRAG ergibt sich, dass die Delegation nicht eine einfache Stellungnahme zu dem Vertragsschluss mit dem ausgewählten Bieter abgab, sondern dass sie befugt war, diesen Abschluss zu billigen oder abzulehnen, wenn ihrer Auffassung nach die Voraussetzungen für den Abschluss nicht gegeben waren.
88 Aus den Prozessakten und der mündlichen Verhandlung ergibt sich zudem, dass die Delegation mit Schreiben vom 9. November 2011 von der ihr eingeräumten Befugnis tatsächlich Gebrauch machte, um zu verhindern, dass der Vertrag über den fraglichen Auftrag mit dem von der Klägerin geleiteten Konsortium geschlossen werden konnte, so dass der nationale Auftraggeber, da das technisch einzig annehmbare Angebot von diesem Konsortium abgegeben worden war, keine andere Wahl hatte, als das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags aufzuheben.
89 Nach alledem ist die Rechtswidrigkeit, auf die sich die Klägerin zur Begründung ihres Schadensersatzanspruchs beruft, nicht dem nationalen Auftraggeber zuzurechnen, der aus der Weigerung der Delegation, die selbst wiederum auf der zuvor getroffenen Entscheidung der Kommission beruhte, die Konsequenzen ziehen musste, sondern der Delegation und der Kommission.
90 Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich demnach von dem, der dem Beschluss vom 13. September 2012, Diadikasia Symvouloi Epicheiriseon/Kommission u. a. (T‑369/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:425), zugrunde liegt, in dem die Handlungen, auf deren Rechtswidrigkeit sich zur Begründung der Schadensersatzklage berufen worden war, nur solche der nationalen Behörde waren.
91 Aus den gesamten vorstehenden Erwägungen folgt, dass das Gericht für die Entscheidung der vorliegenden Klage zuständig ist und dass das Gegenvorbringen der Kommission insoweit zurückzuweisen ist.
Zur Zulässigkeit der in den Anlagen C.1 bis C.12 zur Erwiderung vorgelegten Beweismittel
92 Nach Art. 113 der Verfahrensordnung kann das Gericht von Amts wegen die unverzichtbaren Zulässigkeitsvoraussetzungen prüfen (vgl. Urteil vom 2. April 1998, Apostolidis/Gerichtshof, T‑86/97, EU:T:1998:71, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Unionsrichter kann jedoch seine Entscheidung grundsätzlich nicht auf einen von Amts wegen geprüften Rechtsgrund – sei er auch zwingenden Rechts – stützen, ohne die Parteien zuvor aufgefordert zu haben, sich dazu zu äußern (vgl. Urteil vom 17. Dezember 2009, Réexamen M/EMEA, C‑197/09 RX‑II, EU:C:2009:804, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Im vorliegenden Fall ist von Amts wegen die Zulässigkeit der in den Anlagen C.1 bis C.12 zur Erwiderung vorgelegten Beweismittel zu prüfen.
94 In ihrer Antwort auf die prozessleitenden Maßnahmen des Gerichts (vgl. oben, Rn. 78) macht die Klägerin geltend, sämtliche Beweismittel, die in den Anlagen C.1 bis C.12 zur Erwiderung vorgelegt worden seien, entgingen der Präklusion nach Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung, da es sich um Gegenbeweise oder um eine Erweiterung der Beweisangebote handele. Die Kommission trägt demgegenüber vor, die Klägerin habe die verspätete Vorlage der Beweise bisher nicht gerechtfertigt. Sie stellt die Entscheidung zwar in das Ermessen des Gerichts, ist aber der Ansicht, dass die genannten Beweise entweder als Zusatzinformationen, als Gegenbeweis oder als Erweiterung der Beweisangebote für zulässig erklärt werden könnten.
95 Aus der Klageschrift ergibt sich insoweit, dass die vorliegende Klage einen Antrag auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens betrifft, der der Klägerin aufgrund der Entscheidung der Kommission, sie in das FWS einzugeben, und der späteren Weigerung der Delegation entstanden sein soll, den Vertrag über den fraglichen Auftrag zu bestätigen. Es handelt sich somit um eine Klage, mit der die Klägerin die außervertragliche Haftung der Union geltend machen will.
96 Nach gefestigter Rechtsprechung ist es im Rahmen einer Klage aus außervertraglicher Haftung Sache der klagenden Partei, dem Unionsrichter Beweise für den Eintritt und den Umfang des von ihr geltend gemachten Schadens zu erbringen (vgl. Urteile vom 28. Januar 2016, Zafeiropoulos/Cedefop, T‑537/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:36, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 26. April 2016, Strack/Kommission, T‑221/08, EU:T:2016:242, Rn. 308 [nicht veröffentlicht]).
97 Der Unionsrichter hat zwar anerkannt, dass es in bestimmten Fällen, insbesondere wenn der behauptete Schaden schwer zu beziffern ist, nicht unabdingbar ist, in der Klageschrift den genauen Schadensumfang anzugeben und den beantragten Schadensersatzbetrag zu beziffern (vgl. Urteil vom 28. Februar 2013, Inalca und Cremonini/Kommission, C‑460/09 P, EU:C:2013:111, Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung).
98 Die Klageschrift in der vorliegenden Rechtssache ist am 13. Juni 2016 eingegangen. Darin hat die Klägerin den materiellen und immateriellen Schaden, der ihr entstanden sein soll, beziffert, indem sie sich auf die in den Anlagen zu dieser Klageschrift vorgebrachten Beweismittel stützt.
99 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 76 Buchst. f der Verfahrensordnung jede Klageschrift gegebenenfalls die Beweise und Beweisangebote enthalten muss.
100 Darüber hinaus bestimmt Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung, dass Beweise und Beweisangebote im Rahmen des ersten Schriftsatzwechsels vorzulegen sind. Art. 85 Abs. 2 der Verfahrensordnung fügt hinzu, dass die Parteien für ihr Vorbringen noch in der Erwiderung oder in der Gegenerwiderung Beweise oder Beweisangebote vorlegen können, sofern die Verspätung der Vorlage gerechtfertigt ist. Im letztgenannten Fall entscheidet das Gericht gemäß Art. 85 Abs. 4 der Verfahrensordnung über die Zulässigkeit der vorgebrachten Beweise oder Beweisangebote, nachdem es den anderen Parteien Gelegenheit gegeben hat, hierzu Stellung zu nehmen.
101 Die Präklusionsvorschrift des Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung betrifft nicht den Gegenbeweis und die Erweiterung der Beweisangebote im Anschluss an einen Gegenbeweis der Gegenpartei (vgl. Urteil vom 22. Juni 2017, Biogena Naturprodukte/EUIPO [ZUM wohl], T‑236/16, EU:T:2017:416, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
102 Nach der Rechtsprechung zur Anwendung der Präklusionsvorschrift des Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung müssen die Parteien die verspätete Vorlage neuer Beweise oder Beweisangebote begründen (Urteil vom 18. September 2008, Angé Serrano u. a./Parlament, T‑47/05, EU:T:2008:384, Rn. 54), und der Unionsrichter ist befugt, die Stichhaltigkeit der Begründung für die Verspätung, mit der diese Beweise oder Beweismittel vorgelegt worden sind, und gegebenenfalls deren Inhalt zu prüfen sowie sie zurückzuweisen, wenn diese verspätete Vorlage rechtlich nicht hinreichend gerechtfertigt oder begründet ist (Urteile vom 14. April 2005, Gaki-Kakouri/Gerichtshof, C‑243/04 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2005:238, Rn. 33, und vom 18. September 2008, Angé Serrano u. a./Parlament, T‑47/05, EU:T:2008:384, Rn. 56).
103 Es ist bereits entschieden worden, dass die verspätete Vorlage von Beweisen oder Beweisangeboten durch eine Partei gerechtfertigt sein kann, wenn diese Partei über diese Beweise nicht früher verfügen konnte oder die Verspätung, mit der die Gegenpartei Beweise vorgelegt hat, es rechtfertigt, die Verfahrensakten zur Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens zu ergänzen (Urteile vom 14. April 2005, Gaki-Kakouri/Gerichtshof, C‑243/04 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2005:238, Rn. 32, und vom 18. September 2008, Angé Serrano u. a./Parlament, T‑47/05, EU:T:2008:384, Rn. 55).
104 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in den Anlagen C.1 bis C.15 zur Erwiderung eine Reihe von Beweismitteln vorgelegt, ohne deren verspätete Vorlage präzise zu rechtfertigen.
105 Zunächst ist festzustellen, dass die in der Anlage C.7 zur Erwiderung vorgelegte Tabelle, in der die operativen Kosten der Klägerin aufgeschlüsselt werden, keinen Beweis darstellt, wie die Klägerin meint. Es handelt sich nämlich lediglich um eine Information, mit der eine Frage der Kommission in Rn. 52 der Klagebeantwortung beantwortet werden sollte und die die Kommission in Rn. 34 der Gegenerwiderung „zur Kenntnis“ nahm. Es handelt sich folglich nicht um einen Beweis, dessen Zulässigkeit im Hinblick auf Art. 85 Abs. 1 der Verfahrensordnung geprüft werden müsste.
106 Soweit die Klägerin in ihren Antworten auf die Fragen des Gerichts (vgl. oben, Rn. 78) geltend gemacht hat, die Anlagen C.1 bis C.12 zur Erwiderung enthielten Beweise, die erforderlich seien, um die Darlegungen der Kommission in der Klagebeantwortung zu widerlegen, ist darauf hinzuweisen, dass, wie die Klägerin zu Recht ausführt und wie die Kommission auch einräumt, die verspätete Vorlage der in den Anlagen C.1 bis C.4 zur Erwiderung angeführten Beweismittel in der Tat damit gerechtfertigt werden kann, dass der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens in Bezug auf bestimmte Darlegungen in der Klagebeantwortung gewahrt werden soll. Erstens ist der Auszug aus dem Beschluss über die Verweisung an das Tribunal correctionnel (Strafgericht) und über die teilweise Einstellung vom 16. April 2015, der in dem in Frankreich eröffneten Strafverfahren erging, in der Anlage C.1 zur Erwiderung vorgelegt worden, um zu belegen, dass das Verfahren gegen Herrn L. aus sachlichen Gründen, nämlich mangels hinreichenden Tatverdachts, und nicht aus Gründen der Zulässigkeit eingestellt wurde, wie die Kommission in Rn. 12 der Klagebeantwortung behauptet hat. Zweitens sind die Schriftstücke des Verfahrens vor dem Bürgerbeauftragten in den Anlagen C.2 und C.3 zur Erwiderung zum Beweis dafür vorgelegt worden, dass nur gegen Herrn L. und die ECO3, nicht aber gegen die Klägerin eine Warnmeldung in das FWS eingegeben wurde, wie die Kommission in Rn. 16 der Klagebeantwortung behauptet. Drittens sind die Auszüge aus den endgültigen Prüfungsberichten über drei Projekte, an denen die Klägerin teilgenommen hatte, in der Anlage C.4 zur Erwiderung vorgelegt worden, um zu beweisen, dass die Anzahl der im Rahmen eines Projekts aufgewandten Arbeitstage im Allgemeinen der im Budget veranschlagten Anzahl entsprach, was die Kommission in Rn. 50 der Klagebeantwortung bezweifelt hat.
107 Die Beweismittel dagegen, die in den Anlagen C.5, C.6 und C.8 bis C.12 zur Erwiderung angeführt werden, nämlich die Erklärungen von zwei der wichtigsten Fachkräfte, die in der in der Anlage zur Klageschrift vorgelegten Tabelle über die Schadensbewertung (im Folgenden: Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens) genannt werden und ihre Tagessätze bestätigen, die Gehaltsabrechnung eines Projektmanagers, den die Klägerin 2012 angestellt hatte, Erklärungen der Mitglieder des Konsortiums, die den Verteilungsschlüssel in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens bestätigen, und eine am 13. Februar 2013 veröffentliche Stellungnahme zu einem öffentlichen Auftrag, der mit den Behörden der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien geschlossen werden sollte und dazu bestimmt war, diese beim Kampf gegen die illegale Beschäftigung zu unterstützen, sowie die Liste der für diesen Auftrag vorausgewählten Bieter, sind von der Klägerin allein zu dem Zweck vorgelegt worden, gemäß der oben in Rn. 96 angeführten Rechtsprechung den Eintritt und den Umfang des angeblichen materiellen und immateriellen Schadens zu beweisen, wie er in der Klageschrift beziffert worden war. Der Umstand, dass sich die Kommission in der Klagebeantwortung darauf berufen hat, dass die Klägerin den Eintritt und den Umfang des angeblich entstandenen Schadens in rechtlicher Hinsicht nicht hinreichend nachgewiesen habe, erlaubt nicht die Annahme, dass damit die verspätete Vorlage der in den Anlagen C.5, C.6 und C.8 bis C.12 angeführten Beweismittel durch die Notwendigkeit gerechtfertigt war, auf die Argumente der Kommission einzugehen und den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens zu wahren.
108 Aus den gesamten vorstehenden Erwägungen folgt, dass von den in den Anlagen zur Erwiderung vorgelegten Beweismitteln diejenigen, die in den Anlage C.5, C.6 und C.8 bis C.12 zur Erwiderung angeführt werden, als unzulässig zurückzuweisen sind und bei der Prüfung der Begründetheit der Klage nicht berücksichtigt werden.
Zur Begründetheit
109 Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union „[i]m Bereich der außervertraglichen Haftung … den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“. Nach ständiger Rechtsprechung hängt die außervertragliche Haftung der Union im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV für rechtswidriges Verhalten ihrer Organe vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen ab, nämlich von der Rechtswidrigkeit des den Organen vorgeworfenen Verhaltens, dem tatsächlichen Bestehen des Schadens und der Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden (vgl. Urteil vom 9. September 2008, FIAMM u. a./Rat und Kommission, C‑120/06 P und C‑121/06 P, EU:C:2008:476‚ Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung, Urteile vom 11. Juli 2007, Schneider Electric/Kommission, T‑351/03, EU:T:2007:212‚ Rn. 113, und vom 25. November 2014, Safa Nicu Sepahan/Rat, T‑384/11, EU:T:2014:986‚ Rn. 47).
110 Zur Begründung der vorliegenden Klage trägt die Klägerin vor, dass die drei vorstehend in Rn. 109 aufgeführten Voraussetzungen erfüllt seien.
111 Die Kommission beantragt, die vorliegende Klage als unbegründet abzuweisen, da die Klägerin nicht den ihr obliegenden Nachweis erbringe, dass die Voraussetzungen für eine außervertragliche Haftung der Union im vorliegenden Fall erfüllt seien. Sie trägt vor, die Klägerin erbringe nicht den Nachweis für den Eintritt und den Umfang des von ihr geltend gemachten Schadens. Hilfsweise macht sie geltend, das ihr von der Klägerin vorgeworfene Verhalten sei nicht rechtswidrig.
112 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Union im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV, wie sie bereits oben in Rn. 109 aufgeführt worden sind, kumulativ (Urteil vom 7. Dezember 2010, Fahas/Rat, T‑49/07, EU:T:2010:499‚ Rn. 92 und 93, und Beschluss vom 17. Februar 2012, Dagher/Rat, T‑218/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:82‚ Rn. 34). Daraus folgt, dass die Klage insgesamt abzuweisen ist, wenn eine dieser Voraussetzungen nicht vorliegt (Urteil vom 26. Oktober 2011, Dufour/EZB, T‑436/09, EU:T:2011:634, Rn. 193).
113 Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die Klägerin den ihr obliegenden Nachweis erbracht hat, dass das Verhalten, das sie der Kommission vorwirft, rechtswidrig war, dass der materielle und immaterielle Schaden, den sie erlitten haben will, tatsächlich vorliegt und dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem der Kommission vorgeworfenen rechtswidrigen Verhalten und dem geltend gemachten Schaden besteht.
Zur Rechtswidrigkeit des der Kommission vorgeworfenen Verhaltens
114 Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, die Kommission und die Delegation hätten einen Fehler begangen, indem sie zunächst die FWS-Warnmeldung gegen die Klägerin eingegeben hätten und sich sodann wegen dieser Warnmeldung geweigert hätten, den Vertrag über den fraglichen Auftrag, nachdem dieser an das von der Klägerin geleitete Konsortium vergeben worden war, zu bestätigen. Dieser Fehler sei die Folge mehrerer Rechtsverstöße, die der Kommission und der Delegation zuzurechnen seien.
115 Zum einen sei die sie betreffende FWS-Warnmeldung rechtswidrig gewesen.
116 Erstens habe es für die Warnmeldung keine Rechtsgrundlage gegeben, da auch für den Beschluss, aufgrund dessen die Warnmeldung erfolgt sei, d. h. der FWS-Beschluss, keine Rechtsgrundlage vorhanden gewesen sei und dieser somit unter Verstoß gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 AEUV sowie gegen den in Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung erlassen worden sei, wie das Gericht bereits im Urteil vom 22. April 2015, Planet/Kommission (T‑320/09, EU:T:2015:223, Rn. 57, 58 und 66 bis 68), festgestellt habe.
117 Der FWS-Beschluss sei ferner unter Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit erlassen worden, da die Voraussetzung für eine W3b‑Warnmeldung, die darin bestehe, dass gegen die betreffende Person ein „Gerichtsverfahren“ eingeleitet worden sei, nicht so klar und deutlich gewesen sei, dass der Bürger seine Rechte und Pflichten eindeutig erkennen könne, wie dies der Bürgerbeauftragte in seinem Entwurf einer Empfehlung vom 16. Dezember 2011 mit dem Aktenzeichen OI/3/2008/FOR festgestellt habe.
118 Zweitens habe die Eingabe einer W3b‑Warnmeldung im FWS gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte, den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, das Grundrecht auf rechtliches Gehör und die Begründungspflicht verstoßen, da sie erfolgt sei, ohne die Klägerin hiervon zu benachrichtigen, geschweige denn, sie zuvor anzuhören, und ohne eine hinreichende Begründung zu erteilen.
119 Drittens und hilfsweise trägt die Klägerin vor, die sie betreffende FWS-Warnmeldung habe gegen den FWS-Beschluss und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz insofern verstoßen, als die Voraussetzung für eine W3b‑Warnmeldung, die darin bestehe, dass ein „Gerichtsverfahren“ eingeleitet worden sei, weder in ihrem Fall noch in dem des Herrn L. oder der ECO3 vorgelegen habe, da die Ermittlungsphase und die vorgerichtliche Phase unter der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes von dem genannten Begriff nicht erfasst würden.
120 Zum anderen seien die Weigerung, den Vertrag über den Auftrag zu bestätigen, und damit die Entscheidung, das Verfahren ohne Vergabe des fraglichen Auftrags gemäß Art. 17 Abs. 2 des FWS-Beschlusses zu schließen, rechtswidrig gewesen. Die Kommission habe gegen die in Art. 41 der Charta der Grundrechte verankerte Begründungspflicht, die Sorgfaltspflicht und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen, indem sie Art. 17 Abs. 2 des FWS-Beschlusses nicht angewandt habe und nicht die Gründe angeführt habe, weshalb sie die genannte Bestimmung, die die Möglichkeit gebe, an die von der W3b‑Warnmeldung betroffene Person, sofern diese auf der Liste des Bewertungsausschusses oben stehe, den Auftrag unter Anwendung verschärfter Überwachungsmaßnahmen zu vergeben, nicht angewandt habe. Zudem habe die Kommission gegen Nr. 15 der Hinweise für die Bieter des fraglichen Auftrags verstoßen, der die Fälle, in denen das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags habe aufgehoben werden können, abschließend geregelt habe, ohne den Fall einer W3b‑Warnmeldung im FWS vorzusehen.
121 Die Kommission bestreitet, einen Rechtsverstoß begangen zu haben, der ihre außervertragliche Haftung begründen könnte.
122 Nach gefestigter Rechtsprechung genügt die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts, so bedauerlich dieses rechtswidrige Verhalten auch sein mag, nicht für die Annahme, dass diejenige Voraussetzung für eine außervertragliche Haftung der Union erfüllt ist, die die Rechtswidrigkeit des den Organen zur Last gelegten Verhaltens betrifft (Urteil vom 25. November 2014, Safa Nicu Sepahan/Rat, T‑384/11, EU:T:2014:986, Rn. 50, vgl. auch in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2003, Dole Fresh Fruit International/Rat und Kommission, T‑56/00, EU:T:2003:58, Rn. 72 bis 75, und vom 23. November 2011, Sison/Rat, T‑341/07, EU:T:2011:687, Rn. 31).
123 Die Voraussetzung des rechtswidrigen Verhaltens der Unionsorgane erfordert einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm, durch die dem Einzelnen Rechte verliehen werden sollen (vgl. Urteil vom 30. Mai 2017, Safa Nicu Sepahan/Rat, C‑45/15 P, EU:C:2017:402, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
124 Mit dem Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine Rechtsnorm, durch die den Einzelnen Rechte verliehen werden sollen, soll unabhängig von der Natur der beanstandeten rechtswidrigen Handlung verhindert werden, dass durch das Risiko, die von den betroffenen Personen behaupteten Schäden tragen zu müssen, die Fähigkeit des fraglichen Organs eingeschränkt wird, seine Befugnisse im Rahmen seiner normativen oder seiner wirtschaftliche Entscheidungen einschließenden Tätigkeit wie auch in der Sphäre seiner Verwaltungszuständigkeit in vollem Umfang im Allgemeininteresse auszuüben, ohne dass dabei allerdings die Folgen offenkundiger und unentschuldbarer Pflichtverletzungen Dritten aufgebürdet werden (vgl. Urteil vom 23. November 2011, Sison/Rat, T‑341/07, EU:T:2011:687, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, Urteil vom 25. November 2014, Safa Nicu Sepahan/Rat, T‑384/11, EU:T:2014:986, Rn. 51).
125 Im vorliegenden Fall beruft sich die Klägerin zu Recht darauf, dass die sie betreffende W3b‑Warnmeldung im FWS rechtswidrig gewesen sei.
126 Erstens gab es für diese Warnmeldung keine Rechtsgrundlage.
127 Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 AEUV verlangt nämlich, dass jedes Organ nach Maßgabe der ihm durch den Vertrag zugewiesenen Zuständigkeiten tätig wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2015, Planet/Kommission, T‑320/09, EU:T:2015:223, Rn. 57 und 58). Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt außerdem, dass jede Maßnahme, die rechtliche Wirkungen erzeugen soll, ihre Bindungswirkung einer Bestimmung des Unionrechts entnimmt, die ausdrücklich als Rechtsgrundlage bezeichnet sein muss und die Rechtsform vorschreibt, in der die Maßnahme zu erlassen ist (Urteil vom 16. Juni 1993, Frankreich/Kommission, C‑325/91, EU:C:1993:245, Rn. 26).
128 Im vorliegenden Fall wurde die W3b‑Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin aufgrund der Bestimmungen des FWS-Beschlusses eingegeben, die diese Art von Warnmeldung und ihre Folgen regeln. Es gab jedoch keine Rechtsgrundlage, aufgrund der die Kommission berechtigt gewesen wäre, derartige Bestimmungen zu erlassen, die negative Auswirkungen auf die Rechtsstellung der Personen haben können, für die diese Art von Warnmeldung gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2015, Planet/Kommission, T‑320/09, EU:T:2015:223, Rn. 64, 68, 70 und 71).
129 Da ferner die W3b‑Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin unbestreitbar Auswirkungen auf deren Rechtsstellung hatte, kann die Kommission nicht behaupten, die Bestimmungen des FWS-Beschlusses, die diese Art von Warnmeldung und ihre Folgen regeln, seien lediglich Vorschriften zur Durchführung des Gesamthaushaltsplans der Union.
130 Die Kommission kann sich überdies nicht darauf berufen, dass das Fehlen einer Rechtsgrundlage für den FWS-Beschluss noch nicht förmlich festgestellt gewesen sei, als sie die Klägerin in das FWS eingegeben habe. Dass eine solche Feststellung nicht getroffen wurde, ist nämlich keineswegs ein Hindernis dafür, dass sich die Klägerin im Rahmen der vorliegenden Klage auf die Rechtswidrigkeit des genannten Beschlusses beruft, um Ersatz des Schadens zu erlangen, den sie ihrer Auffassung nach infolge der Eingabe in das FWS erlitten hat.
131 Zweitens wurde die W3b‑Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin unter Verstoß gegen die Verteidigungsrechte der Klägerin eingegeben.
132 Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen (Urteil vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 36).
133 Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltung, wenn sie Entscheidungen trifft, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Vorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 37 und 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gemäß Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte steht auch jeder Person das Recht zu, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.
134 Als eine andere Ausprägung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte dient die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts nach ständiger Rechtsprechung dem Zweck, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsrichter zulässt, und außerdem dem Unionsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Rechtsakts zu ermöglichen (Urteile vom 2. Oktober 2003, Corus UK/Kommission, C‑199/99 P, EU:C:2003:531, Rn. 145, vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, EU:C:2005:408, Rn. 462, und vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, EU:C:2011:620, Rn. 148). Daraus ergibt sich, dass die Begründung dem Betroffenen grundsätzlich gleichzeitig mit der ihn beschwerenden Entscheidung mitzuteilen ist und dass das Fehlen der Begründung nicht dadurch geheilt werden kann, dass der Betroffene die Gründe für die Entscheidung während des Verfahrens vor dem Unionsrichter erfährt (Urteil vom 26. November 1981, Michel/Parlament, 195/80, EU:C:1981:284, Rn. 22).
135 Nach ständiger Rechtsprechung muss die nach Art. 296 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen worden ist, angepasst sein. So ist ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihm gestattet, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen. Ferner müssen die Anforderungen an die Genauigkeit, die an die Begründung eines Rechtsakts zu stellen sind, den tatsächlichen Möglichkeiten sowie den technischen und zeitlichen Bedingungen angepasst werden, unter denen der Rechtsakt ergeht (vgl. Urteil vom 14. April 2016, Ben Ali/Rat, T‑200/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:216, Rn. 94 und 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).
136 Im vorliegenden Fall teilte die Kommission der Klägerin erst mit Schreiben vom 11. Juli 2012 förmlich mit, dass seit Juli 2010 für sie eine W3b‑Warnmeldung im FWS vorliege. Sie versäumte es daher, die Klägerin anzuhören, bevor sie diese in das FWS eingab bzw. bevor sie sich wegen dieser Eingabe weigerte, den Vertrag über den Auftrag, der an das von der Klägerin geleitete Konsortium vergeben worden war, zu bestätigen.
137 Was die Begründung für diese Warnmeldung betrifft, so wies die Kommission im Schreiben vom 11. Juli 2012 lediglich auf die in Art. 12 Abs. 2 des FWS-Beschlusses angeführten allgemeinen und abstrakten Umstände hin, unter denen das OLAF die Aktivierung einer W3b‑Warnmeldung im FWS beantragte, nämlich wenn die Untersuchung des OLAF in ein Gerichtsverfahren mündete oder das OLAF Follow-up-Maßnahmen traf bzw. dazu Amtshilfe leistete. Damit versäumte es die Kommission, der Klägerin die Gründe für die sie betreffende W3b‑Warnmeldung im FWS zu dem Zeitpunkt mitzuteilen, zu dem diese eingegeben wurde, und erläuterte auch nicht in dem Schreiben vom 11. Juli 2012 oder etwa in dem Schriftverkehr zwischen der Delegation und dem nationalen Auftraggeber, der der Klägerin mit Schreiben vom 26. Juni 2015 übermittelt wurde, die spezifischen und konkreten Gründe, weshalb sie der Auffassung war, dass Art. 12 Abs. 2 des FWS-Beschlusses auf sie anwendbar sei. Eine solche Begründung wäre aber im Kontext des vorliegenden Falles umso erforderlicher gewesen, als, wie aus den Akten hervorgeht, kein Gerichtsverfahren die Klägerin persönlich betraf und sich die Verfahren, die sich in Frankreich und Belgien auf Personen bezogen, mit denen sie in Verbindung stand, nämlich auf Herrn L. und ECO3, erst in der vorgerichtlichen Phase, nicht aber in der gerichtlichen Phase befanden, also der einzigen Verfahrensphase, die unter der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes in Frankreich und Belgien durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen werden kann. Wie aber aus den Schriftsätzen der Parteien und dem Entwurf einer Empfehlung des Bürgerbeauftragten vom 16. Dezember 2012 mit dem Aktenzeichen OI/3/2008/FOR (vgl. oben, Rn. 46) hervorgeht, war die genaue Tragweite des Art. 12 des FWS-Beschlusses ungewiss. Insbesondere ist im Hinblick auf Art. 12 Abs. 3 der genannten Entscheidung nicht ersichtlich, dass die W3b‑Warnmeldungen unter der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes ab Beginn der vorgerichtlichen Phase Anwendung finden konnten.
138 Gemäß der oben in Rn. 134 angeführten Rechtsprechung kann dieses Fehlen einer Begründung nicht durch die Erläuterungen geheilt werden, die die Kommission in ihren Schriftsätzen in der vorliegenden Rechtssache gegeben hat. Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass die genauen Gründe, die die W3b‑Warnmeldungen im FWS bezüglich der Klägerin rechtfertigen, auch jetzt noch unklar sind, da die Kommission zu keiner Zeit Dokumente vorgelegt hat, aus denen sich ergeben würde, dass das OLAF bei der Kommission die Aktivierung einer Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin oder der Personen beantragt hätte, mit denen jene in Verbindung stand, nämlich Herr L. und ECO3.
139 Soweit die Kommission erstmals in der Klagebeantwortung vorträgt, sie könne im vorliegenden Fall vom Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte in Bezug auf die Klägerin abweichen, um die vertrauliche Behandlung der vom OLAF und den französischen und belgischen Behörden gegen Herrn L. und ECO3 eingeleiteten Untersuchungsverfahren und Gerichtsverfahren zu sichern, so genügt die Feststellung, dass, soweit die W3b‑Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin geeignet war, sich nachteilig auf deren Rechtsstellung auszuwirken, ihre Verteidigungsrechte zu beachten waren, unbeschadet bestimmter Vorkehrungen, die erforderlich hätten sein können, um die genannten Rechte mit den Rechten Dritter zu vereinbaren. Die Kommission hat jedoch weder vorgetragen, geschweige denn bewiesen, dass sie sich im vorliegenden Fall um die Herstellung einer solchen Vereinbarkeit bemüht hätte. Insbesondere hat die Kommission keine Erklärung dafür geliefert, dass diese vertrauliche Behandlung noch im November 2011 geschützt werden musste, als sie sich weigerte, den Vertrag über den fraglichen Auftrag zu bestätigen, weil gegen die Klägerin eine W3b‑Warnmeldung im FWS eingegeben war.
140 Drittens verstieß die W3b‑Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin gegen den in Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung, der gewährleisen soll, dass niemand so bezeichnet oder behandelt wird, als sei er einer Straftat schuldig, bevor der Beweis seiner Schuld durch ein Gericht erbracht worden ist. Dieser Grundsatz bedeutet auch, dass die Kommission, wenn sie es für erforderlich hält, in einem Frühstadium präventive Maßnahmen zu ergreifen, eine Rechtsgrundlage braucht, die es ihr erlaubt, ein solches Warnsystem zu schaffen und die damit zusammenhängenden Maßnahmen zu ergreifen, d. h. ein System, das die Verteidigungsrechte, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der Rechtssicherheit achten muss, wonach die rechtlichen Regelungen klar, bestimmt und hinsichtlich ihrer Folgen vorhersehbar sein müssen, insbesondere wenn sie gegenüber dem Einzelnen nachteilige Folgen haben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2015, Planet/Kommission, T‑320/09, EU:T:2015:223, Rn. 66 und 67). Wie sich oben aus Rn. 128 ergibt, war eine solche Rechtsgrundlage im vorliegenden Fall jedoch nicht vorhanden.
141 Für die Eingabe der W3b‑Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin stützte sich die Kommission gemäß dem Wortlaut des Art. 9 Nr. 3 und Art. 12 Abs. 2 des FWS-Beschlusses – und wie sich aus dem Begleitvermerk zum Schreiben der Delegation vom 9. November 2011 ergibt – auf den Umstand, dass gegen die Klägerin ein Gerichtsverfahren wegen Betrugs und schwerwiegender Verwaltungsfehler eingeleitet worden war. Wie jedoch bereits oben in den Rn. 128 und 137 festgestellt, gab es keine Rechtsgrundlage, aufgrund der die Kommission berechtigt gewesen wäre, Vorschriften zu erlassen, die die Warnmeldungen der Kategorie W3b und ihre Folgen regeln. Überdies war die Klägerin zum Zeitpunkt der sie betreffenden W3b‑Warnmeldung im FWS von keinen Ermittlungen und keinem gerichtlichen Verfahren unmittelbar betroffen, und die gerichtlichen Verfahren, die sich gegen die Personen richteten, die mit ihr in Verbindung standen, befanden sich noch in der vorgerichtlichen Phase. Soweit diese Warnmeldung nachteilige Folgen für die Klägerin hatte, ist festzustellen, dass diese behandelt wurde, als sei sie des Betrugs oder schwerwiegender Verwaltungsfehler schuldig, ohne dass ihre unmittelbare oder mittelbare Schuld für dieses Verhalten gerichtlich nachgewiesen wurde.
142 Was die Frage angeht, ob die Rechtsvorschriften, gegen die die Kommission in dieser Weise verstoßen hat, dem Einzelnen Rechte verleihen, ist darauf hinzuweisen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Voraussetzung nur dann gewährleistet werden kann, wenn der durch die geltend gemachte Bestimmung verliehene Schutz tatsächlich gegenüber der Person, die sich auf ihn beruft, besteht und diese Person somit zu denen gehört, denen die in Rede stehende Bestimmung Rechte verleiht. Eine Bestimmung, die nicht den Einzelnen gegen die von ihm gerügte Rechtswidrigkeit schützt, sondern einen anderen Einzelnen, kann nämlich keinen Schadensersatzanspruch eröffnen (Urteil vom 12. September 2007, Nikolaou/Kommission, T‑259/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:254, Rn. 44).
143 Es ist bereits entschieden worden, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einen Rechtssatz darstellt, der dem Einzelnen Rechte verleiht (Urteil vom 11. Juli 2007, Sison/Rat, T‑47/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:207, Rn. 239), ebenso wie auch der Grundsatz der Unschuldsvermutung (Urteil vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, EU:T:2008:257, Rn. 218). Die Klägerin, deren Rechtsstellung durch die sie betreffende W3b‑Warnmeldung im FWS beeinträchtigt wurde, muss im Hinblick auf diese Warnmeldung selbst den Schutz erhalten, den die Grundsätze der Wahrung der Verteidigungsrechte und der Unschuldsvermutung gewähren.
144 In Bezug auf das Fehlen einer Rechtsgrundlage für die Warnmeldung ist bereits entschieden worden, dass zwar ein Verstoß gegen das System der Verteilung der Zuständigkeiten auf die verschiedenen Organe der Union, das die Beachtung des vom Vertrag vorgesehenen institutionellen Gleichgewichts sicherstellen, nicht aber den Einzelnen schützen soll, allein nicht ausreicht, um die Haftung der Union den Einzelnen gegenüber auszulösen, es sich jedoch anders verhielte, wenn eine Maßnahme der Union nicht nur unter Missachtung der für die Organe geltenden Zuständigkeitsverteilung, sondern – nach ihrem sachlichen Gehalt – auch unter Missachtung einer den Schutz Einzelner bezweckenden Rechtsnorm ergangen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2012, Artegodan/Kommission, C‑221/10 P, EU:C:2012:216, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall aber ist oben in den Rn. 131 und 140 festgestellt worden, dass die W3b‑Warnmeldung im FWS bezüglich der Klägerin gegen die Grundsätze der Wahrung der Verteidigungsrechte und der Unschuldsvermutung verstieß, die der Klägerin Rechte verliehen.
145 Zu der Frage, ob der festgestellte Verstoß gegen die Rechtsvorschriften der Union als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann, hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese Voraussetzung als erfüllt angesehen werden kann, wenn das betreffende Organ die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat, wobei zu den insoweit zu berücksichtigenden Gesichtspunkten insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift sowie der Umfang des Ermessensspielraums gehören, den die verletzte Vorschrift der Unionsbehörde belässt (vgl. Urteil vom 30. Mai 2017, Safa Nicu Sepahan/Rat, C‑45/15 P, EU:C:2017:402, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
146 Verfügt das Unionsorgan nur über ein erheblich verringertes oder gar auf null reduziertes Ermessen, kann nach der Rechtsprechung die bloße Verletzung des Unionsrechts für die Annahme eines hinreichend qualifizierten Verstoßes ausreichen (vgl. Urteile vom 14. Dezember 2005, FIAMM und FIAMM Technologies/Rat und Kommission, T‑69/00, EU:T:2005:449, Rn. 88 und 89 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. Juli 2007, Sison/Rat, T‑47/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:207, Rn. 235 und die dort angeführte Rechtsprechung).
147 Schließlich ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass ein Verstoß gegen das Unionsrecht jedenfalls offenkundig qualifiziert ist, wenn er trotz des Erlasses eines Urteils, in dem der zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, oder eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren oder aber einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Unionsrichters, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, fortbestanden hat (vgl. Urteil vom 30. Mai 2017, Safa Nicu Sepahan/Rat, C‑45/15 P, EU:C:2017:402, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
148 Da im vorliegenden Fall die Delegation selbst die Bestätigung des Vertrags über den Auftrag, der an das von der Klägerin geleitete Konsortium vergeben worden war, allein deswegen verweigerte, weil die Kommission eine die Klägerin betreffende W3b‑Warnmeldung in das FWS eingegeben hatte, kann die Kommission nicht geltend machen, diese Warnmeldung habe außerhalb des internen Bereichs des Organs keine Wirkungen haben sollen und sich auch nicht nachteilig auf die Rechtsstellung der Klägerin auswirken sollen.
149 Im Juli 2010 konnte die Kommission aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung und der Charta der Grundrechte, die am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten war, wissen, dass, wenn sich die gegen die Klägerin eingegebene W3b‑Warnmeldung im FWS auf deren Rechtsstellung in dieser Weise nachteilig auswirken konnte, das Recht der Klägerin, dass die Warnmeldung eine verlässliche Rechtsgrundlage hat, sowie ihre Verteidigungsrechte und der Grundsatz der Unschuldsvermutung geachtet werden mussten.
150 Die Anwendung dieser Rechte im vorliegenden Fall bereitete keine besonderen Schwierigkeiten, und der Kommission stand in diesem Rahmen kein Ermessensspielraum zu. Insbesondere konnte der Umstand, dass die Kommission die finanziellen Interessen und das Ansehen der Union schützen musste, keine Rechtfertigung für den Verstoß gegen die Rechte der Klägerin sein.
151 Bevor die Maßnahmen oder Handlungen der Kommission vom Bürgerbeauftragten unmittelbar beanstandet wurden, gab es ferner trotz der zahlreichen Schreiben und Initiativen der Klägerin, die dem Ziel dienten, ihre Rechte durchzusetzen, keine Reaktionen der Kommission, um den FWS-Beschluss zu ändern oder die Warnmeldung bezüglich der Klägerin oder der mit ihr verbundenen Personen im FWS zurückzunehmen.
152 Schließlich war das Verhalten der Kommission weder transparent noch kohärent. Erstens legte die Kommission weder der Klägerin noch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens jemals Dokumente vor, die bestätigt hätten, dass das OLAF bei der Kommission die Eingabe einer die Klägerin oder Herrn L. und ECO3 betreffenden Warnmeldung im FWS beantragte (vgl. oben, Rn. 138). Zweitens teilte die Delegation dem nationalen Auftraggeber mit Schreiben vom 9. November 2011 mit, dass sie beschlossen habe, das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags ohne dessen Vergabe gemäß Art. 17 Abs. 2 des FWS-Beschlusses, der auf die Anweisungsbefugten und die verantwortlichen Anweisungsbefugten anwendbar sei, zu schließen, und betonte in ihrer Antwort auf die am 15. Juni 2017 und 23. März 2018 zugestellten prozessleitenden Maßnahmen, dass die Handlung, durch die der Schaden der Klägerin entstanden sei, auf den nationalen Auftraggeber zurückzuführen sei, der für die Entscheidung über die Schließung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags gemäß Nr. 2.4.13 des PRAG und Nr. 15 der Hinweise für die Bieter des fraglichen Auftrags allein zuständig sei. Drittens löschte die Kommission infolge der Maßnahmen des Bürgerbeauftragten im Februar 2015 die die Klägerin und Herrn L. betreffende Warnmeldung im FWS (vgl. oben, Rn. 64), trug jedoch in ihren Schriftsätzen vor dem Gericht weiterhin vor, dass die gerichtlichen Verfahren, die die genannten Eingaben rechtfertigten, in Belgien, wo die Strafverfolgung gegen Herrn L. beantragt worden sei, fortgesetzt würden. Obwohl viertens für die Klägerin weiterhin eine W3b‑Warnmeldung im FWS vorlag und die Kommission aus diesem Grund eine Bestätigung des Vertrags über den fraglichen Auftrag verweigert hatte, unterzeichnete die Kommission mit der Klägerin am 15. Dezember 2010 einen Vertrag mit einem Wert von 1338225 Euro über einen Auftrag in Albanien, der im Rahmen des IPA mit Mitteln der Union finanziert wurde. Auch ist ihr in der Antwort auf die am 23. März 2018 zugestellten prozessleitenden Maßnahmen und in der mündlichen Verhandlung nicht der Nachweis gelungen, dass sie sichergestellt hatte, dass in diesem Rahmen verschärfte Überwachungsmaßnahmen im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a des FWS-Beschlusses getroffen wurden.
153 Nach alledem ist, ohne dass die von der Klägerin geltend gemachten weiteren Rechtsverstöße geprüft zu werden brauchen, festzustellen, dass die Kommission selbst oder unter Einschaltung der Delegation durch die Eingabe einer W3b‑Warnmeldung im FWS und durch die Weigerung, wegen dieser Warnmeldung den Vertrag über den fraglichen Auftrag zu bestätigen, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift begangen hat, der geeignet ist, die Haftung der Union auszulösen.
Zum Vorliegen eines Schadens und eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Schaden und dem von der Kommission begangenen Rechtsverstoß
154 Die Klägerin macht geltend, ihr sei infolge des von der Kommission begangenen Rechtsverstoßes ein zweifacher Schaden entstanden, der sich auf einen Gesamtbetrag von 496000 Euro belaufe, von dem ein Betrag von 166000 Euro auf den materiellen Schaden infolge des Verlusts des fraglichen Auftrags und ein Betrag von 330000 Euro auf den materiellen und immateriellen Schaden infolge des Verlusts einer Chance entfalle, weitere öffentliche Aufträge zu erhalten.
– Zum Schaden infolge des Verlusts des fraglichen Auftrags und zum Kausalzusammenhang zwischen diesem Schaden und dem von der Kommission begangenen Rechtsverstoß
155 Die Klägerin macht geltend, ihr sei ein Schaden in Höhe des Gewinns entstanden, den sie bei Ausführung des fraglichen Auftrags erzielt hätte. Sie bewertet den entgangenen Gewinn auf einen Betrag von 166000 Euro unter Bezugnahme auf die Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens. Der Betrag bestehe aus der maximalen Gewinnspanne, den sie bei einer vollständigen und vollkommenen Ausführung des Vertrags erzielt hätte, und entspreche in Höhe von ungefähr 78000 Euro der Verwaltungsvergütung, die sie als Leiter des Konsortiums erhalten hätte, d. h. 10 % der gesamten im finanziellen Angebot des Konsortiums für die Fachkräfte vorgesehenen Honorare, und in Höhe von ungefähr 88000 Euro dem Anteil von 45 % der Nettogewinnspanne, der ihr zugestanden hätte, wobei die Nettogewinnspanne die Differenz zwischen der erwarteten Bruttogewinnspanne einerseits, d. h. 315455 Euro, und den Betriebskosten und der Verwaltungskommission andererseits, d. h. 41500 Euro bzw. 78305 Euro, darstelle. Die Bruttogewinnspanne entspräche einem zwischen 22 % und 37 % der in dem finanziellen Angebot des Konsortiums vorgesehenen Fachkrafthonorare liegenden Prozentsatz. Überdies hätte der Abschluss des Vertrags über den fraglichen Auftrag zum Abschluss von Vertragsnachträgen führen können, eine Möglichkeit, die ihr genommen worden sei, was für sie ein entgangener Gewinn sei.
156 Im Stadium der Erwiderung macht die Klägerin geltend, der obere Schätzwert, der als Grundlage für die Bewertung ihres entgangenen Gewinns im Rahmen des fraglichen Auftrags diene, sei zuverlässig, da die ordnungsgemäße Ausführung der öffentlichen Aufträge stets verlange, dass alle oder fast alle in dem finanziellen Angebot des berücksichtigten Bieters aufgeführten Mittel verwendet würden, wie dies durch die Auszüge aus den endgültigen Prüfungsberichten für drei Projekte in Albanien, in Montenegro und im Tschad, mit denen sie betraut gewesen sei, unter Beweis gestellt werde. In Bezug auf die Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens räumt die Klägerin eine Unrichtigkeit bei der Berechnung der Höhe ihres entgangenen Gewinns ein, der sich in Wirklichkeit auf 130348 Euro belaufe. Die Vergütung für die Verwaltung, die in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens zugrunde gelegt worden sei, entspreche der Erstattung der Kosten für die Verwaltung des Projekts in der Eigenschaft als Leiter des Konsortiums und komme dem gleich, was ein Projektmanager durchschnittlich während eines Zeitraums von 18 Monaten gekostet hätte, der erforderlich gewesen wäre, um das Projekt erfolgreich durchzuführen. Die Abkürzung „TBC“, die im Englischen der Formulierung „to be confirmed“ (zu bestätigen) entspreche und in der genannten Tabelle bei der Vergütung für die Projektverwaltung und dem Anteil der Nettogewinnspanne stehe, ergebe sich daraus, dass die Unterzeichnung des Vertrags zwischen den Mitgliedern des Konsortiums in Übereinstimmung mit der Marktpraxis erst nach Abschluss des Vertrags mit dem nationalen Auftraggeber erfolgen dürfe.
157 Die Klägerin ist der Auffassung, der entgangene Gewinn, den sie in Bezug auf den fraglichen Auftrag geltend mache, folge unmittelbar aus dem Rechtsverstoß der Kommission, da der fragliche Auftrag, wie sich aus dem Schreiben des nationalen Auftraggebers vom 13. Dezember 2011 ergebe, an das von ihr geleitete Konsortium vergeben worden sei und da er, wie sich aus dem Schreiben des nationalen Auftraggebers vom 6. Dezember 2011 ergebe, allein deswegen aufgehoben worden sei, weil die Delegation die Bestätigung des Vertrags über den fraglichen Auftrag wegen der gegen sie eingegebenen W3b‑Eintragung im FWS verweigert habe.
158 Die Kommission trägt im Wesentlichen vor, die Klägerin habe nicht den ihr obliegenden Beweis für den geltend gemachten Schaden und den Kausalzusammenhang zwischen diesem Schaden und dem begangenen Rechtsverstoß beigebracht.
159 Insoweit ist hinsichtlich der Voraussetzung des Bestehens eines Kausalzusammenhangs zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden daran zu erinnern, dass sich dieser Schaden mit hinreichender Unmittelbarkeit aus dem gerügten Verhalten ergeben muss, und dieses Verhalten der ausschlaggebende Grund für den Schaden sein muss, da keine Verpflichtung der Union zum Schadensersatz für jede noch so entfernte nachteilige Folge von rechtswidrigen Verhaltensweisen ihrer Organe besteht (vgl. Urteil vom 10. Mai 2006, Galileo International Technology u. a./Kommission, T‑279/03, EU:T:2006:121, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung, vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 1979, Dumortier u. a./Rat, 64/76, 113/76, 167/78, 239/78, 27/79, 28/79 und 45/79, EU:C:1979:223, Rn. 21). Es obliegt dem Kläger, den Nachweis für das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden zu erbringen (vgl. Urteil vom 30. September 1998, Coldiretti u. a./Rat und Kommission, T‑149/96, EU:T:1998:228, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).
160 Zwar wurde im vorliegenden Fall der Vertrag über den fraglichen Auftrag vom nationalen Auftraggeber nie unterzeichnet, und der nationale Auftraggeber konnte auch bis zur Unterzeichnung das Verfahren zur Vergabe des genannten Auftrags gemäß Nr. 2.4.13 des PRAG und Nr. 15 der Hinweise für die Bieter dieses Auftrags aufheben. Dies ändert jedoch nichts daran, dass er in seinem Schreiben vom 3. November 2011 klar und deutlich seinen Willen zum Ausdruck brachte, den Vertrag über den fraglichen Auftrag mit dem von der Klägerin geleiteten Konsortium, an das der Auftrag vergeben worden war, zügig abzuschließen, wobei die einzige Bedingung für die Unterzeichnung des Vertrags die Bestätigung der Vertragsakte durch die Kommission blieb.
161 Wie bereits oben in Rn. 88 ausgeführt, ergibt sich aus den Prozessakten und der mündlichen Verhandlung, dass die Delegation mit Schreiben vom 9. November 2011 von ihrer Befugnis nach Art. 1 des Beschlusses K(2009) 7692 endg. in Verbindung mit Anhang II zu diesem Beschluss sowie nach Nr. 2.2 des PRAG Gebrauch machte, um wegen der gegen die Klägerin eingegebenen W3b‑Warnmeldung im FWS zu verhindern, dass der Vertrag über den fraglichen Auftrag mit dem von der Klägerin geleiteten Konsortium geschlossen werden konnte, so dass der nationale Auftraggeber, da das technisch einzig annehmbare Angebot von diesem Konsortium abgegeben worden war, keine andere Wahl hatte, als das Verfahren zur Vergabe des fraglichen Auftrags aufzuheben.
162 Demnach ist festzustellen, dass die W3b‑Warnmeldung bezüglich der Klägerin im FWS der ausschlaggebende Grund für die Weigerung der Delegation war, den Vertrag über den fraglichen Auftrag, der an das von der Klägerin geleitete Konsortium vergeben worden war, zu bestätigen, wobei die Weigerung selbst wiederum der ausschlaggebende Grund für die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe dieses Auftrags durch den nationalen Auftraggeber war. Unter den Umständen des vorliegenden Falles ergibt sich daher der Ausfall des Gewinns, den die Klägerin bei Durchführung des fraglichen Auftrags erzielt hätte, aus dem gerügten Verhalten mit hinreichender Unmittelbarkeit, um das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem genannten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden feststellen zu können.
163 Ferner ist bezüglich der Voraussetzung eines tatsächlich eingetretenen Schadens daran zu erinnern, dass die außervertragliche Haftung der Union nach der Rechtsprechung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Januar 1982, De Franceschi/Rat und Kommission, 51/81, EU:C:1982:20, Rn. 9, vom 13. November 1984, Birra Wührer u. a./Rat und Kommission, 256/80, 257/80, 265/80, 267/80, 5/81, 51/81 und 282/82, EU:C:1984:341, Rn. 9, und vom 16. Januar 1996, Candiotte/Rat, T‑108/94, EU:T:1996:5, Rn. 54) nur ausgelöst werden kann, wenn der Kläger tatsächlich einen realen und sicheren Schaden erlitten hat. Insoweit ist der Kläger für die Erfüllung dieser Voraussetzung beweispflichtig (vgl. Urteil vom 9. November 2006, Agraz u. a./Kommission, C‑243/05 P, EU:C:2006:708, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung) und hat insbesondere sowohl für das Vorliegen als auch für den Umfang des Schadens schlüssige Beweise zu erbringen (vgl. Urteil vom 16. September 1997, Blackspur DIY u. a./Rat und Kommission, C‑362/95 P, EU:C:1997:401, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
164 Genauer gesagt, muss jeder Antrag auf Ersatz eines Schadens unabhängig davon, ob es sich um einen materiellen oder immateriellen Schaden handelt oder ob er auf eine symbolische Entschädigung oder auf einen tatsächlichen Schadensersatz gerichtet ist, die Art des behaupteten Schadens unter Berücksichtigung des vorgeworfenen Verhaltens erläutern und zumindest annähernd die Höhe dieses Schadens beziffern (vgl. Urteil vom 26. Februar 2015, Sabbagh/Rat, T‑652/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:112, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
165 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin den Schaden, der im Wesentlichen im Verlust einer Chance auf Abschluss von Nachträgen zu dem Vertrag über den fraglichen Auftrag besteht, nicht einmal annähernd beziffert hat. Ihr Antrag auf Schadensersatz kann daher bezüglich dieser Schadensposition gemäß der oben in Rn. 163 angeführten Rechtsprechung vom Gericht nicht berücksichtigt werden.
166 Was die Gewinne betrifft, die die Klägerin im Rahmen des fraglichen Auftrags hätte erzielen können, ist darauf hinzuweisen, dass das von der Klägerin geleitete Konsortium in Anbetracht seines finanziellen Angebots kein uneingeschränktes Recht auf Auszahlung der im Vertrag veranschlagten Beträge in Höhe von 893050 Euro hatte. Das Recht auf Auszahlung dieser Beträge war davon abhängig, dass das Konsortium den fraglichen Auftrag vollständig und vollkommenen ausführte und dass hierfür sämtliche im Angebot des Konsortiums ausgewiesenen Mittel verwendet wurden. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen unterlag jedoch einem gewissen Risiko, so dass sich die Klägerin im Rahmen der vorliegenden Klage nur auf den Verlust einer Chance auf Realisierung von Gewinnen berufen kann, die sie hätte erzielen können, wenn das Konsortium den fraglichen Auftrag mit allen in seinem Angebot ausgewiesenen Mitteln vollständig und vollkommen ausgeführt hätte.
167 Auch wenn die Klägerin, die Leiterin des Konsortiums, darauf hinweist, dass sie im Bereich des Personals über keine vorherige Erfahrung verfügt habe, konnte sie dem nationalen Auftraggeber doch nachweisen, dass das von ihr geleitete Konsortium die zur Durchführung des fraglichen Auftrags erforderliche finanzielle, wirtschaftliche, technische und berufliche Leistungsfähigkeit besaß, insbesondere weil die von ihr ausgewählten wichtigsten Fachkräfte in dem vom genannten Auftrag abgedeckten Bereich hinreichende Sachkenntnis und Erfahrung hatten. Es ist daher davon auszugehen, dass das Konsortium gute Chancen hatte, den fraglichen Auftrag mit Unterstützung der genannten Fachkräfte erfolgreich durchzuführen.
168 Was die Vergütung für die Projektverwaltung betrifft, die die Klägerin als Leiterin des Konsortiums erhalten hätte, so entspricht diese, wie die Kommission vorträgt und wie auch die Klägerin einräumt, der Erstattung der Kosten, die der Klägerin als Projektleiterin entstanden wären, und daher gebunden sind an „die Laufzeit des Projekts und [den damit] verbundenen Arbeitsaufwand, [nämlich die] Unterstützung der Fachkräfte, [die] Besuche vor Ort, [die] Überprüfung der Berichte, [die] Überprüfungen der Arbeitszeitnachweise, [die] Rechnungserstellung, [das] Teammanagement, [die] Problemlösungen, [die] Neuausrichtung der Fachkräfte usw.“ Hieraus folgt, dass diese Vergütung nicht dem entgangenen Gewinn, sondern den Kosten – im Wesentlichen den Kosten für das Personal – entspricht, die die Klägerin als Projektleiterin zu tragen gehabt hätte, wenn das von der Klägerin geleitete Konsortium den fraglichen Auftrag ausgeführt hätte. Da diese Ausführung nicht stattgefunden hat, kann die Klägerin nicht die Erstattung der Kosten verlangen, von denen sie nicht nachweist, dass sie entstanden sind. Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf Erstattung eines Betrages von rund 78000 Euro zum Ausgleich der Vergütung für die Projektverwaltung, die sie als Projektleiterin erhalten hätte.
169 Was den Teil der Nettogewinnspanne betrifft, der der Klägerin zugestanden hätte, so ist bezüglich der Zuverlässigkeit der Höhe der Fachkrafthonorare darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission einräumt, der Tagessatz dieser Honorare und die Anzahl der Arbeitstage, die in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens angesetzt werden, mit den Angaben im finanziellen Angebot des Konsortiums übereinstimmen.
170 Was den Einwand der Kommission angeht, wonach die Klägerin nicht nachgewiesen habe, dass alle in dem Angebot des Konsortiums veranschlagten Arbeitstage bei der Ausführung des fraglichen Auftrags tatsächlich genutzt worden seien, ist festzustellen, dass ein solcher Nachweis nicht erbracht werden konnte, da das Konsortium nicht die Möglichkeit hatte, den fraglichen Auftrag tatsächlich auszuführen. Zu berücksichtigen ist indessen, dass, wie sich aus der Vergabebekanntmachung und aus Nr. 4.2 der Hinweise für die Bieter ergibt, das für die Durchführung des Auftrags vorgesehene Budget maximal 1000000 Euro betrug, das finanzielle Angebot des Konsortiums sich aber auf einen Gesamtbetrag von 893050 Euro belief, von dem ein Betrag von 783050 Euro auf die Vergütung der Fachkräfte entfiel. Hieraus ergibt sich, dass das Konsortium, um im Rahmen des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, sein finanzielles Angebot angepasst und eingeschränkt hatte, indem es sich bei jeder Kategorie von Fachkräften genau an die in Nr. 6 der Hinweise für die Bieter verlangte Mindestanzahl von Arbeitstagen hielt, d. h. mindestens 275 Arbeitstage für die Hauptfachkraft Nr. 1, mindestens 193 Arbeitstage für die Hauptfachkraft Nr. 2, mindestens 80 Arbeitstage für die Hauptfachkraft Nr. 3 und mindestens 539 Arbeitstage für die anderen Fachkräfte, darunter 184 für die Senior-Fachkräfte und 355 für die Junior-Fachkräfte. Unter diesen Umständen besteht kein Grund zur Annahme, dass das Konsortium, dessen finanzielles Angebot vom nationalen Auftraggeber ausgewählt worden war, bei der Ausführung des fraglichen Auftrags darauf verzichtet hätte, sämtliche veranschlagten Mittel – hauptsächlich in der Form von Honoraren für Fachkräfte – zu nutzen und damit den von den Hinweisen für die Bieter aufgestellten Mindestanforderungen für den Einsatz von Personal zuwidergehandelt hätte.
171 Bezüglich des Einwands der Kommission, wonach die Klägerin die tatsächliche Höhe der den Fachkräften geschuldeten Honorare nicht nachgewiesen habe, ist darauf hinzuweisen, dass das Konsortium nach den Nrn. 4.1 und 4.2 der Hinweise für die Bieter seinem technischen Angebot eine Ausschließlichkeits- und Verfügbarkeitsbindung der drei Hauptfachkräfte sowie seinem finanziellen Angebot die für die einzelne Fachkraftkategorie geltenden Honorarsätze beizufügen hatte. So enthielt das finanzielle Angebot des Konsortiums Tagessätze von 900 Euro für die drei Hauptfachkräfte und die Senior-Fachkräfte und von 350 Euro für die Junior-Fachkräfte. Diese Tagessätze beinhalteten die an die Fachkräfte gezahlten Honorare, die allgemeinen Kosten und die vom Konsortium berechnete Gewinnspanne, wie sie für jede Kategorie von Fachkräften in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens im Einzelnen aufgeführt ist. Diese Tagessätze sollten vom Konsortium im Rahmen der Ausführung des fraglichen Auftrags angewandt werden und wurden vom nationalen Auftraggeber gebilligt, als er das finanzielle Angebot des Konsortiums auswählte. Unter diesen Umständen kann die Kommission nicht geltend machen, die Tagessätze, die das Konsortium im Rahmen dieser Ausführung anzuwenden hatte, seien noch nachzuweisen.
172 Die Gewinnspannen, die das Konsortium bei den Honoraren der einzelnen Kategorie von Fachkräften berechnete, wie auch die Höhe der auf jede dieser Kategorien entfallenden Kosten sind von der Kommission im Rahmen der vorliegenden Klage nicht bestritten worden, und die Akten enthalten keine Anhaltspunkte dafür, dass diese in Zweifel zu ziehen sind. Wie die Kommission zu Recht geltend macht und die Klägerin auch einräumt, haben sich vielmehr Fehler bei der Addition dieser Kosten und Gewinnspannen in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens eingeschlichen. Die Bruttogewinnspanne, die das Konsortium bei Durchführung des fraglichen Auftrags erwartete, betrug daher nicht 315455 Euro, wie die die Klägerin zur Begründung ihres Schadensersatzantrags behauptet, sondern 235455 Euro.
173 Bezüglich der operativen Kosten und der Vergütung für das Projektmanagement, die in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens von der Bruttogewinnspanne, die das Konsortium bei der Ausführung des fraglichen Auftrags erwartete, in Höhe von 41500 Euro bzw. 78305 Euro abgezogen wurden, weist die Kommission in der Gegenerwiderung darauf hin, dass sie die Tabelle zur Kenntnis nehme, in der die Klägerin ein kurze Aufstellung ihrer operativen Kosten gebe. Vor diesem Hintergrund und angesichts fehlender Hinweise in den Akten, die Zweifel an der Richtigkeit dieser Kosten entstehen ließen, sind die Beträge nicht in Frage zu stellen, die in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens zwecks Berechnung der vom Konsortium bei der Ausführung des fraglichen Auftrags erwarteten Nettogewinnspanne, die sich nach Berichtigung oben in Rn. 172 auf 115650 Euro beläuft, abgezogen wurden.
174 In Bezug auf den Anteil von 45 % an dieser Nettogewinnspanne, der der Klägerin zugestanden hätte, rügt die Kommission, dass die Klägerin eine Vereinbarung, die insoweit mit den Mitgliedern des Konsortiums geschlossen sei, nicht vorgelegt habe, dass dieser Anteil in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens mit der Abkürzung „TBC“ versehen sei und dass er unverhältnismäßig sei, da er in Verbindung mit der Vergütung für das Projektmanagement darauf hinausgelaufen wäre, dass der Klägerin 67 % der bei Ausführung des fraglichen Auftrags erwarteten Nettogewinnspanne vorbehalten werde und den übrigen Mitgliedern des Konsortiums nur die verbleibenden 33 % dieser Gewinnspanne zur Verteilung geblieben wären. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die einzigen von der Klägerin vorgelegten zulässigen Beweismittel den Verteilungsschlüssel für die Nettogewinnspanne, auf den sich die Mitglieder des Konsortiums für den Fall einigten, dass der fragliche Auftrag an sie vergeben würde, nicht bestätigen. Die Klägerin bestreitet zudem nicht, dass die Abkürzung „TBC“, die in der Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens enthalten ist, darauf hinwies, dass der dort erwähnte Verteilungsschlüssel noch „zu bestätigen“ war, sobald der Vertrag über den Auftrag förmlich unterzeichnet sein würde. Da die Klägerin ebenso wie die anderen Mitglieder des Konsortiums notwendigerweise Anspruch auf einen Anteil an der bei Ausführung des fraglichen Auftrags erwarteten Nettogewinnspanne gehabt hätten, sie im vorliegenden Fall aber nicht beweisen konnte, dass ihr Anteil größer als der der übrigen Mitglieder des Konsortiums hätte sein müssen, vor allem, dass er sich auf 45 % dieser Gewinnspanne belaufen hätte, ist das Gericht der Auffassung, dass die Schadenersatzansprüche der Klägerin zutreffend bewertet werden, wenn der genannte Anteil auf 20 % festgesetzt wird, was einer Verteilung der erwarteten Nettogewinnspanne zu gleichen Teilen unter den fünf Mitgliedern des Konsortiums entspricht.
175 Infolgedessen wird der Anteil an der vom Konsortium bei Ausführung des fraglichen Auftrags erwarteten Nettogewinnspanne, der der Klägerin zugestanden hätte, auf einen Betrag von 23130 Euro geschätzt, entsprechend 20 % der genannten Gewinnmarge, die mit 115650 Euro bewertet wird (vgl. oben, Rn. 173). Zur Berücksichtigung des oben in Rn. 167 genannten Risikos, dass das Konsortium den fraglichen Auftrag auch vollkommen und vollständig durchführt, ist der genannte Betrag überdies auf 20000 Euro herabzusetzen.
176 Nach alledem ist dem Antrag der Klägerin auf Ersatz des materiellen Schadens wegen des Verlusts einer Chance auf Realisierung der Gewinne, die sie bei Durchführung des fraglichen Auftrags erwartete, in Höhe von 20000 Euro stattzugeben, und im Übrigen ist der Schadensersatzantrag bezüglich des Verlusts des fraglichen Auftrags abzuweisen.
– Zum Schaden infolge des Verlusts einer Chance, weitere öffentliche Aufträge zu erhalten, und zum Kausalzusammenhang zwischen diesem Schaden und dem von der Kommission begangenen Rechtsverstoß
177 Die Klägerin behauptet, sie habe infolge der entgangenen Chance, weitere öffentliche Aufträge zu erhalten, einen materiellen und immateriellen Schaden erlitten. Sie führt insoweit aus, die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags aufgrund der sie betreffenden W3b‑Warnmeldung im FWS, die durch die Bekanntmachung im November 2010 veröffentlicht worden sei, habe ihr Ansehen und damit ihren geschäftlichen Ruf vor allem im Hinblick auf die ehemaligen Mitglieder des Konsortiums geschädigt und ihr die Möglichkeit genommen, den fraglichen Auftrag als wichtige Referenz zu gebrauchen, auf die sie sich für eine Teilnahme an anderen Vergabeverfahren im gleichen Sektor oder in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien hätte berufen können. Sie ist daher der Meinung, ihr sei die Chance entgangen, an 15 Vergabeverfahren teilzunehmen. Da ihr aber seinerzeit bei einem von fünf Vergabeverfahren, an denen sie teilgenommen habe, der Auftrag erteilt worden sei, sei ihr die Chance entgangen, drei Verträge zu schließen, die dem Vertrag über den fraglichen Auftrag entsprächen. Die Höhe dieses Verlusts belaufe sich daher auf den dreifachen Wert des im Rahmen des fraglichen Auftrags entgangenen Gewinns, d. h. auf 480000 Euro, wobei sie jedoch ihren Schaden vorläufig mit einem geringeren Betrag ansetzt, d. h. mit 330000 Euro.
178 Die Klägerin ist der Auffassung, der Verlust der Chance, auf den sie sich berufe, sei aus den gleichen Gründen, wie sie oben in Rn. 157 ausgeführt worden sind, die unmittelbare Folge des von der Kommission begangenen Rechtsverstoßes.
179 Die Kommission macht im Wesentlichen geltend, die Klägerin habe für den von ihr geltend gemachten Schaden und den Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und dem begangenen Rechtsverstoß nicht den ihr obliegenden Beweis erbracht.
180 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Klägerin nicht einmal annähernd den immateriellen Schaden ermittelt hat, der in der entgangenen Chance besteht, weitere öffentliche Aufträge zu erhalten. Ihr Antrag auf Schadensersatz kann daher bezüglich dieser Schadensposition gemäß der oben in Rn. 163 angeführten Rechtsprechung vom Gericht nicht berücksichtigt werden.
181 Was den materiellen Schaden betrifft, der in der entgangenen Chance besteht, weitere öffentliche Aufträge zu erhalten, und den die Klägerin mit 330000 Euro bewertet, ist festzustellen, dass die Aufhebung des Verfahrens zur Vergabe des fraglichen Auftrags aufgrund der die Klägerin betreffenden W3b‑Warnmeldung im FWS zweifellos ihr Ansehen und damit ihren geschäftlichen Ruf sowohl bei den Behörden der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien als auch bei den ehemaligen Mitgliedern des Konsortiums schädigte, die hiervon wussten. Zudem brachte diese Aufhebung die Klägerin um die Möglichkeit, sich als Referenz auf den fraglichen Auftrag zu berufen, um im Rahmen anderer Vergabeverfahren, an denen sie teilgenommen hätte oder hätte teilnehmen wollen, ihre technische Leistungsfähigkeit in dem von diesem Auftrag erfassten Bereich unter Beweis zu stellen.
182 Aus den oben in Rn. 181 getroffenen Feststellungen folgt nicht unmittelbar in einem ursächlichen Zusammenhang, dass der Klägerin die Chance entgangen wäre, drei Verträge zu schließen, die dem Vertrag über den fraglichen Auftrag entsprochen hätten, und damit Gewinne realisiert hätte, die dem Dreifachen von dem entsprächen, was sie bei Durchführung des fraglichen Auftrags erwartet hatte, also einen Betrag in Höhe von 480000 Euro, den sie in ihrem Klageantrag mit nur 330000 Euro ansetzte.
183 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission ausführt und die Klägerin einräumt, die Tatsache, dass gegen die Klägerin zwischen Juni 2010 und Februar 2015 eine W3b‑Warnmeldung in das FWS eingegeben wurde, kein Hindernis dafür war, dass die Klägerin allein oder im Rahmen von Konsortien zwischen dem 15. Dezember 2010 und dem 3. August 2015 mit der Kommission fünf Verträge schloss, die – insbesondere im Rahmen des IPA – mit Mitteln der Union finanzierte Aufträge in anderen Bereichen als dem Personalbereich in den Nachbarstaaten der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien (Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien) und in Afrika mit einem Wert von insgesamt 3503955 Euro betrafen.
184 Soweit die Klägerin vorträgt, dass die Referenz im Zusammenhang mit dem fraglichen Auftrag von entscheidender Bedeutung gewesen sei, um Angebote für andere Aufträge abgeben zu können, ist festzustellen, dass ihre Behauptungen bezüglich ihrer mangelnden Erfahrungen im Personalbereich im Widerspruch zu den Angaben auf ihrer Internetseite stehen, die die Kommission zu den Akten gereicht hat und in denen die Klägerin „Personal und Arbeitsmarkt“ als Tätigkeitsfeld anführt. Selbst wenn man unterstellt, dass der Klägerin in diesem Bereich, wie sie ausführt, Referenzen fehlten, war sie deswegen nicht daran gehindert, durch Bildung eines Konsortiums mit anderen Unternehmen, die Erfahrungen auf diesem Gebiet hatten, öffentliche Aufträge wie den fraglichen Auftrag zu erhalten, wie dies bereits oben in Rn. 167 festgestellt worden ist.
185 Soweit die Klägerin behauptet, infolge der Aufhebung des fraglichen Auftrags sei es für sie unmöglich geworden, sich mit anderen Unternehmen, insbesondere mit den ehemaligen Mitgliedern des Konsortiums, zusammen zu schließen, hat sie, wie die Kommission zu Recht ausführt, keinen Nachweis erbracht, der bestätigen würde, dass sie, um an Vergabeverfahren im Personalbereich oder in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien teilnehmen zu können, zwecks Bildung eines Konsortiums Kontakt zu anderen Unternehmen aufnahm, diese sie jedoch abgewiesen haben. Überdies räumt die Klägerin selbst ein, dass sie als Leiter des Konsortiums Aufträge erhalten habe, die andere Bereiche als den Personalbereich oder andere Staaten als die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien betrafen. Die Darlegungen der Klägerin sind in diesem Punkt somit nicht hinreichend belegt.
186 Soweit die Klägerin behauptet, ihr sei die Chance entgangen, andere öffentliche Aufträge in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien zu erhalten, weil ihr Ansehen bei deren Behörden beschädigt worden sei, ist ebenfalls festzustellen, dass sie, wie die Kommission zu Recht ausführt, nicht dargelegt und erst recht nicht bewiesen hat, dass sie sich um die Vergabe öffentlicher Aufträge beworben hat, deren Auftraggeber die Behörden der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien gewesen wären. Unter diesen Umständen kann die Klägerin nicht behaupten, ihr sei eine reale Chance auf Erhalt dieser Aufträge aufgrund der Tatsache entgangen, dass ihr Ansehen bei den genannten Behörden beschädigt gewesen sei.
187 Schließlich ist festzustellen, dass die in der Klageschrift enthaltene Tabelle über die Bewertung des im Zusammenhang mit dem Verlust des fraglichen Auftrags stehenden Schadens rein hypothetische Angaben enthält. Die Klägerin gibt nämlich keine konkreten Vergabeverfahren an, an denen sie teilnahm oder hätte teilnehmen können, sondern schließt lediglich aus ihren früheren Erfahrungen, an wie vielen Vergabeverfahren sie ihrer Ansicht nach hätte teilnehmen können, ohne Anhaltspunkte vorzutragen, anhand deren die Richtigkeit und Relevanz der Angaben überprüft werden könnte.
188 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Klägerin weder nachgewiesen hat, dass der materielle Schaden, der in dem Verlust einer Chance liegt, andere öffentliche Aufträge zu erhalten, tatsächlich und sicher besteht noch dass sich dieser Schaden mit hinreichender Unmittelbarkeit aus dem oben in Rn. 153 festgestellten Rechtsverstoß in dem Sinne ergibt, dass der Rechtsverstoß der ausschlaggebende Grund für diesen Schaden war.
189 Der Schadensersatzantrag der Klägerin wegen des Verlusts einer Chance, andere öffentliche Aufträge zu erhalten, ist somit insgesamt zurückzuweisen.
190 Nach alledem ist die Kommission zu verurteilen, an die Klägerin den Betrag von 20000 Euro als Ersatz des ihr entstandenen Schadens zu zahlen. Im Übrigen ist die Klage abzuweisen.
Kosten
191 Wenn mehrere Parteien unterliegen, entscheidet nach Art. 134 Abs. 2 der Verfahrensordnung das Gericht über die Verteilung der Kosten. Da die Parteien teils obsiegt haben und teils unterlegen sind, haben sie jeweils ihre eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Europäische Kommission wird verurteilt, 20000 Euro an die East West Consulting SPRL zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Pelikánová
Valančius
Öberg
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. Dezember 2018.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Sachverhalt vor Erhebung der Klage
Sachverhalt nach Erhebung der Klage
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Zur Zuständigkeit des Gerichts für die Entscheidung über die Klage
Zur Zulässigkeit der in den Anlagen C.1 bis C.12 zur Erwiderung vorgelegten Beweismittel
Zur Begründetheit
Zur Rechtswidrigkeit des der Kommission vorgeworfenen Verhaltens
Zum Vorliegen eines Schadens und eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Schaden und dem von der Kommission begangenen Rechtsverstoß
– Zum Schaden infolge des Verlusts des fraglichen Auftrags und zum Kausalzusammenhang zwischen diesem Schaden und dem von der Kommission begangenen Rechtsverstoß
– Zum Schaden infolge des Verlusts einer Chance, weitere öffentliche Aufträge zu erhalten, und zum Kausalzusammenhang zwischen diesem Schaden und dem von der Kommission begangenen Rechtsverstoß
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 7. Juli 2017.#Sergej Arbuzov gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Beibehaltung des Namens des Klägers auf der Liste – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Eigentumsrecht.#Rechtssache T-221/15.
|
62015TJ0221
|
ECLI:EU:T:2017:478
| 2017-07-07T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62015TJ0221 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 8. September 2016.#Generics (UK) Ltd gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Markt für Antidepressiva mit dem pharmazeutischen Wirkstoff Citalopram – Begriff der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung – Potenzieller Wettbewerb – Generika – Schranken für den Marktzugang infolge bestehender Patente – Vereinbarungen zwischen dem Patentinhaber und einem Generikahersteller – Rechtsfehler – Beurteilungsfehler – Verteidigungsrechte – Geldbußen.#Rechtssache T-469/13.
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62013TJ0469
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ECLI:EU:T:2016:454
| 2016-09-08T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0469 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 12. Dezember 2014.#Eni SpA gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Markt für Paraffinwachse – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Preisfestsetzung – Nachweis der Zuwiderhandlung – Leitlinien von 2006 für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Gleichbehandlung – Erschwerende Umstände – Wiederholungsfall – Begründungspflicht – Mildernde Umstände – Sehr geringfügige Beteiligung – Fahrlässig begangene Zuwiderhandlung – Verteidigungsrechte – Unbeschränkte Nachprüfung.#Rechtssache T‑558/08.
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62008TJ0558
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ECLI:EU:T:2014:1080
| 2014-12-12T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62008TJ0558
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
12. Dezember 2014 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Markt für Paraffinwachse — Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird — Preisfestsetzung — Nachweis der Zuwiderhandlung — Leitlinien von 2006 für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen — Gleichbehandlung — Erschwerende Umstände — Wiederholungsfall — Begründungspflicht — Mildernde Umstände — Sehr geringfügige Beteiligung — Fahrlässig begangene Zuwiderhandlung — Verteidigungsrechte — Unbeschränkte Nachprüfung“
In der Rechtssache T‑558/08
Eni SpA mit Sitz in Rom (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte M. Siragusa, D. Durante, G. Rizza, S. Valentino und L. Bellia,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre und V. Di Bucci als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung K(2008) 5476 endg. der Kommission vom 1. Oktober 2008 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/39.181 – Kerzenwachse) sowie, hilfsweise, Aufhebung oder Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten O. Czúcz (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Labucka und des Richters D. Gratsias,
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2013
folgendes
Urteil
Sachverhalt
1. Verwaltungsverfahren und Erlass der angefochtenen Entscheidung
1 Mit der Entscheidung K(2008) 5476 endg. vom 1. Oktober 2008 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/39.181 – Kerzenwachse) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) stellte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften fest, dass die Klägerin, die Eni SpA, gemeinsam mit anderen Unternehmen eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 Abs. 1 EG und gegen Art. 53 Abs. 1 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) begangen hätte, indem sie sich an einem Kartell auf dem Markt für Paraffinwachse im EWR und auf dem deutschen Markt für Paraffingatsch beteiligt hätte.
2 Außer an die Klägerin war die angefochtene Entscheidung an folgende Unternehmen gerichtet: die Esso Deutschland GmbH, die Esso Société anonyme française, die ExxonMobil Petroleum and Chemical BVBA und die Exxon Mobil Corp. (im Folgenden zusammen: ExxonMobil), die H&R ChemPharm GmbH, die H&R Wax Company Vertrieb GmbH und die Hansen & Rosenthal KG (im Folgenden zusammen: H&R), die Tudapetrol Mineralölerzeugnisse Nils Hansen KG, die MOL Nyrt., die Repsol YPF Lubricantes y Especialidades SA, die Repsol Petróleo SA und die Repsol YPF SA (die drei Letzteren im Folgenden zusammen: Repsol), die Sasol Wax GmbH, die Sasol Wax International AG, die Sasol Holding in Germany GmbH und die Sasol Ltd (im Folgenden zusammen: Sasol), die Shell Deutschland Oil GmbH, die Shell Deutschland Schmierstoff GmbH, die Deutsche Shell GmbH, die Shell International Petroleum Company Ltd, The Shell Petroleum Company Ltd, die Shell Petroleum NV und The Shell Transport and Trading Company Ltd (im Folgenden zusammen: Shell), die RWE Dea AG und die RWE AG (im Folgenden zusammen: RWE) sowie die Total SA und die Total France SA (im Folgenden zusammen: Total) (erster Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
3 Paraffinwachse werden in Raffinerien aus Rohöl hergestellt. Sie werden für die Herstellung von Produkten wie Kerzen, Chemikalien, Reifen und Erzeugnissen der Automobilindustrie sowie in der Kautschuk-, Verpackungs-, Klebstoff- und Kaugummiindustrie eingesetzt (vierter Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
4 Bei der Herstellung von Paraffinwachsen dient Paraffingatsch als Ausgangsmaterial. Es fällt in Raffinerien als Nebenprodukt bei der Herstellung von Mineralölen aus Rohöl an. Es wird auch an Endabnehmer, z. B. an Hersteller von Spanplatten, verkauft (fünfter Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
5 Die Kommission begann ihre Untersuchung, nachdem Shell Deutschland Schmierstoff sie mit Schreiben vom 17. März 2005 über das Bestehen eines Kartells informiert hatte und bei ihr einen Antrag auf Geldbußenerlass gemäß der Mitteilung der Kommission von 2002 über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2002, C 45, S. 3) (im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002) gestellt hatte (72. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
6 Am 28. und 29. April 2005 führte die Kommission in Anwendung von Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) Nachprüfungen in den Räumlichkeiten von „H & R/Tudapetrol“, Eni, MOL sowie in denjenigen der Gesellschaften der Gruppen Sasol, ExxonMobil, Repsol und Total durch (75. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
7 Zwischen dem 25. und 29. Mai 2007 teilte die Kommission die Mitteilung der Beschwerdepunkte jeder der oben in Rn. 2 genannten Gesellschaften, und somit auch der Klägerin, mit (85. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Mit Schreiben vom 14. August 2007 beantwortete Eni die Mitteilung der Beschwerdepunkte.
8 Am 10. und 11. Dezember 2007 führte die Kommission eine mündliche Anhörung durch, an der Eni teilnahm (91. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
9 In der angefochtenen Entscheidung vertritt die Kommission aufgrund der ihr vorliegenden Beweise die Ansicht, dass die Adressaten, die die Mehrheit der Paraffinwachs- und Paraffingatschhersteller im EWR ausmachten, an einer einzigen, komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen teilgenommen hätten, die das Gebiet des EWR betreffe. Diese Zuwiderhandlung habe in Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen betreffend Preisfestsetzungen sowie den Austausch und die Offenlegung von geschäftlich sensiblen Informationen über Paraffinwachse bestanden (im Folgenden: Hauptteil der Zuwiderhandlung). In Bezug auf RWE (später Shell), ExxonMobil, MOL, Repsol, Sasol und Total habe die Zuwiderhandlung im Hinblick auf Paraffinwachse auch in der Aufteilung von Kunden und/oder Märkten bestanden (im Folgenden: zweiter Teil der Zuwiderhandlung). Außerdem habe die von RWE, ExxonMobil, Sasol und Total begangene Zuwiderhandlung auch auf dem deutschen Markt an Endabnehmer verkauftes Paraffingatsch betroffen (im Folgenden: Paraffingatsch betreffender Teil der Zuwiderhandlung) (Erwägungsgründe 2, 95, 328 und Art. 1 der angefochtenen Entscheidung).
10 Die rechtswidrigen Verhaltensweisen seien bei den wettbewerbswidrigen Zusammenkünften, die von den Teilnehmern als „technische Treffen“ oder manchmal als „Blauer Salon“ bezeichnet worden seien, und bei „Gatsch-Treffen“ besprochen worden, die speziell Fragen zum Paraffingatsch gewidmet gewesen seien.
11 Die Höhe der im vorliegenden Fall verhängten Geldbußen wurde auf der Grundlage der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 2006) berechnet, die zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Mitteilung der Beschwerdepunkte an die oben in Rn. 2 genannten Gesellschaften in Kraft waren.
12 Die angefochtene Entscheidung enthält u. a. folgende Bestimmungen:
„Artikel 1
Die folgenden Unternehmen haben eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 81 Absatz 1 [EG] und – seit dem 1. Januar 1994 – gegen Artikel 53 EWR-Abkommen begangen, indem sie sich in den jeweils genannten Zeiträumen an einer fortdauernden Vereinbarung und/oder einer fortdauernden abgestimmten Verhaltensweise im Paraffinwachssektor auf dem Gemeinsamen Markt und, seit 1. Januar 1994, im Europäischen Wirtschaftsraum beteiligten:
Eni SpA: am [30. und 31.] Oktober 1997 und vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005;
...
Artikel 2
Für die in Artikel 1 genannte Zuwiderhandlung werden folgende Geldbußen festgesetzt:
ENI SpA: 29120000 EUR;
Esso Société Anonyme Française: 83588400 EUR;
davon gesamtschuldnerisch mit
ExxonMobil Petroleum and Chemical BVBA und ExxonMobil Corporation: 34670400 EUR, davon gesamtschuldnerisch mit Esso Deutschland GmbH: 27081600 EUR;
Tudapetrol Mineralölerzeugnisse Nils Hansen KG: 12000000 EUR;
Hansen & Rosenthal KG gesamtschuldnerisch mit H&R Wax Company Vertrieb GmbH: 24000000 EUR;
davon gesamtschuldnerisch mit
H&R ChemPharm GmbH: 22000000 EUR;
MOL Nyrt.: 23700000 EUR;
Repsol YPF Lubricantes y Especialidades SA gesamtschuldnerisch mit Repsol Petróleo SA und Repsol YPF SA: 19800000 EUR;
Sasol Wax GmbH: 318200000 EUR;
davon gesamtschuldnerisch mit
Sasol Wax International AG, Sasol Holding in Germany GmbH und Sasol [Ltd]: 250700000 EUR;
Shell Deutschland Oil GmbH, Shell Deutschland Schmierstoff GmbH, Deutsche Shell GmbH, Shell International Petroleum Company Limited, the Shell Petroleum Company Limited, Shell Petroleum NV und the Shell Transport and Trading Company Limited: 0 EUR;
RWE-Dea AG gesamtschuldnerisch mit RWE AG: 37440000 EUR;
Total France SA gesamtschuldnerisch mit Total SA: 128163000 EUR.“
2. Zur Eni-Gruppe
13 Zur Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung führt die Kommission in der angefochtenen Entscheidung Folgendes aus:
„...
(342) In Abschnitt 4 wurde nachgewiesen, dass Eni während der gesamten Dauer seiner Teilnahme an der Zuwiderhandlung über Mitarbeiter der AgipPetroli SpA und der Eni SpA an der Zuwiderhandlung beteiligt war ...
(343) Die AgipPetroli SpA war in einem Treffen am 30. und 31. Oktober 1997 sowie vom 21. und 22. Februar 2002 bis zum 31. Dezember 2002 vertreten (zu diesem Zeitpunkt wurde das Unternehmen mit der Eni SpA zusammengeschlossen und bestand danach nicht mehr). Die Eni SpA war vom 1. Januar 2003 (d. h. seit dem Zeitpunkt, ab dem der Eni-Geschäftsbereich Raffination und Vermarktung für den Verkauf von Paraffinwachsen und Paraffingatsch zuständig war) bis zum 28. April 2005 (dem Enddatum der Zuwiderhandlung) beteiligt.
(344) Die AgipPetroli SpA wurde am 31. Dezember 2002 von der Eni SpA übernommen. Gemäß den in Randnummer (336) erläuterten Grundsätzen ist daher anzunehmen, dass die Eni SpA die Haftung für die Tätigkeit der AgipPetroli SpA vor dem 31. Dezember 2002 ... übernommen hat.
(345) Daher sollte die Eni SpA nicht nur für ihre unmittelbare Beteiligung am Kartell nach dem Aufgehen der AgipPetroli SpA in der Eni SpA (am 31. Dezember 2002), sondern auch für das Verhalten der AgipPetroli SpA im Kartell vor diesem Zeitpunkt haftbar gemacht werden.
(346) In der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte hat Eni die Feststellungen der Kommission bezüglich der Haftung nicht bestritten.
(347) Aus den genannten Gründen ist die Eni SpA für die Beteiligung am Treffen am 30. und 31. Oktober 1997 sowie an den Treffen vom 21. und 22. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 (dem Enddatum der Zuwiderhandlung) haftbar.“
Verfahren und Anträge der Parteien
14 Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 17. Dezember 2008 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
15 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Dritte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 64 seiner Verfahrensordnung hat es die Parteien aufgefordert, bestimmte Fragen zu beantworten und bestimmte Schriftstücke vorzulegen. Die Parteien sind dieser Aufforderung fristgerecht nachgekommen.
16 In der Sitzung vom 19. März 2013 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
17 In Anbetracht des tatsächlichen Zusammenhangs mit den Rechtssachen T‑540/08, Esso u. a./Kommission, T‑541/08, Sasol u. a./Kommission, T‑543/08, RWE und RWE Dea/Kommission, T‑544/08, Hansen & Rosenthal und H&R Wax Company Vertrieb/Kommission, T‑548/08, Total/Kommission, T‑550/08, Tudapetrol/Kommission, T‑551/08, H&R ChemPharm/Kommission, T‑562/08, Repsol YPF Lubricantes y Especialidades u. a./Kommission, und T‑566/08, Total Raffinage Marketing/Kommission, und der Sachnähe der aufgeworfenen Rechtsfragen hat das Gericht beschlossen, das Urteil in der vorliegenden Rechtssache erst nach den mündlichen Verhandlungen in den genannten zusammenhängenden Rechtssachen zu verkünden, von denen die letzte am 3. Juli 2013 stattgefunden hat.
18 Die Klägerin beantragt,
—
die angefochtene Entscheidung ganz oder teilweise für nichtig zu erklären und daraus die Konsequenzen hinsichtlich der Höhe der gegen sie verhängten Geldbuße zu ziehen;
—
hilfsweise, die gegen sie verhängte Geldbuße aufzuheben oder herabzusetzen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
19 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
20 Zur Stützung ihrer Klage macht die Klägerin sechs Klagegründe geltend.
21 Die ersten zwei von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe, mit denen ihre Beteiligung am Kartell bestritten wird, sind auf einen Verstoß gegen Art. 81 EG gestützt. Der erste betrifft die Feststellung ihrer Beteiligung aufgrund ihrer Anwesenheit beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997. Der zweite betrifft ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005.
22 Die Klägerin macht außerdem vier Klagegründe betreffend die Bemessung der gegen sie verhängten Geldbuße geltend. Der dritte Klagegrund ist auf einen Verstoß gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung aufgrund einer fehlerhaften Festsetzung des Koeffizienten wegen der Schwere der Zuwiderhandlung auf 17 % und des „Eintrittsgebühr“ genannten Zusatzbetrags gestützt. Der vierte Klagegrund ist auf einen Verstoß gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006, die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung sowie einen Ermessensmissbrauch aufgrund der Erhöhung der Geldbuße um 60 % wegen des erschwerenden Umstands der Wiederholung der Zuwiderhandlung gestützt. Der fünfte Klagegrund ist auf einen Verstoß gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006, den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Begründungspflicht gestützt, da die Kommission das Vorliegen des mildernden Umstands ihrer sehr geringfügigen Beteiligung am Kartell und ihrer fehlenden Beteiligung an der Umsetzung des Kartells nicht anerkannt habe. Der sechste Klagegrund ist auf einen Verstoß gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 und die Leitlinien von 2006 aufgrund der Nichtanerkennung des mildernden Umstands der Fahrlässigkeit gestützt.
23 Da der erste und der zweite Klagegrund die Würdigung der Beweise für die Beteiligung von Eni am Kartell betreffen, hält es das Gericht für zweckmäßig, sie gemeinsam zu prüfen.
1. Zum ersten und zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 81 EG hinsichtlich der Beteiligung der Klägerin am Kartell
24 Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Klägerin geltend, die Kommission habe auf der Grundlage ihrer Anwesenheit beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 in Hamburg (Deutschland) rechtswidrig ihre Beteiligung an einer Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise festgestellt. Mit ihrem zweiten Klagegrund rügt sie die Rechtswidrigkeit der Feststellung ihrer Beteiligung am Kartell vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005.
Zu den Begriffen
„Vereinbarung
“ und
„abgestimmte Verhaltensweise
“
25 Gemäß Art. 81 Abs. 1 EG sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten.
26 Eine Vereinbarung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG liegt schon dann vor, wenn die betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten (Urteile des Gerichts vom 17. Dezember 1991, Hercules Chemicals/Kommission, T-7/89, Slg. 1991, II-1711, Rn. 256, und vom 20. März 2002, HFB u. a./Kommission, T-9/99, Slg. 2002, II-1487, Rn. 199).
27 Vom Abschluss einer Vereinbarung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG kann ausgegangen werden, wenn hinsichtlich der Wettbewerbsbeschränkung als solcher ein übereinstimmender Wille vorliegt, selbst wenn die einzelnen Bestandteile der beabsichtigten Beschränkung noch Gegenstand von Verhandlungen sind (Urteil des Gerichts vom 16. Juni 2011, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, T-240/07, Slg. 2011, II-3355, Rn. 45; vgl. in diesem Sinne auch Urteil HFB u. a./Kommission, oben in Rn. 26 angeführt, Rn. 151 bis 157 und 206).
28 Bei der abgestimmten Verhaltensweise handelt es sich um eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen, die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen Sinne gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt (Urteile des Gerichtshofs vom 8. Juli 1999, Kommission/Anic Partecipazioni, C-49/92 P, Slg. 1999, I-4125, Rn. 115, und Hüls/Kommission, C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn. 158).
29 Art. 81 Abs. 1 EG steht jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Wirtschaftsteilnehmern entgegen, durch die entweder das Marktverhalten eines tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerbers beeinflusst oder ein solcher Wettbewerber über das Marktverhalten, zu dem der betreffende Wirtschaftsteilnehmer selbst entschlossen ist oder das er in Erwägung zieht, ins Bild gesetzt wird, wenn diese Fühlungnahme eine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt (Urteil Heineken Nederland und Heineken/Kommission, oben in Rn. 27 angeführt, Rn. 47; vgl. in diesem Sinne auch Urteil Kommission/Anic Partecipazioni, oben in Rn. 28 angeführt, Rn. 116 und 117).
Zu den Grundsätzen der Beweiswürdigung
30 Nach der Rechtsprechung hat die Kommission die von ihr festgestellten Zuwiderhandlungen zu beweisen und die Beweismittel beizubringen, die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend beweisen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 1998, Baustahlgewebe/Kommission, C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 58, und Urteil des Gerichts vom 27. September 2006, Dresdner Bank u. a./Kommission, T‑44/02 OP, T‑54/02 OP, T‑56/02 OP, T‑60/02 OP und T‑61/02 OP, Slg. 2006, II‑3567, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Was den Umfang der gerichtlichen Kontrolle anbelangt, hat nach ständiger Rechtsprechung das Gericht bei einer Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung nach Art. 81 Abs. 1 EG generell eine umfassende Prüfung der Frage vorzunehmen, ob die Tatbestandsmerkmale von Art. 81 Abs. 1 EG erfüllt sind (vgl. Urteil des Gerichts vom 26. Oktober 2000, Bayer/Kommission, T-41/96, Slg. 2000, II-3383, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Ein hierauf bezogener etwaiger Zweifel des Gerichts muss dem Unternehmen zugutekommen, an das die Entscheidung gerichtet ist, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird. Das Gericht kann daher nicht davon ausgehen, dass die Kommission das Vorliegen der betreffenden Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, wenn bei ihm noch Zweifel in dieser Hinsicht bestehen; dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um eine Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung zur Verhängung einer Geldbuße handelt (Urteile des Gerichts Dresdner Bank u. a./Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 60, und vom 12. Juli 2011, Hitachi u. a./Kommission, T-112/07, Slg. 2011, II-3871, Rn. 58).
33 Unter den genannten Umständen ist nämlich die Unschuldsvermutung insbesondere nach Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu beachten, die zu den Grundrechten gehört, die allgemeine Grundsätze des Unionsrechts darstellen. Angesichts der Art der betreffenden Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der ihretwegen verhängten Sanktionen gilt die Unschuldsvermutung insbesondere in Verfahren wegen Verletzung der für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können (Urteil Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 59; vgl. in diesem Sinne auch Urteil Dresdner Bank u. a./Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Somit ist es erforderlich, dass die Kommission aussagekräftige und übereinstimmende Beweise beibringt, um das Vorliegen der Zuwiderhandlung nachzuweisen. Jedoch muss nicht jeder von der Kommission erbrachte Beweis notwendigerweise für jeden Teil der Zuwiderhandlung diesen Kriterien entsprechen. Es genügt, wenn ein von der Kommission angeführtes Bündel von Indizien im Ganzen betrachtet dem genannten Erfordernis entspricht (vgl. Urteil Dresdner Bank u. a./Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 62 und 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Die Indizien, die die Kommission in der angefochtenen Entscheidung anführt, um einen Verstoß gegen Art. 81 Abs. 1 EG zu beweisen, sind nicht einzeln, sondern in ihrer Gesamtheit zu würdigen (vgl. Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2008, BPB/Kommission, T-53/03, Slg. 2008, II-1333, Rn. 185 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Kommission das Bestehen einer Zuwiderhandlung oft unter dafür ungünstigen Voraussetzungen nachweisen muss, da seit den Vorgängen, die die Zuwiderhandlung bilden, mehrere Jahre vergangen sein können und mehrere von der Untersuchung betroffene Unternehmen nicht aktiv mit der Kommission zusammengearbeitet haben. Wenn die Kommission somit auch notwendig nachweisen muss, dass eine rechtswidrige Vereinbarung über die Aufteilung von Märkten geschlossen wurde, wäre es überzogen, außerdem noch zu verlangen, dass sie den spezifischen Mechanismus nachweist, mit dem dieses Ziel erreicht werden sollte. Es wäre nämlich für ein Unternehmen, das sich einer Zuwiderhandlung schuldig gemacht hat, zu einfach, sich jeder Sanktion zu entziehen, könnte es sich in einer Situation, in der das Bestehen einer rechtswidrigen Vereinbarung und ihr wettbewerbswidriger Zweck hinreichend bewiesen sind, darauf berufen, dass die über die Funktionsweise der Vereinbarung vorgelegten Informationen zu unbestimmt seien. Die Unternehmen können sich in einer solchen Situation sachgerecht dadurch verteidigen, dass sie zu allen von der Kommission gegen sie angeführten Beweisen Stellung nehmen können (Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2004, JFE Engineering u. a./Kommission, T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 203).
37 Hinsichtlich der Beweismittel, die zum Nachweis einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG herangezogen werden dürfen, gilt im Unionsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Urteile des Gerichts vom 8. Juli 2004, Dalmine/Kommission, T-50/00, Slg. 2004, II-2395, Rn. 72, und Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 64).
38 Was den Beweiswert der verschiedenen Beweisstücke anbelangt, ist das alleinige Kriterium für die Beurteilung der beigebrachten Beweise ihre Glaubhaftigkeit (Urteil Dalmine/Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, Rn. 72).
39 Nach den allgemeinen Beweisgrundsätzen hängt die Glaubhaftigkeit eines Schriftstücks und damit sein Beweiswert von seiner Herkunft, den Umständen seiner Entstehung, seinem Adressaten und seinem Inhalt ab (Urteile des Gerichts vom 15. März 2000, Cimenteries CBR u. a./Kommission, T-25/95, T-26/95, T-30/95 bis T-32/95, T-34/95 bis T-39/95, T-42/95 bis T-46/95, T-48/95, T-50/95 bis T-65/95, T-68/95 bis T-71/95, T-87/95, T-88/95, T-103/95 und T-104/95, Slg. 2000, II-491, Rn. 1053 und 1838, sowie Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 70).
40 Stützt sich die Kommission für ihre Feststellung, dass eine Zuwiderhandlung vorlag, ausschließlich auf das Marktverhalten der Unternehmen, müssen diese lediglich das Vorliegen von Umständen nachweisen, die den von der Kommission festgestellten Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen lassen und damit eine andere plausible Erklärung der Tatsachen ermöglichen, aus denen die Kommission auf die Begehung einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Union geschlossen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil JFE Engineering u. a./Kommission, oben in Rn. 36 angeführt, Rn. 186).
41 Dagegen haben die betroffenen Unternehmen in den Fällen, in denen sich die Kommission auf Urkundenbeweise stützte, nicht bloß eine plausible Alternative zur Darstellung der Kommission darzutun, sondern müssen außerdem aufzeigen, dass die in der angefochtenen Entscheidung angeführten Beweise für den Nachweis der Zuwiderhandlung nicht genügen (Urteil JFE Engineering u. a./Kommission, oben in Rn. 36 angeführt, Rn. 187). Eine solche Beweisführung verstößt nicht gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 8. Juli 1999, Montecatini/Kommission, C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, Rn. 181).
42 Da das Verbot, an wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen und Vereinbarungen teilzunehmen, sowie die Sanktionen, die Zuwiderhandelnden auferlegt werden können, bekannt sind, ist es üblich, dass die Tätigkeiten, mit denen diese Verhaltensweisen und Vereinbarungen verbunden sind, insgeheim ablaufen, dass die Zusammenkünfte heimlich stattfinden und dass die Unterlagen darüber auf ein Minimum reduziert werden. Daher kann von der Kommission nicht gefordert werden, dass sie Schriftstücke vorlegt, die eine Kontaktaufnahme zwischen den beteiligten Wirtschaftsteilnehmern explizit bestätigen. Selbst wenn die Kommission solche Schriftstücke entdeckt, handelt es sich normalerweise nur um lückenhafte und vereinzelte Belege, so dass es häufig erforderlich ist, bestimmte Einzelheiten durch Schlussfolgerungen zu rekonstruieren. Das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise oder Vereinbarung kann folglich aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können (Urteil des Gerichtshofs vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 55 bis 57; vgl. Urteil Dresdner Bank u. a./Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 64 und 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Bei der Würdigung des Beweiswerts schriftlicher Beweise muss es als sehr bedeutsam angesehen werden, dass ein Schriftstück in unmittelbarem Anschluss an die Ereignisse (Urteile des Gerichts vom 11. März 1999, Ensidesa/Kommission, T-157/94, Slg. 1999, II-707, Rn. 312, und vom 16. Dezember 2003, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied und Technische Unie/Kommission, T-5/00 und T-6/00, Slg. 2003, II-5761, Rn. 181) oder von einem unmittelbaren Zeugen dieser Ereignisse erstellt wurde (Urteil JFE Engineering u. a./Kommission, oben in Rn. 36 angeführt, Rn. 207).
44 Das Fehlen des Datums oder der Unterschrift auf einem Dokument oder der Umstand, dass es schlecht geschrieben ist, nehmen diesem nicht jeden Beweiswert, insbesondere wenn sein Ursprung, sein wahrscheinliches Datum und sein Inhalt mit hinreichender Sicherheit bestimmt werden können (Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2006, FNCBV/Kommission, T-217/03 und T-245/03, Slg. 2006, II-4987, Rn. 124; vgl. in diesem Sinne auch Urteil des Gerichts vom 10. März 1992, Shell/Kommission, T-11/89, Slg. 1992, II-757, Rn. 86).
45 Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung ergibt sich, dass, selbst wenn sich das Fehlen schriftlicher Nachweise im Rahmen der Gesamtbeurteilung des von der Kommission angeführten Bündels von Indizien als relevant erweisen kann, das betroffene Unternehmen nicht allein seinetwegen die Behauptungen der Kommission durch eine andere Erklärung des Sachverhalts in Frage stellen kann. Dies ist nur dann der Fall, wenn aufgrund der von der Kommission beigebrachten Beweise das Vorliegen der Zuwiderhandlung nicht eindeutig und nur durch Auslegung dieser Beweise nachgewiesen werden kann (Urteil Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 65; vgl. in diesem Sinne auch Urteil des Gerichts vom 12. September 2007, Coats Holdings und Coats/Kommission, T‑36/05, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 74).
46 Zudem verbietet keine Bestimmung und kein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts der Kommission, gegen ein Unternehmen die Erklärungen anderer Unternehmen zu verwenden, denen vorgeworfen wird, sie seien am Kartell beteiligt gewesen. Andernfalls wäre die der Kommission obliegende Beweislast für Verhaltensweisen, die Art. 81 EG zuwiderlaufen, untragbar und mit der ihr anvertrauten Aufgabe, die richtige Anwendung dieser Bestimmung zu überwachen, nicht zu vereinbaren (Urteile JFE Engineering u. a./Kommission, oben in Rn. 36 angeführt, Rn. 192, und Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 67).
47 Ein besonders hoher Beweiswert kann Erklärungen beigemessen werden, wenn sie verlässlich sind, im Namen eines Unternehmens abgegeben wurden, von einer Person stammen, die beruflich verpflichtet ist, im Interesse dieses Unternehmens zu handeln, den Interessen des Erklärenden zuwiderlaufen, von einem unmittelbaren Zeugen der Vorgänge stammen, auf die sie sich beziehen, und bedacht sowie nach reiflicher Überlegung schriftlich abgegeben werden (Urteil Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 71; vgl. in diesem Sinne auch Urteil JFE Engineering u. a./Kommission, oben in Rn. 36 angeführt, Rn. 205 bis 210).
48 Eine Erklärung, die ein der Beteiligung an einem Kartell beschuldigtes Unternehmen abgibt und deren Richtigkeit von mehreren anderen betroffenen Unternehmen bestritten wird, kann jedoch nicht als hinreichender Beweis für die Begehung einer Zuwiderhandlung durch diese anderen Unternehmen angesehen werden, wenn sie nicht durch andere Beweise untermauert wird, wobei jedoch der erforderliche Grad der Erhärtung aufgrund der Glaubhaftigkeit der fraglichen Erklärungen geringer ist (Urteile JFE Engineering u. a./Kommission, oben in Rn. 36 angeführt, Rn. 219 und 220, und Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 68).
49 Auch wenn gegenüber den freiwilligen Angaben der Hauptteilnehmer an einem rechtswidrigen Kartell im Allgemeinen ein gewisses Misstrauen angebracht ist, da die Möglichkeit besteht, dass diese Teilnehmer die Neigung haben, die Bedeutung ihres eigenen Tatbeitrags als so klein wie möglich und den der anderen als so groß wie möglich darzustellen, ändert dies nichts daran, dass ein Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung von 2002, um einen Erlass oder eine Herabsetzung der Geldbuße zu erreichen, nicht zwangsläufig einen Anreiz schafft, verfälschte Beweise für die Beteiligung der übrigen Kartellmitglieder vorzulegen. Jeder Versuch einer Irreführung der Kommission könnte nämlich die Aufrichtigkeit und Vollständigkeit der Kooperation des Antragstellers in Frage stellen und damit die Möglichkeit gefährden, dass er in den vollen Genuss der Kronzeugenregelung von 2002 gelangt (Urteil Hitachi u. a./Kommission, oben in Rn. 32 angeführt, Rn. 72; vgl. in diesem Sinne auch Urteil des Gerichts vom 16. November 2006, Peróxidos Orgánicos/Kommission, T-120/04, Slg. 2006, II-4441, Rn. 70).
50 Insbesondere kann daraus, dass eine Person zugibt, dass sie eine Zuwiderhandlung begangen hat, und damit Tatsachen einräumt, die über die den fraglichen Unterlagen unmittelbar zu entnehmenden Tatsachen hinausgehen, a priori, sofern keine bestimmten Anhaltspunkte für das Gegenteil bestehen, der Schluss gezogen werden, dass sich der Betreffende dazu entschlossen hat, die Wahrheit zu sagen. Erklärungen, die den Interessen des Erklärenden zuwiderlaufen, sind grundsätzlich als besonders verlässliche Beweise anzusehen (Urteile des Gerichts JFE Engineering u. a./Kommission, oben in Rn. 36 angeführt, Rn. 211 und 212, vom 26. April 2007, Bolloré u. a./Kommission, T-109/02, T-118/02, T-122/02, T-125/02, T-126/02, T-128/02, T-129/02, T-132/02 und T-136/02, Slg. 2007, II-947, Rn. 166, und vom 8. Juli 2008, Lafarge/Kommission, T‑54/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 59).
51 Diese Rechtsprechung gilt entsprechend für Art. 53 EWR-Abkommen.
Zur Beschreibung des Hauptteils der Zuwiderhandlung in der angefochtenen Entscheidung
52 Im zweiten Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung stellt die Kommission unter der Überschrift „Zusammenfassung der Zuwiderhandlung“ fest, dass die Adressaten dieser Entscheidung an einer einzigen, komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen teilgenommen hätten. Der Hauptteil dieser Zuwiderhandlung habe „in Vereinbarungen und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestand[en], die darauf abzielten, auf dem Markt für Paraffinwachse Preise festzusetzen, [geschäftlich sensible] Informationen auszutauschen und offenzulegen“. Dieser Hauptteil war der angefochtenen Entscheidung zufolge der einzige, an dem sich die Klägerin beteiligt hat.
53 In der angefochtenen Entscheidung beschreibt die Kommission unter der Überschrift „4.1. Grundsätze und Funktionsweise des Kartells“ in den Erwägungsgründen 106 ff. dieser Entscheidung den Hauptteil der Zuwiderhandlung wie folgt:
„...
(106) Die technischen Treffen waren in zwei Teile unterteilt: Zunächst wurden technische Fragen besprochen, anschließend verlagerte sich das Gespräch auf wettbewerbswidrige Punkte wie die Festsetzung von Preisen, die Aufteilung von Märkten und Abnehmern (in bestimmten Fällen) sowie den Austausch und die Offenlegung wirtschaftlich sensibler Informationen einschließlich aktueller und künftiger Preispolitik, Kunden, Produktionskapazitäten und Absatzmengen.
(107) Die Gespräche über Preise und mögliche Preiserhöhungen fanden somit in der Regel am Ende der technischen Treffen statt. Sasol gab in der Regel den Anstoß, aber danach beteiligten sich alle Anwesenden an einer allgemeinen Aussprache über Preise und Preisstrategien. … Dabei wurden sowohl Preiserhöhungen und Zielpreise für bestimmte einzelne Abnehmer als auch allgemeine Preiserhöhungen sowie Mindest- und Zielpreise für den gesamten Markt behandelt. … Preiserhöhungen wurden in der Regel in absoluten Zahlen und nicht in Prozentanteilen beziffert (z. B. 60 EUR/t vollraffiniertes Paraffin). … Ferner wurden Mindestpreise vereinbart, und zwar nicht nur bei Vereinbarung einer Preiserhöhung, sondern auch, wenn Preiserhöhungen nicht verwirklicht werden konnten (beispielsweise in Zeiten fallender Preise). …
...
(109) Ferner tauschten die Unternehmensvertreter geschäftlich sensible Informationen aus und legten ihre allgemeinen Unternehmensstrategien offen. …
(110) Mit Ausnahme von MOL wurden die Unternehmen von Managern vertreten, die die Preisstrategie ihrer Unternehmen bestimmen und die Preise gegenüber einzelnen Kunden festsetzen konnten. …
(111) In den meisten technischen Treffen drehten sich die Preisdiskussionen allgemein um Paraffin; … bestimmte Paraffinsorten (wie voll- oder halbraffiniertes Paraffin, Mischungen, Spezialwachse, Paraffin-Hartwachse oder Hydro-Paraffinwachse) wurden nur selten behandelt. Darüber hinaus waren sich sämtliche Unternehmen einig, dass vereinbarte (prozentuale oder konkrete) Preiserhöhungen für sämtliche Paraffinwachs-Sorten gelten sollten. …
...
(113) Die Beschlüsse der technischen Treffen wurden zumeist umgesetzt, indem Kunden Preiserhöhungen angekündigt oder bestehende Preislisten gekündigt wurden. … Wenn es gelegentlich zu Täuschungsmanövern kam oder Vereinbarungen nicht umgesetzt wurden, kam das auf dem nächsten Treffen zur Sprache (siehe z. B. [Erwägungsgründe] [149] und [157]). In der Regel übernahm ein auf dem Treffen anwesendes Unternehmen die Vorreiterrolle bei den Preiserhöhungen (meistens Sasol, aber manchmal auf Bitten Sasols auch ein anderes teilnehmendes Unternehmen). Die übrigen Anbieter zogen dann kurze Zeit später nach und kündigten ihrerseits Preiserhöhungen an. … Die an den technischen Treffen beteiligten Unternehmensvertreter unterrichteten sich gegenseitig über ihre Maßnahmen zur Umsetzung der dort gefassten Beschlüsse. Die Unterrichtung [der] anderen [anwesenden] Unternehmen (eines Unternehmens oder aller Unternehmen) erfolgte mündlich … oder durch Versendung einer Kopie der Schreiben, in denen den Kunden die höheren Preise angekündigt oder die bisherigen Preise gekündigt wurden; … Die Kommission hat festgestellt, dass diese Unterrichtungen zwischen den Parteien tatsächlich erfolgten. Eine Stichprobe von rund 150 dieser Schreiben ergab, dass diese Schreiben tatsächlich binnen sechs Wochen nach den jeweiligen technischen Treffen ausgetauscht wurden. … Es wurde auch über eine Vereinbarung [dahin gehend berichtet], dass die beteiligten Unternehmen die Umsetzung der vereinbarten Preiserhöhungen nicht dazu nutzen sollten, ihren eigenen Marktanteil zu erhöhen. … Diese Erklärung wurde in den Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht bestritten.“
54 Unter der Überschrift „4.2. Einzelheiten zu den technischen Treffen“ fasst die Kommission in der angefochtenen Entscheidung zunächst Ort und Datum der technischen Treffen sowie die anwesenden Unternehmen in einer Tabelle zusammen (124. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung). Sodann prüft sie bei den einzelnen technischen Treffen, welche Beweismittel jeweils vorliegen (Erwägungsgründe 126 bis 177 der angefochtenen Entscheidung).
55 Unter der Überschrift „5.3. Art der Zuwiderhandlung in dieser Sache“ legt die Kommission in der angefochtenen Entscheidung die maßgeblichen Grundsätze für die Klassifizierung der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen dar:
„5.3.1. Allgemeines
...
(205) [I]m Falle einer komplexen Zuwiderhandlung von langer Dauer braucht die Kommission das betreffende Verhalten nicht als ausschließlich der [Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise] zuzurechnend zu beschreiben. Die Begriffe ‚Vereinbarung‘ [oder] ‚aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen‘ sind fließend und können sich überschneiden. Das wettbewerbswidrige Verhalten kann von Zeit zu Zeit verändert, seine Mechanismen können angepasst oder gestärkt werden, um neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Es kann sich sogar als unmöglich erweisen, eine Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen zu treffen, da eine Zuwiderhandlung gleichzeitig die Merkmale jeder Form des untersagten Verhaltens aufweisen kann, während für sich genommen einige ihrer Erscheinungsformen dem einen und nicht dem anderen Begriff zugeordnet werden könnten. Daher wäre es widersinnig, bei einem eindeutig fortbestehenden gemeinsamen Unternehmen mit einem einzigen Gesamtziel mehrere getrennte Formen der Zuwiderhandlung zu unterscheiden. Ein Kartell kann entsprechend gleichzeitig in einer Vereinbarung und in einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise bestehen. Artikel 81 [EG] sieht keine bestimmte Kategorie für eine komplexe Zuwiderhandlung der in dieser Entscheidung beschriebenen Art vor. …
(206) Wenn mehrere Kartellmitglieder und deren wettbewerbswidriges Verhalten im Laufe der Zeit entweder als Vereinbarungen oder als aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen (komplexe Zuwiderhandlungen) beschrieben werden können, braucht die Kommission nicht jeden einzelnen Typ des betreffenden Verhaltens zu klassifizieren.“
56 Unter derselben Überschrift der angefochtenen Entscheidung beschreibt die Kommission den Inhalt der Zuwiderhandlung wie folgt:
„5.3.2. Anwendung
(210) Durch die in Kapitel 4 dieser Entscheidung beschriebenen Sachverhalte ist nachgewiesen, dass alle in diesem Verfahren behandelten Unternehmen … an geheimen Absprachen über Paraffinwachse sowie (bei den [im ersten Erwägungsgrund] angeführten Unternehmen) über Paraffingatsch beteiligt waren und regelmäßig an Treffen teilgenommen haben; Gegenstand der Treffen waren:
(1) Preisfestsetzungen ...;
(2) … Aufteilung von Kunden und/oder Märkten ...;
(3) Offenlegung und Austausch wirtschaftlich sensibler Informationen, insbesondere in Bezug auf Kunden, Preisgestaltung, Produktionskapazitäten und Umsätze …
5.3.2.2. Preisfestsetzung
(240) Aus den [Erwägungsgründen] (98), (107), (126), (128), (131), (133), (135), (137), (139), (140), (142), (145), (147), (149), (152), (153), (156), (157), (163), (168), (174), (176) und (177) geht hervor, dass die beteiligten Unternehmen Mindestpreise festsetzten und Preiserhöhungen (‚Preisfestsetzungen‘) vereinbarten.
(241) ExxonMobil, Repsol, Sasol und Shell haben bestätigt, dass Preisfestsetzungen vorkamen [vgl. den 107. Erwägungsgrund] und dies in der mündlichen Anhörung und in ihren schriftlichen Erwiderungen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte erneut eingeräumt.“
57 Die Kommission schließt zur Beteiligung von Eni am Kartell im 298. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung Folgendes:
„Wie in Kapitel 4 erläutert, hat Eni an einem Treffen im Jahre 1997 und an elf weiteren Treffen im Zeitraum vom Februar 2002 bis zum Februar 2005 teilgenommen. Im Treffen im Jahre 1997 (siehe [Erwägungsgrund] [145]) wurde eine Vereinbarung über Preise gemäß Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen erzielt. In Bezug auf die Treffen nach dem Februar 2002 (siehe [Erwägungsgründe] [165]-[178]) gelangt die Kommission in Anbetracht des vorliegenden Beweismaterials und der allgemeinen Beschreibung der gewöhnlichen Struktur der technischen Treffen zu dem Ergebnis, dass Eni bei der Festsetzung von Preisen und einem Austausch wirtschaftlich sensibler Informationen anwesend war, teilgenommen hat und aktiv beigetragen hat. Da Eni nach 2002 an 11 von 13 Treffen teilgenommen hat, geht die Kommission davon aus, dass Eni das wettbewerbswidrige Ziel und die in den technischen Treffen getroffenen Maßnahmen bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen. Es existieren zwar keine Belege dafür, dass Eni an den Treffen am 14. und 15. Januar 2004 und am 11. und 12. Mai 2004 beteiligt war; die Kommission betrachtet aber die fortgesetzte Beteiligung von Eni im Zeitraum vom 21. und 22. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 als nachgewiesen ... Insbesondere ist die Kommission der Ansicht, dass die in [Erwägungsgrund] (165) beschriebenen Vorfälle zeigen, dass Eni die über das Verhalten seiner Wettbewerber auf dem Markt erhaltenen Informationen berücksichtigt und sein eigenes Verhalten unter Einführung der betreffenden Schritte entsprechend angepasst hat. Dieses Verhalten kann als aufeinander abgestimmte Verhaltensweise gewertet werden.“
Zur Beteiligung von Eni am Kartell aufgrund ihrer Anwesenheit beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997
58 Die Klägerin macht geltend, die Kommission könne nicht auf der Grundlage ihrer Anwesenheit beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 rechtswirksam ihre Beteiligung am Kartell feststellen. Ihre Anwesenheit sei nämlich durch einen Besuch ihres Vertreters in Hamburg zwecks rechtmäßiger Verhandlungen mit Sasol erklärt worden. Außerdem habe sich dieser Vertreter vom wettbewerbswidrigen Inhalt des fraglichen technischen Treffens distanziert.
Prüfung der Beweismittel
59 Im 145. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung, betreffend das technische Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997, stützt sich die Kommission auf einen Informationsvermerk „Blauer Salon“ von Sasol, der folgende Angaben enthält:
„TerminErhöhungMin-Preis√ SCHS, D√ Dea, D√ SRS-Tuda, D√ MOL, HU1.1.√ Total, F1.1.DM 10,-DM 120Mobil-Bp, F√ Repsol, E√ Agip, I1.1.DM 10“
60 Sasol erklärte, diesem Informationsvermerk sei zu entnehmen, dass sich die Teilnehmer verpflichtet hätten, die Preise um 10 bis 12 DM pro 100 kg zu erhöhen, dass Total und Agip gewünscht hätten, die Preise um 1 DM zu erhöhen, und dass dies zumindest für Total zu einem Mindestpreis von 120 DM pro 100 kg habe führen müssen.
61 Der Umfang und die Zeitpunkte der Erhöhungen werden in vollem Umfang von zwei Vermerken zu diesem Treffen bestätigt, die in den Geschäftsräumen von MOL gefunden wurden.
62 Die Kommission gelangt im 145. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung aufgrund dieser Unterlagen und der Erklärungen von Unternehmen zu folgendem Ergebnis:
„[D]ie anwesenden Unternehmen [sind] übereingekommen ..., die Preise zu vereinheitlichen und anzuheben. Der Vermerk bezieht sich sowohl auf Paraffinwachse als auch auf Paraffingatsch. Ferner geht aus dem Vermerk [von MOL] hervor, dass die Unternehmen Informationen über Wartung und allgemeine Preisstrategien austauschten ...“
63 Erstens haben insoweit Sasol und Repsol erklärt, dass das technische Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 einen wettbewerbswidrigen Inhalt gehabt habe. Außerdem hat Sasol von der Kommission gefundene Unterlagen ausgelegt und insbesondere erklärt, dass alle Teilnehmer sich verpflichtet hätten, die Preise zu erhöhen (vgl. oben, Rn. 60). Diese Erklärungen wurden von Personen, die an den technischen Treffen teilgenommen hatten, nach reiflicher Überlegung abgegeben und belasten auch die Unternehmen, in deren Namen sie erfolgten. Somit sind sie im Sinne der oben in Rn. 47 angeführten Rechtsprechung besonders verlässlich.
64 Zweitens ist der Inhalt der Gespräche beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 durch die MOL-Vermerke und den Informationsvermerk „Blauer Salon“ von Sasol besonders gut dokumentiert. Überdies waren, wie die Kommission im 215. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung festgestellt hat, die MOL-Vermerke während der Treffen von einem Teilnehmer gemacht worden, und sie sind strukturiert und ziemlich detailliert. Deshalb ist der Beweiswert dieser Notizen sehr hoch. Was die Protokolle von Sasol über die Treffen „Blauer Salon“ anbelangt, handelt es sich um Dokumente aus dem maßgeblichen Zeitraum, die in tempore non suspecto, d. h. kurz nach dem jeweiligen technischen Treffen erstellt worden sind. Auch wenn die Person, die sie angefertigt hat, an den technischen Treffen nicht teilgenommen hat, hat sie sich auf Informationen gestützt, die sie von einem Teilnehmer erhalten hat. Somit haben auch diese Protokolle einen hohen Beweiswert.
65 Daher kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Gesamtheit der von der Kommission im 145. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung dargelegten Beweise bestätigt, dass die Teilnehmer am technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 tatsächlich Erhöhungen der Paraffinwachspreise vereinbarten.
Zur Anwesenheit von Eni beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 und zur Frage ihrer Distanzierung
66 Die Klägerin bestreitet nicht, dass ihr Vertreter, Herr DS., am technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 teilnahm.
67 Sie macht jedoch geltend, die Anwesenheit von Herrn DS. bei diesem technischen Treffen sei unbeabsichtigt gewesen. Im Anschluss an ein bilaterales Treffen mit dem Vertreter von Sasol, einem Kunden von Eni, habe Letzterer sie nämlich eingeladen, auch an einem von Sasol organisierten Treffen in größerem Umfang mit anderen europäischen Paraffinherstellern teilzunehmen.
68 Außerdem habe sich die Klägerin vom wettbewerbswidrigen Inhalt des fraglichen technischen Treffens distanziert. Da sich Herr DS. nicht für die Fragen im Zusammenhang mit den verlangten Preisen und den angebotenen Mengen interessiert habe, habe er an der Diskussion nicht teilgenommen, sondern sei nur aus Höflichkeit gegenüber Sasol bis zum Ende des Treffens geblieben. Er habe dagegen, wie sich aus seiner Erklärung ergebe, bei den Vertretern von Sasol von Anfang an darauf hingewiesen, dass weder Eni noch er selbst an solchen Treffen interessiert seien. Die Tatsache, dass Sasol seine Distanzierung verstanden habe, werde dadurch bewiesen, dass Eni bis zum 21. Februar 2002 nicht zu weiteren technischen Treffen eingeladen worden sei. Außerdem habe Eni am 12. Juni 1998 sogar ihre Mitgliedschaft im Industrieverband European Wax Federation (EWF) aufgelöst.
69 In Bezug auf wettbewerbswidrige Vereinbarungen, die wie im vorliegenden Fall bei Zusammenkünften konkurrierender Unternehmen zustande kommen, liegt nach der Rechtsprechung eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG vor, wenn diese Zusammenkünfte die Einschränkung, Verhinderung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken und damit der künstlichen Regulierung des Marktes dienen. In einem solchen Fall genügt es zum Nachweis der Teilnahme eines Unternehmens am Kartell, wenn die Kommission dartut, dass das Unternehmen an Treffen teilnahm, bei denen wettbewerbswidrige Vereinbarungen geschlossen wurden. Ist die Teilnahme an solchen Zusammenkünften erwiesen, obliegt es dem fraglichen Unternehmen, Indizien vorzutragen, die zum Beweis seiner fehlenden wettbewerbswidrigen Einstellung bei der Teilnahme an den Zusammenkünften geeignet sind, und nachzuweisen, dass es seine Wettbewerber darauf hingewiesen hat, dass es mit einer anderen Zielsetzung als diese an den Zusammenkünften teilgenommen hat (Urteile des Gerichtshofs Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Rn. 29 angeführt, Rn. 81, und vom 25. Januar 2007, Sumitomo Metal Industries und Nippon Steel/Kommission, C-403/04 P und C-405/04 P, Slg. 2007, I-729, Rn. 47).
70 Diese Regel beruht auf der Erwägung, dass das Unternehmen, indem es an der fraglichen Sitzung teilnahm, ohne sich offen von deren Inhalt zu distanzieren, den anderen Teilnehmern Anlass zu der Annahme gab, dass es dem Ergebnis der Sitzung zustimme und sich daran halten werde (Urteile Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Rn. 42 angeführt, Rn. 82, sowie Sumitomo Metal Industries und Nippon Steel/Kommission, oben in Rn. 69 angeführt, Rn. 48).
71 Es ist festzustellen, dass sowohl die MOL-Vermerke als auch der Informationsvermerk „Blauer Salon“ von Sasol auf Eni Bezug nehmen, da darin sowohl der Name von Agip, der in der Paraffinwachsherstellung tätigen Tochtergesellschaft von Eni, als auch die von Agip geplante Preiserhöhungsmaßnahme (nach dem MOL-Vermerk 100 DM pro Tonne und nach dem Informationsvermerk „Blauer Salon“ 10 DM pro 100 kg) und der geplante Zeitpunkt der Preiserhöhung (1. Januar 1998) genannt werden. Das Übereinstimmen der Notizen in diesen Einzelheiten beweist ohne jeden Zweifel, dass der Vertreter von Eni wie die Vertreter der anderen bei diesem technischen Treffen anwesenden Unternehmen tatsächlich die Maßnahme und den Zeitpunkt der Preiserhöhung ihrer Paraffinwachserzeugnisse ankündigte. Diese Feststellung wird auch durch die Erklärung von Sasol bestätigt, wonach die Tabelle in den in Rede stehenden Notizen so auszulegen sei, dass alle Teilnehmer sich verpflichtet hätten, die Preise um 10 bis 12 DM pro 100 kg zu erhöhen (vgl. oben, Rn. 60).
72 Außerdem bringt die Klägerin vor, Herr DS. habe lediglich gegenüber Vertretern von Sasol auf sein fehlendes Interesse hingewiesen. Der Hinweis auf die in Rede stehende Maßnahme und den Zeitpunkt der von Eni geplanten Preiserhöhung in zwei Vermerken, die unabhängig voneinander von zwei Unternehmen erstellt wurden und den Inhalt der Gespräche bei diesem technischen Treffen wiedergeben, weist darauf hin, dass die anderen Teilnehmer der Auffassung waren, Eni nehme an den Vereinbarungen über den Wettbewerb teil. Daher ist das Vorbringen der Klägerin, sie habe sich offen vom wettbewerbswidrigen Inhalt dieses technischen Treffens distanziert, zurückzuweisen.
Ergebnis zur Beteiligung der Klägerin am Kartell am 30. und 31. Oktober 1997
73 Nach alledem ist festzustellen, dass die Klägerin am 30. und 31. Oktober 1997 an einem technischen Treffen teilnahm, dessen Inhalt unter den Hauptteil der Zuwiderhandlung fiel, nämlich unter die Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen betreffend Preisfestsetzungen sowie den Austausch und die Offenlegung von geschäftlich sensiblen Informationen über Paraffinwachse. Neben den unmittelbaren Beweisen, die die Beteiligung der Klägerin an den Vereinbarungen zur Preisfestsetzung für Paraffinwachse belegen, ist festzustellen, dass sie sich nicht offen vom wettbewerbswidrigen Inhalt dieses technischen Treffens distanziert hat. Folglich hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass die Klägerin am 30. und 31. Oktober 1997 am ersten Teil der Zuwiderhandlung beteiligt war.
74 Das weitere Vorbringen der Klägerin vermag diese Feststellung nicht in Frage zu stellen.
75 Was die fehlende Einladung der Klägerin durch Sasol zu den weiteren technischen Treffen und die Auflösung ihrer Mitgliedschaft in der EWF anbelangt, genügt der Hinweis, dass die angefochtene Entscheidung die Tatsache, dass Eni zu den weiteren technischen Treffen nicht eingeladen wurde, in der Feststellung der Dauer der Zuwiderhandlung zutreffend widerspiegelt. Die Kommission hat nämlich lediglich festgestellt, dass Eni sich am 30. und 31. Oktober 1997 am Kartell beteiligt habe, ohne dem einen zusätzlichen Zeitraum nach dem in Rede stehenden technischen Treffen hinzuzufügen.
76 Gleiches gilt für das Argument der Klägerin, die Kommission habe sich hinsichtlich der Maßnahme getäuscht, mit der sie ihre Preise nach dem technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 erhöht habe. Da für den Zeitraum vom 1. November 1997 bis zum 20. Februar 2002 die Beteiligung von Eni am Kartell nicht festgestellt wurde, kann das Vorbringen zur Maßnahme der Preiserhöhung durch Eni am 1. Januar 1998 die Stichhaltigkeit der Feststellung ihrer Beteiligung am Kartell am 30. und 31. Oktober 1997 nicht in Frage stellen, die durch die der Kommission vorliegenden Beweise eindeutig bestätigt wird.
77 Schließlich kann das Vorbringen der Klägerin zu einer fehlerhaften Feststellung ihrer Beteiligung an einer fortdauernden Vereinbarung oder einer fortdauernden abgestimmten Verhaltensweise aufgrund ihrer Anwesenheit beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 ebenso wenig durchgreifen. Das Adjektiv „fortdauernd“ wird in Art. 1 der angefochtenen Entscheidung wegen der Feststellung längerer Zeiträume der Beteiligung am Kartell auf der Grundlage einer regelmäßigen Anwesenheit der betroffenen Unternehmen bei den technischen Treffen verwendet. Im Fall von Eni wird ihre Beteiligung an einer fortdauernden Vereinbarung oder einer fortdauernden abgestimmten Verhaltensweise für den Zeitraum vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 festgestellt. Dagegen konnte die Kommission die Beteiligung von Eni am Kartell am 30. und 31. Oktober 1997 auf der Grundlage von unmittelbaren Beweisen zu dem betreffenden technischen Treffen feststellen, ohne dass sie die Merkmale des Begriffs der fortdauernden Zuwiderhandlung erfüllen musste.
78 Nach alledem ist die Feststellung der Kommission zu bestätigen, wonach die Klägerin am 30. und 31. Oktober 1997 an der Zuwiderhandlung beteiligt war.
Zur Beteiligung von Eni an der Zuwiderhandlung vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005
79 Die Klägerin erkennt an, vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 an zehn technischen Treffen teilgenommen zu haben. Sie ist jedoch der Auffassung, die Kommission habe aus der Anwesenheit bei diesen technischen Treffen nicht schließen dürfen, dass sie an einer Vereinbarung oder einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise zur Preisfestsetzung (erster Teil) oder am Austausch sensibler Informationen (zweiter Teil) beteiligt gewesen sei.
Zur fehlenden Beteiligung von Eni an einer Vereinbarung oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweise zur Festsetzung der Preise für Paraffinwachse
– Prüfung der Beweismittel
80 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe ihre Beteiligung an einer Vereinbarung oder einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise zur Festsetzung der Preise für Paraffinwachse nicht nachgewiesen.
81 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission über Beweise verfügt, die belegen, dass bei den technischen Treffen in der Regel zumindest eine Diskussion über die Preise geführt wurde.
82 Nach der Erklärung von Sasol vom 12. Mai 2005 führten die technischen Treffen im Allgemeinen zu einem wettbewerbswidrigen Verhalten, da Preiserhöhungen oder ‑ermäßigungen für Paraffinwachse erörtert wurden und Informationen zu den Bruttopreisen und zu Planungen hinsichtlich der Kapazitäten ausgetauscht wurden.
83 Nach der Erklärung von Repsol vom 19. Mai 2005 war ein Gespräch über die Höhe der von den Teilnehmern angewandten Preise für Paraffinwachse Bestandteil der technischen Treffen.
84 Shell erklärte, dass es bei allen technischen Treffen um Preisfestsetzung gegangen sei. Laut ihrer Erklärung vom 14. Juni 2006 sind mindestens ab 1999, dem Beginn der Teilnahme ihres berichtenden Vertreters an den technischen Treffen, die Preise für Paraffinwachs niemals einseitig bestimmt, sondern immer bei den technischen Treffen durch die Konkurrenten vereinbart worden.
85 Außerdem haben dieselben Unternehmen in diesen Erklärungen auch bestätigt, dass sich die Teilnehmer bei mehreren technischen Treffen tatsächlich über Mindestpreise oder Preiserhöhungen, manchmal sogar über die Maßnahmen zur Erhöhung verständigt hätten.
86 Diese Erklärungen, auf die die Kommission im Übrigen insbesondere in den Erwägungsgründen 107 und 113 der angefochtenen Entscheidung Bezug nimmt, wurden auf der Grundlage von Zeugenaussagen von Personen, die an den technischen Treffen teilgenommen hatten, nach reiflicher Überlegung abgegeben und belasten auch die Unternehmen, in deren Namen sie erfolgten. Außerdem stimmen die Erklärungen im Großen und Ganzen mit der Beschreibung der Zuwiderhandlung überein, was ihre Glaubwürdigkeit noch weiter erhöht. Somit sind sie im Sinne der oben in Rn. 47 angeführten Rechtsprechung besonders verlässlich.
87 Außerdem wird in den oben in den Rn. 82 bis 84 angeführten Erklärungen sowie in anderen Erklärungen, auf die die Erwägungsgründe 107, 109, 111 und 113 der angefochtenen Entscheidung verweisen und von denen die Kommission auf eine schriftliche Frage des Gerichts Auszüge vorgelegt hat, auf die Anwesenheit von Eni bei den fraglichen technischen Treffen und die Teilnahme ihres Vertreters an den dort geführten Gesprächen Bezug genommen.
88 Die Klägerin macht dagegen geltend, die Kommission habe die Passage in der Erklärung von Shell vom 14. Juni 2006 nicht berücksichtigt, nach der, „was die beim technischen Treffen vereinbarten Preise betrifft, [Herr S.] nicht weiß, ob Eni und Repsol, die während der technischen Treffen eine eher passive Rolle spielten, dem vereinbarten Zeitpunkt und Betrag der Preiserhöhung zustimmten“. Die Klägerin schließt daraus, es gebe keinen Beweis dafür, dass sie die bei den technischen Treffen erzielten Preisvereinbarungen beachtet habe.
89 Es ist darauf hinzuweisen, dass Shell in derselben Erklärung auch Eni unter den Unternehmen nennt, die sich auf Preiserhöhungen und Mindestpreise geeinigt hätten. Laut dieser Erklärung schickten MOL, Repsol und Eni im Anschluss an die technischen Treffen keine Schreiben mit Preiserhöhungen an die Kunden, sondern teilten die Preiserhöhungen vielmehr mündlich mit.
90 Diese Erklärung ist daher Teil der Reihe von Beweisen, die die Beteiligung von Eni am Kartell und insbesondere an Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse belegen. Die fehlende Gewissheit von Herrn S. von Shell über die Modalitäten der Umsetzung der Vereinbarungen durch Eni kann den anderen Feststellungen, die die Beteiligung von Eni an solchen Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen betreffen, ihren Beweiswert nicht nehmen.
91 Als Zweites ist festzustellen, dass die oben in den Rn. 82 bis 84 genannten Erklärungen durch handschriftliche Vermerke aus der Zeit der technischen Treffen untermauert werden, die die Kommission bei ihren Nachprüfungen vorgefunden hat und die der Klägerin während des Verwaltungsverfahrens zugänglich waren; ein Teil von ihnen ist u. a. in den Erwägungsgründen 165 und 177 der angefochtenen Entscheidung angeführt. Was den im 165. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung angeführten Vermerk von Eni anbelangt, handelt es sich um ein Dokument aus dem Zeitraum der Zuwiderhandlung, das in tempore non suspecto, d. h. kurz nach dem jeweiligen technischen Treffen erstellt worden ist. Somit ist sein Beweiswert hoch. Der im 177. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung angeführte MOL-Vermerk ist eine handschriftliche Notiz, die während der Treffen von einem Teilnehmer gemacht wurde, und er ist strukturiert und ziemlich detailliert. Folglich kommt ihm ein sehr hoher Beweiswert zu.
92 Was erstens den Inhalt des Vermerks von Eni zum technischen Treffen vom 21. und 22. Februar 2002 anbelangt, zitiert die Kommission im 165. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung folgenden Passus:
„Das in einem sehr offenen Gesprächsklima verlaufene Treffen hat – auch unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den einzelnen Märkten und den verschiedenen Produkt- und Marketingstrategien – bestätigt, dass die Einnahmen im Einklang mit den bereits von uns ergriffenen Maßnahmen weiter erhöht werden können. Wir können daher fortfahren, unsere Verträge und relativen Preise einer Überprüfung zu unterziehen, wovon naturgemäß unsere großen Kunden/Vertriebshändler von Paraffin betroffen sind.“
93 Der angefochtenen Entscheidung zufolge ist mit dem Inhalt dieses Vermerks nachgewiesen, dass sich die Teilnehmer mit dem Preisniveau für Paraffinwachse befassten.
94 Diese Auslegung ist zu bestätigen. Dass in dem Vermerk von Eni die Überprüfung der Preise als Maßnahme genannt wird, die im Licht der bei dem Treffen geführten Gespräche fortzuführen ist, zeigt nämlich, dass die Teilnehmer bei dem Treffen Informationen über die Preise ausgetauscht haben. Dies wird im Übrigen durch die Erklärung von Shell vom 30. März 2005 bestätigt, in der das betreffende technische Treffen in der Liste mit dem Titel „Overview of meetings and communications concerning prices“ (Überblick über die Treffen und Informationsaustausche über die Preise) aufgeführt ist.
95 Die Klägerin macht geltend, ihr fraglicher Vermerk weise nach, dass sie ihre Geschäftsstrategie unabhängig von den technischen Treffen festgelegt habe. Wie sich nämlich aus dem letzten Teil des oben in Rn. 92 wiedergegebenen Auszugs ergebe, habe sie bereits vor jeglichem Kontakt mit ihren europäischen Wettbewerbern entschieden, ihre Geschäftsstrategien zu verändern.
96 Das Gericht ist der Ansicht, dass diese Auslegung im Hinblick auf den Wortlaut des fraglichen Auszugs nicht plausibel ist.
97 Die Bestätigung von Eni, dass die Einnahmen erhöht werden könnten, da sie aufgrund der Informationen, die sie bei dem „in einem sehr offenen Gesprächsklima verlaufene[n] Treffen“ erhalten hatte, dessen Wettbewerbswidrigkeit unabhängig voneinander von Shell und Sasol anerkannt wurde, fortfahren könne, die „Verträge und relativen Preise einer Überprüfung zu unterziehen“, deutet ohne vernünftigen Zweifel darauf hin, dass die von Eni bei dem technischen Treffen erhaltenen Informationen über die Preise für sie nützlich waren und ihr Geschäftsverhalten beeinflussen konnten.
98 Zweitens ist der im 177. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung angeführte MOL-Vermerk zum technischen Treffen vom 23. und 24. Februar 2005 in Hamburg, bei dem Eni anwesend war, zu prüfen.
99 Dieser Vermerk enthält folgende Angaben:
„ExxonMobil
[=] 1. April
€ 15/t
Shell
Preis angehoben
Sasol
[= 12. April]
Preiserhöhung ...“
100 Sasol hat erklärt, dass über eine Preiserhöhung gesprochen worden sei und dass sie den anderen Teilnehmern ihre eigene Preiserhöhung mitgeteilt habe. In den Erklärungen, auf die in der angefochtenen Entscheidung verwiesen wird, haben sowohl Shell als auch Sasol dieses Treffen als kollusiv eingestuft.
101 Auf dieser Grundlage ist festzustellen, dass die Kommission über handschriftliche Vermerke verfügt, die aus der Zeit des zur Last gelegten Sachverhalts stammen und die Vereinbarungen oder die aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse während der technischen Treffen betreffen, bei denen Eni anwesend war.
– Zur Anwesenheit von Eni bei den wettbewerbswidrigen Treffen und zur fehlenden Distanzierung
102 Nach der angefochtenen Entscheidung war die Klägerin während des größten Teils ihrer Beteiligung an der Zuwiderhandlung, nämlich zwischen dem 21. Februar 2002 und dem 28. April 2005, bei elf der 13 technischen Treffen durch Herrn MO. vertreten. Die Klägerin räumt ihre Anwesenheit bei zehn technischen Treffen ein, bestreitet jedoch ihre Teilnahme an dem vom 27. und 28. Februar 2003 in München.
103 Es steht daher fest, dass die Klägerin an zehn der 13 technischen Treffen teilnahm, die zwischen dem 21. Februar 2002 und dem 28. April 2005 stattfanden.
104 Nach der oben in den Rn. 69 und 70 angeführten Rechtsprechung genügt es zum Nachweis der Teilnahme eines Unternehmens am Kartell, wenn die Kommission dartut, dass das Unternehmen an Treffen teilnahm, bei denen wettbewerbswidrige Vereinbarungen geschlossen wurden. Ist die Teilnahme an solchen Zusammenkünften erwiesen, obliegt es dem fraglichen Unternehmen, Indizien vorzutragen, die zum Beweis seiner fehlenden wettbewerbswidrigen Einstellung bei der Teilnahme an den Zusammenkünften geeignet sind, und nachzuweisen, dass es seine Wettbewerber darauf hingewiesen hat, dass es mit einer anderen Zielsetzung als diese an den Zusammenkünften teilgenommen hat. Diese Regel beruht auf der Erwägung, dass das Unternehmen, indem es an der fraglichen Sitzung teilnahm, ohne sich offen von deren Inhalt zu distanzieren, den anderen Teilnehmern Anlass zu der Annahme gab, dass es dem Ergebnis der Sitzung zustimme und sich daran halten werde.
105 Im vorliegenden Fall behauptet die Klägerin aber nicht, dass sie sich offen vom Inhalt der wettbewerbswidrigen Treffen distanziert hätte.
106 Das Vorliegen von unmittelbaren Beweisen für das Bestehen von Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bei den technischen Treffen, an denen die Klägerin teilnahm, ohne sich von ihrem wettbewerbswidrigen Inhalt zu distanzieren, ist für sich genommen hinreichend, um ihre Verantwortlichkeit wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG zu begründen.
107 Im vorliegenden Fall verfügt die Kommission jedoch über eine Reihe von Beweisen, die belegen, dass bei den technischen Treffen, an denen die Klägerin teilnahm, Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen erfolgten, die darauf abzielten, auf dem Markt für Paraffinwachse Preise festzusetzen sowie geschäftlich sensible Informationen auszutauschen und offenzulegen.
– Zum behaupteten fehlenden Interesse der Klägerin, sich an Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse zu beteiligen
108 Die Klägerin macht geltend, sie habe kein Interesse an der Beteiligung am Kartell gehabt. Da sie ausschließlich auf dem italienischen Markt für Paraffinwachse tätig sei, der durch eine Nachfrage gekennzeichnet sei, die die heimische Erzeugung deutlich übersteige, sei es ihr immer gelungen, ihre gesamte Produktion auf diesem Markt abzusetzen. Außerdem seien 60 % bis 70 % ihrer Produktion für ihre wichtigsten Kunden, den Wiederverkäufer SIMP und den Verarbeiter SER, bestimmt gewesen, mit denen die geschäftlichen Beziehungen jeweils seit dem 1. Januar 2004 und dem 1. Januar 2005 durch Verträge geregelt gewesen seien, die „Preisformeln [vorsahen], die an die Kursnotierungen in den offiziellen Nachrichtenblättern von ICIS-LOR gebunden sind“, wobei sich diese Formeln mittelbar oder unmittelbar auf die Durchschnittspreise für Paraffinwachse „Chinese Origin CIF NWE“ (cif-Preis NWE für Erzeugnisse mit Ursprung in China) gründeten.
109 Daher habe sie kein Interesse an der Beteiligung an einer Kollusion mit den anderen europäischen Herstellern gehabt, da sie keinen Vorteil aus der gemeinsamen Festsetzung der Preise auf hohem Niveau habe ziehen können, die sie tatsächlich nicht hätte anwenden können. Das Hauptproblem für das Geschäft von Eni habe im Zusammenhang mit der Durchlässigkeit Italiens für chinesische Billigeinfuhren gestanden, dem das Kartell in keiner Weise hätte abhelfen können.
110 Außerdem habe Eni kein Interesse gehabt, sich an einer Kollusion mit dem Ziel einer allgemeinen Preiserhöhung auf den nationalen Märkten der Kartellmitglieder zu beteiligen, da sie keine Kapazitäten für Ausfuhren in andere Mitgliedstaaten gehabt habe. Ebenso hätten die konkurrierenden Hersteller keinen Bedarf an einer Vereinbarung mit Eni gehabt, um eine Erhöhung ihrer Verkaufspreise in Italien festzusetzen, da der italienische Markt Paraffinwachse aus dem Ausland benötigt habe.
111 Insoweit genügt der Hinweis, dass nach der Rechtsprechung die Frage, ob der Abschluss der Übereinkunft oder die Verfolgung der abgestimmten Verhaltensweise im wirtschaftlichen Interesse der betreffenden Unternehmen lag, für das Vorliegen der Zuwiderhandlung unerheblich ist. Eine solche Argumentation der Klägerin kann das Gericht nicht dazu veranlassen, gegenüber der Kommission strengere Anforderungen an die vorzulegenden Beweise zu stellen. Wenn es nämlich der Kommission gelungen ist, Urkundenbeweise für die behauptete Zuwiderhandlung zu sammeln, die gemeinsam mit den Erklärungen der Unternehmen ausreichend erscheinen, um die Existenz einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung zu belegen, wie im vorliegenden Fall, braucht nicht geprüft zu werden, ob das betreffende Unternehmen ein wirtschaftliches Interesse an der fraglichen Vereinbarung hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil Sumitomo Metal Industries und Nippon Steel/Kommission, oben in Rn. 69 angeführt, Rn. 44 bis 46).
112 Außerdem ist das Vorbringen der Klägerin aufgrund der Tatsache, dass sie regelmäßig, über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren, an den technischen Treffen teilnahm, deren wettbewerbswidriger Inhalt unabhängig voneinander von vier am Kartell beteiligten Unternehmen anerkannt wurde, nicht plausibel. Die Klägerin erklärt nicht, warum ein vernünftiger Wirtschaftsteilnehmer veranlasst sein könnte, an den rechtswidrigen Verhaltensweisen teilzunehmen und dadurch die Verhängung einer erheblichen Geldbuße zu riskieren, wenn er keine Aussicht darauf hat, aus den in Rede stehenden Vereinbarungen Vorteile zu ziehen.
113 Außerdem wird das Vorbringen der Klägerin, sie habe kein Interesse an der Beteiligung am Kartell gehabt, unmittelbar durch ihren Vermerk über das oben in Rn. 92 angeführte technische Treffen vom 21. und 22. Februar 2002 widerlegt, aus dem sich ergibt, dass sie im Licht der bei dem fraglichen technischen Treffen geführten Gespräche erwartete, ihre Einnahmen aufgrund der „Überprüfung“ der Preise erhöhen zu können.
114 Dieses Vorbringen ist daher zurückzuweisen.
– Zur alternativen Erklärung der Klägerin
115 Die Klägerin macht geltend, dass ihre Teilnahme an den technischen Treffen nur durch ihre strategische Entscheidung, ihre internationale Isolation zu beenden und durch die Wiederaufnahme der Kontakte zur EWF Beziehungen mit den wesentlichen europäischen Marktteilnehmern zu knüpfen, sowie durch ihr Interesse an technischen Fragen, insbesondere zu den Merkmalen der Paraffin-Produkte, gerechtfertigt gewesen sei.
116 Nach der oben in Rn. 41 angeführten Rechtsprechung haben die betroffenen Unternehmen in den Fällen, in denen sich die Kommission auf Urkundenbeweise stützt, nicht bloß eine plausible Alternative zur Darstellung der Kommission darzutun, sondern müssen außerdem aufzeigen, dass die in der angefochtenen Entscheidung angeführten Beweise für den Nachweis der Zuwiderhandlung nicht hinreichen.
117 Die Klägerin bringt jedoch nichts vor, um die Richtigkeit und die Relevanz der Erklärungen von Unternehmen und der von der Kommission gesammelten handschriftlichen Vermerke aus der Zeit des zur Last gelegten Sachverhalts, auf die die Feststellung der Beteiligung von Eni an den Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse sich gründet, zu widerlegen.
118 Daher kann die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht durch die bloße Behauptung nachgewiesen werden, das Interesse der Klägerin an der Teilnahme an den technischen Treffen sei nur durch ihren Wunsch gerechtfertigt gewesen, internationale Kontakte herzustellen und technische Gespräche zu verfolgen.
119 Außerdem erklärt die Klägerin in keiner Weise, warum ihr Vertreter die technischen Treffen nicht verließ, wenn im Anschluss an die technischen Gespräche der wettbewerbswidrige Inhalt besprochen wurde.
120 Überdies deutet der Vermerk von Eni zum technischen Treffen vom 21. und 22. Februar 2002 (vgl. oben, Rn. 92 ff. und Rn. 113) ohne vernünftigen Zweifel darauf hin, dass Eni bei der Überprüfung ihrer Preise, um ihre Einnahmen zu erhöhen, den wettbewerbswidrigen Inhalt dieses technischen Treffens berücksichtigte. Dieser Umstand für sich genommen widerlegt das Vorbringen, wonach der einzige Grund ihrer Anwesenheit ihr Interesse an technischen Gesprächen zu den Paraffinwachsen gewesen sei.
121 Dieses Vorbringen der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
– Zum behaupteten Fehlen einer Willensübereinstimmung
122 Die Klägerin macht geltend, sie könne für eine Vereinbarung zur Festsetzung der Preise mangels Willensübereinstimmung mit den anderen Kartellmitgliedern nicht zur Verantwortung gezogen werden.
123 Ihr Vertreter, Herr MO., sei sich völlig im Klaren darüber gewesen, dass es aufgrund des Wettbewerbsdrucks durch die chinesischen Produkte und der Tatsache, dass 60 % bis 70 % des Absatzes der Klägerin an zwei Käufer erfolgt seien (SIMP und SER), denen gegenüber die Preise nach Maßgabe der in den Nachrichtenblättern von ICIS-LOR veröffentlichten internationalen Notierungen festgesetzt gewesen seien, für Eni unmöglich gewesen wäre, ihre Preise im von den anderen Kartellbeteiligten gewünschten Sinne zu erhöhen. Die Erhöhungen hätten auch nicht auf einige unmittelbar von Eni belieferte Endabnehmer angewandt werden können, da diese die Möglichkeit gehabt hätten, sich bei SIMP zu versorgen.
124 Erstens stellte insoweit nach der Erklärung von Shell vom 14. Juni 2006 der Wettbewerbsdruck durch die chinesischen Hersteller eine Sorge aller Kartellbeteiligten dar, und es war einer der Gründe für die Festsetzung der Mindestpreise sowie der geringen Preiserhöhungen, diesem Druck entgegenzuwirken. Daher stellte dieser nicht nur eine Sorge der Klägerin dar, was ein Hindernis für eine gemeinsame Willensbildung gewesen wäre, sondern vielmehr eine alle Beteiligten betreffende Entwicklung des Marktes, die ihre Annäherung begünstigen konnte.
125 Außerdem deckte die Klägerin nach ihrem Vorbringen nur 60 % bis 65 % des Absatzes in Italien, einschließlich der von ihr hergestellten und sodann von SIMP und SER weiterverkauften oder verarbeiteten Paraffinwachse. Nach ihren eigenen Angaben stammten zwischen 18 % und 33 % der in Italien zwischen 2002 und 2004 verkauften Paraffinwachse von Herstellern mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten der Union. Überdies waren auch die Direktverkäufe von Eni an andere italienische Kunden als SER und SIMP erheblich, nämlich 20 % oder 22 % des italienischen Marktes.
126 Somit stand die Klägerin hinsichtlich der Direktverkäufe an italienische Endabnehmer nicht nur mit SIMP, SER oder den chinesischen Herstellern, sondern auch mit den anderen Herstellern in der Union in Wettbewerb. Fast alle bedeutenden europäischen Hersteller nahmen jedoch am Kartell teil. Wie nämlich die Kommission in den Erwägungsgründen 67 und 68 der angefochtenen Entscheidung feststellt, belief sich der gemeinsame Anteil der Kartellmitglieder auf 75 % des Paraffinwachsmarktes im EWR; der restliche Markt wurde weitgehend durch Einfuhren aus China gedeckt.
127 Ferner hat Eni in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass sie an einer Aufteilung der geografischen Märkte im Rahmen des Kartells nicht teilgenommen habe, da die „anderen europäischen Hersteller“ in Italien verkauft hätten. Eni hat daher mittelbar zugegeben, dass die anderen Kartellmitglieder Verkäufe in Italien tätigten. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Kartellmitglieder die Produktion im EWR beherrschten und dass 18 % bis 33 % der in Italien verkauften Paraffinwachse von europäischen Herstellern stammten.
128 Zumindest musste Eni damit rechnen, dass die italienische Nachfrage nach Paraffinwachsen, die sie nicht decken konnte, von den anderen Kartellmitgliedern gedeckt würde, so dass zwischen diesen und Eni ein Wettbewerbsverhältnis bestand. Außerdem hatten die Kartellmitglieder durch ihr abgestimmtes Verhalten aufgrund der Größe ihres gemeinsamen Marktanteils klar einen maßgebenden Einfluss auf die Höhe der Preise für Paraffinwachse im EWR. Unter diesen Umständen kann die Klägerin die möglichen Vorteile, die sie aufgrund ihrer Beteiligung am Kartell erwarten konnte, nicht leugnen.
129 Ebenso wenig kann das Vorbringen der Klägerin zum Wettbewerbsdruck durch SIMP durchgreifen. Da 75 % der Verkäufe von Paraffinwachsen im EWR und der ganz überwiegende Teil der Produktion vom Kartell umfasst waren, konnte die allgemeine Erhöhung der Preise für Paraffinwachse im EWR aufgrund des Kartells die Preise beeinflussen, zu denen SIMP sich bei anderen Herstellern als der Klägerin mit diesen Wachsen versorgen konnte, was seinerseits die von SIMP gegenüber ihren Kunden verlangten Preise beeinflussen konnte. Daher konnte die Klägerin logischerweise erwarten, dass eine allgemeine Erhöhung der Preise für Paraffinwachse wegen des Kartells für sie vorteilhaft sein konnte.
130 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Indexierung der Preise der Klägerin gegenüber SIMP nach den Notierungen auf der Grundlage der Durchschnittspreise für Paraffinwachse „Chinese Origin CIF NWE“ erst am 1. Januar 2004 begann. Außerdem begann die Indexierung der Preise der Klägerin gegenüber SER, die sich auf „den besten Preis des besten Vertriebshändlers“ gründete, am 1. Januar 2005. Daraus ergibt sich, dass die Klägerin die kommerziellen Beschränkungen aus ihren Vereinbarungen mit SIMP und SER stark übertrieben darstellt. Diese bestanden nämlich nur in den letzten Monaten der Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung gleichzeitig, vom 1. Januar bis zum 28. April 2005. Da das Kartell den ganz überwiegenden Teil der Produktion von Paraffinwachsen im EWR und 75 % der Verkäufe umfasste, ist überdies die Annahme plausibel, dass es Auswirkungen auf das allgemeine Preisniveau (einschließlich der „besten Angebote“) hatte, und somit auf die sich aus der angeführten Indexierung ergebenden, von der Klägerin verlangten Preise.
131 Daher können die Argumente der Klägerin nicht überzeugen.
132 Zweitens ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass das Vorbringen zum fehlenden Interesse an der Beteiligung am Kartell, einschließlich des Vorbringens zum fehlenden Willen zum Abschluss rechtswidriger Vereinbarungen in Anbetracht der behaupteten praktischen Unmöglichkeit, sich diesen entsprechend zu verhalten, nicht rechtfertigen kann, dass das Gericht von der Kommission Beweise verlangt, die über das hinausgehen, was für den Nachweis der Beteiligung am Kartell nach der oben in den Rn. 30 bis 50, 69 und 70 angeführten Rechtsprechung hinreichend ist. Im vorliegenden Fall hat die Kommission jedoch ihre Feststellung betreffend die Beteiligung der Klägerin am ersten Teil der Zuwiderhandlung vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 und insbesondere an den Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse hinreichend nachgewiesen.
133 Ebenso genügt es nach der oben in Rn. 27 angeführten Rechtsprechung für den Nachweis einer gegen Art. 81 EG verstoßenden Vereinbarung, wenn hinsichtlich der Wettbewerbsbeschränkung als solcher ein übereinstimmender Wille vorliegt, selbst wenn die einzelnen Bestandteile der beabsichtigten Beschränkung noch Gegenstand von Verhandlungen sind. Folglich greift das Vorbringen der Klägerin, es sei für sie unmöglich gewesen, die bei den technischen Treffen beschlossenen Preiserhöhungen umzusetzen, nicht durch, da ein übereinstimmender Wille hinsichtlich der Festsetzung oder Abstimmung der Preise dem Grundsatz nach oder sogar hinsichtlich der Ausübung eines künstlichen Einflusses auf ihre Höhe hinreichend ist, um einen übereinstimmenden Willen der Beteiligten im Sinne der angeführten Rechtsprechung festzustellen. Die Klägerin trägt jedoch kein spezifisches Argument vor, um die Erklärungen von Sasol, Repsol und Shell, nach denen das Ziel der technischen Treffen die Festsetzung von Preisen gewesen sei, zurückzuweisen.
134 Das Vorbringen der Klägerin betreffend ihren fehlenden Willen zum Abschluss von Vereinbarungen zur Festsetzung der Preise für Paraffinwachse ist daher zurückzuweisen.
– Zur behaupteten Nichtbeteiligung an einer abgestimmten Verhaltensweise
135 Die Klägerin ist der Auffassung, die Kommission habe ihre Beteiligung an einer abgestimmten Verhaltensweise zur Festsetzung der Preise für Paraffinwachse nicht nachweisen können.
136 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission über unmittelbare Beweise verfügt, die in Erklärungen von am Kartell beteiligten Unternehmen und handschriftlichen Vermerken bestehen, aus denen hervorgeht, dass die technischen Treffen, bei denen die Klägerin anwesend war, zu Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse führten.
137 Ferner ergibt sich aus diesen Beweisen, dass die Beteiligten über einen Zeitraum von mehr als zwölf Jahren, der den Zeitraum der Beteiligung von Eni umfasste, bei technischen Treffen regelmäßig Informationen über ihre Preise und vorgesehene Erhöhungen austauschten. Die Klägerin hat aber keine schlüssige Erklärung in Bezug auf diese Aktivitäten abgegeben, die die Aussage der Kommission in Frage stellen könnte, dass das Ziel dieses Verhaltens insbesondere die Festsetzung der Preise gewesen sei. Vielmehr stellt der lange Zeitraum, in dem systematisch Treffen abgehalten wurden, als solcher ein Indiz für den Nachweis dar, dass die Beteiligten das Ziel verfolgten, ihre Preispolitik aufeinander abzustimmen, indem sie bewusst eine gegenseitige Kooperation an die Stelle der Risiken des Marktes treten ließen.
138 Zweitens ist die Klägerin gleichwohl der Auffassung, in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte den Beweis geliefert zu haben, dass ihre Preisstrategien von den Entscheidungen bei den technischen Treffen unabhängig gewesen seien. Daher hätte die Kommission im 298. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung nicht feststellen dürfen, dass Eni „die über das Verhalten [ihrer] Wettbewerber auf dem Markt erhaltenen Informationen berücksichtigt und [ihr] eigenes Verhalten unter Einführung der betreffenden Schritte entsprechend angepasst hat“.
139 Dazu legt die Klägerin eine Tabelle über die Entwicklung der Preise ihrer Verkäufe an SIMP betreffend das Paraffin „133“ von 2002 bis 2005 vor. Sie schließt daraus, dass keine zeitliche Übereinstimmung zwischen den bei den technischen Treffen festgesetzten Preisen und ihren Preisänderungen bestanden habe und dass die Erhöhung ihrer Preise von 542 Euro am 1. Januar 2002 auf 588 Euro am 1. April 2005 niedriger als die Inflation sei und nicht das Ergebnis der Umsetzung einer Kollusion mit dem Ziel einer Festsetzung der Preise sein könne. Außerdem habe sie ab dem 1. Januar 2004 ihre Verkaufspreise gegenüber SIMP unter Bezugnahme auf „den Durchschnitt der mittleren monatlichen Notierungen des Paraffins ‚Chinese Origin CIF NWE‘ in den Nachrichtenblättern von ICIS-LOR des Vormonats“ festgesetzt. In der Folge sei eine gleichlautende Vereinbarung auf die Verkäufe an SER angewandt worden. Somit habe die behauptete abgestimmte Verhaltensweise den absolut überwiegenden Anteil (60 % bis 70 %) ihrer Produktion, der Gegenstand von Übereinkommen mit den Gesellschaften SIMP und SER gewesen sei, nicht betreffen können.
140 Erstens ist festzustellen, dass die von der Klägerin vorgelegte Tabelle eine sehr selektive Darstellung der Entwicklung ihrer Preise ist. Sie enthält nämlich nur Informationen über Paraffin „133“, eine der zahlreichen von Eni vertriebenen Arten von Paraffinwachsen. Überdies handelt es sich um die gegenüber SIMP ‐ einer Gesellschaft, die laut der Klägerin selbst eine erhebliche Kaufkraft besaß und daher die Möglichkeit hatte, bei Eni günstige Einkaufsbedingungen zu erhalten ‐ angewandten Preise. Die Tabelle enthält keine Angabe zur Entwicklung der Preise von Eni gegenüber ihren Endabnehmern, die logischerweise den sich aus dem Kartell ergebenden Preismanipulationen am meisten ausgesetzt waren.
141 Zweitens kann die Klägerin der Kommission nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass keine Korrelation zwischen den verfügbaren Informationen über die technischen Treffen und der in der Klageschrift enthaltenen Tabelle bestehe.
142 Es ergibt sich nämlich aus mehreren oben zitierten Erklärungen, dass die bei den technischen Treffen vereinbarten Preiserhöhungen im Allgemeinen gegenüber den Kunden nicht vollständig angewandt werden konnten. Shell erklärt, dass ungefähr zwei Drittel der vereinbarten Preiserhöhungen umgesetzt werden konnten. Außerdem gibt es in den Akten mehrere Hinweise darauf, dass die Teilnehmer die vereinbarten Preiserhöhungen oft überhaupt nicht umsetzen konnten.
143 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass nach der oben in Rn. 42 angeführten Rechtsprechung Kartelle betreffende Beweise normalerweise lückenhaft und vereinzelt sind. Da die Kommission nicht über detaillierte Beweise zum Inhalt der Diskussionen, die bei jedem technischen Treffen geführt wurden, verfügte, kann die Klägerin kein stichhaltiges Argument aus der behaupteten fehlenden Entsprechung der Entwicklung ihrer Preise für den Verkauf von Paraffin „133“ an SIMP mit dem Teil des Inhalts der technischen Treffen, der von der Kommission rekonstruiert werden konnte, ableiten, umso mehr als es große Preisunterschiede bei den verschiedenen Paraffinwachsprodukten gab und die Kunden natürlich versuchten, sich den Erhöhungen zu widersetzen.
144 Drittens lässt sich nach der Rechtsprechung schon daraus, dass die Unternehmen die vereinbarten Preiserhöhungen tatsächlich ankündigten und dass die angekündigten Preise als Grundlage für die Bestimmung der individuellen tatsächlichen Transaktionspreise dienten, ableiten, dass die Preisabsprache eine schwere Wettbewerbsbeschränkung sowohl bezweckte als auch bewirkte (Urteil des Gerichts vom 14. Mai 1998, Cascades/Kommission, T-308/94, Slg. 1998, II-925, Rn. 194). In einem solchen Fall ist die Kommission nicht verpflichtet, das Vorbringen der Parteien, mit dem sie nachzuweisen versuchten, dass die fraglichen Vereinbarungen keine Erhöhung der Preise über das Maß hinaus bewirkt hätten, das unter normalen Wettbewerbsbedingungen erreicht worden wäre, im Einzelnen zu prüfen und es Punkt für Punkt zu beantworten (Urteil Bolloré u. a./Kommission, oben in Rn. 50 angeführt, Rn. 451).
145 Wie sich jedoch aus der Prüfung der Beweise im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes ergibt, hat die Kommission rechtlich hinreichend nachgewiesen, dass die kollusiven Verhaltensweisen im vorliegenden Fall die Festsetzung von Preisen für Paraffinwachse betrafen und dass das Ergebnis der Treffen, in deren Verlauf Preiserhöhungen diskutiert oder festgesetzt worden waren, häufig durch die Kündigung von Preisen gegenüber Kunden und die Ankündigung von Preiserhöhungen umgesetzt worden war, und dass die so angekündigten Preise ebenso als Grundlage für die Preisfestsetzung bei individuellen Geschäften dienten. Wenn die Teilnehmer im Hinblick auf die Marktbedingungen übereingekommen sind, die Preise aufrechtzuerhalten, ist dies ebenso als Teil der Umsetzung der einzigen, komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung des vorliegenden Falles anzusehen.
146 Daraus folgt, dass die Tabelle über die Entwicklung der Verkaufspreise der Klägerin von Paraffin „133“ gegenüber SIMP von 2002 bis 2005 und ihr Vorbringen in diesem Zusammenhang nicht relevant sind.
147 Nach alledem hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass Eni an Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse teilgenommen hat, und der erste Teil des zweiten Klagegrundes ist zurückzuweisen.
Zur Nichtbeteiligung von Eni an der Vereinbarung oder der abgestimmten Verhaltensweise zum Austausch von Informationen
148 Die Klägerin bestreitet, dass die bei den technischen Treffen ausgetauschten Informationen für sie einen strategischen oder wettbewerbsrelevanten Charakter gehabt hätten. Daher habe sie entgegen der Behauptung der Kommission diese nicht berücksichtigt und ihr Geschäftsverhalten unabhängig von den ausgetauschten Informationen bestimmt. Jedenfalls habe sie keine sensiblen Informationen an die anderen Beteiligten geliefert.
149 Insoweit hat das Gericht bereits entschieden, dass in dem Fall, in dem die Wettbewerber an Treffen teilgenommen haben, in denen sie Informationen u. a. über die Preise austauschten, die nach ihren Wünschen auf dem Markt praktiziert werden sollten, ein Unternehmen durch seine Teilnahme an einem Treffen mit wettbewerbswidrigem Zweck nicht nur das Ziel verfolgte, im Voraus die Ungewissheit über das künftige Verhalten seiner Wettbewerber zu beseitigen, sondern bei der Festlegung der Politik, die es auf dem Markt verfolgen wollte, zwangsläufig auch unmittelbar oder mittelbar die in diesen Treffen erhaltenen Informationen berücksichtigen musste (Urteile des Gerichts vom 24. Oktober 1991, Rhône-Poulenc/Kommission, T-1/89, Slg. 1991, II-867, Rn. 122 und 123, und vom 8. Juli 2008, Knauf Gips/Kommission, T‑52/03, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 276, in diesem Punkt nicht aufgehoben).
150 Ebenso gilt nach der Rechtsprechung vorbehaltlich des den betroffenen Unternehmen obliegenden Gegenbeweises die Vermutung, dass die an der Abstimmung beteiligten und weiterhin auf dem Markt tätigen Unternehmen die mit ihren Wettbewerbern ausgetauschten Informationen bei der Festlegung ihres Marktverhaltens berücksichtigen. Dies gilt umso mehr, wenn die Abstimmung während eines langen Zeitraums regelmäßig stattfindet (Urteil Hüls/Kommission, oben in Rn. 28 angeführt, Rn. 162).
151 Somit ist dieses Vorbringen zurückzuweisen.
152 Die Klägerin weist außerdem auf den hohen Transparenzgrad hin, der im Allgemeinen den Paraffinwachssektor kennzeichne. Die verlangten Durchschnittspreise in den verschiedenen europäischen Ländern seien regelmäßig im Nachrichtenblatt von ICIS-LOR veröffentlicht worden. Daher habe sie kein Interesse daran gehabt, die bei den technischen Treffen übermittelten Informationen zu berücksichtigen.
153 Das der Klageschrift als Anlage beigefügte Nachrichtenblatt von ICIS-LOR vom 30. Januar 2002 enthält Durchschnittspreisklassen für bestimmte Arten von Paraffinwachsen, die sich auf die Marktinformationen betreffend die Entwicklung der Preise im Januar 2002 und einige vage Prognosen über die zukünftige Preisentwicklung gründen, wobei der Redakteur des Nachrichtenblatts den Begriff „Gerücht“ verwendet.
154 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Beteiligten bei den technischen Treffen oft die Preiserhöhungen mitteilten, die sie in der Zukunft, Hersteller für Hersteller, durchführen wollten, und nicht nur den Durchschnitt der Industrie. Außerdem ergibt sich aus den von der Kommission gesammelten Beweisen, dass die Beteiligten einander auch über den Zeitpunkt informierten, zu dem sie den Kunden die neuen Preise ankündigen wollten. Somit waren die bei den technischen Treffen geteilten Informationen unvergleichlich detaillierter und auf die Zukunft statt auf die Vergangenheit bezogen.
155 Folglich kann das von der Klägerin beigefügte Dokument weder die fehlende Nützlichkeit der von den Teilnehmern bei den technischen Treffen ausgetauschten Informationen über die Preise noch die Rechtmäßigkeit dieser Austausche nachweisen, und es ist nicht geeignet, die Vermutung betreffend die Berücksichtigung der bei den technischen Treffen übermittelten Informationen über die Preise durch die Klägerin zu widerlegen.
156 Dieses Vorbringen ist daher ebenfalls zurückzuweisen.
157 Jedenfalls hat der Hauptteil der der Klägerin zur Last gelegten Zuwiderhandlung „in Vereinbarungen und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestand[en], die darauf abzielten, ... Preise festzusetzen, [geschäftlich sensible] Informationen auszutauschen und offenzulegen“. Die Beteiligung der Klägerin an Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die darauf abzielten, Preise festzusetzen, wurde bei der Prüfung des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes umfassend nachgewiesen. Dieser Umstand rechtfertigte für sich genommen die Einstufung der in Rede stehenden Zuwiderhandlung als „besonders schwer“ und daher die verhängte Geldbuße. Überdies brachten diese Verhaltensweisen auch einen Austausch sensibler geschäftlicher Informationen mit sich, nämlich derer über die Preise für Paraffinwachse. Daher können die im Rahmen des vorliegenden Teils vorgetragenen Argumente die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht in Frage stellen.
158 Demzufolge ist die Feststellung der Kommission, dass sich die Klägerin vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 an dem Hauptteil der Zuwiderhandlung beteiligt hat, zu bestätigen, und der zweite Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
2. Zu den Klagegründen betreffend die Berechnung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße
159 Mit der zweiten Gruppe von Klagegründen trägt die Klägerin Rügen und Argumente vor, die sowohl die Rechtmäßigkeit der Berechnung der gegen sie verhängten Geldbuße als auch die Angemessenheit dieser Geldbuße in Frage stellen. Daher betrifft dieses Vorbringen überwiegend, ohne klare Trennung, sowohl die teilweise Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung als auch ihre Abänderung im Rahmen der Ausübung der Befugnis des Gerichts zu unbeschränkter Nachprüfung.
160 Nach der Rechtsprechung wird die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der von der Kommission erlassenen Entscheidungen durch die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ergänzt, die dem Unionsrichter in Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 gemäß Art. 229 EG eingeräumt ist. Diese Befugnis ermächtigt den Richter über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus dazu, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß die verhängte Geldbuße oder das verhängte Zwangsgeld aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen. Die in den Verträgen vorgesehene Kontrolle bedeutet somit – im Einklang mit den Anforderungen des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gemäß Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union –, dass der Unionsrichter sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle vornimmt und befugt ist, die Beweise zu würdigen, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären und die Höhe der Geldbußen zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, C-3/06 P, Slg. 2007, I-1331, Rn. 60 bis 62, und Urteil des Gerichts vom 21. Oktober 2003, General Motors Nederland und Opel Nederland/Kommission, T-368/00, Slg. 2003, II-4491, Rn. 181).
161 Das Gericht hat daher im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zu dem Zeitpunkt, zu dem es seine Entscheidung erlässt, zu bewerten, ob gegen die klägerische Partei eine Geldbuße verhängt wurde, deren Höhe die Schwere und die Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung so zutreffend widerspiegelt, dass diese Geldbuße gemessen an den in Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Kriterien verhältnismäßig ist (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 11. März 1999, Aristrain/Kommission, T-156/94, Slg. 1999, II-645, Rn. 584 bis 586, und vom 9. Juli 2003, Cheil Jedang/Kommission, T-220/00, Slg. 2003, II-2473, Rn. 93).
162 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung nicht einer Prüfung von Amts wegen entspricht und dass das Verfahren vor den Gerichten der Union ein streitiges Verfahren ist.
Zum dritten Klagegrund: fehlerhafte Festsetzung des Koeffizienten aufgrund der Schwere der Zuwiderhandlung auf 17 % und des
„Eintrittsgebühr
“ genannten Zusatzbetrags
163 In der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission unter der Überschrift „Schlussfolgerung bezüglich der Schwere der Zuwiderhandlung“ u. a. Folgendes ausgeführt:
„...
(651) Bezüglich des räumlichen Umfangs ist festzustellen, dass die Zuwiderhandlung den gesamten EWR betraf, da die beteiligten Unternehmen … Paraffinwachse … in allen Ländern des EWR verkauft haben. …
(653) In Anbetracht der besonderen Umstände in dieser Sache und unter Berücksichtigung der genannten Kriterien bezüglich der Art der Zuwiderhandlung und des räumlichen Umfangs sollte bei Eni und H&R/Tudapetrol ein Umsatzanteil in Höhe von 17 % angenommen werden. Es wurde nachgewiesen, dass die einzige und fortdauernde Zuwiderhandlung bei ExxonMobil, MOL, Repsol, RWE[,] Sasol, Shell und Total außerdem die Aufteilung von Kunden und/oder Märkten beinhaltete. Die Aufteilung von Märkten und Kunden zählt naturgemäß zu den schädlichsten Beschränkungen des Wettbewerbs, da diese Verhaltensweisen eine Verringerung oder Beseitigung des Wettbewerbs auf bestimmten Märkten bzw. bei bestimmten Kunden zur Folge haben … In Anbetracht dieses erschwerenden Umstands wird der Anteil des bei ExxonMobil, MOL, Repsol, RWE, Sasol, Shell und Total anzunehmenden Umsatzes auf 18 % festgesetzt. …“
164 Die Klägerin rügt, dass die Kommission einen Koeffizienten aufgrund der Schwere der Zuwiderhandlung gemäß Ziff. 21 der Leitlinien von 2006 und zur Abschreckung gemäß Ziff. 25 dieser Leitlinien („Eintrittsgebühr“ genannter Zusatzbetrag) von 17 % festgesetzt hat. Dieser Koeffizient betrage für die Unternehmen, die nicht nur am Hauptteil der Zuwiderhandlung, sondern auch am zweiten, in der Aufteilung von Märkten und Kunden bestehenden Teil beteiligt gewesen seien, nur 18 %. Der Unterschied im Schweregrad werde durch einen Unterschied von nur einem Prozentpunkt nicht in einem angemessenen Verhältnis widergespiegelt. Außerdem habe die Kommission gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, den Gleichbehandlungsgrundsatz, die Leitlinien von 2006 und ihre Begründungspflicht verstoßen. Auf dieser Grundlage beantragt die Klägerin, diese Koeffizienten auf unter 17 % herabzusetzen.
165 Nach der Rechtsprechung ergibt sich aus Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte, dass das Strafmaß zur verfolgten Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf, und aus Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003, dass bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße die Schwere der Zuwiderhandlung und deren Dauer zu berücksichtigen sind. Auch nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Angemessenheit der Strafe im Hinblick auf die Zuwiderhandlung muss die verhängte Geldbuße in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 12. Juli 2001, Tate & Lyle u. a./Kommission, T-202/98, T-204/98 und T-207/98, Slg. 2001, II-2035, Rn. 106, und vom 27. September 2006, Jungbunzlauer/Kommission, T-43/02, Slg. 2006, II-3435, Rn. 226).
166 Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt, dass die Kommission die Geldbuße verhältnismäßig nach den Gesichtspunkten festsetzen muss, die sie für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigt hat, und dass sie diese Gesichtspunkte dabei schlüssig und objektiv gerechtfertigt bewerten muss (Urteile des Gerichts Jungbunzlauer/Kommission, oben in Rn. 165 angeführt, Rn. 226 bis 228, und vom 28. April 2010, Amann & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, T-446/05, Slg. 2010, II-1255, Rn. 171).
167 Außerdem sind bei der Bestimmung der Geldbuße objektive Gesichtspunkte wie Inhalt und Dauer der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen, deren Zahl und Intensität, der Umfang des betroffenen Marktes und die Schädigung der öffentlichen Wirtschaftsordnung einzubeziehen. Bei der Analyse sind auch die relative Bedeutung und der Marktanteil der verantwortlichen Unternehmen sowie ein etwaiger Wiederholungsfall zu berücksichtigen. Um für Transparenz zu sorgen, hat die Kommission die Leitlinien von 2006 erlassen, in denen sie darlegt, inwieweit sie die einzelnen Umstände der Zuwiderhandlung berücksichtigt und welche Konsequenzen sich daraus für die Höhe der Geldbuße ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2011, Chalkor/Kommission, C-386/10 P, Slg. 2011, I-13085, Rn. 57 bis 59).
168 Im vorliegenden Fall ist als Erstes festzustellen, dass Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen zur Festsetzung von Preisen, wie sie im vorliegenden Fall zum Hauptteil der Zuwiderhandlung gehören, nach Ziff. 23 der Leitlinien von 2006 ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln zählen. Nach den Ziff. 21 und 23 der genannten Leitlinien ist der Koeffizient, der die Schwere der Zuwiderhandlung wiedergibt, daher im oberen Bereich der von 0 % bis 30 % reichenden Bandbreite festzusetzen. Zudem betrafen die Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen zur Festsetzung von Preisen im vorliegenden Fall alle Länder des EWR, was nach Ziff. 22 der Leitlinien von 2006 ebenfalls zu berücksichtigen ist (Erwägungsgründe 651 und 653 der angefochtenen Entscheidung).
169 Die Kommission hat daher weder gegen Art. 81 EG noch gegen Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, noch gegen die Leitlinien von 2006 verstoßen, indem sie für die Schwere der Zuwiderhandlung, was deren Hauptteil angeht, der „in Vereinbarungen und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestand, die darauf abzielten, auf dem Markt für Paraffinwachse Preise festzusetzen [sowie geschäftlich sensible] Informationen auszutauschen und offenzulegen“, einen Koeffizienten von 17 % festgesetzt hat. Dasselbe gilt für die Festsetzung des Zusatzbetrags zur Abschreckung gemäß Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 (sogenannte „Eintrittsgebühr“). Außerdem hat die Kommission den Zusammenhang zwischen den einschlägigen Umständen, die bei der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigt wurden, und dem festgesetzten Koeffizienten angegeben, so dass sie ihrer Begründungspflicht nachgekommen ist.
170 Im Übrigen ist die Festsetzung des in Rede stehenden Koeffizienten auf 17 % auch nach den in der oben in Rn. 167 angeführten Rechtsprechung aufgestellten Beurteilungskriterien gerechtfertigt. Daher ist das Gericht der Ansicht, dass dieser Koeffizient in angemessenem Verhältnis zur Schwere der von der Klägerin begangenen Zuwiderhandlung steht, er also mit anderen Worten die Schwere der Zuwiderhandlung angemessen wiedergibt.
171 Als Zweites ist das Vorbringen der Klägerin zu prüfen, die Differenz zwischen dem für den Hauptteil der Zuwiderhandlung einerseits sowie dem für diesen und den zweiten Teil zusammen andererseits festgesetzten Koeffizienten in Höhe von einem Prozentpunkt gebe die hinsichtlich der Schwere der Zuwiderhandlung bestehende Differenz, die in der zusätzlichen Beteiligung an einer Aufteilung der Kunden und Märkte bestehe, nicht angemessen wieder.
172 Die Klägerin macht geltend, nach den Leitlinien von 2006 zähle die Aufteilung der Märkte und Kunden auch zu den schwerwiegendsten Verstößen, so dass es unverhältnismäßig sei, aufgrund der Schwere und als „Eintrittsgebühr“ nur 1 % des Umsatzes festzusetzen, während diese Koeffizienten für den Hauptteil der Zuwiderhandlung 17 % betrügen.
173 Insofern ist festzustellen, dass die Vereinbarungen, die in einer Aufteilung der Märkte oder Abnehmer bestanden, bei den technischen Treffen im Vergleich zu den Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen zur Festsetzung der Preise für Paraffinwachse eher sporadisch waren, wie aus den Erwägungsgründen 240 und 248 der angefochtenen Entscheidung hervorgeht. Im Übrigen wurde bei den technischen Treffen nach den unabhängigen Erklärungen von Unternehmen, die sich ebenfalls an dem Kartell beteiligt haben (vgl. oben, Rn. 82 bis 84), stets eine Diskussion über die Höhe der von den Teilnehmern angewandten Preise geführt, zumal die Treffen in der Regel die Festsetzung der Preise betrafen.
174 Ferner bestand nach dem 267. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung im vorliegenden Fall das geahndete rechtswidrige Ziel der Teilnehmer der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung darin, den Wettbewerbsdruck zu verringern oder auszuschalten, um höhere Gewinne in der Absicht zu erzielen, schließlich die Erträge zu stabilisieren oder zu steigern. Zwar konnte der zweite Teil der Zuwiderhandlung die schädlichen Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf die betroffenen Kunden und Märkte verstärken. Mit ihm wurde aber kein wettbewerbswidriges Ziel verfolgt, das klar von dem des Hauptteils der Zuwiderhandlung hätte unterschieden werden können, da dieselben Produkte und derselbe räumliche Markt betroffen waren und die Aufteilung der Märkte und Kunden ebenso wie die Verhaltensweisen zur Festsetzung der Preise letztlich dem Ziel diente, über dem freien Marktpreis liegende Preise zu erzielen.
175 Auf dieser Grundlage ist das Gericht der Ansicht, dass die für die am Hauptteil der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen festgesetzten Koeffizienten von 17 % nicht unverhältnismäßig zu den Koeffizienten sind, die für die Unternehmen festgesetzt wurden, die außerdem am zweiten Teil der Zuwiderhandlung beteiligt waren.
176 Die Klägerin bezieht sich auch auf das Urteil des Gerichts vom 11. Dezember 2003, Adriatica di Navigazione/Kommission (T-61/99, Slg. 2003, II-5349). Wie im vorliegenden Fall habe die Kommission in dieser Rechtssache das Vorliegen „einer kontinuierlichen Zuwiderhandlung“ festgestellt. Das Gericht habe entschieden, dass die Kommission die Unternehmen, die effektiv an zwei Zuwiderhandlungen beteiligt gewesen seien, nicht genauso bestrafen könne wie die Unternehmen, die nur an einer Zuwiderhandlung beteiligt gewesen seien, und so gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe.
177 Es ist festzustellen, dass das Gericht im Urteil Adriatica di Navigazione/Kommission, oben in Rn. 176 angeführt (Rn. 188 bis 190), die Feststellung der Kommission beanstandet hat, nach der die zwei verschiedenen Kartelle, die zum einen die Fährverbindungen nach Norden und zum anderen die Fährverbindungen nach Süden zwischen Griechenland und Italien betrafen, eine einzige Zuwiderhandlung darstellten. Infolge dieser Feststellung war es der Ansicht, dass die Kommission die Unternehmen, denen die angefochtene Entscheidung beide Zuwiderhandlungen zur Last legte, und die Unternehmen, denen wie Adriatica di Navigazione nur eine der Zuwiderhandlungen zur Last gelegt wurde, nicht gleich streng bestrafen konnte.
178 Im vorliegenden Fall bestreitet die Klägerin jedoch die Feststellung der Kommission nicht, wonach die Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen betreffend Preisfestsetzungen sowie den Austausch und die Offenlegung von geschäftlich sensiblen Informationen über Paraffinwachse (Hauptteil der Zuwiderhandlung) und die Aufteilung von Kunden oder Märkten betreffend Paraffinwachse (zweiter Teil der Zuwiderhandlung) Teile derselben einzigen, komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung sind.
179 Jedenfalls wurde, wie oben in Rn. 172 ausgeführt, mit der Aufteilung von Kunden oder Märkten kein wettbewerbswidriges Ziel verfolgt, das klar von dem des Hauptteils der Zuwiderhandlung unterschieden werden kann. Im Allgemeinen dient die Aufteilung der Märkte und Kunden ebenso wie die Verhaltensweisen zur Festsetzung der Preise dem Ziel, über dem freien Marktpreis liegende Preise zu erzielen. Die unter die beiden fraglichen Teile fallenden Vereinbarungen betrafen dieselben Produkte und geografischen Märkte und wurden durch denselben, auf den technischen Treffen beruhenden Mechanismus erzielt. Außerdem ist die Festsetzung der Preise leichter umzusetzen, wenn die Möglichkeit der Kunden, sich an andere Lieferanten zu wenden, aufgrund der Aufteilung der Märkte und Kunden, verringert ist. Darüber hinaus haben alle am zweiten Teil der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen auch am Hauptteil der Zuwiderhandlung mitgewirkt, und die beiden Teile der Zuwiderhandlung fanden im selben Zeitraum statt. Man kann daher auf ein Komplementaritätsverhältnis der beiden Teile schließen (vgl. in diesem Sinne Urteil Amann & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, oben in Rn. 166 angeführt, Rn. 89 bis 92), so dass die Feststellung der Kommission betreffend die Einheitlichkeit der Zuwiderhandlung im vorliegenden Fall zu bestätigen ist.
180 Daher liegt, im Gegensatz zum tatsächlichen und rechtlichen Kontext der Rechtssache, in der das Urteil Adriatica di Navigazione/Kommission, oben in Rn. 176 angeführt, ergangen ist, im vorliegenden Fall eine einzige Zuwiderhandlung vor. Außerdem hatte der zweite Teil der Zuwiderhandlung kein dem Hauptteil der Zuwiderhandlung entsprechendes Gewicht, und im Übrigen wurden die am zweiten Teil Beteiligten mit einer strengeren Sanktion belegt als diejenigen, die nur am Hauptteil der Zuwiderhandlung mitgewirkt hatten. Daher ist das auf dieses Urteil gestützte Argument der Klägerin zurückzuweisen.
181 Drittens trägt die Klägerin vor, es bestehe eine offenkundige Diskriminierung zwischen den an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen. Die zwei schwersten Verstöße gegen Art. 81 EG seien im vorliegenden Fall mit völlig verschiedenen Sanktionen belegt worden, nämlich hinsichtlich der Preisfestsetzung mit einem Grundbetrag und einem Zusatzbetrag von 17 % des Umsatzes und hinsichtlich der Aufteilung der Märkte oder Kunden mit einem Grundbetrag und einem Zusatzbetrag von zu vernachlässigenden 1 % des relevanten Umsatzes.
182 Nach der Rechtsprechung ist der Grundsatz der Gleichbehandlung nur verletzt, wenn vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt wäre (Urteil des Gerichtshofs vom 13. Dezember 1984, Sermide, 106/83, Slg. 1984, 4209, Rn. 28, und Urteil des Gerichts vom 4. Juli 2006, Hoek Loos/Kommission, T-304/02, Slg. 2006, II-1887, Rn. 96).
183 Im vorliegenden Fall waren alle Beteiligten in einer identischen Situation, soweit ihre Verantwortung für den Hauptteil der Zuwiderhandlung festgestellt wurde. Die Kommission hat daher unter Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gegenüber allen Beteiligten 17 % des Umsatzes aufgrund der Schwere der Zuwiderhandlung sowie für die Berechnung der „Eintrittsgebühr“ berücksichtigt.
184 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der zweite Teil der Zuwiderhandlung in eher sporadischen Vereinbarungen bestand, an denen weniger Beteiligte mitwirkten und die folglich geringere wirtschaftliche Bedeutung hatten. Außerdem kann er als zum Hauptteil der Zuwiderhandlung komplementär angesehen werden. Somit handelt es sich um einen gegenüber dem Hauptteil der Zuwiderhandlung objektiv unterschiedlichen Sachverhalt, so dass die Kommission nicht dadurch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen hat, dass sie für den Hauptteil der Zuwiderhandlung einerseits und für den zweiten Teil der Zuwiderhandlung, isoliert betrachtet, andererseits keinen gleichen oder ähnlichen Koeffizienten bezüglich der Schwere und der „Eintrittsgebühr“ angewandt hat.
185 Folglich ist die Rüge eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz ebenfalls zurückzuweisen.
186 Jedenfalls ist das Gericht in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Auffassung, dass die Zugrundelegung eines Anteils von 17 % des Umsatzes der Unternehmen, die sich nur an dem Hauptteil der Zuwiderhandlung beteiligt haben, die Schwere der Zuwiderhandlung angemessen wiedergibt, wie es Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 und die oben in Rn. 165 angeführte Rechtsprechung verlangen.
187 Nach alledem ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.
Zum fünften Klagegrund: fehlerhafte Nichtberücksichtigung der untergeordneten Rolle von Eni im Kartell und der Nichtanwendung der Vereinbarungen über die Preise als mildernder Umstand
188 Die Klägerin ist der Ansicht, die Kommission habe es fehlerhaft abgelehnt, ihr den mildernden Umstand ihrer untergeordneten Rolle im Kartell und der Nichtumsetzung der wettbewerbswidrigen Vereinbarungen zugutekommen zu lassen. Dadurch habe die Kommission gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006 sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz und ihre Begründungspflicht verstoßen. Folglich beantragt die Klägerin, die angefochtene Entscheidung ganz oder teilweise für nichtig zu erklären, soweit sie die Höhe der gegen sie verhängten Geldbuße betrifft, und diese neu festzusetzen.
189 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Ziff. 29 dritter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 der Grundbetrag der Geldbuße verringert werden kann, wenn die Kommission mildernde Umstände feststellt, u. a. vom Unternehmen beigebrachte Beweise, dass die eigene Beteiligung sehr geringfügig war und dass es sich der Durchführung der gegen die Wettbewerbsregeln verstoßenden Vereinbarungen in dem Zeitraum, in dem es ihnen beigetreten war, effektiv durch eigenes Wettbewerbsverhalten auf dem Markt entzogen hat. Nach demselben Punkt wird der bloße Umstand einer kürzeren Beteiligung im Vergleich zu den übrigen Unternehmen nicht als mildernder Umstand anerkannt, da er bereits im Grundbetrag zum Ausdruck kommt.
190 Die Parteien sind sich darüber einig, dass nach dem Wortlaut und der Systematik der Leitlinien von 2006 die Anwendung des mildernden Umstands nach Ziff. 29 dritter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 neben dem Nachweis der „sehr geringfügigen Beteiligung“ am Kartell auch den Nachweis erfordert, dass sich das Unternehmen der „Durchführung entzogen“ hat, wobei diese beiden Umstände zwei kumulative Voraussetzungen darstellen.
191 Außerdem konnte nach Nr. 3 erster Gedankenstrich der Leitlinien von 1998 die „ausschließlich passive Mitwirkung oder reines Mitläufertum“ eines Unternehmens bei der Zuwiderhandlung einen mildernden Umstand darstellen. Die Parteien teilen die Auffassung, dass der Begriff der „sehr geringfügigen Beteiligung“ in den Leitlinien von 2006 entsprechend dem der „ausschließlich passiven Mitwirkung“ in den Leitlinien von 1998 auszulegen ist.
Zur passiven oder untergeordneten Rolle von Eni im Kartell
– Zur Begründetheit der angefochtenen Entscheidung
192 Im 690. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung weist die Kommission das Vorbringen der Klägerin zum Nachweis ihrer untergeordneten Rolle im Kartell zurück, indem sie feststellt, dass sich das Verhalten von Eni in dem Zeitraum, in dem sie an dem Kartell beteiligt gewesen sei, nicht vom Verhalten der übrigen Mitglieder, mit Ausnahme von Sasol, unterschieden habe. Was Sasol betrifft, ist die Kommission nach den Erwägungsgründen 685 und 686 der angefochtenen Entscheidung zu dem Ergebnis gekommen, dass diese eine Rolle als Anführer gespielt habe, und hat den auf sie anwendbaren Grundbetrag wegen dieses erschwerenden Umstands um 50 % erhöht.
193 Nach Ansicht der Klägerin ergibt sich aus der Verwaltungsakte, dass ihre Rolle bei den technischen Treffen untergeordnet gewesen sei. Die Kommission habe sie jedoch unter Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz wie alle anderen Beteiligten behandelt.
194 Wenn eine Zuwiderhandlung von mehreren Unternehmen begangen worden ist, ist nach der Rechtsprechung die relative Schwere der Beteiligung eines jeden einzelnen von ihnen an der Zuwiderhandlung zu prüfen (Urteil des Gerichtshofs vom 16. Dezember 1975, Suiker Unie u. a./Kommission, 40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73 bis 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73, Slg. 1975, 1663, Rn. 623), um festzustellen, ob mildernde oder erschwerende Umstände zu berücksichtigen sind (Urteil des Gerichts vom 13. September 2010, Trioplast Industrier/Kommission, T-40/06, Slg. 2010, II-4893, Rn. 105).
195 Das Gericht hat auch im Kontext von Nr. 3 erster Gedankenstrich der Leitlinien von 1998 entschieden, dass eine passive Rolle impliziert, dass sich das betroffene Unternehmen nicht hervorgetan hat, d. h. nicht aktiv an der Ausarbeitung der wettbewerbswidrigen Absprache(n) teilgenommen hat (Urteil Trioplast Industrier/Kommission, oben in Rn. 194 angeführt, Rn. 106; vgl. in diesem Sinne auch Urteil Cheil Jedang/Kommission, oben in Rn. 161 angeführt, Rn. 167).
196 Ebenso kann nach der Rechtsprechung als Anhaltspunkt für die passive Rolle eines Unternehmens innerhalb eines Kartells berücksichtigt werden, dass es im Vergleich zu den gewöhnlichen Mitgliedern des Kartells deutlich seltener an den Besprechungen teilgenommen hat, dass es spät in den Markt, auf dem die Zuwiderhandlung stattgefunden hat, eingetreten ist, unabhängig davon, wie lange es an der Zuwiderhandlung mitgewirkt hat, oder dass es entsprechende ausdrückliche Aussagen von Vertretern dritter an der Zuwiderhandlung beteiligter Unternehmen gibt (Urteile des Gerichts Cheil Jedang/Kommission, oben in Rn. 161 angeführt, Rn. 168, und vom 29. April 2004, Tokai Carbon u. a./Kommission, T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Slg. 2004, II-1181, Rn. 331, sowie Trioplast Industrier/Kommission, oben in Rn. 194 angeführt, Rn. 107).
197 Erstens ist die Klägerin der Ansicht, spät in den fraglichen Markt eingetreten zu sein. Bis zum Jahr 2002 seien ihre Verkäufe praktisch nur auf die Lieferungen an die Gesellschaften SIMP und SER beschränkt gewesen, die mehr als 80 % ihrer Paraffinwachs- und Paraffingatschproduktion aufgenommen hätten. Erst nach dem Jahr 2002 habe Eni schrittweise begonnen, eine größere Zahl von Endabnehmern unmittelbar zu beliefern.
198 Insoweit weist die Kommission vor dem Gericht darauf hin, dass Agip schon seit 1977 auf dem Markt für Paraffinwachse tätig gewesen sei.
199 In ihrer Antwort auf die schriftliche Frage des Gerichts macht die Klägerin geltend, dass Agip, deren Rechtsnachfolgerin sie sei, tatsächlich seit 1975 Paraffinwachse hergestellt habe. Jedoch habe sie bis zum Jahr 2001 nahezu ausschließlich an SIMP und SER verkauft, ohne über eine wirkliche Vertriebsstruktur für diese Produkte verfügt zu haben.
200 Es ist davon auszugehen, dass der bloße Umstand, dass der größte Teil der Paraffinwachsproduktion von Eni vor dem Jahr 2002 von SIMP und SER verkauft wurde, nicht geeignet ist, einen späten Eintritt in den fraglichen Markt nachzuweisen, da die Produktion der Paraffinwachse und ihre Vermarktung an die Wiederverkäufer oder an die Verarbeiter auch eine Präsenz auf dem Markt darstellt.
201 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass sich die von der Klägerin angeführte Rechtsprechung, die in Urteilen besteht, die auf den späten Eintritt in den Markt Bezug nehmen, auf die Anwendung der Leitlinien von 1998 bezieht. In diesen Leitlinien wurde jedoch die Höhe der Geldbuße weniger von der Dauer der Zuwiderhandlung beeinflusst, da die Zahl der Jahre der Beteiligung am Kartell nur einen Zusatzbetrag darstellte. In der Systematik der Leitlinien von 2006 ist die Zahl der Jahre dagegen ein Multiplikator auf den Umsatz, so dass die Höhe der Geldbuße arithmetisch proportional zur Dauer der Beteiligung an der Zuwiderhandlung ist (mit Ausnahme des „Eintrittsgebühr“ genannten kleineren Teils der Geldbuße).
202 Daher ist nach der neuen Systematik der Leitlinien von 2006 grundsätzlich der späte Eintritt in den Markt schon durch den verringerten Wert des wegen der Dauer festgesetzten Multiplikationsfaktors hinreichend widergespiegelt.
203 Das Gericht ist der Ansicht, dass im vorliegenden Fall die Tatsache allein, dass die Klägerin vor dem Jahr 2002 den überwiegenden Teil der von ihr hergestellten Paraffinwachse nur über zwei Gesellschaften vermarktete, kein Faktor ist, der, selbst in Verbindung mit dem übrigen Vorbringen der Klägerin, einen mildernden Umstand darstellen könnte.
204 Dieses Vorbringen der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
205 Zweitens macht Eni geltend, nicht an den bilateralen Treffen beteiligt gewesen zu sein, außer wenn die wechselseitigen Lieferungen zwischen Paraffinwachs- oder Paraffingatschlieferanten solche Kontakte erfordert hätten.
206 Hierzu ist auf den 275. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung hinzuweisen:
„[D]ie Kommission [hat] beschlossen, von einer Untersuchung bilateraler Kontakte abzusehen, da der Nachweis weiterer Bestandteile dieser Zuwiderhandlung einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordert, am Endergebnis aber soweit ersichtlich nichts geändert hätte. Aus demselben Grund hat die Kommission beschlossen, keine anderen Kontakte außerhalb der technischen Treffen zu untersuchen. Darüber hinaus ist die Kommission der Ansicht, dass sie das Vorliegen einer einzigen und fortdauernden Zuwiderhandlung in Verbindung mit den untersuchten Verhaltensweisen hinreichend nachgewiesen hat.“
207 Daher ist festzustellen, dass die Kommission auch bezüglich der anderen Kartellbeteiligten die Hinweise zu den bilateralen Kontakten außerhalb der technischen Treffen nicht berücksichtigt hat. Die Beteiligung am Kartell wurde nämlich bei allen Unternehmen auf der Grundlage des Inhalts der technischen Treffen, an denen diese teilnahmen, festgestellt. Folglich ist das Argument der Klägerin betreffend ihre fehlende Beteiligung an bilateralen Kontakten nicht geeignet, ihre geringfügige Beteiligung am Kartell nachzuweisen.
208 Daher ist dieses Vorbringen als ins Leere gehend zurückzuweisen.
209 Drittens macht Eni geltend, sie habe niemals Schreiben über die Änderungen ihrer Preise an ihre Wettbewerber verschickt. In den 150 von der Kommission zusammengetragenen Schreiben werde die Klägerin nur zwei Mal als Adressatin genannt, und zwar im Übrigen aus vom Kartell unabhängigen Gründen, nämlich wegen ihrer Paraffinwachskäufe bei Sasol.
210 Zunächst geht aus den Erwägungsgründen 113 und 299 der angefochtenen Entscheidung hervor, dass einige Kartellbeteiligte Preisschreiben austauschten, die sie an die Kunden schickten. Der Austausch von Preisschreiben bezog sich jedoch nicht unmittelbar auf die Eni zur Last gelegten wettbewerbswidrigen Gespräche und Vereinbarungen, sondern nur auf den Kontrollmechanismus betreffend deren Umsetzung.
211 Sodann weist Shell in ihrer Erklärung vom 14. Juni 2006 darauf hin, dass MOL, Eni und Repsol keine Preisschreiben an die Kunden schickten, sondern ihre Preise mündlich mitteilten. Ebenso verschickte Total nicht oft Preisschreiben. Folglich konnte ein erheblicher Teil der Beteiligten, nämlich drei oder vier von neun, mangels an die Kunden verschickter Preisschreiben schon aufgrund ihrer Geschäftspraktiken nicht am Austausch von Preisschreiben unter Wettbewerbern beteiligt sein, und zwar unabhängig von der Frage des Willens, sich an eine solche Verhaltensweise zu halten. Auch diesen Unternehmen ist kein mildernder Umstand wegen einer geringfügigen Beteiligung am Kartell zugutegekommen.
212 Daher hat die Kommission keinen Rechtsfehler begangen, als sie diesen Umstand nicht zugunsten von Eni berücksichtigt hat.
213 Dieses Vorbringen ist daher zurückzuweisen.
214 Viertens macht die Klägerin unabhängig von den Fragen betreffend die bilateralen Gespräche und den Austausch von Preisschreiben geltend, dass ihre Tätigkeit bei den technischen Treffen im Verhältnis zu den anderen Beteiligten geringfügig gewesen sei. Insoweit bezieht sie sich auf die Erklärung von Sasol, wonach „Eni kein sehr aktiver Teilnehmer des ‚Blue Saloon‘ war“, und die Erklärung von Shell, wonach, „was die im gemeinsamen Einvernehmen in den technischen Treffen festgesetzten Preise betrifft, Herr S. nicht wusste, ob sich Eni und Repsol, die in den technischen Treffen eine sehr passive Rolle spielten, an die Preiserhöhung und die getroffenen Entscheidungen gehalten haben“. Außerdem trägt die Klägerin vor, sie sei das einzige beteiligte Unternehmen gewesen, das nicht zur Organisation der technischen Treffen beigetragen habe. Selbst Repsol habe eines davon organisiert.
215 Insoweit hat das Gericht bereits entschieden, dass die Tatsache, dass andere Unternehmen, die an ein und demselben Kartell beteiligt gewesen sind, aktiver gewesen sein mögen als ein bestimmter Teilnehmer, noch nicht bedeutet, dass dieser ausschließlich passiv mitwirkte oder reiner Mitläufer war. Denn nur seine völlige Passivität könnte berücksichtigt werden und müsste von der Partei, die sich darauf beruft, bewiesen werden (Urteil Trioplast Industrier/Kommission, oben in Rn. 194 angeführt, Rn. 108; vgl. in diesem Sinne auch Urteil Bolloré u. a./Kommission, oben in Rn. 50 angeführt, Rn. 611).
216 Eine solche völlige Passivität kann jedoch nicht aus der Tatsache abgeleitet werden, dass das beschuldigte Unternehmen nicht selbst geheime wettbewerbswidrige Treffen organisiert hat.
217 Außerdem ist zwar die Erklärung von Shell, die bereits oben in Rn. 89 geprüft wurde, ein von der Klägerin geltend gemachter relevanter Umstand. Die von der Klägerin angeführte Passage kann jedoch für sich genommen nicht genügen, um nachzuweisen, dass ihre Beteiligung am Kartell sehr geringfügig war.
218 Zwar bezieht sich Shell auf die eher passive Rolle der Vertreter von Eni und Repsol in den technischen Treffen. Die Anwesenheit dieser Unternehmen bei diesen Treffen hat jedoch den anderen Beteiligten den Eindruck vermittelt, dass diese beiden bedeutenden Hersteller auch an den wettbewerbswidrigen Vereinbarungen beteiligt waren. Außerdem nennt Shell in derselben Erklärung auch Eni unter den Unternehmen, die sich auf Preiserhöhungen und Mindestpreise geeinigt hätten.
219 Insoweit ist daran zu erinnern, dass Eni zwischen 2002 und 2005 ein regelmäßiger Teilnehmer bei den technischen Treffen und bei zumindest zehn von 13 technischen Treffen in diesem Zeitraum anwesend war.
220 Nach alledem stellt das Gericht fest, dass die Kommission weder gegen Art. 81 EG noch gegen Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, noch gegen die Leitlinien von 2006, noch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen hat, als sie im 690. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung ausgeführt hat, dass „sich das Verhalten von Eni in dem Zeitraum, in dem Eni an dem Kartell beteiligt war, nicht vom Verhalten der übrigen Mitglieder unterschied“.
221 Die übrigen Argumente der Klägerin vermögen dieses Ergebnis nicht in Frage zu stellen.
222 Erstens macht die Klägerin geltend, dass ihr keine mildernden Umstände wegen der aktiven Zusammenarbeit mit der Kommission außerhalb des Anwendungsbereichs der Kronzeugenregelung von 2002 hätten zugebilligt werden können. Obwohl Eni alle Informationen in ihrem Besitz geliefert habe, habe sie gerade aufgrund ihrer untergeordneten Rolle im Rahmen der technischen Treffen keine Unterlagen über die Treffen besessen, um das Bestehen des Kartells zu bestätigen. Somit sei sie wegen der fehlenden Anerkennung ihrer passiven Rolle doppelt bestraft worden.
223 Zunächst hat Eni, wie die Kommission insoweit zu Recht ausführt, nichts daran gehindert, einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung vor allen anderen beteiligten Unternehmen zu stellen und daher einen vollständigen oder teilweisen Geldbußenerlass nach der Kronzeugenregelung von 2002 zu erhalten, da sie um die wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen bei den technischen Treffen wusste.
224 Sodann heißt es in den Ziff. 3 und 4 der Kronzeugenregelung von 2002:
„Der Kommission ist bekannt, dass manche Unternehmen, die sich an rechtswidrigen Absprachen beteiligen, ihre Beteiligung einstellen und sie von dem Bestehen des Kartells in Kenntnis setzen wollen, wegen der Gefahr hoher Geldbußen aber davor zurückschrecken. ... Die Kommission ist der Auffassung, dass die [Union] ein Interesse daran hat, Unternehmen, die mit ihr zusammenarbeiten, Rechtsvorteile zu gewähren. Das Interesse der Verbraucher und Bürger an der Aufdeckung und Ahndung von Kartellen ist größer als das Interesse an der Verhängung von Geldbußen gegen Unternehmen, die es der Kommission ermöglichen, solche Verhaltensweisen aufzudecken und zu untersagen.“
225 Daraus folgt, dass es nicht Ziel des Kronzeugenprogramms ist, an Kartellen beteiligte Unternehmen, die von der Einleitung des Verfahrens der Kommission Kenntnis erlangt haben, die Möglichkeit einzuräumen, den finanziellen Folgen ihrer Verantwortung zu entgehen, sondern die Aufdeckung derartiger Praktiken im Interesse der europäischen Verbraucher und Bürger durch die Schaffung von Anreizen für die Beteiligten, diese Praktiken offenzulegen, zu erleichtern, und sodann die Kommission während des Verwaltungsverfahrens in ihren Bemühungen zur Rekonstruktion der relevanten Umstände so weit wie möglich zu unterstützen. Daher dürfen die Vorteile, die an derartigen Praktiken beteiligte Unternehmen erlangen können, nicht über das hinausgehen, was notwendig ist, um die volle Wirksamkeit des Kronzeugenprogramms und des von der Kommission geführten Verwaltungsverfahrens zu gewährleisten.
226 Kein Interesse der europäischen Verbraucher verlangt jedoch, dass die Kommission einer größeren Zahl von Unternehmen als der, die zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Kronzeugenprogramms und ihres Verwaltungsverfahrens erforderlich ist, den Vorteil eines Erlasses oder einer Herabsetzung der Geldbuße zuteilwerden lässt. Daher ist es nicht gerechtfertigt, diesen Vorteil auch anderen Unternehmen als denen zu gewähren, die als Erste Beweise beigebracht haben, welche der Kommission die Anordnung von Nachprüfungen oder die Feststellung einer Zuwiderhandlung ermöglichen, oder sie anders und wirksam während des Verwaltungsverfahrens unterstützen.
227 Daher können sich die Unternehmen, die objektiv keine Informationen geliefert haben, die die von der Kommission geführte Untersuchung wesentlich vorangetrieben haben, nicht auf Umstände, die ihnen angeblich die Zusammenarbeit schwerer gemacht haben, berufen, die sich aus ihrer eigenen Lage und nicht der Vorgehensweise der Kommission ergeben. Der Wert der Zusammenarbeit wird nämlich nach Maßgabe des Nutzens des Beitrags der in Rede stehenden Unternehmen im Hinblick auf die Durchführung des Verwaltungsverfahrens durch die Kommission gemessen.
228 Dieses Vorbringen der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
229 Zweitens ist die Klägerin der Ansicht, dass, selbst wenn sie zwischen 2002 und 2005 regelmäßig an den technischen Treffen teilgenommen habe, ihr Interesse ausschließlich den technischen Gesprächen und nicht dem wettbewerbswidrigen Inhalt dieser Treffen gegolten habe.
230 Insoweit ist auf die Prüfung oben in den Rn. 108 bis 114 zu verweisen, aus der sich ergibt, dass die Klägerin ihr fehlendes Interesse nicht nachgewiesen hat und dass dieses jedenfalls kein maßgeblicher Umstand bei der Beurteilung ihrer Verantwortlichkeit für die begangene Zuwiderhandlung ist.
231 Daraus folgt, dass die Kommission bei der Beurteilung der angeblich untergeordneten und/oder passiven Rolle von Eni im Kartell keinen Rechtsfehler begangen hat, da diese Beurteilung in die Prüfung der die sehr geringfügige Beteiligung am Kartell betreffenden Voraussetzung eingebettet ist (vgl. oben, Rn. 220).
– Zur Begründung der angefochtenen Entscheidung
232 Was den Vorwurf einer unzureichenden Begründung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Vorbringen der Klägerin auf den Seiten 41 bis 43 der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte im Wesentlichen dasselbe ist wie das oben in den Rn. 193, 197, 205, 209 und 214 wiedergegebene.
233 Zwar ist die Begründung der Kommission für die Zurückweisung dieses Vorbringens kurz. Im 690. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung weist die Kommission lediglich darauf hin, dass „sich das Verhalten von Eni in dem Zeitraum, in dem Eni an dem Kartell beteiligt war, nicht vom Verhalten der übrigen Mitglieder unterschied“.
234 Nach der Rechtsprechung ist das Begründungserfordernis jedoch nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 253 EG genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteile des Gerichtshofs vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C-367/95 P, Slg. 1998, I-1719, Rn. 63, und vom 10. Juli 2008, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, C-413/06 P, Slg. 2008, I-4951, Rn. 166 und 178).
235 Im vorliegenden Fall weist die Kommission jedoch darauf hin, dass sie nur den Zeitraum der Beteiligung der Klägerin am Kartell berücksichtigt habe. Daher sei das Argument betreffend den späten Eintritt der Klägerin in den Markt nicht von Bedeutung.
236 Was die fehlende Beteiligung der Klägerin an den bilateralen Kontakten und am Austausch von Preisschreiben betrifft, genügt der Hinweis, dass die Kommission die Angaben zu den bilateralen Kontakten außerhalb der technischen Treffen bei der Feststellung der Zuwiderhandlung nicht berücksichtigt hat (vgl. oben, Rn. 207 und 208). Der Kommission kann jedoch wegen einer fehlenden Detailprüfung von Argumenten, die im Wesentlichen im Hinblick auf die Würdigung von mildernden Umstände im besonderen Kontext der angefochtenen Entscheidung nicht einschlägig sind, keine unzureichende Begründung zur Last gelegt werden.
237 Was im Übrigen die Feststellung der Kommission betrifft, dass „sich das Verhalten von Eni in dem Zeitraum, in dem Eni an dem Kartell beteiligt war, nicht vom Verhalten der übrigen Mitglieder unterschied“, ist in die von der Kommission gelieferte Begründung insoweit die Prüfung des Inhalts der technischen Treffen und der Beweise zur Anwesenheit von Eni bei diesen in der angefochtenen Entscheidung einzubeziehen. Diese Prüfung und die dortigen Feststellungen müssen außerdem im Hinblick auf die Unterlagen und Erklärungen, die der Klägerin zugänglich gemacht wurden und die zum Kontext der angefochtenen Entscheidung gehören, betrachtet werden.
238 Es trifft zwar zu, dass Sasol und Shell auf die eher passive oder „nicht sehr aktive“ Rolle der Vertreter von Eni bei den technischen Treffen hinweisen, jedoch nennt Shell in derselben Erklärung vom 14. Juni 2006 auch Eni unter den Unternehmen, die sich auf Preiserhöhungen und Mindestpreise geeinigt hätten, und führt aus, dass MOL, Repsol und Eni im Anschluss an die technischen Treffen keine Schreiben mit Preiserhöhungen an die Kunden geschickt hätten, sondern „die Preiserhöhungen vielmehr mündlich mit[geteilt hätten]“ (vgl. oben, Rn. 89). Da die angefochtene Entscheidung begründete Feststellungen zur Anwesenheit von Eni bei zumindest zehn von 13 technischen Treffen enthält, die im Zeitraum vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 stattfanden, liefert diese Entscheidung genügend Gesichtspunkte, um sowohl Eni als auch dem Unionsrichter die Gründe darzulegen, aus denen die Beteiligung von Eni am Kartell nicht als sehr geringfügig angesehen werden konnte.
239 Daraus folgt, dass die Kommission nicht gegen ihre Begründungspflicht hinsichtlich der Prüfung der angeblich untergeordneten oder passiven Rolle von Eni bei der Zuwiderhandlung verstoßen hat.
240 Nach alledem ist die Rüge der Nichtanerkennung der untergeordneten oder passiven Rolle von Eni bei der Zuwiderhandlung zurückzuweisen.
Zur Nichtanwendung der Vereinbarungen zur Preisfestsetzung durch Eni
241 Die „sehr geringfügige Beteiligung“ am Kartell und der Umstand, dass sich das betreffende Unternehmen seiner Durchführung entzogen hat, stellen kumulative Voraussetzungen für den mildernden Umstand nach Ziff. 29 dritter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 dar. Die Klägerin hat jedoch nicht nachgewiesen, dass ihre Beteiligung sehr geringfügig gewesen ist. Daher kann ihre Rüge, wonach in der angefochtenen Entscheidung ihr Vorbringen, sie habe sich der Durchführung des Kartells entzogen, rechtswidrig zurückgewiesen worden sei, jedenfalls nicht zur Feststellung eines Verstoßes der Kommission gegen die Leitlinien von 2006 führen.
242 Der Vollständigkeit halber prüft das Gericht das Vorbringen der Klägerin jedenfalls.
– Zur Begründetheit der angefochtenen Entscheidung
243 Im 695. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung führt die Kommission Folgendes aus:
„... Bezüglich der Argumente von Eni stellt die Kommission fest, dass aus den von Eni in der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgelegten Daten hervorgeht, dass Eni die eigenen Preise im Zeitraum 2002-2005 tatsächlich fünfmal erhöht hat. Außerdem stellt die Kommission fest, dass versuchte Preiserhöhungen häufig nicht durchgesetzt werden konnten; dies war allerdings nicht auf das Verhalten des Unternehmens zurückzuführen, das mildernde Umstände geltend machen möchte, sondern auf die Tatsache, dass höhere Preise von den Kunden nicht angenommen wurden. Daher hält die Kommission die Argumente von Eni ... nicht für geeignet nachzuweisen, dass die Umsetzung der vereinbarten Preiserhöhungen nicht erfolgt oder gar nicht einmal versucht worden wäre. In Bezug auf die Preisschreiben hat die Kommission bereits erläutert, dass diese nicht das einzige Mittel zur Umsetzung der Vereinbarungen waren. Aus der Vermutung, dass die Kommission möglicherweise nicht in der Lage gewesen wäre, Beweismittel dafür vorzulegen, dass diese Preisschreiben immer geschickt und empfangen wurden, kann daher nicht geschlossen werden, dass eine Umsetzung tatsächlich nicht erfolgt wäre. Außerdem ist die Kommission in diesem Zusammenhang der Ansicht, dass die Informationen zu Preiserhöhungen möglicherweise auch auf sonstigen Wegen zwischen den Teilnehmern der technischen Treffen übermittelt werden konnten.“
244 Nach der Rechtsprechung ist zu prüfen, ob die von der Klägerin vorgebrachten Umstände belegen können, dass sie sich im Zeitraum ihrer Teilnahme an den rechtswidrigen Verhaltensweisen tatsächlich ihrer Durchführung entzog, indem sie sich auf dem Markt wettbewerbskonform verhielt (Urteile des Gerichts vom 9. Juli 2003, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, T-224/00, Slg. 2003, II-2597, Rn. 268, sowie Bolloré u. a./Kommission, oben in Rn. 50 angeführt, Rn. 625).
245 Nach ständiger Rechtsprechung ist auch die Tatsache, dass sich ein Unternehmen, dessen Beteiligung an einer Preisabsprache mit seinen Konkurrenten erwiesen ist, nicht in der mit ihnen vereinbarten Weise auf dem Markt verhalten hat, bei der Bestimmung der Höhe der zu verhängenden Geldbuße nicht zwangsläufig als mildernder Umstand zu berücksichtigen. Denn ein Unternehmen, das trotz der Absprache mit seinen Konkurrenten eine mehr oder weniger unabhängige Marktpolitik verfolgt, versucht möglicherweise nur, das Kartell zu seinem Vorteil auszunutzen (Urteil Cascades/Kommission, oben in Rn. 144 angeführt, Rn. 230, und Jungbunzlauer/Kommission, oben in Rn. 165 angeführt, Rn. 269).
246 In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob die genannten Umstände belegen können, dass sich die Klägerin im Zeitraum ihrer Teilnahme an den unzulässigen Vereinbarungen tatsächlich deren Durchführung entzog, indem sie sich auf dem Markt wettbewerbskonform verhielt, oder dass sie sich zumindest den Verpflichtungen zur Umsetzung dieses Kartells so eindeutig und nachdrücklich widersetzte, dass dadurch sogar dessen Funktionieren selbst gestört wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 15. März 2006, Daiichi Pharmaceutical/Kommission, T-26/02, Slg. 2006, II-713, Rn. 113).
247 Erstens macht die Klägerin geltend, sie habe die von den anderen Beteiligten bei den technischen Treffen beschlossenen Preiserhöhungen niemals angewandt. Hierzu verweist sie auf das Vorbringen im Rahmen des zweiten Klagegrundes. Die Tabelle betreffend die Preisentwicklung des von ihr hergestellten Paraffins „133“ zeige eine Preisschwankung und nicht, wie in der angefochtenen Entscheidung angeführt, eine Reihe von Erhöhungen. In Bezug auf die Indexierung ihrer Preise nach den Notierungen im Nachrichtenblatt von ICIS-LOR für die Verkäufe an SIMP und SER verweist sie ebenfalls auf dieses Vorbringen.
248 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass ein ähnliches Vorbringen oben in den Rn. 140 ff. geprüft wurde.
249 Die oben angeführte Tabelle betrifft nämlich nur die Verkäufe von Paraffin „133“ an SIMP, der gegenüber die Preise der Klägerin offensichtlich relativ stabil waren und die aufgrund ihrer Kaufkraft in einer günstigen Position war, um jeden Versuch einer Preiserhöhung von Eni zu verhindern. Diese Tabelle enthält keine Angabe zur Entwicklung der Preise von Eni gegenüber ihren Endabnehmern, die den sich aus dem Kartell ergebenden Preismanipulationen stärker ausgesetzt waren. Außerdem stellte Paraffin „133“ nur eine der zahlreichen von der Klägerin hergestellten Arten von Paraffinwachsen dar. Die von ihr mitgeteilten Informationen sind folglich sehr selektiv und können keinesfalls auf die gesamte Palette der von ihr hergestellten und an sämtliche Abnehmer verkauften Paraffinwachse extrapoliert werden.
250 Sodann kann die Klägerin der Kommission nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass keine Korrelation zwischen den über die technischen Treffen verfügbaren Informationen und der in der Klageschrift enthaltenen Tabelle bestehe. Es ergibt sich nämlich aus mehreren oben zitierten Erklärungen, dass die bei den technischen Treffen vereinbarten Preiserhöhungen im Allgemeinen gegenüber den Kunden nicht vollständig angewandt werden konnten. Shell erklärt, dass ungefähr zwei Drittel der vereinbarten Preiserhöhungen umgesetzt werden könnten. Außerdem gibt es in den Akten mehrere Hinweise darauf, dass die Teilnehmer die vereinbarten Preiserhöhungen oft überhaupt nicht umsetzen konnten. Darüber hinaus haben die Beteiligten ihre Bemühungen oft auf die Beibehaltung der Preise oder das Aufhalten des Preisverfalls konzentriert, und nicht auf eine gemeinsame Erhöhung.
251 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nach der oben in Rn. 42 angeführten Rechtsprechung Kartelle betreffende Beweise normalerweise lückenhaft und vereinzelt sind, wie im vorliegenden Fall, in dem die Kommission nur den Inhalt eines geringen Teils der technischen Treffen rekonstruieren konnte. Schon aus diesem Grund ist die Kommission nur selten in der Lage, eine Verbindung zwischen dem Ergebnis der rechtswidrigen Gespräche über die Preise und der Entwicklung der von den einzelnen Kartellbeteiligten verlangten Preise zu prüfen. Es ist daher nicht gerechtfertigt, den Beteiligten allein auf der Grundlage der Tatsache, dass die Entwicklung der Preise bestimmter Produkte, die auf bestimmte Kunden angewandt wurden, mit den lückenhaften und vereinzelten Informationen, über die die Kommission möglicherweise verfügt, nicht unmittelbar in Verbindung gebracht werden kann, den mildernden Umstand einer Nichtanwendung der Vereinbarungen über die Preise zuzubilligen.
252 Schließlich ist jedenfalls die Tatsache, dass der Preis für das an SIMP verkaufte Paraffin „133“ nur um 8,48 %, von 542 Euro am 1. Januar 2002 auf 588 Euro am 1. April 2005, stieg, nicht zum Beweis dafür geeignet, dass Eni sich den Vereinbarungen zur Umsetzung des Kartells so widersetzte, dass dadurch sogar dessen Funktionieren selbst gestört wurde.
253 Daher kann das Vorbringen der Klägerin zur fraglichen Tabelle über die Preisentwicklung nicht nachweisen, dass sie sich tatsächlich der Durchführung der rechtswidrigen Verhaltensweisen entzogen hat.
254 Zweitens trägt die Klägerin vor, sie habe nicht am Austausch der Preiserhöhungsschreiben, die an die Kunden gerichtet, aber von einigen anderen Kartellbeteiligten gegenseitig übermittelt worden seien, teilgenommen.
255 Hierzu genügt der Hinweis auf die Feststellung oben in Rn. 211, wonach ein erheblicher Teil der Kartellbeteiligten, nämlich drei oder vier von neun, darunter auch die Klägerin, keine Preisschreiben an die Kunden schickte, da diese Beteiligten ihre Preise mündlich mitteilten.
256 Außerdem bestand die Umsetzung des Kartells im Wesentlichen darin, bei den Preisverhandlungen mit den Kunden die in den technischen Treffen erhaltene Information zu berücksichtigen. Daher kann die fehlende Beteiligung von Eni am Austausch von Preisschreiben, der eher ein Mechanismus für die Kontrolle der Umsetzung der Vereinbarungen über die Preise war, kein Beweis dafür sein, dass sich Eni der Anwendung der rechtswidrigen Verhaltensweisen entzog.
257 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Rüge der Klägerin, sie habe sich der Zuwiderhandlung entzogen, in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend ist.
258 Folglich hat die Kommission in diesem Zusammenhang weder gegen Art. 81 EG noch gegen Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, noch gegen die Leitlinien von 2006, noch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen.
– Zur Begründung der angefochtenen Entscheidung
259 Was die Rüge eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass zu den Feststellungen im 695. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung die von der Kommission in der angefochtenen Entscheidung vorgenommene Prüfung im Hinblick auf den Inhalt der technischen Treffen und die Beweise für die Anwesenheit von Eni bei diesen hinzukommt. Diese Prüfung und die darin enthaltenen Feststellungen müssen außerdem im Hinblick auf die Unterlagen und Erklärungen, die der Klägerin zugänglich gemacht wurden und die zum Kontext der angefochtenen Entscheidung gehören, betrachtet werden.
260 Die Begründung lässt im vorliegenden Fall sowohl die Klägerin als auch das Gericht erkennen, aus welchen Gründen die Kommission der Klägerin nicht zuerkannt hat, dass sie sich der Zuwiderhandlung entzogen habe.
261 Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall keine der beiden kumulativen Voraussetzungen für die Anwendung des mildernden Umstands nach Ziff. 29 dritter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 erfüllt ist. Die Kommission hat nämlich rechtlich hinreichend nachgewiesen, dass die Beteiligung von Eni an der Zuwiderhandlung nicht sehr geringfügig war und dass Eni sich nicht tatsächlich der Durchführung der wettbewerbswidrigen Vereinbarungen entzog, indem sie sich auf dem Markt wettbewerbskonform verhielt.
262 Im Übrigen hat das Gericht die Unterlagen, auf die sich die Kommission in der angefochtenen Entscheidung stützte, im Einzelnen geprüft. Es gelangt in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zu dem Ergebnis, dass keine Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße wegen einer geringfügigen Beteiligung am Kartell, einer untergeordneten oder passiven Rolle in diesem, weil die Klägerin sich angeblich der Durchführung der wettbewerbswidrigen Vereinbarungen entzogen hat, oder wegen einer fehlenden Umsetzung des Kartells durch die Klägerin gerechtfertigt ist.
263 Aus dem Vorangehenden folgt, dass der fünfte Klagegrund zurückzuweisen ist.
Zum sechsten Klagegrund: fehlerhafte Nichtberücksichtigung der Fahrlässigkeit von Eni als mildernder Umstand
264 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe es rechtsfehlerhaft abgelehnt, ihr den mildernden Umstand der Fahrlässigkeit zuzubilligen. Dadurch habe die Kommission gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 und die Leitlinien von 2006 verstoßen. Die Klägerin beantragt, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit ihr die Kommission die Anwendung dieses mildernden Umstands verweigere, und die Geldbuße entsprechend neu festzusetzen.
265 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach der die mildernden Umstände betreffenden Ziff. 29 zweiter Gedankenstrich der Leitlinien von 2006 der Grundbetrag der Geldbuße verringert werden kann, wenn das Unternehmen Beweise beibringt, dass die Zuwiderhandlung aus Fahrlässigkeit begangen wurde.
266 Im 708. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung heißt es:
„Außerdem erklärt Eni, das Unternehmen hätte eine Zuwiderhandlung nicht beabsichtigt; der Vertreter von Eni habe [an] Treffen ... teilgenommen ..., ohne gegen Wettbewerbsvorschriften verstoßen zu wollen. ... In der mündlichen Anhörung hat Eni erklärt, der Vertreter von Eni sei der Ansicht gewesen, dass er an legitimen Treffen der EWF beteiligt war, während er tatsächlich Teilnehmer der technischen Treffen war. Die Kommission stellt fest, dass die Erklärungen von Eni auf keinerlei Beweismitteln beruhen. Sie hält nicht für wahrscheinlich, dass Vertreter von Eni ohne entsprechende Absicht an den Treffen teilnahm[en]. Bezüglich der irrigen Ansicht von Herrn [MO.], an Sitzungen der EWF teilgenommen zu haben, kann die Kommission nicht nachvollziehen, wie dieses Missverständnis zustande gekommen sein sollte, da weder die Einladung noch die Organisation der Treffen einen Zusammenhang mit der EWF erkennen ließen.“
267 Die Klägerin macht geltend, sie habe ihre Fahrlässigkeit nachgewiesen. Sie bezieht sich insoweit auf einen Vermerk von Herrn MO. an Herrn D., seinen Vorgesetzten, laut dem Herr MO. an einem „Treffen der größten europäischen Hersteller von Paraffin und Paraffingatsch, die im Rahmen der EWF, der [Eni] vor kurzem wieder beigetreten ist, organisiert wurde“, teilgenommen habe. Daraus ergebe sich, dass Herr MO. überzeugt gewesen sei, an rechtmäßigen, im Rahmen der EWF organisierten Treffen teilzunehmen.
268 Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Fahrlässigkeit von Eni im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden kann, da der wettbewerbswidrige Inhalt der technischen Treffen eindeutig und offensichtlich war und Herr MO. trotzdem an zumindest zehn der 13 technischen Treffen teilnahm, die vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005 stattfanden.
269 Im Hinblick auf den offensichtlich wettbewerbswidrigen Inhalt der technischen Treffen ist die Tatsache, dass es sich nach der von Herrn MO. an Herrn D. gegebenen Information um Treffen gehandelt habe, die unter der Leitung der EWF organisiert worden seien, nicht relevant.
270 Im Übrigen ist auch die Frage, ob Herr D. ein richtiges Bild von den Gesprächen bei den technischen Treffen hatte, irrelevant. Die Befugnis der Kommission, ein Unternehmen, das eine Zuwiderhandlung begangen hat, mit einer Sanktion zu belegen, setzt nämlich nur die rechtswidrige Handlung einer Person voraus, die im Allgemeinen berechtigt ist, für das Unternehmen tätig zu werden (Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 1983, Musique Diffusion française u. a./Kommission, 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, 1825, Rn. 97, und Urteil Tokai Carbon u. a./Kommission, oben in Rn. 196 angeführt, Rn. 277). Herr MO. ist jedoch als Produktmanager, der zunächst von AgipPetroli und sodann von Eni angestellt war, als Person anzusehen, die im Allgemeinen berechtigt ist, für Eni tätig zu werden.
271 Was das Vorbringen der Klägerin zum fehlenden Interesse von Eni an der Beteiligung am Kartell betrifft, ist auf die Prüfung oben in den Rn. 108 bis 121 zu verweisen.
272 Der sechste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum vierten Klagegrund: fehlerhafte Feststellung des erschwerenden Umstands des Wiederholungsfalls
273 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe gegen Art. 81 EG, Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006, die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung verstoßen und ihr Ermessen missbraucht, indem sie den Grundbetrag der Geldbuße wegen des erschwerenden Umstands des Wiederholungsfalls um 60 % erhöht habe. Die Klägerin beantragt daher, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit die Kommission die gegen sie verhängte Geldbuße wegen des Vorliegens eines Wiederholungsfalls um 60 % erhöht habe. Hilfsweise beantragt sie, den von der Kommission angewandten Erhöhungssatz herabzusetzen.
274 Nach Ziff. 28 der Leitlinien von 2006 kann der Grundbetrag der Geldbuße erhöht werden, wenn die Kommission erschwerende Umstände feststellt. Einer der erschwerenden Umstände ist der Wiederholungsfall, der in dieser Ziff. 28 definiert wird als Fortsetzung einer Zuwiderhandlung oder erneutes Begehen einer gleichartigen oder ähnlichen Zuwiderhandlung, nachdem die Kommission oder eine einzelstaatliche Wettbewerbsbehörde festgestellt hat, dass das fragliche Unternehmen gegen Art. 81 EG oder Art. 82 EG verstoßen hatte. In diesem Fall wird der Grundbetrag der Geldbuße für jeden festgestellten Verstoß um bis zu 100 % erhöht.
275 Der Begriff des Wiederholungsfalls wird in einigen nationalen Rechtsordnungen so verstanden, dass jemand neue Zuwiderhandlungen begeht, nachdem ähnliche von ihm begangene Zuwiderhandlungen geahndet worden waren (Urteile des Gerichts vom 11. März 1999, Thyssen Stahl/Kommission, T-141/94, Slg. 1999, II-347, Rn. 617, und vom 30. September 2003, Michelin/Kommission, T-203/01, Slg. 2003, II-4071, Rn. 284).
276 Ein etwaiger Wiederholungsfall zählt zu den Gesichtspunkten, die bei der Prüfung der Schwere der betreffenden Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sind (Urteile Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Rn. 42 angeführt, Rn. 91, und Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 160 angeführt, Rn. 26).
277 Im vorliegenden Fall waren laut dem 673. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung Eni bzw. deren Tochtergesellschaften bereits vor dem Beginn ihrer Beteiligung am Kartell Adressaten früherer Entscheidungen der Kommission in Kartellsachen. Es handelt sich um die Entscheidung 86/398/EWG der Kommission vom 23. April 1986 betreffend ein Verfahren nach Artikel [81 EG] (IV/31.149 – Polypropylen) (ABl. L 230, S. 1, im Folgenden: Entscheidung Polypropylen) und die Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli 1994 betreffend ein Verfahren nach Artikel [81 EG] (IV/31.865 – PVC) (ABl. L 239, S. 14, im Folgenden: Entscheidung PVC II).
278 Die Klägerin macht geltend, gegen sie sei niemals eine Entscheidung über eine Zuwiderhandlung ergangen. Die Verfahren, in denen die Entscheidungen Polypropylen und PVC II ergangen seien, seien gegen die Anic SpA bzw. die EniChem SpA geführt worden. In diesen Entscheidungen werde nicht auf Eni Bezug genommen. Sie habe keine Auskunftsverlangen erhalten, sei in keiner Weise an den in Rede stehenden Verfahren beteiligt gewesen und habe nicht die Gelegenheit gehabt, ihre Verteidigungsrechte auszuüben.
279 In der angefochtenen Entscheidung habe die Kommission Eni daher objektiv die Verantwortung für das Verhalten von anderen Rechtsträgern zugerechnet, und zwar retrospektiv nach 25 Jahren. Ein solcher Ansatz stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit, den Grundsatz der Rechtssicherheit sowie gegen die Verteidigungsrechte von Eni dar, da Eni zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung Polypropylen und der Entscheidung PVC II die Verantwortung, die die Kommission ihr später in der angefochtenen Entscheidung zugerechnet habe, nicht habe beanstanden können.
280 Die Kommission ist der Ansicht, die Auffassung der Klägerin verkenne die Rechtsprechung zur Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf das Geschäftsverhalten der zu 100 % oder nahezu 100 % gehaltenen Tochtergesellschaft. In einem solchen Fall brauche die Kommission keinen zusätzlichen Beweis zu erbringen, wenn die betreffenden Gesellschaften selbst keine Beweise zur Widerlegung der in Rede stehenden Vermutung beibrächten, was hier nicht der Fall gewesen sei.
281 Aus dem Vorbringen der Parteien ergibt sich, dass die im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes der Prüfung des Gerichts unterliegende Hauptfrage dahin geht, ob die Vermutung der wirtschaftlichen Einheit zwischen der Muttergesellschaft und den von der Muttergesellschaft zu 100 % gehaltenen Tochtergesellschaften im besonderen Kontext des Wiederholungsfalls anwendbar ist, wenn die Tochtergesellschaften von der Kommission in früheren Entscheidungen geahndete Zuwiderhandlungen begangen haben, in denen das Verhalten der Tochtergesellschaften der Muttergesellschaft jedoch nicht zugerechnet wurde.
282 Das Wettbewerbsrecht der Union betrifft die Tätigkeit von Unternehmen, und der Begriff des Unternehmens umfasst jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
283 Das wettbewerbswidrige Verhalten eines Unternehmens, das sein Marktverhalten vor allem wegen der wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen zu einem anderen Unternehmen nicht selbständig bestimmt, kann daher dem anderen Unternehmen zugerechnet werden (Urteile des Gerichtshofs vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Slg. 2005, I-5425, Rn. 117, und Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 282 angeführt, Rn. 58).
284 In dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, kann zum einen diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben und besteht zum anderen eine widerlegliche Vermutung, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt. Unter diesen Umständen genügt es, dass die Kommission nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, um anzunehmen, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieses Tochterunternehmens ausübt. Die Kommission kann in der Folge dem Mutterunternehmen als Gesamtschuldner die Haftung für die Zahlung der gegen dessen Tochterunternehmen verhängten Geldbuße zuweisen, sofern die vom Mutterunternehmen, dem es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, vorgelegten Beweise nicht für den Nachweis ausreichen, dass sein Tochterunternehmen auf dem Markt eigenständig auftritt (vgl. Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 282 angeführt, Rn. 60 und 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
285 Um die Vermutung zu widerlegen, ist es nach der Rechtsprechung Sache der betroffenen Gesellschaften, alle Angaben in Bezug auf die organisatorischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verbindungen zwischen der Tochtergesellschaft und der Muttergesellschaft vorzulegen, die ihrer Ansicht nach dem Nachweis dienen könnten, dass sie keine wirtschaftliche Einheit darstellen. Das Gericht muss bei seiner Würdigung alle ihm vorgelegten Angaben berücksichtigen, wobei deren Charakter und Bedeutung je nach den Merkmalen des jeweiligen Falles variieren können (Urteile des Gerichts vom 12. Dezember 2007, Akzo Nobel u. a./Kommission, T-112/05, Slg. 2007, II-5049, Rn. 65, und vom 13. Juli 2011, Eni/Kommission, T-39/07, Slg. 2011, II-4457, Rn. 95).
286 Im vorliegenden Fall macht die Klägerin geltend, die nachträgliche Zurechnung einer fiktiven Verantwortung für die Zwecke des Wiederholungsfalls, auf der Grundlage einer Vermutung der wirtschaftlichen Einheit zwischen Tochtergesellschaft und Muttergesellschaft aufgrund von Kapitalverflechtungen, mache diese Vermutung unwiderleglich, da sie in den Verfahren, die zum Erlass der Entscheidungen Polypropylen und PVC II geführt hätten, ihre Verteidigungsrechte nicht habe ausüben können.
287 Die Kommission weist in den Erwägungsgründen 674 bis 676 der angefochtenen Entscheidung lediglich darauf hin, dass die Entscheidung Polypropylen u. a. an Anic gerichtet worden sei, während die Entscheidung PVC II u. a. an EniChem gerichtet worden sei. Nach Ansicht der Kommission waren diese Adressaten im Zeitraum der betreffenden Zuwiderhandlungen Teil von „Unternehmensgruppen, aus denen später die heutige Eni-Gruppe ... hervorgegangen [ist]“, so dass Eni bereits Adressatin anderer Entscheidungen gewesen sei, die einen Verstoß gegen Art. 81 EG festgestellt hätten.
288 Sodann legt die Kommission, gestützt auf das Urteil Michelin/Kommission, oben in Rn. 275 angeführt (Rn. 290), im 678. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung Folgendes dar:
„... Die ... Entscheidungen [Polypropylen und PVC II] wurden gegen Rechtssubjekte getroffen, die während des Zeitraums der Zuwiderhandlung Teil eines Unternehmens waren. ... Ein Rückfall kann auch im Hinblick auf eine Tochtergesellschaft innerhalb einer Gruppe unter Verweis auf eine frühere Zuwiderhandlung einer anderen Tochtergesellschaft der betreffenden Gruppe festgestellt werden, selbst wenn die Muttergesellschaft nicht Adressat der vorherigen Verbotsentscheidung war. ... In jedem Fall können interne Umstrukturierungen keinerlei Auswirkungen auf die Feststellung haben, dass dieser erschwerende Umstand gegeben ist. Darüber hinaus stellt die Kommission fest, dass eine Entscheidung nicht an die eigentliche Muttergesellschaft einer Gruppe gerichtet sein muss, sondern dass die Kommission bei der Bestimmung des Adressaten einer Entscheidung einen Ermessensspielraum besitzt.“
289 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass in der Rechtssache, in der das Urteil Michelin/Kommission, oben in Rn. 275 angeführt, ergangen ist, die Klägerin im Gegensatz zum vorliegenden Fall nicht bestritt, dass die zwei Tochtergesellschaften und die Muttergesellschaft demselben Unternehmen angehörten, und auch keinen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte der Muttergesellschaft hinsichtlich der retrospektiven Zurechnung der Verantwortlichkeit für die von der anderen Tochtergesellschaft, gegen die die frühere Entscheidung gerichtet war, begangene Zuwiderhandlung geltend machte. Aus diesem Grund konnte das Gericht in diesem Urteil die Klage abweisen, ohne über die etwaige Berücksichtigung von Beweisen zur Widerlegung der Vermutung der Verantwortlichkeit oder über die Ausübung der Verteidigungsrechte in diesem Zusammenhang zu befinden. Da jedoch in der vorliegenden Rechtssache Eni insoweit gewichtige Argumente vorträgt, kann das Gericht das Ergebnis des Urteils Michelin/Kommission, oben in Rn. 275 angeführt, nicht automatisch auf den vorliegenden Fall übertragen.
290 Zweitens ist die Entwicklung der Rechtsprechung der Unionsgerichte seit dem Urteil Michelin/Kommission, oben in Rn. 275 angeführt, im Hinblick auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaft, die sich allein auf den Umstand gründet, dass die Muttergesellschaft das gesamte oder nahezu gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, zu berücksichtigen.
291 Insbesondere in seinen Urteilen vom 20. Januar 2011, General Química u. a./Kommission (C-90/09 P, Slg. 2011, I-1, Rn. 104 bis 109), und vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission (C-521/09 P, Slg. 2011, I-8947, Rn. 153, 167 und 168), hat der Gerichtshof auf die Bedeutung der Prüfung des Vorbringens der mit Sanktionen belegten Unternehmen zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaft hingewiesen.
292 Drittens hat Eni im vorliegenden Fall, da weder die Entscheidung Polypropylen noch die Entscheidung PVC II an sie gerichtet war, in den Verwaltungsverfahren, die zum Erlass dieser Entscheidungen führten, keine Möglichkeit erhalten, zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaft, auf deren Grundlage die Kommission mehr als 14 Jahre später die Wiederholung der Zuwiderhandlung durch Eni im Rahmen der angefochtenen Entscheidung festgestellt hat, geeignete Beweise vorzulegen.
293 Zwar hat die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte, die im Rahmen des Verfahrens übermittelt wurde, das zur angefochtenen Entscheidung geführt hat, im Zusammenhang mit den erschwerenden Umständen darauf hingewiesen, dass „vor oder während der Zuwiderhandlung zumindest Eni, Shell und Total Adressaten von vorherigen Entscheidungen der Kommission betreffend Kartelle gewesen waren oder waren“, und ausgeführt, dass es sich um die Entscheidungen Polypropylen und PVC II handelte.
294 Dieser Hinweis in der Mitteilung der Beschwerdepunkte kann jedoch den Anforderungen, die sich aus der Wahrung der Verteidigungsrechte ergeben und die in der wirksamen Möglichkeit bestehen, Beweise zur Widerlegung der in Rede stehenden Vermutung beizubringen, nicht genügen.
295 Insoweit ist nämlich zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum einen der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ausschließt, dass eine Entscheidung als rechtmäßig gelten kann, mit der die Kommission gegen ein Unternehmen eine Geldbuße im Bereich des Wettbewerbsrechts verhängt, ohne ihm zuvor die ihm zur Last gelegten Beschwerdepunkte mitgeteilt zu haben, und dass zum anderen die Mitteilung der Beschwerdepunkte wegen ihrer Bedeutung eindeutig angeben muss, gegen welche juristische Person Geldbußen festgesetzt werden könnten, und an diese Person gerichtet sein muss (Urteile des Gerichtshofs vom 3. September 2009, Papierfabrik August Koehler u. a./Kommission, C-322/07 P, C-327/07 P und C-338/07 P, Slg. 2009, I-7191, Rn. 37 und 38, und Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 282 angeführt, Rn. 57).
296 Es ist daher nicht hinnehmbar, dass die Kommission im Rahmen der Feststellung des erschwerenden Umstands der Wiederholungstäterschaft die Auffassung vertritt, dass eine Gesellschaft für eine frühere Zuwiderhandlung zur Verantwortung gezogen werden müsse, für die sie von ihr nicht durch eine Entscheidung mit einer Sanktion belegt wurde und im Rahmen von deren Erstellung sie nicht Adressat einer Mitteilung der Beschwerdepunkte war. Einer solchen Gesellschaft wurde nämlich in dem Verfahren, das zum Erlass der die frühere Zuwiderhandlung feststellenden Entscheidung geführt hat, keine Gelegenheit gegeben, ihren Standpunkt vorzutragen, um das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen ihr und anderen Gesellschaften, gegen die die frühere Entscheidung gerichtet war, in Abrede zu stellen (Urteil des Gerichts vom 13. Juli 2011, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs u. a./Kommission, T-144/07, T-147/07 bis T-150/07 und T-154/07, Slg. 2011, II-5129, Rn. 319).
297 Diese Schlussfolgerung ist umso mehr geboten, als zwar nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die zwischen der betreffenden Zuwiderhandlung und einer früheren Verletzung der Wettbewerbsregeln verstrichene Zeit berücksichtigt werden muss, um die Neigung des Unternehmens, diese Regeln zu übertreten, beurteilen zu können, der Gerichtshof jedoch bereits betont hat, dass die Kommission für die Feststellung eines Wiederholungsfalls nicht an eine Verjährungsfrist gebunden ist (Urteil Groupe Danone/Kommission, oben in Rn. 160 angeführt, Rn. 38, und Urteil des Gerichts vom 18. Juni 2008, Hoechst/Kommission, T-410/03, Slg. 2008, II-881, Rn. 462) und dass diese Feststellung somit auch viele Jahre nach der Feststellung einer Zuwiderhandlung zu einem Zeitpunkt getroffen werden kann, zu dem es dem betroffenen Unternehmen jedenfalls nicht möglich wäre, das Bestehen einer solchen wirtschaftlichen Einheit mit Erfolg zu bestreiten, insbesondere wenn die oben in Rn. 284 angeführte Vermutung angewandt wird (Urteil ThyssenKrupp Liften Ascenseurs u. a./Kommission, oben in Rn. 296 angeführt, Rn. 320).
298 Schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass im Fall einer fast 100%igen Beteiligung am Kapital einer Tochtergesellschaft auch die Muttergesellschaft Adressat der an die Tochtergesellschaft gerichteten Warnung aus einer früheren Entscheidung der Kommission ist, mit der die Tochtergesellschaft wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht mit einer Sanktion belegt worden ist. Zwar ist es durchaus statthaft, anzunehmen, dass eine Muttergesellschaft von einer früheren Entscheidung der Kommission, die an ihre Tochtergesellschaft gerichtet war, deren Kapital sie fast vollständig hält, tatsächlich Kenntnis hat, doch kann eine solche Kenntnis nicht das Fehlen einer Feststellung in der früheren Entscheidung heilen, dass zwischen dieser Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit dergestalt bestehe, dass der Muttergesellschaft die Haftung für die frühere Zuwiderhandlung auferlegt werden könnte und die gegen sie festgesetzten Geldbußen wegen eines Wiederholungsfalls erhöht werden könnten (Urteil ThyssenKrupp Liften Ascenseurs u. a./Kommission, oben in Rn. 296 angeführt, Rn. 322).
299 Daher ist das Gericht ist der Ansicht, dass die Kommission die Verteidigungsrechte von Eni verletzt hat, indem sie auf der Grundlage der Entscheidungen Polypropylen und PVC II, die nicht an Eni gerichtet waren, einen Wiederholungsfall festgestellt hat und Eni retrospektiv die Verantwortung für von Anic und EniChem begangenen Zuwiderhandlungen zugerechnet hat.
300 Das weitere Vorbringen der Kommission steht diesem Ergebnis nicht entgegen.
301 Die Kommission beruft sich auf die Urteile des Gerichts vom 8. Juli 2008, BPB/Kommission (T-53/03, Slg. 2008, II-1333, Rn. 368 und 389), und vom 30. September 2009, Hoechst/Kommission (T-161/05, Slg. 2009, II-3555, Rn. 147). In diesen Urteilen habe der Unionsrichter die Möglichkeit bestätigt, den erschwerenden Umstand des Wiederholungsfalls für unmittelbar von verschiedenen Tochtergesellschaften derselben Muttergesellschaft begangene Zuwiderhandlungen festzustellen.
302 Insoweit genügt der Hinweis, dass das Gericht in den von der Kommission angeführten Urteilen nicht im Hinblick auf die Wahrung der Verteidigungsrechte geprüft hat, ob die Kommission der Muttergesellschaft rechtmäßig retrospektiv die Verantwortung für eine von einer Tochtergesellschaft, die durch eine frühere Entscheidung mit einer Sanktion belegt wurde, begangene Zuwiderhandlung zurechnen konnte. Folglich können sich diese Urteile nicht auf die Prüfung des vorliegenden Klagegrundes auswirken.
303 Gleiches gilt für das Urteil des Gerichts vom 27. September 2012, Shell Petroleum u. a./Kommission (T‑343/06).
304 In der Rechtssache, in der das Urteil Shell Petroleum u. a./Kommission, oben in Rn. 303 angeführt, ergangen ist, brachten die Klägerinnen erstmals in der mündlichen Verhandlung vor, die Kommission habe dadurch ihre Verteidigungsrechte verletzt, dass sie ihnen nicht Gelegenheit gegeben habe, die Vermutung zu widerlegen, dass die Muttergesellschaften auf ihre Tochtergesellschaften, die wegen der beiden früheren, für die Feststellung des Wiederholungsfalls berücksichtigten Zuwiderhandlungen mit Sanktionen belegt worden seien, tatsächlich einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hätten.
305 Das Gericht hat diese Rüge jedoch nicht in der Sache geprüft, sondern sie auf der Grundlage von Art. 44 § 1 Buchst. c und Art. 48 § 2 der Verfahrensordnung als unzulässig zurückgewiesen, weil sie verspätet vorgebracht wurde.
306 Daher steht auch das Urteil Shell Petroleum u. a./Kommission, oben in Rn. 303 angeführt, dem Ergebnis oben in Rn. 299 nicht entgegen.
307 Nach alledem ist dem vierten Klagegrund stattzugeben und die angefochtene Entscheidung abzuändern, ohne dass es notwendig wäre, die übrigen Rügen der Klägerin zu prüfen, die diese im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes erhoben hat.
308 Die Konsequenzen, die an die in Rn. 299 festgestellte Rechtswidrigkeit zu knüpfen sind, werden unten in den Rn. 309 ff. untersucht.
Zur Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung und zur Festsetzung des endgültigen Betrags der Geldbuße
309 Nach dem 662. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung ist der Grundbetrag der gegen Eni festzusetzenden Geldbuße auf 13000000 Euro festgesetzt worden.
310 Nach dem 680. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission den Grundbetrag der Geldbuße wegen des Vorliegens eines Wiederholungsfalls um 60 % erhöht, so dass der Grundbetrag somit 20800000 Euro erreicht hat.
311 Sodann hat die Kommission im 713. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung festgestellt, dass aufgrund der Größe von Eni nach Ziff. 30 der Leitlinien von 2006 zur Abschreckung der Grundbetrag der Geldbuße noch durch die Anwendung eines Faktors 1,4 zu erhöhen sei. Somit ist die Kommission zu einem angepassten Grundbetrag von 29120000 Euro gelangt. Dieser Betrag entspricht der gegen Eni in der angefochtenen Entscheidung verhängten Geldbuße.
312 In Anbetracht des Ergebnisses, zu dem das Gericht infolge der Prüfung des vierten Klagegrundes gelangt ist (vgl. oben, Rn. 307 und 308), ist die Geldbuße unter Berücksichtigung eines Grundbetrags von 13000000 Euro, aber ohne Erhöhung um 60 % wegen des Vorliegens eines Wiederholungsfalls neu festzusetzen.
313 Da die übrigen Elemente der Berechnung der Geldbuße unverändert bleiben, ist die gegen Eni verhängte Geldbuße auf 18200000 Euro festzusetzen.
314 Das Gericht ist in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Ansicht, dass die Höhe der so festgesetzten Geldbuße unter Berücksichtigung der Schwere und des Zeitraums der Zuwiderhandlung der Klägerin angemessen ist.
Kosten
315 Nach Art. 87 § 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht die Kosten teilen oder beschließen, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt.
316 Im vorliegenden Fall wurden die Klagegründe, mit denen die Beteiligung von Eni am Kartell bestritten wurde, zurückgewiesen. Das Gericht hat einem einzigen der sechs von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe stattgegeben, so dass die gegen sie verhängte Geldbuße um 37,5 % herabgesetzt wurde. Es erscheint somit nach den Umständen des Falles angemessen, dass die Klägerin die Hälfte ihrer eigenen Kosten und die Hälfte der Kosten der Kommission trägt. Die Kommission trägt die Hälfte ihrer eigenen Kosten und die Hälfte der Kosten der Klägerin.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Betrag der gegen die Eni SpA in Art. 2 der Entscheidung K(2008) 5476 endg. der Kommission vom 1. Oktober 2008 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/39.181 – Kerzenwachse) verhängten Geldbuße wird auf 18200000 Euro festgesetzt.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Europäische Kommission trägt die Hälfte ihrer eigenen Kosten und die Hälfte der Eni entstandenen Kosten. Eni trägt die Hälfte ihrer eigenen Kosten und die Hälfte der der Kommission entstandenen Kosten.
Czúcz
Labucka
Gratsias
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. Dezember 2014.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
1. Verwaltungsverfahren und Erlass der angefochtenen Entscheidung
2. Zur Eni-Gruppe
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
1. Zum ersten und zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 81 EG hinsichtlich der Beteiligung der Klägerin am Kartell
Zu den Begriffen „Vereinbarung“ und „abgestimmte Verhaltensweise“
Zu den Grundsätzen der Beweiswürdigung
Zur Beschreibung des Hauptteils der Zuwiderhandlung in der angefochtenen Entscheidung
Zur Beteiligung von Eni am Kartell aufgrund ihrer Anwesenheit beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997
Prüfung der Beweismittel
Zur Anwesenheit von Eni beim technischen Treffen vom 30. und 31. Oktober 1997 und zur Frage ihrer Distanzierung
Ergebnis zur Beteiligung der Klägerin am Kartell am 30. und 31. Oktober 1997
Zur Beteiligung von Eni an der Zuwiderhandlung vom 21. Februar 2002 bis zum 28. April 2005
Zur fehlenden Beteiligung von Eni an einer Vereinbarung oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweise zur Festsetzung der Preise für Paraffinwachse
– Prüfung der Beweismittel
– Zur Anwesenheit von Eni bei den wettbewerbswidrigen Treffen und zur fehlenden Distanzierung
– Zum behaupteten fehlenden Interesse der Klägerin, sich an Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen hinsichtlich der Festsetzung der Preise für Paraffinwachse zu beteiligen
– Zur alternativen Erklärung der Klägerin
– Zum behaupteten Fehlen einer Willensübereinstimmung
– Zur behaupteten Nichtbeteiligung an einer abgestimmten Verhaltensweise
Zur Nichtbeteiligung von Eni an der Vereinbarung oder der abgestimmten Verhaltensweise zum Austausch von Informationen
2. Zu den Klagegründen betreffend die Berechnung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße
Zum dritten Klagegrund: fehlerhafte Festsetzung des Koeffizienten aufgrund der Schwere der Zuwiderhandlung auf 17 % und des „Eintrittsgebühr“ genannten Zusatzbetrags
Zum fünften Klagegrund: fehlerhafte Nichtberücksichtigung der untergeordneten Rolle von Eni im Kartell und der Nichtanwendung der Vereinbarungen über die Preise als mildernder Umstand
Zur passiven oder untergeordneten Rolle von Eni im Kartell
– Zur Begründetheit der angefochtenen Entscheidung
– Zur Begründung der angefochtenen Entscheidung
Zur Nichtanwendung der Vereinbarungen zur Preisfestsetzung durch Eni
– Zur Begründetheit der angefochtenen Entscheidung
– Zur Begründung der angefochtenen Entscheidung
Zum sechsten Klagegrund: fehlerhafte Nichtberücksichtigung der Fahrlässigkeit von Eni als mildernder Umstand
Zum vierten Klagegrund: fehlerhafte Feststellung des erschwerenden Umstands des Wiederholungsfalls
Zur Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung und zur Festsetzung des endgültigen Betrags der Geldbuße
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 5. September 2014.#Éditions Odile Jacob SAS gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Markt für Buchverlagswesen – Entscheidung, mit der der Zusammenschluss unter der Bedingung der Weiterveräußerung von Vermögenswerten für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird – Beschluss über die Zulassung des Erwerbers der weiterveräußerten Vermögenswerte – Beschluss, der nach der Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung hinsichtlich desselben Verfahrens durch das Gericht gefasst wird – Rechtsschutzinteresse – Verstoß gegen Art. 266 AEUV – Verletzung der durch die Entscheidung über die bedingte Genehmigung auferlegten Verpflichtungen – Unterscheidung zwischen Bedingungen und Auflagen – Rückwirkungsverbot – Beurteilung der Bewerbung des Erwerbers – Unabhängigkeit des Erwerbers vom Veräußerer – Ermessensmissbrauch – Begründungspflicht.#Rechtssache T‑471/11.
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62011TJ0471
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ECLI:EU:T:2014:739
| 2014-09-05T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62011TJ0471
URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
5. September 2014 (*1)
„Wettbewerb — Zusammenschlüsse — Markt für Buchverlagswesen — Entscheidung, mit der der Zusammenschluss unter der Bedingung der Weiterveräußerung von Vermögenswerten für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird — Beschluss über die Zulassung des Erwerbers der weiterveräußerten Vermögenswerte — Beschluss, der nach der Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung hinsichtlich desselben Verfahrens durch das Gericht gefasst wird — Rechtsschutzinteresse — Verstoß gegen Art. 266 AEUV — Verletzung der durch die Entscheidung über die bedingte Genehmigung auferlegten Verpflichtungen — Unterscheidung zwischen Bedingungen und Auflagen — Rückwirkungsverbot — Beurteilung der Bewerbung des Erwerbers — Unabhängigkeit des Erwerbers vom Veräußerer — Ermessensmissbrauch — Begründungspflicht“
In der Rechtssache T‑471/11
Éditions Odile Jacob SAS mit Sitz in Paris (Frankreich), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte O. Fréget, M. Struys und L. Eskenazi, dann Rechtsanwälte O. Fréget, L. Eskenazi und D. Béranger sowie schließlich Rechtsanwälte O. Fréget und L. Eskenazi,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch C. Giolito, O. Beynet und S. Noë als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Lagardère SCA mit Sitz in Paris, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte A. Winckler, F. de Bure, J.‑B. Pinçon und L. Bary,
und durch
Wendel mit Sitz in Paris, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte M. Trabucchi, F. Gordon und A. Gosset-Grainville,
Streithelferinnen,
wegen Nichtigerklärung der in der Sache COMP/M.2978 – Lagardère/Natexis/VUP nach dem Urteil vom 13. September 2010, Éditions Odile Jacob/Kommission (T‑452/04, Slg, EU:T:2010:385), ergangenen Entscheidung C(2011) 3503 der Kommission vom 13. Mai 2011, mit der die Kommission Wendel Investissement erneut als Erwerber der aufgrund der Verpflichtungen im Rahmen der Entscheidung der Kommission vom 7. Januar 2004 über die Genehmigung des Zusammenschlusses Lagardère/Natexis/VUP veräußerten Vermögenswerte zugelassen hat,
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro sowie der Richter S. Gervasoni (Berichterstatter) und L. Madise,
Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 2014,
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Mit ihrer Entscheidung 2004/422/EG vom 7. Januar 2004 zur Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt und dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (Sache COMP/M.2978 – Lagardère/Natexis/VUP) (Zusammenfassung in ABl. L 125, S. 54, im Folgenden: mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004) genehmigte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die beabsichtigte Übernahme des europäischen Verlagsbereichs der Vivendi Universal SA, der Vivendi Universal Publishing SA (im Folgenden: VUP), durch die erste Streithelferin, Lagardère SCA.
2 Diese Genehmigung war an Bedingungen geknüpft, die sicherstellen sollten, dass Lagardère die in dieser Entscheidung festgelegten Verpflichtungen erfüllte, die sie der Kommission gegenüber übernommen hatte, um die Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt herbeizuführen. Zu diesen Verpflichtungen zählte die Veräußerung eines wesentlichen Teils der Vermögenswerte von VUP (jetzt Editis) an einen oder mehrere von Lagardère unabhängige Erwerber.
3 Um die Erfüllung ihrer Verpflichtungen sicherzustellen, hatte Lagardère insbesondere einen Beauftragten zu benennen, der von ihr selbst und von Editis unabhängig war und den Lagardère nach Modalitäten zu honorieren hatte, die weder die ordnungsgemäße Erfüllung seines Auftrags noch seine Unabhängigkeit beeinträchtigten.
4 Am 5. Februar 2004 billigte die Kommission die Kanzlei S., vertreten durch ihren Präsidenten B., als Beauftragten und den am 30. Januar 2004 hierzu vorgelegten Mandatsentwurf.
5 Am 9. Februar 2004 benannte Lagardère die Kanzlei S. als Beauftragten.
6 Lagardère setzte sich mit mehreren Unternehmen, die für den Erwerb der weiterzuveräußernden Vermögenswerte in Frage kamen, darunter der Klägerin, der Éditions Odile Jacob SAS, in Verbindung. Die Klägerin bekundete ihr Interesse an diesem Vorgang. Mit Fernkopie vom 28. April 2004 übermittelte sie Lagardère ihr Übernahmeangebot.
7 Nachdem Lagardère bekannt gegeben hatte, dass sie die Angebote fünf potenzieller Erwerber in Betracht ziehe, darunter das der Klägerin, aber einem von ihnen, nämlich der zweiten Streithelferin, der Wendel Investissement SA (jetzt: Wendel), den alleinigen Zugriff vorbehalte, einigte sie sich am 28. Mai 2004 mit dieser auf den Entwurf einer Vereinbarung über die Übernahme der Vermögenswerte von Editis.
8 Mit Schreiben vom 4. Juni 2004 beantragte Lagardère bei der Kommission die Zulassung von Wendel als Erwerber dieser Vermögenswerte.
9 Am 5. Juli 2004 legte die Kanzlei S. der Kommission ihren zusammenfassenden Bericht vor, in dem sie zu dem Ergebnis gelangte, die Bewerbung von Wendel entspreche den in den Verpflichtungszusagen von Lagardère enthaltenen Zulassungskriterien für den Übernehmer der Vermögenswerte, wie sie in der mit Auflagen verbundenen Entscheidung vom 7. Januar 2004 über die Genehmigung des Zusammenschlusses festgelegt worden seien.
10 Am 8. Juli 2004 erhob die Klägerin vor dem Gericht eine Klage auf Nichtigerklärung der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 (Rechtssache T‑279/04).
11 Mit Entscheidung (2004) D/203365 vom 30. Juli 2004 (im Folgenden: erste Zulassungsentscheidung), die der Klägerin am 27. August 2004 übermittelt wurde, ließ die Kommission Wendel als Erwerber der weiterzuveräußernden Vermögenswerte zu, nachdem sie – insbesondere gestützt auf den Bericht der Kanzlei S. – festgestellt hatte, dass Wendel die in den Verpflichtungszusagen von Lagardère festgelegten Zulassungskriterien erfülle.
12 Mit Vertrag vom 30. September 2004 übertrug Lagardère die Vermögensgegenstände, die Gegenstand der Übernahmevereinbarung waren, an Wendel.
13 Am 8. November 2004 erhob die Klägerin vor dem Gericht Klage auf Nichtigerklärung der ersten Zulassungsentscheidung (Rechtssache T‑452/04).
14 Am 30. Mai 2008 verkaufte Wendel die von Lagardère an sie veräußerten Vermögenswerte von Editis an die spanische Unternehmensgruppe Planeta.
15 Mit Urteil vom 13. September 2010, Éditions Odile Jacob/Kommission (T‑279/04, EU:T:2010:384, im Folgenden: Urteil T‑279/04), wies das Gericht (Sechste Kammer) die von der Klägerin erhobene Klage auf Nichtigerklärung der mit Auflagen verbundenen Genehmigung des Zusammenschlusses vom 7. Januar 2004 zurück und erklärte die erste Zulassungsentscheidung mit Urteil gleichen Datums, Éditions Odile Jacob/Kommission (T‑452/04, Slg, EU:T:2010:385, im Folgenden: Urteil T‑452/04), für nichtig. Das Gericht war der Ansicht, dass diese Zulassungsentscheidung aufgrund eines Berichts erlassen worden sei, den ein Beauftragter erstellt habe, der dem in den Verpflichtungszusagen von Lagardère aufgestellten Erfordernis der Unabhängigkeit nicht entsprochen habe.
16 Nach Verkündung des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) reichte Lagardère am 22. November 2010 bei der Kommission einen erneuten Antrag auf Zulassung von Wendel als Erwerber der Vermögensgegenstände von Editis ein, die Gegenstand der Übernahme waren, und legte ihr zu diesem Zweck am 20. Dezember 2010 die Bewerbung eines neuen Beauftragten vor. Am 11. Januar 2011 stimmte die Kommission dem neuen Beauftragten zu.
17 Am 24. November 2010 legte die Klägerin beim Gerichtshof gegen das Urteil T‑279/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:384) Rechtsmittel ein (Rechtssache C‑551/10 P). Am selben Tag legten Lagardère und die Kommission gegen das Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) Rechtsmittel ein (Rechtssachen C‑553/10 P und C‑554/10 P).
18 Wegen des weiteren Vorgehens im Anschluss an das Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) richtete die Klägerin zwei Schreiben vom 17. Dezember 2010 und vom 11. März 2011 an die Kommission, die diese mit Schreiben vom 24. Februar und 18. April 2011 beantwortete.
19 Am 14. Februar und 16. März 2011 fanden Besprechungen zwischen der Klägerin und der Kommission statt.
20 In Beantwortung eines Schreibens der Klägerin vom 25. März 2011 forderte die Kommission die Klägerin am 6. April 2011 auf, ihren Standpunkt dem neuen Beauftragten innerhalb einer Frist von zwei Wochen darzulegen und ihre etwaigen zusätzlichen Bemerkungen innerhalb einer Frist von drei Wochen der Kommission zuzuleiten. Die Klägerin legte ihre Stellungnahme zum neuen Zulassungsverfahren mit Schreiben vom 20. April 2011 dem neuen Beauftragten und mit Schreiben vom 27. April 2011 der Kommission vor.
21 In seinem Bericht kam der neue Beauftragte zu dem Ergebnis, Wendel sei zum Zeitpunkt der Transaktion im Jahr 2004 ein adäquater Erwerber gewesen.
22 Mit Entscheidung C(2011) 3503 vom 13. Mai 2011 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung), die der Klägerin am 27. Juni 2011 mitgeteilt wurde, erließ die Kommission in Anwendung der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 eine erneute Entscheidung, die Wendel rückwirkend zum 30. Juli 2004 als Erwerber der veräußerten Vermögenswerte von Editis zuließ.
23 Mit Urteil vom 6. November 2012, Kommission und Lagardère/Éditions Odile Jacob (C‑553/10 P und C‑554/10 P, Slg, EU:C:2012:682, im Folgenden: Urteil C‑553/10 P und C‑554/10 P), wies der Gerichtshof die von der Kommission und von Lagardère gegen das Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) eingelegten Rechtsmittel zurück. Mit Urteil gleichen Datums, Éditions Odile Jacob/Kommission (C‑551/10 P, Slg, EU:C:2012:681, im Folgenden: Urteil C‑551/10 P), wies er das Rechtsmittel der Klägerin gegen das Urteil T‑279/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:384) zurück.
Verfahren und Anträge der Beteiligten
24 Mit Klageschrift, die am 5. September 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
25 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Mit Beschluss vom 24. November 2011, Éditions Odile Jacob/Kommission (T‑471/11 R, EU:T:2011:695), hat der Präsident des Gerichts diesen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz mangels Dringlichkeit zurückgewiesen und die Kostenentscheidung vorbehalten.
26 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin gemäß Art. 76a der Verfahrensordnung des Gerichts beantragt, im beschleunigten Verfahren zu entscheiden. Mit Entscheidung vom 14. Oktober 2011 hat das Gericht (Achte Kammer) diesen Antrag zurückgewiesen.
27 Mit am 17. und 24. November 2011 eingereichten Schriftsätzen haben Lagardère und Wendel beantragt, nach Art. 115 der Verfahrensordnung als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Mit Beschluss des Präsidenten der Achten Kammer des Gerichts vom 3. Dezember 2012 sind Lagardère und Wendel als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.
28 Mit Beschluss des Präsidenten der Achten Kammer des Gerichts vom 22. Dezember 2011 ist das vorliegende Verfahren bis zur Verkündung der das Verfahren in den Rechtssachen C‑551/10 P, C‑553/10 P und C‑554/10 P abschließenden Urteile ausgesetzt worden. Das Verfahren ist am 6. November 2012 fortgesetzt worden.
29 Wegen der teilweisen Neubesetzung des Gerichts ist die vorliegende Rechtssache einem neuen, der Zweiten Kammer angehörenden Berichterstatter zugewiesen worden.
30 Das Gericht (Zweite Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 seiner Verfahrensordnung die Kommission um Beantwortung einer Frage gebeten. Die Kommission hat diesem Ersuchen innerhalb der festgesetzten Frist entsprochen.
31 In der Sitzung vom 6. Mai 2014 haben die Beteiligten mündlich verhandelt und die Fragen des Gerichts beantwortet.
32 Die Klägerin beantragt,
—
die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;
—
der Kommission und den Streithelferinnen die Kosten aufzuerlegen.
33 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
34 Lagardère und Wendel beantragen,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin sämtliche Kosten ihrer Streithilfe aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
Zur Zulässigkeit
35 Lagardère und Wendel halten die Klage für unzulässig, weil der Klägerin das Rechtsschutzinteresse fehle, denn selbst im Fall der Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung habe sie keine Möglichkeit, die im Besitz von Editis befindlichen Vermögenswerte zu erwerben, und im Fall der Erhebung einer Schadensersatzklage könne sie keinen höheren Schaden ersetzt verlangen als den, der ihr infolge der Rechtswidrigkeit der ersten Zulassungsentscheidung entstanden sei.
36 Zunächst ist festzustellen, dass die Kommission in der mündlichen Verhandlung zwar Zweifel am Rechtsschutzinteresse der Klägerin geäußert, aber weder in ihren Schriftsätzen noch in der mündlichen Verhandlung beantragt hat, die Klage für unzulässig zu erklären, sondern lediglich, sie als unbegründet abzuweisen. Nach Art. 40 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß Art. 53 Abs. 1 dieser Satzung auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, können mit den Streithilfeanträgen jedoch nur die Anträge einer Partei unterstützt werden. Der Streithelfer muss zudem nach Art. 116 § 3 der Verfahrensordnung den Rechtsstreit in der Lage annehmen, in der sich dieser zur Zeit des Beitritts befindet.
37 Daraus folgt, dass Lagardère und Wendel als Streithelferinnen im vorliegenden Verfahren zur Erhebung einer Einrede der Unzulässigkeit nicht befugt sind und das Gericht somit die von ihnen geltend gemachten Unzulässigkeitsgründe nicht zu prüfen braucht (Urteile vom 24. März 1993, CIRFS u. a./Kommission, C‑313/90, Slg, EU:C:1993:111, Rn. 20 bis 22, vom 27. November 1997, Kaysersberg/Kommission, T‑290/94, Slg, EU:T:1997:186, Rn.76, und vom 13. April 2011, Deutschland/Kommission, T‑576/08, Slg, EU:T:2011:166, Rn. 38 und 39). Die von Lagardère und Wendel erhobenen Einreden der Unzulässigkeit sind daher zurückzuweisen.
38 Da das Rechtsschutzinteresse jedoch eine von Amts wegen zu prüfende unverzichtbare Prozessvoraussetzung ist (Beschluss vom 7. Oktober 1987, d. M./Rat und WSA, 108/86, Slg, EU:C:1987:426, Rn. 10, und Urteil vom 14. April 2005, Sniace/Kommission, T‑141/03, Slg, EU:T:2005:129, Rn. 22), hat das Gericht die von den Streithelferinnen erhobene Einrede der Unzulässigkeit von Amts wegen zu prüfen (Urteile CIRFS u. a./Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, EU:C:1993:111, Rn. 23, und vom 11. Juli 1990, Neotype Techmashexport/Kommission und Rat, C‑305/86 und C‑160/87, Slg, EU:C:1990:295, Rn. 23).
39 Nach ständiger Rechtsprechung ist das Rechtsschutzinteresse erste und wesentliche Grundvoraussetzung einer jeden Klage. Das Rechtsschutzinteresse einer klagenden Partei setzt voraus, dass die Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung als solche geeignet ist, Rechtswirkungen zu erzeugen, dass die Klage somit der Partei, die sie erhoben hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann, und dass diese Partei ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung nachweist (vgl. Urteil vom 19. Juni 2009, Socratec/Kommission, T‑269/03, EU:T:2009:211, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Fall von Zweifeln oder Einwänden hat die klagende Partei ihr Rechtsschutzinteresse nachzuweisen (Beschluss vom 31. Juli 1989, S./Kommission, 206/89 R, Slg, EU:C:1989:333, Rn. 8, und Urteil Sniace/Kommission, oben in Rn. 38 angeführt, EU:T:2005:129, Rn. 31). Sie muss insbesondere ein persönliches Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung darlegen. Es muss sich dabei um ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse handeln, wofür auf den Tag der Klageerhebung abzustellen ist (vgl. Beschluss vom 29. April 1999, Unione provinciale degli agricoltori di Firenze u. a./Kommission, T‑78/98, Slg, EU:T:1999:87, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil vom 20. September 2007, Salvat père & fils u. a./Kommission, T‑136/05, Slg, EU:T:2007:295, Rn. 34). Wenn das von der klagenden Partei geltend gemachte Interesse eine zukünftige Rechtssituation betrifft, muss sie nachweisen, dass deren Beeinträchtigung bereits feststeht. Zur Rechtfertigung ihres Interesses an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung kann sie daher keine zukünftigen und ungewissen Situationen anführen (Urteile vom 17. September 1992, NBV und NVB/Kommission, T‑138/89, Slg, EU:T:1992:95, Rn. 33, und Sniace/Kommission, oben in Rn. 38 angeführt, EU:T:2005:129, Rn. 26).
40 Nach der Rechtsprechung werden die Adressaten eines Urteils des Gerichtshofs, das eine von einem Organ erlassene Rechtshandlung aufhebt, zweifellos durch die Art, in der das Organ dieses Urteil durchführt, unmittelbar betroffen und sind somit befugt, einen etwaigen Verstoß des Organs gegen seine Pflichten aus den anwendbaren Vorschriften durch den Unionsrichter feststellen zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. November 1976, Küster/Parlament, 30/76, Slg, EU:C:1976:165, Rn. 8 und 9, sowie vom 14. Februar 1990, Hochbaum/Kommission, T‑38/89, EU:T:1990:14, Rn. 9). Folglich haben die Adressaten eines Urteils eines Unionsgerichts, mit dem eine Handlung eines Organs aufgehoben wurde, ein Rechtsschutzinteresse im Rahmen eines Rechtsstreits, der die Art und Weise betrifft, in der das Organ dieses Urteil durchführt, und zwar selbst dann, wenn die angefochtene Handlung keine Wirkungen mehr zeitigt (Urteil vom 28. Februar 1989, van der Stijl und Cullington/Kommission, 341/85, 251/86, 258/86, 259/86, 262/86, 266/86, 222/87 und 232/87, Slg, EU:C:1989:93, Rn. 15 bis 18). Dieser Grundsatz kann daher im vorliegenden Fall nicht durch den von den Streithelferinnen vorgetragenen bloßen Umstand in Frage gestellt werden, dass die Klägerin selbst im Fall der Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung keine Möglichkeit habe, die zuvor von Editis gehaltenen Vermögenswerte zu erwerben. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass zwar allein Lagardère der Kommission einen Erwerber der fraglichen Vermögenswerte vorschlagen konnte, die Klägerin jedoch – die 2004 in der Liste der fünf potenziellen Erwerber aufgeführt war, die die in den Verpflichtungszusagen festgelegten Auswahlkriterien erfüllten – im Fall der Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung aus einem Grund, der die Wahl eines anderen Erwerbers als Wendel erfordern würde, grundsätzlich von Lagardère als Erwerber vorgeschlagen und von der Kommission zugelassen werden könnte.
41 Da der Erlass der angefochtenen Entscheidung die Art und Weise darstellt, in der die Kommission das Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) durchführen wollte, hat die Klägerin schon deshalb ein Interesse daran, gegen die angefochtene Entscheidung vorzugehen, weil sie Partei der Rechtssache war, in der dieses Urteil erging.
42 Im Übrigen hat die angefochtene Entscheidung den gleichen Gegenstand wie die erste, vom Gericht mit dem Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) für nichtig erklärte Zulassungsentscheidung, an deren Stelle sie getreten ist. Damit ist die Klägerin von der angefochtenen Entscheidung ebenso betroffen, wie sie es von der ersten Zulassungsentscheidung war. In jener Rechtssache haben indes weder das Gericht noch der Gerichtshof, der über das Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts zu befinden hatte, ein fehlendes Rechtsschutzinteresse der Klägerin gegenüber der ersten, vom Gericht für nichtig erklärten Zulassungsentscheidung festgestellt.
43 Hilfsweise ist darauf hinzuweisen, dass ein Unternehmen ein Interesse an der Nichtigerklärung einer Entscheidung hat, die unter bestimmten Voraussetzungen einen Zusammenschluss zwischen zwei seiner Konkurrenten erlaubt, der geeignet ist, seine geschäftliche Lage zu beeinträchtigen (Urteil vom 4. Juli 2006, easyJet/Kommission, T‑177/04, Slg, EU:T:2006:187, Rn. 41). Entsprechend hat ein Unternehmen, das in einer Liste aufgeführt war, die sich auf fünf mögliche Erwerber der im Rahmen eines Zusammenschlusses zu veräußernden Vermögensgegenstände beschränkte, ein Interesse daran, die Entscheidung der Kommission für nichtig erklären zu lassen, mit der ein anderes dieser fünf Unternehmen zugelassen wird, weil diese Entscheidung notwendigerweise geeignet ist, seine geschäftliche Lage zu beeinträchtigen, unabhängig davon, ob es im Fall der Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung selbst als Erwerber der fraglichen Vermögensgegenstände zugelassen werden könnte.
44 Zudem hat ein Kläger ein Interesse an der Nichtigerklärung eines ihn unmittelbar berührenden Rechtsakts, um vom Unionsrichter feststellen zu lassen, dass ihm gegenüber rechtswidrig gehandelt wurde, weil diese Feststellung als Grundlage einer etwaigen Klage auf angemessenen Ersatz des durch die angefochtene Handlung entstandenen Schadens dienen kann (Urteile vom 31. März 1998, Frankreich u. a./Kommission, C‑68/94 und C‑30/95, Slg, EU:C:1998:148, Rn.74, und vom 18. März 2009, Shanghai Excell M & E Enterprise und Shanghai Adeptech Precision/Rat, T‑299/05, Slg, EU:T:2009:72, Rn. 53 bis 55).
45 Nach alledem hat die Klägerin ein Rechtsschutzinteresse daran, gegen die angefochtene Entscheidung vorzugehen.
Zur Begründetheit
46 Die Klägerin stützt ihre Klage auf sechs Gründe. Erstens habe die Kommission gegen Art. 266 AEUV und gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen. Zweitens ist sie der Auffassung, für die angefochtene Entscheidung fehle eine Rechtsgrundlage. Drittens wirft sie der Kommission vor, Rechtsfehler und offensichtliche Beurteilungsfehler begangen zu haben, da sie nach dem 30. Juli 2004 entstandene Gegebenheiten herangezogen und diese selektiv berücksichtigt habe. Viertens ist sie der Ansicht, die Kommission habe Rechtsfehler und offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Bewerbung von Wendel begangen. Fünftens rügt die Klägerin einen Ermessensmissbrauch. Sechstens macht sie schließlich geltend, die angefochtene Entscheidung leide unter einem Begründungsmangel.
Erster Klagegrund: Verstoß gegen Art. 266 AEUV und gegen das Rückwirkungsverbot
47 Erstens trägt die Klägerin vor, die Kommission habe gegen Art. 266 AEUV verstoßen, indem sie die angefochtene Entscheidung erlassen habe, ohne sämtliche Auswirkungen der Rechtswidrigkeit der ersten Zulassungsentscheidung zu beseitigen, obwohl diese Entscheidung vom Gericht wegen eines materiellen Rechtsfehlers und nicht wegen eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt worden sei. Zweitens ist sie der Auffassung, durch den Erlass der angefochtenen Entscheidung habe die Kommission gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen.
48 Die Kommission und die Streithelferinnen treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Lagardère ist zudem der Ansicht, der erste Klagegrund sei unzulässig, weil er gegen den Rechtsgrundsatz non concedit venire contra factum proprium verstoße.
– Zur Zulässigkeit des ersten Klagegrundes
49 Lagardère hält den ersten Klagegrund für unzulässig, weil die Klägerin in der Rechtssache, in der das Urteil C‑553/10 P und C‑554/10 P (oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:682) ergangen ist, die Auffassung vertreten habe, die fehlende Unabhängigkeit des ersten Beauftragten stelle einen formellen und nicht einen materiellen Rechtsfehler dar, nunmehr aber vor dem Gericht den entgegengesetzten Standpunkt vertrete.
50 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass keine Bestimmung der Satzung des Gerichtshofs oder der Verfahrensordnung einer Partei untersagt, einen Klagegrund rechtlich in anderer Weise einzuordnen, als sie es in einem anderen Rechtsstreit getan hat. Nach der Rechtsprechung kann das Recht natürlicher und juristischer Personen aus Art. 263 Abs. 4 AEUV, beim Gericht Klage zu erheben, mangels einer entsprechenden ausdrücklichen Rechtsgrundlage nicht eingeschränkt werden, ohne gegen die tragenden Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie gegen das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht zu verstoßen (Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, Slg, EU:C:2010:389, Rn. 89 bis 91).
51 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Parteien zwar den Streitgegenstand des Rechtsstreits bestimmen, der vom Gericht nicht geändert werden kann, das Gericht aber das Vorbringen eines Klägers anhand seines Inhalts und nicht anhand seiner rechtlichen Einordnung auszulegen und folglich die Gründe und Argumente der Klage rechtlich selbst zu qualifizieren hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 1961, Fives Lille Cail u. a./Hohe Behörde, 19/60, 21/60, 2/61 und 3/61, Slg, EU:C:1961:30, vom 20. September 2007, Fachvereinigung Mineralfaserindustrie/Kommission, T‑375/03, EU:T:2007:293, Rn. 65 und 66, sowie vom 10. Februar 2009, Deutsche Post und DHL International/Kommission, T‑388/03, Slg, EU:T:2009:30, Rn. 54).
52 Schließlich bedeutet der Rechtsgrundsatz non concedit venire contra factum proprium, auf den Lagardère sich beruft, im Unionsrecht jedenfalls nur, dass eine Partei vor dem erstinstanzlichen Gericht zugestandene und in dessen Sitzungsprotokoll aufgenommene Tatsachen oder Verfahrensvorgänge vor dem Rechtsmittelgericht nicht mehr bestreiten kann (Beschlüsse vom 25. Oktober 2007, Nijs/Rechnungshof, C‑495/06 P, SlgÖD, EU:C:2007:644, Rn. 52 bis 56, und vom 24. Juni 2010, Kronoply/Kommission, C‑117/09 P, EU:C:2010:370, Rn. 44).
53 Folglich ist der erste Klagegrund für zulässig zu erachten, ohne dass es einer Entscheidung darüber bedarf, ob die von Lagardère erhobene Unzulässigkeitseinrede zulässig ist.
– Zum Verstoß gegen Art. 266 AEUV
54 Die Klägerin wirft der Kommission vor, gegen Art. 266 AEUV verstoßen zu haben, indem sie die angefochtene Entscheidung erlassen habe, ohne sämtliche Auswirkungen der Rechtswidrigkeit der ersten Zulassungsentscheidung zu beseitigen.
55 Nach Art. 266 AEUV hat das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die zur Durchführung des Urteils des Gerichtshofs erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Vorschrift sieht eine Zuständigkeitsverteilung zwischen Justiz und Verwaltung vor, der zufolge das Organ, von dem die für nichtig erklärte Handlung ausgegangen ist, zu bestimmen hat, welche Maßnahmen zur Durchführung eines Nichtigkeitsurteils erforderlich sind (Beschluss vom 13. November 1963, Erba und Reynier/Kommission, 98/63 R und 99/63 R, Slg, EU:C:1963:46; Urteile vom 8. Oktober 1992, Meskens/Parlament, T‑84/91, Slg, EU:T:1992:103, Rn. 73, und vom 17. April 2007, C und F/Kommission, F‑44/06 und F‑94/06, SlgÖD, EU:F:2007:66, Rn. 33).
56 Nach ständiger Rechtsprechung erlangen die von den Unionsgerichten erlassenen Nichtigkeitsurteile, sobald sie rechtskräftig sind, absolute Rechtskraft. Diese umfasst nicht nur den Tenor des Nichtigkeitsurteils, sondern auch die Gründe, die den Tenor tragen und daher von diesem nicht zu trennen sind (Urteile vom 26. April 1988, Asteris u. a./Kommission, 97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, Slg, EU:C:1988:199, Rn. 27 bis 30, vom 3. Oktober 2000, Industrie des poudres sphériques/Rat, C‑458/98 P, Slg, EU:C:2000:531, Rn. 81, und vom 1. Juli 2009, ThyssenKrupp Stainless/Kommission, T‑24/07, Slg, EU:T:2009:236, Rn. 113 und 140). Für das Organ, das den für nichtig erklärten Rechtsakt erlassen hat, bedeutet das Nichtigkeitsurteil daher, dass es einen neuen Rechtsakt zu erlassen hat, der nicht nur den Tenor des Urteils beachtet, sondern auch die Gründe, die zu diesem geführt haben und die ihn tragen, und deshalb darauf achten muss, dass dieser neue Rechtsakt nicht die gleichen Fehler aufweist, die in dem Nichtigkeitsurteil festgestellt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2003, Interporc/Kommission, C‑41/00 P, Slg, EU:C:2003:125, Rn. 29 und 30).
57 Die Rechtskraft eines Urteils erstreckt sich lediglich auf diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der Entscheidung waren (Urteil vom 19. Februar 1991, Italien/Kommission, C‑281/89, Slg, EU:C:1991:59, Rn. 14). Außerdem wird ein in einem Nichtigkeitsurteil geäußertes obiter dictum nicht von der absoluten Rechtskraft erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2011, ThyssenKrupp Nirosta/Kommission, C‑352/09 P, Slg, EU:C:2011:191, Rn. 132). Somit verpflichtet Art. 266 AEUV das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, nur innerhalb der Grenzen dessen, was erforderlich ist, um das Nichtigkeitsurteil durchzuführen (Urteil Interporc/Kommission, oben in Rn. 56 angeführt, EU:C:2003:125, Rn. 30).
58 Das Verfahren zur Ersetzung einer für nichtig erklärten Handlung ist genau an dem Punkt wieder aufzunehmen, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 1986, Rat/Parlament, 34/86, Slg, EU:C:1986:291, Rn. 47), während die Nichtigerklärung die vorbereitenden Handlungen nicht notwendigerweise berührt (Urteil vom 13. November 1990, Fédesa u. a., C‑331/88, Slg, EU:C:1990:391, Rn. 34). Die Nichtigerklärung einer Handlung, die ein Verwaltungsverfahren abschließt, das mehrere Phasen umfasst, hat nicht notwendig und unabhängig von den materiellen oder formellen Gründen des Nichtigkeitsurteils die Nichtigkeit des gesamten Verfahrens zur Folge, auf dem die angefochtene Handlung beruht (vgl. Urteil vom 15. Oktober 1998, Industrie des poudres sphériques/Rat, T‑2/95, Slg, EU:T:1998:242, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung). Bei dem Erlass des ersetzenden Rechtsakts hat das Organ daher auf den Zeitpunkt zurückzugehen, an dem es den für nichtig erklärten Rechtsakt erlassen hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2006, O2 [Germany]/Kommission, T‑328/03, Slg, EU:T:2006:116, Rn. 47 und 48). Es kann jedoch in seiner neuen Entscheidung andere Gründe anführen als die, auf die es die erste Entscheidung gestützt hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil Interporc/Kommission, oben in Rn. 56 angeführt, EU:C:2003:125, Rn. 28 bis 32). Auch braucht es sich nicht erneut zu Aspekten seiner ursprünglichen Entscheidung zu äußern, die im Nichtigkeitsurteil nicht in Frage gestellt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 1997, Tremblay u. a./Kommission, T‑224/95, Slg, EU:T:1997:187, Rn. 53 und 72).
59 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, nicht das gesamte Verfahren, das dem Erlass des für nichtig erklärten Rechtsakts vorausgegangen ist, noch einmal durchzuführen, nicht davon abhängig ist, dass dieser andere Rechtsakt wegen Verfahrensfehlern für nichtig erklärt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile Industrie des poudres sphériques/Rat, oben in Rn. 58 angeführt, EU:T:1998:242, Rn. 91, und vom 9. Juli 2008, Alitalia/Kommission, T‑301/01, Slg, EU:T:2008:262, Rn. 103).
60 Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist zu prüfen, ob die Kommission in der angefochtenen Entscheidung die zur Durchführung des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, und in diesem Rahmen insbesondere der Frage nachzugehen, ob die Gründe dieses Urteils – wie die Klägerin vorträgt – die Kommission verpflichteten, ihre mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 zu widerrufen und das gesamte Verfahren vom 9. Februar 2004 an, dem Tag, an dem Lagardère den ersten Beauftragten benannte, wieder aufzunehmen.
61 Zunächst sind der Tenor und die Gründe des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) zu untersuchen, dem endgültig absolute Rechtskraft zukommt, nachdem der Gerichtshof die gegen dieses Urteil eingelegten Rechtsmittel zurückgewiesen hat (Urteil vom 28. Februar 2002, Cascades/Kommission, T‑308/94, Slg, EU:T:2002:47, Rn. 70). Insoweit ist festzustellen, dass das Gericht die erste Zulassungsentscheidung für nichtig erklärte, indem es dem zweiten Klagegrund stattgab, mit dem die Klägerin geltend gemacht hatte, diese Entscheidung sei aufgrund eines Berichts erlassen worden, den ein nicht von Editis unabhängiger Beauftragter verfasst habe (Urteil T‑452/04, oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385, Rn. 65). Hingegen äußerte sich das Gericht nicht zu den anderen von der Klägerin geltend gemachten Klagegründen.
62 Mit ihren Ausführungen zum zweiten Klagegrund hatte die Klägerin insbesondere geltend gemacht, der bloße Zweifel an der Unabhängigkeit des Beauftragten reiche aus, um zur Nichtigkeit des Verfahrens betreffend die weiterveräußerten Vermögenswerte und dementsprechend der ersten Zulassungsentscheidung zu führen, denn der vom Beauftragten erstellte Bericht zur Bewertung der Bewerbung eines Käufers habe ein grundlegendes und entscheidendes Element für die Entscheidung der Kommission dargestellt, ob sie den Betreffenden zulasse oder nicht (Urteil T‑452/04, oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385, Rn. 71 und 72). Das Gericht gab diesem Klagegrund statt, weil es erstens der Auffassung war, dass der Bericht zur Bewertung der Bewerbung von Wendel von einem Beauftragten erstellt worden sei, der nicht dem Erfordernis der Unabhängigkeit gegenüber Editis genügt habe, das in Abs. 15 der Verpflichtungszusagen von Lagardère aufgestellt worden sei (Urteil T‑452/04, oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385, Rn. 107), und zweitens, dass dieser Rechtsverstoß den Inhalt der ersten Zulassungsentscheidung rechtswidrig mache, weil der Bericht des Beauftragten entscheidenden Einfluss auf diese Entscheidung ausgeübt habe (Urteil T‑452/04, oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385, Rn. 110 bis 118). Somit entschied das Gericht ausschließlich über die Frage der Unabhängigkeit des ersten Beauftragten, die Auswirkungen der fehlenden Unabhängigkeit dieses Beauftragten auf den Bericht zur Bewertung der Bewerbung von Wendel und die Folgen dieses Mangels für die erste Zulassungsentscheidung.
63 Wie die Klägerin zutreffend vorträgt, führte das Gericht zwar in Rn. 100 des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) auch aus, dass „[d]ie Ausübung der Tätigkeit eines Vorstandsmitglieds der Gesellschaft, die sämtliche Vermögenswerte von Editis hielt, durch B. [Vertreter des ersten Beauftragten] … geeignet [war], die Unabhängigkeit zu beeinträchtigen, die der Betreffende bei der Ausarbeitung der Empfehlungen zu den erforderlichen Umstrukturierungsmaßnahmen und des Berichts, in dem die Kommission über diese Empfehlungen informiert wird, an den Tag legen musste“. Diese Ausführungen gehören aber nicht zu den Gründen, die den Tenor des Urteils tragen, so dass ihnen keine absolute Rechtskraft zukommt (siehe oben, Rn. 57). Insoweit ist nämlich festzustellen, dass die Rechtmäßigkeit der von diesem Beauftragten erstellten Empfehlungen für die erforderlichen Umstrukturierungsmaßnahmen nicht Gegenstand des Rechtsstreits war, in dem das betreffende Urteil ergangen ist, und erst recht nicht die Gesamtheit der vom Beauftragten vorgenommenen Handlungen mit Ausnahme des Berichts zur Bewertung der Bewerbung von Wendel. Angesichts des Vorbringens der Klägerin in jener Sache hatte das Gericht sich darauf zu beschränken, die Unabhängigkeit des ersten Beauftragten und die Auswirkungen seiner möglicherweise fehlenden Unabhängigkeit auf die erste Zulassungsentscheidung, die allein mit der Klage angefochten war, zu beurteilen.
64 Zwar ist darüber hinaus festzustellen, wie auch die Klägerin vorträgt, dass im Urteil C‑553/10 P und C‑554/10 P (oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:682) ausgeführt wird, die Unabhängigkeit des Beauftragten sei „Bestandteil der Verpflichtungszusagen, die Lagardère eingegangen ist und die vollständig erfüllt werden müssen“; sie sei „ex ante festgelegt [worden] und erstreck[e] sich auf sämtliche Tätigkeiten des Beauftragten“ (Urteil C‑553/10 P und C‑554/10 P, oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:682, Rn. 42); die Ausübung der Tätigkeit als Mitglied des Vorstands von Investima 10 – jetzt Editis – durch B. sei geeignet gewesen, dessen Unabhängigkeit zu beeinträchtigen, und „diese Situation [habe] es ihm nicht erlaub[t], in voller Unabhängigkeit die Befugnisse eines unabhängigen Beauftragten im Sinne von Abs. 15 der Verpflichtungszusagen von Lagardère wahrzunehmen“ (Urteil C‑553/10 P und C‑554/10 P, oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:682, Rn. 44). Der Gerichtshof hat sich aber zu keinem Zeitpunkt zur Tragweite anderer Handlungen des Beauftragten als des Berichts zur Bewertung der Bewerbung von Wendel, die deren Zulassung vorausgingen, geäußert.
65 Die Kommission hatte daher zur Durchführung des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) einen neuen Beauftragten zuzulassen, dem es oblag, einen neuen Bericht zur Bewertung der Bewerbung von Wendel auszuarbeiten und dabei auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem Lagardère bei der Kommission die Zulassung von Wendel als Erwerber dieser Vermögenswerte beantragt hatte, d. h. auf den 4. Juni 2004, um sodann, insbesondere auf der Grundlage dieses neuen Berichts, eine stattgebende oder ablehnende Entscheidung über die Zulassung von Wendel zu erlassen.
66 Aus den Akten ergibt sich, dass die Kommission zur Durchführung des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) am 11. Januar 2011 den neuen, von Lagardère vorgeschlagenen Beauftragten zuließ, der ihr am 12. Mai 2011 seinen Bericht zur Bewertung der Bewerbung von Wendel überreichte, in dem er zum einen die Situation zu dem Zeitpunkt untersuchte, zu dem Lagardère bei der Kommission die Zulassung von Wendel als Erwerber dieser Vermögenswerte beantragt hatte (d. h. am 4. Juni 2004), und zum anderen die Entwicklung der veräußerten Vermögenswerte im nachfolgenden Zeitraum, wobei er zwischen den jeweiligen Zeiträumen unterschied, in denen diese sich im Besitz von Wendel (Juli 2004 – Mai 2008) bzw. von Planeta (seit Mai 2008) befunden hatten. Daraufhin erließ die Kommission am 13. Mai 2011 die angefochtene Entscheidung, mit der sie Wendel rückwirkend zum 30. Juli 2004 als Erwerber der Vermögenswerte von Editis zuließ, die Gegenstand des Veräußerungsvertrags waren. In dieser Entscheidung beurteilte die Kommission die Situation, wie sie am 4. Juni 2004, dem Tag des ersten Zulassungsantrags von Lagardère, vorgelegen hatte, und erhärtete ihre Schlussfolgerungen durch eine Analyse der nach diesem Datum eingetretenen Situation.
67 Mit diesen Maßnahmen ist die Kommission der rechtskräftigen Entscheidung des Gerichts nachgekommen. Keines der von der Klägerin vorgebrachten Argumente vermag dieses Ergebnis in Frage zu stellen.
68 Die Klägerin wirft der Kommission zunächst vor, nicht sämtliche Auswirkungen der Rechtswidrigkeit der ersten Zulassungsentscheidung beseitigt zu haben. Sie ist nämlich der Ansicht, die Benennung eines unabhängigen Beauftragten sei eine der Verpflichtungszusagen von Lagardère gewesen, aufgrund derer die mit Auflagen verbundene Genehmigung vom 7. Januar 2004 erteilt worden sei, und diese Verpflichtung sei mit dieser Entscheidung insgesamt untrennbar verbunden. Nach Auffassung der Klägerin hätte die Kommission daher eine Entscheidung erlassen müssen, mit der die Genehmigung des Zusammenschlusses widerrufen wird, gegebenenfalls verbunden mit einer Geldbuße gemäß Art. 8 Abs. 5 und Art. 14 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 1990, L 257, S. 13). Ferner wirft die Klägerin der Kommission vor, diese könne den Bericht des neuen Beauftragten, der ihr erst am Vortag des Erlasses der angefochtenen Entscheidung übergeben worden sei, nicht ernsthaft berücksichtigt haben, und sie habe diesen neuen Beauftragten gezwungen, einen unvollständigen und geschönten Bericht zu verfassen.
69 Erstens ist festzustellen, dass die Nichtigerklärung der ersten Zulassungsentscheidung als solche für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung vom 7. Januar 2004 über die mit Auflagen verbundene Genehmigung des Zusammenschlusses ohne Belang ist, da diese Nichtigerklärung diese Genehmigung nur zeitweise unanwendbar machte, nämlich solange die Kommission zu den Konsequenzen dieser Nichtigerklärung, insbesondere zur möglichen Zulassung eines neuen Erwerbers, noch keine Stellung bezogen hatte. Entgegen der von der Kommission und den Streithelferinnen vertretenen Auffassung ist es für die Frage, ob die Kommission die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 hätte widerrufen müssen, nicht von Bedeutung, dass das Gericht und der Gerichtshof die Klage gegen diese Genehmigungsentscheidung durch Urteile zurückgewiesen haben, die jeweils am gleichen Tag ergingen wie die Urteile, mit denen die erste Zulassungsentscheidung für nichtig erklärt wurde.
70 Zweitens macht die Klägerin geltend, die Kommission hätte die Genehmigung des Zusammenschlusses widerrufen und zugleich ein Bußgeld verhängen müssen.
71 Zunächst, und ohne dass über dessen Zulässigkeit entschieden zu werden braucht, ist das Vorbringen der Streithelferinnen zurückzuweisen, die Klägerin könne dagegen, dass die Kommission andere Maßnahmen als die angefochtene Entscheidung nicht ergriffen habe, nur im Wege der Untätigkeitsklage vorgehen. Art. 266 AEUV sieht nämlich keinen bestimmten Rechtsbehelf vor, um die Durchführung der Urteile der Unionsgerichte sicherzustellen. Wenn eine Streitpartei der Auffassung ist, dass ein Rechtsakt, der einen für nichtig erklärten Rechtsakt ersetzt, nicht im Einklang mit den Gründen und dem Tenor des Nichtigkeitsurteils steht, kann sie eine erneute Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV erheben. Demgegenüber stellt die in Art. 265 AEUV vorgesehene Untätigkeitsklage den geeigneten Klageweg dar, um die rechtswidrige Unterlassung eines Organs festzustellen, die sich aus einem Urteil ergebenden Maßnahmen zu treffen (Urteil vom 19. Februar 2004, SIC/Kommission, T‑297/01 und T‑298/01, Slg, EU:T:2004:48, Rn. 32) oder zu klären, ob das Organ über die Ersetzung des für nichtig erklärten Rechtsakts hinaus verpflichtet war, andere Maßnahmen zu ergreifen, die im Rahmen der ursprünglichen Nichtigkeitsklage nicht angefochten worden waren (Urteile Asteris u. a./Kommission, oben in Rn. 56 angeführt, EU:C:1988:199, Rn. 22 bis 24, und vom 18. September 1996, Asia Motor France u. a./Kommission, T‑387/94, Slg, EU:T:1996:120, Rn. 40). Im vorliegenden Fall kann die Klägerin das Gericht zulässigerweise mit einer Nichtigkeitsklage befassen, da sie genau die Art und Weise angreift, in der die Kommission das Urteil des Gerichts durchgeführt hat. Zwar trifft es zu, dass sie der Kommission vorwirft, keine anderen Maßnahmen ergriffen zu haben, und dies auch im Rahmen eines Untätigkeitsverfahrens angegriffen werden könnte; ein solcher Umstand ist jedoch für die Zulässigkeit der vorliegenden Rüge ohne Bedeutung, da die Klägerin die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung mit der Begründung angreift, die Kommission hätte anstelle dieser Entscheidung andere Maßnahmen ergreifen müssen.
72 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 4064/89, wie die Parteien in der mündlichen Verhandlung eingeräumt haben, bei Erlass der angefochtenen Entscheidung noch anwendbar war, und zwar gemäß Art. 26 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 24, S. 1), der bestimmt, dass „[d]ie Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 … weiterhin Anwendung auf Zusammenschlüsse [findet], die vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der vorliegenden Verordnung Gegenstand eines Vertragsabschlusses oder einer Veröffentlichung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 gewesen oder durch einen Kontrollerwerb im Sinne derselben Vorschrift zustande gekommen sind“.
73 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 4064/89 und die Mitteilung der Kommission über im Rahmen der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 447/98 der Kommission zulässige Abhilfemaßnahmen (ABl. 2001, C 68, S. 3, im Folgenden: Mitteilung über Abhilfemaßnahmen) – entgegen dem Vorbringen der Klägerin – zwischen Bedingungen und Auflagen unterscheiden, die den Unternehmen im Rahmen eines Verfahrens der bedingten Genehmigung eines Zusammenschlusses auferlegt werden. So sieht Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4064/89 vor, dass die Kommission „diese Entscheidung mit Bedingungen und Auflagen verbinden [kann], um sicherzustellen, dass die beteiligten Unternehmen den Verpflichtungen nachkommen, die sie gegenüber der Kommission hinsichtlich der Änderung des ursprünglichen Zusammenschlussvorhabens eingegangen sind“. Im Einzelnen ist nach Rn. 12 der Mitteilung über Abhilfemaßnahmen „[d]ie Durchführung einer Maßnahme, durch die sich der Markt strukturell so verändert, dass keine beherrschende Stellung mehr besteht … – wie die Veräußerung eines Geschäfts – z. B. eine Bedingung“, während „[d]ie hierzu erforderlichen Durchführungsmaßnahmen … für die Parteien generell Auflagen dar[stellen], so etwa die Bestellung eines Treuhänders mit dem unwiderrufbaren Mandat, das betreffende Geschäft zu verkaufen“.
74 In Anwendung dieser Bestimmungen führte die Kommission in ihrer mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 aus, dass „die Entscheidung, die angemeldete Operation mit dem Gemeinsamen Markt für kompatibel zu erklären, der Bedingung [unterliegt], dass die Anmelderin die in den Punkten 1 bis 3 und 10 des Anhangs II festgelegten Veräußerungsverpflichtungen vollständig einhält“ und „[d]ie vollständige Einhaltung der übrigen in Anhang II festgelegten Verpflichtungszusagen … der Anmelderin in Form einer Auflage vorgeschrieben [wird]“ (Punkt 1010).
75 Diese Unterscheidung zwischen Bedingungen und Auflagen ist insoweit von Bedeutung, als ihre Missachtung nicht dieselben Folgen nach sich zieht.
76 So sieht Art. 8 Abs. 5 Buchst. b der Verordnung Nr. 4064/89 ausdrücklich vor, dass die Kommission ihre Entscheidung widerrufen kann, wenn die beteiligten Unternehmen einer darin vorgesehenen Auflage zuwiderhandeln. Außerdem kann die Kommission nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 4064/89 gegen Unternehmen, die einer durch Entscheidung erteilten Auflage zuwiderhandeln, eine Geldbuße festsetzen. Ebenso sieht die Mitteilung über Abhilfemaßnahmen (Punkt 12) vor: „Verstoßen die Parteien gegen eine Auflage, so kann die Kommission auf der Grundlage von Artikel 6 Absatz 3 oder Artikel 8 Absatz 5 Buchstabe b) die Genehmigungsentscheidung widerrufen, die sie entweder gemäß Artikel 6 Absatz 2 oder Artikel 8 Absatz 2 der Fusionskontrollverordnung erlassen hat. Außerdem können gegen die Parteien Geldbußen und Zwangsgelder gemäß Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe a) und Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe a) [der Verordnung Nr. 4064/89] festgesetzt werden“.
77 Für den Verstoß gegen eine Bedingung sieht die Verordnung Nr. 4064/89 hingegen keine speziellen Konsequenzen vor.
78 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. Urteil vom 7. Juni 2005, VEMW u. a., C‑17/03, Slg, EU:C:2005:362, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil vom 26. Oktober 2010, Deutschland/Kommission, T‑236/07, Slg, EU:T:2010:451, Rn. 44).
79 Einerseits steht fest, dass eine Bedingung, unter der eine Genehmigungsentscheidung nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4064/89 ergangen ist, eine strukturelle Maßnahme darstellt, ohne die der Zusammenschluss nicht für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar hätte erklärt werden können. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird, kann der Zusammenschluss folglich nicht als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden. Andererseits kann die Kommission nach Art. 8 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 2 Buchst. c dieser Verordnung alle Maßnahmen anordnen, die geeignet sind, wirksamen Wettbewerb wiederherzustellen, und gegen Unternehmen, die die angeordneten Maßnahmen nicht ergreifen, eine Geldbuße festsetzen. Dem Zweck dieser Bestimmungen liefe es aber zuwider, wenn es der Kommission allein deshalb verwehrt wäre, hiervon Gebrauch zu machen, weil diese Bestimmungen den Fall, dass eine Partei eine Bedingung missachtet, von der der Zusammenschluss abhängig war, nicht ausdrücklich erwähnen.
80 Aus den in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen ergibt sich, dass die Entscheidung, die einen Zusammenschluss für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt, hinfällig wird, wenn eine Partei eine Bedingung – eine strukturelle Maßnahme, ohne die der Zusammenschluss nicht hätte genehmigt werden können – nicht erfüllt. Diese Auslegung wird im Übrigen durch die Mitteilung über Abhilfemaßnahmen bestätigt, deren Rn. 12 besagt, dass „die Situation, die den Zusammenschluss mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar macht, nicht hergestellt“ und „die Genehmigungsentscheidung hinfällig“ wird, wenn eine Bedingung nicht erfüllt wird. Diese Mitteilung stellt klar, dass „[u]nter diesen Umständen … die Kommission aufgrund von Artikel 8 Absatz 4 der Fusionskontrollverordnung Maßnahmen anordnen [kann], die geeignet sind, wirksamen Wettbewerb wiederherzustellen“, und „[a]ußerdem … gegen die Parteien Geldbußen nach Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe c) festgesetzt werden [können]“.
81 In ähnlicher Weise hat die Kommission in ihrem Grünbuch über die Revision der Verordnung Nr. 4064/89 (KOM/2001/0745 endg.) in Punkt 223 angegeben, dass sie von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 4064/89 Gebrauch macht, wenn die beteiligten Unternehmen grob gegen Bedingungen und Auflagen verstoßen haben, aufgrund deren sie einen Zusammenschluss genehmigt hatte, und dass die Nichteinhaltung einer Bedingung automatisch die Rechtswidrigkeit des Zusammenschlusses bewirken würde, während sie im Fall der Nichteinhaltung einer Auflage die Möglichkeit habe, die Genehmigungsentscheidung zu widerrufen.
82 Entsprechend heißt es schließlich in der Verordnung Nr. 139/2004, die die Verordnung Nr. 4064/89 aufgehoben und ersetzt hat, im 31. Erwägungsgrund, der die Instrumente betrifft, über die die Kommission zur Durchsetzung der Verpflichtungen verfügt: „Wird eine Bedingung nicht erfüllt, unter der die Entscheidung über die Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt ergangen ist, so tritt der Zustand der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt nicht ein, so dass der Zusammenschluss damit in der vollzogenen Form von der Kommission nicht genehmigt ist. Wird der Zusammenschluss vollzogen, sollte er folglich ebenso behandelt werden wie ein nicht angemeldeter und ohne Genehmigung vollzogener Zusammenschluss. Außerdem sollte die Kommission die Auflösung eines Zusammenschlusses direkt anordnen dürfen, um den vor dem Vollzug des Zusammenschlusses bestehenden Zustand wieder herzustellen, wenn sie bereits zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Zusammenschluss ohne die Bedingung mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar wäre.“ Wenn hingegen „eine Auflage nicht erfüllt [wird], mit der die Entscheidung über die Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt verbunden ist, sollte die Kommission ihre Entscheidung widerrufen können. Ferner sollte die Kommission angemessene finanzielle Sanktionen verhängen können, wenn Bedingungen oder Auflagen nicht eingehalten werden.“
83 Aus alledem – insbesondere aus den oben in Rn. 76 dargelegten Erwägungen – folgt, dass die Kommission in Anwendung von Art. 8 Abs. 5 Buchst. b und Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4064/89 im Fall der Nichterfüllung einer Auflage, mit der die Entscheidung über die Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt verbunden ist, diese Entscheidung widerrufen und dem Unternehmen, das gegen diese Auflage verstoßen hat, eine Geldbuße auferlegen kann, aber nicht verpflichtet ist, derartige Maßnahmen zu ergreifen.
84 Im vorliegenden Fall geht aus der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 hervor, dass „die Entscheidung, die angemeldete Operation mit dem Gemeinsamen Markt für kompatibel zu erklären, der Bedingung [unterliegt], dass die Anmelderin die in den Punkten 1 bis 3 und 10 des Anhangs II festgelegten Veräußerungsverpflichtungen vollständig einhält“ und dass „[d]ie vollumfängliche Erfüllung der übrigen in Anhang II festgelegten Verpflichtungszusagen … der Anmelderin in Form einer Auflage vorgeschrieben [wird]“ (Punkt 1010). Im verfügenden Teil dieser Entscheidung trifft die Kommission dieselbe Unterscheidung, indem Art. 2 bestimmt, dass Art. 1, der das Vorhaben für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt, „vorbehaltlich der vollständigen Erfüllung der unter den Punkten 1 bis 3 und 10 des Anhangs II aufgeführten Verpflichtungszusagen durch Lagardère [gilt]“, und Art. 3 bestimmt, dass „[d]iese Entscheidung … mit der Auflage verbunden [ist], dass Lagardère seine übrigen, in Anhang II beschriebenen Verpflichtungszusagen voll und ganz erfüllt“. Die Benennung eines unabhängigen Beauftragten war jedoch in Absatz 15 des Anhangs II vorgesehen und stellte folglich im Gegensatz zum Vorbringen der Klägerin keine Bedingung, sondern eine Auflage dar. Die Kommission war somit weder verpflichtet, die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 zu widerrufen, noch eine Geldbuße gegen Lagardère festzusetzen.
85 Hilfsweise macht die Klägerin geltend, die Kommission habe beim Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht auf den 30. Juli 2004 abstellen dürfen, da die fehlende Unabhängigkeit des Beauftragten zur Rechtswidrigkeit sämtlicher Handlungen geführt habe, die von ihm oder unter seiner Aufsicht vorgenommen worden seien.
86 Zunächst geht aus Rn. 58 des vorliegenden Urteils hervor, dass die Kommission nach der Rechtsprechung nur verpflichtet war, das Verfahren exakt an dem Tag wieder aufzunehmen, an dem die festgestellte Rechtswidrigkeit eingetreten war, da die Nichtigerklärung eines Rechtsakts nicht notwendig die ihn vorbereitenden Handlungen berührt. Unstreitig betraf die vom Gericht in dem Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) festgestellte Rechtswidrigkeit nur den Bericht des ersten Beauftragten und die erste Zulassungsentscheidung.
87 Ferner geht aus den Rn. 62 bis 64 des vorliegenden Urteils hervor, dass das Gericht in der Rechtssache, in der das Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) ergangen ist, nur über die Frage der Unabhängigkeit des ersten Beauftragten sowie über die Auswirkungen der möglicherweise fehlenden Unabhängigkeit dieses Beauftragten auf den Bericht zur Bewertung der Bewerbung von Wendel und auf die erste Zulassungsentscheidung zu entscheiden hatte, da die Klägerin sämtliche vom ersten Beauftragten zuvor vorgenommenen Handlungen nicht in Frage gestellt hatte.
88 Darüber hinaus weisen die Streithelferinnen darauf hin, dass die Kommission faktisch nicht in der Lage gewesen wäre, die Vermögenswerte von Editis mehr als acht Jahre nach den Ereignissen wieder in den früheren Stand zu versetzen, und dass sie ihnen selbst und Planeta gegenüber die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit zu beachten hatte.
89 Da die Kommission nach alledem nicht verpflichtet war, zur Durchführung des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) die Vermögenswerte von Editis wieder in den früheren Stand zu versetzen, ist nur vorsorglich zu prüfen, ob die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit einem Widerruf der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 durch die Kommission entgegengestanden hätten.
90 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört (Urteil vom 5. Mai 1981, Dürbeck, 112/80, Slg, EU:C:1981:94, Rn. 48), zwingend aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, der gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sein müssen, und der die Voraussehbarkeit der unter das Unionsrecht fallenden Tatbestände und Rechtsbeziehungen gewährleisten soll (Urteil vom 15. Februar 1996, Duff u. a., C‑63/93, Slg, EU:C:1996:51, Rn. 20).
91 Nach ständiger Rechtsprechung kann sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes jeder berufen, bei dem ein Unionsorgan begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. Urteil vom 11. März 1987, Van den Bergh en Jurgens und Van Dijk Food Products [Lopik]/EWG, 265/85, Slg, EU:C:1987:121, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Recht, sich auf Vertrauensschutz zu berufen, ist an drei kumulative Voraussetzungen gebunden. Erstens muss die Unionsverwaltung dem Betroffenen präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Zusicherungen von zuständiger und zuverlässiger Seite gemacht haben. Zweitens müssen diese Zusicherungen geeignet sein, bei dem Adressaten begründete Erwartungen zu wecken. Drittens müssen die gegebenen Zusicherungen den geltenden Vorschriften entsprechen (vgl. Urteil vom 30. Juni 2005, Branco/Kommission, T‑347/03, Slg, EU:T:2005:265, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung; Urteile vom 23. Februar 2006, Cementbouw Handel & Industrie/Kommission, T‑282/02, Slg, EU:T:2006:64, Rn. 77, und vom 30. Juni 2009, CPEM/Kommission, T‑444/07, Slg, EU:T:2009:227, Rn. 126).
92 Die Streithelferinnen versuchen, diese dritte Voraussetzung zu nuancieren, indem sie geltend machen, nur ein Unternehmen, das sich einer offensichtlichen Verletzung der geltenden Bestimmungen schuldig gemacht habe, könne sich nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen. Die Rechtsprechung, auf die sie sich berufen (Urteile vom 12. Dezember 1985, Sideradria/Kommission, 67/84, Slg, EU:C:1985:506, Rn. 21, vom 24. April 1996, Industrias Pesqueras Campos u. a./Kommission, T‑551/93 und T‑231/94 bis T‑234/94, Slg, EU:T:1996:54, Rn.76, und vom 19. März 1997, Oliveira/Kommission, T‑73/95, Slg, EU:T:1997:39, Rn. 28), ist jedoch im vorliegenden Fall nicht einschlägig, weil zur Beurteilung der Erfüllung der dritten Voraussetzung, die die in der vorstehenden Randnummer erwähnte Rechtsprechung verlangt, nicht zu prüfen ist, ob die Streithelferinnen die geltenden Bestimmungen offensichtlich verletzt haben, sondern ob die Kommission dadurch, dass sie Wendel als Erwerber zuließ, obwohl deren Bewerbung durch einen nicht unabhängigen Beauftragten beurteilt worden war, gegen die geltenden Bestimmungen, nämlich die in der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 aufgeführten Verpflichtungszusagen, verstoßen hat. Nach der Rechtsprechung kommt es aber nicht darauf an, ob die Verwaltung die einschlägigen Bestimmungen offensichtlich verletzt hat oder nicht. Die Kommission erkennt im Übrigen in Rn. 62 ihrer Klagebeantwortung selbst an, dass die Rechtsprechung in einem Fall wie dem vorliegenden einen Vertrauensschutz grundsätzlich ausschließt.
93 Jedenfalls ist nach ständiger Rechtsprechung zwar die Rechtssicherheit, die private Interessen schützt, zu wahren, aber auch gegen die öffentlichen Interessen abzuwägen; Letzteren kommt der Vorrang zu, wenn der Fortbestand rechtswidriger Zustände gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 1961, Snupat/Hohe Behörde, 42/59 und 49/59, Slg, EU:C:1961:5, vom 12. Juli 1962, Koninklijke Nederlandsche Hoogovens en Staalfabrieken/Hohe Behörde, 14/61, Slg, EU:C:1962:28, und vom 13. März 2003, José Martí Peix/Kommission, T‑125/01, Slg, EU:T:2003:72, Rn. 111).
94 Nach alledem hätten die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit einem Widerruf der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004, sofern die Kommission ihn für angebracht gehalten hätte, nicht entgegengestanden.
95 Schließlich wirft die Klägerin der Kommission vor, gegen Art. 266 AEUV verstoßen zu haben, indem sie erstens den Bericht des neuen Beauftragten, der ihr erst am Vortag des Erlasses der angefochtenen Entscheidung übergeben worden sei, nicht ernsthaft habe berücksichtigen können, und zweitens dieser neue Beauftragte einen unvollständigen und geschönten Bericht verfasst habe.
96 Was den Umstand betrifft, dass der Bericht des neuen Beauftragten der Kommission angeblich erst am Tag vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung übergeben wurde, hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung angegeben, der neue Beauftragte habe ihr die englische Fassung seines Berichts drei Monate vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung vorgelegt, so dass sie dessen Inhalt umfassend habe zur Kenntnis nehmen können. Jedenfalls ergibt sich schon aus dem Wortlaut der angefochtenen Entscheidung, dass die Kommission den Bericht des neuen Beauftragten gebührend berücksichtigt hat.
97 Im Übrigen geht aus Ziff. 28 der Best Practice Guidelines: Model Texts for Divestiture Commitments and the Trustee Mandate der Kommission vom 2. Mai 2003 hervor, dass der vom Beauftragten erstellte Bewertungsbericht lediglich ein Element bei der Beurteilung der Kommission darstellt, diese nicht an ihn gebunden ist und verpflichtet bleibt, die erforderlichen Untersuchungen durchzuführen, um festzustellen, ob der Erwerber die Zulassungskriterien tatsächlich erfüllt (Schlussanträge des Generalanwalts Mazák in den verbundenen Rechtssachen Kommission und Lagardère/Éditions Odile Jacob, C‑553/10 P und C‑554/10 P, oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:173, Rn. 55 bis 57). Das Gericht hat im Übrigen in Bezug auf Art. 82 EG bereits darauf hingewiesen, dass die Kommission die ihr durch die Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81 EG] und [82 EG] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) verliehenen Ermittlungs- und Durchführungsbefugnisse nicht auf einen Dritten übertragen darf (Urteil vom 17. September 2007, Microsoft/Kommission, T‑201/04, Slg, EU:T:2007:289, Rn. 1264). Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Rn. 24 und 25 der angefochtenen Entscheidung, dass die Kommission sich nicht allein auf den Bericht des neuen Beauftragten gestützt hat, sondern auch auf zahlreiche weitere Informationen, nämlich auf den Zulassungsantrag von Lagardère, auf die schriftlichen Antworten von Lagardère und Wendel vom 21. Juni 2004 auf ihr Auskunftsersuchen, auf die Angaben von Wendel bei einer Besprechung mit ihren Dienststellen, auf einen Meinungsaustausch mit den Organisationen, die das Personal von Editis vertreten, sowie auf die Antworten von Lagardère und Wendel auf die 2011 angeforderten Auskünfte und auf Besprechungen, die 2011 mit den Letztgenannten stattgefunden hatten. Infolgedessen kann der bloße Umstand – sein Nachweis unterstellt –, dass die Kommission den Bericht des neuen Beauftragten erst am Tag vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung erhielt, diese nicht fehlerhaft machen.
98 Für ihre Behauptung, der neue Beauftragte habe einen unvollständigen und geschönten Bericht verfasst, der allein darauf abgezielt habe, den von der Kommission begangenen Fehler zu beheben, legt die Klägerin – abgesehen von dem Zitat einer Passage dieses Berichts, in der der Umfang der Vermögenswerte, die Gegenstand des 2004 geschlossenen Kaufvertrags zwischen Lagardère und Wendel waren, im Vergleich zu dem in den Verpflichtungszusagen vorgesehenen Umfang untersucht wird – keine Beweise vor. Zwar hat der Beauftragte in dieser Passage seines Berichts angegeben, er habe bei seiner Untersuchung nicht nachprüfen können, ob die Veräußerung der Geschäftsfelder bestimmter rechtlicher Einheiten im Einklang mit diesen Verpflichtungszusagen erfolgt sei, im Übrigen aber ausgeführt, dass „jedenfalls alle Transaktionen zwischen Unternehmen der in den Verpflichtungszusagen aufgeführten Verpflichtung unterworfen worden seien, die übernommene Geschäftstätigkeit unter der Aufsicht des damaligen Beauftragten fortzuführen“ (S. 29), und daraus geschlossen, nichts deute darauf hin, dass der Umfang der Transaktionen sich wesentlich von dem Umfang der Vermögenswerte unterschieden habe, die gemäß den Verpflichtungszusagen hätten veräußert werden müssen (S. 30).
99 Nach alledem ist der erste Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
– Zum Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
100 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen, indem sie die angefochtene Entscheidung mit Wirkung vom 30. Juli 2004 erlassen habe, da Rechtsakte der Union nur ausnahmsweise, wenn ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel dies verlange, Rückwirkung haben könnten.
101 Die Kommission und die Streithelferinnen treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
102 Ein Nichtigkeitsurteil ist notwendigerweise mit einer Rückwirkung verbunden, da die Feststellung der Rechtswidrigkeit ab dem Inkrafttreten des für nichtig erklärten Aktes wirkt (Urteil Asteris u. a./Kommission, oben in Rn. 56 angeführt, EU:C:1988:199, Rn. 30; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 12. Februar 2008, CELF und Ministre de la Culture et de la Communication, C‑199/06, Slg, EU:C:2008:79, Rn. 61). Davon zu unterscheiden ist allerdings die Frage des rückwirkenden Charakters der neuen Entscheidung, die die Verwaltung erlässt, um den für nichtig erklärten Rechtsakt zu ersetzen. Nach der Rechtsprechung verbietet es der Grundsatz der Rechtssicherheit, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteil vom 9. Juli 1969, Portelange, 10/69, Slg, EU:C:1969:36), nämlich im Allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen. Nach ständiger Rechtsprechung kann dies aber ausnahmsweise anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist (Urteile vom 25. Januar 1979, Racke, 98/78, Slg, EU:C:1979:14, Rn. 20, vom 30. September 1982, Amylum/Rat, 108/81, Slg, EU:C:1982:322, Rn. 4, und Fédesa u. a., oben in Rn. 58 angeführt, EU:C:1990:391, Rn. 45).
103 Entgegen der von Lagardère vertretenen Auffassung beruht diese Rechtsprechung nicht auf einer Unterscheidung zwischen individuellen Entscheidungen und Rechtsakten mit Verordnungscharakter. Die Urteile, in denen der Gerichtshof auf das Rückwirkungsverbot hingewiesen hat, betrafen zwar Richtlinien oder Verordnungen. In diesen Urteilen hat der Gerichtshof sich aber auf Unionsakte insgesamt bezogen und nicht nur auf Rechtsakte mit Verordnungscharakter. Außerdem hat der Gerichtshof gerade in Bezug auf die Möglichkeit, nach einem Nichtigkeitsurteil rückwirkend eine Maßnahme zu treffen, bereits darauf hingewiesen, dass zu entscheiden ist, ob der Grundsatz der Rechtssicherheit für die Betroffenen der rückwirkenden Wiedereinführung der fraglichen Bestimmungen entgegensteht, und zwar ungeachtet dessen, ob es sich um Verordnungen oder individuelle Maßnahmen handelt (Urteil vom 30. September 1982, Roquette Frères/Rat, 110/81, Slg, EU:C:1982:323, Rn. 21). Die drei von Lagardère in ihrem Streithilfeschriftsatz angeführten Urteile des Gerichts (Urteile O2 [Germany]/Kommission, oben in Rn. 58 angeführt, EU:T:2006:116, Rn. 48, vom 27. September 2006, GlaxoSmithKline Services/Kommission, T‑168/01, Slg, EU:T:2006:265, Rn. 320, und vom 9. September 2008, Bayer CropScience u. a./Kommission, T‑75/06, Slg, EU:T:2008:317, Rn. 63 und 64) betreffen im Übrigen nicht die Frage der Rechtmäßigkeit einer rückwirkenden individuellen Entscheidung im Anschluss an eine gerichtliche Nichtigerklärung, sondern die Frage, auf welchen Zeitpunkt das Organ, das den für nichtig erklärten Rechtsakt erlassen hat, zurückgehen muss, um die maßgeblichen Tatsachen und anwendbaren Vorschriften festzustellen. Was das oben in Rn. 55 angeführte Urteil C und F/Kommission (EU:F:2007:66) betrifft, auf das Lagardère sich ebenfalls beruft, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst dort ausgeführt hat, das betreffende Organ habe in jenem Fall eine rückwirkende individuelle Entscheidung über die Versetzung des Klägers in den Ruhestand und die Bewilligung eines Ruhegehalts wegen Dienstunfähigkeit erlassen können, da die frühere Entscheidung wegen falscher Wahl der Rechtsgrundlage vom Unionsrichter aufgehoben worden sei. Hingegen hat sich das Gericht für den öffentlichen Dienst nicht allgemein zu der Möglichkeit geäußert, eine individuelle Entscheidung mit Rückwirkung zu erlassen. Außerdem konnte die in jener Rechtssache erlassene rückwirkende Maßnahme, die nur den Kläger betraf, von vornherein kein berechtigtes Vertrauen eines Dritten verletzen.
104 Zu prüfen ist daher, ob die beiden von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien für die Zulässigkeit eines rückwirkenden Verwaltungsakts im vorliegenden Fall beachtet wurden.
105 Hinsichtlich des ersten, das zu verfolgende Ziel betreffenden Kriteriums ist nach der oben in Rn. 102 angeführten Rechtsprechung zu prüfen, ob die angefochtene Entscheidung einem im Allgemeininteresse liegenden Ziel dienen sollte. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist in der Rechtsprechung aber von der Erforderlichkeit eines zwingenden Allgemeininteresses nicht die Rede.
106 Im vorliegenden Fall sollte der Erlass einer neuen, rückwirkenden Zulassungsentscheidung mehreren im Allgemeininteresse liegenden Zwecken dienen. Die neue Entscheidung bezweckte nämlich, die durch das Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) beanstandete Rechtswidrigkeit zu beheben. Die Beachtung der Rechtmäßigkeit und der Rechtskraft durch die Verwaltung stellt offensichtlich ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel dar. Im Übrigen sollte die neue Entscheidung die rechtliche Lücke schließen, die dadurch entstanden war, dass der Unionsrichter die erste Zulassungsentscheidung für nichtig erklärt hatte, und somit die Rechtssicherheit der Unternehmen schützen, die der Anwendung der Verordnung Nr. 4064/89 unterlagen und an dem Unternehmenszusammenschluss von 2004 sowie an der 2008 erfolgten Transaktion beteiligt waren. Aus den Erwägungsgründen 7 und 17 dieser Verordnung ergibt sich nämlich, dass diese in erster Linie dazu dient, die Wirksamkeit der Kontrolle von Zusammenschlüssen und die Rechtssicherheit für die dieser Verordnung unterliegenden Unternehmen zu gewährleisten (vgl. Urteil vom 20. November 2002, Lagardère und Canal+/Kommission, T‑251/00, Slg, EU:T:2002:278, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
107 Das zweite, den Vertrauensschutz betreffende Kriterium, das es der Verwaltung gestattet, einen rückwirkenden Rechtsakt zu erlassen, dient der Prüfung, ob der mit Rückwirkung versehene individuelle Verwaltungsakt weder das berechtigte Vertrauen der unmittelbar Betroffenen noch dasjenige Dritter verletzt.
108 Erstens sind die Parteien sich darüber einig, dass die angefochtene Entscheidung das berechtigte Vertrauen der Streithelferinnen oder von Planeta nicht verletzt. Deshalb erübrigt es sich, das Vorbringen der Klägerin zu prüfen, diese drei Gesellschaften könnten sich jedenfalls nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen. Zweitens ist im Hinblick auf die Klägerin zu berücksichtigen, dass im Gegensatz zu deren Vorbringen das „berechtigte Vertrauen in die ordnungsgemäße Durchführung gerichtlicher Entscheidungen“ dem Erlass einer neuen, rückwirkenden Zulassungsentscheidung nicht entgegenstand, weil die Umsetzung der in der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 vorgesehenen Verpflichtungszusagen, an die Lagardère weiterhin gebunden war, einerseits voraussetzte, dass Lagardère der Kommission einen Erwerber der weiterzuveräußernden Vermögenswerte vorschlug, und zum anderen, dass die Kommission über die Zulassung des von Lagardère vorgeschlagenen Erwerbers entschied. Es ist bereits entschieden worden, dass im Gegenteil die Weigerung eines Organs, das Urteil eines Unionsgerichts durchzuführen, eine Beeinträchtigung des Vertrauens darstellt, das der Einzelne in das Rechtssystem der Union haben muss und das sich insbesondere auf die Beachtung der Entscheidungen der Unionsgerichte stützt (Urteil vom 12. Dezember 2000, Hautem/EIB, T‑11/00, Slg, EU:T:2000:295, Rn. 51). Im vorliegenden Fall hätte die Kommission möglicherweise gegen den Grundsatz der Beachtung gerichtlicher Entscheidungen verstoßen, wenn sie keine neue Zulassungsentscheidung erlassen hätte. Außerdem kann die Klägerin nicht geltend machen, die Kommission habe bei ihr begründete Erwartungen geweckt, selbst zum Erwerber der Vermögenswerte von Editis bestimmt zu werden, denn allein Lagardère war befugt, der Kommission einen Erwerber vorzuschlagen (siehe oben, Rn. 40).
109 Im Ergebnis waren die beiden Kriterien, die die Rechtsprechung für die Zulässigkeit des Erlasses eines rückwirkenden Verwaltungsakts aufgestellt hat, im vorliegenden Fall erfüllt.
110 Schließlich hebt die Klägerin hervor, weder der Gerichtshof noch das Gericht hätten es für erforderlich gehalten, die zeitlichen Wirkungen des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) näher zu bestimmen, was bedeute, dass es nach Auffassung dieser Gerichte nicht erforderlich gewesen sei, die erste Zulassungsentscheidung rückwirkend wirksam zu machen.
111 Art. 264 Abs. 2 AEUV gestattet es dem Unionsrichter, die Rückwirkung von ihm ausgesprochener Nichtigerklärungen zu begrenzen, indem er, sofern er dies für notwendig hält, diejenigen Wirkungen der für nichtig erklärten Handlung bezeichnen kann, die für die Vergangenheit als fortgeltend zu betrachten sind. So kann der Richter die Aufrechterhaltung der Wirkungen einer für nichtig erklärten Handlung von Amts wegen (Urteil vom 1. April 2008, Parlament und Dänemark/Kommission, C‑14/06 und C‑295/06, Slg, EU:C:2008:176, Rn. 84 bis 86) oder auf Antrag der Parteien anordnen. Der Umstand, dass weder das Gericht noch der Gerichtshof es für erforderlich gehalten haben, den Umfang der Rückwirkung des Urteils T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) zu begrenzen, bedeutet jedoch nicht, dass die Kommission nach Auffassung dieser Gerichte keine neue, rückwirkende Zulassungsentscheidung erlassen durfte. Zum einen stellt die nähere Bestimmung der zeitlichen Wirkungen eines Urteils für den Richter nur eine Befugnis, nicht aber eine Verpflichtung dar. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission sich nicht darauf beschränkt hat, die erste Zulassungsentscheidung rückwirkend zu bestätigen, sondern einen neuen unabhängigen Beauftragten bestellt und sodann anhand des von diesem verfassten Berichts und ihrer eigenen Analyse beurteilt hat, ob Wendel den Bedingungen entsprach, die die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 in Bezug auf den Erwerber der Vermögenswerte von Editis vorsah.
112 Nach alledem ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen. Folglich ist der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zweiter Klagegrund: Fehlen einer Rechtsgrundlage für die angefochtene Entscheidung
113 Die Klägerin macht geltend, infolge der Feststellung des Gerichts, dass Lagardère gewisse Verpflichtungen nicht eingehalten habe, sei die Genehmigung des Zusammenschlusses unanwendbar geworden, so dass die angefochtene Entscheidung einer Rechtsgrundlage entbehre. Da Lagardère nämlich gegen Abs. 1 und 10 ihrer Verpflichtungszusagen verstoßen habe, habe die Kommission die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 nicht mehr anwenden dürfen.
114 Die Kommission und die Streithelferinnen treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Außerdem hält Lagardère den zweiten Klagegrund für unzulässig, weil die Klägerin sich nicht auf die Rechtswidrigkeit der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 berufen könne.
– Zur Zulässigkeit des zweiten Klagegrundes
115 Lagardère hält den zweiten Klagegrund für unzulässig, weil die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 mit Verkündung des Urteils C‑551/10 P (oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:681) bestandskräftig geworden sei und die Klägerin deren Rechtswidrigkeit seitdem nicht mehr rügen könne.
116 Ohne dass über seine Zulässigkeit zu befinden wäre, kann dieses Vorbringen nur zurückgewiesen werden, da die Klägerin nicht vorträgt, die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 sei rechtswidrig, und somit nicht deren Rechtswidrigkeit rügt, sondern geltend macht, sie sei unanwendbar geworden, weil Lagardère gegen eine ihrer Verpflichtungszusagen verstoßen habe.
– Zum Fehlen einer Rechtsgrundlage für die angefochtene Entscheidung
117 Es ist daran zu erinnern, dass das Gericht die von der Klägerin erhobene Klage gegen die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 zurückgewiesen hat, der Gerichtshof sodann das Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts zurückgewiesen hat und diese Urteile folglich relative Rechtskraft erlangt haben. Zurückweisende Urteile entfalten nämlich eine derartige Rechtskraft, die lediglich zur Folge hat, dass jede neue Klage, die denselben Gegenstand und dieselben Parteien betrifft sowie auf derselben Grundlage beruht, unzulässig ist (Urteil vom 19. September 1985, Hoogovens Groep/Kommission, 172/83 und 226/83, Slg, EU:C:1985:355, Rn. 9). Ein zurückweisendes Urteil bedeutet daher nicht, dass die angefochtene Handlung gültig ist, sondern nur, dass keiner der vom Kläger geltend gemachten Klagegründe begründet war und auch keine Gründe zwingenden Rechts vorlagen, die das Gericht von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Daher gilt für die angefochtene Handlung weiterhin die Vermutung der Rechtmäßigkeit, die für alle Rechtssubjekte der Union auch die Verpflichtung mit sich bringt, die volle Wirksamkeit dieser Handlung anzuerkennen, solange deren Rechtswidrigkeit nicht festgestellt ist (Urteil vom 13. Februar 1979, Granaria, 101/78, Slg, EU:C:1979:38, Rn. 5). Da die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 Gegenstand einer Klage war, die durch vom Gerichtshof bestätigtes Urteil zurückgewiesen wurde, spricht eine Vermutung für ihre Rechtmäßigkeit.
118 Im Übrigen geht aus Rn. 73 bis 84 des vorliegenden Urteils hervor, dass die Kommission nicht verpflichtet war, die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 zu widerrufen, da Lagardère gegen eine Auflage und nicht gegen eine Bedingung verstoßen hatte. In den Akten findet sich auch kein Anhaltspunkt dafür, dass die Kommission diese Entscheidung widerrufen hätte. Gemäß Abs. 14 der Verpflichtungszusagen, die in der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 festgelegt sind, unterlag die Auswahl des Erwerbers der Zulassung durch die Kommission, die zu prüfen hatte, ob dieser Erwerber die in Abs. 10 der Verpflichtungszusagen aufgeführten Bedingungen erfüllte, und die Kommission hatte Lagardère innerhalb einer bestimmten Frist über ihre Billigung oder Ablehnung des Erwerbers zu informieren. Diese Bestimmungen der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 bildeten die Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung. Dem entsprechend reichte Lagardère am 22. November 2010 bei der Kommission einen erneuten Antrag auf Zulassung von Wendel als Erwerber der Vermögensgegenstände ein, die Gegenstand der Übernahme waren, um die Verpflichtungen zu erfüllen, die ihr durch die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 auferlegt waren.
119 Nach alledem ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund: Rechtsfehler und offensichtliche Beurteilungsfehler, da die Kommission nach dem 30. Juli 2004 entstandene Gegebenheiten herangezogen und diese selektiv berücksichtigt habe
120 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe Rechtsfehler und offensichtliche Beurteilungsfehler begangen, indem sie in der angefochtenen Entscheidung nach dem 30. Juli 2004 entstandene Gegebenheiten berücksichtigt habe. Für den Fall, dass die Kommission nach dem 30. Juli 2004 entstandene Gegebenheiten hätte berücksichtigen dürfen, vertritt die Klägerin im Übrigen die Auffassung, dies hätte unparteiisch geschehen müssen.
121 Die Kommission und die Streithelferinnen treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
122 In erster Linie wirft die Klägerin der Kommission und dem Beauftragten vor, sich zur Bewertung der Bewerbung von Wendel auf nach dem 30. Juli 2004 entstandene Gegebenheiten gestützt zu haben.
123 Insoweit geht aus Rn. 22 der angefochtenen Entscheidung hervor, dass die Kommission angegeben hat, alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte geprüft zu haben, um sich zu vergewissern, dass Wendel am 4. Juni 2004, dem Tag, an dem Lagardère den ersten Zulassungsantrag eingereicht hatte, die in Abs. 10 der Verpflichtungszusagen aufgeführten Bedingungen erfüllte. Sie hat weiter angegeben, angesichts der am 30. Mai 2008 erfolgten Veräußerung von Editis an Planeta und des zukunftsbezogenen Charakters der von ihr im Prinzip durchzuführenden Analyse werde ihre Beurteilung der Bewerbung von Wendel durch Informationen über die Entwicklung von Editis sowie der betreffenden Märkte nach dem 4. Juni 2004 erhärtet. So habe sie eine Beurteilung der Situation am 4. Juni 2004 vorgenommen (Rn. 27 bis 37) und anschließend geprüft, ob diese Beurteilung durch die nach diesem Zeitpunkt eingetretenen Entwicklungen bestätigt werde (Rn. 38 bis 49). Im Ergebnis habe sie entschieden, Wendel auf der Grundlage der durch die spätere Entwicklung bestätigten Situation am 4. Juni 2004 rückwirkend zuzulassen (Rn. 50).
124 Ebenso hat der neue Beauftragte in seinem der Kommission übergebenen Bericht angegeben, ihm sei aufgetragen worden, die Bewerbung von Wendel rückblickend zum 30. Juli 2004 zu beurteilen und diese Untersuchung durch einen Abriss der Entwicklung von Editis nach ihrer Übernahme durch Wendel im Juli 2004 und sodann nach ihrer Übernahme durch Planeta im Mai 2008 zu ergänzen.
125 Nach der Rechtsprechung hat das Organ, dessen Rechtsakt für nichtig erklärt worden ist, diesen durch einen neuen Rechtsakt zu ersetzen und dabei auf den Zeitpunkt zurückzugehen, zu dem der ursprüngliche Rechtsakt erlassen worden war, und zwar auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt geltenden Bestimmungen und maßgeblichen Tatsachen (Urteil O2 [Germany]/Kommission, oben in Rn. 58 angeführt, EU:T:2006:116, Rn. 47 und 48; vgl. in diesem Sinne auch Urteil Bayer CropScience u. a./Kommission, oben in Rn. 103 angeführt, EU:T:2008:317, Rn. 63). In seiner erneuten Entscheidung kann es jedoch andere Gründe anführen als die, auf die es die erste Entscheidung gestützt hatte (Urteil Interporc/Kommission, oben in Rn. 56 angeführt, EU:C:2003:125, Rn. 28 bis 32).
126 Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass die Kommission sich in der angefochtenen Entscheidung zu Recht zu der Frage geäußert hat, ob Wendel die in Abs. 10 der Verpflichtungszusagen festgelegten Zulassungsvoraussetzungen erfüllte, indem sie den Sachverhalt berücksichtigte, der ihr am 30. Juli 2004, dem Tag des Erlasses der ersten Zulassungsentscheidung, bekannt war.
127 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen eine Untersuchung der voraussichtlichen Entwicklung der sich künftig aus dem Zusammenschluss möglicherweise ergebenden Wettbewerbssituation erfordert (Urteile vom 22. Oktober 2002, Schneider Electric/Kommission, T‑310/01, Slg, EU:T:2002:254, Rn. 443, und vom 19. Juni 2009, Qualcomm/Kommission, T‑48/04, Slg, EU:T:2009:212, Rn. 89). Das Gleiche gilt für die Beurteilung der in Abs. 10 Buchst. b der Verpflichtungszusagen vorgesehenen Lebens- und Leistungsfähigkeit des Erwerbers und seiner Fähigkeit, auf den betroffenen Märkten einen wirksamen Wettbewerb zu erhalten oder zu entwickeln.
128 Im vorliegenden Fall musste die Kommission ihre Untersuchung der durch den Zusammenschluss entstandenen Wettbewerbssituation zwangsläufig im Nachhinein durchführen. Sie hat daher zu Recht geprüft, ob ihre anhand des ihr am 30. Juli 2004 bekannten Sachverhalts durchgeführte Analyse durch die Gegebenheiten der nachfolgenden Zeit gestützt wurde. Hätte die Untersuchung der späteren Situation ergeben, dass Wendel sich nicht wie ein Wettbewerber im Markt verhalten hatte, wäre die Kommission im Übrigen verpflichtet gewesen, die sich daraus ergebenden Konsequenzen bei der Prüfung der von Lagardère erneut beantragten Zulassung zu beurteilen.
129 Hilfsweise wirft die Klägerin der Kommission vor, die nach dem 30. Juli 2004 entstandenen Gegebenheiten selektiv und parteiisch herangezogen zu haben. Aus der angefochtenen Entscheidung geht jedoch hervor, dass die Kommission den Umstand, dass Wendel Editis im Mai 2008 weiterveräußerte (Rn. 47 bis 49) und Editis die Nummer zwei im Verlagswesen in Frankreich blieb (Rn. 38, 42, 43 und 45), sehr wohl berücksichtigt hat, indem sie ausführte, dieser Umstand sei mit den Verpflichtungszusagen von Lagardère nicht unvereinbar, insbesondere nicht mit deren Abs. 10 Buchst. b, nach dem der Erwerber fähig sein müsse, einen wirksamen Wettbewerb zu erhalten oder zu entwickeln.
130 Nach alledem ist der dritte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
Vierter Klagegrund: Rechtsfehler und offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Bewerbung von Wendel
131 Die Klägerin ist der Auffassung, die Kommission hätte sämtliche zum Zeitpunkt des Zulassungsantrags verfügbaren Gegebenheiten erneut prüfen müssen, um die Bewerbung von Wendel zu beurteilen, insbesondere deren Fähigkeit, einen wirksamen Wettbewerb auf dem Markt zu entwickeln. Sie macht geltend, die Kommission hätte sich jedenfalls nicht auf Fakten aus der Zeit nach dem 30. Juli 2004 stützen dürfen. Die Klägerin ist allerdings der Ansicht, die Ereignisse nach dem 30. Juli 2004 hätten ihr Recht gegeben, weil Wendel Editis nur vier Jahre später weiterveräußert habe und Editis ihre Stellung als Marktführer im französischsprachigen Verlagswesen nicht wiedererlangt habe.
132 Außerdem wirft die Klägerin der Kommission vor, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, indem sie die von Wendel erwartete interne Rentabilitätsquote nicht mit den entsprechenden Quoten der anderen von Lagardère in die engere Wahl gezogenen Konsortien verglichen und auch nicht den Umstand berücksichtigt habe, dass Wendel über keine Erfahrung im Verlagswesen verfügt habe. Zudem habe die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie nicht berücksichtigt habe, dass Lagardère und Wendel entgegen der in Abs. 10 der Verpflichtungszusagen vorgesehenen Voraussetzung der Unabhängigkeit ein gemeinsames Verwaltungsratsmitglied hatten, und im Übrigen habe sie ihre in diesem Punkt angegriffene Entscheidung unzureichend begründet. Ferner habe die Kommission die Auswirkungen außer Acht gelassen, die die zwischen den beiden Unternehmen getroffenen Übergangsvereinbarungen auf die Unabhängigkeit von Wendel hätten haben können.
133 Die Kommission und die Streithelferinnen treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
134 Zum Vorbringen der Klägerin hinsichtlich der Befugnis der Kommission, sich auf Geschehnisse nach dem 30. Juli 2004 zu stützen, und gegebenenfalls der unterlassenen Berücksichtigung solcher Geschehnisse ist vorab darauf hinzuweisen, dass aus den Rn. 125 bis 128 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dass die Kommission in der angefochtenen Entscheidung über die Frage, ob Wendel die in Abs. 10 der Verpflichtungszusagen festgelegten Zulassungsvoraussetzungen erfüllte, zu Recht entschieden hat, indem sie den Sachverhalt berücksichtigte, der ihr am 30. Juli 2004, dem Tag des Erlasses der ersten Zulassungsentscheidung, bekannt war, und ihre Prüfung zugleich durch Gegebenheiten erhärtete, die nach diesem Zeitpunkt eingetreten waren.
135 Ferner ist im Rahmen der Prüfung dieses Klagegrundes darauf hinzuweisen, dass die Grundregeln der Verordnung Nr. 4064/89, insbesondere deren Art. 2 (Beurteilung von Zusammenschlüssen), der Kommission einen gewissen Beurteilungsspielraum einräumen, namentlich bei Beurteilungen wirtschaftlicher Art. Daher muss die richterliche Kontrolle der Ausübung einer solchen Befugnis, die bei der Anwendung der für Zusammenschlüsse geltenden Regeln wesentlich ist, unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums erfolgen, der den wirtschaftlichen Bestimmungen, die Teil der Regelung für Zusammenschlüsse sind, zugrunde liegt (Urteile Frankreich u. a./Kommission, oben in Rn. 44 angeführt, EU:C:1998:148, Rn. 223 und 224, und vom 6. Juni 2002, Airtours/Kommission, T‑342/99, Slg, EU:T:2002:146, Rn. 64).
136 Auch wenn der Richter anerkennt, dass der Kommission in wirtschaftlichen Fragen ein Beurteilungsspielraum zusteht, bedeutet dies nicht, dass er eine Kontrolle der Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission unterlassen muss. Er muss nämlich nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen. Eine solche Kontrolle ist umso nötiger, wenn eine Untersuchung der voraussichtlichen Entwicklung erforderlich ist (Urteile vom 15. Februar 2005, Kommission/Tetra Laval, C‑12/03 P, Slg, EU:C:2005:87, Rn. 39, und Qualcomm/Kommission, oben in Rn. 127 angeführt, EU:T:2009:212, Rn. 92).
137 Die vom Richter ausgeübte Kontrolle der komplexen wirtschaftlichen Beurteilungen, die die Kommission im Rahmen der Ausübung des ihr durch die Verordnung Nr. 4064/89 eingeräumten Ermessens vornimmt, hat sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Verfahrens- und Begründungsvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler und kein Ermessensmissbrauch vorliegen. Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichts, seine wirtschaftliche Beurteilung an die Stelle derjenigen der Kommission zu setzen (Urteil vom 3. April 2003, Petrolessence und SG2R/Kommission, T‑342/00, Slg, EU:T:2003:97, Rn. 101). Auch soweit es sich um die Beurteilung handelt, ob Zusagen einzuholen sind, um die gegen ein Zusammenschlussvorhaben bestehenden ernsthaften Bedenken zu zerstreuen, darf das Gericht die von der Kommission vorgenommene Beurteilung nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen, denn es hat im Rahmen seiner Kontrolle nur zu prüfen, ob die Kommission offensichtliche Beurteilungsfehler begangen hat (Urteil easyJet/Kommission, oben in Rn. 43 angeführt, EU:T:2006:187, Rn. 128). Soweit die Erfüllung der Verpflichtungszusagen zu beurteilen ist, ist die gerichtliche Kontrolle die gleiche wie hinsichtlich der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt oder der Notwendigkeit, Verpflichtungszusagen einzuholen, um einen Zusammenschluss zu genehmigen (Urteil Petrolessence und SG2R/Kommission, EU:T:2003:97, Rn. 101 bis 103).
138 Im vorliegenden Fall hat das Gericht die komplexen wirtschaftlichen Beurteilungen, die die Kommission vorzunehmen hatte, um die angefochtene Entscheidung zu erlassen, daher nur eingeschränkt zu kontrollieren und darf die von der Kommission vorgenommene Beurteilung nicht durch seine eigene ersetzen. Hingegen unterliegen die Beurteilungen, die die Kommission zur Bewertung der Bewerbung von Wendel vorzunehmen hatte, der umfassenden Kontrolle.
139 Anhand dieser Grundsätze sind die sechs Argumente, die die Klägerin im Rahmen dieses Klagegrundes vorträgt, zu prüfen.
140 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Lagardère sich in Abs. 10 ihrer Zusagen verpflichtet hatte, im Interesse der Erhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf den betroffenen Märkten die Vermögenswerte von Editis an einen oder mehrere unabhängige Käufer zu veräußern, die die folgenden Voraussetzungen erfüllen:
„Lagardère darf keine bedeutenden unmittelbaren oder mittelbaren Interessen bei dem Käufer haben.
Der oder die Käufer muss/müssen lebens- und leistungsfähige Markbeteiligte sein und über die wirtschaftlichen Anreize für die Aufrechterhaltung bzw. Entwicklung eines wirksamen Wettbewerbs verfügen, ohne dass dadurch jedoch von vornherein eine industrielle oder finanzielle Käuferkategorie ausgeschlossen wird.
Der Erwerb der veräußerten Vermögenswerte darf weder neue Wettbewerbsprobleme schaffen noch die Umsetzung der Verpflichtungszusagen möglicherweise verzögern. Lagardère muss der Kommission nachweisen können, dass der Käufer die Bedingungen der Verpflichtungszusagen erfüllt und dass die veräußerten Vermögenswerte gemäß diesen Verpflichtungszusagen veräußert werden.
Der oder die Käufer hat/haben alle für den Erwerb und die Bewirtschaftung der veräußerten Vermögenswerte erforderlichen Genehmigungen erhalten oder könnte(n) sie nach vernünftigem Ermessen erhalten.“
141 Erstens trägt die Klägerin vor, die Ereignisse nach dem 30. Juli 2004 hätten ihr Recht gegeben, weil Wendel Editis nur vier Jahre später weiterveräußert habe und Editis ihre Stellung als Marktführer im französischsprachigen Verlagswesen nicht wiedererlangt habe. Aus den Akten ergibt sich jedoch, dass Wendel sich in Übereinstimmung mit den in Abs. 10 Buchst. b der Verpflichtungszusagen von Lagardère vorgesehenen Bedingungen als lebens- und leistungsfähiger Marktteilnehmer erwiesen und einen wirksamen Wettbewerb auf dem Markt entwickelt hat. Editis hat nämlich nach ihrer Übernahme durch Wendel unstreitig einen beträchtlichen Geschäftsumfang und ein erhebliches Wachstum erzielt, was Wendel in die Lage versetzte, Editis im Mai 2008 an Planeta weiterzuveräußern, und die Klägerin behauptet nicht, dass dieser Weiterverkauf dazu geführt habe, den Wettbewerb auf dem Markt zu verringern.
142 Zweitens macht die Klägerin geltend, die Kommission hätte die Fähigkeit und die Beweggründe von Wendel, einen wirksamen Wettbewerb zu entwickeln, beurteilen müssen. Aus Rn. 28 bis 35 der angefochtenen Entscheidung geht jedoch hervor, dass sich die Prüfung der Kommission auf die in Abs. 10 Buchst. b der Verpflichtungszusagen von Lagardère vorgesehenen Voraussetzungen erstreckte, indem sie einerseits untersucht hat, ob Wendel ein lebensfähiger Marktteilnehmer war (Rn. 28 und 29), und andererseits, ob Wendel in der Lage war, Editis als wirksamen Wettbewerber zu erhalten und weiterzuentwickeln (Rn. 30 bis 34). Somit hat die Kommission sich nicht darauf beschränkt, den finanziellen Vorteil zu untersuchen, den Wendel aus der Transaktion würde erzielen können, sondern auch die Ressourcen von Editis analysiert und dabei sowohl die Absicht von Wendel, die vorhandenen Leitungsteams beizubehalten, als auch das Bestehen eines von Wendel ausgearbeiteten Geschäftsplans hervorgehoben, der eine interne und externe Wachstumsstrategie vorsah. Daher trifft das Argument der Klägerin, die Kommission habe nicht geprüft, ob Wendel zur Entwicklung eines wirksamen Wettbewerbs fähig war, in tatsächlicher Hinsicht nicht zu, denn die Kommission hat die Fähigkeit von Wendel geprüft, Editis zu erhalten und zu entwickeln, um daraus einen wirksamen Wettbewerber entstehen zu lassen.
143 Drittens wirft die Klägerin der Kommission vor, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, indem sie die von Wendel erwartete interne Rentabilitätsquote nicht mit den entsprechenden Quoten der anderen von Lagardère in die engere Wahl gezogenen Konsortien verglichen habe, wohl aber das Angebot von Wendel mit den anderen Angeboten im Hinblick auf die Beibehaltung der Managementressourcen von Editis.
144 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Lagardère nach Abs. 13 Buchst. b und Abs. 14 ihrer Verpflichtungszusagen der Kommission eine Liste der potenziellen Käufer vorzulegen hatte, mit denen sie Kontakt aufzunehmen beabsichtigte, und dass die von Lagardère unter ihnen getroffene Auswahl der Zulassung durch die Kommission bedurfte, die ihre Entscheidung anhand der Informationen zu treffen hatte, die sie für die Prüfung benötigte, ob die vorgeschlagenen Käufer die in den Verpflichtungszusagen festgelegten Zulassungskriterien erfüllten. Nach Abs. 20 dieser Verpflichtungszusagen musste die Anmelderin das Verfahren der Auswahl des oder der Käufer(s) unter der Aufsicht eines von der Kommission zugelassenen Beauftragten durchführen, dessen Aufgabe es war, für die zufriedenstellende Erfüllung dieser Verpflichtungszusagen von Lagardère im Sinne des Abs. 21 Buchst g Sorge zu tragen oder gar in dem in Abs. 25 vorgesehenen Fall, dass die Anmelderin die übernommenen Verpflichtungen nicht innerhalb der ihr gesetzten Frist erfüllte, die Übernahmeverhandlungen mit den interessierten Dritten zu führen. Schließlich bestimmte Abs. 11 der Verpflichtungszusagen, dass Lagardère alle ihre Anstrengungen darauf zu verwenden hatte, die Gesamtheit der Vermögenswerte an einen einzigen Käufer zu veräußern und dabei das Ziel zu verfolgen, die bestmögliche Valorisierung zu erreichen. Dieses Auswahlverfahren, dem zufolge allein Lagardère befugt war, der Kommission einen Erwerber der Vermögenswerte von Editis vorzuschlagen, während die Kommission nur zu prüfen hatte, ob der von Lagardère ausgewählte Erwerber die in den Verpflichtungszusagen festgelegten Kriterien erfüllte, um einen wirksamen Wettbewerb auf den betroffenen Märkten aufrecht zu erhalten, ist somit nicht durch die angefochtene Entscheidung eindeutig festgelegt worden, sondern durch die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004, deren Rechtmäßigkeit die Klägerin nicht mehr in Frage stellen kann, da das Urteil T‑452/04 (EU:T:2010:385) relative Rechtskraft erlangt hat (Urteil Hoogovens Groep/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:1985:355, Rn. 9).
145 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die anwendbaren Bestimmungen des Rechts der Unternehmenszusammenschlüsse die Kommission nicht verpflichteten, selbst ein Auswahlverfahren unter den Bewerbern für die Übernahme der zu veräußernden Vermögenswerte durchzuführen oder die jeweiligen Vorzüge dieser Bewerber zu vergleichen. Im Übrigen bestimmt Rn. 21 der Mitteilung über Abhilfemaßnahmen insoweit: „Wird eine Genehmigungsentscheidung von der Veräußerung eines Geschäfts abhängig gemacht, so müssen die Parteien einen geeigneten Käufer finden“. Diese Randnummer widerspricht in keiner Weise den Bestimmungen der Verordnung Nr. 4064/89, deren Art. 8 Abs. 2 sich darauf beschränkt, mögliche „Änderungen durch die beteiligten Unternehmen“ an dem angemeldeten Zusammenschluss vorzusehen, um diesen mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar zu machen, ohne das Verfahren zur Erzielung eines solchen Ergebnisses festzulegen. Der Gerichtshof hat im Übrigen im Urteil C‑551/10 P (oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:681) darauf hingewiesen, dass Art. 2 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 4064/89 die Kommission mit der Aufgabe betraut, sicherzustellen, dass die ihrer Kontrolle unterliegenden Zusammenschlüsse keine beherrschende Stellung begründen oder verstärken, die zur Folge hat, dass ein wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder einem wesentlichen Teil davon erheblich behindert wird, und dass es deshalb nicht Aufgabe der Kommission ist, ein System des vollkommenen Wettbewerbs zu errichten und anstelle der Wirtschaftsteilnehmer zu entscheiden, wer auf dem Markt tätig sein soll (Rn. 66 und 67). Dem entsprechend hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Kommission nur die Möglichkeit hat, den Käufer, der ihr vorgeschlagen wird, zu billigen oder nicht (Rn. 76).
146 Soweit die Kommission die Notwendigkeit beurteilt, Zusagen einzuholen, um die gegen einen Zusammenschluss bestehenden ernsthaften Bedenken zu zerstreuen, ist der Unionsrichter der Auffassung, dass es ihm nicht zusteht, die von der Kommission vorgenommene Beurteilung durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen, so dass die behauptete Nichtberücksichtigung anderer, von Dritten vorgeschlagener Zusagen für sich allein noch kein Nachweis dafür ist, dass die angefochtene Entscheidung einen offensichtlichen Beurteilungsfehler aufweist. Der Umstand, dass auch andere Zusagen hätten akzeptiert werden können, kann daher selbst dann, wenn diese für den Wettbewerb günstiger gewesen wären, nicht zur Nichtigerklärung der Entscheidung führen, sofern die Kommission vernünftigerweise annehmen durfte, dass die in der Entscheidung vorgesehenen Zusagen die ernsthaften Bedenken zerstreuen konnten (Urteile vom 30. September 2003, ARD/Kommission, T‑158/00, Slg, EU:T:2003:246, Rn. 328 und 329, sowie easyJet/Kommission, oben in Rn. 43 angeführt, EU:T:2006:187, Rn. 128 und 129). In ähnlicher Weise ist es daher nicht Sache des Gerichts, im vorliegenden Fall eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen Angebote vorzunehmen, die Lagardère im Jahr 2004 vorgelegt wurden, und die Kommission brauchte die von den einzelnen Bewerbern erwarteten internen Rentabilitätsquoten nicht miteinander zu vergleichen, da sie der Auffassung war, dass die Bewerbung von Wendel, dem einzigen Erwerber, den Lagardère vorgeschlagen hatte, die von dieser zugesagten Verpflichtungen erfüllte.
147 Schließlich ist festzustellen, dass das Vorbringen der Klägerin, die Kommission habe die Angebote mehrerer Bewerber unter einem bestimmten Gesichtspunkt verglichen, sachlich nicht zutrifft. Aus Rn. 30 der angefochtenen Entscheidung geht nämlich hervor, dass die Kommission zur Beurteilung der Frage, ob es sich bei Wendel um einen Bewerber handelte, der in der Lage war, Editis als wirksamen Wettbewerber auf dem betroffenen Markt zu erhalten und weiterzuentwickeln, festgestellt hatte, dass Wendel sich verpflichtet habe, deren Management und verlegerisches Personal beizubehalten, und dass Wendel betont habe, mit diesem Ansatz die Entwicklung von Editis stärker absichern zu können, als dies der Fall wäre, wenn Editis von einem Wettbewerber in diesem Marktsegment übernommen würde, der die unternehmerische Kontrolle zwangsläufig reorganisiert hätte.
148 Viertens wirft die Klägerin der Kommission vor, die fehlende Erfahrung von Wendel im Verlagssektor nicht berücksichtigt zu haben. Aus Abs. 10 Buchst. b der Verpflichtungszusagen geht jedoch ausdrücklich hervor, dass als Käufer der zu veräußernden Vermögenswerte auch ein Finanzinvestor ausgewählt werden konnte, was das Gericht (Urteil T‑279/04, oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:384, Rn. 344 und 345) und der Gerichtshof (Urteil C‑551/10 P, oben in Rn. 23 angeführt, EU:C:2012:681, Rn. 78) im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der mit Auflagen verbundenen Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 bestätigt haben. Außerdem trifft das Vorbringen der Klägerin sachlich nicht zu, weil die Kommission in Rn. 30 der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich geprüft hat, ob Wendel ein Wirtschaftsteilnehmer war, der ungeachtet seiner fehlenden Erfahrung im Verlagssektor fähig war, einen wirksamen Wettbewerb zu erhalten und zu entwickeln. So hat sie darauf hingewiesen, dass Editis weiterhin über die gesamte Personalausstattung auf Führungsebene sowie im verlegerischen und unterstützenden Bereich verfügte, die erforderlich war, um ihre eigene Lebensfähigkeit sicherzustellen, und Wendel sich verpflichtet hatte, diese Ressourcen beizubehalten. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Lagardère sich in Abs. 12 Buchst. b ihrer Zusagen verpflichtet hatte, vor Ablauf einer bestimmten Frist davon abzusehen, die Mitglieder des Exekutivausschusses von Editis und die wichtigsten verlegerischen Führungskräfte der veräußerten Geschäftsbereiche zu rekrutieren.
149 Fünftens wirft die Klägerin der Kommission vor, den Standpunkt vertreten zu haben, dass Wendel die in den Verpflichtungszusagen vorgesehene Voraussetzung der Unabhängigkeit erfülle, obwohl ein Mitglied des Verwaltungsrats dieser Gesellschaft zugleich Mitglied des Aufsichtsrats und des Prüfungsausschusses von Lagardère gewesen sei.
150 Nach Abs. 10 ihrer Zusagen hatte Lagardère sich verpflichtet, zum Schutz eines wirksamen Wettbewerbs auf den betroffenen Märkten „die Vermögenswerte von Editis an einen oder mehrere unabhängige Käufer zu veräußern“. Abs. 10 Buchst. a sah ferner vor, dass Lagardère „keine bedeutenden unmittelbaren oder mittelbaren Interessen bei dem oder den Käufer(n) haben“ durfte. In Rn. 346 des Urteils T‑279/04 (EU:T:2010:384) hat das Gericht das von der Klägerin zur Stützung ihres neunten Klagegrundes vorgebrachte Argument zurückgewiesen, die Verpflichtungszusagen von Lagardère seien mit Rn. 49 der Mitteilung über Abhilfemaßnahmen unvereinbar. Das Gericht hat nämlich festgestellt, dass „das bloße Fehlen bedeutender unmittelbarer oder mittelbarer Interessen bei dem oder den Käufer(n), wie es in Abs. 10 der Verpflichtungszusagen von Lagardère vorgesehen ist, mit der in Rn. 49 der Mitteilung über Abhilfemaßnahmen vorgesehenen Voraussetzung vereinbar ist, dass keine Beziehung zwischen dem Käufer und den Parteien bestehen darf, da die Veräußerung gemäß Abs. 10 der Verpflichtungszusagen von Lagardère nur ‚an einen oder mehrere von der Anmelderin unabhängige Käufer erfolgen‘ und der Erwerb eines oder mehrerer Vermögenswerte(s) keine ‚neue[n] Wettbewerbsprobleme schaffen [darf]‘“.
151 Das Gericht hat somit die beiden in Abs. 10 und Abs. 10 Buchst. a der Verpflichtungszusagen vorgesehenen Bedingungen insgesamt beurteilt und festgestellt, dass das in Abs. 10 Buchst. a vorgesehene Fehlen „bedeutender unmittelbarer oder mittelbarer Interessen von Lagardère bei dem Käufer“ unter Berücksichtigung der in Abs. 10 vorgesehenen allgemeinen Bedingung der Unabhängigkeit des Käufers von Lagardère zu prüfen ist.
152 Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die Kommission bei der Beurteilung der Bewerbung von Wendel die in Abs. 10 und Abs. 10 Buchst. a der Verpflichtungszusagen vorgesehene und im Licht von Rn. 49 der Mitteilung über Abhilfemaßnahmen zu verstehende Bedingung der Unabhängigkeit dieses Bewerbers von Lagardère beachtet hat. Die Bedingung der Unabhängigkeit des Erwerbers zielt insbesondere darauf ab, dessen Fähigkeit sicherzustellen, sich auf dem Markt wie ein wirksamer und eigenständiger Wettbewerber zu verhalten, ohne dass seine Strategie und seine Entscheidungen vom Veräußerer beeinflusst werden können. Diese Unabhängigkeit lässt sich beurteilen, indem die kapitalmäßigen, finanziellen, geschäftlichen, personellen und materiellen Verflechtungen zwischen den beiden Gesellschaften untersucht werden.
153 In Rn. 27 der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission zur Frage der Unabhängigkeit der Parteien angegeben, dass „Wendel zum Zeitpunkt des ursprünglichen Zulassungsantrags von 2004 von der Lagardère-Gruppe unabhängig war“ und „[t]atsächlich … keine Kapitalverflechtung oder sonstige wirtschaftliche Verflechtung zwischen diesen beiden Gesellschaften [bestand]“. Diese Feststellung wird von der Klägerin nicht bestritten, die im Übrigen auch nicht behauptet, dass zwischen den beiden Gesellschaften materielle und finanzielle Verflechtungen bestanden hätten.
154 Zwar trägt die Klägerin zutreffend vor, dass ein und dieselbe Person Mitglied bestimmter Exekutiv- oder Aufsichtsorgane von Lagardère und von Wendel war. Es ist nämlich unstreitig, dass Herr P. seit 1978 eines der 15 Mitglieder des Aufsichtsrats von Lagardère und Mitglied des Prüfungsausschusses dieser Gesellschaft war. Außerdem zählte Herr P. seit 2002 und bis zum 31. Mai 2005 zu den zwölf Mitgliedern des Verwaltungsrats, den drei Mitgliedern des Nominierungs- und Vergütungsausschusses sowie den fünf Mitgliedern des Prüfungsausschusses von Wendel.
155 Die Mitgliedschaft von Herrn P. in den Gremien beider Gesellschaften ist jedoch unter den vorliegenden Umständen nicht geeignet, den Nachweis zu erbringen, dass Wendel ein von Lagardère abhängiger Erwerber gewesen sei.
156 Am 30. Juli 2004 war Lagardère nämlich eine Kommanditgesellschaft auf Aktien französischen Rechts mit dualistischer Struktur, deren Funktionsweise den Art. L 226-1 bis L 226-14 des französischen Handelsgesetzbuchs unterlag. Sie wurde somit von einer Geschäftsführung geleitet, die der Aufsicht eines Aufsichtsrats unterstand. In seiner Eigenschaft als Mitglied des Aufsichtsrats, nicht aber als Geschäftsführer, nahm Herr P., wie Wendel vorträgt, ausschließlich Funktionen der Aufsicht und Orientierung der Geschäftsführung der Gesellschaft wahr. Im Übrigen war er in seiner Eigenschaft als Mitglied des Prüfungsausschusses mit Fragen befasst, die in erster Linie die Finanzen und die Rechnungslegung betrafen.
157 Am 30. Juli 2004 war Wendel eine Aktiengesellschaft französischen Rechts mit monistischer Struktur, deren Funktionsweise den Art. L 225‑17 bis L 225-56 des französischen Handelsgesetzbuchs unterlag. Sie wurde somit von einem Verwaltungsrat geleitet, der die Aufgabe hatte, die Leitlinien ihrer Geschäftstätigkeit zu bestimmen. Die Mitglieder ihres Verwaltungsrats unterlagen zwar gemäß Art. L 225-37 des französischen Handelsgesetzbuchs einer Verschwiegenheitspflicht, wie Wendel vorträgt, zugleich aber auch einer Loyalitätspflicht gegenüber der Gesellschaft, insbesondere gemäß Art. L 242-6 dieses Gesetzbuchs. Herr P. war ferner Mitglied des Nominierungs- und Vergütungsausschusses sowie des Prüfungsausschusses von Wendel, die die Aufgabe hatten, die Beschlüsse des Verwaltungsrats vorzubereiten, der mindestens viermal jährlich zusammentrat. Der Prüfungsausschuss war insbesondere für Fragen der Rechnungslegung zuständig, während der Nominierungs- und Vergütungsausschuss vor allem Vorschläge für die Ernennung von Verwaltungsratsmitgliedern, für die Vergütung des Vorsitzenden des Verwaltungsrats und des stellvertretenden Generaldirektors sowie für die Leitlinien der Politik der Beteiligung des Managements am Gewinn zu unterbreiten hatte. So geht aus dem Jahresbericht 2004 hervor, dass die Tagesordnung der Sitzungen des Nominierungs- und Vergütungsausschusses vom 9. Juli, 6. und 23. September sowie 22. Oktober 2004 die Prämien aus Anlass des Erwerbs von Editis, die Investition in Editis und die Beteiligung des Managements von Wendel am Kapital von Editis zum Gegenstand hatte.
158 Im Übrigen heißt es in Fn. 10, auf die Rn. 27 der angefochtenen Entscheidung verweist und die die Kommission auf eine prozessleitende Maßnahme des Gerichts hin vorgelegt hat, dass „[i]n Bezug auf die personelle Verflechtung, die zwischen Lagardère und Wendel besteht, … die Kommission zur Kenntnis [nimmt], dass die Vertreter von Wendel vor der ersten Zulassungsentscheidung zugesagt hatten, dass [Herr P.] an den Sitzungen des Verwaltungsrats von Wendel nicht mehr teilnimmt“. Somit geht aus der angefochtenen Entscheidung und aus den Antworten auf die Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung hervor, dass Wendel auf Verlangen der Kommission am 27. Juli 2004 förmlich zugesagt hatte, dass Herr P. zum einen seine Ämter bei dieser Gesellschaft innerhalb eines Jahres nach Zulassung ihrer Bewerbung niederlegt und zum anderen in dieser Zwischenzeit nicht an Beratungen des Verwaltungsrats und der anderen internen Ausschüsse teilnimmt, wenn diese die Verlagstätigkeit der Gruppe betreffen, und von der Geschäftsleitung oder den operativen Führungskräften von Wendel keine vertraulichen Informationen in Bezug auf den Verlagssektor erhält.
159 Diese Umstände lassen zusammen den Schluss zu, dass die Kommission dafür Sorge getragen hat, dass die Tätigkeit von Herrn P. bei Wendel die Unabhängigkeit dieser Gesellschaft und folglich die Erhaltung und Entwicklung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem betroffenen Markt nicht beeinträchtigen konnte. Die bloße Anwesenheit von Herrn P. in den Organen der beiden Gesellschaften konnte daher mangels sonstiger Nachweise nicht die Annahme rechtfertigen, das Marktverhalten von Wendel werde durch Lagardère beeinflusst und die Bedingung der Unabhängigkeit des Erwerbers sei nicht erfüllt.
160 Soweit die Klägerin vorbringt, die Anwesenheit von Herrn P. in den Leitungs- und Aufsichtsorganen der beiden Gesellschaften sei während der Phase der Veräußerung und der Auswahl des Erwerbers durch Lagardère besonders problematisch gewesen, ist erstens darauf hinzuweisen, dass das Veräußerungsverfahren unter strenger Aufsicht der Kommission stattfand, und zweitens, dass es nicht Aufgabe der Kommission war, ein System des vollkommenen Wettbewerbs zu errichten und anstelle der Wirtschaftsteilnehmer zu entscheiden, wer auf dem Markt tätig sein soll, sondern allein Lagardère einen geeigneten Käufer zu suchen hatte, der sodann der Zulassung durch die Kommission bedurfte (siehe oben, Rn. 144 und 145).
161 Soweit die Klägerin schließlich geltend macht, die angefochtene Entscheidung sei in diesem speziellen Punkt nicht hinreichend begründet, ist dies im Rahmen des sechsten Klagegrundes zu prüfen.
162 Sechstens wirft die Klägerin der Kommission vor, die Auswirkungen außer Acht gelassen zu haben, die die von den beiden Unternehmen getroffenen Übergangsvereinbarungen auf die Unabhängigkeit von Wendel hätten haben können, da Editis für den Vertrieb bestimmter Titel weiterhin eine Vergütung von der Gesellschaft Hachette erhalte, die sich im Alleinbesitz von Lagardère befinde. Da diese Übergangsvereinbarungen Teil der Verpflichtungszusagen von Lagardère und somit durch die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 festgelegt waren (siehe Anhang 1, Punkt 13 und 14 dieser Entscheidung), ist dieses Vorbringen zurückzuweisen, weil die Klägerin die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung nicht mehr in Frage stellen kann (siehe oben, Rn. 144).
163 Vorbehaltlich der vorstehenden Rn. 161 ist der vierte Klagegrund nach alledem als unbegründet zurückzuweisen.
Fünfter Klagegrund: Ermessensmissbrauch
164 Die Klägerin macht geltend, die angefochtene Entscheidung beruhe auf einem Ermessensmissbrauch, da die Kommission sich auf Art. 266 AEUV gestützt habe, um die erste Zulassungsentscheidung nachträglich zu bestätigen, statt auf den Zeitpunkt vor Eintritt der vom Gericht und vom Gerichtshof beanstandeten Rechtswidrigkeit zurückzugehen.
165 Die Kommission und die Streithelferinnen treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
166 Nach der Rechtsprechung (Urteil Fédesa u. a., oben in Rn. 58 angeführt, EU:C:1990:391, Rn. 24) liegt ein Ermessensmissbrauch vor, wenn ein Organ der Union eine Rechtshandlung ausschließlich oder zumindest vorwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken oder mit dem Ziel erlässt, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen. So hat der Unionsrichter darauf hingewiesen, dass eine Rechtshandlung nur dann ermessensmissbräuchlich ist, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, dass sie ausschließlich oder zumindest vorwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken erlassen worden ist (vgl. Urteil vom 11. November 2004, Ramondín u. a./Kommission, C‑186/02 P und C‑188/02 P, Slg, EU:C:2004:702, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Verfolgt eine Entscheidung mehrere Ziele, ist sie auch dann nicht ermessensmissbräuchlich, wenn zu den rechtmäßigen Beweggründen ein nicht gerechtfertigter hinzukommt, solange das wesentliche Ziel nicht preisgegeben wird (Urteil vom 21. Dezember 1954, Italien/Hohe Behörde, 2/54, Slg, EU:C:1954:8; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 8. Juli 1999, Vlaamse Televisie Maatschappij/Kommission, T‑266/97, Slg, EU:T:1999:144, Rn. 131).
167 Im vorliegenden Fall trägt die Klägerin vor, die Kommission habe die erste Zulassungsentscheidung nachträglich bestätigt, um einem privaten Interesse zu dienen, statt dem allgemeinen Interesse Vorrang einzuräumen.
168 Sie stützt diesen Klagegrund zunächst darauf, dass die Kommission der angefochtenen Entscheidung rechtswidrig Rückwirkung beigelegt habe, obwohl sie verpflichtet gewesen sei, den Verstoß von Lagardère gegen eine ihrer Verpflichtungszusagen zu ahnden. Die Prüfung des ersten Klagegrundes hat jedoch zum einen ergeben, dass die Kommission rechtmäßig eine rückwirkende Entscheidung erlassen konnte, und zum anderen, dass sie nicht verpflichtet war, die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004 zu widerrufen und Sanktionen gegen Lagardère zu verhängen. Außerdem sollte der Erlass einer neuen, rückwirkenden Zulassungsentscheidung mehreren im Allgemeininteresse liegenden Zwecken dienen, die im Rahmen der Prüfung des ersten Klagegrundes angeführt sind.
169 Zweitens trägt die Klägerin vor, die angefochtene Entscheidung habe darauf abgezielt, den Erfolg der Klage zu vereiteln, die die Klägerin am 4. November 2010 vor dem Tribunal de commerce de Paris (Frankreich) gegen Lagardère und Wendel wegen Verletzung des Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) erhoben habe. Hierzu hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, mit dieser Klage habe sie erreichen wollen, dass der nationale Richter den zwischen Lagardère und Wendel geschlossenen Veräußerungsvertrag mit der Begründung für nichtig erklärt, dieser verstoße gegen die öffentliche Wirtschaftsordnung, weil das Gericht die erste Entscheidung über die Zulassung von Wendel für nichtig erklärt habe.
170 Zwar trifft es zu, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Auffassung ist, die Vollstreckung eines Gerichtsurteils sei untrennbarer Bestandteil des Verfahrens im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK, insbesondere im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit (EGMR, Urteil vom 19. März 1997, Hornsby/Griechenland, Recueil des arrêts et décisions 1997‑II, §§ 40 und 41), und dass nach der vom EGMR entwickelten Rechtsprechung ein Eingriff der gesetzgebenden Gewalt, mit dem der Ausgang eines Gerichtsverfahrens beeinflusst werden soll, verboten ist (EGMR, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis/Griechenland, Urteil vom 9. Dezember 1994, § 49, Serie A, Nr. 301-B, sowie Zielinski, Pradal und Gonzales u. a./Frankreich, Nr. 24846/94 und 34165/96 bis 34173/96, § 57, EGMR 1999-VII). Im vorliegenden Fall hat die Klägerin jedoch keine Argumente vorgetragen, die die Behauptung stützen, die angefochtene Entscheidung sei erlassen worden, um ein anhängiges nationales Gerichtsverfahren scheitern zu lassen. Außerdem hat die Prüfung des ersten Klagegrundes ergeben, dass der Erlass einer neuen, rückwirkenden Zulassungsentscheidung gerade dem Ziel diente, der Verpflichtung der Verwaltung nachzukommen, die Rechtmäßigkeit zu wahren und die Rechtskraft des Urteils des Gerichts zu beachten.
171 Nach alledem ist es der Klägerin nicht gelungen, anhand objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien darzutun, Zweck der angefochtenen Entscheidung sei es gewesen, die erste Entscheidung rückwirkend zu bestätigen und damit einem privaten Interesse zu dienen, statt dem allgemeinen Interesse Vorrang einzuräumen.
172 Der fünfte Klagegrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Sechster Klagegrund: Begründungsmangel
173 Die Klägerin macht geltend, die angefochtene Entscheidung sei nicht ausreichend begründet. Insbesondere habe die Kommission keine hinreichenden Angaben zu den Rechtfertigungsgründen für den Erlass einer rückwirkenden Entscheidung gemacht. Sie habe auch nicht dargelegt, aus welchen Gründen sie nach dem 30. Juli 2004 eingetretene Ereignisse habe berücksichtigen dürfen, und nicht begründet, warum die Weiterveräußerung der Vermögenswerte von Editis an Planeta im Jahr 2008 keinen Verstoß gegen die Verpflichtungszusagen dargestellt habe. Schließlich habe die Kommission nicht ausreichend dargelegt, inwiefern das Vorhandensein eines gemeinsamen Verwaltungsratsmitglieds von Lagardère und Wendel mit der in Abs. 10 der Verpflichtungszusagen vorgesehenen Bedingung der Unabhängigkeit vereinbar gewesen sei.
174 Die Kommission – unterstützt von Lagardère und Wendel – entgegnet, sie habe die angefochtene Entscheidung ausreichend begründet.
175 Nach ständiger Rechtsprechung hängt der Umfang der Begründungspflicht von der Art des in Rede stehenden Rechtsakts und dem Kontext ab, in dem er erlassen wurde. Die Begründung muss die Überlegungen des Organs, das den Akt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass zum einen der Unionsrichter die ihm obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle wahrnehmen kann und es zum anderen den Betroffenen möglich ist, die Gründe für die getroffene Maßnahme zu erkennen, damit sie ihre Rechte verteidigen und prüfen können, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Aspekte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteile vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, Slg, EU:C:1998:154, Rn. 63, und vom 30. November 2011, Sniace/Kommission, T‑238/09, EU:T:2011:705, Rn. 37).
176 Insbesondere braucht die Kommission nicht auf alle Argumente einzugehen, die die Betroffenen vor ihr geltend gemacht haben. Es genügt, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführt, denen nach dem Aufbau der Entscheidung wesentliche Bedeutung zukommt (Urteile vom 1. Juli 2008, Chronopost und La Poste/UFEX u. a., C‑341/06 P und C‑342/06 P, Slg, EU:C:2008:375, Rn. 96, und vom 3. März 2010, Freistaat Sachsen/Kommission, T‑102/07 und T‑120/07, Slg, EU:T:2010:62, Rn. 180).
177 Ferner müssen die Anforderungen, die an die Begründung einer Entscheidung zu stellen sind, den tatsächlichen Möglichkeiten sowie den technischen und zeitlichen Bedingungen angepasst werden, unter denen die Entscheidung ergeht. So verstößt die Kommission auf dem Gebiet der Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen nicht gegen ihre Begründungspflicht, wenn sie bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnis hinsichtlich der Zusammenschlüsse in ihrer Entscheidung nicht genau die Gründe für die Würdigung bestimmter Aspekte des Zusammenschlusses darlegt, die ihrer Ansicht nach offenkundig neben der Sache liegen oder keine bzw. eine eindeutig untergeordnete Bedeutung für die Einschätzung dieses Zusammenschlusses haben (Urteil vom 7. Mai 2009, NVV u. a./Kommission, T‑151/05, Slg, EU:T:2009:144, Rn. 192). Ein solches Erfordernis wäre nämlich schwerlich vereinbar mit dem Beschleunigungsgebot und den kurzen Verfahrensfristen, die die Kommission bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnis hinsichtlich der Zusammenschlüsse einhalten muss und die zu den besonderen Umständen eines Verfahrens zu deren Kontrolle gehören (Urteil vom 10. Juli 2008, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, C‑413/06 P, Slg, EU:C:2008:392, Rn. 167). Die Kommission muss jedoch die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführen, denen nach dem Aufbau der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukommt (Urteil NVV/Kommission, EU:T:2009:144, Rn. 194).
178 Nach dem Maßstab dieser Grundsätze erweist sich die Begründung der angefochtenen Entscheidung als hinreichend.
179 Zunächst ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die angefochtene Entscheidung sich in den der Klägerin bekannten Rahmen einfügt, der durch die mit Auflagen verbundene Genehmigungsentscheidung vom 7. Januar 2004, deren Umsetzung die Zulassungsentscheidung sicherstellt, sowie durch die Zurückweisung der Klage der Klägerin gegen diese Entscheidung, die Nichtigerklärung der ersten Zulassungsentscheidung durch das Gericht und die Zurückweisung des Rechtsmittels gegen das Urteil des Gerichts durch den Gerichtshof vorgegeben war. Außerdem ergibt sich aus den Akten, dass die Kommission am 24. Februar und 18. April 2011 auf Schreiben der Klägerin geantwortet hat, die die Vorgehensweise im Anschluss an das Urteil T‑452/04 (oben in Rn. 15 angeführt, EU:T:2010:385) betrafen, dass hierzu am 14. Februar und 16. März 2011 Besprechungen zwischen der Klägerin und der Kommission stattgefunden haben und dass die Klägerin erneut ihre Stellungnahme zum neuen Zulassungsverfahren mit Schreiben vom 20. April 2011 an den neuen Beauftragten und mit Schreiben vom 27. April 2011 an die Kommission übersandt hatte.
180 Davon abgesehen legen die Rn. 15 bis 22 der angefochtenen Entscheidung klar und eindeutig dar, warum die Kommission eine rückwirkende Entscheidung erlassen sowie nach dem 30. Juli 2004 eingetretene Ereignisse ergänzend berücksichtigt hat. Die Kommission ist in diesen Randnummern insbesondere auf die Argumente eingegangen, die die Klägerin im Rahmen ihres mehrfach wiederholten Meinungsaustauschs mit der Kommission in der Zeit vom 30. September 2010 bis zum 13. Mai 2011 vorgebracht hatte. Hinsichtlich der Weiterveräußerung von Editis an Planeta im Jahr 2008 hat die Kommission in den Rn. 47 und 48 der angefochtenen Entscheidung ebenfalls in hinreichend klarer und eindeutiger Weise dargelegt, aus welchen Gründen sie diese Weiterveräußerung für mit den Verpflichtungszusagen von Lagardère vereinbar hielt.
181 Was schließlich die Begründung für die Beurteilung der in den Verpflichtungszusagen vorgesehenen Bedingung der Unabhängigkeit betrifft, geht aus Rn. 27 der angefochtenen Entscheidung hervor, dass die Kommission den Standpunkt vertrat, zum Zeitpunkt des ursprünglichen Zulassungsantrags von 2004 sei Wendel von Lagardère unabhängig gewesen, weil zwischen diesen beiden Gesellschaften keine Kapitalverflechtungen oder sonstigen wirtschaftlichen Verflechtungen bestanden hätten. Diese – für sich genommen ausreichende – Begründung wird durch die Erläuterung in Fn. 10 ergänzt, auf die Rn. 27 der angefochtenen Entscheidung verweist und in der es heißt, Wendel habe zugesagt, dass Herr P., der Mitglied des Aufsichtsrats von Lagardère sei, an den Sitzungen des Verwaltungsrats von Wendel nicht mehr teilnehmen werde (siehe oben, Rn. 158).
182 Der Umstand, dass der Inhalt dieser Fußnote der Klägerin erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens mitgeteilt wurde, ist nicht geeignet, die in Rn. 181 des vorliegenden Urteils getroffene Feststellung in Frage zu stellen. Nähere Angaben des Autors einer angefochtenen Entscheidung, die eine für sich bereits ausreichende Begründung ergänzen, fallen nämlich nicht unter die eigentliche Begründungspflicht, auch wenn sie für die innere Kontrolle der Entscheidungsgründe durch den Richter nützlich sein können, da das Organ so die seiner Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen erläutern kann (Urteil vom 16. November 2000, Finnboard/Kommission, C‑298/98 P, Slg, EU:C:2000:634, Rn. 46).
183 Aus alledem folgt, dass die Begründung der angefochtenen Entscheidung die Klägerin in die Lage versetzt, deren Stichhaltigkeit in sachdienlicher Weise in Frage zu stellen, und dem Gericht die Ausübung seiner Rechtmäßigkeitskontrolle ermöglicht, wie dies im Übrigen auch aus der Prüfung der anderen Klagegründe hervorgeht. Der sechste Klagegrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen, so dass die Klage insgesamt zurückzuweisen ist.
Kosten
184 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr die Kosten der Kommission einschließlich der durch das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entstandenen Kosten sowie gemäß den Anträgen von Lagardère und Wendel deren Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Éditions Odile Jacob SAS trägt die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
Martins Ribeiro
Gervasoni
Madise
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. September 2014.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Verfahren und Anträge der Beteiligten
Rechtliche Würdigung
Zur Zulässigkeit
Zur Begründetheit
Erster Klagegrund: Verstoß gegen Art. 266 AEUV und gegen das Rückwirkungsverbot
– Zur Zulässigkeit des ersten Klagegrundes
– Zum Verstoß gegen Art. 266 AEUV
– Zum Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
Zweiter Klagegrund: Fehlen einer Rechtsgrundlage für die angefochtene Entscheidung
– Zur Zulässigkeit des zweiten Klagegrundes
– Zum Fehlen einer Rechtsgrundlage für die angefochtene Entscheidung
Dritter Klagegrund: Rechtsfehler und offensichtliche Beurteilungsfehler, da die Kommission nach dem 30. Juli 2004 entstandene Gegebenheiten herangezogen und diese selektiv berücksichtigt habe
Vierter Klagegrund: Rechtsfehler und offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Bewerbung von Wendel
Fünfter Klagegrund: Ermessensmissbrauch
Sechster Klagegrund: Begründungsmangel
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 16. Juli 2014. # National Iranian Oil Company gegen Rat der Europäischen Union. # Rechtssache T-578/12.
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62012TJ0578
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ECLI:EU:T:2014:678
| 2014-07-16T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62012TJ0578 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. Juli 2014.#Telefónica SA und Telefónica de España SAU gegen Europäische Kommission.#Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Spanische Märkte für Breitband-Internetzugang – Margenbeschneidung – Art. 263 AEUV – Rechtmäßigkeitskontrolle – Art. 261 AEUV – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung – Art. 47 der Grundrechtecharta – Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Unbeschränkte Nachprüfung – Höhe der Geldbuße – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Diskriminierungsverbot.#Rechtssache C‑295/12 P.
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62012CJ0295
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ECLI:EU:C:2014:2062
| 2014-07-10T00:00:00 |
Wathelet, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0295
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
10. Juli 2014 (*1)
„Art. 102 AEUV — Missbrauch einer beherrschenden Stellung — Spanische Märkte für Breitband-Internetzugang — Margenbeschneidung — Art. 263 AEUV — Rechtmäßigkeitskontrolle — Art. 261 AEUV — Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung — Art. 47 der Grundrechtecharta — Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes — Unbeschränkte Nachprüfung — Höhe der Geldbuße — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — Diskriminierungsverbot“
In der Rechtssache C‑295/12 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 13. Juni 2012,
Telefónica SA mit Sitz in Madrid (Spanien),
Telefónica de España SAU mit Sitz in Madrid,
Prozessbevollmächtigte: F. González Díaz und B. Holles, abogados,
Rechtsmittelführerinnen,
andere Parteien des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre, É. Gippini Fournier und C. Urraca Caviedes als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
France Telecom España SA mit Sitz in Pozuelo de Alarcón (Spanien), Prozessbevollmächtigte: H. Brokelmann und M. Ganino, abogados,
Asociación de Usuarios de Servicios Bancarios (Ausbanc Consumo) mit Sitz in Madrid, Prozessbevollmächtigte: L. Pineda Salido und I. Cámara Rubio, abogados,
European Competitive Telecommunications Association mit Sitz in Wokingham (Vereinigtes Königreich), Prozessbevollmächtigte: A. Salerno und B. Cortese, avvocati,
Streithelferinnen im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas, D. Šváby und C. Vajda (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Mai 2013,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. September 2013
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Telefónica SA und die Telefónica de España SAU (im Folgenden zusammen: Rechtsmittelführerinnen) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union Telefónica und Telefónica de España/Kommission (T‑336/07, EU:T:2012:172, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung C(2007)3196 final der Kommission vom 4. Juli 2007 in einem Verfahren nach Art. 82 [EG] (Sache COMP/38.784 – Wanadoo España/Telefónica) (im Folgenden: streitige Entscheidung), hilfsweise auf Aufhebung oder Herabsetzung der mit dieser Entscheidung gegen sie verhängten Geldbuße, abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 17
2 Der Zuwiderhandlungszeitraum erstreckte sich von September 2001 bis Dezember 2006. Zum 1. Mai 2004 wurde die Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81 EG] und [82 EG] (ABl. 1962, 13, S. 204), durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) aufgehoben und ersetzt.
3 Folglich war die Verordnung Nr. 17 bis zum 1. Mai 2004, dem Tag, von dem an die Verordnung Nr. 1/2003 galt, auf den Sachverhalt anwendbar. Es ist jedoch hervorzuheben, dass die maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1/2003 im Wesentlichen mit denen der Verordnung Nr. 17 übereinstimmen.
4 Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 bestimmte:
„Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis einer Million Rechnungseinheiten oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig
a)
gegen Artikel 81 Absatz (1) oder Artikel 82 des Vertrages verstoßen,
…
Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist neben der Schwere des Verstoßes auch die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.“
5 Art. 17 der Verordnung Nr. 17 sah Folgendes vor:
„Bei Klagen gegen Entscheidungen der Kommission, in denen eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt ist, hat der Gerichtshof die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung im Sinne von Artikel [229 EG]; er kann die festgesetzte Geldbuße oder das festgesetzte Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen.“
Verordnung Nr. 1/2003
6 Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, der Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 ersetzt hat, sieht vor:
„Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig
a)
gegen Artikel [101 AEUV] oder Artikel [102 AEUV] verstoßen oder
…
Die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung darf 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.
…“
7 Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003, der Art. 17 der Verordnung Nr. 17 ersetzt hat, bestimmt:
„Bei Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat, hat der Gerichtshof die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung. Er kann die festgesetzte Geldbuße oder das festgesetzte Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen.“
Leitlinien von 1998
8 Die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 [EGKS] festgesetzt werden (ABl. 1998, C 9, S. 3; im Folgenden: Leitlinien von 1998) bestimmen in ihrer Nr. 1 Teil A betreffend die Ermittlung der Schwere eines Verstoßes:
„A. Schwere des Verstoßes
Bei der Ermittlung der Schwere eines Verstoßes sind seine Art und die konkreten Auswirkungen auf den Markt, sofern diese messbar sind, sowie der Umfang des betreffenden räumlichen Marktes zu berücksichtigen.
Die Verstöße werden in folgende drei Gruppen unterteilt: minder schwere, schwere und besonders schwere Verstöße:
—
minder schwere Verstöße:
…
Voraussichtliche Beträge: von 1000 bis 1 Mio. [Euro].
—
schwere Verstöße:
…
Voraussichtliche Beträge: von 1 Mio. bis 20 Mio. [Euro].
—
besonders schwere Verstöße:
Es handelt sich im Wesentlichen um horizontale Beschränkungen wie z. B. Preiskartelle, Marktaufteilungsquoten und sonstige Beschränkungen der Funktionsweise des Binnenmarktes, wie z. B. die Abschottung der nationalen Märkte oder Missbräuche marktbeherrschender Stellungen von Unternehmen in Quasi-Monopolstellung …
Voraussichtliche Beträge: oberhalb von 20 Mio. [Euro].“
Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Entscheidung
9 Das Gericht hat die Vorgeschichte des Rechtsstreits in den Rn. 3 bis 29 des angefochtenen Urteils wie folgt zusammengefasst:
„3
Am 11. Juli 2003 legte die Wanadoo España SL (jetzt France Telecom España SA) (im Folgenden: France Telecom) bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Beschwerde ein, mit der sie geltend machte, dass die Spanne zwischen den Großkundenpreisen, die die Tochtergesellschaften von Telefónica ihren Wettbewerbern für Großkunden-Breitbandzugänge in Spanien berechneten, und den Preisen, die Telefónica Endkunden in Rechnung stelle, nicht ausreiche, um den Wettbewerbern von Telefónica einen wirksamen Wettbewerb mit dieser zu ermöglichen (26. Erwägungsgrund der [streitigen] Entscheidung).
…“
6 Am 4. Juli 2007 erließ die Kommission die [streitige] Entscheidung, die Gegenstand der vorliegenden Klage ist.
7 Als Erstes machte die Kommission in der [streitigen] Entscheidung drei relevante Produktmärkte aus, und zwar einen Endkunden-Breitbandmarkt und zwei Großkunden-Breitbandmärkte (Erwägungsgründe 145 bis 208 der [streitigen] Entscheidung).
8 Der relevante Endkundenmarkt erfasst nach der [streitigen] Entscheidung alle auf dem ‚Massenmarkt‘ für Privat- und Geschäftskunden vertriebenen und nicht weiter differenzierten Breitbandprodukte unabhängig davon, ob sie mit Hilfe von ADSL (Asymetric Digital Subscriber Line, asymmetrischer digitaler Teilnehmeranschluss) oder einer anderen Technologie angeboten würden. Nicht dazu zählten hingegen kundenspezifische Breitbandzugangsdienste, die in erster Linie für ‚große Geschäftskunden‘ entwickelt würden (153. Erwägungsgrund der [streitigen] Entscheidung).
9 Zu den Großhandelsmärkten stellte die Kommission fest, dass im Wesentlichen drei Großkundenangebote zur Verfügung stünden, nämlich ein Standardangebot für entbündelte Teilnehmeranschlüsse, das nur von Telefónica vertrieben werde, ein regionales Großkundenangebot (GigADSL, im Folgenden: regionales Großkundenprodukt), das ebenfalls nur von Telefónica vertrieben werde, und mehrere nationale Großkundenangebote, die sowohl von Telefónica (ADSL-IP und ADSL-IP Total, im Folgenden: nationales Großkundenprodukt) als auch von anderen Betreibern auf der Grundlage entbündelter Teilnehmeranschlüsse und/oder dem regionalen Großkundenangebot vertrieben würden (75. Erwägungsgrund der [streitigen] Entscheidung).
…
14 Die Kommission zog den Schluss, dass für die [streitige] Entscheidung die relevanten Großkundenmärkte aus den regionalen Großkundenprodukten und den nationalen Großkundenprodukten mit Ausnahme der Großkunden-Kabeldienste und der ADSL-unabhängigen Technologien bestünden (Erwägungsgründe 6 und 208 der [streitigen] Entscheidung).
15 Bei dem räumlich relevanten Markt sowohl auf Großkunden- als auch auf Endkundenebene handelt es sich nach der [streitigen] Entscheidung um den nationalen (spanischen) Markt (209. Erwägungsgrund der [streitigen] Entscheidung).
16 Als Zweites stellte die Kommission fest, dass Telefónica auf den beiden relevanten Großkundenmärkten eine beherrschende Stellung eingenommen habe (Erwägungsgründe 223 bis 242 der [streitigen] Entscheidung). Im fraglichen Zeitraum habe Telefónica das Monopol für die Bereitstellung der regionalen Großkundenprodukte und mehr als 84 % des nationalen Großkundenmarkts innegehabt (Erwägungsgründe 223 und 235 der [streitigen] Entscheidung). Der [streitigen] Entscheidung zufolge (Erwägungsgründe 243 bis 277) hat Telefónica auch eine beherrschende Stellung auf dem Endkundenmarkt eingenommen.
17 Als Drittes prüfte die Kommission, ob Telefónica ihre beherrschende Stellung auf den relevanten Märkten missbraucht habe (Erwägungsgründe 278 bis 694 der [streitigen] Entscheidung). Sie stellte hierzu fest, dass Telefónica dadurch gegen Art. [102 AEUV] verstoßen habe, dass sie im Zeitraum von September 2001 bis Dezember 2006 von ihren Wettbewerbern unfaire Preise in Sinne einer Kosten-Preis-Schere zwischen den Preisen für einen Breitbandzugang auf dem spanischen „Massenmarkt“ und den Preisen für den Großkunden-Breitbandzugang auf regionaler und nationaler Ebene verlangt habe (694. Erwägungsgrund der [streitigen] Entscheidung).
…
24 Als Viertes stellte die Kommission fest, dass im vorliegenden Fall der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt sei, da die Preispolitik von Telefónica die Zugangsdienste eines marktbeherrschenden Unternehmens betreffe, die das gesamte spanische Hoheitsgebiet erfassten, das einen erheblichen Teil des Binnenmarkts ausmache (Erwägungsgründe 695 bis 697 der [streitigen] Entscheidung).
25 Zur Festsetzung der Geldbuße wandte die Kommission in der [streitigen] Entscheidung das Verfahren an, das in den [Leitlinien von 1998] festgelegt ist.
26 Erstens prüfte die Kommission die Schwere und die Auswirkungen des Verstoßes sowie die Größe des relevanten räumlichen Marktes. Sie führte zunächst zur Schwere des Verstoßes aus, es handele sich um einen eindeutigen Missbrauch durch ein Unternehmen, das ein faktisches Monopol innehabe, der gemäß den Leitlinien von 1998 als ‚besonders schwer‘ einzustufen sei (Erwägungsgründe 739 bis 743 der [streitigen] Entscheidung). In den Erwägungsgründen 744 bis 750 der [streitigen] Entscheidung grenzt die Kommission die vorliegende Rechtssache von der Entscheidung 2003/707/EG der Kommission vom 21. Mai 2003 in einem Verfahren nach Artikel [102 AEUV] (Sache COMP/C‑1/37.451, 37.578, 37.579 – Deutsche Telekom AG) (ABl. L 263, S. 9, im Folgenden: Entscheidung Deutsche Telekom) ab, in der der von der Deutschen Telekom begangene Missbrauch, der ebenfalls in einer Margenbeschneidung bestanden habe, nicht als „besonders schwer“ im Sinne der Leitlinien von 1998 eingestuft worden sei. Sodann stellte die Kommission zu den Auswirkungen der festgestellten Zuwiderhandlung in Rechnung, dass die relevanten Märkte beachtliche wirtschaftliche Bedeutung hätten, für die Schaffung der Informationsgesellschaft entscheidend seien und der Missbrauch durch Telefónica erhebliche Auswirkungen auf den Endkundenmarkt gehabt habe (Erwägungsgründe 751 bis 753 der [streitigen] Entscheidung). Zum Umfang des relevanten räumlichen Marktes stellte die Kommission schließlich fest, dass der spanische Breitbandmarkt der fünftgrößte Breitbandmarkt in der Europäischen Union sei und dass, auch wenn die Fälle einer Kosten-Preis-Schere notwendigerweise auf einen einzigen Mitgliedstaat beschränkt seien, in diesen Fällen der Marktzugang von Betreibern aus anderen Mitgliedstaaten zu einem schnell wachsenden Markt verhindert werde (Erwägungsgründe 754 und 755 der [streitigen] Entscheidung).
27 Nach der [streitigen] Entscheidung wird mit dem auf 90000000 Euro festgesetzten Ausgangsbetrag der Geldbuße berücksichtigt, dass die Schwere des missbräuchlichen Verhaltens im Lauf des betreffenden Zeitraums, vor allem nach Erlass der Entscheidung Deutsche Telekom, deutlicher geworden sei (Erwägungsgründe 756 und 757 der [streitigen] Entscheidung). Aufgrund der erheblichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Telefónica wurde auf diesen Betrag ein Multiplikator von 1,25 angewandt, um eine hinreichend abschreckende Wirkung der Geldbuße zu gewährleisten, so dass der Ausgangsbetrag der Geldbuße auf 112500000 Euro erhöht wurde (758. Erwägungsgrund der [streitigen] Entscheidung).
28 Zweitens erhöhte die Kommission den Ausgangsbetrag der Geldbuße um 50 %, da das missbräuchliche Verhalten von September 2001 bis Dezember 2006, d. h. fünf Jahre und vier Monate, gedauert habe. Der Grundbetrag der Geldbuße wurde damit auf 168750000 Euro festgesetzt (Erwägungsgründe 759 bis 761 der [streitigen] Entscheidung).
29 Als Drittes ging die Kommission auf der Grundlage der verfügbaren Beweise davon aus, dass im vorliegenden Fall bestimmte mildernde Umstände berücksichtigt werden könnten, da der Verstoß zumindest fahrlässig begangen worden sei. Daher wurde Telefónica eine Herabsetzung ihrer Geldbuße um 10 % gewährt, was zur Festsetzung einer Geldbuße auf 151875000 Euro führte (Erwägungsgründe 765 f. der [streitigen] Entscheidung).“
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
10 Die Rechtsmittelführerinnen erhoben mit am 1. Oktober 2007 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift eine Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung, hilfsweise auf Aufhebung oder Herabsetzung der von der Kommission verhängten Geldbuße.
11 Sie stützten ihren Hauptantrag auf sechs Klagegründe: Verstoß gegen die Verteidigungsrechte, Sachverhaltsirrtümer und Rechtsfehler bei der Bestimmung der relevanten Großkundenmärkte, Sachverhaltsirrtümer und Rechtsfehler bei der Feststellung ihrer beherrschenden Stellung auf den relevanten Märkten, Rechtsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV in Bezug auf ihr missbräuchliches Verhalten, Sachverhaltsirrtümer und/oder eine fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts sowie Rechtsfehler in Bezug auf ihr missbräuchliches Verhalten sowie dessen wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen, und schließlich eine Anwendung ultra vires von Art. 102 AEUV und eine Verletzung der Grundsätze der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit, der loyalen Zusammenarbeit und der ordnungsgemäßen Verwaltung.
12 Für ihren Hilfsantrag führten die Rechtsmittelführerinnen zwei Klagegründe an. Mit dem ersten rügten sie Sachverhaltsirrtümer und Rechtsfehler sowie einen Verstoß gegen Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Mit dem weiter hilfsweise vorgetragenen zweiten Klagegrund rügten sie Sachverhaltsirrtümer und Rechtsfehler sowie einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung, der individuellen Zumessung von Strafen und eine Verletzung der Begründungspflicht bei der Festsetzung der Geldbuße.
13 Mit Beschlüssen vom 31. Juli 2008 und vom 28. Februar 2011 wurden zum einen die Asociación de Usuarios de Servicios Bancarios (Ausbanc Consumo) (im Folgenden: Ausbanc Consumo) und France Telecom und zum anderen die European Competitive Telecommunications Association (im Folgenden: ECTA) als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen.
14 Das Gericht hat jeden dieser Klagegründe zurückgewiesen und die Klage insgesamt abgewiesen.
Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof
15 Die Rechtsmittelführerinnen beantragen,
—
in erster Linie,
—
das angefochtene Urteil ganz oder teilweise aufzuheben;
—
die streitige Entscheidung auf der Grundlage der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ganz oder teilweise für nichtig zu erklären;
—
die Geldbuße gemäß Art. 261 AEUV aufzuheben oder herabzusetzen;
—
die Geldbuße in Anbetracht des ungerechtfertigt langen Verfahrens vor dem Gericht aufzuheben oder herabzusetzen;
—
der Kommission und den Streithelferinnen die sowohl im vorliegenden Verfahren als auch im Verfahren vor dem Gericht entstandenen Kosten aufzuerlegen;
—
hilfsweise, falls der Verfahrensstand dies nicht zulässt,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Gericht zur Entscheidung im Einklang mit der vom Gerichtshof gegebenen rechtlichen Beurteilung zurückzuverweisen;
—
die Geldbuße gemäß Art. 261 AEUV aufzuheben oder herabzusetzen;
—
der Kommission und den Streithelferinnen die sowohl im vorliegenden Verfahren als auch im Verfahren vor dem Gericht entstandenen Kosten aufzuerlegen.
—
jedenfalls gemäß Art. 15 AEUV Zugang zur wörtlichen Niederschrift oder zur Aufzeichnung der mündlichen Verhandlung zu gewähren, die am 23. Mai 2011 vor dem Gericht stattgefunden hat, und die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zuzulassen.
16 Die Kommission beantragt,
—
das Rechtsmittel ganz oder teilweise für unzulässig zu erklären bzw. es als unbegründet zurückzuweisen;
—
hilfsweise, falls dem Rechtsmittel stattgegeben werden sollte, die Nichtigkeitsklage gegen die streitige Entscheidung jedenfalls abzuweisen;
—
den Rechtsmittelführerinnen die Kosten des vorliegenden Rechtszugs aufzuerlegen.
17 Die Ausbanc Consumo beantragt,
—
das Rechtsmittel zurückzuweisen und das angefochtene Urteil in vollem Umfang zu bestätigen;
—
den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen und
—
auf jeden Fall gemäß Art. 15 AEUV Zugang zur wörtlichen Niederschrift oder zur Aufzeichnung der mündlichen Verhandlung zu gewähren, die am 23. Mai 2011 vor dem Gericht stattgefunden hat.
18 France Télécom beantragt,
—
das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen;
—
den Rechtsmittelführerinnen sowohl die Kosten des vorliegenden Rechtszugs als auch die Kosten des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen und
—
eine mündliche Verhandlung abzuhalten.
19 Die ECTA beantragt,
—
das Rechtsmittel zurückzuweisen,
—
den Hilfsantrag der Rechtsmittelführerinnen auf Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße ebenfalls zurückzuweisen und
—
den Rechtsmittelführerinnen die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
20 Die Rechtsmittelführerinnen machen gegen das angefochtene Urteil zehn Aufhebungsgründe geltend.
21 Zunächst sind die von der Kommission gegen das Rechtsmittel insgesamt erhobene Einrede der Unzulässigkeit sowie die Anträge der Rechtsmittelführerinnen und der Ausbanc Consumo auf Zugang zur wörtlichen Niederschrift oder zur Tonaufzeichnung der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht zu prüfen.
Zu der von der Kommission gegen das Rechtsmittel insgesamt erhobenen Einrede der Unzulässigkeit
22 Die Kommission erhebt die Einrede der Unzulässigkeit des Rechtsmittels und rügt hierzu Folgendes.
23 Erstens sei die Rechtsmittelschrift außergewöhnlich lang und voller Wiederholungen, und es würden oft mehrere Rechtsmittelgründe auf einer Seite aufgeführt, so dass die Rechtsmittelschrift mehrere hundert Rechtsmittelgründe zu enthalten scheine, was einen Rekord in der Geschichte der Rechtsstreitigkeiten der Union darstelle.
24 Zweitens ziele das Rechtsmittel praktisch systematisch darauf ab, unter dem Vorwand, dass das Gericht ein „falsches rechtliches Kriterium“ angewandt habe, eine erneute Prüfung des Sachverhalts herbeizuführen.
25 Drittens würden die Gründe allzu häufig als bloße, einer Begründung entbehrende Behauptungen eingeführt.
26 Viertens beanstandeten die Rechtsmittelführerinnen zum einen oft die streitige Entscheidung und nicht das angefochtene Urteil, und zum anderen gäben sie, wenn sich ihre Beanstandungen tatsächlich gegen das angefochtene Urteil richteten, praktisch niemals die genauen Abschnitte oder Randnummern dieses Urteils an, die angebliche Rechtsfehler enthielten.
27 Fünftens macht die Kommission geltend, es sei ihr sehr schwer gefallen oder sogar unmöglich gewesen, ihre Verteidigungsrechte im Rahmen einer derart konfus und unverständlich formulierten Rechtsmittelschrift auszuüben, und beantragt daher, das Rechtsmittel insgesamt für unzulässig zu erklären.
28 Hilfsweise trägt die Kommission vor, selbst in den seltenen Fällen, in denen mit der Rechtsmittelschrift eine Rechtsfrage aufgeworfen werde, stehe das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen in offensichtlichem Widerspruch zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Sie beantragt daher, durch mit Gründen versehenen Beschluss die offensichtliche Unbegründetheit des Rechtsmittels festzustellen.
29 Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus Art. 256 AEUV, Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 112 § 1 Buchst. c der zur Zeit der Einlegung des Rechtsmittels geltenden Verfahrensordnung des Gerichtshofs, dass ein Rechtsmittel die beanstandeten Teile des angefochtenen Urteils sowie die rechtlichen Argumente, die diesen Antrag speziell stützen, genau bezeichnen muss; andernfalls ist das Rechtsmittel oder der betreffende Rechtsmittelgrund unzulässig (vgl. u. a. Urteile Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, EU:C:2005:408, Rn. 426, sowie Deutsche Telekom/Kommission, C‑280/08 P, EU:C:2010:603, Rn. 24).
30 Diesen Erfordernissen entspricht ein Rechtsmittelgrund nicht, der nicht so klar und deutlich vorgebracht wird, dass der Gerichtshof seine Rechtmäßigkeitskontrolle ausüben kann, insbesondere weil die wesentlichen Teile, auf die das Rechtsmittel gestützt wird, nicht hinreichend zusammenhängend und verständlich aus dem Wortlaut der Rechtsmittelschrift hervorgehen, die insofern unklar und zweideutig formuliert ist. Infolgedessen ist ein solcher Rechtsmittelgrund zurückzuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil Thyssen Stahl/Kommission, C‑194/99 P, EU:C:2003:527, Rn. 105 und 106, sowie Arkema/Kommission, C‑520/09 P, EU:C:2011:619, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ferner ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Rechtsmittel als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen, dem es an einer kohärenten Struktur fehlt, das auf allgemeine Aussagen beschränkt ist und das keine genauen Angaben dazu enthält, welche Gründe des angefochtenen Beschlusses mit einem Rechtsfehler behaftet sein sollen (vgl. Beschluss Weber/Kommission, C‑107/07 P, EU:C:2007:741, Rn. 26 bis 28).
31 Das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerinnen enthält, wie die Kommission hervorhebt, eine Vielzahl von Rechtsmittelgründen und Argumenten, die als unzulässig anzusehen sind. Es kann jedoch nicht als insgesamt unzulässig betrachtet werden. Bei mehreren der in der Rechtsmittelschrift angeführten Rechtsmittelgründe sind nämlich die beanstandeten Teile des angefochtenen Urteils mit der erforderlichen Genauigkeit angegeben und die geltend gemachten rechtlichen Argumente hinreichend klar dargelegt. Daher ist trotz der nachstehend festgestellten Mängel die von der Kommission gegen das Rechtsmittel insgesamt erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.
Zu den Anträgen auf Zugang zur wörtlichen Niederschrift oder zur Tonaufzeichnung der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht
32 Die Rechtsmittelführerinnen und die Ausbanc Consumo haben gemäß Art. 15 AEUV Zugang zur wörtlichen Niederschrift oder zur Tonaufzeichnung der mündlichen Verhandlung, die am 23. Mai 2011 vor dem Gericht stattgefunden hat, beantragt.
33 Insoweit bestimmt Art. 169 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, dass die Rechtsmittelanträge auf die vollständige oder teilweise Aufhebung der Entscheidung des Gerichts in der Gestalt der Entscheidungsformel gerichtet sein müssen.
34 Die Anträge der Rechtsmittelführerinnen und der Ausbanc Consumo auf Zugang sind jedoch nicht auf die vollständige oder teilweise Aufhebung der Entscheidung des Gerichts gerichtet. Zudem legen diese Parteien weder dar, zu welchem Zweck sie Zugang zur wörtlichen Niederschrift oder zur Tonaufzeichnung der mündlichen Verhandlung, die am 23. Mai 2011 vor dem Gericht stattgefunden hat, begehren, noch inwieweit ein etwaiger Zugang zu diesen Dokumenten ihnen für die Anträge auf Aufhebung des angefochtenen Urteils bzw. Zurückweisung des Rechtsmittels von Nutzen sein könnte.
35 Daher sind die Anträge der Rechtsmittelführerinnen und der Ausbanc Consumo auf Zugang als unzulässig zurückzuweisen.
Zur Rüge, das Gericht habe seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung verletzt
36 Mit dem fünften Teil des fünften Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe hinsichtlich der Beurteilung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung und seiner Auswirkungen auf den Wettbewerb seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung im Sinne von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verletzt.
37 Ferner wiederholen die Rechtsmittelführerinnen diese Rüge, dass das Gericht hinsichtlich der Feststellung der Zuwiderhandlung seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung verkannt habe, bei zahlreichen Gelegenheiten, insbesondere im Rahmen ihrer Rechtsmittelgründe 2 und 3.
38 Da diese Rügen weitgehend identisch sind bzw. sich überschneiden, sind sie zusammen vor den anderen Rechtsmittelgründen zu prüfen.
39 Vorab sind die Hauptmerkmale der Rechtsbehelfe in Erinnerung zu rufen, die das Unionsrecht vorsieht, um Unternehmen, die in einer Entscheidung der Kommission wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln mit einer Geldbuße belegt wurden, einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten.
40 Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der nunmehr in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zum Ausdruck kommt und der im Unionsrecht Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht (vgl. Urteile Chalkor/Kommission, C‑386/10 P, EU:C:2011:815, Rn. 51; Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 47, sowie Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 36).
41 Die EMRK stellt – auch wenn die durch sie anerkannten Grundrechte, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in dieser enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden –, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist (vgl. Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, EU:C:2013:522, Rn. 32).
42 Nach ständiger Rechtsprechung sieht das Unionsrecht für Entscheidungen der Kommission in Verfahren nach Art. 102 AEUV ein System der gerichtlichen Kontrolle vor, das sämtliche nach Art. 47 der Charta erforderlichen Garantien bietet (vgl. in diesem Sinne Urteile Chalkor/Kommission, EU:C:2011:815, Rn. 67, sowie Otis u. a., EU:C:2012:684, Rn. 56 und 63). Dieses System der gerichtlichen Kontrolle besteht in einer Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe auf der Grundlage von Art. 263 AEUV, die gemäß Art. 261 AEUV um eine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hinsichtlich der in Verordnungen vorgesehenen Zwangsmaßnahmen ergänzt werden kann.
43 Was die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen der Kommission angeht, bestimmt Art. 263 Abs. 1 und 2 AEUV, dass der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Kommission, die gegenüber Dritten Rechtswirkung entfalten sollen, überwacht und zu diesem Zweck für Klagen wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs zuständig ist. Gemäß Art. 256 AEUV wird die in Art. 263 AEUV vorgesehene Kontrolle der Rechtmäßigkeit der wettbewerbsrechtlichen Entscheidungen der Kommission im ersten Rechtszug vom Gericht ausgeübt.
44 Diese Rechtmäßigkeitskontrolle wird gemäß Art. 261 AEUV durch eine unbeschränkte Nachprüfungsbefugnis hinsichtlich der von der Kommission wegen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen und Zwangsgelder ergänzt. Nach Art. 17 der Verordnung Nr. 17, der durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 ersetzt wurde, hat der Gerichtshof bei Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat, die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung, was bedeutet, dass er die festgesetzte Geldbuße oder das festgesetzte Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen kann.
45 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass sich der Umfang der Rechtmäßigkeitskontrolle auf sämtliche Entscheidungen der Kommission in Verfahren nach Art. 102 AEUV erstreckt, während der Umfang der in Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auf die Teile dieser Entscheidungen beschränkt ist, mit denen eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt wird.
46 Da der fünfte Teil des fünften Rechtsmittelgrundes Teile der streitigen Entscheidung betrifft, in denen es um die Feststellung der Zuwiderhandlung geht, ist die Rüge der Rechtsmittelführerinnen, dass eine Verletzung der Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung im Sinne von Art. 47 der Charta vorliege, dahin zu verstehen, dass sie sich auf die Ausübung der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Gericht bezieht.
47 Die Rechtsmittelführerinnen behaupten, das Gericht habe im Rahmen der Beurteilung des Missbrauchs und seiner Auswirkungen auf den Wettbewerb seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung im Sinne von Art. 47 der Charta verletzt. Sie werfen dem Gericht insbesondere vor, ihr Vorbringen zurückgewiesen zu haben, nachdem es das Vorliegen eines offensichtlichen Fehlers der Kommission in den Rn. 211, 220, 223, 244, 251 und 263 des angefochtenen Urteils verneint habe. Die Rechtsmittelführerinnen erheben hierzu drei Rügen.
48 Erstens rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe eine auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkte Kontrolle in Bezug auf Gesichtspunkte ausgeübt, die keine komplexen wirtschaftlichen Erwägungen erfordert hätten.
49 Zweitens habe sich das Gericht zu Unrecht auf die Kontrolle auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkt, um nicht entsprechend dem Urteil Kommission/Tetra Laval (C‑12/03 P, EU:C:2005:87, Rn. 39) prüfen zu müssen, ob die von der Kommission beigebrachten Beweise die Schlussfolgerungen stützten, die sie aus ihrer Beurteilung des komplexen wirtschaftlichen Sachverhalts gezogen habe.
50 Drittens müsse das Gericht auch bei komplexen wirtschaftlichen Fragen eine unbeschränkte Nachprüfung im Sinne von Art. 6 EMRK nach dessen Auslegung im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) A. Menarini Diagnostics/Italien (Nr. 43509/08, 27. September 2011) vornehmen, bei der für das Kriterium des offensichtlichen Beurteilungsfehlers kein Raum sei.
51 Nach der Rechtsprechung des EGMR wird die Beachtung von Art. 6 EMRK nicht dadurch ausgeschlossen, dass in einem Verfahren verwaltungsrechtlicher Natur eine „Strafe“ zunächst von einer Verwaltungsbehörde verhängt werde. Dies setze allerdings voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die selbst nicht den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK genüge, anschließend der Kontrolle durch ein Rechtsprechungsorgan mit Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung unterliege (Urteile des EGMR Segame SA/France, Nr. 4837/06, Rn. 55, EMRK 2012, und A. Menarini Diagnostics/Italien, Rn. 59).
52 Weiter gehört nach der Rechtsprechung des EGMR zu den Merkmalen eines solchen Organs die Befugnis, die Entscheidung in allen Punkten, tatsächlichen wie rechtlichen, abzuändern. Das Rechtsprechungsorgan müsse insbesondere befugt sein, sich mit allen für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit relevanten Sach- und Rechtsfragen zu befassen (vgl. u. a. Urteil des EGMR A. Menarini Diagnostics/Italien, Rn. 59, sowie Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, EU:C:2013:522, Rn. 35).
53 Nach ständiger Rechtsprechung bedeutet die in Art. 263 AEUV vorgesehene Kontrolle, dass der Unionsrichter sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle der von den Rechtsmittelführerinnen gegen die streitige Entscheidung vorgebrachten Argumente vornimmt und befugt ist, die Beweise zu würdigen, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären und die Höhe der Geldbußen zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, EU:C:2013:522, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass, auch wenn der Kommission in Bereichen, in denen komplexe wirtschaftliche Beurteilungen erforderlich sind, in Wirtschaftsfragen ein Wertungsspielraum zusteht, dies nicht bedeutet, dass der Unionsrichter eine Kontrolle der Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission zu unterlassen hat. Der Unionsrichter muss nämlich nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse untermauern können (Urteile Kommission/Tetra Laval, EU:C:2005:87, Rn. 39, Chalkor/Kommission, EU:C:2011:815, Rn. 54, sowie Otis u. a., EU:C:2012:684, Rn. 59).
55 Im Übrigen verstößt das Fehlen einer Verpflichtung, die gesamte streitige Entscheidung von Amts wegen zu prüfen, nicht gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Für die Wahrung dieses Grundsatzes ist es nicht unerlässlich, dass das Gericht, das jedenfalls die geltend gemachten Klagegründe prüfen und sowohl in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle vornehmen muss, verpflichtet ist, den gesamten Vorgang von Amts wegen erneut zu prüfen (Urteile Chalkor/Kommission, EU:C:2011:815, Rn. 66, sowie Kone u. a./Kommission, T‑151/07, EU:C:2013:696, Rn. 32).
56 Der Unionsrichter muss die Rechtmäßigkeitskontrolle auf der Grundlage der vom Kläger zur Stützung seiner Klagegründe vorgelegten Beweise vornehmen und kann nicht hinsichtlich ihrer Bewertung auf den Ermessensspielraum der Kommission verweisen, um auf eine gründliche rechtliche wie tatsächliche Kontrolle zu verzichten (vgl. in diesem Sinne Urteile Chalkor/Kommission, EU:C:2011:815, Rn. 62, sowie Schindler Holding u. a./Kommission, EU:C:2013:522, Rn. 37).
57 Angesichts dieser Merkmale genügt die in Art. 263 AEUV vorgesehene Rechtmäßigkeitskontrolle den Erfordernissen des in Art. 6 Abs. 1 EMRK genannten Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der im Unionsrecht Art. 47 der Charta entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteile Chalkor/Kommission, EU:C:2011:815, Rn. 67; Otis u. a., EU:C:2012:684, Rn. 56, sowie Schindler Holding u. a./Kommission, EU:C:2013:522, Rn. 38).
58 Im vorliegenden Fall stellen die Rechtsmittelführerinnen lediglich eine allgemeine Behauptung auf, dass das Gericht bei seiner Prüfung der von der Kommission vorgelegten Beweise einen Rechtsfehler begangen habe, ohne zu präzisieren, welche Art von Fehler in Bezug auf die in Rn. 54 des vorliegenden Urteils angeführten Bedingungen gerügt werde. So werfen sie dem Gericht nicht vor, es versäumt zu haben, die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen und zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellten, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren. Ferner legen sie nicht dar, in welcher Weise das Gericht bei seinen Schlussfolgerungen in den Rn. 211, 220, 223, 244, 251 und 263 des angefochtenen Urteils und den Erwägungen dazu einen Rechtsfehler begangen haben soll.
59 Jedenfalls ist festzustellen, dass sich das Gericht bei der Ausübung der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Rechtmäßigkeitskontrolle nicht auf eine Prüfung des Vorliegens offensichtlicher Beurteilungsfehler beschränkt hat, sondern die streitige Entscheidung tatsächlich eingehend rechtlich wie tatsächlich auf der Grundlage der von den Rechtsmittelführerinnen geltend gemachten Klagegründe geprüft und damit den Anforderungen einer unbeschränkten Nachprüfung im Sinne von Art. 47 der Charta entsprochen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Chalkor/Kommission, EU:C:2011:815, Rn. 82, sowie KME u. a./Kommission, C‑272/09 P, EU:C:2011:810, Rn. 109).
60 Daher ist die Rüge, das Gericht habe hinsichtlich der Feststellung der Zuwiderhandlung seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung verletzt, und damit der fünfte Teil des fünften Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen.
Zum ersten und zum neunten Rechtsmittelgrund: Verletzung der Verteidigungsrechte
61 Mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe die Verteidigungsrechte verletzt. Dieser Rechtsmittelgrund besteht aus vier Teilen.
62 Mit dem neunten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Verfahren vor dem Gericht habe übermäßig lange gedauert. Da es sich hier um eine nahezu gleichlautende Wiedergabe eines Teils des Vorbringens zum ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes handelt, sind diese beiden Rechtsmittelgründe zusammen zu prüfen.
Zum ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und zum neunten Rechtsmittelgrund: überlange Verfahrensdauer
63 Mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und dem neunten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Verfahren vor dem Gericht habe übermäßig lange gedauert, wodurch das ihnen durch Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK gewährleistete Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf innerhalb einer angemessenen Frist verletzt werde.
64 Zum Antrag der Rechtsmittelführerinnen auf Aufhebung des angefochtenen Urteils, hilfsweise auf dessen Aufhebung, soweit darin die gegen sie verhängte Geldbuße bestätigt wird, bzw. auf Herabsetzung der Geldbuße, ist festzustellen, dass die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte dafür, dass die überlange Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen kann. Die Aufhebung des angefochtenen Urteils kann nämlich, wenn die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist keine Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits hat, dem Verstoß des Gerichts gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht abhelfen (Urteile Gascogne Sack Deutschland/Kommission, C‑40/12 P, EU:C:2013:768, Rn. 81 und 82; Kendrion/Kommission, C‑50/12 P, EU:C:2013:771, Rn. 82 und 83, sowie Groupe Gascogne/Kommission, C‑58/12 P, EU:C:2013:770, Rn. 81 und 82).
65 Im vorliegenden Fall haben die Rechtsmittelführerinnen dem Gerichtshof keinen Anhaltspunkt dafür vorgetragen, dass sich die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist durch das Gericht auf den Ausgang des bei diesem anhängigen Rechtsstreits auswirken konnte. Insbesondere lässt ihr Vorbringen, sie seien aufgrund der Verfahrensdauer daran gehindert gewesen, vor der Verkündung des Urteils TeliaSonera Sverige (C‑52/09, EU:C:2011:83) ein Rechtsmittel einzulegen, nicht den Schluss zu, dass im vorliegenden Fall der vor dem Gericht anhängige Rechtsstreit einen anderen Ausgang hätte nehmen können.
66 Zum Hilfsantrag der Rechtsmittelführerinnen auf Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße ist darauf hinzuweisen, dass der Verstoß eines Unionsgerichts gegen seine Pflicht nach Art. 47 Abs. 2 der Charta, in den bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, mit einer Schadensersatzklage vor dem Gericht zu ahnden ist, da eine solche Schadensersatzklage einen effektiven Rechtsbehelf darstellt. Somit kann der Ersatz des Schadens, der durch die Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer durch das Gericht verursacht wurde, nicht unmittelbar im Rahmen eines Rechtsmittels beim Gerichtshof beantragt werden, sondern muss beim Gericht selbst eingeklagt werden (Urteile Gascogne Sack Deutschland/Kommission, EU:C:2013:768, Rn. 86 bis 90; Kendrion/Kommission, EU:C:2013:771, Rn. 91 bis 95, sowie Groupe Gascogne/Kommission, EU:C:2013:770, Rn. 80 bis 84).
67 Wird das nach Art. 256 Abs. 1 AEUV zuständige Gericht mit einer Schadensersatzklage befasst, entscheidet es darüber in einer anderen Besetzung als derjenigen, in der es mit dem als überlang gerügten Verfahren befasst war (Urteil Groupe Gascogne/Kommission, EU:C:2013:770, Rn. 90).
68 Im vorliegenden Fall enthält die Rechtsmittelschrift nicht die Angaben über den Ablauf des erstinstanzlichen Verfahrens, die erforderlich sind, damit der Gerichtshof über dessen überlange Dauer befinden kann.
69 Folglich sind der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und der neunte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: rechtsfehlerhafte Feststellung der Unzulässigkeit bestimmter in Anlagen enthaltener Argumente
70 Mit dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe zum einen dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es in den Rn. 62 und 63 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass die Anlagen zur Klageschrift und zur Erwiderung nur insoweit zu berücksichtigen seien, als sie Klagegründe oder Argumente untermauerten oder ergänzten, die die Rechtsmittelführerinnen in ihren Schriftsätzen ausdrücklich angeführt hätten, und zum anderen dadurch, dass es in den Rn. 231, 250 und 262 des angefochtenen Urteils gemäß dem genannten Grundsatz bestimmte in diesen Anlagen enthaltene Argumente bezüglich der Berechnung des Endwerts, der durchschnittlichen Vertragsdauer der Teilnehmeranschlüsse und der doppelten Verbuchung mehrerer Kostenpunkte für unzulässig erklärt habe.
71 Es ist festzustellen, dass das Gericht in den aufgeführten Randnummern die in Rn. 58 des angefochtenen Urteils genannte, in Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichts enthaltene Verfahrensvorschrift angewandt hat, wonach sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf denen eine Klage beruht, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich, aus dem Wortlaut der Klageschrift selbst ergeben müssen, wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat.
72 Zum Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe von ihnen nicht verlangen dürfen, dass sie in ihrer Klageschrift sämtliche wirtschaftlichen Berechnungen, auf die ihre Argumente gestützt seien, aufführten, ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen nicht mit der erforderlichen Genauigkeit angeben, welchen Rechtsfehler das Gericht begangen haben soll. Dieses Vorbringen ist daher nach der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
73 Folglich ist der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes als teils unbegründet und teils unzulässig zurückzuweisen.
Zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: rechtsfehlerhafte Feststellung der Unzulässigkeit von Argumenten bezüglich der fehlenden Unentbehrlichkeit der Infrastrukturen für den Zugang auf nationaler und regionaler Ebene
74 Mit dem dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe in Rn. 182 des angefochtenen Urteils durch die Feststellung, dass sie sich im Rahmen der Beurteilung der Auswirkungen ihres Verhaltens nicht auf die nicht vorhandene Unentbehrlichkeit der Großkundenprodukte berufen hätten, den Sachverhalt verfälscht und die Verteidigungsrechte verletzt.
75 Dieses Vorbringen geht ins Leere, wie auch der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge hervorhebt, da die fehlende Unentbehrlichkeit der Großkundenprodukte von den Rechtsmittelführerinnen im Rahmen eines umfassenderen Vorbringens geltend gemacht wurde, mit dem die Anwendung der Kriterien gefordert wurde, die der Gerichtshof im Urteil Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569) im Kontext einer missbräuchlichen Lieferverweigerung aufgestellt hatte. Wie jedoch aus den Rn. 180 und 181 des angefochtenen Urteils hervorgeht, stellt das den Rechtsmittelführerinnen vorgeworfene missbräuchliche Verhalten einer Kosten-Preis-Schere eine eigenständige Form des Missbrauchs dar, die sich von der Lieferverweigerung unterscheidet, so dass die im Urteil Bronner (EU:C:1998:569) im Kontext einer missbräuchlichen Lieferverweigerung aufgestellten Kriterien im vorliegenden Fall nicht anwendbar waren (Urteil TeliaSonera Sverige, C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 55 bis 58).
76 Folglich ist der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes als ins Leere gehend zurückzuweisen.
Zum vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: Verletzung der Verteidigungsrechte und der Unschuldsvermutung
77 Mit dem vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe die Verteidigungsrechte und die Unschuldsvermutung verletzt, indem es in Bezug auf bestimmte in der streitigen Entscheidung herangezogene Argumente, die die Kommission nicht in der Mitteilung der Beschwerdepunkte aufgeführt habe, entschieden habe, dass es den Rechtsmittelführerinnen obliege, nachzuweisen, dass die Kommission ohne diese Argumente in der streitigen Entscheidung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
78 Das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen hierzu enthält keine genauen Angaben, welche Randnummern des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft sein sollen.
79 Folglich ist der vierte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
80 Angesichts des Vorstehenden sind der erste Rechtsmittelgrund als teils unzulässig, teils ins Leere gehend und teils unbegründet und der neunte Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler bei der Bestimmung der relevanten Großkundenmärkte
81 Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen Rechtsfehler des Gerichts bei der Bestimmung der relevanten Großkundenmärkte. Die Kommission, die ECTA, France Telecom und die Ausbanc Consumo machen die Unzulässigkeit dieses Rechtsmittelgrundes geltend.
82 Erstens ist festzustellen, dass in dem Vorbringen zur Einführung dieses Rechtsmittelgrundes nicht mit der erforderlichen Genauigkeit angegeben wird, welchen Rechtsfehler das Gericht begangen haben soll; vielmehr werden allgemeine und nicht substantiierte Behauptungen aufgestellt, die im Wesentlichen die Verletzung der Unschuldsvermutung und der Beweislastregeln betreffen, so dass dieses Vorbringen im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen ist.
83 Zweitens machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe in Rn. 117 des angefochtenen Urteils einen Fehler begangen, der eine Reihe von Tatsachenfeststellungen zu den erheblichen Investitionen betreffe, die für die Nutzung der entbündelten Teilnehmeranschlüsse erforderlich seien.
84 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 256 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs das Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts auf Rechtsfragen beschränkt ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist allein das Gericht für die Feststellung und Würdigung der Tatsachen sowie, grundsätzlich, für die Prüfung der Beweise, auf die es seine Feststellungen stützt, zuständig. Diese Würdigung ist somit, sofern die Beweise nicht verfälscht werden, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt (Urteile Moser Baer India/Rat, C‑535/06 P, EU:C:2009:498, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie E.ON Energie/Kommission, C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 64).
85 Im Licht dieser Rechtsprechung ist das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen zu den für die Verwendung der entbündelten Teilnehmeranschlüsse erforderlichen Investitionen als unzulässig zurückzuweisen.
86 Drittens wenden sich die Rechtsmittelführerinnen gegen Tatsachenwürdigungen in den Rn. 115 ff. des angefochtenen Urteils, die das Gericht in dessen Rn. 134 zu dem Ergebnis gelangen ließen, dass die Kommission zu Recht davon ausgegangen sei, dass die entbündelten Teilnehmeranschlüsse nicht zum hier relevanten Markt gehörten. Insbesondere halten sie die Würdigung für falsch, dass ein Betreiber über eine kritische Masse verfügen müsse, um die für die Verwendung der entbündelten Teilnehmeranschlüsse erforderlichen hohen Investitionen tätigen zu können.
87 Viertens rügen die Rechtsmittelführerinnen einen Beurteilungsfehler des Gerichts, der darin bestehe, dass es in Rn. 123 des angefochtenen Urteils die Argumentation der Kommission gebilligt habe, die für die Definition des relevanten Marktes erforderliche Substituierbarkeit müsse kurzfristig zum Tragen kommen. Das Gericht habe nicht berücksichtigt, dass das SSNIP-Kriterium („small but significant and non-transitory increase in price“, Kriterium der geringen, aber erheblichen und nicht vorübergehenden Erhöhung der Preise) in einem konkreten zeitlichen Rahmen angewandt werden müsse.
88 Fünftens beanstanden die Rechtsmittelführerinnen das angefochtene Urteil insoweit, als das Gericht das Bestehen einer asymmetrischen Substituierbarkeit zwischen den Großkundenprodukten verneint habe.
89 Da dieses Vorbringen gegen Tatsachenwürdigungen des Gerichts gerichtet ist, ist es im Licht der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
90 Angesichts des Vorstehenden und wie vom Generalanwalt in Nr. 12 seiner Schlussanträge ausgeführt, ist der von der Kommission, der ECTA, France Telecom und der Ausbanc Consumo erhobenen Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben und der zweite Rechtsmittelgrund insgesamt als unzulässig zurückzuweisen.
Zum dritten Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler bei der Beurteilung der beherrschenden Stellung
91 Mit dem dritten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen Rechtsfehler des Gerichts bei der Feststellung in den Rn. 146 ff. des angefochtenen Urteils, dass Telefónica und ihre Tochtergesellschaften auf den relevanten Märkten eine beherrschende Stellung eingenommen hätten. Insbesondere werfen sie dem Gericht vor, das Vorliegen einer beherrschenden Stellung auf der Grundlage ihrer hohen Marktanteile auf den relevanten Märkten, nämlich 100 % auf dem regionalen und 84 % auf dem nationalen Großkundenmarkt, angenommen zu haben, ohne dabei den effektiven Wettbewerbsdruck, unter dem sie gestanden hätten, zu berücksichtigen.
92 Hierzu genügt die Feststellung, dass das Gericht die Behauptungen der Rechtsmittelführerinnen zu dem auf den relevanten Märkten bestehenden Wettbewerbsdruck in den Rn. 156, 157 und 160 bis 167 des angefochtenen Urteils geprüft hat und festgestellt hat, dass mit keiner dieser Behauptungen das Vorliegen der von ihnen eingenommenen beherrschenden Stellung in Frage gestellt werden konnte.
93 Da die Rechtsmittelführerinnen mit ihrem Vorbringen Tatsachenwürdigungen des Gerichts in Frage zu stellen versuchen, ist es im Licht der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
94 Folglich ist der dritte Rechtsmittelgrund als unzulässig zurückzuweisen.
Zum vierten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Eigentumsrechts, der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit sowie Missachtung der auf das Urteil Bronner (EU:C:1998:569) zurückgehenden Rechtsprechung
95 Mit dem vierten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe unzutreffend festgestellt, dass sie gegen Art. 102 AEUV verstoßen hätten, obwohl die Tatbestandsmerkmale einer missbräuchlichen Lieferverweigerung, wie sie der Gerichtshof im Urteil Bronner (EU:C:1998:569) definiert habe, nicht erfüllt und insbesondere die Inputs nicht unentbehrlich seien. Damit habe das Gericht das Eigentumsrecht sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit verletzt.
96 Wie aus Rn. 75 des vorliegenden Urteils hervorgeht, hat das Gericht in den Rn. 180 und 181 des angefochtenen Urteils hervorgehoben, dass die vom Gerichtshof im Urteil Bronner (EU:C:1998:569) aufgestellten Kriterien eine missbräuchliche Lieferverweigerung betrafen. Das den Rechtsmittelführerinnen vorgeworfene missbräuchliche Verhalten einer Kosten-Preis-Schere stellt jedoch eine eigenständige Form des Missbrauchs dar, die sich von der Lieferverweigerung unterscheidet (Urteil TeliaSonera Sverige, EU:C:2011:83, Rn. 56) und für die die Kriterien des Urteils Bronner (EU:C:1998:569) und insbesondere die Unentbehrlichkeit des Inputs nicht gelten.
97 Ferner machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, die Entscheidung des Gerichts, die Kriterien des Urteils Bronner (EU:C:1998:569) nicht anzuwenden, führe zu einer Verletzung ihres Eigentumsrechts sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit.
98 Unabhängig davon, ob diese Rügen zutreffen, ist mit der Kommission festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen sie nicht vor dem Gericht vorgetragen haben.
99 Nach ständiger Rechtsprechung ist jedoch ein erstmals im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof vorgebrachtes Angriffsmittel als unzulässig zurückzuweisen. Im Rahmen eines Rechtsmittels ist der Gerichtshof nur befugt, die vom Gericht vorgenommene Würdigung der vor ihm erörterten Angriffs- und Verteidigungsmittel zu überprüfen. Wenn es einer Partei erlaubt wäre, in diesem Rahmen ein Angriffs‑ oder Verteidigungsmittel vorzubringen, das sie vor dem Gericht nicht vorgebracht hat, könnte sie den Gerichtshof, dessen Befugnisse im Rechtsmittelverfahren beschränkt sind, letztlich mit einem weiter reichenden Rechtsstreit befassen, als ihn das Gericht zu entscheiden hatte (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, EU:C:2005:408, Rn. 165 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
100 Folglich sind diese Rügen, wie vom Generalanwalt in Nr. 16 seiner Schlussanträge ausgeführt, als unzulässig zurückzuweisen.
101 Angesichts des Vorstehenden ist der vierte Rechtsmittelgrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum fünften Rechtsmittelgrund: rechtsfehlerhafte Beurteilung des Missbrauchs und seiner Auswirkungen auf den Wettbewerb
102 Mit dem fünften Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe bei seiner Beurteilung des Missbrauchs und von dessen Auswirkungen auf den Wettbewerb Rechtsfehler begangen. Dieser Rechtsmittelgrund besteht aus sechs Teilen.
103 Der fünfte Teil dieses fünften Rechtsmittelgrundes ist bereits geprüft und in Rn. 60 des vorliegenden Urteils als unbegründet zurückgewiesen worden.
Zum ersten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes: rechtsfehlerhafte Anwendung des Kriteriums der Kosten-Preis-Schere
104 Die Rechtsmittelführerinnen beschränken sich zur Untermauerung des ersten Teils ihres fünften Rechtsmittelgrundes, mit dem sie Rechtsfehler bei der Anwendung des Kriteriums der Kosten-Preis-Schere rügen, auf eine Zusammenfassung der beiden von der Kommission angewandten Kriterien einer Kosten-Preis-Schere, ihres Vorbringens dazu in der Klageschrift sowie der Ausführungen des Gerichts.
105 Da die Rechtsmittelführerinnen insoweit weder einen Rechtsfehler angeben, den das Gericht begangen haben soll, noch welche Randnummern des angefochtenen Urteils davon betroffen wären, ist der erste Teil des fünften Rechtsmittelgrundes im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes: Fehler bei der Wahl der Inputs auf der vorgelagerten Ebene
106 Mit dem zweiten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes, mit dem Fehler bei der Wahl der Inputs auf der vorgelagerten Ebene geltend gemacht werden, rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe in den Rn. 200 bis 211 des angefochtenen Urteils zu Unrecht das Vorliegen einer Kosten-Preis-Schere für jedes Großkundenprodukt getrennt geprüft, ohne zu berücksichtigen, dass die alternativen Betreiber eine optimale Kombination von Großkundenprodukten unter Einbeziehung der entbündelten Teilnehmeranschlüsse verwendeten, was ihnen Kosteneinsparungen ermögliche.
107 Wie die Kommission hervorhebt, versuchen die Rechtsmittelführerinnen, mit diesem Vorbringen die Tatsachenwürdigungen des Gerichts, insbesondere in den Rn. 202 und 210 des angefochtenen Urteils, betreffend die Definition des relevanten Marktes und die Nichtverwendung einer solchen optimalen Kombination von Großkundenprodukten durch die alternativen Betreiber in Frage zu stellen. Ferner behaupten die Rechtsmittelführerinnen eine Verfälschung von Tatsachen, ohne jedoch anzugeben, welche Akteninhalte das Gericht verfälscht haben soll. Folglich ist dieses Vorbringen im Licht der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und wie vom Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge ausgeführt als unzulässig zurückzuweisen.
108 Zudem hat das Gericht, anders als die Rechtsmittelführerinnen vortragen, in Rn. 210 des angefochtenen Urteils nicht etwa zu Unrecht eine Umkehr der Beweislast vorgenommen, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass die Umstände, auf die die Kommission ihre Entscheidung stütze und die die Rechtsmittelführerinnen nicht bestritten hätten, dagegen sprächen, dass die alternativen Betreiber im Zuwiderhandlungszeitraum eine solche optimale Kombination verwendet hätten.
109 Angesichts des Vorstehenden ist der zweite Teil des fünften Rechtsmittelgrundes als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum dritten und zum vierten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes: Rechtsfehler bei der Prüfung der von der Kommission verwendeten DCF‑Methode und Methode der Analyse nach einzelnen Zeiträumen
110 Mit dem dritten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen mehrere Rechtsfehler, die das Gericht in den Rn. 212 bis 232 des angefochtenen Urteils bei der Prüfung der von der Kommission in der streitigen Entscheidung angewandten DCF‑Methode begangen habe.
111 Mit dem vierten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen mehrere Rechtsfehler, die das Gericht in den Rn. 233 bis 264 des angefochtenen Urteils bei der Prüfung der von der Kommission in der streitigen Entscheidung angewandten Methode der Analyse nach einzelnen Zeiträumen begangen habe.
112 Hierzu geht aus Rn. 213 des angefochtenen Urteils hervor, dass sich die Kommission bei der Ermittlung der Kosten-Preis-Schere dafür entschieden habe, die Rentabilität der Rechtsmittelführerinnen nach beiden Methoden, d. h. nach einer Untersuchung nach einzelnen Zeiträumen und nach der von den Rechtsmittelführerinnen vorgeschlagenen DCF‑Methode, zu berechnen, um u. a. „sicherzustellen, dass die von [den Rechtsmittelführerinnen] vorgeschlagene Methode das Vorliegen einer Kosten-Preis-Schere nach Maßgabe der Analyse nach einzelnen Zeiträumen nicht widerlegen könnte“.
113 Es ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen durch allgemeine und nicht substantiierte Behauptungen einer Verletzung der Unschuldsvermutung und der Pflicht zur Gewährung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Wirklichkeit versuchen, eine erneute Prüfung der beiden Methoden herbeizuführen, deren sich die Kommission zur Berechnung der Rentabilität der Rechtsmittelführerinnen bediente.
114 Nach der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist jedoch allein das Gericht für die Feststellung und Würdigung der Tatsachen sowie, grundsätzlich, für die Prüfung der Beweise, auf die es seine Feststellungen stützt, zuständig.
115 Folglich sind der dritte und der vierte Teil des fünften Rechtsmittelgrundes, wie vom Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge vorgeschlagen, als unzulässig zurückzuweisen.
Zum sechsten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes: Rechtsfehler bei der Prüfung der Auswirkungen des Verhaltens der Rechtsmittelführerinnen auf den Endkundenmarkt
116 Mit dem sechsten Teil des fünften Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe im Rahmen der Prüfung der Auswirkungen ihres Verhaltens auf den Endkundenmarkt mehrere Rechtsfehler begangen.
117 Im Rahmen einer ersten Rüge tragen sie vor, das Gericht habe zu Unrecht bei seiner Prüfung der Auswirkungen ihres Verhaltens auf den Endkundenmarkt die fehlende Unentbehrlichkeit der Inputs nicht berücksichtigt und damit die vom Gerichtshof im Urteil TeliaSonera Sverige (EU:C:2011:83) aufgestellten Grundsätze missachtet.
118 Diese Rüge ist als unbegründet zurückzuweisen, da sie auf einem falschen Verständnis von Rn. 69 des Urteils TeliaSonera Sverige (EU:C:2011:83) beruht, in der der Gerichtshof lediglich darauf hingewiesen hat, dass sich bei der Beurteilung der Auswirkungen der Margenbeschneidung die Frage nach der Unentbehrlichkeit des Vorleistungsprodukts stellen könnte; das Gericht war mithin nicht zu ihrer Berücksichtigung verpflichtet.
119 Das Gericht hat somit in den Rn. 275 und 276 des angefochtenen Urteils von seiner Befugnis zur Tatsachenwürdigung Gebrauch gemacht, indem es festgestellt hat, dass die Kommission in der streitigen Entscheidung das Vorliegen wahrscheinlicher Auswirkungen des Verhaltens der Rechtsmittelführerinnen auf die relevanten Märkte unabhängig von einer Unentbehrlichkeit der Inputs nachgewiesen habe.
120 Zweitens rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht hätte prüfen müssen, ob die Spanne zwischen den Großkundenpreisen der Inputs und den Endkundenpreisen positiv oder negativ gewesen sei.
121 Diese zweite Rüge ist, wie die Kommission vorträgt, im Licht der in Rn. 99 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen, da die Rechtsmittelführerinnen sie nicht vor dem Gericht erhoben haben.
122 Im Übrigen ist bei dieser Rüge nicht angegeben, welche Randnummern des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft sein sollen, so dass sie auch im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen sind.
123 Drittens rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe in Rn. 283 des angefochtenen Urteils zu Unrecht ihr Vorbringen, es fehle der Beweis für die konkreten Auswirkungen der Kosten-Preis-Schere auf den Markt, als ins Leere gehend zurückgewiesen.
124 Diese dritte Rüge ist als unbegründet zurückzuweisen, da zum einen die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Praxis wie der Margenbeschneidung voraussetzt, dass sie eine wettbewerbswidrige Wirkung auf den Markt hat, wenn auch nicht unbedingt im konkreten Fall, denn es genügt der Nachweis einer potenziellen wettbewerbswidrigen Wirkung, durch die zumindest ebenso effiziente Wettbewerber wie das beherrschende Unternehmen verdrängt werden könnten (vgl. Urteil TeliaSonera Sverige, EU:C:2011:83, Rn. 64), und zum anderen das Gericht in Rn. 282 des angefochtenen Urteils im Rahmen seiner Tatsachenwürdigung festgestellt hat, dass die Kommission das Vorliegen solcher potenziellen Wirkungen nachgewiesen hat.
125 Angesichts des Vorstehenden ist der sechste Teil des fünften Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen, womit auch dieser Rechtsmittelgrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen ist.
Zum sechsten Rechtsmittelgrund: Verstoß der Kommission gegen das Verbot, ultra vires zu handeln, und gegen die Grundsätze der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit, der loyalen Zusammenarbeit und der ordnungsgemäßen Verwaltung
126 Mit dem sechsten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe das für die Kommission geltende Verbot, ultra vires zu handeln, verkannt und die Grundsätze der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit, der loyalen Zusammenarbeit und der ordnungsgemäßen Verwaltung verletzt.
127 Der erste Teil dieses Rechtsmittelgrundes betrifft Rechtsfehler, die das Gericht bei der Prüfung des Verstoßes der Kommission gegen das Verbot, ultra vires zu handeln, in den Rn. 289 bis 294 des angefochtenen Urteils begangen haben soll.
128 Die Rechtsmittelführerinnen rügen erstens, das Gericht habe eine falsche Auslegung der auf das Urteil Bronner (EU:C:1998:569) zurückgehenden Rechtsprechung für zutreffend erklärt, indem es die Ansicht vertreten habe, dass die Kommission befugt gewesen sei, nachträglich die Preisbedingungen für die Nutzung nicht unentbehrlicher Infrastrukturen zu regeln. Dieses Vorbringen ist jedoch unbegründet, da es darauf hinausläuft, dass Art. 102 AEUV im vorliegenden Kontext nur dann anwendbar wäre, wenn die im Urteil Bronner (EU:C:1998:569) aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich von Art. 102 AEUV sehr weit ist und, wie das Gericht in Rn. 293 des angefochtenen Urteils zu Recht hervorgehoben hat, nicht durch einen vom Unionsgesetzgeber gesetzten Rechtsrahmen für die Vorabregulierung der Telekommunikationsmärkte beschränkt werden kann.
129 Zweitens stellen die Rechtsmittelführerinnen mehrere nicht substantiierte Behauptungen auf betreffend eine Verfälschung des Sachverhalts durch das Gericht, die Verwendung von Begriffen „regulatorischer“ Art durch die Kommission, oder die fehlende Befugnis der Kommission, nachträglich die Preise für die Nutzung nicht unentbehrlicher Infrastrukturen zu regeln. Da bei diesen Behauptungen nicht mit der erforderlichen Genauigkeit angegeben wird, welchen Rechtsfehler das Gericht begangen haben soll, sind sie im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
130 Mit dem zweiten Teil des sechsten Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen mehrere Rechtsfehler, die das Gericht bei der Prüfung der Verletzung der Grundsätze der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit durch die Kommission in den Rn. 296 bis 308 des angefochtenen Urteils begangen haben soll.
131 Die erste Rüge der Rechtsmittelführerinnen, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, ist im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen, da die Rechtsmittelführerinnen nicht angeben, welche Randnummern des vorliegenden Urteils rechtsfehlerhaft sein sollen.
132 Zweitens wird gerügt, dass das Gericht in Rn. 306 des angefochtenen Urteils den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt habe, indem es angenommen habe, dass ein mit dem Rechtsrahmen vereinbares Verhalten einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV darstellen könne.
133 Diese Rüge ist als unbegründet zurückzuweisen, weil, wie die Kommission, die ECTA und France Telecom zu Recht geltend machen, die Vereinbarkeit des Verhaltens eines Unternehmens mit einem Rechtsrahmen nicht bedeutet, dass dieses Verhalten mit Art. 102 AEUV vereinbar ist.
134 Drittens rügen die Rechtsmittelführerinnen eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes, die das Gericht dadurch begangen habe, dass es in den Rn. 299 bis 304 des angefochtenen Urteils ihr Vorbringen offensichtlich verfälscht habe und verkannt habe, dass die mit dem Wettbewerbsrecht und dem Rechtsrahmen verfolgten Ziele identisch seien. Angesichts dieser Identität der Ziele hätte das Gericht die Vereinbarkeit des wettbewerbsrechtlichen Eingreifens der Kommission mit den Zielen der spanischen Kommission für den Telekommunikationsmarkt (Comisión del Mercado de las Telecomunicaciones, im Folgenden: CMT) gemäß dem genannten Rechtsrahmen prüfen müssen.
135 Diese dritte Rüge ist, soweit mit ihr eine Verfälschung des Vorbringens der Rechtsmittelführerinnen geltend gemacht wird, als unzulässig zurückzuweisen, weil die Rechtsmittelführerinnen nicht angeben, welches Vorbringen das Gericht verfälscht haben soll, und soweit mit ihr eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes beanstandet wird, als unbegründet zurückzuweisen, weil die Durchführung von Art. 102 AEUV durch die Kommission nicht eine vorherige Überprüfung der Maßnahmen der nationalen Behörden voraussetzt.
136 Mit dem dritten Teil des sechsten Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen Rechtsfehler, die das Gericht begangen habe, indem es in den Rn. 309 bis 315 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass die Kommission nicht die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit und einer ordnungsgemäßen Verwaltung verletzt habe.
137 Ferner machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe in den Rn. 313 und 314 des angefochtenen Urteils ihr Vorbringen verfälscht, denn sie hätten der Kommission nicht vorgeworfen, die CMT nicht zur Mitteilung der Beschwerdepunkte angehört zu haben, sondern vielmehr, dass sie nicht auf der Grundlage aller notwendigen tatsächlichen Angaben gehandelt und nicht mit der CMT zusammengearbeitet habe.
138 Dieser dritte Teil ist als unzulässig zurückzuweisen, da, wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausführt, die Rechtsmittelführerinnen nicht angeben, welches Vorbringen das Gericht verfälscht bzw. welche Beurteilungsfehler es begangen haben soll.
139 Nach alledem ist der sechste Rechtsmittelgrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum siebten Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler bei der Anwendung von Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003
140 Mit ihrem siebten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen Rechtsfehler des Gerichts bei der Anwendung von Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003. Dieser Rechtsmittelgrund gliedert sich in zwei Teile.
Zum ersten Teil des siebten Rechtsmittelgrundes: Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafen
141 Mit dem ersten Teil des siebten Rechtsmittelgrundes tragen die Rechtsmittelführerinnen im Wesentlichen vor, das Gericht habe die durch Art. 7 EMRK und Art. 49 der Charta garantierten Grundsätze der Rechtssicherheit und der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafen verletzt, indem es festgestellt habe, dass die Kommission gegen sie zu Recht wegen der streitigen Praxis der Kosten-Preis-Schere eine Geldbuße verhängt habe. Die Rechtsmittelführerinnen erheben insoweit vier Rügen.
142 Im Rahmen der ersten Rüge, die mit „Vorhandensein klarer und vorhersehbarer Präzedenzfälle“ überschrieben ist, fassen die Rechtsmittelführerinnen lediglich die Rn. 357 bis 368 des angefochtenen Urteils zusammen, ohne einen vom Gericht etwa begangenen Rechtsfehler anzugeben. Folglich ist diese erste Rüge im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
143 Im Rahmen der zweiten Rüge machen die Rechtsmittelführerinnen lediglich geltend, das Gericht habe die Grundsätze der Rechtssicherheit und der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafen verletzt, indem es in Rn. 357 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass die Kommission im besonderen Rahmen jedes einzelnen Vorgangs nach ihrem Ermessen darüber entscheide, ob es angebracht sei, eine Geldbuße zu verhängen.
144 Soweit diese zweite Rüge einen Verstoß gegen Art. 6 und 7 EMRK betrifft, ist sie nach der in Rn. 99 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen, da die Rechtsmittelführerinnen dieses Vorbringen nicht vor dem Gericht vorgebracht haben.
145 Soweit sich die Rechtsmittelführerinnen auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafen berufen, ist diese Rüge ebenfalls als unzulässig zurückzuweisen, da die Rechtsmittelführerinnen ihr Vorbringen nicht untermauert und dargelegt haben, inwiefern diese Grundsätze der Kommission bei ihrer Entscheidung, eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln zu verhängen, einen Wertungsspielraum nehmen sollen.
146 Im Rahmen der dritten Rüge führen die Rechtsmittelführerinnen aus, das Gericht habe in den Rn. 360 und 361 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen, indem es festgestellt habe, dass die Entscheidungen 88/518/EWG der Kommission vom 18. Juli 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel [102 EG] (IV/30.178 – Napier Brown – British Sugar) (ABl. L 284, S. 41) und Deutsche Telekom Präzedenzfälle seien, die die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 102 AEUV auf Praktiken der Margenbeschneidung klarstellten. Die Rechtsmittelführerinnen machen geltend, diese Entscheidungen stellten keine klaren und vorhersehbaren Präzedenzfälle dar, so dass sie die Auslegung von Art. 102 AEUV durch die Kommission in der angefochtenen Entscheidung vernünftigerweise nicht hätten vorhersehen können.
147 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Grundsätze der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafen und der Rechtssicherheit nicht so verstanden werden dürfen, dass sie die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit untersagen, sie können aber der rückwirkenden Anwendung einer neuen Auslegung einer Norm, die eine Zuwiderhandlung festlegt, entgegenstehen (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, EU:C:2005:408, Rn. 217).
148 Dies ist u. a. dann der Fall, wenn es sich um eine richterliche Auslegung handelt, deren Ergebnis zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung, die zu dieser Zeit in der Rechtsprechung zu der fraglichen Rechtsvorschrift vertreten wurde, nicht hinreichend vorhersehbar war (vgl. Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, EU:C:2005:408, Rn. 218 und die dort angeführte Rechtsprechung).
149 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die von der Kommission in der streitigen Entscheidung vertretene Auslegung, wonach eine Praxis der Margenbeschneidung gegen Art. 102 AEUV verstößt, zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung hinreichend vorhersehbar war. Diese Vorhersehbarkeit ergab sich aus den Entscheidungen 88/518 (Napier Brown) und Deutsche Telekom sowie den vorhersehbaren negativen Auswirkungen einer Praxis der Margenbeschneidung auf den Wettbewerb, wie das Gericht in den Rn. 358 bis 362 des angefochtenen Urteils zu Recht hervorhebt.
150 Im Übrigen ist, soweit diese dritte Rüge auf das Urteil Bronner (EU:C:1998:569) gestützt wird, darauf hinzuweisen, dass das den Rechtsmittelführerinnen vorgeworfene missbräuchliche Verhalten einer Kosten-Preis-Schere eine eigenständige Form des Missbrauchs darstellt, die sich von der Lieferverweigerung unterscheidet und auf die die im Urteil Bronner (EU:C:1998:569) aufgestellten Kriterien nicht anwendbar sind, wie in Rn. 75 des vorliegenden Urteils bereits ausgeführt.
151 Daher ist diese dritte Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
152 Mit ihrer vierten Rüge machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe zu Unrecht festgestellt, dass die von der Kommission für die Bestimmung einer Kosten-Preis-Schere angewandte Methode durch klare und vorhersehbare Präzedenzfälle angemessen begründet sei. Die Rechtsmittelführerinnen beanstanden insbesondere die in den Rn. 363 bis 369 des angefochtenen Urteils gegebene Begründung für die Feststellung, dass die von der Kommission für die Bestimmung einer Kosten-Preis-Schere angewandte Methode vorhersehbar sei.
153 Es ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen im Wesentlichen versuchen, die Tatsachenwürdigung betreffend die Vorhersehbarkeit der von der Kommission für die Bestimmung einer Kosten-Preis-Schere angewandten Methode in Frage zu stellen, so dass diese vierte Rüge nach der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen ist.
154 Angesichts des Vorstehenden ist der erste Teil des siebten Rechtsmittelgrundes als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des siebten Rechtsmittelgrundes: Rechtsfehler bei der Einstufung des Verhaltens der Rechtsmittelführerinnen als vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verstoß
155 Mit dem zweiten Teil des siebten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführerinnen mehrere Rechtsfehler des Gerichts bei der Einstufung ihres Verhaltens als vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verstoß im Sinne von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 geltend.
156 Zur Frage, ob die Zuwiderhandlungen vorsätzlich oder fahrlässig begangen worden sind, so dass sie gemäß Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 17 oder Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 mit einer Geldbuße geahndet werden können, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn sich das betroffene Unternehmen über die Wettbewerbswidrigkeit seines Verhaltens nicht im Unklaren sein kann, gleichviel, ob ihm dabei bewusst ist, dass es gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrags verstößt (vgl. Urteil Deutsche Telekom/Kommission, EU:C:2010:603, Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung).
157 Die Rechtsmittelführerinnen stützen diesen zweiten Teil ihres siebten Rechtsmittelgrundes auf zwei Rügen.
158 Mit einer ersten Rüge tragen sie vor, sie hätten die Wettbewerbswidrigkeit ihres Verhaltens nicht vorhersehen können, weil zum einen die Definition des relevanten Marktes durch die Kommission und zum anderen die Wettbewerbswidrigkeit ihrer Preispolitik nicht vorhersehbar gewesen sei.
159 Hierzu ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen im Wesentlichen versuchen, die Tatsachenwürdigung betreffend die Vorhersehbarkeit der Definition des relevanten Marktes in Frage zu stellen, so dass diese erste Rüge nach der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen ist.
160 Zur Wettbewerbswidrigkeit ihrer Preispolitik tragen die Rechtsmittelführerinnen vor, sie hätten angesichts der Überwachung und des Eingreifens der nationalen Regulierungsbehörde in Bezug auf ihre Tätigkeiten die auf Art. 102 AEUV gestützte Maßnahme der Kommission nicht vorhersehen können.
161 Wie in Rn. 135 des vorliegenden Urteils festgestellt, setzt das Handeln der Kommission auf der Grundlage von Art. 102 AEUV nicht eine Prüfung des Eingreifens der nationalen Regulierungsbehörden voraus und ist somit grundsätzlich von diesem Eingreifen unabhängig. Daher können sich die Rechtsmittelführerinnen nicht mit Erfolg darauf berufen, dass das Handeln der Kommission aufgrund des Eingreifens der nationalen Regulierungsbehörden unvorhersehbar gewesen sei, so dass dieses Vorbringen zur ersten Rüge als unbegründet zurückzuweisen ist.
162 Ferner beanstanden die Rechtsmittelführerinnen Rn. 341 des angefochtenen Urteils, in der das Gericht feststellt, dass die Überwachung durch die nationale Regulierungsbehörde auf Ex-ante-Schätzungen und nicht auf den tatsächlichen früheren Kosten der Rechtsmittelführerinnen dieser Produkte beruht habe, so dass diese Überwachung die Rechtsmittelführerinnen nicht daran habe hindern können, die Wettbewerbswidrigkeit ihrer Preispolitik vorherzusehen.
163 Da die Rechtsmittelführerinnen nicht dartun, inwiefern diese Tatsachenfeststellung des Gerichts den Sachverhalt verfälscht hat, ist ihr Vorbringen hierzu nach der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
164 Mit einer zweiten Rüge wenden sich die Rechtsmittelführerinnen gegen die Zurückweisung ihres Vorbringens durch das Gericht, dass das Handeln der CMT ein berechtigtes Vertrauen auf die Vereinbarkeit ihrer Preispraktiken mit Art. 102 AEUV habe begründen können.
165 Wie France Telecom hervorhebt, ist das Vorbringen der Rechtsmittelführerinnen im Rahmen dieser zweiten Rüge, da es gegen in den Rn. 349 bis 351 des angefochtenen Urteils enthaltene Tatsachenwürdigungen des Gerichts gerichtet ist, im Licht der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
166 Folglich ist der zweite Teil des siebten Rechtsmittelgrundes als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
167 Angesichts des Vorstehenden ist der siebte Rechtsmittelgrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum achten Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler bei der Bemessung der Geldbuße
168 Mit dem achten Rechtsmittelgrund, der aus drei Teilen besteht, rügen die Rechtsmittelführerinnen Rechtsfehler des Gerichts bei der Bemessung der Geldbuße.
Zum ersten Teil des achten Rechtsmittelgrundes: Rechtsfehler bei der Einstufung des Verhaltens der Rechtsmittelführerinnen
169 Mit dem ersten Teil ihres achten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführerinnen Rechtsfehler des Gerichts bei der Einstufung ihres Verhaltens als „besonders schwere“ Zuwiderhandlung geltend und erheben in diesem Zusammenhang vier Rügen.
170 Die erste Rüge ist gegen Rechtsfehler des Gerichts bei der Bestimmung der Art der Zuwiderhandlung nach den Leitlinien von 1998 gerichtet.
171 Im Rahmen dieser ersten Rüge nennen die Rechtsmittelführerinnen konkret nur die Rn. 386 des angefochtenen Urteils, in der das Gericht das Vorbringen, als „schwere“ Zuwiderhandlung hätte entsprechend der von der Kommission in der Entscheidung Deutsche Telekom vorgenommenen Einstufung zumindest das vor der Veröffentlichung dieser Entscheidung im Amtsblatt der Europäischen Union am 14. Oktober 2003 liegende Verhalten der Rechtsmittelführerinnen eingestuft werden müssen, mit dem Hinweis zurückwies, dass die Entscheidungspraxis der Kommission nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen bilden könne.
172 Das Gericht habe in dieser Rn. 386 einen Rechtsfehler begangen, weil ein Missbrauch nur in Bezug auf frühere Entscheidungen als „eindeutig“ und damit als „besonders schwere Zuwiderhandlung“ eingestuft werden könne, was sich sowohl aus den Leitlinien von 1998 als auch aus der streitigen Entscheidung ergebe.
173 Dieses Vorbringen ist als unbegründet zurückzuweisen, da, wie die Kommission zu Recht hervorhebt, Rn. 386 des angefochtenen Urteils in Verbindung mit dessen Rn. 383 zu verstehen ist, der auf die Rn. 353 bis 368 dieses Urteils verweist, in denen das Gericht feststellt, dass es für die Einstufung als eindeutigen Missbrauch Präzedenzfälle gebe.
174 Folglich ist diese erste Rüge, soweit sie Rn. 386 des angefochtenen Urteils betrifft, als unbegründet zurückzuweisen und im Übrigen nach der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen, da die Rechtsmittelführerinnen nicht angeben, welche Randnummern des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft sein sollen.
175 Mit der zweiten Rüge beanstanden die Rechtsmittelführerinnen Tatsachenwürdigungen des Gerichts in Bezug auf die Ausschlusswirkungen auf dem Endkundenmarkt und die Schädigung der Verbraucher.
176 Wie France Telecom und die Kommission vortragen, ist diese zweite Rüge, da sie gegen Tatsachenwürdigungen des Gerichts gerichtet ist, im Licht der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
177 Mit der dritten Rüge beanstanden die Rechtsmittelführerinnen einen Rechtsfehler, den das Gericht begangen habe, indem es in Rn. 413 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass ihr Verhalten als „besonders schwere“ Zuwiderhandlung eingestuft werden könne, obwohl der räumlich relevante Markt auf das spanische Hoheitsgebiet beschränkt gewesen sei. Die Rechtsmittelführerinnen rügen insoweit einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, da in den Entscheidungen der Kommission vom 16. Juli 2003 in einem Verfahren nach Art. [102 AEUV] (Sache COMP/38.233 – Wanadoo Interactive; im Folgenden: Entscheidung Wanadoo) und Deutsche Telekom in Bezug auf größere geografische Märkte als den in Rede stehenden, nämlich den des deutschen bzw. des französischen Hoheitsgebiets, eine Einstufung als „schwer“ vorgenommen worden sei.
178 Wie die Kommission zu Recht hervorhebt, ist die Entscheidung des Gerichts in Rn. 413 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei, dass der Umstand, dass der räumlich relevante Markt auf das spanische Hoheitsgebiet beschränkt sei, eine Einstufung der Zuwiderhandlung als „besonders schwer“ nicht ausschließt. Dass die Kommission in den Entscheidungen Deutsche Telekom und Wanadoo die betreffenden Zuwiderhandlungen jeweils als „schwer“ eingestuft hatte, obwohl die räumlich relevanten Märkte größer waren als der im vorliegenden Fall in Rede stehende, ist für diese Beurteilung ohne Belang, da die Einstufung einer Zuwiderhandlung als „schwer“ oder „besonders schwer“ nicht nur von der Größe des räumlich relevanten Marktes abhängt, sondern, wie das Gericht in Rn. 413 des angefochtenen Urteils zutreffend feststellt, auch von anderen die Zuwiderhandlung charakterisierenden Kriterien.
179 Folglich ist diese dritte Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
180 Mit der vierten Rüge wenden sich die Rechtsmittelführerinnen gegen einen Rechtsfehler, den das Gericht begangen habe, indem es entschieden habe, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, die Einstufung der Zuwiderhandlung vor und nach der Bekanntgabe der Entscheidung Deutsche Telekom zu differenzieren oder zumindest darzulegen, wie sie die unterschiedliche Schwere der Zuwiderhandlung in dem für die Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße herangezogenen Zeitraum berücksichtigt habe.
181 Das Gericht hat in Rn. 416 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei darauf hingewiesen, dass die Kommission bei der Berechnung des Betrags der wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht verhängten Geldbuße ihrer Begründungspflicht genügt, wenn sie in ihrer Entscheidung die Beurteilungsgesichtspunkte angibt, die es ihr ermöglichten, Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung zu ermitteln; sie ist nicht verpflichtet, Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbuße zu machen (vgl. Urteile Weig/Kommission, C‑280/98 P, EU:C:2000:627, Rn. 43 bis 46; Sarrió/Kommission, C‑291/98 P, EU:C:2000:631, Rn. 73 bis 76, sowie Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 463 bis 464).
182 Ferner hat das Gericht in Rn. 420 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei die Rüge der Rechtsmittelführerinnen zurückgewiesen, die Kommission habe ihre Begründungspflicht verkannt, indem sie nicht berücksichtigt habe, dass die Schwere der Zuwiderhandlung nicht konstant gewesen sei, und nicht zwei Zuwiderhandlungszeiträume unterschieden habe. Die Kommission hat nämlich ihrer Begründungspflicht genügt, indem sie in den Rn. 739 bis 750 der streitigen Entscheidung im Einzelnen darlegte, warum sie die Zuwiderhandlung der Rechtsmittelführerinnen für den gesamten Zeitraum der Zuwiderhandlung als „besonders schwer“ einstufte, obwohl ihr Verhalten während dieses gesamten Zeitraums nicht konstant gleich schwerwiegend war, und die Unterschiede zwischen der Sache Deutsche Telekom, in der die Zuwiderhandlung als schwer eingestuft worden war, und der vorliegenden Sache erläuterte.
183 Es wäre zwar wünschenswert gewesen, dass die Kommission in der streitigen Entscheidung eine über diese Erfordernisse hinausgehende Begründung gegeben hätte, u. a. durch Angabe der Zahlen, von denen sie sich zur Berücksichtigung des unterschiedlichen Schweregrads der Zuwiderhandlung bei der Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße leiten ließ. Diese Befugnis ändert jedoch nichts am Umfang der Erfordernisse, die sich für die streitige Entscheidung aus der Begründungspflicht ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile Weig/Kommission, EU:C:2000:627, Rn. 47; Sarrió/Kommission, EU:C:2000:631, Rn. 77, sowie Corus UK/Kommission, C‑199/99 P, EU:C:2003:531, Rn. 149).
184 Angesichts des Vorstehenden ist der erste Teil des achten Rechtsmittelgrundes als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des achten Rechtsmittelgrundes: Verletzung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der individuellen Zumessung von Strafen sowie der Pflicht, die Begründung der streitigen Entscheidung zu kontrollieren
185 Der zweite Teil des achten Rechtsmittelgrundes, der vier Rügen umfasst, betrifft die Verletzung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der individuellen Zumessung von Strafen sowie der Pflicht, die Begründung der streitigen Entscheidung zu kontrollieren.
186 Mit der dritten Rüge, die als Erstes zu prüfen ist, machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe den Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen verletzt, indem es nicht geprüft habe, ob die Geldbuße unter Berücksichtigung der spezifischen Situation der Rechtsmittelführerinnen berechnet worden sei.
187 Es ist festzustellen, dass bei dieser dritten Rüge nicht mit der erforderlichen Genauigkeit angegeben wird, welchen Rechtsfehler das Gericht begangen haben soll oder welche Randnummern des angefochtenen Urteils davon betroffen wären, so dass sie im Licht der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen ist.
188 Mit ihrer ersten Rüge beanstanden die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen, indem es verkannt habe, dass in den Entscheidungen Deutsche Telekom und Wanadoo, die in Fällen ergangen seien, die mit dem der streitigen Entscheidung vergleichbar seien, zehnmal niedrigere Geldbußen verhängt worden seien.
189 Wie jedoch das Gericht in Rn. 425 des angefochtenen Urteils hervorhebt, hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die frühere Entscheidungspraxis der Kommission nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen bildet und Entscheidungen in anderen Fällen lediglich Hinweischarakter in Bezug auf das Vorliegen von Diskriminierungen haben (Urteil Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung).
190 So kann die Kommission dadurch, dass sie in der Vergangenheit für bestimmte Kategorien von Zuwiderhandlungen Geldbußen auf einem bestimmten Niveau verhängt hat, nicht daran gehindert sein, Geldbußen auf einem höheren Niveau festzusetzen, wenn eine Anhebung der Sanktionen für erforderlich gehalten wird, um die Durchführung der Wettbewerbspolitik der Union sicherzustellen, die allein in der Verordnung Nr. 1/2003 geregelt bleibt (Urteil Tomra Systems u. a./Kommission, EU:C:2012:221, Rn. 105 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
191 Somit hat das Gericht in Rn. 427 des angefochtenen Urteils zu Recht das auf den Vergleich zwischen der gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbuße und den von der Kommission in anderen Entscheidungen in Wettbewerbssachen verhängten Geldbußen gestützte Vorbringen zurückgewiesen und ausgeführt, dass im vorliegenden Fall kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung festgestellt werden könne.
192 Mit ihrer zweiten Rüge machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem es nicht die Unverhältnismäßigkeit des auf 90 Mio. Euro festgesetzten Grundbetrags der Geldbuße festgestellt habe. Zum einen sei dies der zweithöchste je wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung festgesetzte Grundbetrag, und zum anderen sei der Endbetrag der Geldbuße 12,5 bzw. 11,25 mal so hoch wie der, der gegen Deutsche Telekom und Wanadoo wegen ähnlicher missbräuchlicher Verhaltensweisen verhängt worden sei.
193 Mit ihrer vierten Rüge werfen die Rechtsmittelführerinnen dem Gericht ferner vor, es habe seine Pflicht, die Begründung der streitigen Entscheidung zu kontrollieren, verletzt, indem es entschieden habe, dass die Kommission ihre Entscheidung, in der vorliegenden Sache eine deutlich höhere Geldbuße als in den Entscheidungen Wanadoo und Deutsche Telekom zu verhängen, nicht angesichts der Ähnlichkeit dieser drei Sachen mit besonderer Sorgfalt habe begründen müssen.
194 Zur Kontrolle der Begründungspflicht ist festzustellen, dass die Kommission zwar in den Erwägungsgründen 739 bis 750 der streitigen Entscheidung die Unterschiede zwischen der Sache Deutsche Telekom und der vorliegenden Sache erläuterte, aber nicht näher auf die Gründe einging, aus denen sie im vorliegenden Fall eine deutlich höhere Geldbuße als in den Entscheidungen Wanadoo und Deutsche Telekom verhängte. Die Kommission hätte u. a. die für die Bestimmung des Grundbetrags verwendete Methode im Einzelnen darlegen können, wie in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2) vorgesehen, die zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht galten.
195 Das Gericht hat jedoch in Rn. 434 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei darauf hingewiesen, dass die Kommission ihrer Begründungspflicht genügt habe, da sie in der streitigen Entscheidung die Beurteilungsgesichtspunkte angegeben habe, die es ihr ermöglicht hätten, Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung zu ermitteln. Unter diesen Umständen hat das Gericht nach der oben in den Rn. 181 und 183 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung weiter zu Recht feststellen können, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbuße zu machen.
196 Zur Verhältnismäßigkeit der gegen die Rechtsmittelführerinnen verhängten Geldbuße hat das Gericht in Rn. 429 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt, „aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit [ergibt sich], dass die Kommission die Geldbuße proportional nach den Faktoren festsetzen muss, die sie für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigt hat“.
197 Im Rahmen dieser vierten Rüge machen die Rechtsmittelführerinnen außerdem geltend, das Gericht habe Art. 6 EMRK verletzt, da es die unbeschränkte Nachprüfung, zu der es in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Höhe des Grundbetrags der Geldbuße verpflichtet sei, nicht vorgenommen habe.
198 Wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wird die Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 263 AEUV gemäß Art. 261 AEUV durch eine unbeschränkte Nachprüfungsbefugnis hinsichtlich der von der Kommission wegen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen und Zwangsgelder ergänzt. Nach Art. 17 der Verordnung Nr. 17, der durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 ersetzt wurde, hat der Gerichtshof bei Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat, die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung, was bedeutet, dass er die festgesetzte Geldbuße oder das festgesetzte Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen kann.
199 Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003, der Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 17 ersetzt hat, bestimmt, dass bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen ist.
200 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Unionsrichter, um den Anforderungen einer unbeschränkten gerichtlichen Nachprüfung im Sinne von Art. 47 der Charta hinsichtlich der Geldbuße zu genügen, bei der Ausübung der Befugnisse nach den Art. 261 AEUV und 263 AEUV jegliche Rechts- oder Sachrüge zu prüfen hat, mit der dargetan werden soll, dass die Höhe der Geldbuße der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung nicht angemessen ist.
201 Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 431 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen hat, dass die in Nr. 1 Abschnitt A der Leitlinien von 1998 dargelegte Methode einer Pauschallogik entspricht, wonach der Ausgangsbetrag der Geldbuße nach Maßgabe der Schwere des Verstoßes berechnet wird, die unter Berücksichtigung seiner Art und der konkreten Auswirkungen auf den Markt, sofern diese messbar sind, und des Umfangs des betreffenden räumlichen Marktes bestimmt wird.
202 In Anwendung dieser Kriterien hat das Gericht in Rn. 432 des angefochtenen Urteils unter Bezugnahme auf dessen Rn. 371 bis 421 befunden, dass der Grundbetrag der Geldbuße von 90 Mio. Euro nicht unverhältnismäßig sei, angesichts des Umstands, dass das Verhalten der Rechtsmittelführerinnen zum einen einen offensichtlichen Missbrauch, für den es Präzedenzfälle gebe, darstelle, der das Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts für die Telekommunikationsnetze und ‑dienstleistungen gefährde, und dass dieser Missbrauch zum anderen erhebliche Auswirkungen auf den spanischen Endkundenmarkt gehabt habe.
203 Das Gericht hat es zwar versäumt, festzustellen, dass die Kommission in der streitigen Entscheidung nicht die für die Bestimmung des Grundbetrags verwendete Methode, wie in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehen, die zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht galten, dargelegt hat, doch genügt dieses Versäumnis nicht für die Annahme, dass das Gericht bei seiner Nachprüfung der Verhältnismäßigkeit dieses Betrags, die es anhand der in Rn. 432 des angefochtenen Urteils aufgeführten Kriterien vorgenommen hat, einen Fehler begangen habe.
204 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Gericht bei der Prüfung des Vorbringens der Rechtsmittelführerinnen, mit dem die Unverhältnismäßigkeit des Grundbetrags der Geldbuße dargetan werden sollte, die Befugnisse nach den Art. 261 AEUV und 263 AEUV tatsächlich im Einklang mit den Anforderungen einer unbeschränkten gerichtlichen Nachprüfung im Sinne von Art. 47 der Charta ausgeübt hat, indem es sämtliche Rechts- oder Sachrügen der Rechtsmittelführerinnen geprüft hat, mit denen dargetan werden sollte, dass die Höhe der Geldbuße der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung nicht angemessen ist. Bei der Prüfung dieser Rügen hat das Gericht jedoch festgestellt, dass keines der von den Rechtsmittelführerinnen vorgebrachten Argumente eine Herabsetzung dieses Grundbetrags rechtfertige.
205 Soweit die Rechtsmittelführerinnen mit dieser vierten Rüge die vom Gericht in Rn. 432 des angefochtenen Urteils vorgenommene Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Grundbetrags der Geldbuße im Hinblick auf die maßgeblichen tatsächlichen Umstände in Frage stellen, ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, bei der Entscheidung über Rechtsfragen im Rahmen eines Rechtsmittels die Beurteilung des Gerichts, das in Ausübung seiner unbeschränkten Nachprüfungsbefugnis über den Betrag der gegen Unternehmen wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht festgesetzten Geldbußen entscheidet, aus Gründen der Billigkeit durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen. Nur wenn der Gerichtshof der Ansicht wäre, dass die Höhe der Sanktion nicht nur unangemessen, sondern auch so überhöht ist, dass sie unverhältnismäßig ist, wäre somit ein Rechtsfehler des Gerichts wegen der unangemessenen Höhe einer Geldbuße festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile E.ON Energie/Kommission, EU:C:2012:738, Rn. 125 und 126; Quinn Barlo u. a./Kommission, C‑70/12 P, EU:C:2013:351, Rn. 57, und Koninklijke Wegenbouw Stevin/Kommission, C‑586/12 P, EU:C:2013:863, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
206 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen nicht dargetan haben, inwiefern der von der Kommission in der streitigen Entscheidung festgesetzte Grundbetrag von 90 Mio. Euro im Sinne der in vorstehender Randnummer angeführten Rechtsprechung derart überhöht ist, dass er unverhältnismäßig wäre.
207 Folglich ist der zweite Teil des achten Rechtsmittelgrundes als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum dritten Teil des achten Rechtsmittelgrundes: Rechtsfehler bei der Prüfung der Erhöhung des Grundbetrags zu Abschreckungszwecken, der Einstufung des Verhaltens der Rechtsmittelführerinnen als „Zuwiderhandlung von langer Dauer“ und der Ermäßigung der Geldbuße wegen mildernder Umstände.
208 Mit dem dritten Teil des achten Rechtsmittelgrundes rügen die Rechtsmittelführerinnen Rechtsfehler des Gerichts bei der Prüfung der Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße zu Abschreckungszwecken, der Einstufung ihres Verhaltens als „Zuwiderhandlung von langer Dauer“ und der Ermäßigung der Geldbuße wegen mildernder Umstände.
209 Zur ersten Rüge betreffend Rechtsfehler bei der Prüfung der Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße zu Abschreckungszwecken führen die Rechtsmittelführerinnen folgende Argumente an.
210 Zum einen tragen die Rechtsmittelführerinnen vor, das Gericht habe gegen das Diskriminierungsverbot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem es die Erhöhung des Grundbetrags zu Abschreckungszwecken gebilligt habe, obwohl ihre Wirtschaftskraft mit der der betroffenen Unternehmen in den Entscheidungen Wanadoo und Deutsche Telekom vergleichbar sei, in denen die Kommission keine solche Erhöhung vorgenommen habe.
211 Das Gericht hat dieses Vorbringen, das auf die Entscheidungspraxis der Kommission gestützt ist, in Rn. 441 des angefochtenen Urteils im Licht der in den Rn. 189 und 190 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zu Recht zurückgewiesen, da die Entscheidungspraxis der Kommission nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen bilden kann.
212 Zum anderen rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe die Erwägungen der Kommission durch bloße allgemeine Verweise auf Erwägungsgründe der streitigen Entscheidung ohne Prüfung der Angemessenheit des Multiplikators von 25 % bestätigt und dadurch seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung verletzt.
213 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung gemäß Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 nicht einer Prüfung von Amts wegen entspricht und dass das Verfahren vor den Gerichten der Union ein streitiges Verfahren ist. Mit Ausnahme der Gründe zwingenden Rechts, die der Richter von Amts wegen zu berücksichtigen hat, wie etwa das Fehlen einer Begründung der streitigen Entscheidung, ist es Sache des Klägers, gegen die Entscheidung Klagegründe vorzubringen und für diese Beweise beizubringen (Urteile Chalkor/Kommission, EU:C:2011:815, Rn. 64, sowie KME Germany u. a./Kommission, C‑389/10 P, EU:C:2011:816, Rn. 131).
214 Das Gericht hat in den Rn. 438 bis 441 des angefochtenen Urteils die von der Kommission für die Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße gegebene Begründung geprüft und festgestellt, dass die in der streitigen Entscheidung enthaltenen Angaben über die Wirtschaftskraft der Rechtsmittelführerinnen diese Erhöhung rechtlich hinreichend stützten. Damit hat das Gericht seine Befugnisse nach den Art. 261 AEUV und 263 AEUV im Einklang mit den Anforderungen einer unbeschränkten gerichtlichen Nachprüfung ausgeübt und sämtliche von den Rechtsmittelführerinnen in diesem Kontext erhobenen Rechts- oder Sachrügen geprüft.
215 Folglich ist die erste Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
216 Die zweite Rüge der Rechtsmittelführerinnen betrifft Rechtsfehler bei der Prüfung der Einstufung ihres Verhaltens als „Zuwiderhandlung von langer Dauer“.
217 Betreffend den Zeitpunkt des Beginns der Zuwiderhandlung rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe zu Unrecht den Zeitraum vor der Entscheidung Deutsche Telekom nicht von dem nach dieser Entscheidung unterschieden und die Schwere der Zuwiderhandlung nicht in Bezug auf jeden Zeitraum getrennt beurteilt; dadurch habe das Gericht gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen und seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung verletzt.
218 Dieses Vorbringen ist als ins Leere gehend zurückzuweisen, da die Rechtsmittelführerinnen lediglich geltend machen, das Gericht hätte entsprechend der behaupteten unterschiedlichen Intensität der Zuwiderhandlung zwei Zuwiderhandlungszeiträume unterscheiden müssen, aber nicht darlegen, inwiefern dadurch die Dauer der Zuwiderhandlung verkürzt würde.
219 Ferner rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe ihr Vorbringen verfälscht, ohne jedoch mit der erforderlichen Genauigkeit anzugeben, welche Inhalte es verfälscht oder welche Untersuchungsfehler es begangen haben soll. Folglich ist dieses Vorbringen im Licht der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
220 Betreffend den Zeitpunkt des Endes der Zuwiderhandlung rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe festgestellt, dass die Kommission das Vorliegen der Zuwiderhandlung nur bis zum Ende des ersten Halbjahrs 2006 nachgewiesen habe. Daraufhin habe das Gericht in Umkehrung der Beweislast festgestellt, die Rechtsmittelführerinnen hätten nicht bewiesen, dass es im zweiten Halbjahr 2006 keine Kosten-Preis-Schere gegeben habe, obwohl es der Kommission oblegen hätte, ihnen die Zuwiderhandlung nachzuweisen.
221 Wie aus Rn. 451 des angefochtenen Urteils hervorgeht, hat das Gericht auf der Grundlage des von den Rechtsmittelführerinnen nicht bestrittenen Akteninhalts festgestellt, dass sowohl die Großkundenpreise als auch die Endkundenpreise der Telefónica de España SAU von September 2001 bis zum 21. Dezember 2006, dem Zeitpunkt des Endes der Zuwiderhandlung, unverändert geblieben seien, wobei die Rechtsmittelführerinnen keine Änderung der von der Kommission berücksichtigten Kosten geltend gemacht hätten. Damit hat das Gericht keine Umkehr der Beweislast vorgenommen, sondern die ihm vorgelegten Beweise zutreffend gewürdigt, wie der Generalanwalt in Nr. 171 seiner Schlussanträge hervorhebt.
222 Folglich ist die zweite Rüge als teils unzulässig, teils ins Leere gehend und teils unbegründet zurückzuweisen.
223 Die dritte Rüge betrifft Rechtsfehler bei der Prüfung der Ermäßigung der Geldbuße wegen mildernder Umstände.
224 Erstens machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe ein „falsches rechtliches Kriterium“ angewandt, indem es bei seiner Beurteilung der Angemessenheit der ihnen von der Kommission angesichts ihres berechtigten Vertrauens gewährten Herabsetzung um 10 % angenommen habe, dass ihre Fahrlässigkeit besonders schwer gewesen sei.
225 Es ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 459 des angefochtenen Urteils den Grad der Fahrlässigkeit der Rechtsmittelführerinnen tatsächlich gewürdigt hat. Dieses Vorbringen ist daher im Licht der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
226 Zweitens beanstanden die Rechtsmittelführerinnen Rn. 461 des angefochtenen Urteils, in der das Gericht bei seiner Prüfung der geltend gemachten Neuartigkeit der Rechtssache auf seine Ausführungen zum Vorhandensein klarer und vorhersehbarer Präzedenzfälle verweist. In diesem Zusammenhang habe das Gericht ein offensichtlich falsches Kriterium, nämlich das der Rechtssicherheit, angewandt und außer Betracht gelassen, dass einer der in den Leitlinien von 1998 aufgeführten mildernden Umstände das Bestehen berechtigter Zweifel des Unternehmens an der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens sei. Solche berechtigten Zweifel hätten mindestens bis Oktober 2003, dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Entscheidung Deutsche Telekom, und weiter bis zur Verkündung des Urteils TeliaSonera Sverige (EU:C:2011:83) bestanden.
227 Hierzu ist festzustellen, dass das Bestehen berechtigter Zweifel der Rechtsmittelführerinnen eine Tatsachenfrage darstellt, die allein der Beurteilungsbefugnis des Gerichts unterliegt, so dass diese vierte Rüge nach der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen ist.
228 Folglich ist der dritte Teil des achten Rechtsmittelgrundes als teils unzulässig, teils ins Leere gehend und teils unbegründet zurückzuweisen.
229 Angesichts des Vorstehenden ist der achte Rechtsmittelgrund als teils unzulässig, teils ins Leere gehend und teils unbegründet zurückzuweisen.
Zum zehnten Rechtsmittelgrund: Verletzung der Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung im Sinne von Art. 6 EMRK in Bezug auf die Festsetzung der Geldbuße
230 Mit ihrem zehnten Rechtsmittelgrund rügen die Rechtsmittelführerinnen, das Gericht habe seine Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung im Sinne von Art. 6 EMRK in Bezug auf die Festsetzung der Geldbuße verletzt, da es von seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung gemäß Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 keinen Gebrauch gemacht habe.
231 Es ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerinnen im Rahmen dieses zehnten Rechtsmittelgrundes nicht mit der erforderlichen Genauigkeit angeben, welche Teile des angefochtenen Urteils beanstandet werden, sondern sich darauf beschränken, allgemein und unsubstantiiert zu behaupten, dass das Gericht zur Beurteilung der Angemessenheit der Geldbuße alle Beweise und alle maßgeblichen tatsächlichen Umstände hätte würdigen müssen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Vorbringen zur Stützung dieses Rechtsmittelgrundes, das die Verletzung der Pflicht zu unbeschränkter Nachprüfung betrifft, bereits im Rahmen der anderen Rechtsmittelgründe geprüft worden ist, soweit die Rechtsmittelführerinnen die beanstandeten Teile des angefochtenen Urteils mit der erforderlichen Genauigkeit angegeben haben.
232 Folglich ist der zehnte Rechtsmittelgrund nach der in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
233 Nach alledem ist das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen.
Kosten
234 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach Art. 184 Abs. 1 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
235 Nach Art. 140 Abs. 3 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof entscheiden, dass ein Streithelfer seine eigenen Kosten trägt.
236 Da die Rechtsmittelführerinnen mit ihren Rechtsmittelgründen unterlegen sind, sind sie gemäß dem Antrag der Kommission zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
237 France Telecom, die Ausbanc Consumo und die ECTA, die als Streithelfer aufgetreten sind, tragen ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Telefónica SA und die Telefónica de España SAU tragen die Kosten.
3. Die France Telecom España SA, die Asociación de Usuarios de Servicios Bancarios (Ausbanc Consumo) und die European Competitive Telecommunications Association tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 19. Juni 2024.#PV gegen Europäische Kommission.#Öffentlicher Dienst – Beamte – Ruhegehalt – Anspruchsvoraussetzungen – Ungerechtfertigte Abwesenheiten – Unbefugtes Fernbleiben vom Dienst – Disziplinarverfahren – Mobbing – Verantwortlichkeit – Materieller und immaterieller Schaden.#Rechtssache T-78/21.
|
62021TJ0078
|
ECLI:EU:T:2024:403
| 2024-06-19T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62021TJ0078 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte erweiterte Kammer) vom 30. November 2022.#Kurdistan Workers' Party (PKK) gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen die PKK im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus – Einfrieren von Geldern – Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP – Anwendbarkeit auf bewaffnete Konflikte – Terroristische Vereinigung – Tatsachengrundlage der Beschlüsse über das Einfrieren von Geldern – Von einer zuständigen Behörde gefasster Beschluss – Behörde eines Drittstaats – Überprüfung – Verhältnismäßigkeit – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Anpassung der Klageschrift.#Verbundene Rechtssachen T-316/14 RENV und T-148/19.
|
62014TJ0316(01)
|
ECLI:EU:T:2022:727
| 2022-11-30T00:00:00 |
Gericht
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62014TJ0316(01)
URTEIL DES GERICHTS (Vierte erweiterte Kammer)
30. November 2022 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen die PKK im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus – Einfrieren von Geldern – Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP – Anwendbarkeit auf bewaffnete Konflikte – Terroristische Vereinigung – Tatsachengrundlage der Beschlüsse über das Einfrieren von Geldern – Von einer zuständigen Behörde gefasster Beschluss – Behörde eines Drittstaats – Überprüfung – Verhältnismäßigkeit – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Anpassung der Klageschrift“
In den verbundenen Rechtssachen T‑316/14 RENV und T‑148/19,
Kurdistan Workers’ Party (PKK), vertreten durch die Rechtsanwältinnen A. van Eik und T. Buruma,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch S. Van Overmeire und B. Driessen als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch T. Ramopoulos, J. Norris, J. Roberti di Sarsina und R. Tricot als Bevollmächtigte,
Streithelferin in der Rechtssache T‑316/14 RENV,
andere Parteien des Verfahrens:
Französische Republik, vertreten durch A.‑L. Desjonquères, B. Fodda und J.‑L. Carré als Bevollmächtigte,
und
Königreich der Niederlande, vertreten durch M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
Streithelfer im Rechtsmittelverfahren,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni (Berichterstatter), der Richter L. Madise und P. Nihoul, der Richterin R. Frendo und des Richters J. Martín y Pérez de Nanclares,
Kanzler: I. Kurme, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens in der Rechtssache T‑148/19, insbesondere
–
der Entscheidung vom 26. Juli 2019, mit der das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer zugelassen wurde,
–
der Anpassungen der Anträge der Klägerin vom 7. Oktober 2019, 13. März 2020 und 29. September 2020,
aufgrund des Urteils vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), mit dem die Rechtssache T‑316/14 RENV an das Gericht zurückverwiesen wurde,
aufgrund der Verweisung der Rechtssachen T‑148/19 und T‑316/14 RENV an die Vierte erweiterte Kammer,
aufgrund der Entscheidung vom 8. Februar 2022, die Rechtssachen T‑148/19 und T‑316/14 RENV zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer das Verfahren beendender Entscheidung zu verbinden,
aufgrund des Beschlusses vom 25. März 2022, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer in den Rechtssachen T‑148/19 und T‑316/14 RENV zu streichen,
auf die mündliche Verhandlung vom 31. März 2022
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer auf Art. 263 AEUV gestützten Klage in der Rechtssache T‑316/14 RENV begehrt die Klägerin, die Kurdistan Workers’ Party (PKK), die Nichtigerklärung
–
der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 125/2014 des Rates vom 10. Februar 2014 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 714/2013 (ABl. 2014, L 40, S. 9);
–
der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 790/2014 des Rates vom 22. Juli 2014 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung Nr. 125/2014 (ABl. 2014, L 217, S. 1);
–
des Beschlusses (GASP) 2015/521 des Rates vom 26. März 2015 zur Aktualisierung und Änderung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/483/GASP (ABl. 2015, L 82, S. 107);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2015/513 des Rates vom 26. März 2015 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung Nr. 790/2014 (ABl. 2015, L 82, S. 1);
–
des Beschlusses (GASP) 2015/1334 des Rates vom 31. Juli 2015 zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses 2015/521 (ABl. 2015, L 206, S. 61);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2015/1325 des Rates vom 31. Juli 2015 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung 2015/513 (ABl. 2015, L 206, S. 12);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2425 des Rates vom 21. Dezember 2015 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung 2015/1325 (ABl. 2015, L 334, S. 1);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1127 des Rates vom 12. Juli 2016 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung 2015/2425 (ABl. 2016, L 188, S. 1);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2017/150 des Rates vom 27. Januar 2017 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung 2016/1127 (ABl. 2017, L 23, S. 3);
–
des Beschlusses (GASP) 2017/1426 des Rates vom 4. August 2017 zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2017/154 (ABl. 2017, L 204, S. 95);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1420 des Rates vom 4. August 2017 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung 2017/150 (ABl. 2017, L 204, S. 3), soweit diese Rechtsakte die Klägerin betreffen.
2 Mit ihrer ebenfalls auf Art. 263 AEUV gestützten Klage in der Rechtssache T‑148/19 begehrt die Klägerin die Nichtigerklärung
–
des Beschlusses (GASP) 2019/25 des Rates vom 8. Januar 2019 zur Änderung und Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, auf die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus Anwendung finden, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2018/1084 (ABl. 2019, L 6, S. 6);
–
des Beschlusses (GASP) 2019/1341 des Rates vom 8. August 2019 zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, auf die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus Anwendung finden, und zur Aufhebung des Beschlusses 2019/25 (ABl. 2019, L 209, S. 15);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2019/1337 des Rates vom 8. August 2019 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) 2019/24 (ABl. 2019, L 209, S. 1);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2020/19 des Rates vom 13. Januar 2020 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung 2019/1337 (ABl. 2020, L 8 I, S. 1);
–
des Beschlusses (GASP) 2020/1132 des Rates vom 30. Juli 2020 zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, auf die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus Anwendung finden, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2020/20 (ABl. 2020, L 247, S. 18);
–
der Durchführungsverordnung (EU) 2020/1128 des Rates vom 30. Juli 2020 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung 2020/19 (ABl. 2020, L 247, S. 1), soweit diese Rechtsakte die Klägerin betreffen.
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
3 Die PKK wurde 1978 gegründet und nahm den bewaffneten Kampf gegen die türkische Regierung auf, um die Anerkennung des Rechts der Kurden auf Selbstbestimmung zu erreichen.
4 Am 28. September 2001 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1373 (2001), mit der umfassende Strategien zur Bekämpfung des Terrorismus, insbesondere für den Kampf gegen seine Finanzierung, festgelegt wurden.
5 In der Erwägung, dass die Europäische Union tätig werden müsse, um die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen umzusetzen, nahm der Rat der Europäischen Union am 27. Dezember 2001 den Gemeinsamen Standpunkt 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. 2001, L 344, S. 93) an. Art. 2 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 sieht insbesondere das Einfrieren der Gelder und sonstigen Vermögenswerte oder wirtschaftlichen Ressourcen der an terroristischen Handlungen beteiligten Personen, Vereinigungen und Körperschaften vor, die im Anhang dieses Gemeinsamen Standpunkts aufgeführt sind.
6 Ebenfalls am 27. Dezember 2001 erließ der Rat die Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. 2001, L 344, S. 70) sowie den Beschluss 2001/927/EG zur Aufstellung der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 (ABl. 2001, L 344, S. 83), um die im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 beschriebenen Maßnahmen auf Unionsebene durchzuführen. Der Name der Klägerin befand sich nicht auf dieser ersten Liste.
7 Am 2. Mai 2002 nahm der Rat den Gemeinsamen Standpunkt 2002/340/GASP betreffend die Aktualisierung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 (ABl. 2002, L 116, S. 75) an. Im Anhang zum Gemeinsamen Standpunkt 2002/340 wurde die Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 vorgesehenen restriktiven Maßnahmen gelten, aktualisiert und u. a. der Name der Klägerin mit folgender Bezeichnung eingefügt: „Kurdische Arbeiterpartei (PKK)“.
8 Ebenfalls am 2. Mai 2002 erließ der Rat den Beschluss 2002/334/EG zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2001/927 (ABl. 2002, L 116, S. 33). Mit diesem Beschluss wurde der Name der Klägerin in derselben Form wie im Anhang zum Gemeinsamen Standpunkt 2002/340 in die in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 vorgesehene Liste aufgenommen.
9 Diese Rechtsakte wurden seitdem gemäß Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 regelmäßig aktualisiert. Der Name der Klägerin wurde stets auf den Listen der Vereinigungen und Körperschaften belassen, für die die restriktiven Maßnahmen nach den oben genannten Rechtsakten gelten (im Folgenden: streitige Listen), trotz der Anfechtung vor dem Gericht bzw. der Nichtigerklärung mehrerer Beschlüsse und Verordnungen, denen diese Listen beigefügt sind, durch das Gericht. Seit dem 2. April 2004 lautet ihr Name in den streitigen Listen: „Kurdische Arbeiterpartei – PKK (alias ‚KADEK‘, alias ‚KONGRA-GEL‘)“.
10 So wurden die gegen die Klägerin ergriffenen restriktiven Maßnahmen u. a. mit den im Jahr 2014 erlassenen Rechtsakten (Durchführungsverordnung Nr. 125/2014 und Durchführungsverordnung Nr. 790/2014) aufrechterhalten, sodann mit den von 2015 bis 2017 erlassenen Rechtsakten (Beschluss 2015/521, Durchführungsverordnung 2015/513, Beschluss 2015/1334, Durchführungsverordnung 2015/1325, Durchführungsverordnung 2015/2425, Durchführungsverordnung 2016/1127, Durchführungsverordnung 2017/150, Beschluss 2017/1426 und Durchführungsverordnung 2017/1420) sowie mit den 2019 und 2020 erlassenen Rechtsakten (Beschluss 2019/25, Beschluss 2019/1341, Durchführungsverordnung 2019/1337, Durchführungsverordnung 2020/19, Beschluss 2020/1132 und Durchführungsverordnung 2020/1128).
11 In den Begründungen zu den im Jahr 2014 erlassenen Rechtsakten beschrieb der Rat die PKK als eine an terroristischen Handlungen beteiligte Körperschaft, die ab 1984 zahlreiche derartige Handlungen begangen habe. Die terroristischen Aktivitäten der PKK würden trotz einer Reihe von Waffenruhen, die von der PKK insbesondere seit 2009 einseitig erklärt worden seien, fortgesetzt. Zu den terroristischen Handlungen der PKK gehörten Bombenanschläge, Raketenanschläge, die Verwendung von Sprengstoffen, die Ermordung und Entführung türkischer Staatsangehöriger und ausländischer Touristen, Geiselnahmen, Anschläge auf türkische Sicherheitskräfte und bewaffnete Auseinandersetzungen mit ihnen, Anschläge auf türkische Öleinrichtungen, öffentliche Verkehrsmittel sowie diplomatische, kulturelle und kommerzielle Einrichtungen in verschiedenen Ländern, Erpressung im Ausland lebender türkischer Staatsbürger sowie andere kriminelle Handlungen zur Finanzierung ihrer Aktivitäten. Beispielhaft führte der Rat 69 Vorfälle an, die sich zwischen dem 14. November 2003 und dem 19. Oktober 2011 ereignet haben sollen und von ihm als terroristische Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft wurden.
12 Der Rat fügte hinzu, die PKK sei Gegenstand von Beschlüssen zuständiger nationaler Behörden im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gewesen. Insoweit verwies er zum einen auf eine Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs vom 29. März 2001, mit der die PKK nach dem UK Terrorism Act 2000 (Gesetz des Vereinigten Königreichs von 2000 über den Terrorismus) verboten worden sei. Diese Verfügung sei durch eine Verfügung vom 14. Juli 2006 ergänzt worden, mit der festgestellt worden sei, dass „KADEK“ und „KONGRA-GEL“ andere Bezeichnungen für die PKK seien. Zum anderen verwies der Rat auf Beschlüsse der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, ohne das Datum ihres Erlasses anzugeben. Darin sei die PKK gemäß Section 219 des US Immigration and Nationality Act (US-amerikanisches Gesetz über Einwanderung und Staatsbürgerschaft) als „ausländische terroristische Organisation“ (foreign terrorist organisation, im Folgenden: FTO) und gemäß der Executive Order Nr. 13224 (Präsidialerlass Nr. 13224) als „namentlich benannter internationaler Terrorist“ (specially designated global terrorist, im Folgenden: SDGT) eingestuft worden. Der Rat nahm ferner auf Urteile der türkischen Staatssicherheitsgerichte Bezug, die zwischen 1990 und 2006 ergangen waren.
13 In den Begründungen zu den zwischen 2015 und 2017 erlassenen Rechtsakten führte der Rat aus, der Verbleib des Namens der Klägerin auf den streitigen Listen beruhe auf den bereits zuvor berücksichtigten Beschlüssen der Behörden des Vereinigten Königreichs (2001 und 2006) und der Vereinigten Staaten (1997 und 2001), die wie folgt ergänzt worden seien: durch einen Beschluss der Behörden des Vereinigten Königreichs vom 3. Dezember 2014, mit dem das Verbot der PKK aufrechterhalten worden sei, durch ein Urteil des Tribunal de grande instance de Paris (Großinstanzgericht Paris, Frankreich) vom 2. November 2011, mit dem das Kurdische Ahmet-Kaya-Kulturzentrum wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zur Vorbereitung einer terroristischen Handlung und wegen Finanzierung einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden sei und das die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) mit Urteil vom 23. April 2013 und die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Urteil vom 21. Mai 2014 bestätigt hätten, sowie durch eine am 21. November 2013 abgeschlossene Überprüfung seitens der Behörden der Vereinigten Staaten, bei der die Benennung der PKK als „ausländische terroristische Organisation“ bestätigt worden sei.
14 Die Begründungen zu den 2019 und 2020 erlassenen Rechtsakten greifen die vorherigen Begründungen auf und ergänzen sie insbesondere ab dem Beschluss 2019/1341 und der Durchführungsverordnung 2019/1337 um einen Hinweis auf die Aufrechterhaltung der Benennung der PKK als „ausländische terroristische Organisation“ durch die Behörden der Vereinigten Staaten nach einer am 5. Februar 2019 abgeschlossenen Überprüfung.
II. Anträge der Parteien
15 Die Klägerin beantragt, die Durchführungsverordnung Nr. 125/2014, die Durchführungsverordnung Nr. 790/2014, den Beschluss 2015/521, die Durchführungsverordnung 2015/513, den Beschluss 2015/1334, die Durchführungsverordnung 2015/1325, die Durchführungsverordnung 2015/2425, die Durchführungsverordnung 2016/1127, die Durchführungsverordnung 2017/150, den Beschluss 2017/1426 und die Durchführungsverordnung 2017/1420 (Rechtssache T‑316/14 RENV) sowie den Beschluss 2019/25, den Beschluss 2019/1341, die Durchführungsverordnung 2019/1337, die Durchführungsverordnung 2020/19, den Beschluss 2020/1132 und die Durchführungsverordnung 2020/1128 (Rechtssache T‑148/19) für nichtig zu erklären, soweit diese sie betreffen. In der Rechtssache T‑148/19 beantragt sie ferner hilfsweise, dem Rat aufzugeben, eine weniger restriktive Maßnahme als die Aufnahme in die streitigen Listen zu erlassen. Schließlich beantragt sie, dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
16 Der Rat, der in der Rechtssache T‑316/14 RENV von der Kommission unterstützt wird, beantragt, die Klagen abzuweisen und der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
17 Da der Rat in der mündlichen Verhandlung seinen Einwand, dass die beiden Unterzeichner der den Rechtsanwältinnen, die die Schriftsätze der Klägerin unterzeichnet hätten, erteilten Vollmachten nicht zur Vertretung der Klägerin befugt seien, zurückgenommen hat, was im Sitzungsprotokoll vermerkt worden ist, bleibt nur seine gegen die drei Anpassungen der Klageschrift in der Rechtssache T‑148/19, die sich auf die Durchführungsverordnung 2019/1337, die Durchführungsverordnung 2020/19, den Beschluss 2020/1132 und die Durchführungsverordnung 2020/1128 beziehen, gerichtete Einrede der Unzulässigkeit bestehen.
18 Der Rat macht insbesondere geltend, mit diesen Rechtsakten seien die Rechtsakte, deren Nichtigerklärung zuvor beantragt worden sei, weder geändert noch ersetzt worden, so dass die Anforderungen von Art. 86 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts nicht erfüllt seien.
19 Da dieser Unzulässigkeitsgrund auch für die im Rahmen der Rechtssache T‑316/14 RENV angefochtenen Beschlüsse 2015/521, 2015/1334 und 2017/1426 gelten könnte, hat das Gericht die fragliche Prozessvoraussetzung, die die Zulässigkeit der Klage betrifft und daher zwingend erfüllt sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 139 bis 145 und die dort angeführte Rechtsprechung), von Amts wegen thematisiert und die Parteien dazu befragt.
20 In Beantwortung dieser Frage hat die Klägerin die Unzulässigkeit ihrer Klagen eingeräumt, soweit sie die Beschlüsse 2015/521, 2015/1334 und 2017/1426 (Rechtssache T‑316/14 RENV) und den Beschluss 2020/1132 sowie die Durchführungsverordnungen 2019/1337, 2020/19 und 2020/1128 (Rechtssache T‑148/19) betreffen, was im Sitzungsprotokoll festgehalten worden ist.
21 Nach Art. 86 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Kläger, wenn ein Rechtsakt, dessen Nichtigerklärung beantragt wird, durch einen anderen Rechtsakt mit demselben Gegenstand ersetzt oder geändert wird, vor Abschluss des mündlichen Verfahrens oder vor der Entscheidung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden, die Klageschrift anpassen, um diesem neuen Umstand Rechnung zu tragen.
22 Im vorliegenden Fall verlängern die Beschlüsse 2015/521, 2015/1334 und 2017/1426 jedoch weder die Wirkungen des einzigen Rechtsakts, auf den sich die Klageschrift in der Rechtssache T‑316/14 RENV bezieht, nämlich die Durchführungsverordnung Nr. 125/2014, die durch die bei der ersten Anpassung der Klageschrift beanstandete Durchführungsverordnung Nr. 790/2014 ersetzt wurde, noch ersetzen sie ihn. Mit diesen Beschlüssen soll lediglich die Liste geändert werden, die in dem auf dem EU-Vertrag beruhenden Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 enthalten ist, während mit den Durchführungsverordnungen die Liste geändert wird, die in der insbesondere auf Art. 301 EG (nach Änderung jetzt Art. 215 AEUV) gestützten Verordnung Nr. 2580/2001 enthalten ist, mit der die in den Beschlüssen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und zuvor in den Gemeinsamen Standpunkten vorgesehenen restriktiven Maßnahmen auf Unionsebene durchgeführt werden sollen. Auch wenn die GASP-Beschlüsse und die Durchführungsverordnungen grundsätzlich am selben Tag erlassen werden und dieselbe Liste der betroffenen Personen, Vereinigungen und Körperschaften enthalten, sind sie demnach gesonderte Rechtsakte.
23 Desgleichen werden durch die Durchführungsverordnung 2019/1337, die Durchführungsverordnung 2020/19, mit der sie aufgehoben wurde, sowie die Durchführungsverordnung 2020/1128, mit der diese aufgehoben wurde, weder die Wirkungen des einzigen Rechtsakts, auf den sich die Klageschrift in der Rechtssache T‑148/19 bezieht, nämlich des Beschlusses 2019/25, der durch den in der ersten Anpassung dieser Klageschrift genannten Beschluss 2019/1341 ersetzt wurde, verlängert noch ersetzen sie diesen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Rat, da GASP-Beschlüsse den Rahmen für den Erlass von Verordnungen festlegen, die auf der Grundlage von Art. 215 AEUV erlassen werden, gemäß Art. 266 AEUV jedenfalls aus der etwaigen Nichtigerklärung der GASP-Beschlüsse die Konsequenzen für die zu deren Umsetzung ergangenen Durchführungsverordnungen zu ziehen haben wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Mai 2013, Trabelsi u. a./Rat, T‑187/11, EU:T:2013:273, Rn. 121).
24 Darüber hinaus wird mit dem Beschluss 2020/1132, auf den sich die dritte Anpassung der Klageschrift in der Rechtssache T‑148/19 bezieht, ausweislich seines Titels der Beschluss (GASP) 2020/20 des Rates vom 13. Januar 2020 zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, auf die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 Anwendung finden, und zur Aufhebung des Beschlusses 2019/1341 (ABl. 2020, L 8 I, S. 5) aufgehoben, der weder in der Klageschrift noch in ihren Anpassungen beanstandet worden ist, weshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Voraussetzungen von Art. 86 der Verfahrensordnung erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 141 und 142). Würde die Zulässigkeit des Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2020/1132 mit der Begründung bejaht, dass dieser Beschluss, ebenso wie die Beschlüsse 2019/25 und 2019/1341, die im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 enthaltene Liste ändere, liefe dies entgegen den Erfordernissen der Verfahrensökonomie und der Rechtssicherheit, mit denen die Aufnahme einer Bestimmung über Anpassungen der Klageschrift in die 2015 in Kraft getretene Verfahrensordnung gerechtfertigt worden ist (vgl. Erläuterungen zu Art. 86 der neuen Verfahrensordnung), darauf hinaus, die Tragweite von Art. 86 Abs. 1 auszudehnen, der die Änderung des „Rechtsakts, dessen Nichtigerklärung beantragt wird“, betrifft und nicht die Gesamtheit der „Rechtsakte mit demselben Gegenstand“.
25 Folglich sind die vorliegenden Klagen für unzulässig zu erklären, soweit sie auf die Nichtigerklärung der Beschlüsse 2015/521, 2015/1334 und 2017/1426 (Rechtssache T‑316/14 RENV), des Beschlusses 2020/1132 sowie der Durchführungsverordnungen 2019/1337, 2020/19 und 2020/1128 (Rechtssache T‑148/19) gerichtet sind.
26 Hinzu kommt, dass die Klägerin durch nichts daran gehindert war, in Bezug auf diese Rechtsakte, soweit sie sie betrafen, Nichtigkeitsklage zu erheben, um ihre Rechtmäßigkeit in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2020, Kande Mupompa/Rat, T‑170/18, EU:T:2020:60, Rn. 37).
27 Daraus folgt, dass die Begründetheit der vorliegenden Klagen in Bezug auf folgende Rechtsakte zu prüfen sein wird:
–
die Durchführungsverordnungen Nr. 125/2014 und Nr. 790/2014 (im Folgenden: Rechtsakte von 2014);
–
die Durchführungsverordnungen 2015/513, 2015/1325, 2015/2425, 2016/1127, 2017/150 und 2017/1420 (im Folgenden: Rechtsakte von 2015 bis 2017);
–
die Beschlüsse 2019/25 und 2019/1341 (im Folgenden: Beschlüsse von 2019).
B. Zur Begründetheit
28 In der Rechtssache T‑316/14 RENV hat die Klägerin in ihrer Stellungnahme zum Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), erklärt, sie wolle alle in ihrer Klageschrift in der Rechtssache T‑316/14 geltend gemachten Klagegründe aufrechterhalten, mit Ausnahme des ersten Klagegrundes, den sie in der mündlichen Verhandlung vor Erlass des vom Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren aufgehobenen Urteils vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), zurückgenommen habe. Zur Stützung dieser Klage vor dem Gericht machte die Klägerin acht Klagegründe geltend. Mit dem ersten Klagegrund, den die Klägerin inzwischen zurückgenommen hat, rügte sie einen Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht sowohl durch die Rechtsakte von 2014 und die Rechtsakte von 2015 bis 2017 als auch durch den Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 und die Verordnung Nr. 2580/2001, mit dem zweiten Klagegrund ihre fehlerhafte Einstufung als terroristische Vereinigung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, mit dem dritten Klagegrund das Fehlen eines Beschlusses einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, mit dem vierten Klagegrund einen Verstoß gegen die Art. 4 und 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), da die Rechtsakte von 2014 und die Rechtsakte von 2015 bis 2017 teilweise auf Informationen beruhten, die durch Folter oder Misshandlung gewonnen worden seien, mit dem fünften Klagegrund das Fehlen einer den Erfordernissen von Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genügenden Überprüfung, mit dem sechsten Klagegrund einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität, mit dem siebten Klagegrund einen Verstoß gegen die Begründungspflicht und mit dem achten Klagegrund eine Verletzung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz.
29 In der Rechtssache T‑148/19 stützt die Klägerin ihre Klage auf sechs Klagegründe und macht erstens ihre fehlerhafte Einstufung als terroristische Vereinigung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, zweitens das Fehlen eines Beschlusses einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, drittens das Fehlen einer den Erfordernissen des Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genügenden Überprüfung, viertens einen Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität, fünftens einen Verstoß gegen die Begründungspflicht und sechstens eine Verletzung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geltend.
30 Angesichts der Ähnlichkeiten von sechs der in den beiden Rechtssachen geltend gemachten Klagegründe sind sie gemeinsam zu prüfen, wobei zwischen den Rechtssachen T‑316/14 RENV und T‑148/19 nur dann zu unterscheiden ist, wenn spezielle Argumente, die zur Stützung dieser Klagegründe vorgebracht werden, und bestimmte Unterschiede zwischen den angefochtenen Rechtsakten dies erfordern.
31 Mit diesen Klagegründen wird hauptsächlich ein Verstoß gegen Art. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gerügt, wobei zu beachten ist, dass dieser Gemeinsame Standpunkt im vorliegenden Fall der einschlägige Rechtstext ist, und zwar auch für die Prüfung der angefochtenen Durchführungsverordnungen, die formal allein auf die Verordnung Nr. 2580/2001 gestützt sind, mit der das Einfrieren der Gelder von Terroristen und terroristischen Organisationen in den Mitgliedstaaten nach Maßgabe der im Gemeinsamen Standpunkt enthaltenen Grundsätze und Definitionen terroristischer Handlungen und auf der Grundlage der vom Rat gemäß dem Gemeinsamen Standpunkt erstellten Listen umgesetzt werden soll. Dieser Art. 1 bestimmt in seinen Abs. 3, 4 und 6:
„(3) Im Sinne dieses Gemeinsamen Standpunkts bezeichnet der Ausdruck ‚terroristische Handlung‘ eine der nachstehend aufgeführten vorsätzlichen Handlungen, die durch ihre Art oder durch ihren Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen kann und im innerstaatlichen Recht als Straftat definiert ist, wenn sie mit dem Ziel begangen wird,
i)
die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder
ii)
eine Regierung oder eine internationale Organisation unberechtigterweise zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder
iii)
die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören:
a)
Anschläge auf das Leben einer Person, die zum Tode führen können;
b)
Anschläge auf die körperliche Unversehrtheit einer Person;
c)
Entführung oder Geiselnahme;
d)
weit reichende Zerstörungen an einer Regierungseinrichtung oder einer öffentlichen Einrichtung, einem Verkehrssystem, einer Infrastruktur, einschließlich eines Informatiksystems, einer festen Plattform, die sich auf dem Festlandsockel befindet, einem allgemein zugänglichen Ort oder einem Privateigentum, die Menschenleben gefährden oder zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führen können;
e)
Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Güterverkehrsmitteln;
f)
Herstellung, Besitz, Erwerb, Beförderung oder Bereitstellung oder Verwendung von Schusswaffen, Sprengstoffen, Kernwaffen, biologischen und chemischen Waffen sowie die Forschung und Entwicklung in Bezug auf biologische und chemische Waffen;
g)
Freisetzung gefährlicher Stoffe oder Herbeiführen eines Brandes, einer Explosion oder einer Überschwemmung, wenn dadurch das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird;
h)
Manipulation oder Störung der Versorgung mit Wasser, Strom oder anderen lebenswichtigen natürlichen Ressourcen, wenn dadurch das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird;
i)
Drohung mit der Begehung einer der unter den Buchstaben a) bis h) genannten Straftaten;
j)
Anführen einer terroristischen Vereinigung;
k)
Beteiligung an den Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Aktivitäten in dem Wissen, dass diese Beteiligung zu den kriminellen Aktivitäten der Gruppe beiträgt.
Im Sinne dieses Absatzes bezeichnet der Ausdruck ‚terroristische Vereinigung‘ einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die in Verabredung handeln, um terroristische Handlungen zu begehen. Der Ausdruck ‚organisierter Zusammenschluss‘ bezeichnet einen Zusammenschluss, der nicht zufällig zur unmittelbaren Begehung einer terroristischen Handlung gebildet wird und der nicht notwendigerweise förmlich festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Mitgliedschaft oder eine ausgeprägte Struktur hat.
(4) Die Liste im Anhang wird auf der Grundlage genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten erstellt, aus denen sich ergibt, dass eine zuständige Behörde – gestützt auf ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien – gegenüber den betreffenden Personen, Vereinigungen oder Körperschaften einen Beschluss gefasst hat, bei dem es sich um die Aufnahme von Ermittlungen oder um Strafverfolgung wegen einer terroristischen Handlung oder des Versuchs, eine terroristische Handlung zu begehen, daran teilzunehmen oder sie zu erleichtern oder um eine Verurteilung für derartige Handlungen handelt. Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als mit dem Terrorismus in Verbindung stehend bezeichnet worden sind oder gegen die er Sanktionen angeordnet hat, können in die Liste aufgenommen werden.
Im Sinne dieses Absatzes bezeichnet der Ausdruck ‚zuständige Behörde‘ eine Justizbehörde oder, sofern die Justizbehörden keine Zuständigkeit in dem von diesem Absatz erfassten Bereich haben, eine entsprechende zuständige Behörde in diesem Bereich.
…
(6) Die Namen von Personen oder Körperschaften, die in der Liste im Anhang aufgeführt sind, werden mindestens einmal pro Halbjahr einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen, um sicherzustellen, dass ihr Verbleib auf der Liste nach wie vor gerechtfertigt ist.“
32 Aus der Rechtsprechung zur Auslegung dieser Bestimmungen des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ergibt sich, dass das Verfahren, das nach dem Gemeinsamen Standpunkt zum Einfrieren von Geldern führen kann, auf zwei Ebenen stattfindet, nämlich auf nationaler und auf europäischer Ebene (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. März 2017, A u. a., C‑158/14, EU:C:2017:202, Rn. 84, und vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 203 und 204). Zunächst fasst eine zuständige nationale Behörde einen Beschluss, auf den die Definition in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zutrifft, gegenüber dem Betroffenen. Sodann beschließt der Rat auf der Grundlage genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten, aus denen sich ergibt, dass ein solcher Beschluss gefasst wurde, einstimmig, den Betroffenen auf die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern zu setzen (Urteile vom 12. Dezember 2006, Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat, T‑228/02, EU:T:2006:384, Rn. 117, und vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T‑256/07, EU:T:2008:461, Rn. 131).
33 Da die Union nicht über Mittel verfügt, um selbst Nachforschungen in Bezug auf die Beteiligung einer bestimmten Person an terroristischen Handlungen anzustellen, hat die Aufstellung des Erfordernisses eines vorherigen Beschlusses einer nationalen Behörde nämlich den Zweck, dass festgestellt werden soll, ob es für die Beteiligung der betreffenden Person an terroristischen Aktivitäten ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien gibt, die von den nationalen Behörden als zuverlässig angesehen werden und sie dazu veranlasst haben, zumindest Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen. So ergibt sich aus dem Verweis auf einen nationalen Beschluss sowie aus der Erwähnung von „genauen Informationen“ und „ernsthaften und schlüssigen Beweisen oder Indizien“ in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, dass dieser Gemeinsame Standpunkt zum Ziel hat, die Betroffenen zu schützen, indem sichergestellt wird, dass sie nur gestützt auf eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufgenommen werden, und dass der Gemeinsame Standpunkt diesem Ziel dadurch dienen soll, dass er einen von einer nationalen Behörde gefassten Beschluss voraussetzt (Urteile vom 15. November 2012, Al-Aqsa/Rat und Niederlande/Al-Aqsa, C‑539/10 P und C‑550/10 P, EU:C:2012:711, Rn. 68 und 69, und vom 26. Juli 2017, Rat/Hamas, C‑79/15 P, EU:C:2017:584, Rn. 24).
34 Aus dieser besonderen Form der Zusammenarbeit zwischen dem Rat und den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus, die durch den Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 festgelegt wurde, ergeben sich mehrere Konsequenzen.
35 Erstens ergibt sich daraus, dass nach Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 die erstmalige Aufnahme einer Person oder Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern das Vorliegen eines nationalen Beschlusses, der von einer zuständigen Behörde stammt, voraussetzt. Eine solche Voraussetzung ist hingegen in Art. 1 Abs. 6 dieses Gemeinsamen Standpunkts, der die Überprüfung der Aufnahme betrifft, nicht vorgesehen.
36 Zweitens folgt daraus, dass die dem Rat obliegende Beweislast dafür, dass das Einfrieren der Gelder einer Person, Vereinigung oder Körperschaft rechtlich gerechtfertigt ist, auf der Ebene des Verfahrens vor den Unionsorganen einen relativ beschränkten Geltungsbereich hat. Die besondere Form der Zusammenarbeit zwischen dem Rat und den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus begründet für den Rat nämlich die Verpflichtung, sich so weit wie möglich auf die Beurteilung durch die zuständige nationale Behörde zu verlassen (Urteile vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T‑256/07, EU:T:2008:461, Rn. 133 und 134, vom 4. Dezember 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T‑284/08, EU:T:2008:550, Rn. 53, und vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 282).
37 Diese Verpflichtung des Rates, sich so weit wie möglich auf die Beurteilung durch die zuständige nationale Behörde zu verlassen, betrifft vor allem die bei der erstmaligen Aufnahme nach Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 berücksichtigten nationalen Verurteilungsbeschlüsse. Insbesondere ist es nicht Sache des Rates, zu prüfen, ob sich der Sachverhalt, der in den nationalen Verurteilungsbeschlüssen festgestellt wurde, auf denen die erstmalige Aufnahme beruhte, tatsächlich so ereignet hat und wem die Handlungen zuzuschreiben sind. Eine solche dem Rat auferlegte Verpflichtung zur Überprüfung des Sachverhalts, der einem nationalen Beschluss zugrunde liegt, auf den sich eine erstmalige Aufnahme in die Listen betreffend das Einfrieren von Geldern gründet, würde unzweifelhaft das diesen Gemeinsamen Standpunkt kennzeichnende zweistufige System unterminieren, da die Gefahr eines Konflikts zwischen der Beurteilung der Richtigkeit dieses Sachverhalts durch den Rat und der Beurteilung und den Feststellungen durch die betreffende nationale Behörde bestünde, was umso unangemessener wäre, als der Rat nicht unbedingt über alle Daten und Beweise verfügt, die sich in der Akte dieser Behörde befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 240 bis 242 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Garantie für die Betroffenen, dass ihre Aufnahme in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern auf eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage gestützt ist, gerade darauf beruht, dass ein Beschluss einer nationalen Behörde vorliegen muss und dass die Unionsorgane der Würdigung der Beweise und Indizien durch diese nationale Behörde vertrauen (siehe oben, Rn. 33).
38 Was hingegen die Angaben anbelangt, auf die sich der Rat stützt, um im Hinblick auf Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zu belegen, dass die Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten fortbesteht, so ist es unabhängig davon, ob diese Angaben einem innerstaatlichen Beschluss einer zuständigen Behörde oder anderen Quellen entstammen, im Bestreitensfall Sache des Rates, die Stichhaltigkeit der in den Rechtsakten über den Verbleib auf den Listen genannten Tatsachenfeststellungen nachzuweisen, und es obliegt dem Unionsrichter, deren inhaltliche Richtigkeit zu prüfen, was auf die Prüfung hinausläuft, ob die betreffenden Tatsachen zutreffen und als Umstände einzustufen sind, die die Anwendung restriktiver Maßnahmen gegen die betreffende Person rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 52 bis 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Wie der Gerichtshof auch in seinem Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 60 bis 62 und 78 bis 80 und die dort angeführte Rechtsprechung), ausgeführt hat, besteht für den Rat zudem eine Begründungspflicht, sowohl was Vorfälle betrifft, die in den nach Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 berücksichtigten Beschlüssen festgestellt werden, als auch was Vorfälle betrifft, die in späteren nationalen Beschlüssen festgestellt werden, oder was Vorfälle betrifft, die vom Rat autonom, ohne Bezugnahme auf solche Beschlüsse, berücksichtigt werden.
40 Daraus folgt, dass bei jedem angefochtenen Rechtsakt danach zu unterscheiden ist, ob er auf Beschlüssen der zuständigen nationalen Behörden beruht, mit denen die erstmalige Aufnahme der Klägerin gerechtfertigt wurde, oder ob er sich auf spätere Beschlüsse dieser nationalen Behörden oder auf autonom vom Rat herangezogene Angaben stützt. Eine solche Unterscheidung ist umso notwendiger, als diese beiden Arten von Grundlagen durch unterschiedliche Vorschriften des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geregelt sind, wobei Erstere unter Art. 1 Abs. 4 und Letztere unter Art. 1 Abs. 6 dieses Gemeinsamen Standpunkts fallen.
41 Im vorliegenden Fall beruhen die Rechtsakte von 2014 zum einen auf einer autonomen Analyse mehrerer in der Begründung aufgeführter Vorfälle durch den Rat und zum anderen auf Beschlüssen der Behörden des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten und der Türkei. Die Rechtsakte von 2015 bis 2017 und die Beschlüsse von 2019 stützen sich hingegen ausschließlich auf Beschlüsse mehrerer nationaler Behörden, nämlich der Behörden des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten und Frankreichs. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass einige der berücksichtigten nationalen Beschlüsse die Grundlage für die erstmalige Aufnahme der Klägerin in die Liste waren, während andere, später erlassene Beschlüsse vom Rat im Rahmen seiner Überprüfung der Aufnahme der Klägerin in die Liste berücksichtigt wurden.
42 Daher sind die sechs ähnlichen Klagegründe, die gegen die angefochtenen Rechtsakte gerichtet sind, im Licht dieser Vorbemerkungen zu prüfen, wobei der spezifische Klagegrund in der Rechtssache T‑316/14 RENV, mit dem ein Verstoß gegen die Art. 4 und 51 der Charta gerügt wird und der sich allein gegen die Rechtsakte von 2014 richtet, zusammen mit dem Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geprüft wird (siehe unten, Rn. 166 und 175). Nachfolgend wird daher analysiert, ob diese Rechtsakte im Einklang mit Abs. 3 (erster Klagegrund), Abs. 4 (zweiter Klagegrund) und Abs. 6 (dritter Klagegrund) von Art. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 stehen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vierter Klagegrund) – wobei der in Rede stehende Klagegrund nach den in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ausschließlich auf einen Verstoß gegen diesen Grundsatz gestützt wird und nicht auch auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Subsidiarität –, ob die Begründungspflicht beachtet wurde (fünfter Klagegrund), und schließlich, ob die Verteidigungsrechte der Klägerin und ihr Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beachtet wurden (sechster Klagegrund). Begonnen wird mit der Prüfung des zweiten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geltend gemacht wird.
1. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
43 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zwischen der in seinem Abs. 4 geregelten erstmaligen Aufnahme einer Person oder Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern und der in seinem Abs. 6 geregelten Belassung einer Person oder Organisation auf der Liste unterschieden wird. Während die erstmalige Aufnahme einer Person oder Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern das Vorliegen eines nationalen Beschlusses, der von einer zuständigen Behörde stammt, voraussetzt, ist eine solche Voraussetzung für die Belassung des Namens dieser Person oder Organisation auf der Liste nicht vorgesehen, da dies im Wesentlichen eine Verlängerung der erstmaligen Aufnahme darstellt und voraussetzt, dass die vom Rat aufgrund des der erstmaligen Aufnahme zugrunde gelegten innerstaatlichen Beschlusses ursprünglich festgestellte Gefahr einer Beteiligung der betroffenen Person oder Organisation an terroristischen Aktivitäten fortbesteht (Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 59 bis 61, und vom 26. Juli 2017, Rat/Hamas, C‑79/15 P, EU:C:2017:584, Rn. 37 bis 39).
44 Daraus folgt zum einen, dass der Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zur Stützung einer Klage gegen einen solchen Beschluss einschlägig ist, wenn sich der Rat bei der Entscheidung über den Verbleib einer Person oder Organisation auf der Liste nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 weiterhin auf eine nationale Entscheidung einer zuständigen Behörde stützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 229 und 230), was im Übrigen vom Rat nicht bestritten wird. Hinzuzufügen ist insoweit, dass der Gerichtshof diese Relevanz nicht in Frage gestellt hat, als er im Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 38), entschieden hat, dass das Gericht keinen Rechtsfehler begangen hatte, als es die Beschlüsse über den Verbleib auf den Listen ausschließlich anhand von Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 prüfte. Der Gerichtshof hat sich nämlich zur Prüfung der Begründungspflicht des Rates durch das Gericht geäußert und dabei im Wesentlichen festgestellt, dass die Einhaltung dieser Pflicht anhand der unter Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 fallenden Gesichtspunkte zu prüfen ist, und er hat im Übrigen die Prüfung aller weiteren Klagegründe, u. a. der Klagegründe eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts, an das Gericht zurückverwiesen.
45 Daraus folgt zum anderen, dass dieser Klagegrund im vorliegenden Fall allein in Bezug auf nationale Beschlüsse zu prüfen sein wird, auf denen die erstmalige Aufnahme der Klägerin in die Liste im Jahr 2002 beruht, und zwar
–
die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs vom 29. März 2001;
–
die Beschlüsse der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 8. Oktober 1997 und vom 31. Oktober 2001.
46 Das Vorbringen zu den französischen Gerichtsentscheidungen, die nach der erstmaligen Aufnahme der Klägerin ergangen sind, sowie das Vorbringen zu den Beschlüssen über die Folgemaßnahmen zu den oben genannten Beschlüssen der Behörden des Vereinigten Königreichs im Jahr 2014 und der Behörden der Vereinigten Staaten in den Jahren 2013 und 2019 sowie den vom Rat eigenständig herangezogenen Gesichtspunkten werden dagegen im Rahmen der Prüfung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 behandelt.
47 Gleiches gilt für das Vorbringen zu den in den Begründungen der Rechtsakte von 2014 angeführten Urteilen der türkischen Staatssicherheitsgerichte. Auch wenn bestimmte Passagen dieser Begründungen verwirrend erscheinen mögen, da sie sich auf Verurteilungen der PKK durch die türkischen Staatssicherheitsgerichte beziehen, von denen einige aus der Zeit vor 2002 stammen, und da im Anschluss an die Aufzählung dieser Verurteilungen formell auf das Vorliegen von Beschlüssen nach Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geschlossen wird, kann aus der allgemeinen Schlussfolgerung in Bezug auf die Überprüfung der streitigen Aufnahmen in die Listen, in der nur der Fortbestand der Beschlüsse des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten erwähnt wird, abgeleitet werden, dass für die Zwecke der oben genannten Vorschrift des Gemeinsamen Standpunkts nur die letztgenannten Beschlüsse berücksichtigt wurden; dies wird vom Rat in seiner Klagebeantwortung bestätigt und von der Klägerin im Übrigen in der Erwiderung eingeräumt.
a)
Zum Beschluss des Vereinigten Königreichs
48 Die Klägerin bestreitet, dass die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs vom 29. März 2001 als Beschluss einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft werden kann; dabei stützt sie sich auf den Begriff „zuständige Behörde“, die für den Nachweis, dass ein solcher Beschluss erlassen wurde, erforderlichen Angaben sowie den Zeitpunkt der in dieser Verfügung festgestellten Vorfälle.
1) Zur Einstufung des Innenministers des Vereinigten Königreichs als „zuständige Behörde“
49 Die Klägerin ist der Ansicht, dass der Innenminister des Vereinigten Königreichs nicht als „zuständige Behörde“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft werden könne. Er sei nämlich keine Justiz‑, sondern eine Verwaltungsbehörde. Seine Verfügungen seien Verwaltungshandlungen und würden nicht am Ende eines mehrstufigen Verfahrens, wie es für strafrechtliche Entscheidungen kennzeichnend sei, erlassen. Zudem seien die in diesen Verfügungen ausgesprochenen Verbote unbegrenzt gültig, da sie nicht regelmäßig überprüft würden. Der Innenminister verfüge im Übrigen über ein weites Ermessen, da die Befugnisse des Parlaments des Vereinigten Königreichs auf eine kollektive Beurteilung der betreffenden Organisationen beschränkt seien, ohne dass es die vom Minister berücksichtigten vertraulichen Informationen kenne.
50 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht wiederholt die Auffassung vertreten hat, dass eine Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs einen Beschluss einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T‑256/07, EU:T:2008:461, Rn. 144 und 145, vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 106, vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 258 bis 285, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 71 bis 96, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat, T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 108 bis 133, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 112).
51 Auch wenn Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 2 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eine Präferenz für Beschlüsse von Justizbehörden vorsieht, ist nämlich nach der Rechtsprechung die Berücksichtigung von Beschlüssen von Verwaltungsbehörden keineswegs ausgeschlossen, wenn diese Behörden zum einen nach nationalem Recht tatsächlich befugt sind, restriktive Beschlüsse in Bezug auf Vereinigungen, die am Terrorismus beteiligt sind, zu erlassen, und zum anderen, obwohl sie nur Verwaltungsbehörden sind, als den Justizbehörden „entsprechend“ angesehen werden können (Urteile vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 107, vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 259, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 72, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat, T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 111, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 114).
52 Verwaltungsbehörden können als den Justizbehörden entsprechend angesehen werden, wenn gegen ihre Entscheidungen ein gerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, der sowohl tatsächliche als auch rechtliche Aspekte betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T‑256/07, EU:T:2008:461, Rn. 145, vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 260, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 73, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat, T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 112, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 115).
53 Folglich hindert der Umstand, dass es im betreffenden Staat Gerichte gibt, die für die Terrorismusbekämpfung zuständig sind, den Rat nicht daran, Beschlüsse der für den Erlass restriktiver Maßnahmen auf dem Gebiet des Terrorismus zuständigen nationalen Verwaltungsbehörde zu berücksichtigen (Urteile vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 108, vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV,EU:T:2018:966, Rn. 261, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 74, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat,T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 113, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 116).
54 Wie sich aus der Begründung der Rechtsakte von 2015 bis 2017 und der Beschlüsse von 2019 ergibt, kann gegen die Verfügungen des Innenministers des Vereinigten Königreichs ein Rechtsbehelf bei der Proscribed Organisations Appeal Commission (Beschwerdeausschuss für verbotene Organisationen, Vereinigtes Königreich, im Folgenden: POAC) eingelegt werden, die in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht unter Anwendung der für die gerichtliche Kontrolle geltenden Grundsätze entscheidet, und jede Partei kann gegen die Entscheidung der POAC ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel bei einem Rechtsmittelgericht einlegen, wenn dies von der POAC selbst oder ersatzweise vom Rechtsmittelgericht gestattet wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 262, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 75, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat,T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 114, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 117).
55 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 von einer Verwaltungsbehörde, die einer Justizbehörde entspricht, und mithin von einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 263, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 76, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat, T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 115, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 118).
56 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 nach der Rechtsprechung nicht verlangt, dass der Beschluss der zuständigen Behörde im Rahmen eines Strafverfahrens im engeren Sinne ergeht, sofern das fragliche nationale Verfahren in Anbetracht der Ziele, die mit dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 verfolgt werden, die Bekämpfung des Terrorismus im weiteren Sinne durch den Erlass präventiver oder repressiver Maßnahmen zum Gegenstand hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 269 bis 271, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 82 bis 84, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat, T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 119 bis 121, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 119).
57 Im vorliegenden Fall werden mit der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 Verbotsmaßnahmen gegen Organisationen verhängt, die als terroristisch eingestuft werden. Sie ist daher, wie von der Rechtsprechung verlangt, im Rahmen eines nationalen Verfahrens ergangen, das in erster Linie darauf gerichtet ist, zur Bekämpfung des Terrorismus gegen die PKK präventive oder repressive Maßnahmen zu verhängen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 115, vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 272 und 273, vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 84, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat,T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 121, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 120).
58 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtenen Rechtsakte nicht deshalb für nichtig erklärt werden können, weil sich der Rat in den entsprechenden Begründungen bei der Aufnahme des Namens der Klägerin in die streitigen Listen auf die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 stützte, der eine Verwaltungsbehörde ist und dessen Beschlüsse keinen strafrechtlichen Charakter haben.
59 Diese Schlussfolgerung wird durch das übrige Vorbringen der Klägerin zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes nicht in Frage gestellt.
60 Was erstens das gerügte Fehlen eines für Gerichtsverfahren kennzeichnenden mehrstufigen Verfahrens anbelangt, geht aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 nicht hervor, dass der in Rede stehende nationale Beschluss nur dann als Grundlage für eine Aufnahme in die Liste dienen kann, wenn er ein mehrstufiges Verfahren abschließt (Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 124).
61 Davon abgesehen ist das Verfahren, in dem Verbotsverfügungen des Innenministers des Vereinigten Königreichs erlassen werden, mehrstufig. Um ein Verbot aussprechen zu können, muss diese Behörde zunächst sorgfältig die Beweise prüfen, auf die sich die begründete Annahme stützt, dass die Organisation am Terrorismus beteiligt ist. Zu diesen Beweisen gehören Informationen aus öffentlichen Quellen und von Nachrichtendiensten. Zudem ergeht die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs nach Konsultation der gesamten Regierung sowie der Nachrichtendienste und der Polizeibehörden. Schließlich unterliegt die Verbotsverfügung der Kontrolle und Genehmigung beider Kammern des Parlaments des Vereinigten Königreichs im Rahmen des Ratifizierungsverfahrens (Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 125 bis 128).
62 Zweitens ist hinsichtlich der gerügten unbegrenzten Gültigkeit des mit der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs verhängten Verbots zum einen darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die Verfügung nicht jährlich überprüft werden muss, den Rat nicht daran hindert, sich auf sie zu stützen, wenn er die von ihr erfasste Einrichtung in die Listen betreffend das Einfrieren von Geldern aufnimmt, da er im Rahmen seiner Überprüfungspflicht zu klären hat, ob dieser Beschluss, andere Beschlüsse oder spätere Tatsachen die Belassung der Einrichtung auf den Listen rechtfertigen (Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 131).
63 Zum anderen kann eine Organisation oder eine Person, die von einer Verbotsmaßnahme betroffen ist, gemäß Section 4 des UK Terrorism Act 2000 beim Innenminister schriftlich beantragen, die Zweckmäßigkeit einer Löschung von der Liste der verbotenen Organisationen zu prüfen, und der Antragsteller kann, wenn der Minister einen solchen Antrag zurückweist, gemäß Section 5 des UK Terrorism Act 2000 einen Rechtsbehelf bei der POAC einlegen, gegen deren Entscheidungen wiederum ein Rechtsmittel eröffnet ist (Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 132) (siehe oben, Rn. 54).
64 Daraus folgt, dass die Verbotsverfügungen des Innenministers des Vereinigten Königreichs, auch wenn der UK Terrorism Act 2000 keine jährliche Überprüfung vorsieht, keine unbegrenzte Wirkung haben.
65 Drittens ist hinsichtlich des beanstandeten weiten Ermessens des Innenministers des Vereinigten Königreichs beim Verbot terroristischer Organisationen hervorzuheben, dass er die Verbotsverfügungen nicht aufgrund politischer Erwägungen erlässt, sondern in Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts, die terroristische Handlungen definieren (Section 3 des UK Terrorism Act 2000). Entgegen dem Vorbringen der Klägerin zu dieser Vorschrift bezieht sich die darin enthaltene Angabe, dass der Innenminister eine Einrichtung verbietet, wenn er „meint, dass sie an terroristischen Handlungen beteiligt ist“, auf den für die Aufnahme in die Liste erforderlichen Beweisstandard (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2016, Al-Ghabra/Kommission, T‑248/13, EU:T:2016:721, Rn. 112 bis 119); dies macht eine Ermessensentscheidung noch unwahrscheinlicher, da dieses Beweisniveau einen Grad der Überzeugung und somit der Genauigkeit der Begründung voraussetzt, der über bloße Verdachtsmomente hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2016, Al-Ghabra/Kommission, T‑248/13, EU:T:2016:721, Rn. 114 und 115).
66 Hinzu kommt, dass das weite Ermessen des Innenministers des Vereinigten Königreichs jedenfalls durch die parlamentarische Kontrolle und Billigung seiner Verfügungsentwürfe eingeschränkt wird. Das Gericht hat speziell zu Verfügungsentwürfen des Innenministers des Vereinigten Königreichs bereits klargestellt, dass alle Mitglieder des Unterhauses, einer der beiden Kammern des Parlaments des Vereinigten Königreichs, die den Verfügungsentwurf ratifizieren müssen, zu jeder Organisation, die in der Liste des genannten Entwurfs aufgeführt ist, eine Zusammenfassung des Sachverhalts erhalten, so dass das Unterhaus individuell prüfen kann, ob sich die dortigen Debatten tatsächlich auf einzelne Organisationen beziehen – dies belegen im Übrigen die im vorliegenden Fall von der Klägerin in der Klageschrift wiedergegebenen Stellungnahmen zur PKK während der Parlamentsdebatte, die zur Ratifizierung der Verfügung von 2001 führte –, und es dem Unterhaus in jedem Fall freisteht, den Verfügungsentwurf nicht anzunehmen (Urteil vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 122; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 136 und 137).
67 Nach alledem ist das gesamte Vorbringen, mit dem die Einstufung des Innenministers des Vereinigten Königreichs als „zuständige Behörde“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 beanstandet wird, zurückzuweisen.
2) Zu den genauen Informationen bzw. einschlägigen Akten, aus denen sich ergibt, dass ein solcher Beschluss von einer zuständigen Behörde gefasst wurde
68 Die Klägerin wirft dem Rat im Wesentlichen vor, keine genauen Informationen bzw. einschlägigen Akten angegeben zu haben, die zeigten, dass die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs einen Beschluss einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 darstelle. Dieser Vorwurf umfasst nach den Schriftsätzen der Klägerin drei Rügen. Erstens habe der Rat nicht angegeben, weshalb er den Innenminister des Vereinigten Königreichs als „zuständige Behörde“ ansehe. Zweitens enthielten die angefochtenen Rechtsakte keine Beschreibung der Gründe, auf die sich die Verfügung von 2001 stütze. Drittens werde in diesen Rechtsakten auch nicht angegeben, weshalb der Rat davon ausgegangen sei, dass die betreffenden Handlungen unter den Begriff der terroristischen Handlung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 fielen.
69 Zur ersten Rüge ist festzustellen, dass sie eine formale Kritik an der Beachtung der Begründungspflicht darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 329 bis 333) und daher im Rahmen des Klagegrundes eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht geprüft wird (siehe unten, Rn. 221 bis 224).
70 Hinsichtlich der anderen beiden Rügen ist es zweckmäßig, zunächst auf den Inhalt der Passagen in den Begründungen der angefochtenen Rechtsakte hinzuweisen, die der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 gewidmet sind.
71 In den Rechtsakten von 2014 wies der Rat darauf hin, dass der Innenminister des Vereinigten Königreichs die PKK als an terroristischen Handlungen beteiligte Organisation verboten habe, da sie solche Handlungen begangen und an ihnen teilgenommen habe. Daraus schloss er, nachdem er auch andere nationale Entscheidungen angeführt hatte, dass die Beschlüsse von zuständigen Behörden im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gefasst worden seien (S. 4 der Begründung).
72 In den Rechtsakten von 2015 bis 2017 und in den Beschlüssen von 2019, deren Begründungen in diesem Punkt übereinstimmen, führt der Rat aus, er habe sich auf Entscheidungen gestützt, die er als Beschlüsse einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft habe, u. a. auf die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001. Er habe die Tatsachen geprüft, auf denen diese Entscheidungen beruhten, und festgestellt, dass sie unter die Begriffe „terroristische Handlungen“ und „Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind“, im Sinne von Art. 1 Abs. 2 und 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 fielen (Rn. 1 bis 6 der Begründung). Zudem führt der Rat in dem diese Verfügung betreffenden Anhang A der Begründung insbesondere aus, die Verfügung sei im Jahr 2001 erlassen worden, weil der damalige Innenminister des Vereinigten Königreichs Gründe für die Annahme gehabt habe, dass die PKK terroristische Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 begangen und daran teilgenommen habe (Rn. 3, 4 und 16). Die fraglichen terroristischen Handlungen umfassten terroristische Anschläge, die seit 1984 begangen worden seien und der PKK zugerechnet würden, und die PKK habe Anfang der 1990er Jahre eine terroristische Kampagne gegen westliche Interessen und Investitionen geführt, um verstärkten Druck auf die türkische Regierung auszuüben, und dabei u. a. westliche Touristen entführt sowie in den Jahren 1993 und 1994 einen Anschlag auf eine Raffinerie und Attentate auf touristische Einrichtungen verübt, bei denen ausländische Touristen zu Tode gekommen seien. Zwar habe die PKK diese Kampagne zwischen 1995 und 1999 offenbar aufgegeben, in diesem Zeitraum aber weiterhin mit Anschlägen gegen türkische touristische Einrichtungen gedroht. Diese Sachverhalte fielen daher unter die in Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Ziff. i und ii des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genannten Ziele und die in Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Ziff. iii Buchst. a, c, d, f, g und i des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführten Gewalttaten (Rn. 16).
73 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass sich nach der Rechtsprechung aus den gemäß Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 erforderlichen „genauen Informationen bzw. einschlägigen Akten“ ergeben muss, dass eine zuständige nationale Behörde gegenüber den betreffenden Personen oder Körperschaften einen unter die Definition in dieser Vorschrift fallenden Beschluss gefasst hat, um es ihnen u. a. zu ermöglichen, diesen Beschluss zu identifizieren, ohne dass sich die Informationen aber auf den Inhalt des Beschlusses beziehen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 148 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden kann, dass der Rat in den Rechtsakten von 2014 zur Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 „[hinreichend] genaue Informationen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geliefert hat, indem er das genaue Datum dieser Verfügung, ihren Verfasser und ihre Rechtsgrundlage, den UK Terrorism Act 2000, angeführt hat.
75 Gleiches gilt für die Rechtsakte von 2015 bis 2017 und die Beschlüsse von 2019, die ebenfalls Angaben zum genauen Datum, zum Verfasser und zur Rechtsgrundlage der Verfügung von 2001 enthalten.
76 Daraus folgt, dass das gesamte Vorbringen zurückzuweisen ist, mit dem beanstandet wird, dass der Rat die in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 festgelegten Anforderungen hinsichtlich „genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten …, aus denen sich ergibt, dass eine zuständige Behörde … einen Beschluss gefasst hat“, nicht beachtet habe.
3) Zum Zeitpunkt der terroristischen Handlungen, die das Verbot der PKK durch den Innenminister des Vereinigten Königreichs begründeten
77 Die Kritik, dass die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 auf Vorfällen beruhe, die zu weit zurücklägen, um im Rahmen von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 sachgerecht berücksichtigt werden zu können, wird nur in der Rechtssache T‑148/19 vorgebracht.
78 Vorab ist klarzustellen, dass der im vorliegenden Fall zu beurteilende „zeitliche Abstand“ die Zeit zwischen den in der Verfügung von 2001 berücksichtigten Vorfällen und dem Datum der Verfügung betrifft, wie die Klägerin im Übrigen zutreffend geltend macht.
79 Da dieses Argument zur Stützung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 vorgebracht wird, ist hier nur über die Einstufung der Verfügung von 2001 als „Beschluss einer zuständigen Behörde“ im Sinne dieser Vorschrift zu entscheiden, insbesondere in Bezug auf den Zeitpunkt der in der Verfügung berücksichtigten Vorfälle (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2016:723, Nr. 80), wobei der zeitliche Abstand zwischen den in der Verfügung berücksichtigten Vorfällen und ihrem Erlass einerseits und den angefochtenen Beschlüssen über den Verbleib auf der Liste andererseits im Rahmen des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geprüft wird.
80 Zur Beurteilung des betreffenden zeitlichen Abstands kann im vorliegenden Fall festgestellt werden, dass die letzten in der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 berücksichtigten Tatsachen nach der Beschreibung in den Beschlüssen von 2019 in angedrohten Anschlägen auf türkische touristische Einrichtungen im Zeitraum von 1995 bis 1999 bestehen (siehe oben, Rn. 72). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Rates ist, zu überprüfen, ob sich der in nationalen Verurteilungsentscheidungen wie der Verfügung von 2001 festgestellte Sachverhalt, auf dem die erstmalige Aufnahme in die Listen beruht, tatsächlich so ereignet hat (siehe oben, Rn. 37). Nach gefestigter Rechtsprechung ist diese Verfügung einer Verurteilungsentscheidung gleichzusetzen, da sie insofern abschließend ist, als sich ihr keine Ermittlungen anschließen müssen, und da sie das Verbot der betreffenden Personen und Körperschaften im Vereinigten Königreich zum Gegenstand hat, was strafrechtliche Konsequenzen für Personen, die jegliche Art von Verbindung zu ihnen unterhalten, nach sich zieht (vgl. Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 155 und 156 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
81 Daraus folgt, dass die betreffenden Drohungen mit Anschlägen im vorliegenden Fall berücksichtigt werden können, obwohl die Klägerin ihre Existenz bestreitet und geltend macht, dass die Begründungen keine Anhaltspunkte oder Argumente zur Glaubhaftmachung dieser Drohungen enthielten. Daraus folgt zudem, dass der zeitliche Abstand zwischen den letzten berücksichtigten Tatsachen (1999) und dem Datum der Verfügung von 2001 etwa zwei Jahre beträgt. Ein solcher zeitlicher Abstand von weniger als fünf Jahren ist nicht als übermäßig lang anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 208 und die dort angeführte Rechtsprechung).
82 Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 wurde somit nicht wegen des Zeitpunkts der in der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001, die gemäß dieser Vorschrift berücksichtigt wurde, herangezogenen Vorfälle verletzt.
83 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die gegen die Heranziehung der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 in den angefochtenen Rechtsakten gerichteten Rügen zurückzuweisen sind.
b)
Zu den Beschlüssen in den Vereinigten Staaten
84 Die Klägerin bestreitet, dass die Beschlüsse der Behörden der Vereinigten Staaten von 1997 und 2001 als Beschlüsse einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft werden können; sie stützt ihre Argumentation auf den Begriff „zuständige Behörde“ und die für den Nachweis, dass solche Beschlüsse erlassen wurden, erforderlichen Angaben.
85 Insoweit ist auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung hinzuweisen, wonach sich der in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 verwendete Begriff „zuständige Behörde“ nicht auf die Behörden der Mitgliedstaaten beschränkt, sondern grundsätzlich auch Behörden von Drittstaaten einschließen kann (Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE,C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 22, vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 244, und vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 43).
86 Diese Auslegung findet ihre Rechtfertigung zum einen im Wortlaut von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, der den Begriff „zuständige Behörden“ nicht auf die Behörden der Mitgliedstaaten beschränkt, und zum anderen im Ziel dieses Gemeinsamen Standpunkts, der zur Umsetzung der Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen angenommen wurde, mit der die weltweite Bekämpfung des Terrorismus durch die systematische und enge Zusammenarbeit aller Staaten intensiviert werden soll (Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 23, vom 14. Dezember 2018, Hamas/Rat, T‑400/10 RENV, EU:T:2018:966, Rn. 245, und vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 44).
87 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung muss der Rat jedoch, bevor er sich auf den Beschluss einer Behörde eines Drittstaats stützt, prüfen, ob dieser Beschluss unter Beachtung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ergangen ist (Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 24 und 31, und vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 58).
88 Daher ist zunächst das Vorbringen zu prüfen, mit dem sich die Klägerin gegen diese vom Rat im vorliegenden Fall vorgenommene Überprüfung wendet. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Notwendigkeit, diese Überprüfung vorzunehmen, insbesondere aus dem Zweck ergibt, der mit dem in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 festgelegten Erfordernis, die erstmalige Aufnahme einer Person oder Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern auf einen Beschluss einer zuständigen Behörde zu stützen, verfolgt wird. Dieses Erfordernis dient dem Schutz der betreffenden Personen und Organisationen, indem sichergestellt wird, dass ihre erstmalige Aufnahme in die Liste nur auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Al-Aqsa/Rat und Niederlande/Al-Aqsa, C‑539/10 P und C‑550/10 P, EU:C:2012:711, Rn. 68). Dieses Ziel lässt sich aber nur erreichen, wenn die Beschlüsse von Drittstaaten, auf die der Rat die erstmalige Aufnahme von Personen oder Organisationen in die Liste stützt, unter Wahrung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz erlassen wurden (Urteil vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE,C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 26).
89 Im vorliegenden Fall führt der Rat in Anhang C – der in den Rechtsakten von 2015 bis 2017 und in den Beschlüssen von 2019 identisch ist – der Begründungen zu den Benennungen der PKK als FTO und SDGT durch die Behörden der Vereinigten Staaten insbesondere aus, die Benennung als FTO sei am 8. Oktober 1997 erfolgt und die Benennung als SDGT am 31. Oktober 2001 (Rn. 3 und 4).
90 Die Benennungen als FTO würden vom Außenminister der Vereinigten Staaten nach fünf Jahren von Amts wegen überprüft, wenn sie nicht in der Zwischenzeit Gegenstand eines Antrags auf Widerruf gewesen seien. Die betreffende Organisation selbst könne alle zwei Jahre verlangen, dass ihre Benennung widerrufen werde, wobei sie Beweise dafür vorlegen müsse, dass sich die Umstände, auf deren Grundlage sie als FTO benannt worden sei, grundlegend geändert hätten. Der Außenminister der Vereinigten Staaten und der United States Congress (Kongress der Vereinigten Staaten, Vereinigte Staaten von Amerika) könnten eine Benennung als FTO auch von Amts wegen widerrufen. Zudem könne die betreffende Organisation gegen die Benennung als FTO beim Circuit Court of Appeals for the District of Columbia (Bundesberufungsgericht für den District of Columbia, Vereinigte Staaten) Klage erheben. Benennungen als SDGT unterlägen keiner regelmäßigen Überprüfung, könnten jedoch vor den Bundesgerichten angefochten werden (Rn. 8 bis 11 von Anhang C der Begründungen). Die Benennungen der Klägerin als FTO und SDGT seien weder vor den Gerichten der Vereinigten Staaten angefochten worden noch Gegenstand eines laufenden Gerichtsverfahrens (Rn. 11 und 12 von Anhang C der Begründungen). Angesichts der Überprüfungsverfahren und der Beschreibung der zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe würden die Verteidigungsrechte und der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz durch die geltenden Rechtsvorschriften der Vereinigten Staaten gewährleistet (Rn. 13 von Anhang C der Begründungen).
91 Das Gericht hat jedoch bereits in mehreren Urteilen, in denen es sich zu Begründungen geäußert hat, die mit den Begründungen in den Anhängen der Rechtsakte von 2015 bis 2017 und der Beschlüsse von 2019 identisch sind, entschieden, dass diese nicht ausreichten, um feststellen zu können, dass der Rat im erforderlichen Maß geprüft hat, ob in den Vereinigten Staaten von Amerika der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte beachtet wurde (Urteile vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 54 bis 65, vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat, T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 93 bis 104, und vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 65 bis 76). Zudem hat der Gerichtshof im einzigen Rechtsmittelurteil, in dem er sich zu einem Rechtsmittelgrund geäußert hat, mit dem die Analyse des Rückgriffs des Rates auf die amerikanischen Beschlüsse durch das Gericht kritisiert wurde (Urteil vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557), entschieden, dass diese Einwände unzulässig sind und dass das angefochtene Urteil in Bezug auf die Analyse des Gerichts rechtskräftig ist (Urteil vom 23. November 2021, Rat/Hamas, C‑833/19 P, EU:C:2021:950, Rn. 36 bis 40 und 82).
92 Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte gebietet es, dass Personen, die von Entscheidungen betroffen sind, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die sich die fraglichen Entscheidungen zu ihren Lasten stützen, in sachdienlicher Weise vorzutragen. Im Fall von Maßnahmen, die darauf abzielen, die Namen von Personen oder Organisationen in eine Liste betreffend das Einfrieren von Geldern aufzunehmen, impliziert dieser Grundsatz, dass die Gründe für die Maßnahmen den betreffenden Personen oder Organisationen gleichzeitig mit ihrem Erlass oder unmittelbar danach mitgeteilt werden (vgl. Urteil vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 65 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Hinsichtlich der dem Beschluss von 2001 zugrunde liegenden Rechtsvorschriften der Vereinigten Staaten über die Benennung als SDGT wird in der vom Rat in den Begründungen gelieferten allgemeinen Beschreibung keinerlei Verpflichtung der Behörden der Vereinigten Staaten festgestellt, den Betroffenen eine Begründung zu übermitteln oder diese Beschlüsse zu veröffentlichen, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte beachtet wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 69 und 70).
94 Die dem Beschluss von 1997 zugrunde liegenden Rechtsvorschriften über die Benennung als FTO sehen zwar eine Veröffentlichung der in Rede stehenden Entscheidungen im Bundesregister vor. Aus den Begründungen geht jedoch nicht hervor, dass neben dem Tenor dieser Entscheidungen eine wie auch immer geartete Begründung veröffentlicht wird – wie im Übrigen die Auszüge aus dem Bundesregister belegen, die als Anlage zur Klagebeantwortung in der Rechtssache T‑316/14 RENV übermittelt worden sind – oder der Klägerin in irgendeiner Weise zur Verfügung gestellt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 71 bis 75). Die in den Begründungen erwähnte „Verwaltungsakte“ des Außenministeriums der Vereinigten Staaten über die PKK von 2013 oder 2019, über die die Behörden der Vereinigten Staaten verfügen sollen, wurde lange nach den Beschlüssen der Vereinigten Staaten von 1997 und 2001 erstellt, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie Daten zu diesen Beschlüssen und ihren Gründen enthält. Überdies hat der Rat die Voraussetzungen für den Zugang zur Verwaltungsakte nicht dargelegt, sondern sich, und dies im Übrigen nur in seinen Schriftsätzen, auf die Behauptung beschränkt, dass die Klägerin ihr Recht auf Akteneinsicht nicht ausgeübt habe.
95 Eine solche Veröffentlichung des Tenors des Beschlusses von 1997 im Bundesregister und somit die bloße Erwähnung dieser Veröffentlichung in den Begründungen reicht aber nicht aus, um feststellen zu können, dass der Rat im erforderlichen Maß geprüft hat, ob in den Vereinigten Staaten von Amerika der Grundsatz der Verteidigungsrechte gewahrt wurde (Urteil vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 76).
96 Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall – wie das Gericht in seinen Urteilen vom 6. März 2019, Hamas/Rat (T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 65), vom 10. April 2019, Gamaa Islamya Égypte/Rat (T‑643/16, EU:T:2019:238, Rn. 104), und vom 4. September 2019, Hamas/Rat (T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 76), entschieden hat – davon auszugehen ist, dass die Beschlüsse der Vereinigten Staaten nicht als Beschlüsse zuständiger Behörden im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 die Grundlage für die Rechtsakte von 2015 bis 2017 und die Beschlüsse von 2019 bilden konnten, ohne dass die Frage der Wahrung des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geprüft zu werden braucht.
97 Die Rechtsakte von 2014 sind erst recht mit diesem Mangel behaftet, da sich der Rat in den entsprechenden Begründungen darauf beschränkt, die gerichtlichen und behördlichen Kontrollen zu erwähnen, denen die in Rede stehenden Entscheidungen unterworfen sein können, ohne eine wie auch immer geartete Verpflichtung der Behörden der Vereinigten Staaten anzusprechen, den Betroffenen eine Begründung zu übermitteln oder die Beschlüsse zu veröffentlichen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass der Rat bei der Erwähnung der Beschlüsse der Vereinigten Staaten in den Rechtsakten von 2014 nicht einmal ihr Datum angibt, woraus sich ergibt, dass auch diese Rechtsakte den Anforderungen von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, wonach genaue Informationen bereitzustellen sind, die zeigen, dass ein Beschluss von einer zuständigen Behörde erlassen wurde, nicht genügen (siehe oben, Rn. 74 und 75).
98 Nach alledem ist dem Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gerügt wird, insoweit stattzugeben, als sich die angefochtenen Rechtsakte auf die Beschlüsse der Vereinigten Staaten von 1997 und 2001 stützen, während er zurückzuweisen ist, soweit sie sich auf die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 stützen.
2. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
99 Da dem Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 in Bezug auf die Beschlüsse der Vereinigten Staaten von 1997 und 2001 stattgegeben wird, ist der vorliegende Klagegrund nicht zu prüfen, soweit er sich gegen die Einstufung der in diesen Beschlüssen festgestellten Vorfälle als terroristische Handlungen richtet.
100 Die Klägerin trägt in den Rechtssachen T‑316/14 RENV und T‑148/19 zwei Arten von Argumenten zur Stützung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 vor. Mit einer Reihe von ihnen bestreitet sie allgemein, bei ihren Handlungen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts um die Selbstbestimmung ein terroristisches Ziel verfolgt zu haben, und mit anderen stellt sie speziell die in dieser Bestimmung genannten terroristischen Ziele in Abrede, die mit einigen der in den Begründungen aufgeführten Handlungen verfolgt worden sein sollen. Nur in der Rechtssache T‑148/19 macht sie zudem geltend, sie könne nicht als „terroristische Vereinigung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft werden, da sie keinen organisierten Zusammenschluss bilde, der in Verabredung handle, um terroristische Handlungen zu begehen.
101 Da der Rat in der Rechtssache T‑148/19 sowohl die Zulässigkeit als auch die Erheblichkeit des vorliegenden Klagegrundes bestreitet, ist mit der Prüfung dieser Aspekte zu beginnen, bevor auf seine Begründetheit eingegangen wird.
a)
Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
102 Der Rat macht geltend, der vorliegende Klagegrund sei unzulässig, da er durch keinerlei Beweise untermauert werde.
103 Diese Einrede der Unzulässigkeit ist zurückzuweisen.
104 Nach Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs, der gemäß ihrem Art. 53 Abs. 1 und Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, muss die Klageschrift den Streitgegenstand, die geltend gemachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Nach ständiger Rechtsprechung muss diese Darstellung hinreichend klar und deutlich sein, damit der Beklagte sein Verteidigungsvorbringen vorbereiten und das Gericht über die Klage, gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, entscheiden kann. Im Interesse der Rechtssicherheit und einer ordnungsgemäßen Rechtspflege ist eine Klage nur zulässig, wenn sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sie gestützt wird, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben. Hierzu ist es insbesondere erforderlich, dass der Kläger zur Stützung seines Klagegrundes eine Argumentation vorbringt, die es dem Beklagten sowie dem Unionsrichter ermöglicht, ihn zu verstehen und sich dazu zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2018, BSCA/Kommission, T‑818/14, EU:T:2018:33, Rn. 94 bis 96 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
105 Hingegen braucht der Kläger keine Beweise zur Stützung des von ihm geltend gemachten Klagegrundes vorzulegen, da die Frage, ob der Klagegrund durch solche Beweise untermauert wird, im Rahmen der Beurteilung seiner Begründetheit zu behandeln ist und das Fehlen von Beweisen zur Zurückweisung des Klagegrundes als unbegründet führen kann. Die Bezugnahme auf die „tatsächlichen Umstände“, die in der Klageschrift in gedrängter Form angeführt werden müssen, in der oben genannten Rechtsprechung bezieht sich nämlich auf die tatsächlichen Gründe, die es ermöglichen, die Klageschrift verständlich zu machen, unabhängig davon, ob diese tatsächlichen Gründe durch Beweise untermauert werden (siehe oben, Rn. 104).
106 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin eine detaillierte Argumentation zur Stützung des ersten Klagegrundes vorgelegt, dem mehr als 60 Randnummern der Klageschrift in der Rechtssache T‑148/19 gewidmet sind; dies bestreitet der Rat nicht, und im Übrigen geht er auf jedes der von der Klägerin zur Stützung ihres Klagegrundes vorgetragenen Argumente detailliert ein. Der Klagegrund ist folglich zulässig.
b)
Zur Erheblichkeit des Klagegrundes
107 Die Klägerin macht geltend, sie bilde keinen organisierten Zusammenschluss, der in Verabredung handle, um terroristische Handlungen zu begehen. Mit „PKK“ würden sowohl eine Partei, die innerhalb eines vielschichtigen „Komplexes“ organisiert sei, als auch der „Komplex“ selbst und die kurdische soziale Bewegung bezeichnet; der Rat habe in den Beschlüssen von 2019 nicht klar zum Ausdruck gebracht, welche dieser Ausprägungen er auf den streitigen Listen belassen wolle. Weder der „Komplex“, der eine Vielzahl von Parteien und sonstigen Formen unabhängig organisierter Gruppierungen bezeichne, noch die kurdische soziale Bewegung, deren Mitglieder die Klägerin weder mittelbar noch unmittelbar kontrolliere, könne als organisierter Zusammenschluss und folglich als terroristische Vereinigung angesehen werden. Wenngleich die PKK als Partei innerhalb des „Komplexes“ hinreichend strukturiert sei, bezwecke sie nicht, terroristische Handlungen zu begehen, und begehe auch keine.
108 Der Rat vertritt die Ansicht, dass diese zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes vorgebrachte Rüge ins Leere gehe, da nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 die Einstufung als „terroristische Vereinigung“ und speziell als „Vereinigung“ im Sinne dieser Vorschrift keine Voraussetzung für die Anwendung des Gemeinsamen Standpunkts sei.
109 Aus dem Wortlaut des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ergibt sich in der Tat, dass die Einstufung als „terroristische Vereinigung“ im Sinne seines Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 2, d. h. als „auf längere Dauer angelegter organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die in Verabredung handeln, um terroristische Handlungen zu begehen“, keine allgemeine Voraussetzung für die Anwendung des Gemeinsamen Standpunkts darstellt.
110 Nach seinem Art. 1 Abs. 2 gilt der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 für natürliche Personen sowie für Vereinigungen und Körperschaften, wobei in den dem Gemeinsamen Standpunkt und den Beschlüssen von 2019 beigefügten Listen, in denen zunächst „natürliche Personen“ und dann „Vereinigungen und Körperschaften“ aufgeführt sind, nicht zwischen Letzteren unterschieden wird. Mit der Definition der „terroristischen Vereinigung“ in Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 2 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 sollen nur zwei spezifische terroristische Ziele präzisiert werden, und zwar das „Anführen einer terroristischen Vereinigung“ (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. j des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931) und die „Beteiligung an den Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung“ (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. k des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931), die nicht seinen gesamten Anwendungsbereich abdecken und die im Übrigen vom Rat in den Beschlüssen von 2019 hinsichtlich der PKK nicht herangezogen wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 253).
111 Da die Klägerin im Einklang mit den Vorschriften des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 als „Vereinigung und Körperschaft“ in die streitigen Listen aufgenommen wurde und da sie ihre Einstufung als „Körperschaft“ nicht bestreitet, ist es unerheblich, dass die PKK nach ihren Angaben keine „terroristische Vereinigung“ ist.
112 Der vorliegende Klagegrund ist daher als ins Leere gehend zurückzuweisen, soweit die Einstufung der Klägerin als „terroristische Vereinigung“ gerügt wird.
113 Dagegen ist auf das Vorbringen des Rates, es sei nicht seine Sache, die von der zuständigen nationalen Behörde vorgenommene Einstufung der Tatsachen zu überprüfen, zu antworten, dass den Rat eine solche Pflicht trifft und dass das Vorbringen der Klägerin daher erheblich ist, soweit damit das Ergebnis der Prüfung beanstandet wird, die darin besteht, ob die von den nationalen Behörden herangezogenen Handlungen der Definition der terroristischen Handlung in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entsprechen.
114 Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ergibt, in dem u. a. von einer „Verurteilung“ wegen „einer terroristischen Handlung oder des Versuchs, eine terroristische Handlung zu begehen, daran teilzunehmen oder sie zu erleichtern“, die Rede ist, muss der Rat prüfen, ob die von den nationalen Behörden herangezogenen Handlungen tatsächlich terroristischen Handlungen im Sinne der Definition in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 191). Diese Prüfung ist umso notwendiger, als, wie sich aus einigen Rügen der Klägerin ergibt, die Definitionen der terroristischen Handlung von Staat zu Staat variieren und nicht notwendigerweise in allen Punkten der Definition im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 entsprechen.
115 Wenn die betreffende Körperschaft im Verfahren vor dem Rat nicht substantiiert bestreitet, dass sich der nationale Beschluss auf terroristische Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 bezieht, ist der Rat allerdings nicht verpflichtet, sich eingehender zu dieser Frage zu äußern, und es genügt der Hinweis in den Begründungen, dass er geprüft habe, ob die Gründe für die Beschlüsse der zuständigen nationalen Behörden unter die Definition des Terrorismus im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 fielen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 162 und 163 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
116 Ferner ist klarzustellen, dass diese vom Rat nach Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 vorzunehmende Prüfung nur Vorfälle betrifft, die in den Beschlüssen der nationalen Behörden herangezogen werden, auf denen die erstmalige Aufnahme der betreffenden Körperschaft in die Liste beruht. Wie sich aus dem Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat (T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 168 und 276), ergibt, muss der Rat, wenn er den Namen einer Körperschaft im Rahmen seiner gemäß Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 vorgenommenen Überprüfung auf den Listen betreffend das Einfrieren von Geldern belässt, nicht nachweisen, dass die Körperschaft terroristische Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts begangen hat, sondern, dass weiterhin die Gefahr ihrer Beteiligung an solchen Handlungen besteht, was nicht unbedingt heißt, dass sie diese begehen wird.
117 Der Verbleib der PKK auf der Liste erscheint jedoch umso gerechtfertigter, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie nach ihrer erstmaligen Aufnahme terroristische Handlungen begangen hat.
118 Nach alledem geht der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gerügt wird, ins Leere, soweit er sich auf die Einstufung der Klägerin als „terroristische Vereinigung“ bezieht und die für die Belassung ihres Namens auf den streitigen Listen bei den Überprüfungen durch den Rat gemäß Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 herangezogenen Handlungen betrifft, während er erheblich ist, soweit er sich gegen die Einstufung der in den Beschlüssen der nationalen Behörden, auf denen ihre erstmalige Aufnahme in die Liste beruht, herangezogenen Vorfälle als terroristische Handlungen richtet.
c)
Zur Begründetheit des Klagegrundes
1) Zur Argumentation, dass die Ziele von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 im Licht des legitimen bewaffneten Konflikts um die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes auszulegen seien
119 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin, wenngleich sie ihren ersten Klagegrund in der Rechtssache T‑316/14 RENV, mit dem ein Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht geltend gemacht worden ist, zurückgenommen hat (siehe oben, Rn. 28), ihr Vorbringen aufrechterhält, dass es erforderlich sei, das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts bei der Auslegung und Anwendung von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zu berücksichtigen.
120 Die Klägerin bestreitet somit, dass die ihr vom Rat angelasteten Handlungen in terroristischer Absicht begangen wurden, indem sie sich auf den bewaffneten Konflikt mit der Republik Türkei beruft. Sie trägt vor, es sei von grundlegender Bedeutung, den Kontext der angefochtenen Rechtsakte zu berücksichtigen, und zwar den legitimen bewaffneten Konflikt um die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes, in dem sich die PKK und die türkischen Behörden gegenüberstünden, da die Anwendung von Gewalt in Zeiten eines bewaffneten Konflikts völkerrechtlich grundsätzlich zulässig sei. Im Einklang mit Art. 3 Abs. 5 und Art. 21 EUV sei Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 im Licht des Völkerrechts über die Selbstbestimmung, des humanitären Völkerrechts oder der Grundwerte der Demokratie und des Rechtsstaats auszulegen.
121 Die Klägerin bestreitet damit, dass mit den ihr zugeschriebenen Handlungen terroristische Ziele verfolgt wurden, und hebt die notwendige Unterscheidung zwischen der Vornahme einer Handlung und ihrer Vornahme mit einem terroristischen Ziel hervor. Insbesondere strebe sie weder die Destabilisierung noch die Zerstörung des türkischen Staates an, sondern wolle ihn lediglich verbessern und mit den in der Union anerkannten demokratischen Grundsätzen, einschließlich des Grundrechts auf Selbstbestimmung, in Einklang bringen. Im Übrigen wolle sie die türkische Regierung zwingen, eine Besserstellung der Kurden zu akzeptieren, so dass ihre Bemühungen nicht als unberechtigt angesehen werden könnten. Schließlich habe sich keine der ihr zugeschriebenen Handlungen gegen die Zivilbevölkerung gerichtet, sondern nur gegen legitime militärische Ziele, auch wenn es bisweilen zivile Opfer gegeben habe.
122 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung sowohl des Gerichtshofs als auch des Gerichts das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts nicht ausschließt, dass unionsrechtliche Vorschriften über die Terrorismusprävention wie der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 auf etwaige in diesem Rahmen begangene terroristische Handlungen angewandt werden können (Urteil vom 14. März 2017, A u. a., C‑158/14, EU:C:2017:202, Rn. 97 und 98; vgl. auch Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 294 und die dort angeführte Rechtsprechung).
123 Zum einen wird im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 in Bezug auf seinen Geltungsbereich nämlich nicht danach unterschieden, ob die fragliche Handlung im Rahmen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts begangen wurde oder nicht. Zum anderen besteht das Ziel der Union und ihrer Mitgliedstaaten darin, den Terrorismus in all seinen Formen im Einklang mit den Zielen des geltenden Völkerrechts zu bekämpfen (Urteil vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 58).
124 Die Klägerin bestreitet im Übrigen nicht, dass der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 im Fall eines bewaffneten Konflikts anwendbar ist, sondern vertritt im Wesentlichen die Ansicht, dass seine Vorschriften unter Berücksichtigung des legitimen Charakters des bewaffneten Konflikts mit den türkischen Behörden um die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes auszulegen seien.
125 Der Klägerin ist beizupflichten, dass der gewohnheitsrechtliche Grundsatz der Selbstbestimmung, auf den u. a. in Art. 1 der am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen hingewiesen wird, ein Grundsatz des Völkerrechts ist, der für alle Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung und für alle Völker, die noch nicht die Unabhängigkeit erlangt haben, gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario, C‑104/16 P, EU:C:2016:973, Rn. 88, und vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 217).
126 Ohne zu seiner Anwendung in der vorliegenden Rechtssache oder zur Rechtmäßigkeit des Rückgriffs auf Waffengewalt für die Erlangung von Selbstbestimmung Stellung zu nehmen, ist festzustellen, dass dieser Grundsatz nicht bedeutet, dass ein Volk oder die Einwohner eines Gebiets für die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung auf Mittel zurückgreifen dürfen, die unter Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 fallen (Urteile vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 218, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 299).
127 Das Gericht hat nämlich bereits entschieden, dass eine Ausnahme vom Verbot terroristischer Handlungen in bewaffneten Konflikten zugunsten von Befreiungsbewegungen, die sich in einem bewaffneten Konflikt mit einer „unterdrückerischen Regierung“ befinden, weder im Unionsrecht noch im Völkerrecht eine Grundlage findet. Die Regeln des Völkerrechts, insbesondere die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 28. September 2001, das Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, die Zusatzprotokolle I und II zu den Genfer Abkommen vom 8. Juni 1977 über den Schutz der Opfer internationaler und nicht internationaler bewaffneter Konflikte sowie das am 9. Dezember 1999 in New York unterzeichnete Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus verurteilen terroristische Handlungen, ohne danach zu unterscheiden, wer die Handlung begeht und welche Ziele er verfolgt (Urteil vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 68).
128 Überdies ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin im vorliegenden Fall nur eine einzige – unionsrechtliche – Vorschrift erwähnt, auf die sie speziell ihre Behauptung stützt, dass es eine Ausnahme vom Verbot terroristischer Handlungen in bewaffneten Konflikten um Selbstbestimmung gebe, und zwar den Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. 2002, L 164, S. 3), insbesondere dessen elften Erwägungsgrund; danach gilt er „nicht für die Aktivitäten der Streitkräfte bei bewaffneten Konflikten im Sinne des humanitären Völkerrechts, die diesem Recht unterliegen, und die Aktivitäten der Streitkräfte eines Staates in Wahrnehmung ihres offiziellen Auftrags, soweit sie anderen Regeln des Völkerrechts unterliegen“. Außerdem trägt die Klägerin vor, dass dem Rahmenbeschluss 2002/475 eine Erklärung des Rates beigefügt worden sei, wonach bewaffneter Widerstand, wie er von verschiedenen europäischen Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg geleistet worden sei, ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses ausgenommen sei.
129 Der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 enthält jedoch ebenso wie die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die mit ihm auf Unionsebene umgesetzt wird, nichts, was mit dem elften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/475 vergleichbar wäre, und das Fehlen eines solchen Erwägungsgrundes in diesem Gemeinsamen Standpunkt ist gerade dahin auszulegen, dass es den Willen des Rates zum Ausdruck bringt, keine Ausnahme von der Anwendung der Vorschriften des Gemeinsamen Standpunkts zuzulassen, wenn es darum geht, den Terrorismus dadurch zu verhindern, dass seine Finanzierung unterbunden wird (Urteil vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 74 bis 76).
130 Daraus folgt, dass der Verweis der Klägerin auf den Rahmenbeschluss 2002/475 und eine ihm beigefügte Erklärung des Rates irrelevant ist.
131 Zudem ist zwischen den Zielen, die ein Volk oder die Einwohner eines Gebiets erreichen wollen, und den Handlungen zu ihrer Erreichung zu unterscheiden. Solchen Zielen, die als nachdrücklich oder grundlegend bezeichnet werden können, entsprechen die in Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Ziff. i bis iii des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genannten „Ziele“ nicht. Wie sich aus den verwendeten Begriffen (Einschüchterung, Zwang, Destabilisierung oder Zerstörung) ergibt, beziehen sie sich auf das Wesen der durchgeführten Handlungen, was zu der Annahme führt, dass Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 nur auf „Handlungen“ Bezug nimmt und nicht auf „Ziele“ (vgl. Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 300 und die dort angeführte Rechtsprechung).
132 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist somit das mit Anschlägen auf Grundstrukturen des türkischen Staates verfolgte Ziel (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Ziff. iii des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931), das darin bestehen soll, diese Strukturen zu verändern, um sie demokratischer zu machen – sein Vorliegen unterstellt –, nicht zu berücksichtigen. Ebenso ist der Ausdruck „unberechtigterweise“ (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Ziff. ii des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931) so zu verstehen, dass er die Rechtswidrigkeit des ausgeübten Zwangs, insbesondere durch die eingesetzten Zwangsmittel, betrifft und nicht im Licht des angeblich legitimen Charakters des mit der Ausübung dieses Zwangs verfolgten Ziels zu beurteilen ist. Was schließlich die Einschüchterung der Bevölkerung (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Ziff. i des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931) betrifft, zu der die Klägerin geltend macht, im bewaffneten Konflikt um die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes würden von ihr nur militärische Ziele angegriffen, ist festzustellen, dass dieses Argument in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend ist, da mehrere in den Begründungen genannte Handlungen, insbesondere die Anschläge auf touristische Einrichtungen, in erster Linie und nicht bloß kollateral auf die Zivilbevölkerung abzielten (siehe unten, insbesondere Rn. 142 und 143).
133 Schließlich ist hervorzuheben, dass aus dem Vorstehenden nicht abgeleitet werden kann, dass das Instrument der Terrorismusbekämpfung in Form des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und allgemeiner das gesamte System restriktiver Maßnahmen der Union ein Hindernis für die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung der Bevölkerungen in repressiven Staaten wäre. Der Gemeinsame Standpunkt 2001/931 und seine Umsetzung durch den Rat sind auf die Bekämpfung des Terrorismus gerichtet und dienen nicht zur Klärung der Frage, wer in einem Konflikt zwischen einem Staat und einer Vereinigung recht oder unrecht hat (Urteil vom 16. Oktober 2014, LTTE/Rat, T‑208/11 und T‑508/11, EU:T:2014:885, Rn. 71). In einem solchen Fall ist es Sache des Rates, unter Ausübung des weiten Ermessens, das die Unionsorgane bei der Wahrnehmung der Außenbeziehungen der Union haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Oktober 1982, Faust/Kommission, 52/81, EU:C:1982:369, Rn. 27, und vom 16. Juni 1998, Racke, C‑162/96, EU:C:1998:293, Rn. 52, sowie Beschluss vom 6. September 2011, Mugraby/Rat und Kommission, T‑292/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:418, Rn. 60), darüber zu entscheiden, gegen welche mit dem betreffenden Staat oder dem Volk, das sein Recht auf Selbstbestimmung ausüben möchte, verbundenen natürlichen und juristischen Personen restriktive Maßnahmen zu erlassen sind.
134 Folglich ist die Argumentation der Klägerin hinsichtlich der Berücksichtigung des legitimen bewaffneten Konflikts um die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes bei der Auslegung der in Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genannten Ziele zurückzuweisen.
135 Daraus folgt, dass auch alle Argumente der Klägerin zurückzuweisen sind, mit denen sie bei einigen der ihr zur Last gelegten Handlungen die Verfolgung terroristischer Ziele bestreitet, weil sie als Vergeltung gegen die türkische Armee begangen worden seien.
2) Zur Bestreitung des terroristischen Charakters der Ziele, die mit einigen der Klägerin zugeschriebenen Handlungen verfolgt werden
136 Zunächst ist die Rüge zurückzuweisen, mit der im Wesentlichen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen gerügt wird, der sich daraus ergeben soll, dass der Rat die angefochtenen Rechtsakte nicht auf Vorfälle vor Inkrafttreten des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 stützen könne. Angesichts des rein vorsorglichen Charakters des im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 vorgesehenen Einfrierens von Geldern, das daher keine straf- oder verwaltungsrechtliche Sanktion darstellt (vgl. Urteil vom 7. Dezember 2010, Fahas/Rat, T‑49/07, EU:T:2010:499, Rn. 67 und 68 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), ist dieser allgemeine, in Art. 49 Abs. 1 Satz 1 der Charta verankerte Grundsatz des Unionsrechts, wonach „[n]iemand … wegen einer Handlung … verurteilt werden [darf], die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war“, im vorliegenden Fall nicht anwendbar (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 2014, Ezz u. a./Rat, T‑256/11, EU:T:2014:93, Rn. 70 bis 81).
137 Überdies ist die Rüge, dass einige der von den Behörden des Vereinigten Königreichs festgestellten Handlungen der Definition von Straftaten im Sinne der Rechtsvorschriften dieses Staates nicht entsprächen, als ins Leere gehend zurückzuweisen. Aus der besonderen Form der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und dem Rat im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der sich daraus ergebenden Verpflichtung des Rates, seinen Beschluss so weit wie möglich auf die Beurteilung der zuständigen nationalen Behörde zu stützen, ergibt sich, dass er dies auch bei der Einstufung des festgestellten Sachverhalts anhand der Vorschriften des nationalen Rechts tun muss. Auch wenn Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 verlangt, dass die Handlung „im innerstaatlichen Recht als Straftat definiert ist“, fällt diese Einstufung in den rein nationalen Bereich und ist als solche, wenn sie vorgenommen wird, von der Umsetzung des Gemeinsamen Standpunkts unabhängig.
138 Soweit bei einigen der PKK zugeschriebenen Handlungen in Abrede gestellt wird, dass sie den in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 festgelegten Kriterien für die Definition des Begriffs der terroristischen Handlung entsprechen, ist vorab darauf hinzuweisen, dass sich entgegen dem Vorbringen der Klägerin gerade aus den zur Stützung des vorliegenden Klagegrundes vorgetragenen und nachfolgend geprüften Kritikpunkten ergibt, dass die Klägerin in Bezug auf Vorfälle, deren Einstufung als terroristische Handlungen sie beanstandet, über hinreichende Daten verfügte, um dazu Argumente vorzutragen. Zudem kann aus der Feststellung des Gerichtshofs im Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 62 und 80), abgeleitet werden, dass die Darstellung der Vorfälle, auf denen die Rechtsakte von 2014 beruhen, ebenso wie die Darstellung in den Rechtsakten von 2015 bis 2017, die in den Beschlüssen von 2019 unverändert übernommen wurde, mit Ausnahme eines Vorfalls im August 2014 hinreichend begründet war, um der Klägerin genügend Daten für Argumente zur Stützung ihrer Anfechtung der Einstufung der betreffenden Vorfälle als terroristische Handlungen zu verschaffen.
139 Sodann kann davon ausgegangen werden, dass diese Beanstandungen ganz unabhängig davon, dass die Klägerin den terroristischen Charakter der von ihr verfolgten Ziele nur bei einigen der vom Rat festgestellten Handlungen bestreitet, die Beurteilungen des Rates nicht in Frage stellen können.
140 Hervorzuheben ist nämlich, dass jede der in Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a bis k des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genannten Arten von Handlungen terroristischen Charakter haben kann. Damit eine Handlung als terroristische Handlung eingestuft werden kann, müssen nicht alle elf Tatbestände erfüllt sein, die in dieser Vorschrift genannt sind.
141 Folglich ist es unerheblich, dass, wie die Klägerin geltend macht, bestimmte ihr zugeschriebene Handlungen nicht zu Todesfällen geführt haben (Buchst. a), dass dabei keine Schusswaffen verwendet wurden (Buchst. f), dass sie keine weitreichenden Zerstörungen verursacht haben (Buchst. d) oder dass es dabei zu keinen Entführungen kam (Buchst. c), da zum einen unstreitig ist, dass mit diesen Handlungen andere der in Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a bis k des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genannten terroristischen Zwecke verfolgt wurden, und da zum anderen weitere festgestellte Handlungen einen dieser Tatbestände erfüllen.
142 Was insbesondere die von den Behörden des Vereinigten Königreichs im Jahr 2001 festgestellten Handlungen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Rat sie in den Begründungen der Rechtsakte von 2015 bis 2017 und in den Beschlüssen von 2019 wie folgt erwähnt hat (Rn. 16 von Anhang A der Begründungen):
–
Entführung westlicher Touristen, darunter mehrere Bürger des Vereinigten Königreichs, Anfang der 1990er Jahre;
–
Anschlag auf eine Raffinerie in den Jahren 1993‑1994;
–
zwischen 1993 und 1994 eine Kampagne von Anschlägen auf touristische Einrichtungen, die zum Tod ausländischer Touristen führte, darunter Staatsbürger des Vereinigten Königreichs;
–
zwischen 1995 und 1999 Androhung von Anschlägen auf türkische touristische Einrichtungen.
143 Selbst wenn man davon ausgeht, dass es, wie die Klägerin geltend macht, nicht erwiesen ist, dass der Anschlag auf die Raffinerie in den Jahren 1993‑1994 im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 Menschenleben gefährdet hat, ändert dies somit nichts daran, dass weder die in dieser Vorschrift genannten weitreichenden Zerstörungen bestritten werden noch die unausweichliche Folge dieser Zerstörungen in Form erheblicher wirtschaftlicher Verluste, die neben der Gefährdung von Menschenleben als eine der beiden möglichen alternativen Folgen der genannten Zerstörungen angeführt werden. Selbst wenn der Klägerin, wie sie geltend macht, der Anschlag auf die Raffinerie nicht zugeschrieben werden könnte, kann desgleichen angemerkt werden, dass von den Behörden des Vereinigten Königreichs im Jahr 2001 andere Handlungen festgestellt wurden (siehe oben, Rn. 142), bei denen die Klägerin weder ihre Beteiligung noch die damit verfolgten terroristischen Ziele, darunter Anschläge auf das Leben von Menschen, bestreitet. Schließlich kann die Klägerin nicht mit Erfolg in Abrede stellen, dass die Androhung von Anschlägen auf türkische touristische Einrichtungen zwischen 1995 und 1999 der Definition terroristischer Handlungen in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entspricht, der in Buchst. i ausdrücklich auf die „Drohung mit der Begehung … der unter den Buchstaben a) bis h) genannten Straftaten“, wie beispielsweise mit Anschlägen auf das Leben von Menschen oder Zerstörungen, Bezug nimmt.
144 Zudem ist das Vorbringen der Klägerin zu verwerfen, mit dem sie die Einstufung der in Rede stehenden Handlungen als terroristische Handlungen mit der Begründung bestreitet, dass die Definition der terroristischen Handlung in den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs von der Definition in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 abweiche. Das in Rede stehende nationale Recht, der UK Terrorism Act 2000, enthält die gleiche zweistufige Definition von terroristischen Handlungen wie der Gemeinsame Standpunkt und definiert diese Handlungen sowohl anhand der mit ihnen verfolgten „Ziele“ als auch anhand der dazu eingesetzten Mittel, wobei diese „Ziele“ und Mittel größtenteils übereinstimmen. Es fällt daher nicht ins Gewicht, dass das Kriterium der Schwere in den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs mit den Mitteln (beispielsweise schwere Gewalt, schwerer Schaden) und im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 mit den „Zielen“ (beispielsweise der Einschüchterung der Bevölkerung auf schwerwiegende Weise, der ernsthaften Destabilisierung oder der Zerstörung) verknüpft ist.
145 In Bezug auf die von den Behörden des Vereinigten Königreichs im Jahr 2014 festgestellten Handlungen kann hinzugefügt werden (siehe oben, Rn. 116 und 117), dass der Rat die mit ihnen verfolgten terroristischen Ziele nicht im Einzelnen aufgeführt hat; alle diese Ziele (im vorliegenden Fall die in den Buchst. a, c, d und f bis i von Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 genannten) werden nur in einer allgemeinen Schlussfolgerung aufgezählt, und zwar sowohl für die 2001 festgestellten Handlungen als auch für die 2014 festgestellten Handlungen, die in den Begründungen genannt sind (Rn. 19 von Anhang A). Für die Einstufung als terroristische Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 sind daher die Argumente unerheblich, mit denen dem Rat vorgeworfen wird, nach seinen Angaben seien die im Jahr 2014 festgestellten Handlungen Anschläge auf das Leben von Personen gewesen (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931), mit der Verwendung von Schusswaffen (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. f des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931) verbunden gewesen oder hätten weitreichende Zerstörungen (Art. 1 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. d des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931) verursacht, was nur drei der sieben festgestellten Ziele entspreche, wobei überdies in der Entscheidung der Behörden des Vereinigten Königreichs von 2001 rechtsgültig festgestellt wurde, dass die darin aufgeführten Handlungen terroristische Ziele verfolgten (siehe oben, Rn. 143).
146 Folglich ist der Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zurückzuweisen.
3. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
147 Im Rahmen einer Überprüfung nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 darf der Rat den Namen der betreffenden Person oder Körperschaft auf der Liste betreffend das Einfrieren von Geldern belassen, wenn er zu dem Ergebnis gelangt, dass die Gefahr ihrer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten, die ihre erstmalige Aufnahme in die Liste gerechtfertigt hatte, fortbesteht, so dass der Verbleib auf der Liste der Sache nach eine Verlängerung der erstmaligen Aufnahme der betreffenden Person oder Körperschaft in die Liste darstellt. Zu diesem Zweck hat der Rat zu prüfen, ob sich seit der erstmaligen Aufnahme die Sachlage in einer Weise geändert hat, dass aus ihr in Bezug auf die Beteiligung der betreffenden Person oder Körperschaft an terroristischen Aktivitäten nicht mehr dieselbe Schlussfolgerung gezogen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 46 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, vom 20. Juni 2019, K. P., C‑458/15, EU:C:2019:522, Rn. 43, und vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 49).
148 Im Rahmen der Prüfung der Frage, ob die Gefahr einer Beteiligung der betreffenden Person oder Körperschaft an terroristischen Aktivitäten fortbesteht, ist gebührend zu berücksichtigen, was mit dem nationalen Beschluss, der ihrer erstmaligen Aufnahme in die Listen betreffend das Einfrieren von Geldern zugrunde lag, anschließend geschehen ist, insbesondere ob er wegen neuer Tatsachen oder einer geänderten Bewertung durch die zuständige nationale Behörde aufgehoben oder zurückgenommen wurde (Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 52, und vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 50).
149 Außerdem kann es sein, dass die bloße Tatsache, dass der nationale Beschluss, der als Grundlage für die erstmalige Aufnahme in die Liste diente, weiter in Kraft ist, in Anbetracht der verstrichenen Zeit und aufgrund der veränderten Umstände des konkreten Falles nicht ausreicht, um auf das Fortbestehen der Gefahr einer Beteiligung der betreffenden Person oder Körperschaft an terroristischen Aktivitäten zu schließen. In einer solchen Situation, insbesondere wenn der der erstmaligen Aufnahme zugrunde gelegte nationale Beschluss nicht Gegenstand einer Überprüfung durch die zuständige Behörde war, ist der Rat verpflichtet, die Belassung des Namens dieser Person oder Körperschaft auf der Liste betreffend das Einfrieren von Geldern auf eine aktualisierte Lagebeurteilung zu stützen und neuere Tatsachen zu berücksichtigen, die das Fortbestehen der Gefahr belegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 52, 62 und 72, vom 26. Juli 2017, Rat/Hamas, C‑79/15 P, EU:C:2017:584, Rn. 40 und 50, vom 20. Juni 2019, K. P., C‑458/15, EU:C:2019:522, Rn. 52, 60 und 61, und vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 51).
150 Die Voraussetzungen, die diese Aktualisierungspflicht auslösen – die verstrichene Zeit und die veränderten Umstände des konkreten Falles – sind alternativer Natur, trotz der Verwendung des Bindeworts „und“ in der oben in Rn. 149 angeführten Rechtsprechung. Der Unionsrichter durfte somit die Aktualisierungspflicht des Rates aufgrund der verstrichenen Zeit bejahen, ohne notwendigerweise auch auf eine Änderung der Umstände während dieses Zeitraums einzugehen (Urteil vom 26. Juli 2017, Rat/Hamas, C‑79/15 P, EU:C:2017:584, Rn. 32 und 33), wobei er bisweilen sogar ausgeführt hat, dass die fragliche Zeitspanne „für sich genommen“ einen Umstand darstellt, der die Aktualisierung rechtfertigt (Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 176). Das bloße Verstreichen einer erheblichen Zeitspanne kann ausreichen, um eine Aktualisierung der Beurteilung des Rates zu rechtfertigen, da es darum geht, das Fortbestehen einer Gefahr und somit ihre zeitliche Entwicklung zu beurteilen. Ebenso kann ein Ereignis, das eine erhebliche Änderung der Umstände darstellt, schwerlich außer Acht gelassen werden, auch wenn es nur wenige Monate nach Erlass des Rechtsakts eingetreten ist, der die Belassung auf der Liste vorsieht.
151 Wenn dies wegen der verstrichenen Zeit oder der veränderten Umstände des konkreten Falles gerechtfertigt ist, kann sich der Rat bei der erforderlichen Aktualisierung seiner Beurteilung auf Informationen aus jüngerer Zeit stützen, die nicht nur den nationalen Beschlüssen zuständiger Behörden, sondern auch anderen Quellen und somit auch seiner eigenen Beurteilung entstammen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 52, 62 und 72, vom 26. Juli 2017, Rat/Hamas, C‑79/15 P, EU:C:2017:584, Rn. 40 und 50, vom 20. Juni 2019, K. P., C‑458/15, EU:C:2019:522, Rn. 52, 60 und 61, und vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 51).
152 Insoweit ist dem von der Klägerin in der Rechtssache T‑316/14 RENV vorgetragenen Argument, die nationalen Behörden seien verpflichtet, eine Überprüfung durchzuführen, und der Rat müsse sich auf diese Überprüfungen stützen, entgegenzuhalten, dass gerade deshalb, weil das mit dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 geschaffene System restriktiver Maßnahmen keinen Mechanismus vorsieht, aufgrund dessen dem Rat bei Bedarf innerstaatliche Beschlüsse zur Verfügung stehen, die nach der erstmaligen Aufnahme in die Liste erlassen wurden, damit er die ihm nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts obliegenden Überprüfungen vornehmen kann, nicht davon ausgegangen werden kann, dass dieses System vom Rat verlangt, die Überprüfungen ausschließlich auf der Grundlage solcher innerstaatlicher Beschlüsse durchzuführen, da andernfalls die dem Rat hierfür zur Verfügung stehenden Mittel ungebührlich beschränkt würden (Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 63 und 64, und vom 26. Juli 2017, Rat/Hamas, C‑79/15 P, EU:C:2017:584, Rn. 45).
153 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsrichter in Bezug auf neuere Gesichtspunkte, die bei der aktualisierten Beurteilung der Situation zutage treten – unabhängig davon, ob sie aus nationalen Beschlüssen oder anderen Quellen hergeleitet werden –, zum einen prüfen muss, ob die in Art. 296 AEUV vorgesehene Begründungspflicht eingehalten wurde und ob mithin die angeführten Gründe hinreichend präzise und konkret sind. Zum anderen hat er zu prüfen, ob diese Gründe belegt sind, was voraussetzt, dass er sich, wenn er ihre materielle Rechtmäßigkeit prüft, vergewissert, dass die Rechtsakte auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruhen, und die Tatsachen überprüft, die in der Begründung für den Verbleib auf den Listen betreffend das Einfrieren von Geldern angeführt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 118 und 119, vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 70, und vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 52).
154 Für die Zwecke dieser gerichtlichen Kontrolle kann die betreffende Person oder Körperschaft im Rahmen der Klage gegen den Verbleib ihres Namens auf der streitigen Liste betreffend das Einfrieren von Geldern sämtliche Angaben bestreiten, auf die sich der Rat zum Beleg dafür stützt, dass die Gefahr ihrer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten fortbesteht, ohne dass es darauf ankäme, ob diese Angaben einem innerstaatlichen Beschluss einer zuständigen Behörde oder anderen Quellen entstammen. Im Bestreitensfall obliegt es dem Rat, die Stichhaltigkeit der festgestellten Tatsachen nachzuweisen, und dem Unionsrichter, ihre inhaltliche Richtigkeit zu prüfen (vgl. Urteil vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung; Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 53). Insoweit ist hervorzuheben, dass angesichts des mit dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 geschaffenen Systems der speziellen Zusammenarbeit zwischen dem Rat und den Mitgliedstaaten und der sich daraus ergebenden Verpflichtung des Rates, sich so weit wie möglich auf die Beurteilung der nationalen Behörden zu verlassen, den Beschlüssen dieser Behörden besondere Beweiskraft zukommt, wodurch die Tatsachenfeststellung durch den Rat und ihre Überprüfung durch den Unionsrichter erleichtert werden, wenn diese Tatsachen zuvor von den zuständigen nationalen Behörden festgestellt wurden.
155 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die Rechtsakte von 2014 und die Rechtsakte von 2015 bis 2017 sowie die Beschlüsse von 2019 unter Beachtung der Anforderungen von Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 erlassen wurden, wobei zwischen diesen drei Arten von Rechtsakten unter Berücksichtigung der verschiedenen Gesichtspunkte, die bei der Aktualisierung der Beurteilung des Rates in den ihnen beigefügten Begründungen herangezogen wurden, zu unterscheiden ist.
a)
Zu der vom Rat in den Rechtsakten von 2014 durchgeführten Überprüfung (Rechtssache T‑316/14 RENV)
156 Aus den Begründungen der Rechtsakte von 2014 ergibt sich, dass sich der Rat für die Zwecke der Belassung des Namens der Klägerin auf den streitigen Listen in Anbetracht ihrer terroristischen Aktivitäten seit dem Jahr 1984 und ihren vor allem seit 2009 einseitig erklärten Waffenstillständen nicht nur auf die Beschlüsse der amerikanischen und türkischen Behörden stützte, die alle vor 2009 gefasst wurden, sondern auch darauf, dass die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001, die als Grundlage für die erstmalige Aufnahme der PKK in diese Liste diente, noch in Kraft war, sowie auf eine Liste von 69 Vorfällen zwischen dem 14. November 2003 und dem 19. Oktober 2011, die nach Ansicht des Rates der Klägerin anzulastende „terroristische Handlungen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 darstellten (siehe oben, Rn. 11 und 12).
157 Die Klägerin wirft dem Rat vor, er habe die Belassung ihres Namens auf den streitigen Listen nicht auf eine aktualisierte Beurteilung ihrer Situation gestützt, wie er es nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 hätte tun müssen. Er habe sich nur auf veraltete Informationen aus nationalen Beschlüssen gestützt und die zahlreichen neuen von ihr gelieferten Informationen über den 2012 begonnenen Friedensprozess, den folgenden Waffenstillstand, den anschließenden Rückzug ihrer Truppen aus dem türkischen Hoheitsgebiet sowie ihre Beteiligung am Kampf gegen Daech, aufgrund deren es im Jahr 2014 mehrere Aufrufe gegeben habe, sie von den Terrorlisten zu streichen, außer Acht gelassen.
158 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass zwischen dem Erlass der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2001 und der Rechtsakte von 2014 eine erhebliche Zeitspanne verstrichen ist, was an sich eine Aktualisierung der Beurteilung des Fortbestehens einer Gefahr der Beteiligung der PKK an terroristischen Aktivitäten rechtfertigt.
159 Zweitens gab es während der Zeitspanne von 13 Jahren zwischen dem Erlass der Verfügung von 2001 und der Rechtsakte von 2014 mehrere Ereignisse, die veränderte Umstände im Sinne der oben in Rn. 149 angeführten Rechtsprechung darstellen.
160 In den Rechtsakten von 2014 werden mehrere von der PKK 2005, 2006 und „seit 2009“ einseitig erklärte Waffenstillstände sowie ein von der PKK 2003 erstellter „dreistufiger Friedensplan“ angesprochen. Auch wenn in der Begründung der Rechtsakte von 2014 darauf nicht Bezug genommen wird, sind außerdem die Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung in den Jahren 2012 und 2013 sowie der Friedensaufruf von Herrn Abdullah Öcalan, Gründungsmitglied und Führer der PKK, vom 21. März 2013 zu nennen, die beide von der Klägerin angeführt werden (siehe unten, Rn. 167 bis 171).
161 Hingegen stellt die Beteiligung der Klägerin am Kampf gegen Daech in diesem Stadium keinen veränderten, eine Aktualisierung rechtfertigenden Umstand dar, da sie nach den Angaben in der Akte im zweiten Halbjahr 2014, also nach Erlass der Rechtsakte von 2014, begann.
162 Daraus folgt, dass der Rat verpflichtet war, seine Beurteilung des Fortbestehens einer Gefahr der Beteiligung der Klägerin an terroristischen Aktivitäten zu aktualisieren.
163 Zu diesem Zweck zählte der Rat zahlreiche Vorfälle auf, die sich zwischen dem 14. November 2003 und dem 19. Oktober 2011 ereigneten, darunter 17 Vorfälle zwischen dem 17. Januar 2010 und dem 19. Oktober 2011, also nach den einseitig von der PKK seit 2009 erklärten Waffenstillständen.
164 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), entschieden hat, dass diese Aktualisierung hinreichend begründet war; an seine Beurteilung ist das Gericht gebunden. Nach Ansicht des Gerichtshofs haben es die Begründungen zu den Rechtsakten von 2014 der PKK ermöglicht, Kenntnis von den spezifischen und konkreten Gründen zu erlangen, aus denen der Rat der Ansicht war, dass trotz der seit 2009 einseitig erklärten Waffenruhen weiterhin die Gefahr einer Beteiligung der PKK an terroristischen Aktivitäten bestehe. Der Gerichtshof hat hinzugefügt, dass die Angaben in diesen Begründungen somit ausreichten, um die PKK in die Lage zu versetzen, zu verstehen, was ihr vorgeworfen wurde, es gegebenenfalls zu bestreiten und dem Gericht die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe zu ermöglichen (Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 61 und 62).
165 Ferner kann festgestellt werden, dass die Klägerin nur bei einigen Vorfällen wirksam bestritten hat, dass sie tatsächlich stattgefunden hätten oder ihr zuzuschreiben seien. Auch wenn sich aus der Rechtsprechung ergibt, dass von der betreffenden Person oder Körperschaft nicht verlangt werden kann, dabei den negativen Nachweis zu erbringen, dass diese Gründe nicht stichhaltig sind (vgl. Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung), muss sie nämlich zumindest konkret angeben, welche Vorfälle sie bestreitet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2019, Hamas/Rat, T‑289/15, EU:T:2019:138, Rn. 151 und die dort angeführte Rechtsprechung). Konkret bestreitet die Klägerin jedoch nur einige der 69 Vorfälle. Desgleichen kann sich die Klägerin angesichts der vorstehenden Beurteilung der Frage, ob der Rat seiner Begründungspflicht nachgekommen ist, durch den Gerichtshof nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die in Rede stehenden Vorfälle in den Begründungen nicht genau genug beschrieben seien, so dass sie nicht in der Lage sei, ihnen entgegenzutreten. Ebenso wenig kann sie dem Rat vorwerfen, die Informationsquellen für die festgestellten Vorfälle nicht angegeben zu haben, denn der Rat ist nicht zu einer solchen Angabe verpflichtet, da ihr Fehlen die Körperschaft, deren Name auf der Liste belassen wird, nicht daran hindert, die Gründe für die Belassung zu verstehen, und da die Körperschaft Einsicht in die Dokumente des Rates verlangen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 64; vgl. auch Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 378 bis 380 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin insbesondere von den 17 Vorfällen, die sich 2010 und 2011 ereigneten, nur eine begrenzte Zahl bestritten hat.
166 Daher kann, zumal angesichts dessen, dass die in Rede stehenden Vorfälle zu Recht als terroristische Handlungen eingestuft wurden (siehe oben, Rn. 116, 117 und 146), davon ausgegangen werden, dass der Rat seiner Aktualisierungspflicht bis 2011 nachgekommen ist. Daraus folgt auch, dass über den Einwand, der Rat habe sich auf die Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2006 berufen, mit der „KADEK“ und „KONGRA-GEL“ verboten worden seien, und über die Urteile der türkischen Staatssicherheitsgerichte, von denen die letzten berücksichtigten aus dem Jahr 2006 stammen, nicht entschieden zu werden braucht.
167 Zwischen 2011 und 2014, einem Zeitraum, der als solcher keine Aktualisierung erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 208 und die dort angeführte Rechtsprechung), erging allerdings ein Friedensaufruf von Herrn Abdullah Öcalan und fanden Friedensverhandlungen zwischen der PKK und den türkischen Behörden statt (siehe oben, Rn. 160), die weder in den Rechtsakten von 2014 und ihren Begründungen noch in den Schreiben erwähnt werden, mit denen der Klägerin diese Rechtsakte mitgeteilt wurden.
168 Solche Gesichtspunkte sind aber charakteristisch für veränderte Umstände, die eine aktualisierte Beurteilung der Situation rechtfertigen.
169 Zunächst war der Friedensaufruf von Herrn Öcalan keine isolierte Erklärung, sondern erging, als bereits seit mehreren Monaten Verhandlungen geführt wurden. Es ging somit nicht um eine bloß vorübergehende, definitionsgemäß einseitige Einstellung oder Aussetzung terroristischer Handlungen, sondern um Friedensverhandlungen im weiteren Sinne, die bilateraler Natur waren und in deren Rahmen eine solche Einstellung oder Aussetzung erklärt wurde. Daher ist die vom Rat angeführte Rechtsprechung irrelevant, bei der es um die Bedrohung geht, die eine Organisation, die in der Vergangenheit terroristische Handlungen begangen hat, unbeschadet der Aussetzung ihrer terroristischen Aktivitäten für einen mehr oder weniger langen Zeitraum oder der offenbaren Einstellung dieser Tätigkeiten, weiterhin darstellen kann (Urteil vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T‑256/07, EU:T:2008:461, Rn. 112). Außerdem hat der Gerichtshof zwar, wie der Rat geltend macht, in den Rn. 61 und 62 des Urteils vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), entschieden, dass der Rat das Fortbestehen der Gefahr einer Beteiligung der Klägerin an terroristischen Aktivitäten rechtswirksam begründet hatte, sich dabei aber auf Vorfälle gestützt, die nach den erklärten Waffenstillständen stattfanden.
170 Sodann hatten die Unionsbehörden, konkret die Hohen Behörden im Bereich der Außenpolitik – der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und das für die Erweiterung und die europäische Nachbarschaftspolitik zuständige Mitglied der Kommission –, den von ihnen selbst als „Friedensprozess“ eingestuften Vorgang anerkannt. In einer Pressemitteilung vom 21. März 2013 hatten der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und das für die Erweiterung und die europäische Nachbarschaftspolitik zuständige Mitglied der Kommission eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der sie den Aufruf von Herrn Öcalan begrüßten, die PKK solle die Waffen niederlegen und sich aus der Türkei zurückzuziehen, alle Parteien ermutigten, unermüdlich daran zu arbeiten, allen Bürgern der Türkei Frieden und Wohlstand zu bringen, und dem Friedensprozess ihre volle Unterstützung zusagten.
171 Schließlich kann festgestellt werden, dass dieser Prozess zum Zeitpunkt des ersten Rechtsakts von 2014 seit mehr als einem Jahr und zum Zeitpunkt des zweiten Rechtsakts von 2014 seit mehr als 18 Monaten begonnen hatte, ohne dass sich aus den Rechtsakten von 2014 oder aus der Akte ein Anhaltspunkt dafür ergibt, dass er zum Zeitpunkt ihres Erlasses beendet gewesen wäre.
172 Damit wird – im Einklang mit dem Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 56, 57, 74 und 88) – aus dem Schweigen des Rates allerdings nicht der Schluss auf einen Begründungsmangel gezogen. Dagegen kann daraus, dass der Rat weder eine Überprüfung noch eine Berücksichtigung der oben genannten Gesichtspunkte erwähnt, geschlossen werden, dass die vorgenommene Überprüfung nicht den Anforderungen von Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entspricht.
173 Diese Analyse wird dadurch bestätigt, dass der Rat die genannten Gesichtspunkte in seinen Schriftsätzen nicht ausdrücklich erwähnt und sich nur allgemein zur Beendigung terroristischer und bewaffneter Aktivitäten äußert, die, wie hervorzuheben ist, zum einen nicht die einzigen sind, die hier in Rede stehen, weil sich die betreffende Erklärung von Herrn Öcalan in einen Friedensprozess einfügt (siehe oben, Rn. 169), und zum anderen zuvor, insbesondere bei den Waffenstillständen von 2005 und 2006, dazu führten, dass der Rat die anschließende Fortsetzung der terroristischen Aktivitäten der PKK prüfte (siehe oben, Rn. 160 und 163), was nach den Verhandlungen und Erklärungen von 2012 und 2013 nicht der Fall war.
174 Im Übrigen ist insoweit die Erklärung von Herrn Öcalan vom 21. März 2015 irrelevant, in der er zur Veranstaltung eines kurdischen Kongresses aufrief, um über die Beendigung des bewaffneten Konflikts zu entscheiden; sie wird vom Rat in seinen Schriftsätzen als Beleg dafür angeführt, dass vor diesem Zeitpunkt kein dahin gehender Beschluss gefasst worden sei. Auch wenn die Beurteilung des Fortbestehens der Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten eine teils zukunftsorientierte Analyse erfordert, kann sie die ständige, auch für den Bereich restriktiver Maßnahmen geltende Rechtsprechung nicht in Frage stellten, wonach die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts der Union anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen ist (vgl. Urteile vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 4. September 2015, NIOC u. a./Rat, T‑577/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:596, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung), so dass nur die tatsächlichen Umstände berücksichtigt werden können, die zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Rechtsakte vorlagen (vgl. Urteil vom 24. November 2021, Al Zoubi/Rat, T‑257/19, EU:T:2021:819, Rn. 58 [nicht veröffentlicht] und die dort angeführte Rechtsprechung).
175 Daraus folgt, dass der Rat gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 verstoßen hat; dies führt zur Nichtigerklärung der Rechtsakte von 2014, ohne dass der Klagegrund eines Verstoßes gegen die Art. 4 und 51 der Charta, der sich nur gegen die Berücksichtigung der Urteile der türkischen Staatssicherheitsgerichte richtet (siehe oben, Rn. 166), und die drei anschließenden zur Stützung des Antrags auf Nichtigerklärung der Rechtsakte von 2014 geltend gemachten Klagegründe geprüft zu werden brauchen.
b)
Zu der vom Rat in den Rechtsakten von 2015 bis 2017 durchgeführten Überprüfung (Rechtssache T‑316/14 RENV)
176 Zunächst ist festzustellen, dass der Rat in den Begründungen zu den Rechtsakten 2015 bis 2017 neue Umstände angeführt hat, die seiner Ansicht nach die Belassung des Namens der Klägerin auf den streitigen Listen rechtfertigten.
177 Insbesondere erwähnte der Rat einen neuen Beschluss des Innenministers des Vereinigten Königreichs vom 3. Dezember 2014 sowie, neben der erstmaligen Angabe des Datums der Beschlüsse der Behörden der Vereinigten Staaten, auf die sich die ursprüngliche Aufnahme stützte (1997 und 2001), die Überprüfung, die diese Behörden am 21. November 2013 vornahmen, und die ebenfalls von 2013 datierende „Verwaltungsakte“ des Außenministeriums der Vereinigten Staaten, wobei er nähere Angaben zu den Vorfällen machte, auf denen die betreffenden nationalen Beschlüsse beruhten und die in der Verwaltungsakte enthalten waren. Er stützte sich zudem erstmals auf mehrere französische Gerichtsentscheidungen aus den Jahren 2011 bis 2014. Ferner gab er an, vergeblich nach ihm vorliegenden Anhaltspunkten für die Streichung des Namens der PKK gesucht zu haben, so dass er zu der Auffassung gelangt sei, dass die Gründe für ihre Aufnahme fortbestünden (siehe oben, Rn. 13).
178 Die Klägerin bestreitet die Vorfälle, auf die der Beschluss des Vereinigten Königreichs von 2014 gestützt ist, und macht geltend, in dem Beschluss sei auf einen von ihr gestellten Antrag auf Aufhebung des Verbots nicht eingegangen worden, so dass er nicht auf der Grundlage aller relevanten Daten erlassen worden sei. In Bezug auf den Beschluss der Vereinigten Staaten von 2013 sei nicht erwiesen, dass die Verwaltungsakte des Außenministeriums der Vereinigten Staaten mit demselben Datum die Grundlage dafür gewesen sei. Zu den französischen Gerichtsentscheidungen von 2011, 2013 und 2014 macht die Klägerin geltend, sie sei an den Verfahren, in denen diese Entscheidungen ergangen seien, nicht beteiligt gewesen; überdies beruhten sie nicht auf unparteiischen, objektiven und substanziellen Beweisen, vor allem, weil sie größtenteils auf Informationen aus der Türkei zurückgingen, und stützten sich auf eine Definition der terroristischen Handlung, die weiter sei als die des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, sowie auf Handlungen, die ihr vor 2007 angelastet worden seien. In ihrer Stellungnahme zum Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), kommt die Klägerin zu dem Schluss, dass die Erwägung des Gerichts, wonach die französischen Gerichtsentscheidungen keine hinreichende Grundlage für die Belassung ihres Namens auf den streitigen Listen seien, im Rechtsmittel des Rates nicht beanstandet und somit nicht in Frage gestellt werde. Die Klägerin wirft dem Rat schließlich vor, die detaillierten und durch Dokumente untermauerten Beweise in ihrer Klageschrift und ihrer Erwiderung, wonach sie ein wichtiger Partner der Koalitionskräfte der Vereinigten Staaten und Europas im Kampf gegen Daech sei, nicht berücksichtigt zu haben.
179 Daher ist zu klären, ob diese neuen Umstände in Anbetracht der von der Klägerin vorgetragenen Gegenargumente den Schluss zulassen, dass der Rat ihren Namen zu Recht auf den streitigen Listen belassen hat; zu beginnen ist mit den Argumenten, mit denen die Heranziehung des Beschlusses des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2014 durch den Rat gerügt wird.
180 In den Rechtsakten von 2015 bis 2017 weist der Rat darauf hin, dass dieser Beschluss auf folgende drei Umstände gestützt sei:
–
Anschlag auf die Baustelle eines neuen türkischen vorgeschobenen Militärpostens, bei dem zwei Militärs verletzt worden sein sollen, im Mai 2014;
–
Anschlag auf ein Kraftwerk und Entführung von drei chinesischen Ingenieuren im August 2014 (Rn. 17 von Anhang A der Begründungen);
–
Ankündigung der PKK, die Friedensgespräche mit der Republik Türkei zu unterbrechen, wenn diese nicht gegen Daech vorgehe, im Oktober 2014 (Rn. 18 von Anhang A der Begründungen).
181 Zunächst ist hervorzuheben, dass der Beschluss des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2014 von einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gefasst wurde, da er von derselben Behörde erlassen wurde wie die Verfügung von 2001 (siehe oben, Rn. 67). Der Rat muss sich zwar nicht auf Anhaltspunkte in Beschlüssen zuständiger nationaler Behörden stützen, um den Namen einer Körperschaft auf den Listen betreffend das Einfrieren von Geldern zu belassen (siehe oben, Rn. 151 und 152); tut er dies, kommt den Anhaltspunkten, die sich aus diesen Beschlüssen ergeben, jedoch besondere Beweiskraft zu (siehe oben, Rn. 154).
182 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), entschieden hat, dass der den Anschlag im August 2014 betreffende Vorwurf unzureichend begründet war, die die Handlungen im Mai und Oktober 2014 betreffenden Vorwürfe dagegen hinreichend (Rn. 78 bis 80). Außerdem hat er entschieden, dass, soweit das Gericht in Rn. 103 des Urteils vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), ausgeführt hat, dass die PKK Argumente vorgebracht hat, mit denen bestritten wird, dass die im Überprüfungsbeschluss des Innenministers von 2014 genannten, in Anhang A der Rechtsakte von 2015 bis 2017 beschriebenen Vorfälle der PKK zur Last gelegt und als terroristische Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft werden können, diese Argumentation darauf gerichtet ist, die Richtigkeit der angeführten Tatsachen sowie deren rechtliche Würdigung in Frage zu stellen. Dies dient seines Erachtens nicht dazu, eine Verletzung der Begründungspflicht durch den Rat nachzuweisen, sondern die materielle Rechtmäßigkeit dieser Rechtsakte anzufechten und damit die Verpflichtung des Rates auszulösen, die Stichhaltigkeit der angeführten Begründung darzutun (Rn. 81).
183 Im vorliegenden Fall kann nach der Antwort der Klägerin auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung festgestellt werden, dass sie lediglich die im Oktober 2014 ausgesprochene Drohung mit dem Abbruch der Friedensgespräche bestreitet, indem sie geltend macht, sie habe die türkischen Behörden bloß vor der Gefahr eines Scheiterns der Friedensverhandlungen gewarnt, wenn sie nicht gegen Daech vorgingen, ohne mit ihrem Abbruch zu drohen. Dagegen ist im Protokoll der mündlichen Verhandlung festgehalten worden, dass die Klägerin eingeräumt hat, dass ihr die Handlungen der kurdischen Guerilla der Volksverteidigungskräfte (HPG) zugeschrieben werden können, woraus abgeleitet werden kann, dass sie den Anschlag im Mai 2014 nicht mehr bestreitet. In Bezug auf diesen Anschlag hatte sie nämlich in ihrem Anpassungsschriftsatz nur geltend gemacht, dass er der HPG und nicht der PKK anzulasten sei.
184 Was zudem das Vorbringen der Klägerin betrifft, wonach der Beschluss von 2014 nicht berücksichtigt werden könne, da mit ihm über einen nicht von der PKK stammenden Antrag auf Aufhebung des Verbots entschieden worden sei, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass gebührend zu berücksichtigen ist, was mit dem nationalen Beschluss, der der ursprünglichen Aufnahme zugrunde gelegt wurde, anschließend geschehen ist, und dass es insoweit mehr darauf ankommt, ob er wegen neuer Tatsachen oder Gesichtspunkte, einer geänderten Bewertung oder einer Ergänzung der Bewertung aufgehoben oder zurückgenommen oder aber bestätigt worden ist, als darauf, auf welche Körperschaft die neue Bewertung zurückgeht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juli 2017, Rat/LTTE, C‑599/14 P, EU:C:2017:583, Rn. 52, und vom 26. Juli 2017, Rat/Hamas, C‑79/15 P, EU:C:2017:584, Rn. 30). Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als der Innenminister des Vereinigten Königreichs seinen Beschluss von 2014 auf mehrere neue terroristische Handlungen gestützt hat, die im Jahr 2014 verübt wurden und von denen zumindest eine von der Klägerin nicht bestritten wird (siehe oben, Rn. 183). Jedenfalls kann festgestellt werden, dass der Rat in seinen Begründungen (Rn. 12 von Anhang A) ausgeführt hat, dass die PKK selbst dreimal (2001, 2009 und 2014) erfolglos die Aufhebung ihres Verbots beantragt habe, woraus abgeleitet werden kann, dass die zuständige Behörde insbesondere im Jahr 2014 über die von der PKK zur Stützung ihres Antrags vorgelegten Argumente und Beweise verfügte.
185 Daraus folgt, dass der Rat angesichts dessen, dass der Anschlag im Mai 2014 zu Recht als terroristische Handlung eingestuft wurde (siehe oben, Rn. 135 und 145), zutreffend von einer Beteiligung der PKK an terroristischen Handlungen bis zum 13. Mai 2014 ausgegangen ist, an dem die im Beschluss des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2014 herangezogene unbestrittene terroristische Handlung begangen wurde. Diese Handlung fand zudem nach den Ereignissen von 2012 und 2013 statt, die eine Aktualisierung der Beurteilung der Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten rechtfertigten.
186 Der Rat hat daher seine Beurteilung der Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten bis Mai 2014 ordnungsgemäß aktualisiert, was angesichts des „zeitlichen Abstands“ von weniger als fünf Jahren zu den Rechtsakten von 2015 bis 2017 – auch bei den letzten Rechtsakten – für die Feststellung ausreicht, dass die Überprüfung nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ordnungsgemäß erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 208 und die dort angeführte Rechtsprechung).
187 Diese Erwägung wird durch die Beteiligung der Klägerin am Kampf gegen Daech ab der zweiten Hälfte des Jahres 2014, in der sie eine Änderung der Umstände sieht, die eine Aktualisierung der Beurteilung des Rates rechtfertigte (siehe oben, Rn. 178), und deren Berücksichtigung der Rat zu Recht für nicht erforderlich hielt, nicht in Frage gestellt. Diese Beteiligung fällt mit der oben erwähnten Warnung an die türkischen Behörden zusammen, mag diese Warnung auch nicht die in den Rechtsakten von 2015 bis 2017 angegebene Tragweite gehabt haben (siehe oben, Rn. 183). Sie lässt daher keine wie auch immer geartete Verbesserung der Beziehungen der PKK zur Republik Türkei erkennen und impliziert als solche keine Beendigung ihres Konflikts mit diesem Staat und der in diesem Rahmen durchgeführten, als terroristisch einstufbaren Aktivitäten. Daher kann daraus keine Änderung der Umstände abgeleitet werden, die den Rat verpflichten würde, sich zu vergewissern, ob die Gefahr einer Beteiligung der PKK an terroristischen Aktivitäten fortbesteht.
188 Daraus folgt, dass der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geltend gemacht wird, zurückzuweisen ist, soweit er die Rechtsakte von 2015 bis 2017 betrifft, ohne dass die Argumente geprüft zu werden brauchen, mit denen beanstandet wird, dass sich die vom Rat herangezogenen Beschlüsse der amerikanischen und französischen Behörden auf Ereignisse vor 2014 stützten.
c)
Zu der vom Rat im Rahmen der Beschlüsse von 2019 durchgeführten Überprüfung (Rechtssache T‑148/19)
189 Die Beschlüsse von 2019 stimmen mit den Rechtsakten von 2015 bis 2017 nahezu überein. Das Vorbringen der Klägerin gegen diese Beschlüsse ähnelt im Übrigen dem Vorbringen, mit dem die Überprüfung beanstandet wird, die zum Erlass der Rechtsakte von 2015 bis 2017 führte.
190 Der einzige Unterschied zwischen den Rechtsakten von 2015 bis 2017 und den Beschlüssen von 2019 betrifft allein den Beschluss 2019/1341, in dem ein weiterer der PKK zugeschriebener Vorfall vom 23. Oktober 2017 erwähnt wird. Es handelt sich um einen Sprengstoffanschlag auf ein türkisches Militärfahrzeug in der südlichen Provinz Hakkari, bei dem ein türkischer Soldat getötet wurde (Rn. 16 letzter Gedankenstrich der Begründung). Dieser Anschlag soll in der Verwaltungsakte der Behörden der Vereinigten Staaten von 2019 behandelt werden. Die Quelle, aus der diese Information stammt – die Presseagentur Reuters –, wird angeführt.
191 Zunächst ist festzustellen, dass die Klägerin nicht bestreitet, dass dieser Anschlag stattgefunden hat und von ihr begangen wurde. Sie rügt lediglich seine Einstufung als terroristische Handlung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 mit der irrelevanten Begründung, dass er sich in den bewaffneten Konflikt zwischen der PKK und der Republik Türkei einfüge (siehe oben, Rn. 134 und 135). Die Erwähnung dieses Anschlags im Beschluss 2019/1341 wird im Übrigen hinreichend begründet (siehe unten, Rn. 231).
192 Zudem ist hervorzuheben, dass der Umstand, dass die der Belassung auf den streitigen Listen zugrunde liegenden, als terroristisch eingeordneten Handlungen, bei denen die Klägerin weder Existenz noch Täterschaft bestreitet, von einer nationalen Behörde festgestellt wurden, die nicht als zuständige Behörde im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft werden kann, dem Rat nicht die Befugnis nimmt, sich im Rahmen seiner Überprüfung der Gefahr einer fortdauernden Beteiligung an terroristischen Aktivitäten auf solche Handlungen zu stützen. Bei der Überprüfung, ob die Aufnahme einer Körperschaft in die Liste begründet war, ist der Rat nämlich nicht verpflichtet, sich auf Gesichtspunkte zu stützen, die in einem Beschluss einer die Kriterien von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 erfüllenden zuständigen Behörde festgestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. September 2019, Hamas/Rat, T‑308/18, EU:T:2019:557, Rn. 150, und vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 143).
193 Im vorliegenden Fall ist es daher, wie oben in Rn. 96 dargelegt, nicht entscheidend, dass den Behörden der Vereinigten Staaten die Einstufung als zuständige Behörde versagt bleibt. Ebenso wenig ist das Vorbringen der Klägerin von Bedeutung, aus den Beschlüssen von 2019 gehe nicht klar hervor, dass die betreffenden Vorfälle neben ihrer Erwähnung in der Verwaltungsakte der Vereinigten Staaten auch die Grundlage für die Aufrechterhaltung ihrer Benennung als terroristische Organisation nach den Überprüfungen durch die Behörden der Vereinigten Staaten gebildet hätten.
194 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin, anders als in der Rechtssache T‑316/14 RENV, mit Ausnahme der Entführung von drei chinesischen Ingenieuren auch nicht bestreitet, dass die Handlungen, auf die der Beschluss des Innenministers des Vereinigten Königreichs von 2014 gestützt ist, tatsächlich stattgefunden haben und dass sie an ihnen beteiligt war.
195 Zudem ist die vom Gerichtshof festgestellte Unzulänglichkeit der Begründung in Bezug auf den Anschlag auf das Kraftwerk im August 2014, bei dem drei chinesische Ingenieure entführt wurden, zu berücksichtigen (Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 78). Auch wenn die Klägerin sie in der Rechtssache T‑148/19 in ihrer Stellungnahme zum Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), nicht rügt, ist diese Erwägung zwingendes Recht, und den Parteien wurde Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen.
196 Was erstens den Beschluss 2019/25 betrifft, folgt daraus, dass die letzte von der PKK begangene, vom Rat zutreffend herangezogene und als terroristisch eingestufte Handlung (siehe oben, Rn. 135 und 145), im Mai 2014 begangen wurde, was einem zeitlichen Abstand von etwa viereinhalb Jahren zu diesem Beschluss entspricht, so dass es keiner Aktualisierung bedurfte (siehe oben, Rn. 167).
197 Diese Handlung fand zudem nach den Ereignissen von 2012 und 2013 statt, die eine Aktualisierung der Beurteilung der Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten rechtfertigten, die somit insoweit ordnungsgemäß durchgeführt wurde.
198 Im Übrigen kann wie bei der Beurteilung, die in Bezug auf die Rechtsakte von 2015 bis 2017 vorgenommen worden ist, davon ausgegangen werden, dass der Rat zu Recht die Ansicht vertreten hat, dass die Beteiligung der PKK am Kampf gegen Daech nach dem Anschlag im Mai 2014 keine Änderung der Umstände darstelle, die ihn dazu verpflichtet hätten, sich zu vergewissern, ob die Gefahr einer Beteiligung der PKK an terroristischen Aktivitäten fortbestehe (siehe oben, Rn. 187). Dies gilt umso mehr, als die Klägerin in der Rechtssache T‑148/19 als weitere Änderung der Umstände die Umwandlung des türkischen Staates in einen totalitären Staat geltend macht, der das kurdische Volk unterdrücke, wodurch sie den Fortbestand ihrer Feindseligkeit gegenüber den türkischen Behörden deutlich macht. Da diese Unterdrückung im Übrigen im Wesentlichen zur Stützung des Vorbringens der PKK zum bewaffneten Konflikt zwischen ihr und der Republik Türkei geltend gemacht wird, kommt in ihr keine Entwicklung zum Ausdruck, die als solche eine Befriedung der PKK impliziert.
199 Gleiches gilt für die Erklärungen von Herrn Öcalan, in denen er seine Bereitschaft zu politischen Verhandlungen und die Notwendigkeit einer demokratischen Lösung statt der Beibehaltung konfrontativer Haltungen und der Anwendung physischer Gewalt bekundete. Abgesehen davon, dass diese von den Anwälten von Herrn Öcalan gesammelten und sodann veröffentlichten Erklärungen aus der Zeit von Mai bis August 2019 deutlich weniger feierlich und affirmativ sind als die oben genannte Erklärung von 2013, und davon, dass die PKK darin nicht erwähnt wird, wurden sie nach dem Beschluss 2019/25 abgegeben.
200 Was zweitens den Beschluss 2019/1341 angeht, wurde die letzte vom Rat zutreffend herangezogene und als terroristisch eingestufte Handlung der PKK (siehe oben, Rn. 191) im Jahr 2017 begangen, also weniger als zwei Jahre vor diesem Beschluss, so dass der zeitliche Abstand zu ihm erst recht keine Aktualisierung der Beurteilung des Fortbestehens der Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten erforderlich machte.
201 Da der Anschlag von 2017 im Übrigen weit nach den Ereignissen von 2012 und 2013 und dem Beginn der Beteiligung der PKK am Kampf gegen Daech stattfand, kann auch davon ausgegangen werden, dass dieser Anschlag es rechtfertigte, dass der Rat am Ende seiner Überprüfung das Fortbestehen der Gefahr einer Beteiligung der PKK an terroristischen Aktivitäten bejahte und ihren Namen trotz dieser Ereignisse und dieser Beteiligung durch den Erlass des Beschlusses 2019/1341 auf der streitigen Liste beließ. Die oben genannten Erklärungen von Herrn Öcalan in der Zeit von Mai bis August 2019 sind im Hinblick auf den am 8. August 2019 erlassenen Beschluss 2019/1341 zu neu, um schon in diesem Stadium eine Aktualisierung der Beurteilung des Rates zu rechtfertigen, da noch nicht genug Zeit vergangen war, um abzuschätzen, welche Folgen diese Erklärungen in Bezug auf die Beendigung der Gewalt oder die Einleitung eines Friedensprozesses haben würden.
202 Daraus folgt, dass der Rat die Anforderungen von Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 bei seiner Überprüfung des Fortbestehens der Gefahr einer Beteiligung der PKK an terroristischen Aktivitäten in den Beschlüssen von 2019 beachtet hat.
203 Nach alledem ist dem Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geltend gemacht wird, nur in Bezug auf die Rechtsakte von 2014 stattzugeben, ohne dass der nur gegen die Rechtsakte von 2014 gerichtete Klagegrund eines Verstoßes gegen die Art. 4 und 51 der Charta (siehe oben, Rn. 175) und die drei weiteren zur Stützung des Antrags auf Nichtigerklärung dieser Rechtsakte geltend gemachten Klagegründe geprüft zu werden brauchen. Hinsichtlich der Rechtsakte von 2015 bis 2017 und der Beschlüsse von 2019 ist der Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 dagegen zurückzuweisen.
4. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
204 Die Klägerin macht geltend, die Belassung ihres Namens auf den streitigen Listen stelle ein unverhältnismäßiges Mittel zur Verfolgung des Ziels der Bekämpfung des Terrorismus dar, wenn man die Änderung der Umstände seit 2002 sowie die Auswirkungen der Aufnahme in die Listen in den Mitgliedstaaten, auch in Bezug auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, auf die politischen Aktionen der PKK und für die Kurden im Allgemeinen berücksichtige. Die in Rede stehende Aufnahme scheine überdies von unbegrenzter Dauer zu sein, und es gebe weniger einschneidende Maßnahmen, um den Terrorismus zu bekämpfen.
205 Angesichts der festgestellten Rechtswidrigkeit der Rechtsakte von 2014 wird der vorliegende Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Gründen der Verfahrensökonomie nur insoweit geprüft, als er sich auf die Rechtsakte von 2015 bis 2017 und die Beschlüsse von 2019 bezieht.
206 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Grundrechte, darunter das Eigentumsrecht, das Recht auf freie Meinungsäußerung oder das Versammlungsrecht, im Unionsrecht keinen uneingeschränkten Schutz genießen. Ihre Ausübung kann Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese erstens durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind und zweitens keinen im Hinblick auf diese Ziele unverhältnismäßigen oder untragbaren Eingriff darstellen, der die Grundrechte in ihrem Wesensgehalt antasten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Al-Aqsa/Rat und Niederlande/Al-Aqsa, C‑539/10 P und C‑550/10 P, EU:C:2012:711, Rn. 121 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
207 Was die erste Voraussetzung betrifft, wird nach ständiger Rechtsprechung mit dem Einfrieren von Geldern, Finanzvermögen und anderen wirtschaftlichen Ressourcen der Personen und Organisationen, die nach den in der Verordnung Nr. 2580/2001 und dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 festgelegten Regeln als an der Finanzierung des Terrorismus beteiligt identifiziert worden sind, ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt, das sich in den Kampf gegen die durch terroristische Handlungen auf dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit lastenden Bedrohungen einfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Al-Aqsa/Rat und Niederlande/Al-Aqsa, C‑539/10 P und C‑550/10 P, EU:C:2012:711, Rn. 123 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
208 Zur zweiten Voraussetzung ist festzustellen, dass bei Maßnahmen, die das Einfrieren von Geldern regeln, grundsätzlich nicht davon ausgegangen wird, dass sie unverhältnismäßig oder untragbar sind oder den Wesensgehalt aller oder bestimmter Grundrechte antasten.
209 Derartige Maßnahmen sind nämlich in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, um den Terrorismus zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat, T‑256/07, EU:T:2008:461, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem gelten die Maßnahmen betreffend das Einfrieren von Geldern nicht absolut, da die Art. 5 und 6 der Verordnung Nr. 2580/2001 die Möglichkeit vorsehen, zum einen die Verwendung eingefrorener Gelder zur Deckung von Grundbedürfnissen oder zur Erfüllung bestimmter Verpflichtungen zu genehmigen und zum anderen spezifische Genehmigungen zu erteilen, um eingefrorene Gelder, sonstige Vermögenswerte oder andere wirtschaftliche Ressourcen unter bestimmten Voraussetzungen freizugeben (vgl. Urteil vom 15. November 2012, Al-Aqsa/Rat und Niederlande/Al-Aqsa, C‑539/10 P und C‑550/10 P, EU:C:2012:711, Rn. 127 und die dort angeführte Rechtsprechung).
210 Überdies stellt das Einfrieren von Geldern keine permanente Maßnahme dar, da die Belassung der Namen der Personen und Organisationen auf den Listen betreffend das Einfrieren von Geldern nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 regelmäßig überprüft wird, um sicherzustellen, dass die Namen derjenigen gestrichen werden, die nicht mehr die Kriterien erfüllen, um auf den Listen zu stehen (Urteil vom 15. November 2012, Al-Aqsa/Rat und Niederlande/Al-Aqsa, C‑539/10 P und C‑550/10 P, EU:C:2012:711, Rn. 129).
211 Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass davon ausgegangen werden kann, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt worden ist, da der Rat das Fortbestehen der Gefahr einer Beteiligung der Klägerin an terroristischen Aktivitäten ordnungsgemäß geprüft hat, wobei er in den Rechtsakten 2015 bis 2017 (siehe oben, Rn. 188) und in den Beschlüssen von 2019 (siehe oben, Rn. 202) insbesondere die von der Klägerin behaupteten Änderungen der Umstände berücksichtigte.
212 Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die in Rede stehenden Maßnahmen des Einfrierens von Geldern ineffizient und somit unangemessen sein sollen, da sie die Gewalt gegen die Kurden nicht verhindert und keine friedliche und demokratische Lösung des Konflikts zwischen den Kurden und den türkischen Behörden herbeigeführt hätten. Dies ist nicht das Ziel der Rechtsakte von 2015 bis 2017 und der Beschlüsse von 2019, wie auch aus einigen ihrer Titel, die den Titel des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 übernehmen, und aus der Erwähnung des Ziels der Bekämpfung des Terrorismus hervorgeht. Von der Klägerin wird im Übrigen weder die Existenz dieses Ziels noch dessen Legitimität in Frage gestellt, die zudem durch die oben in Rn. 207 angeführte Rechtsprechung bestätigt wird.
213 Unerheblich sind auch die geltend gemachten Auswirkungen auf die Kurden und allgemeiner auf jede Person, die die Kurden unterstützen möchte. Die Rechtsakte von 2015 bis 2017 und die Beschlüsse von 2019 betreffen ausschließlich die Bekämpfung des Terrorismus und die PKK, die nur in den Anhängen dieser Rechtsakte und Beschlüsse als Beteiligte an terroristischen Handlungen erwähnt wird. Selbst wenn die von der Klägerin beanstandeten Maßnahmen gegen nicht mit ihr in Verbindung stehende Personen, wie Festnahmen oder Beschränkungen der Freizügigkeit, erwiesen wären, könnten sie unabhängig davon, ob sie von Behörden der Mitgliedstaaten oder von türkischen Behörden – für die die Rechtsakte von 2015 bis 2017 und die Beschlüsse von 2019 im Übrigen nicht bindend sind – getroffen werden, nicht als Folge der Rechtsakte und Beschlüsse, die lediglich das Einfrieren von Geldern vorschreiben, angesehen werden, und erlauben somit nicht die Feststellung ihrer Unverhältnismäßigkeit.
214 Das Vorbringen der Klägerin, dass es weniger einschneidende Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gebe, lässt offen, worin diese Maßnahmen bestehen sollen. Das Gericht ist daher nicht in der Lage, zu beurteilen, ob damit das angestrebte Ziel – die Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus – ebenso wirksam erreicht werden könnte wie durch das Einfrieren von Geldern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 317 und 318).
215 Daraus folgt, dass der Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurückzuweisen ist, soweit er die Rechtsakte von 2015 bis 2017 und die Beschlüsse von 2019 betrifft.
5. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht
216 Nach ständiger Rechtsprechung muss die durch Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen in die Lage versetzt werden, ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme zu entnehmen, um ihre Rechtmäßigkeit beurteilen zu können, und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
217 Die somit erforderliche Begründung muss der Natur des betreffenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen worden ist, angepasst sein. Das Begründungserfordernis ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, insbesondere des Inhalts dieses Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und des Interesses, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen insbesondere weder alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden noch muss auf die Erwägungen des Betroffenen bei seiner Anhörung vor Erlass des Rechtsakts im Einzelnen eingegangen werden, da die Frage, ob eine Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Ein beschwerender Rechtsakt ist folglich hinreichend begründet, wenn er in einem Kontext ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihm gestattet, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (vgl. Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
218 Was speziell die Belassung des Namens einer Person oder Körperschaft auf einer Liste betreffend das Einfrieren von Geldern anbelangt, muss der Unionsrichter im Rahmen seiner Prüfung, ob die in Art. 296 AEUV vorgesehene Begründungspflicht beachtet wurde, klären, ob die angeführten Gründe hinreichend präzise und konkret sind (vgl. Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 52 und 56 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
219 Folglich musste der Rat im vorliegenden Fall, um seiner in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht nachzukommen, hinreichend präzise und konkrete Gründe darlegen, damit die Klägerin die Gründe für die Belassung ihres Namens auf den streitigen Listen erkennen und das Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.
220 Die Klägerin stützt den Klagegrund, mit dem sie die Verletzung der Begründungspflicht durch die angefochtenen Rechtsakte geltend macht, im Wesentlichen auf sechs Rügen. Da dem Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 in Bezug auf die Beschlüsse der Behörden der Vereinigten Staaten von 1997 und 2001 und dem Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts in Bezug auf die Rechtsakte von 2014 stattgegeben worden ist, brauchen die Rügen, mit denen die Begründung dieser Rechtsakte beanstandet wird, und die Rüge der Bezugnahme auf die oben genannten Entscheidungen der Vereinigten Staaten nicht geprüft zu werden. Da die Klägerin dem Rat mit einer ihrer sechs Rügen vorwirft, dadurch seine Begründungspflicht verletzt zu haben, dass er nicht geprüft habe, ob die Verteidigungsrechte und der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz von den Behörden der Vereinigten Staaten beim Erlass ihrer Beschlüsse von 1997 und 2001 garantiert worden seien, werden somit im Folgenden nur die fünf Rügen zur Stützung des Klagegrundes eines Verstoßes des Rates gegen die Begründungspflicht in Bezug auf die Rechtsakte von 2015 und 2017 sowie die Beschlüsse von 2019 geprüft.
221 Erstens macht die Klägerin geltend, der Rat habe dadurch gegen seine Begründungspflicht verstoßen, dass er nicht erläutert habe, warum die nationalen Beschlüsse, auf die er sich gestützt habe, Beschlüsse im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 seien.
222 Das Gericht hat im Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat (T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 329 und 330), entschieden, dass der Rat nicht darzulegen braucht, inwiefern der nationale Beschluss, auf den er sich stützt, ein Beschluss einer zuständigen Behörde im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ist, und dass nur dann, wenn diese Einstufung von der betreffenden Person oder Körperschaft im Verwaltungsverfahren vor dem Rat substantiiert bestritten wird – was hier nicht der Fall ist –, der Rat die zu diesem Punkt erlassenen Maßnahmen näher begründen muss.
223 Jedenfalls hat der Rat eine solche Begründung in den Rechtsakten von 2015 bis 2017 sowie in den Beschlüssen von 2019 im Rahmen eines speziell der „Übereinstimmung mit den Anforderungen für die zuständige nationale Behörde im Sinne des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931“ gewidmeten Abschnitts der Begründungen geliefert, wobei er unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichts zur Prüfung ähnlicher Entscheidungen der Behörden des Vereinigten Königreichs anhand von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts zu dem Schluss kam, dass eine solche Übereinstimmung vorliege (Rn. 3).
224 Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass die erste Rüge, mit der eine unzureichende Begründung geltend gemacht wird, zurückzuweisen ist.
225 Zweitens macht die Klägerin geltend, der Rat habe gegen seine Begründungspflicht verstoßen, weil er die tatsächlichen und genauen Gründe, auf die sich die berücksichtigten nationalen Beschlüsse stützten, nicht angeführt habe. Diese zweite Rüge wird in Bezug auf sämtliche in den Rechtsakten von 2015 bis 2017 berücksichtigten Beschlüsse und allein in Bezug auf die in den Beschlüssen von 2019 berücksichtigten Beschlüsse der Vereinigten Staaten von 2013 und 2019 geltend gemacht.
226 Drittens macht die Klägerin geltend, der Rat habe gegen seine Begründungspflicht verstoßen, weil er die tatsächlichen und genauen Gründe für die Belassung ihres Namens auf den Listen nach der Überprüfung nicht angeführt habe. Diese dritte Rüge wird nur in Bezug auf die Rechtsakte von 2015 bis 2017 erhoben.
227 Hinsichtlich der zweiten und der dritten Rüge ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 76 bis 89), im Rahmen seiner Analyse des sechsten und des siebten Rechtsmittelgrundes entschieden hat, dass die Rechtsakte von 2015 bis 2017, abgesehen von einem der berücksichtigten Vorfälle, insofern hinreichend begründet waren, als sie sich auf den Beschluss des Vereinigten Königreichs von 2014 stützten und den Namen der Klägerin auf den streitigen Listen beließen; an diese Beurteilung ist das Gericht gebunden.
228 Hinsichtlich der Beschlüsse von 2019, deren Begründung insofern unzureichend sein soll, als sie sich auf die Beschlüsse der Behörden der Vereinigten Staaten, konkret auf die Überprüfungen durch diese Behörden in den Jahren 2013 und 2019, stützten, ist zwischen dem Beschluss 2019/25 und dem Beschluss 2019/1341 zu unterscheiden.
229 Im Fall des Beschlusses 2019/25 ist, da die Prüfung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ergeben hat, dass die Belassung des Namens der Klägerin auf den streitigen Listen durch diesen Beschluss unabhängig von der Heranziehung der Beschlüsse der Vereinigten Staaten mit dieser Vorschrift im Einklang steht (siehe oben, Rn. 196 und 198), über die behauptete Unzulänglichkeit der Begründung, die nur die letztgenannten Beschlüsse betrifft, nicht zu entscheiden.
230 Im Fall des Beschlusses 2019/1341 ist, da die Zurückweisung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 u. a. auf der Berücksichtigung des von den Behörden der Vereinigten Staaten bei ihrer Überprüfung im Jahr 2019 festgestellten Anschlags von 2017 beruht (siehe oben, Rn. 191 und 200), zu prüfen, ob die Begründung hinsichtlich dieses Beweises hinreichend ist. Insoweit ist hinzuzufügen, dass dieser Beweis gemäß Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 berücksichtigt wird, so dass es unerheblich ist, dass die Feststellung nicht von einer zuständigen Behörde stammte, ebenso wie es folglich unerheblich ist, dass, wie die Klägerin geltend macht, aus der Begründung des Beschlusses 2019/1341 nicht klar hervorgeht, ob dieser Vorfall, der in der Verwaltungsakte des Außenministeriums der Vereinigten Staaten von 2019 festgehalten ist, auch die Grundlage für die Beibehaltung der Benennung als terroristische Organisation durch die Behörden der Vereinigten Staaten im Jahr 2019 war.
231 Was die relevanten Tatsachen betrifft, die den Verbleib auf den Listen betreffend das Einfrieren von Geldern rechtfertigen, so setzt die Einhaltung der Begründungspflicht voraus, dass ihre Art, ihr genauer Zeitpunkt (Tag) und der Ort ihrer Begehung angegeben werden, wobei insoweit eine gewisse Unschärfe zulässig ist, da nicht unbedingt die genaue Stadt angegeben werden muss, sofern das Gebiet oder die Provinz genannt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 61, 62 und 78 bis 80). Solche Angaben sind in der Begründung des Beschlusses 2019/1341 enthalten, in dem die Art des in Rede stehenden Anschlags (Sprengstoffanschlag auf ein türkisches Militärfahrzeug), sein Zeitpunkt (23. Juni 2017) und der Ort, an dem er begangen wurde (südliche Provinz Hakkari), genannt werden. Das Vorbringen, der Beschluss 2019/1341 sei nicht hinreichend begründet, ist daher zurückzuweisen.
232 Viertens macht die Klägerin geltend, der Rat habe seine Begründungspflicht verletzt, weil er nicht überprüft habe, ob die von den nationalen Behörden angeführten Handlungen als terroristische Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 eingestuft werden könnten.
233 Fünftens soll sich ein Verstoß gegen die Begründungspflicht aus dem Fehlen eines Nachweises für die Relevanz der Beschlüsse des Vereinigten Königreichs sowie der berücksichtigten französischen Entscheidungen ergeben, insbesondere angesichts der verstrichenen Zeit.
234 In Bezug auf die beiden letztgenannten Rügen ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Die Begründung einer Entscheidung soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen sie beruht. Weisen die Gründe Fehler auf, beeinträchtigen diese die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung, nicht aber deren Begründung, die, obwohl die Gründe fehlerhaft sind, hinreichend sein kann. Daraus folgt, dass die Rügen und Argumente, die die Begründetheit eines Rechtsakts in Frage stellen sollen, im Rahmen eines Klagegrundes, mit dem eine fehlende oder unzureichende Begründung gerügt wird, unerheblich sind (vgl. Urteil vom 18. Juni 2015, Ipatau/Rat, C‑535/14 P, EU:C:2015:407, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung; Urteil vom 30. Juni 2016, Al Matri/Rat, T‑545/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:376, Rn. 143). Insoweit ist hinzuzufügen, dass die Unzulänglichkeit der vom Rat vorgenommenen Prüfung einen Fehler darstellt, der die materielle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Rechtsakts beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, EU:C:1998:154, Rn. 72).
235 Im vorliegenden Fall werden mit der vierten und der fünften Rüge der Klägerin zur Stützung ihres Klagegrundes einer Verletzung der Begründungspflicht in Wirklichkeit der Umfang und der Inhalt der Überprüfung beanstandet, die der Rat zum Zweck des Erlasses der angefochtenen Beschlüsse vorgenommen hat; dies zeigt im Übrigen der Verweis der Klägerin auf ihre früheren Klagegründe, mit denen sie materiell-rechtliche Fehler geltend macht.
236 So ist die Frage, ob der Rat seiner Verpflichtung nachgekommen ist, sich zu vergewissern, ob die von den nationalen Behörden festgestellten Handlungen der Definition der terroristischen Handlung im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 entsprechen (vierte Rüge), im Rahmen des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geprüft worden.
237 Gleiches gilt für die Verpflichtungen des Rates im Rahmen der Überprüfung der streitigen Listen und der dabei zu berücksichtigenden verstrichenen Zeit sowie der nationalen Beschlüsse, die nach den Beschlüssen gefasst wurden, auf denen die erstmalige Aufnahme beruhte (fünfte Rüge); sie sind im Rahmen des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 geprüft worden, dem teilweise stattgegeben worden ist, ohne dass zu diesem Zweck eine Prüfung der französischen Entscheidungen erforderlich gewesen wäre.
238 Nach alledem ist der Klagegrund eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht im Wesentlichen zurückzuweisen, mit Ausnahme der Begründung des von den Behörden des Vereinigten Königreichs festgestellten Vorfalls im August 2014, die im Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), für unzureichend befunden worden ist (siehe oben, Rn. 182 und 227).
6. Zum Klagegrund einer Verletzung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
239 Die Klägerin stützt diesen Klagegrund auf drei Rügen. Erstens habe der Rat ihr unter Missachtung der im Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi (C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518), herausgearbeiteten Kriterien die Beweise, auf die sich die Behörden des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten gestützt hätten, nicht übermittelt. Zweitens habe der Rat nicht nachgewiesen, dass die Verteidigungsrechte und der Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vor den amerikanischen und französischen Behörden gewahrt worden seien. Drittens seien ihre Verteidigungsrechte und ihr Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auch dadurch verletzt worden, dass der Rat das Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), in eklatanter Weise missachtet habe.
240 Was die erste Rüge betrifft, so verpflichtet der Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte den Rat nach ständiger Rechtsprechung nicht dazu, von sich aus Zugang zu den in seinen Akten enthaltenen Schriftstücken zu gewähren, wenn hinreichend genaue Informationen mitgeteilt wurden, die es der von einer restriktiven Maßnahme betroffenen Einrichtung erlauben, zu den ihr vom Rat zur Last gelegten Gesichtspunkten sachdienlich Stellung zu nehmen. Nur auf Antrag des Betroffenen ist der Rat verpflichtet, Einsicht in alle nicht vertraulichen Verwaltungspapiere zu gewähren, die die in Rede stehende Maßnahme betreffen (vgl. Urteil vom 24. November 2021, LTTE/Rat, T‑160/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:817, Rn. 367 und die dort angeführte Rechtsprechung).
241 Im vorliegenden Fall wurden der Klägerin zum einen hinreichend genaue Informationen über die ihr zur Last gelegten Gesichtspunkte mitgeteilt, die für die Zwecke der Belassung ihres Namens auf den streitigen Listen in den Begründungen im Anhang der Rechtsakte von 2015 bis 2017 und der Beschlüsse von 2019 – die hier angesichts der festgestellten Rechtswidrigkeit der Rechtsakte von 2014 aus Gründen der Verfahrensökonomie als einzige geprüft werden – herangezogen wurden. Zum anderen hat die Klägerin in Beantwortung einer Frage des Gerichts in Bezug auf diese Rechtsakte und Beschlüsse ein einziges Schreiben vom 6. März 2015 vorgelegt, das dem Rat vor dem Erlass der Rechtsakte von 2015 übersandt wurde. Dieses Schreiben beschränkt sich hinsichtlich der in den Beschlüssen der Behörden des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten, die der Rat für die Zwecke der Belassung auf den streitigen Listen herangezogen hat, behandelten Vorfälle – um die es in diesem Klagegrund allein geht, da die Klägerin nur bei ihnen bestreiten kann, dass sie stattgefunden haben und ihr zurechenbar sind (siehe oben, Rn. 37 und 80) – darauf, das Fehlen weiterer Angaben zu beanstanden (vierter und sechster Absatz des Schreibens), was einer Einstufung dieser Vorfälle als terroristische Handlungen entgegenstehe. Dies betrifft aber die Frage der Einstufung als terroristische Handlungen und nicht die Frage – die eine Übermittlung entsprechender Beweise rechtfertigen könnte –, wem die in Rede stehenden Vorfälle anzulasten sind oder ob sie tatsächlich stattgefunden haben. Zudem würde, wenn darin ein, sei es auch impliziter, Antrag auf Akteneinsicht gesehen würde, der Grundsatz der ausnahmsweisen und antragsgebundenen Akteneinsicht in Frage gestellt, wonach das Erfordernis einer spontanen Übermittlung des Inhalts der Akte zu weit ginge (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2009, Bank Melli Iran/Rat, T‑390/08, EU:T:2009:401, Rn. 97).
242 Daraus folgt, dass der Rat im vorliegenden Fall nicht verpflichtet war, der Klägerin die relevanten, von ihr nicht angeforderten Beweise zu übermitteln, so dass die erste Rüge zurückzuweisen ist.
243 Die zweite Rüge deckt sich, was die Beschlüsse der Vereinigten Staaten betrifft, mit der zur Stützung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 angeführten Rüge, mit der dem Rat vorgeworfen wird, er habe nicht geprüft, ob diese Beschlüsse unter Wahrung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ergangen seien. Da der letztgenannten Rüge stattgegeben worden ist (siehe oben, Rn. 96), ist auch der vorliegenden Rüge stattzugeben, mit der dem Rat der gleiche Vorwurf gemacht wird.
244 Hinsichtlich der französischen Entscheidungen braucht über die in Rede stehende Rüge nicht entschieden zu werden, da über die vorliegende Klage entschieden werden kann, ohne sie zu berücksichtigen (siehe oben, Rn. 188).
245 Zur dritten Rüge, die nur in der Rechtssache T‑148/19 erhoben wird und mit der geltend gemacht wird, der Rat habe das Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), missachtet, hat die Klägerin auf eine Frage des Gerichts geantwortet, ihre Rüge könne dahin ausgelegt werden, dass sie auf einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV gestützt sei, was im Sitzungsprotokoll festgehalten worden ist. Der Rat ist dieser Auslegung der Rüge im Übrigen nicht entgegengetreten.
246 Nach Art. 266 AEUV hat das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die sich aus dem Nichtigkeitsurteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Diese Verpflichtung besteht für das Organ ab der Verkündung des Nichtigkeitsurteils, wenn mit ihm Beschlüsse für nichtig erklärt werden – wie es hier der Fall ist, da sich unter den Rechtsakten von 2014 und den Rechtsakten von 2015 bis 2017, die durch das Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), für nichtig erklärt wurden, mehrere Beschlüsse befinden –, während Urteile, mit denen Verordnungen für nichtig erklärt werden, nach Art. 60 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist oder, wenn ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, nach dessen Zurückweisung wirksam werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Februar 2018, Klyuyev/Rat, T‑731/15, EU:T:2018:90, Rn. 259 bis 262 und die dort angeführte Rechtsprechung).
247 Genauer gesagt verpflichtet die Feststellung der Rechtswidrigkeit in den Gründen des Nichtigkeitsurteils das Organ, das den Rechtsakt erlassen hat, nach Art. 266 AEUV, die Rechtswidrigkeit in dem Rechtsakt zu beseitigen, der an die Stelle des für nichtig erklärten Rechtsakts treten soll. Diese Verpflichtung kann jedoch für das Organ weitere Folgen nach sich ziehen, soweit sie eine Bestimmung feststehenden Inhalts in einem konkreten Sachgebiet zum Gegenstand hat, wie die Verpflichtung, in die neuen, nach dem Nichtigkeitsurteil zu erlassenden Rechtsvorschriften keine Bestimmung aufzunehmen, die mit der für rechtswidrig erklärten Bestimmung inhaltsgleich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 1988, Asteris u. a./Kommission, 97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, EU:C:1988:199, Rn. 28 und 29).
248 Wenn der Rat, als er die Beschlüsse von 2019 erließ, den Namen der Klägerin auf den in Rede stehenden Listen belassen wollte, musste er somit, um seinen Verpflichtungen aus Art. 266 AEUV nachzukommen, einen im Einklang mit den Gründen des Urteils vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), stehenden Rechtsakt über die Wiederaufnahme in die Listen erlassen. Eine solche Pflicht bestand für den Rat vor allem angesichts der im vorliegenden Fall betroffenen Rechtsakte, deren Wirkungen zeitlich begrenzt sind, was bedeutet, dass der Rat den für nichtig erklärten Rechtsakt für den betreffenden Zeitraum nicht ersetzen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 1988, Asteris u. a./Kommission, 97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, EU:C:1988:199, Rn. 29), und die überdies, was die Überprüfung des Fortbestehens der Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 betrifft, häufig dadurch gekennzeichnet sind, dass in den späteren Rechtsakten die in den früheren Rechtsakten enthaltenen Begründungen, gegebenenfalls in aktualisierter Form, wiederholt werden. Ohne diese Pflicht würde die Nichtigerklärung durch den Unionsrichter nämlich nicht verhindern, dass in den späteren Rechtsakten rechtswidrige Begründungen wiederholt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2017, Bank Tejarat/Rat, T‑346/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:164, Rn. 31), und würde somit ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt.
249 Im vorliegenden Fall hat der Rat in den Beschlüssen von 2019 die in den Rechtsakten von 2015 bis 2017 enthaltenen Gründe, die im Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), beanstandet worden waren, reproduziert. Der Rat hat zwar gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel eingelegt. Dieses Rechtsmittel hatte jedoch, was die Wirkungen der Nichtigerklärung der streitigen Beschlüsse durch das Gericht angeht, keine aufschiebende Wirkung. Zudem wurde kein Antrag auf Aussetzung der Wirkungen des Nichtigkeitsurteils gestellt, was der Rat hätte tun können. Eine solche Weigerung des Rates, die Konsequenzen aus der Rechtskraft zu ziehen, ist geeignet, das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Beachtung gerichtlicher Entscheidungen zu untergraben.
250 Der Verstoß des Rates gegen seine Verpflichtungen aus Art. 266 AEUV kann gleichwohl im vorliegenden Fall nicht zur Nichtigerklärung der Beschlüsse von 2019 führen. Das Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), wurde durch das Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), u. a. insoweit aufgehoben, als darin die Rechtsakte von 2015 bis 2017 für nichtig erklärt worden waren. Angesichts der Rückwirkung dieser Aufhebung durch den Gerichtshof kann die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse von 2019 nicht mehr wegen Missachtung des Urteils vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), durch den Rat in Frage gestellt werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. April 2014, Manufacturing Support & Procurement Kala Naft/Rat, T‑263/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:228, Rn. 37). Die dritte Rüge ist daher zurückzuweisen.
251 Trotz der Zurückweisung dieser dritten Rüge war der Rat jedoch zum Zeitpunkt des Erlasses der Beschlüsse von 2019 und der Klageerhebung in der Rechtssache T‑148/19 verpflichtet, die Konsequenzen aus den im Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), festgestellten Rechtsfehlern zu ziehen, und durfte die mit ihnen behafteten Gründe nicht erneut in die Begründungen aufnehmen. Die Klägerin durfte daher davon ausgehen, zur Erhebung der vorliegenden Klage berechtigt zu sein, was bei der Kostenentscheidung zu berücksichtigen sein wird.
252 Daraus folgt, dass dem vorliegenden Klagegrund nur insoweit stattzugeben ist, als dem Rat vorgeworfen wird, nicht geprüft zu haben, ob die Beschlüsse der Behörden der Vereinigten Staaten unter Wahrung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ergangen waren.
7. Ergebnis
253 Aus alledem folgt, dass die Rechtsakte von 2014 für nichtig zu erklären sind, da in Bezug auf sie dem Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 stattgegeben worden ist.
254 Dagegen kann die nur teilweise Begründetheit der Klagegründe eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 sowie einer Verletzung der Begründungspflicht, der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht zur Nichtigerklärung der Rechtsakte von 2015 bis 2017 und der Beschlüsse von 2019 führen. Die entsprechenden Rechtsfehler, ob sie nun die Beschlüsse der Behörden der Vereinigten Staaten von 1997 und 2001 oder den der PKK zugeschriebenen Vorfall im August 2014 betreffen, erlauben es nicht, die Beurteilung des Rates hinsichtlich des Fortbestehens der Gefahr einer Beteiligung der PKK an terroristischen Aktivitäten in Frage zu stellen, die weiterhin wirksam auf die Fortgeltung der Verfügung des Innenministers des Vereinigten Königreichs sowie auf weitere Vorfälle im Jahr 2014 bzw. einen Sachverhalt aus dem Jahr 2017 gestützt ist (siehe oben, Rn. 188 und 202). Daher ist auch der in der Rechtssache T‑148/19 gestellte Antrag, dem Rat aufzugeben, eine weniger restriktive Maßnahme als die Aufnahme in die streitigen Listen zu erlassen, zurückzuweisen, ohne dass über seine Zulässigkeit entschieden zu werden braucht.
IV. Kosten
255 Nach Art. 133 der Verfahrensordnung wird im Endurteil über die Kosten entschieden. Nach Art. 219 der Verfahrensordnung obliegt es dem Gericht, wenn es nach Aufhebung und Zurückverweisung durch den Gerichtshof entscheidet, über die Kosten des Rechtsstreits vor dem Gericht und über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof zu entscheiden. Schließlich ist nach Art. 134 Abs. 1 und 3 der Verfahrensordnung die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und jede Partei trägt ihre eigenen Kosten, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt.
256 Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof im Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK (C‑46/19 P, EU:C:2021:316), das Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), aufgehoben und die Kostenentscheidung vorbehalten. Daher ist im vorliegenden Urteil über die Kosten des ursprünglichen Verfahrens vor dem Gericht (Rechtssache T‑316/14), des Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof (Rechtssache C‑46/19 P), des vorliegenden Zurückverweisungsverfahrens (Rechtssache T‑316/14 RENV) sowie des Verfahrens in der Rechtssache T‑148/19 zu entscheiden.
257 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Antrag der Klägerin auf Nichtigerklärung der Rechtsakte von 2014 begründet ist, während sie mit ihren Anträgen in Bezug auf alle anderen angefochtenen Rechtsakte unterlegen ist.
258 Hinsichtlich der Beschlüsse von 2019 ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Gericht nach Art. 135 Abs. 2 der Verfahrensordnung auch eine obsiegende Partei zur Tragung eines Teils der Kosten oder sämtlicher Kosten verurteilen kann, wenn dies wegen ihres Verhaltens, auch vor Klageerhebung, gerechtfertigt erscheint; dies gilt insbesondere für Kosten, die sie der Gegenpartei nach Ansicht des Gerichts ohne angemessenen Grund oder böswillig verursacht hat. Nach der Rechtsprechung ist Art. 135 Abs. 2 der Verfahrensordnung anzuwenden, wenn ein Unionsorgan durch sein Verhalten die Entstehung eines Rechtsstreits begünstigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2019, Ertico – ITS Europe/Kommission, T‑604/15, EU:T:2019:348, Rn. 182 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie oben in Rn. 249 dargelegt, konnte im vorliegenden Fall der Umstand, dass der Rat beim Erlass der Beschlüsse von 2019 seiner Pflicht nicht nachgekommen ist, die Konsequenzen aus den im Urteil vom 15. November 2018, PKK/Rat (T‑316/14, EU:T:2018:788), festgestellten Rechtsfehlern zu ziehen, die Klägerin dazu veranlassen, die Klage in der Rechtssache T‑148/19 zu erheben.
259 Unter Berücksichtigung aller Umstände erscheint es daher angemessen, die Klägerin und den Rat zur Tragung ihrer eigenen Kosten in allen oben in Rn. 256 genannten Rechtszügen zu verurteilen.
260 Schließlich tragen nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Demgemäß haben die Kommission, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande ihre eigenen Kosten in den Rechtszügen zu tragen, an denen sie mitgewirkt haben.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 125/2014 des Rates vom 10. Februar 2014 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 714/2013 sowie die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 790/2014 des Rates vom 22. Juli 2014 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung Nr. 125/2014 werden für nichtig erklärt, soweit sie die Kurdistan Workers’ Party (PKK) betreffen.
2. Im Übrigen wird die Klage in der Rechtssache T‑316/14 RENV abgewiesen.
3. Die Klage in der Rechtssache T‑148/19 wird abgewiesen.
4. Die PKK und der Rat der Europäischen Union tragen ihre eigenen in den Rechtssachen T‑316/14, C‑46/19 P, T‑316/14 RENV und T‑148/19 entstandenen Kosten.
5. Die Europäische Kommission, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande tragen ihre eigenen Kosten.
Gervasoni
Madise
Nihoul
Frendo
Martín y Pérez de Nanclares
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. November 2022.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
II. Anträge der Parteien
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
B. Zur Begründetheit
1. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
a) Zum Beschluss des Vereinigten Königreichs
1) Zur Einstufung des Innenministers des Vereinigten Königreichs als „zuständige Behörde“
2) Zu den genauen Informationen bzw. einschlägigen Akten, aus denen sich ergibt, dass ein solcher Beschluss von einer zuständigen Behörde gefasst wurde
3) Zum Zeitpunkt der terroristischen Handlungen, die das Verbot der PKK durch den Innenminister des Vereinigten Königreichs begründeten
b) Zu den Beschlüssen in den Vereinigten Staaten
2. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
a) Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
b) Zur Erheblichkeit des Klagegrundes
c) Zur Begründetheit des Klagegrundes
1) Zur Argumentation, dass die Ziele von Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 im Licht des legitimen bewaffneten Konflikts um die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes auszulegen seien
2) Zur Bestreitung des terroristischen Charakters der Ziele, die mit einigen der Klägerin zugeschriebenen Handlungen verfolgt werden
3. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
a) Zu der vom Rat in den Rechtsakten von 2014 durchgeführten Überprüfung (Rechtssache T‑316/14 RENV)
b) Zu der vom Rat in den Rechtsakten von 2015 bis 2017 durchgeführten Überprüfung (Rechtssache T‑316/14 RENV)
c) Zu der vom Rat im Rahmen der Beschlüsse von 2019 durchgeführten Überprüfung (Rechtssache T‑148/19)
4. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
5. Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht
6. Zum Klagegrund einer Verletzung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
7. Ergebnis
IV. Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 21. Dezember 2021.#Gmina Miasto Gdynia und Port Lotniczy Gdynia-Kosakowo sp. z o.o. gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Flughafeninfrastruktur – Von den Gemeinden Gdynia und Kosakowo zugunsten der Errichtung des Flughafens Gdynia-Kosakowo gewährte öffentliche Finanzierung – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Vorteil – Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden privaten Kapitalgebers – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Rückforderung – Aufhebung eines Beschlusses – Keine Wiedereröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Verfahrensrechte der Beteiligten – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht.#Rechtssache T-263/15 RENV.
|
62015TJ0263(01)
|
ECLI:EU:T:2021:927
| 2021-12-21T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TJ0263(01) - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 18. November 2020.#Lietuvos geležinkeliai AB gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Schienengüterverkehrsmarkt – Beschluss, mit dem ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV festgestellt wird – Zugang dritter Unternehmen zu den vom staatlichen Bahnunternehmen Litauens betriebenen Infrastrukturen – Entfernung eines Gleisabschnitts – Begriff des Missbrauchs – Tatsächliche oder wahrscheinliche Verdrängung eines Wettbewerbers – Berechnung des Betrags der Geldbuße – Leitlinien zur Festsetzung des Betrags von Geldbußen von 2006 – Abhilfemaßnahmen – Verhältnismäßigkeit – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung.#Rechtssache T-814/17.
|
62017TJ0814
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ECLI:EU:T:2020:545
| 2020-11-18T00:00:00 |
Gericht
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62017TJ0814
URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
18. November 2020 (*1)
„Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Schienengüterverkehrsmarkt – Beschluss, mit dem ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV festgestellt wird – Zugang dritter Unternehmen zu den vom staatlichen Bahnunternehmen Litauens betriebenen Infrastrukturen – Entfernung eines Gleisabschnitts – Begriff des Missbrauchs – Tatsächliche oder wahrscheinliche Verdrängung eines Wettbewerbers – Berechnung des Betrags der Geldbuße – Leitlinien zur Festsetzung des Betrags von Geldbußen von 2006 – Abhilfemaßnahmen – Verhältnismäßigkeit – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“
In der Rechtssache T‑814/17,
Lietuvos geležinkeliai AB mit Sitz in Vilnius (Litauen), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. Deselaers, K. Apel und P. Kirst,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch A. Cleenewerck de Crayencour, A. Dawes, H. Leupold und G. Meessen als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Orlen Lietuva AB mit Sitz in Mažeikiai (Litauen), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte C. Thomas und C. Conte,
Streithelferin,
betreffend eine Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2017) 6544 final der Kommission vom 2. Oktober 2017 in einem Verfahren nach Art. 102 AEUV (Sache AT.39813 – Baltic Rail) sowie hilfsweise auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße
erlässt
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas, des Richters H. Kanninen sowie der Richterinnen N. Półtorak (Berichterstatterin), O. Porchia und M. Stancu,
Kanzler: E. Artemiou, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Februar 2020
folgendes
Urteil
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Tatsächlicher Hintergrund
1 Lietuvos geležinkeliai AB (im Folgenden: die Klägerin oder LG) ist das staatliche Bahnunternehmen Litauens mit Sitz in Vilnius (Litauen). LG ist ein öffentliches Unternehmen, dessen alleiniger Aktionär der litauische Staat ist. Als vertikal integriertes Unternehmen ist LG gleichzeitig Betreiberin der Eisenbahninfrastrukturen, die jedoch im Eigentum des litauischen Staats verbleiben, und Erbringerin von Dienstleistungen für den Güter- und Personenschienenverkehr in Litauen.
2 Orlen Lietuva AB (im Folgenden: Streithelferin oder Orlen) ist ein Unternehmen mit Sitz in Juodeikiai im Distrikt Mažeikiai (Litauen), das auf die Erdölraffination und die Verteilung raffinierter Erdölprodukte spezialisiert ist. Orlen ist eine 100%ige Tochtergesellschaft des polnischen Unternehmens PKN Orlen SA.
3 Im Rahmen ihrer Tätigkeiten betreibt Orlen verschiedene Anlagen in Litauen, darunter eine wichtige Raffinerie (im Folgenden: Raffinerie) in Bugeniai im Distrikt Mažeikiai im Nordwesten Litauens in der Nähe der Grenze zu Lettland. Diese Raffinerie ist die einzige Anlage dieses Typs in den drei baltischen Staaten. Ende der 2000er Jahre wurden 90 % der Produktion der in dieser Raffinerie erzeugten raffinierten Erdölprodukte über den Schienenweg transportiert, wodurch Orlen eine der wichtigsten Kundinnen der Klägerin wurde.
4 Damals erzeugte Orlen in der Raffinerie etwa 8 Mio. Tonnen raffinierter Erdölprodukte im Jahr. Drei Viertel der Produktion waren für den Export bestimmt, der hauptsächlich auf dem Seeweg in die Länder Westeuropas erfolgte. So wurden 4,5 bis 5,5 Mio. Tonnen raffinierter Erdölprodukte durch Litauen mit dem Zug zum Seehafen Klaipėda (Litauen) befördert.
5 Der Rest der exportierten Produktion, d. h. etwa 1 bis 1,5 Mio. Tonnen, wurde – ebenfalls per Zug – nach oder durch Lettland befördert und war hauptsächlich für den Verbrauch auf den estnischen und lettischen Inlandsmärkten bestimmt. Etwa 60 % dieser per Zug nach oder durch Lettland transportierten Produktion wurde über die Bahnlinie „Bugeniai-Mažeikiai-Rengė“ befördert, deren Strecke von der in der Nähe des Gleisanschlusses von Mažeikiai gelegenen Raffinerie bis zur Stadt Rengė in Lettland führte und auf 34 km durch Litauen verlief (im Folgenden: kurze Strecke nach Lettland). Der Rest der per Zug nach oder durch Lettland transportierten Produktion wurde über die Bahnlinie „Bugeniai-Kužiai-Joniškis-Meitene“ befördert, eine längere Strecke, die auf 152 km durch Litauen verlief (im Folgenden: lange Strecke nach Lettland).
6 Um ihre Produkte auf der kurzen Strecke nach Lettland zu transportieren, nutzte Orlen die Dienste der Klägerin für den litauischen Teil der Strecke, d. h. von der Raffinerie bis zur lettischen Grenze. LG hatte damals mit Latvijas dzelzceļš, dem staatlichen Bahnunternehmen Lettlands (im Folgenden: LDZ), einen Untervertrag über den Transport auf dem litauischen Abschnitt der Strecke geschlossen. Da LDZ nicht über die notwendigen Genehmigungen für die selbständige Ausübung ihrer Tätigkeiten auf litauischem Gebiet verfügte, wurde sie als Subunternehmerin der Klägerin tätig. Nach dem Überqueren der Grenze führte LDZ den Transport der Produkte von Orlen auf lettischem Gebiet auf der Grundlage verschiedener Verträge durch.
7 Die Geschäftsbeziehungen zwischen Orlen und der Klägerin in Bezug auf die Transportdienstleistungen der Klägerin im litauischen Eisenbahnnetz, einschließlich der Transportdienste auf der kurzen Strecke nach Lettland, waren bis September 2008 in einer Vereinbarung aus dem Jahr 1999 (im Folgenden: Vereinbarung von 1999) geregelt.
8 Neben der Regelung der Gebühren, die die Klägerin für die Transportdienste erhob, beinhaltete die Vereinbarung von 1999 u. a. eine besondere Verpflichtung der Klägerin, die Fracht von Orlen auf der kurzen Strecke nach Lettland zu transportieren. Art. 6.1 der Vereinbarung gewährte Orlen nämlich für die gesamte Dauer der Vereinbarung, d. h. bis 2024, das Recht, „die Strecke Bugeniai-Rengė (etwa 34 km) für den Transport von Fracht in Lettland, Estland oder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu nutzen“.
9 Anfang 2008 kam es zwischen der Klägerin und Orlen zu geschäftlichen Differenzen über die Gebühren, die Orlen für den Transport ihrer Erdölprodukte zu entrichten hatte.
10 Aufgrund dieser geschäftlichen Differenzen mit der Klägerin im Zusammenhang mit den Gebühren erwog Orlen die Möglichkeit, einen unmittelbaren Vertrag mit LDZ über die Leistungen zum Transport ihrer Fracht per Eisenbahn auf der kurzen Strecke nach Lettland zu schließen sowie ihre See-Exporttätigkeiten von Klaipėda in Litauen abzuziehen und auf die Seehäfen Riga und Ventspils in Lettland zu verlagern.
11 Zu diesem Zweck richtete Orlen am 4. April 2008 ein Schreiben an das lettische Ministerium für Verkehr und Kommunikation, in dem sie über ihr Vorhaben zur Verlagerung ihrer See-Exporttätigkeiten auf den lettischen Seehafen Ventspils mit Hilfe der Schienentransportdienste von LDZ informierte und ein Treffen vorschlug, um dieses Vorhaben mit dem Ministerium zu besprechen. Außerdem bat Orlen um Informationen zu den voraussichtlichen Gebühren für die Schienentransportdienste von LDZ. Mit Schreiben vom 7. Mai 2008 antwortete das Ministerium Orlen, dass es sich nicht in die unternehmerischen Entscheidungen von LDZ einmischen wolle, jedoch ein großes Interesse an der Entwicklung des Frachtverkehrs in Lettland habe.
12 Am 12. Juni 2008 fand ein Treffen zwischen der Klägerin und Orlen statt, bei dem dieses Vorhaben zur Verlagerung der Exporttätigkeiten von Orlen thematisiert wurde. Zudem leitete die Klägerin am 17. Juli 2008 ein schiedsgerichtliches Verfahren gegen Orlen ein, nachdem Letztere im Frühjahr 2008 einseitig entschieden hatte, eine geringere als die von der Klägerin verlangte Gebühr zu zahlen und den Differenzbetrag einzubehalten.
13 Am 28. Juli 2008 teilte LG Orlen die Kündigung der Vereinbarung von 1999 zum 1. September 2008 mit. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission der Europäischen Gemeinschaften erklärte Orlen, dass LG die Kündigung der Vereinbarung von 1999 zum 1. September 2008 ausgesprochen habe, nachdem Orlen drei Tage zuvor LDZ förmlich um einen Kostenvoranschlag ersucht habe, um die Dienste der Klägerin für den Transport von etwa 4,5 bis 5 Mio. Tonnen raffinierter Erdölprodukte ab der Raffinerie und unter Nutzung der kurzen Strecke nach Lettland bis zu den Seehäfen in Lettland zu ersetzen. Orlen wies ferner darauf hin, dass die Klägerin möglicherweise unmittelbar von LDZ über die Anforderung des Kostenvoranschlags informiert worden sei.
14 Am 2. September 2008 setzte LG, nachdem eine Verformung der Gleisstrecke von mehreren Dutzend Metern (im Folgenden: Verformung) festgestellt worden war, auf einem 19 km langen Abschnitt der kurzen Strecke nach Lettland, der sich zwischen Mažeikiai und der Grenze zu Lettland befand (im Folgenden: Gleisabschnitt), unter Berufung vor allem auf Sicherheitsgründe den Verkehr aus.
15 Am 3. September 2008 berief die Klägerin einen Untersuchungsausschuss ein, der aus leitenden Angestellten ihrer örtlichen Tochtergesellschaft bestand, um die Ursachen der Verformung zu ermitteln. Der Untersuchungsausschuss legte zwei Berichte vor: den Untersuchungsbericht vom 5. September 2008 und den technischen Bericht vom 5. September 2008 (im Folgenden zusammen: Berichte vom 5. September 2008).
16 Dem Untersuchungsbericht vom 5. September 2008 zufolge war die Verformung durch eine physische Verschlechterung zahlreicher Bestandteile der Struktur des Gleisabschnitts verursacht worden. Im Untersuchungsbericht vom 5. September 2008 wurde darüber hinaus bestätigt, dass der Verkehr ausgesetzt werden müsse, „bis alle Wiederherstellungs- und Ausbesserungsmaßnahmen abgeschlossen sind“.
17 Die Bemerkungen im Untersuchungsbericht vom 5. September 2008 wurden durch den technischen Bericht vom 5. September 2008 bestätigt, der sich – wie der erste Bericht – ausschließlich auf die Stelle der Verformung bezog und als deren Ursache verschiedene Probleme im Zusammenhang mit der Struktur des Gleisabschnitts benannte. Im technischen Bericht vom 5. September 2008 wurde festgestellt, dass der Verkehrsunfall, der in Gestalt einer Verformung auf dem Gleisabschnitt eingetreten sei, als Störung eingestuft werden müsse und der physischen Abnutzung der oberen Komponenten der Struktur des Gleisabschnitts geschuldet sei.
18 Nach einer Besprechung am 22. September 2008 unterbreitete LDZ Orlen am 29. September 2008 ein Angebot für den Transport ihrer Erdölprodukte. Orlen zufolge war dieses Angebot „konkret und attraktiv“.
19 Ab dem 3. Oktober 2008 wurde der Gleisabschnitt von LG vollständig entfernt. Ende Oktober 2008 war der Gleisabschnitt komplett abgebaut.
20 Mit Schreiben vom 17. Oktober 2008 bestätigte Orlen LDZ ihre Absicht, etwa 4,5 Mio. Tonnen Erdölprodukte von der Raffinerie bis zu den lettischen Seehäfen zu befördern. Am 20. Februar 2009 fand ein Treffen statt, und weitergehende Gespräche erfolgten im Frühjahr 2009.
21 Im Januar 2009 wurde zwischen der Klägerin und Orlen eine neue allgemeine Transportvereinbarung für einen Zeitraum von 15 Jahren bis zum 1. Januar 2024 geschlossen (im Folgenden: Vereinbarung von 2009). Diese Vereinbarung ersetzte eine Zwischenvereinbarung, die am 1. Oktober 2008 unterzeichnet worden war.
22 Die Vereinbarung von 2009 beruhte auf der Standardpreispolitik der Klägerin im Bereich der Tarifierung, wonach jeder Bahnstrecke in Litauen ein Grundtarif zugeordnet wurde. Außerdem sah die Vereinbarung von 2009 ein System von Preisnachlässen auf diese Tarife vor [vertraulich] (1 ).
23 [vertraulich]
24 Die Verhandlungen zwischen Orlen und LDZ liefen bis Ende Juni 2009, als LDZ eine Lizenz für die Nutzung des litauischen Teils der kurzen Strecke nach Lettland beantragte.
25 Am 10. November 2009 entschied das Schiedsgericht, dass die einseitige Kündigung der Vereinbarung von 1999 durch die Klägerin rechtswidrig sei und von einer Geltung der Vereinbarung bis zum 1. Oktober 2008 als dem Zeitpunkt, an dem Orlen und die Klägerin eine vorläufige Transportvereinbarung getroffen hätten, auszugehen sei.
26 Orlen zufolge sind die Gespräche mit LDZ Mitte 2010 unterbrochen worden, als sie schließlich zu der Auffassung gelangt sei, dass die Klägerin nicht beabsichtige, den Gleisabschnitt kurzfristig zu reparieren. Zu diesem Zeitpunkt zog LDZ ihren Antrag auf eine Lizenz für die Nutzung des litauischen Teils der kurzen Strecke nach Lettland zurück.
B. Verwaltungsverfahren
27 Am 14. Juli 2010 legte Orlen bei der Kommission gemäß Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) eine förmliche Beschwerde ein.
28 In ihrer Beschwerde machte Orlen im Wesentlichen geltend, nach geschäftlichen Differenzen mit ihr habe LG den Gleisabschnitt entfernt, so dass die kurze Strecke nach Lettland nicht mehr zur Verfügung gestanden habe und Orlen gezwungen gewesen sei, die einzig verfügbare Strecke zu nutzen, d. h. die lange Strecke nach Lettland, um den Teil ihrer Produktion, der für einen Transport nach oder durch Lettland bestimmt sei, per Zug zu befördern.
29 Im Einzelnen legte Orlen dar, dass die geschäftlichen Differenzen die Gebühren betroffen hätten, die LG für den Frachttransport per Eisenbahn erhoben habe, und Orlen aufgrund dieser Differenzen begonnen habe, die Möglichkeit zu prüfen, ausschließlich die Dienste von LDZ in Anspruch zu nehmen, um ihre raffinierten Erdölprodukte auf der kurzen Strecke nach Lettland zu transportieren sowie mit Hilfe dieser Strecke ihre Exporttätigkeiten vom Seehafen Klaipėda abzuziehen und auf die Seehäfen Riga und Ventspils zu verlagern, wovon LG Kenntnis erlangt habe. Die Maßnahmen der Klägerin, d. h. die Aussetzung des Verkehrs und die anschließende Entfernung des Gleisabschnitts, seien objektiv nicht gerechtfertigt und allein darauf gerichtet, Orlen daran zu hindern, mit Hilfe der Schienentransportdienste von LDZ ihre See-Exporttätigkeit auf die lettischen Seehäfen zu verlagern.
30 Vom 8. bis zum 10. März 2011 führte die Kommission mit Unterstützung der nationalen Wettbewerbsbehörden der Republik Lettland und der Republik Litauen in den Geschäftsräumen der Klägerin in Vilnius und der LDZ in Riga Nachprüfungen gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 durch. Im Rahmen der Nachprüfungen beschlagnahmte die Kommission u. a. Unterlagen, die ihrer Meinung nach beweisen, dass der Klägerin der potenziell von LDZ ausgehende Wettbewerb sowie das Risiko, dass Orlen ihre See-Exporte auf die lettischen Seehäfen verlagere, bewusst gewesen seien.
31 Am 6. März 2013 beschloss die Kommission, gegen LG ein Verfahren nach Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101] und [102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) einzuleiten.
32 Am 5. Januar 2015 erließ die Kommission eine an die Klägerin gerichtete Mitteilung der Beschwerdepunkte. In der Mitteilung der Beschwerdepunkte stellte die Kommission vorab fest, dass die Klägerin möglicherweise einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV begangen habe.
33 Am 25. März 2015 nahm Orlen zu einer nicht vertraulichen Fassung der Mitteilung der Beschwerdepunkte Stellung.
34 Die Klägerin antwortete am 8. April 2015 auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte und äußerte sich zur Stellungnahme von Orlen. Die mündliche Anhörung fand am 27. Mai 2015 statt.
35 Am 23. Oktober 2015 übermittelte die Kommission der Klägerin ein Sachverhaltsschreiben, auf das die Klägerin am 2. Dezember 2015 antwortete. Am 29. Februar 2016 übermittelte die Klägerin der Kommission eine erneute Stellungnahme.
36 Am 2. Oktober 2017 erließ die Kommission den Beschluss C(2017) 6544 final in einem Verfahren nach Art. 102 AEUV (Sache AT.39813 – Baltic Rail) (im Folgenden: angefochtener Beschluss), dessen Zusammenfassung im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2017, C 383, S. 7) veröffentlicht wurde.
C. Angefochtener Beschluss
37 Im angefochtenen Beschluss stellte die Kommission fest, dass die Klägerin ihre beherrschende Stellung als Betreiberin der litauischen Eisenbahninfrastrukturen missbraucht habe, indem sie den Gleisabschnitt entfernt habe und LDZ dadurch am Eintritt in den litauischen Markt gehindert habe. Die Kommission verhängte eine Geldbuße gegen die Klägerin und wies sie an, die Zuwiderhandlung einzustellen.
1. Bestimmung der relevanten Märkte und beherrschende Stellung der Klägerin auf diesen Märkten
38 Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission zwei sachlich relevante Märkte bestimmt:
–
den vorgelagerten Markt des Betriebs von Eisenbahninfrastrukturen;
–
den nachgelagerten Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte.
39 Als räumlich relevanter Markt für den Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen wird der nationale litauische Markt angesehen. Was den räumlich relevanten Markt für Schienentransportdienste für Erdölprodukte betrifft, vertrat die Kommission auf der Grundlage des Ansatzes „Ausgangsort – Zielort“, des sogenannten „O&D-Ansatzes“ (nach den englischen Bezeichnungen „point of origin“ und „point of destination“), die Auffassung, dass es sich um einen Markt für Schienenfrachttransportdienste handele, dessen Ausgangspunkt die Raffinerie und dessen Zielort die drei Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils seien.
40 Die Kommission stellte fest, dass die Klägerin aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften über ein gesetzliches Monopol auf dem vorgelagerten Markt für den Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen in Litauen verfüge. Insoweit bestimme Art. 5 Abs. 1 des Lietuvos Respublikos geležinkelių transporto kodekso patvirtinimo, įsigaliojimo ir taikymo įstatymas (Gesetz über den Schienentransport der Republik Litauen) vom 22. April 2004 (Žin., 2004, Nr. IX-2152, im Folgenden: Schienentransportgesetz), dass die öffentlichen Eisenbahninfrastrukturen Eigentum des litauischen Staats seien und der Klägerin zum Betrieb überlassen würden.
41 Die Kommission stellte außerdem fest, dass LG mit Ausnahme der sehr geringen von LDZ transportierten Mengen das einzige Unternehmen sei, das auf dem nachgelagerten Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte tätig sei, was ihr eine beherrschende Stellung auf diesem Markt verschaffe.
2. Missbräuchliches Verhalten
42 Im angefochtenen Beschluss stellte die Kommission fest, dass die Klägerin ihre beherrschende Stellung als Betreiberin der litauischen Eisenbahninfrastrukturen missbraucht habe, indem sie den Gleisabschnitt entfernt habe, was geeignet gewesen sei, wettbewerbswidrige Auswirkungen in Form der Verdrängung von Wettbewerbern vom Markt für die Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte zwischen der Raffinerie und den benachbarten Seehäfen hervorzurufen, indem Hindernisse für den Markteintritt errichtet worden seien, ohne dass dies objektiv gerechtfertigt gewesen wäre. Die Kommission stellte insbesondere in den Erwägungsgründen 182 bis 201 des angefochtenen Beschlusses fest, dass LG durch die vollständige Entfernung des Gleisabschnitts wettbewerbswidrige Methoden angewandt habe. Insoweit wies die Kommission darauf hin, dass erstens LG sich bewusst gewesen sei, dass Orlen erwogen habe, auf die lettischen Seehäfen umzusteigen und dafür die Dienste von LDZ zu nutzen; zweitens LG die Entfernung des Gleisabschnitts in großer Eile vorgenommen habe, ohne zuvor sicherzustellen, dass die dafür erforderlichen Mittel bereitständen, und ohne die normalen Vorbereitungen für den Neubau des Gleisabschnitts zu treffen; drittens die Beseitigung des Gleisabschnitts nicht dem branchenüblichen Vorgehen entsprochen habe; viertens LG sich der Gefahr bewusst gewesen sei, im Fall eines Neubaus des Gleisabschnitts alle geschäftlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Transport der Produkte von Orlen zu verlieren; und fünftens LG Schritte unternommen habe, um die litauische Regierung davon zu überzeugen, den Gleisabschnitt nicht wieder aufzubauen.
43 Der Gleisabschnitt liege auf dem kürzesten und kostengünstigsten Weg von der Raffinerie zu einem lettischen Seehafen. Weil der Gleisabschnitt in der Nähe von Lettland und vom Logistikzentrum von LDZ liege, stelle er ferner eine sehr gute Möglichkeit für LDZ dar, in den litauischen Markt einzutreten.
44 Zu den wettbewerbswidrigen Auswirkungen des Verhaltens der Klägerin stellte die Kommission nach einer Analyse in den Erwägungsgründen 202 bis 324 des angefochtenen Beschlusses fest, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts geeignet gewesen sei, den Markteintritt von LDZ zu verhindern oder zumindest erheblich zu erschweren, und dies, obwohl LDZ vor der Beseitigung des Gleisabschnitts glaubhaft die Möglichkeit gehabt habe, die für den See-Export bestimmten Erdölprodukte von Orlen über die kurze Strecke nach Lettland von der Raffinerie bis zu den lettischen Seehäfen zu transportieren. Nach der Beseitigung des Gleisabschnitts habe der Schienenverkehr von der Raffinerie zu einem lettischen Seehafen über wesentlich längere Strecken in Litauen geführt werden müssen. Insbesondere habe LDZ nach der Beseitigung des Gleisabschnitts als einzige Option, um in Wettbewerb mit der Klägerin zu treten, nur die Möglichkeit gehabt, zu versuchen, auf der Strecke nach Klaipėda oder auf der langen Strecke nach Lettland tätig zu werden. Somit hätte LDZ viel weiter von ihrem Logistikzentrum in Lettland entfernt agieren müssen, wobei sie zudem auf die Infrastrukturdienstleistungen ihres Wettbewerbers LG angewiesen gewesen wäre. Unter diesen Umständen wären LDZ nach Auffassung der Kommission erhebliche finanzielle Risiken entstanden, die das Unternehmen wahrscheinlich nicht eingegangen wäre.
45 In den Erwägungsgründen 325 bis 357 des angefochtenen Beschlusses stellte die Kommission ferner fest, dass die Klägerin keine objektive Rechtfertigung für die Beseitigung des Gleisabschnitts vorgelegt habe, da ihre Erklärungen weder kohärent noch überzeugend seien und sich zum Teil widersprächen.
3. Geldbuße und Anordnung
46 Unter Anwendung der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2; im Folgenden: Leitlinien von 2006) verhängte die Kommission in Anbetracht der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung eine Geldbuße in Höhe von 27873000 Euro gegen die Klägerin.
47 Die Kommission war außerdem der Auffassung, dass durch verschiedene strukturelle oder verhaltensbezogene Abhilfemaßnahmen die Wettbewerbssituation von vor der Entfernung des Gleisabschnitts wiederhergestellt oder aber die Nachteile für potenzielle Wettbewerber auf Alternativstrecken zu den Seehäfen beseitigt werden könnten. Die Kommission wies LG an, die Zuwiderhandlung einzustellen und ihr innerhalb von drei Monaten nach Bekanntgabe des angefochtenen Beschlusses mitzuteilen, welche Maßnahmen das Unternehmen zu diesem Zweck vorschlägt.
4. Verfügender Teil des angefochtenen Beschlusses
48 Der verfügende Teil des angefochtenen Beschlusses lautet:
„Artikel 1
[LG] hat durch die Beseitigung des Gleisabschnitts zwischen Mažeikiai in Litauen und der lettischen Grenze gegen Artikel 102 AEUV verstoßen. Die Zuwiderhandlung hat am 3. Oktober 2008 begonnen und dauert zum Zeitpunkt des Erlasses des vorliegenden Beschlusses an.
Artikel 2
Wegen der in Artikel 1 genannten Zuwiderhandlung wird gegen [LG] eine Geldbuße in Höhe von 27873000 [Euro] verhängt.
…
Artikel 3
[LG] hat die in Artikel 1 genannte Zuwiderhandlung einzustellen und der Kommission innerhalb von drei Monaten mitzuteilen, welche Maßnahmen das Unternehmen zu diesem Zweck vorschlägt. Der Vorschlag muss hinreichend detailliert sein, damit die Kommission eine vorläufige Beurteilung vornehmen und feststellen kann, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen die tatsächliche Einhaltung des Beschlusses garantieren.
[LG] hat jegliches Verhalten zu unterlassen, das ein ähnliches Ziel oder eine ähnliche Wirkung wie das in Artikel 1 genannte Verhalten hat …“
II. Verfahren und Anträge der Parteien
49 Mit Klageschrift, die am 14. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
50 Orlen hat mit Schriftsatz, der am 5. April 2018 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen worden ist, beantragt, im vorliegenden Verfahren zur Unterstützung der Anträge der Kommission als Streithelferin zugelassen zu werden.
51 Auf Antrag der Kommission ist die Frist für die Einreichung eines Antrags auf vertrauliche Behandlung bis zum 4. Juni 2018 verlängert worden.
52 Mit am 1. bzw. am 4. Juni 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schreiben haben die Kommission und die Klägerin beantragt, bestimmte Gesichtspunkte in der Klageschrift und der Klagebeantwortung sowie in einigen ihrer Anlagen gegenüber der Streithelferin vertraulich zu behandeln. Gemeinsam erstellte nicht vertrauliche Fassungen der Klageschrift und der Klagebeantwortung wurden von der Klägerin und der Kommission eingereicht.
53 Mit Schreiben vom 15. Juni 2018 hat die Klägerin beantragt, bestimmte Gesichtspunkte in der Erwiderung und ihrer Anlage gegenüber der Streithelferin vertraulich zu behandeln.
54 Mit Beschluss des Präsidenten der Dritten Kammer des Gerichts vom 13. Juli 2018 ist Orlen als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden. Die Entscheidung über die Begründetheit der Anträge auf vertrauliche Behandlung ist vorbehalten worden, und Orlen sind von den Hauptparteien erstellte nicht vertrauliche Fassungen der verschiedenen Schriftsätze übermittelt worden.
55 Mit Schreiben vom 31. Juli 2018 hat die Kommission beantragt, bestimmte Gesichtspunkte in der Erwiderung gegenüber der Streithelferin vertraulich zu behandeln. Am gleichen Tag reichten die Klägerin und die Kommission eine gemeinsam erstellte nicht vertrauliche Fassung der Erwiderung ein.
56 Mit Schreiben vom 5. August 2018 hat die Streithelferin die Vertraulichkeit einiger Passagen bestritten, die in den nicht vertraulichen Fassungen der Schriftsätze, nämlich den Anlagen A 14 und A 26, geschwärzt waren.
57 Mit Schreiben vom 30. August 2018 hat die Klägerin beantragt, bestimmte Gesichtspunkte in der Gegenerwiderung gegenüber der Streithelferin vertraulich zu behandeln. Eine gemeinsam erstellte nicht vertrauliche Fassung der Gegenerwiderung ist von den Hauptparteien bei der Kanzlei hinterlegt worden.
58 Am 15. September 2018 hat die Streithelferin ihren Streithilfeschriftsatz eingereicht.
59 Mit Schreiben vom 22. September 2018 hat die Streithelferin mitgeteilt, dass sie keine Einwände gegen die Anträge auf vertrauliche Behandlung erhebe, die die Hauptparteien in Bezug auf bestimmte Gesichtspunkte in der Erwiderung und der Gegenerwiderung gestellt hätten.
60 Am 24. September 2018 hat das Gericht (Dritte Kammer) der Klägerin und der Streithelferin im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 89 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung schriftliche Fragen gestellt. Sie haben die Fragen fristgerecht beantwortet.
61 Am 13. Dezember 2018 hat das Gericht (Dritte Kammer) der Klägerin und der Streithelferin im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 89 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung schriftliche Fragen gestellt.
62 Am 21. Dezember 2018 hat die Streithelferin in Anknüpfung an die Fragen des Gerichts ihre Einwände in Bezug auf die Anlage A.26 zurückgenommen, während die Klägerin am 7. Januar 2019 ihren Antrag auf vertrauliche Behandlung der Anlage A.14 zurückgenommen hat. Folglich gibt es keine Einwände mehr gegen die Anträge der Klägerin auf vertrauliche Behandlung.
63 Infolge der Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts gemäß Art. 27 Abs. 5 der Verfahrensordnung ist die Berichterstatterin der Ersten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache demzufolge zugewiesen worden ist.
64 Auf Vorschlag der Ersten Kammer hat das Gericht die Rechtssache gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung an einen erweiterten Spruchkörper verwiesen.
65 Am 28. November 2019 hat das Gericht (Erste erweiterte Kammer) auf Vorschlag der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Wege prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 der Verfahrensordnung den Parteien schriftliche Fragen gestellt und sie aufgefordert, ein Dokument vorzulegen. Die Parteien sind dem fristgemäß nachgekommen.
66 Die Parteien haben in der Sitzung vom 5. Februar 2020 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
67 Die Klägerin beantragt,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
–
hilfsweise, die in Art. 2 des angefochtenen Beschlusses gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
68 Die Kommission und die Streithelferin beantragen,
–
die Klage insgesamt abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
A. Zum Hauptantrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses
69 Die Klägerin stützt ihren Hauptantrag auf fünf Klagegründe, die sich auf die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses beziehen. Der erste Klagegrund betrifft offensichtliche Beurteilungs- und Rechtsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV in Bezug auf die Missbräuchlichkeit des Verhaltens der Klägerin, mit dem zweiten Klagegrund werden Beurteilungs- und Rechtsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV in Bezug auf die Beurteilung der fraglichen Praxis gerügt, mit dem dritten Klagegrund wird ein Verstoß gegen Art. 296 AEUV und Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 wegen unzureichender Beweise und einem Begründungsmangel geltend gemacht, der vierte Klagegrund stützt sich – nur im ersten Teil – auf Fehler bei der Festsetzung der Geldbuße und der fünfte Klagegrund betrifft Fehler bei der Anordnung einer Abhilfemaßnahme.
1. Zum ersten Klagegrund: Rechts- und Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV in Bezug auf die Missbräuchlichkeit des Verhaltens der Klägerin
70 Mit dem ersten Klagegrund wendet sich die Klägerin gegen das rechtliche Kriterium, das die Kommission im angefochtenen Beschluss bei der Einstufung ihres Verhaltens als Missbrauch einer beherrschenden Stellung angewandt hat. Die Klägerin ist der Auffassung, die Kommission hätte die vorliegende Rechtssache im Licht der gefestigten Rechtsprechung zur Verweigerung des Zugangs zu wesentlichen Infrastrukturen beurteilen müssen, die erst ab einer viel höheren als der im angefochtenen Beschluss angewandten Schwelle von der Missbräuchlichkeit eines Verhaltens ausgehe.
71 Erstens sei es nicht die Beseitigung des Gleisabschnitts, die wettbewerbswidrige Auswirkungen habe. In Wirklichkeit sei es die einen Monat zuvor erfolgte Aussetzung des Verkehrs, die diese Auswirkungen gehabt habe. Nach Auffassung der Klägerin hätte der Gleisabschnitt, selbst wenn er am 3. Oktober 2008 nicht entfernt worden wäre und unabhängig davon, dass er nach der Aussetzung des Verkehrs am 2. September 2008 nicht repariert worden sei, jedenfalls nicht von LDZ benutzt werden können. Folglich laufe die rechtliche Frage darauf hinaus, ob die Klägerin unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache aufgrund von Art. 102 AEUV verpflichtet gewesen sei, den Gleisabschnitt zu reparieren. Fehle es an einer solchen Verpflichtung, stelle sich auch nicht die Frage, ob die Beseitigung des Gleisabschnitts gerechtfertigt sei oder nicht.
72 Zweitens könne ihr die Verpflichtung, eine Infrastruktur, zu der eine Wettbewerberin Zugang beantragen könne, zu reparieren oder in sie zu investieren, gemäß Art. 102 AEUV nur dann auferlegt werden, wenn es sich bei dem Gleisabschnitt um eine unerlässliche Infrastruktur handle, d. h. wenn sie für LDZ bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten auf dem relevanten nachgelagerten Markt unverzichtbar sei und die unterlassene Reparatur durch die Klägerin jeglichen Wettbewerb auf dem nachgelagerten Markt ausschalte. Diese zwei Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt. Insbesondere sei der Zugang zum Gleisabschnitt für LDZ nicht unverzichtbar, um auf dem relevanten nachgelagerten Markt in Wettbewerb treten zu können.
73 Ganz allgemein führe der Umstand, dass eine Ersatzlösung aus Sicht eines Wettbewerbers weniger vorteilhaft sei, nicht dazu, dass eine Infrastruktur „unerlässlich“ oder „unverzichtbar“ sei. Nach Auffassung der Klägerin würde es eine nicht gerechtfertigte Einschränkung ihrer unternehmerischen Freiheit darstellen, wenn sie nach Art. 102 AEUV verpflichtet wäre, erhebliche Summen in eine nicht unerlässliche, vollständig verfallene und nicht funktionsfähige Infrastruktur zu investieren, um den Markteintritt einer einzigen Wettbewerberin zu ermöglichen, indem sie ihr eine attraktivere Strecke zur Verfügung stelle, um einen einzigen Kunden für einen kleinen Teil seiner Produktion zu bedienen.
74 Drittens sei das rechtliche Kriterium, das sich auf die Rechtsprechung im Bereich wesentlicher Infrastrukturen stütze, dasjenige, dessen Anwendung die Kommission selbst vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte erwogen habe. Bei einer Besprechung mit der Klägerin am 25. März 2013 hätten die Dienststellen der Kommission nämlich erklärt, die Schadenstheorie beruhe auf der Annahme, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts eine Weigerung darstelle, LDZ unerlässliche Infrastrukturdienste bereitzustellen.
75 Die Kommission und die Streithelferin treten diesem Vorbringen entgegen.
76 Art. 102 AEUV verbietet einem Unternehmen in beherrschender Stellung insbesondere die Anwendung von Praktiken, die für seine als ebenso effizient geltenden Wettbewerber eine Verdrängungswirkung entfalten und damit seine Stellung stärken, indem andere Mittel als diejenigen eines Leistungswettbewerbs herangezogen werden (vgl. Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Nach ständiger Rechtsprechung trägt das Unternehmen, das eine beherrschende Stellung innehat, eine besondere Verantwortung dafür, dass es durch sein Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf dem Binnenmarkt nicht beeinträchtigt (vgl. Urteil vom 6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 135 und die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Nach der Rechtsprechung handelt es sich bei der nach Art. 102 AEUV verbotenen missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung um einen objektiven Begriff, der auf die Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung abstellt, die auf einem Markt, auf dem der Grad an Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Grades an Wettbewerb oder die Entwicklung des Wettbewerbs durch den Einsatz von anderen Mitteln behindern als denjenigen eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Wirtschaftsteilnehmer (vgl. Urteile vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 9. September 2009, Clearstream/Kommission, T‑301/04, EU:T:2009:317, Rn. 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).
79 Art. 102 AEUV erfasst nicht nur Verhaltensweisen, durch die den Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden erwachsen kann, sondern auch solche, die sie durch die Beeinträchtigung des Wettbewerbs schädigen (vgl. Urteil vom 27. März 2012, Post Danmark, C‑209/10, EU:C:2012:172, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2012, Telefónica und Telefónica de España/Kommission, T‑336/07, EU:T:2012:172, Rn. 171).
80 Es geht nicht unbedingt um die konkrete Folge des beanstandeten missbräuchlichen Verhaltens. Für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV ist nachzuweisen, dass das missbräuchliche Verhalten des Unternehmens in beherrschender Stellung darauf gerichtet ist, den Wettbewerb zu beschränken, oder anders ausgedrückt, dass das Verhalten eine solche Wirkung haben kann (Urteil vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 68; vgl. auch Urteile vom 9. September 2009, Clearstream/Kommission, T‑301/04, EU:T:2009:317, Rn. 144 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 29. März 2012, Telefónica und Telefónica de España/Kommission, T‑336/07, EU:T:2012:172, Rn. 268 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem steht der Umstand, dass sich das missbräuchliche Verhalten eines Unternehmens in beherrschender Stellung auf andere als die beherrschten Märkte negativ auswirkt, einer Anwendung von Art. 102 AEUV nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 1996, Tetra Pak/Kommission, C‑333/94 P, EU:C:1996:436, Rn. 25).
81 Das Vorbringen der Klägerin im Rahmen des ersten Klagegrundes ist im Licht dieser Grundsätze zu untersuchen.
82 Im vorliegenden Fall betrifft das Vorbringen der Klägerin im Rahmen des ersten Klagegrundes nur das rechtliche Kriterium, das die Kommission bei der Einstufung ihres Verhaltens als Missbrauch einer beherrschenden Stellung angewandt hat.
83 In den Erwägungsgründen 177 und 178 des angefochtenen Beschlusses stellte die Kommission fest, dass die Klägerin ihre beherrschende Stellung auf dem litauischen Markt für den Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen missbraucht habe, indem sie den Gleisabschnitt ohne objektive Rechtfertigung entfernt habe. Die Kommission war insbesondere der Auffassung, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts unter den fraglichen rechtlichen und tatsächlichen Umständen kein Verhalten darstelle, das mit dem normalen Wettbewerbsverhalten vereinbar sei. Es habe zu potenziellen rechtswidrigen Auswirkungen auf dem Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte zwischen der Raffinerie und den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils geführt, und zwar durch die Errichtung von Hindernissen für den Markteintritt.
84 Folglich besteht das im angefochtenen Beschluss beanstandete Verhalten aus der Beseitigung des Gleisabschnitts als solcher, unabhängig von der Aussetzung des Verkehrs auf diesem Gleisabschnitt am 2. September 2008 und der unterlassenen Instandsetzung.
85 Soweit die Klägerin mit ihrem Vorbringen bestreitet, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts als solche als potenziell missbräuchliches Verhalten eingestuft werden kann, ist zunächst festzustellen, dass die Aufzählung der missbräuchlichen Verhaltensweisen in Art. 102 AEUV nicht abschließend ist; es handelt sich bei der in dieser Bestimmung enthaltenen Aufzählung missbräuchlicher Praktiken also um keine erschöpfende Wiedergabe der Arten der nach dem Unionsrecht verbotenen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung (vgl. Urteil vom 17. Februar 2011, TeliaSonera Sverige, C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich kann grundsätzlich jedes Verhalten eines Unternehmens in beherrschender Stellung, das geeignet ist, den Wettbewerb auf einem Markt zu beschränken, als missbräuchlich eingestuft werden. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts für sich genommen, unabhängig von der Aussetzung des Verkehrs und der unterlassenen Instandsetzung, als potenziell missbräuchliches Verhalten eingestuft werden kann.
86 Es ist daher im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die Kommission im angefochtenen Beschluss das geeignete rechtliche Kriterium angewandt hat, um festzustellen, dass das fragliche Verhalten, d. h. die Beseitigung des Gleisabschnitts, den Missbrauch einer beherrschenden Stellung im Sinne von Art. 102 AEUV darstellt.
87 Vorab ist festzustellen, dass die Rechtsprechung zu den wesentlichen Infrastrukturen im Wesentlichen die Umstände betrifft, unter denen die Lieferverweigerung eines marktbeherrschenden Unternehmens, insbesondere durch Ausübung eines Eigentumsrechts, ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung sein kann. Diese Rechtsprechung bezieht sich daher vor allem auf Fälle, in denen die freie Ausübung eines ausschließlichen Rechts, mit dem die Vornahme einer Investition oder eine Innovation belohnt wird, im Interesse eines unverfälschten Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt begrenzt werden kann (vgl. Urteil vom 1. Juli 2010, AstraZeneca/Kommission, T‑321/05, EU:T:2010:266, Rn. 679 und die dort angeführte Rechtsprechung).
88 Insbesondere ist diese Begrenzung, die letztlich in einer Lieferverpflichtung zum Ausdruck kommt, nur dann zulässig, wenn drei außergewöhnliche Umstände vorliegen, die der Gerichtshof u. a. im Urteil vom 26. November 1998, Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569), dargelegt hat.
89 In der Rechtssache im Urteil vom 26. November 1998, Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Weigerung eines Unternehmens in beherrschender Stellung, Zugang zu einer Dienstleistung zu gewähren, nur dann als Missbrauch im Sinne von Art. 102 AEUV einzustufen ist, wenn sie geeignet ist, jeglichen Wettbewerb auf dem Markt durch denjenigen, der die Dienstleistung begehrt, auszuschalten, nicht objektiv zu rechtfertigen ist und die Dienstleistung selbst für die Ausübung der Tätigkeit des Nachfragers unentbehrlich ist (Urteil vom 26. November 1998, Bronner, C‑7/97, EU:C:1998:569, Rn. 41; vgl. auch Urteil vom 9. September 2009, Clearstream/Kommission, T‑301/04, EU:T:2009:317, Rn. 147 und die dort angeführte Rechtsprechung).
90 Ziel der im Urteil vom 26. November 1998, Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569), genannten außergewöhnlichen Umstände ist es, sicherzustellen, dass die einem Unternehmen in beherrschender Stellung auferlegte Verpflichtung, Zugang zu seiner Infrastruktur zu gewährleisten, nicht letztlich dadurch den Wettbewerb beeinträchtigt, dass die ursprüngliche Motivation des Unternehmens, eine solche Infrastruktur zu errichten, verringert wird. Für ein marktbeherrschendes Unternehmen würde nämlich der Anreiz, Investitionen in Infrastrukturen zu tätigen, gemindert werden, wenn seine Wettbewerber auf ihr Ersuchen hin in die Lage versetzt würden, an den Gewinnen teilzuhaben (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Bronner, C‑7/97, EU:C:1998:264, Nr. 57).
91 Dieses Erfordernis, für das beherrschende Unternehmen den Anreiz aufrechtzuerhalten, in die Errichtung grundlegender Anlagen zu investieren, entfällt jedoch, wenn der geltende Rechtsrahmen dem Unternehmen in beherrschender Stellung bereits eine Lieferverpflichtung auferlegt oder sich die beherrschende Stellung, die das Unternehmen auf dem Markt erlangt hat, aus einem ehemaligen staatlichen Monopol ergibt.
92 Die Rechtsprechung hat insoweit anerkannt, dass die im Urteil vom 26. November 1998, Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569), ausgearbeiteten außergewöhnlichen Umstände in Fällen entwickelt und angewandt worden sind, in denen es um die Frage ging, ob Art. 102 AEUV gebieten kann, dass ein Unternehmen in beherrschender Stellung anderen Unternehmen Zugang zu einer Ware oder einer Dienstleistung gewährt, obwohl es hierzu gesetzlich in keiner Weise verpflichtet ist (Urteil vom 13. Dezember 2018, Slovak Telekom/Kommission, T‑851/14, gegen das Urteil ist ein Rechtsmittel anhängig, EU:T:2018:929, Rn. 118). Wenn nämlich eine gesetzliche Lieferverpflichtung besteht, wurde die notwendige Abwägung der wirtschaftlichen Anreize, deren Schutz die Anwendung der im Urteil vom 26. November 1998, Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569), entwickelten außergewöhnlichen Umstände rechtfertigt, bereits vom Gesetzgeber zu dem Zeitpunkt vorgenommen, zu dem die Lieferverpflichtung festgelegt wurde.
93 Ferner hat die Rechtsprechung anerkannt, dass in Fällen, in denen eine beherrschende Stellung aus einem gesetzlichen Monopol entstanden ist, dies bei der Anwendung von Art. 102 AEUV berücksichtigt werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2012, Post Danmark, C‑209/10, EU:C:2012:172, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt erst recht, wenn das Unternehmen im Fall eines gesetzlichen Monopols nicht in die Errichtung der Infrastruktur investiert hat, da diese bereits mit öffentlichen Mitteln errichtet und entwickelt wurde.
94 Im vorliegenden Fall ist als Erstes festzustellen, dass die Klägerin eine beherrschende Stellung auf dem Markt für den Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen einnimmt, die sich aus einem gesetzlichen Monopol ergibt. Ferner hat die Klägerin nicht in das litauische Eisenbahnnetz investiert, das dem litauischen Staat gehört und mit öffentlichen Mitteln errichtet und entwickelt wurde.
95 Als Zweites steht der Klägerin keine freie Ausübung eines ausschließlichen Eigentumsrechts zu, mit dem die Vornahme einer Investition oder eine Innovation belohnt wird. In ihrer Eigenschaft als Betreiberin der litauischen Eisenbahninfrastrukturen ist sie sowohl nach dem Unionsrecht als auch nach dem innerstaatlichen Recht damit beauftragt, Zugang zu öffentlichen Eisenbahninfrastrukturen zu gewähren sowie einen technisch einwandfreien Zustand der Eisenbahninfrastrukturen und einen sicheren und ununterbrochenen Eisenbahnverkehr zu gewährleisten und im Fall einer Störung des Eisenbahnverkehrs alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Normalbetrieb wiederherzustellen.
96 Art. 10 der Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. 1991, L 237, S. 25) gewährte nämlich den Eisenbahnunternehmen mit Sitz in der Union einen Zugang zu den Eisenbahninfrastrukturen zu angemessenen Bedingungen für das Erbringen dieser Dienstleistungen in allen Mitgliedstaaten. Zudem bestimmte Art. 5 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (ABl. 2001, L 75, S. 29), dass Eisenbahnunternehmen unter Ausschluss jeglicher Diskriminierung Anspruch auf das in Anhang II der Richtlinie beschriebene Mindestzugangspaket sowie auf den dort beschriebenen Schienenzugang zu Serviceeinrichtungen haben. Wie ferner im 131. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, definieren auf nationaler Ebene die Vorschriften über die Zuweisung von Kapazitäten für öffentliche Eisenbahninfrastrukturen die Kategorien der Infrastrukturleistungen, die der in Anhang II der Richtlinie 2001/14 aufgeführten Liste von Leistungen entsprechen. Insbesondere müssen nach Rn. 57 dieser Vorschriften das „Mindestzugangspaket“ und der Zugang zu den Eisenbahninfrastrukturen unter Ausschluss jeglicher Diskriminierung bereitgestellt werden.
97 Wie außerdem aus dem 122. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, bestimmt Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14, dass „[b]ei technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen … der Betreiber der Infrastruktur alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen [hat], um die normale Situation wiederherzustellen“. Ebenso war die Klägerin nach Art. 8 Abs. 1 Nr. 4 des Lietuvos Respublikos geležinkelių transporto sektoriaus reformos įstatymas (Gesetz über die Reform des Schienentransportsektors der Republik Litauen) vom 27. April 2004 (Žin., 2004, Nr. 61-2182), das bis zum 8. Oktober 2011 in Kraft war, verpflichtet, den technisch einwandfreien Zustand der öffentlichen Eisenbahninfrastrukturen sowie einen sicheren und ununterbrochenen Eisenbahnverkehr zu gewährleisten. Außerdem bestimmt Rn. 69 der Vorschriften über die Zuweisung von Kapazitäten für öffentliche Eisenbahninfrastrukturen, die durch den Beschluss Nr. 611 der Regierung der Republik Litauen vom 19. Mai 2004, geändert durch den Beschluss Nr. 167 vom 15. Februar 2006, angenommen wurden, dass der Betreiber der Infrastrukturen im Fall einer durch einen Eisenbahnverkehrsunfall bedingten Störung alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat, um die normale Situation wiederherzustellen.
98 Nach alledem ist entgegen dem Vorbringen der Klägerin festzustellen, dass angesichts des maßgeblichen Rechtsrahmens das fragliche Verhalten, d. h. die Beseitigung des gesamten Gleisabschnitts, nicht im Licht der gefestigten Rechtsprechung zur Verweigerung des Zugangs zu wesentlichen Infrastrukturen analysiert werden darf, sondern als Verhalten anzusehen ist, das geeignet ist, durch Erschwerung des Marktzugangs den Markteintritt zu behindern und eine wettbewerbswidrige Marktverschließung zu bewirken. Folglich ist die Frage, ob die Klägerin aufgrund von Art. 102 AEUV verpflichtet war, den Gleisabschnitt zu reparieren, für die vorliegende Rechtssache nicht relevant.
99 Somit beging die Kommission keinen Fehler, als sie nicht prüfte, ob das streitige Verhalten die Voraussetzungen erfüllte, die die Unentbehrlichkeit der Dienstleistung, deren Zugang verweigert worden war, und die Ausschaltung jeglichen Wettbewerbs betreffen und in Rn. 41 des Urteils vom 26. November 1998, Bronner (C‑7/97, EU:C:1998:569), aufgeführt sind. Vorbehaltlich einer etwaigen objektiven Rechtfertigung war nämlich der Nachweis ausreichend, dass es sich um ein Verhalten handelte, das den Wettbewerb beschränken und insbesondere ein Hindernis für den Markteintritt darstellen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, AstraZeneca/Kommission, C‑457/10 P, EU:C:2012:770, Rn. 149 und 153).
100 In Erwiderung auf das Vorbringen der Kommission versucht die Klägerin, dieses Ergebnis in Frage zu stellen, indem sie geltend macht, sie sei nach Art. 102 AEUV nicht verpflichtet, ihre Ressourcen in eine neue Infrastruktur zu investieren, da der Gleisabschnitt völlig verfallen sei und nicht mehr benutzt werden könne. Insbesondere gebe es keine nationale Rechtsvorschrift, die ihr die unbedingte Pflicht auferlege, ihre sehr begrenzten Ressourcen in eine neue Infrastruktur zu investieren, um einen völlig verfallenen Gleisabschnitt zu ersetzen, obwohl andere Strecken im Netz verfügbar seien.
101 Dieses Vorbringen beruht auf der Annahme, die Kommission habe, statt die Beseitigung des Gleisabschnitts als missbräuchliche Praxis zu prüfen, untersuchen müssen, ob die unterlassene Instandsetzung des Gleisabschnitts im Licht der Rechtsprechung zu wesentlichen Infrastrukturen als missbräuchliche Praxis eingestuft werden könne. Aus der oben in den Rn. 98 und 99 vorgenommenen Prüfung ergibt sich jedoch, dass diese Annahme falsch ist.
102 Was das Vorbringen betrifft, das rechtliche Kriterium, das sich auf die Rechtsprechung zum Zugang zu wesentlichen Infrastrukturen stütze, sei dasjenige, das die Kommission selbst vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte erwogen habe, da die Dienststellen der Kommission bei einer Besprechung mit der Klägerin am 25. März 2013 erklärt hätten, die Schadenstheorie in der vorliegenden Rechtssache beruhe auf der Annahme, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts eine Weigerung darstelle, LDZ den Zugang zu wesentlichen Infrastrukturdiensten zu ermöglichen, konnte der Umstand, dass laut dem ausschließlich vom Rechtsbeistand der Klägerin verfassten und von der Kommission nicht genehmigten Protokoll einer Besprechung mit den Vertretern der Dienststellen der Kommission vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte die zuvor von der Kommission vertretene „Schadenstheorie“ eine Weigerung gewesen sein könnte, LDZ unerlässliche Dienste bereitzustellen, für die Kommission bei ihrer Beurteilung im angefochtenen Beschluss nicht verbindlich sein. Zudem geht aus dem fraglichen Protokoll ausdrücklich hervor, dass die in der Besprechung geäußerten Meinungen nur vorläufige Einschätzungen darstellten und auch andere Schadenstheorien von der Kommission erwogen werden könnten. Insbesondere ist dem zweiten Absatz des Abschnitts „Schadenstheorie“ des Protokolls zu entnehmen, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts nach Auffassung der Kommission auch als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden könne, da sie den Wettbewerb bei der Erbringung von Schienentransportdiensten habe verhindern können.
103 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die Kommission nicht verpflichtet war, die Vereinbarkeit des Verhaltens der Klägerin mit Art. 102 AEUV im Licht der gefestigten Rechtsprechung zur Verweigerung des Zugangs zu wesentlichen Infrastrukturen zu beurteilen.
104 Folglich ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
2. Zum zweiten Klagegrund: Rechts- und Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV in Bezug auf die Beurteilung der fraglichen Praxis
105 Mit dem zweiten Klagegrund macht die Klägerin im Wesentlichen einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV sowie offensichtliche Beurteilungsfehler bei der Beurteilung der fraglichen Praxis geltend, da die Beseitigung des Gleisabschnitts, der keine grundlegende Infrastruktur dargestellt habe und verfallen gewesen sei, unter den rechtlichen und tatsächlichen Umständen des vorliegenden Falls nicht als Missbrauch einer beherrschenden Stellung anzusehen sei. Die Klägerin trägt vor, dass, selbst wenn die Beseitigung einer solchen Infrastruktur unter sehr außergewöhnlichen Umständen eine missbräuchliche Praxis hätte darstellen können, obwohl die von der Rechtsprechung aufgestellten und im Rahmen des ersten Klagegrundes genannten Voraussetzungen nicht erfüllt seien, die Kommission nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen habe, dass im vorliegenden Fall diese sehr außergewöhnlichen Umstände in Bezug auf den Gleisabschnitt vorlägen.
106 Die Klägerin gliedert den zweiten Klagegrund in vier Teile.
107 Vorab ist festzustellen, dass sich die in Art. 263 AEUV vorgesehene Rechtmäßigkeitskontrolle auf sämtliche Bestandteile der Entscheidungen der Kommission in Verfahren nach den Art. 101 und 102 AEUV erstreckt, deren eingehende rechtliche und tatsächliche Kontrolle das Gericht sicherstellt, und zwar auf der Grundlage der vom betreffenden Kläger geltend gemachten Klagegründe und unter Berücksichtigung aller von diesem vorgebrachten Umstände (vgl. Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
a)
Zum ersten Teil des zweiten Klagegrundes: Fehler bei den von der Kommission geäußerten „Zweifeln“ an der tatsächlichen Mangelhaftigkeit des Gleisabschnitts
108 Mit dem ersten Teil des zweiten Klagegrundes beanstandet die Klägerin, die Kommission habe einen mit einem Beurteilungsfehler einhergehenden Rechtsfehler begangen, da die von ihr geäußerten Zweifel am Vorliegen und an der Bedeutung der Mängel des Gleisabschnitts für die Verkehrssicherheit einer Grundlage entbehrten. Die Klägerin rügt insbesondere, dass die Kommission die Beseitigung des Gleisabschnitts als „nicht gerechtfertigt“ und die ihr von der Klägerin bereitgestellten technischen Erläuterungen zum Gleisabschnitt und seinen Mängeln als „wenig überzeugend“ bezeichnet habe. Die von der Kommission geäußerten „Zweifel“ am Vorliegen und an der Bedeutung der Mängel des Gleisabschnitts seien in Wirklichkeit darauf zurückzuführen, dass die Kommission der Klägerin unterstelle, Sicherheitsprobleme als Vorwand angeführt zu haben, um ihr Verhalten zu verschleiern.
109 Zur Stützung des ersten Teils trägt die Klägerin vier Rügen vor.
1) Zur ersten Rüge des ersten Teils: Zweifel am Vorliegen einer Verformung des Gleisabschnitts
110 Mit ihrer ersten Rüge macht die Klägerin geltend, die von der Kommission geäußerten Zweifel am Vorliegen einer Verformung entbehrten jeglicher Grundlage. Die von der Kommission geäußerten Zweifel am Vorliegen einer Verformung seien auf Verdächtigungen zurückzuführen, denen zufolge sich die Klägerin auf Sicherheitsprobleme berufen habe, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Die Verformung sei nämlich umgehend von mehreren ihrer Angestellten, die an der Überwachung des Gleisabschnitts beteiligt oder dafür verantwortlich gewesen seien, gemeldet worden, und ihre Meldungen hätten in der Beschreibung der Verformung übereingestimmt. Folglich gebe es überhaupt keinen Grund zu vermuten, dass sie alle ein „Komplott“ geschmiedet hätten, um eine nicht vorhandene Verformung zu „erfinden“.
111 Die Kommission und die Streithelferin treten dieser Rüge entgegen.
112 Im vorliegenden Fall genügt die Feststellung, dass die Kommission, wie die Klägerin selbst anerkennt, im 181. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erläuterte, dass sie trotz ihrer Zweifel am Vorliegen der Verformung ihre Prüfung auf die Annahme gestützt habe, dass die Verformung wie von der Klägerin dargelegt eingetreten sei. Insbesondere stellte die Kommission fest, dass es nicht genügend Beweise gebe, um das Vorbringen der Klägerin zu Eintritt und Ausmaß der Verformung zu entkräften, was die Kommission auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung erneut bestätigt hat. Zudem hat die Kommission übereinstimmend mit der Klägerin anerkannt, dass die Verformung in mehreren von der Klägerin vorgelegten schriftlichen Dokumenten vermerkt worden war. Ferner ist dem 179. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu entnehmen, dass die Kommission die Umstände, unter denen die Verformung eingetreten war, nicht deshalb prüfte, weil sie beweisen wollte, dass die Klägerin bösgläubig gehandelt habe und die Verformung schlichtweg erfunden habe, sondern nur, weil die Streithelferin geltend gemacht hatte, dass die Verformung nicht in der von der Klägerin beschriebenen Weise habe eintreten können, was die Klägerin vehement bestritten hatte.
113 Das Vorbringen der Klägerin zum Vorliegen von Zweifeln, die die Kommission am Bestehen einer Verformung des Gleisabschnitts geäußert haben soll, ist somit zurückzuweisen.
2) Zur zweiten Rüge des ersten Teils: Fehler bei der Beurteilung des Vorbringens, die Beseitigung des Gleisabschnitts sei ausschließlich auf die Verformung zurückzuführen
114 Mit ihrer zweiten Rüge tritt die Klägerin der im 329. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses enthaltenen Feststellung entgegen, sie habe ursprünglich in ihrer Antwort auf das erste Auskunftsverlangen vom 6. Januar 2012 behauptet, dass die Beseitigung des gesamten Gleisabschnitts ausschließlich auf das Eintreten der Verformung zurückzuführen sei. Die Klägerin macht insoweit geltend, sie habe in ihrer Antwort auf die detaillierte Beschreibung des Verfahrens verwiesen, das zur Sperrung und Beseitigung des Gleisabschnitts geführt habe. Folglich habe sie sowohl in ihrer Antwort auf das erste Auskunftsverlangen sowie in ihrer Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte dieselben Argumente vorgetragen, nämlich, dass die Verformung sie zwar dazu veranlasst habe, den gesamten Gleisabschnitt zu begutachten, es jedoch der allgemeine Zustand des Gleisabschnitts und nicht nur das Eintreten der Verformung gewesen sei, der die Beseitigung des Gleisabschnitts gerechtfertigt habe.
115 Die Kommission und die Streithelferin treten dieser Rüge entgegen.
116 Im vorliegenden Fall erklärte die Klägerin, wie im 329. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, in ihrer Antwort auf das erste Auskunftsverlangen, dass „die Sperrung und anschließende Beseitigung des litauischen Teils des [Gleis]abschnitts die Folge eines Vorfalls waren, der sich am 2. September 2008 auf dem Gleisabschnitt ereignete“. Unmittelbar nach diesem Satz verwies die Klägerin jedoch auf „die detaillierte Beschreibung des Verfahrens, das zur Sperrung und Beseitigung [des Gleisabschnitts] geführt“ habe.
117 Selbst wenn man annimmt, dass das im angefochtenen Beschluss angeführte Vorbringen, wonach die Klägerin ursprünglich behauptet habe, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts auf das Eintreten der Verformung zurückzuführen sei, nicht korrekt wiedergegeben wurde, wie die Klägerin geltend macht, ist dieser Umstand nicht relevant, da die Kommission ihre Analyse im angefochtenen Beschluss nicht auf dieses Vorbringen stützte, sondern auf die Argumente, die die Klägerin in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte vortrug. Das streitige Vorbringen diente nämlich nur dazu, auszuschließen, dass allein die Verformung die Beseitigung des gesamten Gleisabschnitts habe rechtfertigen können.
118 Demnach ist die Rüge der Klägerin zurückzuweisen.
3) Zur dritten Rüge des ersten Teils: Fehler bei der Beurteilung der Unterschiede zwischen den Berichten vom 5. September 2008 und den Schreiben vom 4. und 5. September 2008
119 Mit ihrer dritten Rüge macht die Klägerin geltend, dass die von der Kommission im 334. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses beanstandeten, angeblich nicht erläuterten Unterschiede zwischen den Berichten vom 5. September 2008 zum einen und zum anderen den zwei Schreiben des örtlichen Leiters einer Zweigstelle der Klägerin (im Folgenden: örtlicher Leiter) vom 4. und 5. September 2008, die darin beständen, dass einerseits den Berichten zufolge eine lokale Instandsetzung der verformten Stelle ausreiche und andererseits in den Schreiben des örtlichen Leiters darauf hingewiesen werde, dass umfassendere Arbeiten am Gleisabschnitt vorgenommen werden müssten, dem Umstand geschuldet seien, dass sich der Auftrag der vier Mitglieder des Untersuchungsausschusses auf die Untersuchung der Verformung beschränkt habe und sie ausschließlich die verformte Stelle und nicht den gesamten Gleisabschnitt untersucht hätten. Dagegen sei der Auftrag des örtlichen Leiters, dem die Mitglieder des Untersuchungsausschusses ihre Berichte übermittelt hätten, nicht begrenzt gewesen. Es habe sich bei ihm nämlich um den Mitarbeiter mit der größten Erfahrung gehandelt, da er für Infrastrukturen und Verkehrssicherheit in seiner Region verantwortlich sei und seine Hauptzuständigkeit darin bestanden habe, die Bedeutung des Vorfalls für die Sicherheit des gesamten Gleisabschnitts zu bewerten. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen in Bezug auf den Gleisabschnitt und angesichts des Umstands, dass alle zuvor getroffenen Maßnahmen, u. a. kleinere Reparaturen und die Senkung der Geschwindigkeit auf 25 km/h, einen derart schwerwiegenden Vorfall wie die Verformung – die potenziell verheerende Folgen für die Umwelt hätte haben können (Ölverschmutzung) und sich auch in einem ganz anderen Segment des Gleisabschnitts hätte ereignen können – nicht hätten verhindern können, sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Renovierung, d. h. ein Neubau des gesamten Gleisabschnitts, erforderlich sei, um den Verkehr wieder in völliger Sicherheit aufnehmen zu können. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Gleisabschnitt sei der Klägerin sehr wohl bekannt gewesen, weshalb die Kommission keine Schlüsse aus dem Umstand ziehen könne, dass der örtliche Leiter in seinen Schreiben vom 4. und 5. September 2008 nicht ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit die Verformung nicht verhindert habe.
120 Die Kommission und die Streithelferin treten dieser Rüge entgegen.
121 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Klägerin am 3. September 2008 einen aus leitenden Angestellten ihrer örtlichen Tochtergesellschaft bestehenden Untersuchungsausschuss einberief, um die Ursachen der Verformung zu ermitteln. Der Untersuchungsausschuss hat nur die verformte Stelle besichtigt und untersucht. Folglich bezogen sich seine Feststellungen zum Zustand des Gleisabschnitts nur auf diese Stelle. Der Untersuchungsausschuss legte zwei Berichte vor: den Untersuchungsbericht vom 5. September 2008 und den technischen Bericht vom 5. September 2008.
122 Dem Untersuchungsbericht vom 5. September 2008 zufolge war die Verformung durch eine physische Verschlechterung zahlreicher Bestandteile der Struktur des Gleisabschnitts verursacht worden. Im Untersuchungsbericht wurde darüber hinaus bestätigt, dass der Verkehr ausgesetzt werden müsse, „bis alle Wiederherstellungs- und Ausbesserungsmaßnahmen abgeschlossen sind“.
123 Die Bemerkungen im Untersuchungsbericht vom 5. September 2008 wurden durch den technischen Bericht vom 5. September 2008 bestätigt, der sich – wie der erste Bericht – ausschließlich auf die Stelle der Verformung bezog und als deren Ursache verschiedene Probleme im Zusammenhang mit der Struktur des Gleisabschnitts benannte. Im technischen Bericht vom 5. September 2008 wurde festgestellt, dass der Verkehrsunfall, der in Gestalt einer Verformung auf dem Gleisabschnitt eingetreten sei, als Störung eingestuft werden müsse und der physischen Abnutzung der oberen Komponenten der Struktur des Gleisabschnitts geschuldet sei.
124 Am 4. September 2008, d. h. einen Tag vor Übermittlung der Berichte des Untersuchungsausschusses vom 5. September 2008, versandte der örtliche Leiter ein Schreiben an die Direktion für Eisenbahninfrastrukturen der LG. In diesem Schreiben traf der örtliche Leiter die gleichen Feststellungen, wie sie in den Berichten vom 5. September 2008 enthalten waren, doch kam er zu dem Schluss, dass „eine Teilreparatur des Gleisabschnitts das Problem nicht lösen wird“, und er beantragte die erforderliche Genehmigung und Finanzierung für die Durchführung eines Vorhabens zur Reparatur des gesamten Gleisabschnitts.
125 In einem zweiten Schreiben vom 5. September 2008 wiederholte der örtliche Leiter seine Schlussfolgerungen unter Schätzung der Kosten des Vorhabens auf 38 Mio. litauische Litas (LTL), etwa 11,2 Mio. Euro.
126 Insoweit ist erstens festzustellen, dass aus dem Inhalt der Schreiben des örtlichen Leiters vom 4. und 5. September 2008 entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht hervorgeht, dass sein Auftrag nicht auf die Stelle der Verformung begrenzt war und er deshalb den Zustand des gesamten Gleisabschnitts begutachtete, während der Untersuchungsausschuss vom 3. September 2008 seine Prüfung auf die verformte Stelle beschränkte. In seinem Schreiben vom 4. September 2008 beschränkte sich der örtliche Leiter nämlich auf den Hinweis, dass bei einer Routineüberprüfung bei km 18 des Gleisabschnitts eine Verformung gemeldet worden sei, zählte anschließend die Ergebnisse der Überprüfung in Bezug auf die Ursache der Verformung auf und stellte fest, dass „Teilreparaturen das Problem nicht lösen werden“. Ferner beantragte er die erforderliche Genehmigung und Finanzierung für die Durchführung eines Vorhabens zur Reparatur des gesamten Gleisabschnitts. Das Schreiben des örtlichen Leiters vom 5. September 2008 ist kurz gehalten und enthält die Angabe des Datums und der Uhrzeit der Verformung und die Feststellung des örtlichen Leiters, dass Arbeiten am gesamten Gleisabschnitt vorgenommen werden müssten, damit der Verkehr auf dem Gleisabschnitt wieder aufgenommen werden könne. Darüber hinaus schätzte der örtliche Leiter die Kosten des Vorhabens auf 38 Mio. LTL, und er beantragte beim Adressaten des Schreibens dessen Unterstützung bei der Zuweisung von Mitteln für die Durchführung der Arbeiten.
127 Wie die Kommission zweitens hervorhebt, handelte es sich bei den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses vom 3. September 2008, die die Berichte vom 5. September 2008 verfasst hatten und eine lokale Instandsetzung der Verformung empfohlen hatten, um leitende Angestellte, die derselben LG-Zweigstelle wie der örtliche Leiter angehörten und genau wie dieser die Vorgeschichte des Gleisabschnitts kennen mussten.
128 Drittens ergibt, wie im 332. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, ein Vergleich der Berichte vom 5. September 2008 mit dem Schreiben des örtlichen Leiters vom 4. September 2008, wie in Tabelle 2 im 46. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zusammengefasst, dass die drei Dokumente auf die gleichen Probleme im Zusammenhang mit der Struktur des Gleisabschnitts Bezug nehmen. Folglich ist schwer nachzuvollziehen, warum die Berichte vom 5. September 2008 lokale Instandsetzungen an der verformten Stelle empfahlen, während in den Schreiben vom 4. und 5. September 2008 umfassende Reparaturen am gesamten Gleisabschnitt befürwortet wurden.
129 Viertens kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, dass der örtliche Leiter aufgrund seiner Erfahrung und des Umstands, dass die zuvor ergriffenen Maßnahmen, insbesondere die Geschwindigkeitsbegrenzung, das Eintreten der Verformung nicht verhindert hätten, die Beseitigung und den vollständigen Neubau des Gleisabschnitts empfohlen habe. Die Schreiben des örtlichen Leiters vom 4. und 5. September 2008 enthalten nämlich keinen Hinweis darauf, dass die zuvor ergriffenen Maßnahmen, wie z. B. die Geschwindigkeitsbegrenzung, keinen Erfolg gehabt hätten. Insbesondere das Schreiben des örtlichen Leiters vom 4. September 2008 beschränkte sich auf die nicht näher erläuterte Feststellung, dass „Teilreparaturen das Problem nicht lösen werden“. Zudem kann, selbst wenn erwiesen wäre, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Gleisabschnitt innerhalb der LG bekannt war, dieser Umstand weder die fehlende Bezugnahme auf ein Scheitern der früheren Maßnahmen erklären noch in irgendeiner Weise die Unstimmigkeiten zwischen den Berichten vom 5. September 2008 und den Schreiben des örtlichen Leiters begründen.
130 Somit sind die Begründungen, die die Klägerin vorgetragen hat, um die Diskrepanzen zwischen den Berichten vom 5. September 2008 und den Schreiben des örtlichen Leiters vom 4. und 5. September 2008 zu erklären, nicht ausreichend, um die im angefochtenen Beschluss enthaltene Feststellung der Kommission, es lägen Unstimmigkeiten vor, zu widerlegen.
131 Demnach ist die Rüge der Klägerin zurückzuweisen.
4) Zur vierten Rüge des ersten Teils: Die Kommission habe das Vorbringen zu den systemischen Problemen des Gleisbetts zu Unrecht zurückgewiesen
132 Mit ihrer vierten Rüge macht die Klägerin geltend, ihr Vorbringen zu den systemischen Problemen des Gleisbetts sei nicht, wie von der Kommission im angefochtenen Beschluss behauptet, inkohärent oder wenig überzeugend. Vielmehr sei der besondere Umstand zu berücksichtigen, dass ein auf Gleisbetten und Schotterbettungen spezialisierter Experte den Gleisabschnitt erst spät, nämlich am 11. September 2008, habe prüfen können. Der Sonderausschuss, der am 10. September 2018 gebildet worden sei, habe den Gleisabschnitt untersucht und u. a. einen ausgeprägten Verschleiß der Schotterbettung, vier „Rinnen“, die „Mängel des Unterbaus“ belegten, sowie eine den technischen Vorschriften nicht entsprechende Breite des Gleisbetts festgestellt. Auf der Grundlage dieser Feststellungen sei der Sonderausschuss zu dem Ergebnis gekommen, dass die Verformung in diesem Fall durch systemische Probleme im Befestigungssystem und im Gleisbett verursacht worden sei. Für dieses Ergebnis sei es nicht erforderlich gewesen, die Schotterbettung auszuheben. Die Mängel, die sehr gut sichtbar gewesen seien, hätten nämlich u. a. den Zustand und die Form der Schotterbettung betroffen und starke Indizien für den schlechten Zustand des Gleisbetts im Allgemeinen geliefert, weshalb sie für sich genommen ausgereicht hätten, um die Experten zu ihrem Ergebnis kommen zu lassen.
133 Der Gleisabschnitt habe sich in einem sehr schlechten Allgemeinzustand befunden, und das Auftreten der Verformung sei für den Sonderausschuss ein klares Indiz gewesen, dass die bis dahin getroffenen punktuellen Maßnahmen (kleinere Reparaturen der Struktur des Gleisabschnitts und Geschwindigkeitssenkungen) nicht ausgereicht hätten, um die bestehenden schwerwiegenden Sicherheitsprobleme zu lösen. Auf der Grundlage der eindeutigen technischen Schlussfolgerungen des auf Gleisbetten und Schotterbettungen spezialisierten Experten sowie des Sonderausschusses insgesamt habe es somit keine andere Lösung als den vollständigen Neuaufbau des Gleisbetts gegeben, um weitere gefährliche Vorfälle, wenn nicht gar Unfälle, zu vermeiden. Folglich sei es diese neue, umfassende und detaillierte Bewertung des gesamten Gleisabschnitts gewesen, die der Entscheidung, den Gleisabschnitt zu beseitigen, zugrunde gelegen habe.
134 Die Kommission und die Streithelferin treten dieser Rüge entgegen.
135 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im 336. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass die Klägerin in ihrem Schriftverkehr mit dem Minister für Verkehr und Kommunikation und in ihren Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren wiederholt erklärt habe, der Hauptgrund für die vollständige Beseitigung des Gleisabschnitts sei ein systemisches Problem des Bettes dieses Gleisabschnitts, nämlich ein Verschleiß der Schotterbettung, der eine Verengung des Gleisbetts zur Folge gehabt habe, dessen Reparatur die Beseitigung der Struktur des Gleisabschnitts erfordert habe. Im 337. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission hingegen darauf hingewiesen, dass der Zustand des Gleisabschnitts mindestens seit einem früheren Bericht vom 3. September 2004 bekannt gewesen sei, jedoch damals und bis zur Erstellung eines Sonderprüfungsberichts vom 12. September 2008 auf kein systemisches Problem im Gleisbett hingewiesen worden sei, obwohl der Gleisabschnitt zwischen diesen beiden Daten regelmäßig kontrolliert worden sei.
136 Zudem hat die Kommission im 338. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass die Klägerin in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte erklärt habe, der am 10. September 2008 gebildete Sonderprüfungsausschuss habe im Gegensatz zum Untersuchungsausschuss, der die Berichte vom 5. September 2008 verfasst habe und auf kein Problem im Zusammenhang mit dem Gleisbett hingewiesen habe, aus Spezialisten für Gleisbetten und Schotterbettungen bestanden, die erklärt hätten, dass „für eine Analyse des Gleisbetts die Schotterbettung ausgehoben werden muss, da der schlechte Zustand des Gleisbetts nicht einsehbar ist“.
137 Dem 339. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ist jedoch zu entnehmen, dass die Klägerin, als die Kommission anschließend nähere Erläuterungen zu dieser neuen Erklärung habe einholen wollen, klargestellt habe, dass der Sonderprüfungsausschuss keine Schotterbettung ausgehoben habe.
138 Zudem geht aus dem 340. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Klägerin in ihrer Antwort auf das Sachverhaltsschreiben erneut ihre Erklärungen modifiziert und erklärt habe, das vorrangige Ziel des Sonderprüfungsausschusses habe darin bestanden, eine visuelle Evaluierung des Gleisabschnitts vorzunehmen, um sichtbare Mängel aufzudecken. Eine spezielle Prüfung habe erst nach der Aufdeckung dieser sichtbaren Mängel erfolgen können. Im gleichen Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wird jedoch darauf hingewiesen, dass keiner dieser Mängel im Sonderprüfungsbericht vom 12. September 2008 erwähnt worden sei und dass die Entscheidung, den Gleisabschnitt zu beseitigen, getroffen worden sei, bevor der Untersuchungsausschuss eine spezielle Prüfung vorgenommen habe, die angeblich eine Aushebung der Schotterbettung erfordert habe.
139 Somit ist als Erstes festzustellen, dass der Sonderprüfungsbericht vom 12. September 2008 zwei verschiedene Abschnitte beinhaltete, von denen der eine die Hauptmerkmale des Gleisabschnitts betraf und der andere die Mängel, die nach der Verformung entlang des Gleisabschnitts festgestellt wurden. Im Sonderprüfungsbericht wurde das Ausmaß der Verschlechterung der Schotterbettung nicht im Rahmen der Mängel erwähnt, die nach der Verformung entlang des Gleisabschnitts festgestellt wurden, sondern in dem Teil, der den Hauptmerkmalen des Gleisabschnitts gewidmet war, zusammen mit anderen Eigenschaften wie u. a. Schienentyp, Art der Eisenbahnschwellen und Verkehrsaufkommen. Folglich ist die Verschlechterung der Schotterbettung, wie sie im Sonderprüfungsbericht vom 12. September 2008 erwähnt wurde, d. h. im Rahmen der gleichbleibenden und objektiven Merkmale des Gleisabschnitts, für die Begründung der Notwendigkeit, den gesamten Gleisabschnitt zu beseitigen, nicht relevant.
140 Außerdem wurde im fraglichen Bericht nur ein Mangel genannt, der das Gleisbett betraf, und dieser bestand aus vier „Rinnen“, die „Mängel des Unterbaus“ belegten, sowie einer den technischen Vorschriften nicht entsprechenden Breite des Gleisbetts. Wie die Kommission jedoch zu Recht geltend macht, hat die Klägerin nicht dargelegt, inwiefern das Auftreten von vier Rinnen entlang des Gleisabschnitts die Beseitigung des gesamten Gleisabschnitts erforderlich gemacht haben soll.
141 Was als Zweites das Vorbringen betrifft, es sei nicht erforderlich gewesen, die Schotterbettung auszuheben, um dem Sonderausschuss zu ermöglichen, Probleme des Gleisbetts festzustellen, steht dieses Vorbringen, selbst wenn es erwiesen wäre, im Widerspruch zu dem Vorbringen der Klägerin in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte, wonach der schlechte Zustand des Gleisbetts nicht einsehbar gewesen sei und seine Überprüfung die Aushebung der Schotterbettung erfordert habe. Dieser Widerspruch belegt die Schwierigkeiten der Klägerin, eine kohärente Begründung für die Beseitigung des Gleisabschnitts vorzutragen.
142 Als Drittes ist festzustellen, dass das Vorbringen der Klägerin zur vierten Rüge nicht ausreicht, um die anderen Unstimmigkeiten zu erklären, die die Kommission im angefochtenen Beschluss festgestellt hat, insbesondere im 340. Erwägungsgrund.
143 Nach alledem hat die Kommission keinen Beurteilungsfehler begangen, als sie feststellte, dass das Vorbringen der Klägerin zu den systemischen Problemen des Gleisbetts inkohärent oder wenig überzeugend sei.
144 Dieses Ergebnis wird auch nicht durch das Vorbringen der Klägerin in Frage gestellt, wonach der sehr schlechte Allgemeinzustand des Gleisbetts in Verbindung mit der neuen, umfassenden und detaillierten Bewertung des gesamten Gleisabschnitts durch den Sonderausschuss nach der Feststellung der Verformung sie zu der Einschätzung veranlasst habe, dass ein Neubau des gesamten Gleisabschnitts erforderlich sei, um den Verkehr in völliger Sicherheit wieder aufnehmen zu können. Für die Entkräftung der Zweifel, die die Kommission an den systemischen Problemen des Gleisbetts auf der Grundlage der von der Klägerin vorgelegten Dokumente geäußert hat, ist das Vorbringen nämlich nicht relevant. Da das Argument jedenfalls im Rahmen des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes wiederholt wird, wird es in diesem Zusammenhang geprüft werden.
145 Demnach ist die Rüge der Klägerin zurückzuweisen.
146 Nach alledem ist festzustellen, dass keine der Rügen, die die Klägerin zur Stützung des ersten Teils des zweiten Klagegrundes vorgetragen hat, das Ergebnis der Kommission im angefochtenen Beschluss in Frage stellen kann, wonach die von der Klägerin vorgebrachten Erklärungen zum Vorliegen und zur Bedeutung von Mängeln des Gleisabschnitts für die Verkehrssicherheit inkonsistent, widersprüchlich und wenig überzeugend seien.
147 Folglich ist der erste Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: Beurteilungsfehler der Kommission bei ihrer Feststellung, die Beseitigung des Gleisabschnitts sei „extrem ungewöhnlich“
148 Die Klägerin erinnert zunächst daran, dass sie auf der Grundlage der nach der Prüfung durch den Sonderausschuss abgegebenen technischen Schlussfolgerungen zwei Optionen gehabt habe, nämlich entweder zielgerichtete Anfangsreparaturen gefolgt von einem anschließenden vollständigen Neubau des gesamten Gleisabschnitts innerhalb von fünf Jahren (im Folgenden: Option 1) oder ein sofortiger vollständiger Neubau des Gleisabschnitts (im Folgenden: Option 2), und macht sodann geltend, dass unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls die sofortige Durchführung der Option 2 nicht „extrem ungewöhnlich“ sei, so dass dieser Umstand nicht als Bestandteil einer missbräuchlichen Praxis angesehen werden könne.
149 Erstens sei es der Gleisabschnitt, der „extrem ungewöhnlich“ sei, da er zur maßgeblichen Zeit fast 140 Jahre alt gewesen sei und seit 1972 keine größeren Instandsetzungsmaßnahmen durchgeführt worden seien. Auf dem gesamten Gleisabschnitt seien mehrere Mängel festgestellt worden, doch seien nur kleine Reparaturen in Verbindung mit Geschwindigkeitsbeschränkungen des Zugverkehrs auf 25 km/h vorgenommen worden. Diese Maßnahmen entsprächen bei Weitem nicht der Branchenpraxis in Europa und seien Ausdruck der äußerst heiklen finanziellen Lage der Klägerin und ihres alleinigen Aktionärs, des litauischen Staats.
150 Zweitens sei nach dem Auftreten der Verformung und der detaillierten Bewertung des Zustands des gesamten Gleisabschnitts durch den Sonderausschuss offenkundig geworden, dass eine erneute kostengünstige Teilreparatur die Sicherheitsprobleme des Gleisabschnitts nicht gelöst hätte. Aus diesem Grund habe die Klägerin am 19. September 2008 entschieden, dass der Neubau des Gleisabschnitts (im Rahmen der Option 1 oder der Option 2) die einzige Möglichkeit sei, die Sicherheit des Verkehrs zu gewährleisten.
151 Drittens sei von den beiden Optionen nur die zweite relevant und wirtschaftlich sinnvoll gewesen. Nach Auffassung der Klägerin hätten Anfangsreparaturen die verschiedenen Probleme nicht wirklich lösen können, da selbst bei Durchführung der Option 1 ein Neubau des gesamten Gleisabschnitts innerhalb von fünf Jahren erforderlich gewesen wäre. Zudem sei die Option 1 letztlich kostspieliger als die Option 2 gewesen. Außerdem hätte die Option 1 nach Auffassung der Klägerin eine erhebliche Doppelung der vorzunehmenden Arbeiten mit sich gebracht, während die Arbeiten bei der Option 2 nur ein einziges Mal durchgeführt worden wären. Überdies hätten alle für die Anfangsreparaturen verwendeten Materialien beim späteren Neubau wieder ersetzt werden müssen.
152 Viertens habe die Klägerin keinen Grund gehabt, die Durchführung der Option 2 hinauszuzögern, da es sich dabei um die einzige relevante und wirtschaftlich sinnvolle Lösung gehandelt habe. Zudem habe LDZ selbst erklärt, dass ein Gleisabschnitt normalerweise beseitigt werde, wenn es keinen Grund gebe, von seiner Wiederverwendung auszugehen. Außerdem habe LDZ bestätigt, dass es sich bei der Beseitigung um eine übliche Praxis handle, die erforderlich sei, wenn die vorhandenen Schienen durch neue ersetzt werden müssten oder wenn Renovierungsarbeiten durchgeführt werden müssten, z. B. die Renovierung des Gleisbetts und der Schotterbettung, deren technische Durchführung ohne Entfernung der Schienen nicht möglich sei. Die Klägerin macht ferner geltend, dass sie beschlossen habe, einige Materialien des Gleisabschnitts für die Reparaturen anderer Gleise wiederzuverwenden. Der Klägerin zufolge hätten diese Materialien im Winter Schaden genommen, wenn sie sie im Oktober 2008 nicht schnell entfernt hätte, um sie sicher zwischenzulagern. Durch die schnelle Beseitigung des Gleisabschnitts und die gleichzeitige Anforderung von Geldern für dessen Neubau habe sie Orlen, die beständigen Druck auf sie ausgeübt habe, mit hinreichender Deutlichkeit gezeigt, dass sie entschlossen gewesen sei, den Gleisabschnitt im Einklang mit ihren vertraglichen Verpflichtungen wieder aufzubauen.
153 Fünftens habe die Klägerin zum Zeitpunkt der Entfernung des Gleisabschnitts, d. h. am 3. Oktober 2008, die berechtigte Erwartung gehabt, dass sie die für den Neubau des Gleisabschnitts benötigten Gelder erhalten werde, da sie die Auswirkungen der durch die Insolvenz der Bank Lehman Brothers im September 2008 ausgelösten Finanzkrise noch nicht gespürt habe. Insbesondere habe die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum keine derart ungünstige Entwicklung der Lage vorhersehen können, die sie gezwungen habe, ab Ende 2008 die Durchführung ihrer wichtigsten Sanierungsprojekte zu stoppen, darunter eines im Zusammenhang mit dem Gleisabschnitt. Zudem seien im maßgeblichen Zeitraum noch EU-Mittel für größere Investitionen in Eisenbahninfrastrukturen im Zeitraum 2007–2013 verfügbar gewesen, und die Klägerin sei berechtigterweise davon ausgegangen, dass sie diese Mittel in Anspruch nehmen könne, um den Gleisabschnitt neu zu bauen. Die im angefochtenen Beschluss enthaltene Behauptung, wonach sich die Klägerin in ihrem an das Ministerium für Verkehr und Kommunikation gerichteten Schreiben vom 2. Oktober 2008 nicht wirklich um eine Finanzierung der Sanierung des Gleisabschnitts bemüht habe, entbehre somit jeglicher Grundlage.
154 In ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz erklärt die Klägerin, sie habe nicht über ausreichende Mittel verfügt, um alle wichtigen Sanierungsarbeiten in ihrem Netz durchzuführen, und habe daher entscheiden müssen, wie sie ihre sehr begrenzten Ressourcen am effektivsten einsetze. Zum Zeitpunkt der Beseitigung des Gleisabschnitts seien Unionsmittel verfügbar gewesen, und es sei nur eine Frage der Priorisierung gewesen, ob ein Teil dieser Mittel für den Gleisabschnitt verwendet werde. Der Störfall habe ihre Analyse der Prioritäten jedoch völlig verändert. Zudem wären angesichts ihrer 2008 realisierten Nettogewinne bereits ihre Eigenmittel ausreichend und verfügbar gewesen, um den Neubau des Gleisabschnitts vollständig zu finanzieren, falls keine Finanzierung durch die Union oder den Staat erfolgt wäre.
155 Die Kommission und die Streithelferin treten diesem Vorbringen entgegen.
156 Mit ihrem Vorbringen beanstandet die Klägerin die Beurteilungen der Kommission in den Erwägungsgründen 184 bis 198 des angefochtenen Beschlusses, wonach zum einen die Entfernung des Gleisabschnitts in großer Eile vorgenommen worden sei, ohne Vorbereitungen für den Neubau zu treffen (Erwägungsgründe 184 bis 193 des angefochtenen Beschlusses), und zum anderen diese Beseitigung der üblichen Praxis im Eisenbahnsektor widerspreche (Erwägungsgründe 194 bis 198 des angefochtenen Beschlusses).
157 Insoweit ist erstens daran zu erinnern, dass die Kommission im 184. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses feststellte, die Klägerin habe den Gleisabschnitt in großer Eile entfernt, ohne die erforderlichen Mittel zu mobilisieren und ohne die normalen Vorbereitungen für den Neubau zu treffen. Dem 185. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ist zu entnehmen, dass die Klägerin in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen der Kommission erklärt habe, „[d]as litauische Segment des [Gleisabschnitts] wurde … mit dem Ziel entfernt, Wiederaufbauarbeiten durchzuführen und den Gleisabschnitt so bald wie möglich wieder für den Verkehr freizugeben, da die Strecke für Orlen, einen ihrer Hauptkunden, wichtig war“. Die Klägerin hebt zudem hervor, dass sie „unter dem beständigen Druck von Orlen handelte, den Neubau dieses Gleisabschnitts zu beschleunigen, und sich deshalb nach besten Kräften bemühte, die notwendigen Arbeiten so bald wie möglich durchzuführen“.
158 Zweitens hat die Kommission im 186. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, die Klägerin sei damals der Auffassung gewesen, dass sie nicht über ausreichende Mittel verfüge, um den Gleisabschnitt zu renovieren, und offensichtlich ein langes Verwaltungsverfahren zu durchlaufen sei, bevor Gelder für ein solch umfangreiches Vorhaben sichergestellt werden könnten. Gemäß den vom litauischen Staat damals festgelegten Modalitäten seien große Infrastrukturprojekte durch Unionsmittel finanziert worden, während die begrenzten Ressourcen der Klägerin nur für die laufende Unterhaltung der Infrastrukturen hätten verwendet werden dürfen. Ein Antrag auf Finanzierung durch die Union sei von vorbereitenden Maßnahmen zu flankieren gewesen, einschließlich einer Machbarkeitsstudie, deren Erstellung im vorliegenden Fall zwei Jahre in Anspruch genommen habe. Die endgültige Entscheidung über die Bereitstellung von Mitteln aus EU-Strukturfonds für ein Vorhaben habe dem Ministerium für Verkehr und Kommunikation oblegen. Somit habe es überhaupt keine Garantie gegeben, dass die Mittel bewilligt würden, weshalb keine Eile bestanden habe, den Gleisabschnitt zu entfernen. Schließlich stellte die Kommission im 187. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass die Entfernung des gesamten Gleisabschnitts keine große Zeitersparnis ermöglicht habe, da der tatsächliche Neubau nach Abschluss aller vorbereitenden administrativen Schritte hätte beginnen können.
159 Ferner ist dem 188. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu entnehmen, dass die Kommission die Klägerin aufgefordert hat, darzulegen, inwiefern die Beseitigung des Gleisabschnitts im Oktober 2008 zu einer Beschleunigung des Neubaus habe führen können, obwohl noch ein langes und ungewisses Verfahren zur Beantragung der erforderlichen Mittel zu durchlaufen gewesen sei. Derselben Randnummer ist zu entnehmen, dass die Klägerin in ihrer Antwort im Wesentlichen erneut behauptete, die Beseitigung des Gleisabschnitts sei ein notwendiger Schritt für dessen Neubau und diene dazu, bei den verbleibenden Arbeiten Zeit einzusparen. Das Verfahren sei nicht lang, sondern eher einfach, „nach Einreichung des Antrags auf Finanzierung konnte sie berechtigterweise davon ausgehen, dass für dieses Vorhaben Mittel bewilligt werden“ und „dieses Vertrauen wurde durch den Umstand bestärkt, dass sie aufgefordert wurde, eine Machbarkeitsstudie für das Vorhaben vorzulegen“. Dem 189. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zufolge wiederholte die Klägerin in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte ihr Vorbringen, bei der Entfernung des Gleisabschnitts habe sie ausschließlich das Ziel verfolgt, ihn so schnell wie möglich zu reparieren. Bei der Beseitigung des Gleisabschnitts handle es sich nicht um eine außergewöhnliche Maßnahme, sondern um eine Maßnahme, die erforderlich sei, bevor die kurze Strecke vollständig repariert werden und der Verkehr wiederaufgenommen werden könne.
160 Drittens stellte die Kommission im 190. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass die Klägerin ihren Antrag auf Finanzierung am 2. Oktober 2008 in einem kurzen Schreiben an den Minister für Verkehr und Kommunikation gestellt habe und 620 Mio. LTL (etwa 179,71 Mio. Euro) für die Renovierung acht verschiedener Gleisabschnitte, darunter der streitige Gleisabschnitt, beantragt habe, ohne eine besondere Erklärung zum streitigen Gleisabschnitt abzugeben. Drittens wies die Kommission darauf hin, dass das übliche Bewilligungsverfahren voraussichtlich lange dauern werde und das Ergebnis nicht garantiert werden könne. Dennoch begann die Klägerin am nächsten Tag, dem 3. Oktober 2008, mit der Beseitigung des Gleisabschnitts, ohne die Antwort des Ministers für Verkehr und Kommunikation abzuwarten. Aus dem 191. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses geht hervor, dass das Ministerium für Verkehr und Kommunikation in seiner Antwort vom 28. Oktober 2008 darauf hingewiesen habe, dass für diese bislang nicht genehmigten Vorhaben keine Finanzierung vorgesehen sei. Das Ministerium für Verkehr und Kommunikation habe die Klägerin außerdem daran erinnert, dass noch Unionsmittel verfügbar seien, und sie aufgefordert, zu finanzierende Vorhaben zu benennen. Da der Erfolg des Antrags auf Finanzierung jedoch von den Ergebnissen einer Machbarkeitsstudie und von der Entscheidung des Ministeriums für Verkehr und Kommunikation abhängig gewesen sei, habe die Klägerin nicht berechtigterweise davon ausgehen können, dass die Unionsmittel gegebenenfalls kurzfristig gewährt würden.
161 Viertens vertrat die Kommission im 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Auffassung, dass auch die späteren Handlungen der Klägerin zeigten, dass sie nicht versucht habe, den Gleisabschnitt wieder aufzubauen. Die Klägerin habe Vermerke an die litauische Regierung verfasst, in denen sie sich gegen einen Neubau des Gleisabschnitts eingesetzt habe, und sie habe nur auf Anweisung der Regierung empfohlen, den Neubau des Gleisabschnitts in die Liste für eine prioritäre Finanzierung aufzunehmen.
162 In den Erwägungsgründen 194 ff. des angefochtenen Beschlusses führte die Kommission außerdem die Gründe einzeln auf, aus denen sie der Auffassung war, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts „extrem ungewöhnlich“ sei und der „gängigen Praxis“ im Eisenbahnsektor widerspreche. Die Kommission stellte nämlich zum einen fest, dass, obwohl es in Litauen mehrere Gleisabschnitte gebe, auf denen der Verkehr ausgesetzt worden sei, die Klägerin keinen weiteren beispielhaften Fall habe benennen können, in dem ein Gleisabschnitt entfernt worden sei, bevor die Renovierungsarbeiten hätten beginnen können.
163 Zum anderen erinnerte die Kommission daran, dass sie Auskunftsersuchen an die Betreiber von Eisenbahninfrastrukturen in den zwei anderen baltischen Staaten, der Republik Estland und der Republik Lettland, gerichtet habe. Der Betreiber der estnischen Eisenbahninfrastrukturen habe nur ein einziges Beispiel für die Entfernung eines langen Gleisabschnitts nennen können. In jenem Fall sei das Gleis entfernt worden, da die Strecke selbst geschlossen, aufgegeben und durch eine andere ersetzt worden sei. Der Betreiber der estnischen Eisenbahninfrastrukturen habe außerdem darauf hingewiesen, dass die Arbeiten, die die Beseitigung von Gleisen erforderten, nicht gleichzeitig auf der gesamten Strecke durchgeführt würden, sondern in Intervallen, die zu einer Unterbrechung des Verkehrs für maximal zwölf Stunden führten. Die größeren Reparaturarbeiten, einschließlich der Beseitigung eines Gleisabschnitts, begännen nicht vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens, das ihre Bewilligung zum Gegenstand habe. Die Betreiberin der lettischen Eisenbahninfrastrukturen, LDZ, erklärte, ein Gleisabschnitt werde im Allgemeinen erst dann entfernt, wenn er mehrere Jahre nicht benutzt worden sei, und nur dann, wenn es keinen Grund gebe, davon auszugehen, dass er wieder benutzt werde. In den zwei von LDZ angeführten Beispielen wurden die Gleisabschnitte 10 bzw. 13 Jahre nach ihrer Stilllegung entfernt. Zudem werde die Entfernung eines Gleisabschnitts für Reparaturarbeiten in Lettland etappenweise vorgenommen. Die Reparaturarbeiten begännen nicht vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens und Sicherstellung der Finanzierung.
164 Was im vorliegenden Fall als Erstes die Frage der Entfernung des Gleisabschnitts in großer Eile ohne Vorbereitungen für den Neubau betrifft, geht erstens aus der Prüfung des ersten Teils des zweiten Klagegrundes hervor, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, dass sich der Gleisabschnitt nach Auftreten der Verformung und nach der detaillierten Bewertung des Zustands des gesamten Gleisabschnitts in einem Zustand befunden habe, der seine sofortige vollständige Entfernung gerechtfertigt habe. Vielmehr wurden im Sonderprüfungsbericht vom 12. September 2008, in dem der gesamte Gleisabschnitt untersucht wurde, keine Mängel auf dem gesamten Gleisabschnitt festgestellt, sondern nur, wie die Kommission auf der Grundlage der Angaben der Klägerin hervorgehoben hat, auf 1,6 km des Gleisabschnitts. In einem Schreiben vom 18. September 2008 der Direktion für Eisenbahninfrastrukturen der LG an den Rat für strategische Planung der LG, das auf der Grundlage des Sonderprüfungsberichts vom 12. September 2008 erstellt worden war, wurde zudem klargestellt, dass nur 1,6 km des Gleisabschnitts sofort saniert werden müssten. Wie jedoch zu Recht im 348. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, können Probleme, die 1,6 km von 19 km des Gleisabschnitts betreffen, nicht dessen völlige und sofortige Entfernung rechtfertigen. Zwar wurde in dem Schreiben vom 18. September 2008 auch ausgeführt, dass die Schienenbefestigungen auf 19 km des Gleisabschnitts ersetzt werden müssten, das Gleisbett repariert werden müsse, die Kommunikationskabel entlang des gesamten Gleisabschnitts ersetzt werden müssten und zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit der Gleisabschnitt innerhalb von fünf Jahren vollständig repariert werden müsse. Dagegen gab es keinen Hinweis darauf, dass die Reparatur die vollständige und sofortige Entfernung des Gleisabschnitts voraussetzte.
165 Zweitens hat die Klägerin das Vorbringen, wonach die Mängel, die den Vorfall vom 2. September 2008 ausgelöst hätten, an zahlreichen anderen Stellen auf dem gesamten Gleisabschnitt festgestellt worden seien, nicht ausreichend untermauert. Das Vorbringen stützt sich nämlich auf den „Wacetob-Bericht“, der vom Zentrum zur Förderung von Wissenschaft und Organisation des Konstruktionswesens in Warschau (Polen) erstellt wurde und zu dem die Kommission in den Erwägungsgründen 349 bis 356 des angefochtenen Beschlusses die Auffassung vertrat, ohne dass ihr die Klägerin widersprochen hätte, dass er keinen Beweiswert habe und die Argumentation der Klägerin nicht stützen könne. Ferner wurde die Behauptung, eine „kostengünstige Teilreparatur“ werde die Sicherheitsprobleme des Gleisabschnitts nicht lösen, die im Schreiben des örtlichen Leiters vom 4. September 2008 enthalten ist, zu Recht, wie aus den Rn. 126 bis 130 dieses Urteils hervorgeht, als nicht mit den Berichten vom 5. September 2008 vereinbar angesehen, denen zufolge eine lokale Instandsetzung die Wiederaufnahme des Verkehrs in völliger Sicherheit ermöglicht hätte.
166 Somit kann aus dem Vorbringen, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, die Beseitigung des Gleisabschnitts sei aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs erforderlich gewesen, nicht geschlossen werden, dass die Kommission einen Beurteilungsfehler begangen hat.
167 Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen in Frage gestellt, wonach die Option 2 die einzig relevante und wirtschaftlich sinnvolle Lösung gewesen sei, weshalb die Klägerin keinen Grund gehabt habe, mit der Durchführung ihrer Entscheidung zu warten.
168 Selbst wenn man nämlich annimmt, dass, wie die Klägerin geltend macht, die Option 2 die einzig relevante und wirtschaftlich sinnvolle Lösung gewesen sei, bedingte diese Lösung jedoch nicht zwangsläufig die in großer Eile vorgenommene Beseitigung des Gleisabschnitts. Wie die Kommission im 187. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses feststellt, hätte die sofortige Entfernung des gesamten Gleisabschnitts keine große Zeitersparnis ermöglicht, da die Neubauarbeiten erst nach Abschluss aller vorbereitenden administrativen Schritte, einschließlich insbesondere der Bewilligung der notwendigen Finanzierung, hätten beginnen können. Folglich hatte die Klägerin keinen Grund, den Gleisabschnitt in großer Eile zu entfernen, da sie noch nicht über die notwendige Finanzierung verfügte, um mit den Arbeiten zum Neubau des Gleisabschnitts zu beginnen. Somit kann sie nicht geltend machen, dass sie keinen Grund gehabt habe, mit der Durchführung ihrer Entscheidung über die Ausführung der Option 2, d. h. mit der Beseitigung des Gleisabschnitts, zu warten.
169 Drittens kann auch der Druck, den Orlen auf die Klägerin ausgeübt haben soll, die in großer Eile vorgenommene Beseitigung des Gleisabschnitts nicht rechtfertigen. Das Argument wird dadurch widerlegt, dass die Klägerin entschieden hatte, Orlen nicht vorab darüber zu informieren, dass sie beabsichtige, den Gleisabschnitt zu beseitigen. Angesichts der Natur der eingeleiteten Arbeiten und erst recht in Anbetracht des Umstands, dass Orlen die einzige Kundin war, die den Gleisabschnitt benutzte, ist die Zurückhaltung dieser Information nicht gerechtfertigt. Diese Feststellung kann nicht durch die Stellungnahme der Klägerin zum Streithilfeschriftsatz in Frage gestellt werden, wonach kein Geheimnis um die Handlungen ihrer Direktion im Jahr 2008 gemacht worden sei. Wie nämlich aus dem 55. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, wurde Orlen am 5. September 2008 von den Bahnhöfen lediglich über die „vorübergehende Sperrung“ des Gleisabschnitts informiert. Die Beseitigung des Gleisabschnitts wurde ihr nicht mitgeteilt. Insbesondere aus den Erläuterungen der Parteien in der mündlichen Verhandlung geht hervor, dass das Telegramm, das über die „vorübergehende Aussetzung des Verkehrs“ auf dem Gleisabschnitt bis zum Abschluss der Bau- und Reparaturarbeiten informierte, von der Direktion für Eisenbahninfrastrukturen der Klägerin versandt wurde, um die Bahnhöfe und LDZ über die Aussetzung des Verkehrs zu informieren, und Orlen zu keinem Zeitpunkt Adressatin des Telegramms war.
170 Viertens gilt dies auch für das Vorbringen, die geeigneten Materialien des Gleisabschnitts hätten geborgen werden müssen, damit sie im Winter keinen Schaden nähmen, denn auch dieses Argument kann die in großer Eile vorgenommene Beseitigung des Gleisabschnitts nicht rechtfertigen. Insoweit genügt es nämlich, mit der Kommission festzustellen, dass dieses Vorbringen nicht belegt ist.
171 Was fünftens das Argument betrifft, die Klägerin habe zum Zeitpunkt der Entfernung des Gleisabschnitts die berechtigte Erwartung gehabt, dass sie die für den Neubau des Gleisabschnitts benötigten Gelder erhalten werde, ist dieses Vorbringen aus mehreren Gründen zurückzuweisen.
172 Zunächst hat die Klägerin selbst in ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz eingeräumt, sie habe nicht über ausreichende Mittel verfügt, um alle wichtigen Sanierungsarbeiten in ihrem Netz durchzuführen.
173 Sodann hat die Klägerin in einer Antwort auf ein Auskunftsverlangen der Kommission, mit dem die Kommission in Erfahrung bringen wollte, ob die Klägerin geplant hatte, vor dem 2. September 2008 größere Sanierungsarbeiten am Gleisabschnitt durchzuführen, erklärt, dass der Gleisabschnitt nicht zu den vorrangigen Bahnstrecken gehöre und der litauische Staat grundsätzlich nicht genügend Mittel aus dem allgemeinen Budget für die Modernisierung von Eisenbahninfrastrukturen bereitstelle. Sie fügte außerdem hinzu, dass die Mittel aus EU-Strukturfonds sowie ihre eigenen Mittel nicht für die Modernisierung der vorrangigen nationalen Bahnstrecken ausreichten. Somit war der Klägerin bewusst, dass sie nach der Beseitigung des Gleisabschnitts nicht über Eigenmittel für dessen Neubau verfügen würde und dass sie Schwierigkeiten haben würde, die für den Neubau benötigten Mittel vom Staat oder der Union zu erhalten.
174 Was insbesondere die staatlichen Mittel betrifft, steht fest, wie im 190. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnt, dass die Klägerin ihren Antrag auf Finanzierung am 2. Oktober 2008 in einem kurzen Schreiben an den Minister für Verkehr und Kommunikation gestellt hat und 620 Mio. LTL (etwa 179,71 Mio. Euro) für die Renovierung acht verschiedener Gleisabschnitte, darunter der streitige Gleisabschnitt, beantragte. Zum streitigen Gleisabschnitt wurde keine besondere Erklärung abgegeben. Wie zudem ebenfalls im 190. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, war davon auszugehen, dass das übliche Bewilligungsverfahren lange dauern würde und das Ergebnis nicht gesichert war. Trotz dieser Erwägungen begann die Klägerin bereits am nächsten Tag, dem 3. Oktober 2008, mit der Beseitigung des Gleisabschnitts, ohne die Antwort des Ministers für Verkehr und Kommunikation abzuwarten, die am 28. Oktober 2008 einging und die Mitteilung enthielt, für diese bislang nicht genehmigten Vorhaben sei keine Finanzierung vorgesehen.
175 Insoweit ist festzustellen, dass der Minister für Verkehr und Kommunikation die Klägerin zwar daran erinnerte, dass noch Unionsmittel für bedeutende Investitionen in Eisenbahninfrastrukturen für den Zeitraum 2007–2013 verfügbar seien, und sie aufforderte, zu finanzierende Vorhaben zu benennen, die Kommission jedoch keinen Beurteilungsfehler beging, als sie im 191. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Auffassung vertrat, dass die Klägerin nicht berechtigterweise davon ausgehen konnte, Unionsmittel zu erhalten, ohne rechtzeitig das administrative Vorverfahren einzuleiten, das für die Gewährung der Mittel erforderlich war. Wie die Kommission in den Erwägungsgründen 63 und 64 des angefochtenen Beschlusses feststellt, leitete die Klägerin die Erstellung einer Machbarkeitsstudie zu Neubau und Entwicklung von acht Bahnstrecken ein, doch dauerte es nach der Bewilligung durch ihren Technischen Rat acht Monate, bis am 29. Juli 2009 die Bewilligung ihres Generaldirektors erteilt wurde, und weitere drei Monate bis zur Veröffentlichung der Ausschreibung.
176 Schließlich kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf das Argument berufen, infolge der Finanzkrise, die durch die Insolvenz der Bank Lehman Brothers im September 2008 ausgelöst worden sei, habe sich ihre finanzielle Lage verschlechtert, was sich unmittelbar auf ihre Fähigkeit ausgewirkt habe, bedeutende Renovierungsarbeiten durchzuführen, wie den Neubau des Gleisabschnitts. Dem Vorbringen der Klägerin zum verfallenen Zustand des Gleisabschnitts ist zu entnehmen, dass sie sich bereits vor der Finanzkrise vom September 2008 in einer prekären wirtschaftlichen Lage befand. Die Klägerin macht nämlich selbst geltend, dass gerade wegen ihrer schwierigen finanziellen Lage seit 1972 keine größeren Reparaturarbeiten am Gleisabschnitt vorgenommen worden seien und trotz der Feststellung mehrerer Mängel auf dem gesamten Gleisabschnitt vor September 2008 nur kleine Reparaturen in Verbindung mit Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 25 km/h stattgefunden hätten. Selbst wenn man annimmt, dass sich die Finanzkrise von 2008 auf die Fähigkeit der Klägerin ausgewirkt hat, bedeutende Renovierungsarbeiten wie den Neubau des Gleisabschnitts durchzuführen, ist mit der Kommission festzustellen, dass der Zugang zu Unionsmitteln durch die Finanzkrise nicht beeinträchtigt wurde. Die Klägerin hätte diese Mittel erhalten können, wenn sie das hierfür erforderliche administrative Vorverfahren rechtzeitig eingeleitet hätte.
177 Somit beging die Kommission keinen Beurteilungsfehler, als sie feststellte, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts in großer Eile vollzogen worden sei, ohne die benötigten Mittel erhalten zu haben.
178 Was als Zweites die Frage betrifft, ob die Beseitigung des Gleisabschnitts angesichts der Praxis des Eisenbahnsektors ungewöhnlich war, ist zum einen zu bemerken, dass, wie die Kommission im 186. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Recht feststellt, obwohl es in Litauen mehrere Gleisabschnitte gab, auf denen der Verkehr ausgesetzt wurde, die Klägerin keinen weiteren beispielhaften Fall benennen konnte, in dem ein Gleisabschnitt vor Beginn der Renovierungsarbeiten entfernt wurde. Wie die Kommission außerdem zu Recht geltend macht, hat die Klägerin den Gleisabschnitt Bugeniai-Skuodas-Klaipėda nie beseitigt, obwohl er seit 1995 stillgelegt ist, und dies trotz fehlender Verkehrsnachfrage auf diesem Gleisabschnitt.
179 Zum anderen richtete die Kommission Auskunftsersuchen an die Betreiber von Eisenbahninfrastrukturen in den zwei anderen baltischen Staaten, der Republik Estland und der Republik Lettland. Der Betreiber der estnischen Eisenbahninfrastrukturen konnte nur ein einziges Beispiel für die Entfernung eines langen Gleisabschnitts nennen. In jenem Fall wurde das Gleis entfernt, da die Strecke selbst geschlossen, aufgegeben und durch eine andere ersetzt wurde. Der Betreiber der estnischen Eisenbahninfrastrukturen wies außerdem darauf hin, dass die Arbeiten, die die Beseitigung von Gleisen erforderten, nicht gleichzeitig auf der gesamten Strecke durchgeführt würden, sondern in Intervallen, die zu einer Unterbrechung des Verkehrs für maximal zwölf Stunden führten. Zudem begännen die größeren Reparaturarbeiten, einschließlich der Beseitigung eines Gleisabschnitts, nicht vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens, das ihre Bewilligung zum Gegenstand habe.
180 Die Betreiberin der lettischen Eisenbahninfrastrukturen, LDZ, erklärte, ein Gleisabschnitt werde im Allgemeinen erst dann entfernt, wenn er mehrere Jahre nicht benutzt worden sei und es keinen Grund gebe, davon auszugehen, dass er wieder benutzt werde. In den zwei von LDZ angeführten Beispielen wurden die Gleisabschnitte 10 bzw. 13 Jahre nach ihrer Stilllegung entfernt. Ebenso wie in Estland wird auch in Lettland die Entfernung eines Gleisabschnitts für Reparaturarbeiten etappenweise vorgenommen. LDZ zufolge beginnen Reparaturarbeiten nicht vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens und Sicherstellung der Finanzierung.
181 Nach alledem beging die Kommission keinen Beurteilungsfehler, als sie im angefochtenen Beschluss die Auffassung vertrat, die Beseitigung des vorliegend in Rede stehenden Gleisabschnitts sei „extrem ungewöhnlich“.
182 Folglich ist der zweite Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
c)
Zum dritten Teil des zweiten Klagegrundes: Fehler der Kommission bei der Beurteilung der Absichten von LG zum Zeitpunkt der Beseitigung des Gleisabschnitts
183 Mit dem dritten Teil des zweiten Klagegrundes beanstandet die Klägerin, die Kommission habe im angefochtenen Beschluss einen mit einem Beurteilungsfehler einhergehenden Rechtsfehler begangen, da sie entgegen der von der Kommission im angefochtenen Beschluss vertretenen Auffassung bei der Beseitigung des Gleisabschnitts die Absicht gehabt habe, ihn wieder aufzubauen.
184 Insbesondere habe die Kommission durch die Behauptung, die Klägerin habe zu keinem Zeitpunkt versucht, den Gleisabschnitt wieder aufzubauen, unterstellt, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts Teil einer wettbewerbsfeindlichen Strategie gewesen sei, die am 19. September oder 3. Oktober 2008 beschlossen worden sei, um den von LDZ ausgehenden Wettbewerb zu behindern. Die Kommission stütze ihre Unterstellung, dass die Klägerin bösgläubig gehandelt habe, auf drei Gesichtspunkte, nämlich erstens den Umstand, dass die Klägerin beantragt habe, das Vorhaben zum Neubau des Gleisabschnitts in die Reserveliste für Unionsmittel zu verschieben, zweitens die Tatsache, dass sie drei Vermerke an die litauische Regierung verfasst habe, in denen sie sich gegen einen Neubau des Gleisabschnitts ausgesprochen habe, und drittens den Umstand, dass sie nur auf Anweisung der Regierung empfohlen habe, den Neubau des Gleisabschnitts in die Liste der prioritären Finanzierung aufzunehmen.
1) Zur ersten Rüge des dritten Teils: Rechtsfehler im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der wettbewerbsfeindlichen Absicht der Klägerin
185 Zur Stützung der ersten Rüge macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, der angefochtene Beschluss sei insoweit rechtsfehlerhaft, als sich die Kommission bei der Feststellung der Missbräuchlichkeit der fraglichen Praxis u. a. auf eine wettbewerbsfeindliche Absicht der Klägerin gestützt habe, obwohl nach der Rechtsprechung der Begriff der missbräuchlichen Ausnutzung ein objektiver Begriff sei, der die Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung erfasse, die die Struktur eines Markts beeinflussen könnten und die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung behinderten, und zwar unabhängig von der subjektiven Absicht des Unternehmens.
186 Die Kommission sei verpflichtet gewesen, konkret zu beweisen, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum, d. h. am 3. Oktober 2008, bösgläubig gehandelt habe, um LDZ daran zu hindern, mit ihr in Wettbewerb zu treten, und dass sie nicht beabsichtigt habe, den Gleisabschnitt wieder aufzubauen. Die Absichten, die die Klägerin nach dem maßgeblichen Zeitraum verfolgt habe, seien für die Beurteilung der fraglichen Praxis nicht relevant.
187 Die Kommission und die Streithelferin treten dieser Rüge entgegen.
188 Es ist daran zu erinnern, dass es sich nach der Rechtsprechung bei der nach Art. 102 AEUV verbotenen missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung um einen objektiven Begriff handelt, der auf die Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung abstellt, die auf einem Markt, auf dem der Grad an Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Grades an Wettbewerb oder die Entwicklung des Wettbewerbs durch den Einsatz von anderen Mitteln behindern als denjenigen eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Wirtschaftsteilnehmer (vgl. Urteile vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. September 2009, Clearstream/Kommission, T‑301/04, EU:T:2009:317, Rn. 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).
189 Aus dem objektiven Charakter des Missbrauchsbegriffs ergibt sich, dass das beanstandete Verhalten aufgrund objektiver Gesichtspunkte zu beurteilen ist und dass der Nachweis der Vorsätzlichkeit des Verhaltens und der Bösgläubigkeit des marktbeherrschenden Unternehmens für die Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nicht erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, AstraZeneca/Kommission, T‑321/05, EU:T:2010:266, Rn. 356).
190 Dennoch muss die Kommission bei ihrer Untersuchung des Verhaltens eines Unternehmens in beherrschender Stellung und für die Zwecke der Identifizierung eines etwaigen Missbrauchs einer solchen Stellung alle relevanten tatsächlichen Umstände berücksichtigen, die dieses Verhalten umgeben (Urteil vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 18).
191 Insoweit ist festzustellen, dass die Kommission, wenn sie das Verhalten eines Unternehmens in beherrschender Stellung bewertet, wobei es sich um eine Untersuchung handelt, die unerlässlich ist, um zu einem Ergebnis in Bezug auf das Vorliegen eines Missbrauchs einer solchen Stellung zu gelangen, zwangsläufig die Geschäftsstrategie des Unternehmens beurteilen muss. In diesem Rahmen erscheint es normal, dass die Kommission subjektive Faktoren anspricht, nämlich die Motive, die der betreffenden Geschäftsstrategie zugrunde liegen (Urteil vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 19).
192 Daher kann entgegen dem Vorbringen der Klägerin das Vorliegen einer etwaigen wettbewerbswidrigen Absicht einer der zahlreichen tatsächlichen Umstände sein, die berücksichtigt werden können, um einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2012, Tomra Systems u. a./Kommission, C‑549/10 P, EU:C:2012:221, Rn. 20).
193 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im angefochtenen Beschluss den Missbrauch einer beherrschenden Stellung seitens der Klägerin festgestellt, indem sie verschiedene tatsächliche Umstände berücksichtigte, die die Beseitigung des Gleisabschnitts umgaben, und die potenziellen Auswirkungen prüfte, die die Beseitigung auf den Wettbewerb gehabt haben könnte.
194 Die Kommission stellte in den Erwägungsgründen 182 bis 201 des angefochtenen Beschlusses u. a. fest, dass LG auf Methoden zurückgegriffen habe, die sich von den im normalen Wettbewerb üblichen Methoden unterschieden, denn erstens sei ihr bewusst gewesen, dass Orlen erwogen habe, auf die lettischen Seehäfen umzusteigen und dafür die Dienste von LDZ zu nutzen, zweitens habe LG die Entfernung des Gleisabschnitts in großer Eile vorgenommen, ohne zuvor sicherzustellen, dass die dafür erforderlichen Mittel bereitständen, und ohne die normalen Vorbereitungen für den Neubau des Gleisabschnitts zu treffen, drittens habe die Beseitigung des Gleisabschnitts nicht dem branchenüblichen Vorgehen entsprochen und viertens habe LG Schritte unternommen, um die litauische Regierung davon zu überzeugen, den Gleisabschnitt nicht wieder aufzubauen.
195 Was insbesondere die Feststellung betrifft, LG habe die Beseitigung des Gleisabschnitts in großer Eile vorgenommen, ohne zuvor sicherzustellen, dass die dafür erforderlichen Mittel bereitständen, und ohne die normalen Vorbereitungen für den Neubau des Gleisabschnitts zu treffen, ist bereits oben in den Rn. 157 bis 161 dargelegt worden, dass die Kommission zwischen dem Verhalten der Klägerin vor Beginn des Gleisabbaus, d. h. bis zum 2. Oktober 2008, zum einen (Erwägungsgründe 184 bis 191 des angefochtenen Beschlusses) und zum anderen dem Verhalten der Klägerin nach dem 2. Oktober 2008 (192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses in reiner Bestätigung bereits getroffener Feststellungen) unterschied.
196 Nach der Feststellung all dieser verschiedenen tatsächlichen Umstände, die die Beseitigung des Gleisabschnitts umgaben, kam die Kommission in den Erwägungsgründen 202 bis 324 des angefochtenen Beschlusses zu dem Ergebnis, dass die Beseitigung unter Berücksichtigung ihres Kontextes geeignet gewesen sei, den Wettbewerb auf dem Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte zu behindern. Folglich ist festzustellen, dass sich die Kommission keineswegs auf die Absicht, die wettbewerbsfeindliche Strategie oder die Bösgläubigkeit von LG stützte, um ihr Ergebnis zum Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes zu begründen.
197 Was die Feststellung im 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses betrifft, die Klägerin habe nach der Beseitigung des Gleisabschnitts nicht versucht, ihn wieder aufzubauen, geht aus dem Aufbau des angefochtenen Beschlusses hervor, dass diese Feststellung nur darauf gerichtet ist, das auf eine Reihe anderer Gesichtspunkte gestützte Ergebnis im 193. Erwägungsgrund des Beschlusses zu untermauern, wonach die Klägerin den Gleisabschnitt in großer Eile beseitigt habe, ohne zuvor die benötigten Mittel erhalten zu haben. Mit anderen Worten: Diese Feststellung bezieht sich auf einen tatsächlichen objektiven Umstand, der zusammen mit anderen Umständen die beanstandete Praxis umgibt, und nicht auf eine subjektive Beurteilung der von der Klägerin verfolgten Ziele. Somit kann nicht gefolgert werden, dass sich die Kommission auf einen Gesichtspunkt stützte, der mit der wettbewerbsfeindlichen Absicht der Klägerin verbunden war. Unter diesen Umständen ist auch die Kritik der Klägerin zurückzuweisen, die von ihr nach dem maßgeblichen Zeitraum verfolgten Absichten seien für die Beurteilung der fraglichen Praxis nicht relevant.
198 Die erste Rüge des dritten Teils ist somit zurückzuweisen.
2) Zur zweiten Rüge des dritten Teils: materielle Unrichtigkeit des Sachverhalts, der bei der Beurteilung der Bösgläubigkeit der Klägerin berücksichtigt wurde
199 Was die beanstandete materielle Unrichtigkeit des Sachverhalts betrifft, den die Kommission berücksichtigt habe, als sie auf der Grundlage von nach dem 2. Oktober 2008 eingetretenen Umständen die Auffassung vertrat, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum bösgläubig und ohne die wirkliche Absicht, den Gleisabschnitt wieder aufzubauen, gehandelt habe, macht die Klägerin als Erstes geltend, die angebliche Bösgläubigkeit sei sehr wenig plausibel, da es, wie die Kommission im 90. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses eingeräumt habe, eine schiedsgerichtliche Entscheidung vom 17. Dezember 2010 infolge eines von Orlen im Rahmen der zwischen Orlen und der Klägerin bestehenden geschäftlichen Differenzen eingeleiteten Verfahrens gewesen sei, die sie dazu veranlasst habe, den Neubau des Gleisabschnitts nicht weiterzuverfolgen. Vor dieser schiedsgerichtlichen Entscheidung und insbesondere im maßgeblichen Zeitraum, d. h. am 3. Oktober 2008, habe sie das Vorhaben des Neubaus weiterverfolgt, da sie der Auffassung gewesen sei, vertraglich zur Wiederherstellung des Gleisabschnitts verpflichtet zu sein.
200 Als Zweites macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, die drei tatsächlichen Umstände, die nach dem 2. Oktober 2008 eingetreten seien und auf die die Kommission ihre Vermutung der Bösgläubigkeit gestützt habe, seien hypothetisch und ganz offensichtlich falsch. Die Akten enthielten zahlreiche Beweise, insbesondere die als Anlagen A.10, A.30 und A.31 beigefügten Dokumente, die im Rahmen des angefochtenen Beschlusses nicht geprüft worden seien und belegten, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum beabsichtigt habe, den Gleisabschnitt wieder aufzubauen. Nach Auffassung der Klägerin sind auch ihre späteren Handlungen überzeugende Beweise dafür, dass sie im maßgeblichen Zeitraum tatsächlich beabsichtigt habe, den Gleisabschnitt wieder aufzubauen, bis sie die schiedsgerichtliche Entscheidung vom 17. Dezember 2010 dazu gebracht habe, ihren Standpunkt neu zu überdenken. Folglich sei die Hypothese der Kommission, sie habe bösgläubig gehandelt, da sie bei der Beseitigung des Gleisabschnitts am 3. Oktober 2008 nicht wirklich beabsichtigt habe, ihn wieder aufzubauen, durch keinen tatsächlichen Umstand gestützt.
201 Die Kommission und die Streithelferin treten dieser Rüge entgegen.
202 Vorab ist festzustellen, dass die Klägerin mit der zweiten Rüge des dritten Teils des zweiten Klagegrundes im Wesentlichen die Beurteilungen beanstandet, die die Kommission im 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses vornahm und deren Inhalt oben in Rn. 161 wiedergegeben worden ist. Die Klägerin stützt ihre zweite Rüge im Wesentlichen auf zwei Argumente.
i) Zum ersten Argument: Einfluss der schiedsgerichtlichen Entscheidung vom 17. Dezember 2010 auf den Entschluss, den Gleisabschnitt nicht wieder aufzubauen
203 Mit ihrem ersten Argument macht die Klägerin geltend, die Unterstellung der Bösgläubigkeit, die aus dem 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgehe, sei sehr wenig plausibel, da es die schiedsgerichtliche Entscheidung vom 17. Dezember 2010 gewesen sei, die sie dazu veranlasst habe, den Neubau des Gleisabschnitts nicht weiterzuverfolgen. Vor dieser schiedsgerichtlichen Entscheidung und insbesondere im maßgeblichen Zeitraum habe sie das Vorhaben des Neubaus weiterverfolgt, da sie der Auffassung gewesen sei, vertraglich zur Wiederherstellung des Gleisabschnitts verpflichtet zu sein.
204 Zunächst ist festzustellen, wie oben in den Rn. 196 und 197 dargelegt, dass die Kommission ihre Feststellung im 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses nicht auf eine vermutete Bösgläubigkeit der Klägerin in Bezug auf ihre Absicht, den Gleisabschnitt wieder aufzubauen, stützte, sondern sich auf die Feststellung des tatsächlichen Umstands beschränkte, dass die Klägerin nach der Beseitigung des Gleisabschnitts nicht versucht habe, ihn wieder aufzubauen. Zudem dient die Feststellung der Kommission, die Klägerin habe nach der Beseitigung des Gleisabschnitts in Wirklichkeit nicht versucht, ihn wieder aufzubauen, nur der Untermauerung des Ergebnisses im 193. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, das auf eine Reihe anderer, in den Erwägungsgründen 184 bis 191 des angefochtenen Beschlusses dargelegter Gesichtspunkte gestützt wird und wonach die Klägerin den Gleisabschnitt in großer Eile beseitigt habe, ohne zuvor die benötigten Mittel erhalten zu haben.
205 Sodann ist dem angefochtenen Beschluss zu entnehmen, dass die Klägerin die litauische Regierung bereits vor Erlass der schiedsgerichtlichen Entscheidung vom 17. Dezember 2010 mehrfach auf die Nachteile hingewiesen hatte, die mit dem Neubau des Gleisabschnitts verbunden seien (Erwägungsgründe 92 bis 95 und 103 des angefochtenen Beschlusses).
206 Schließlich kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, dass sie vor Erlass der schiedsgerichtlichen Entscheidung vom 17. Dezember 2010 und insbesondere im maßgeblichen Zeitraum das Vorhaben des Neubaus verfolgt habe. Die Klägerin führte nämlich in dem über zwei Jahre währenden Zeitraum zwischen der Beseitigung des Gleisabschnitts und der schiedsgerichtlichen Entscheidung keine Reparaturarbeiten durch, obwohl sie in mehreren Dokumenten behauptete, dass der Neubau in etwa zwei Jahren hätte vollendet werden können.
207 Nach alledem ist das erste Argument der Klägerin zurückzuweisen.
ii) Zum zweiten Argument: Fehler bei der Beurteilung der drei im 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten Gesichtspunkte
208 Mit ihrem zweiten Argument beanstandet die Klägerin im Wesentlichen, die Kommission habe Fehler bei der Beurteilung der drei im 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten Gesichtspunkte begangen. Zum einen hält die Klägerin die drei Gesichtspunkte für nicht stichhaltig, und zum anderen ist sie der Auffassung, sie hätten nicht als geeignete Beweise für den Nachweis berücksichtigt werden können, dass sie zum Zeitpunkt der Beseitigung des Gleisabschnitts dessen Wiederherstellung nicht beabsichtigt habe.
209 Insoweit genügt die Feststellung, dass sich die Kommission, wie oben in den Rn. 196 und 197 dargelegt, im angefochtenen Beschluss nicht auf eine wettbewerbsfeindliche Absicht oder Strategie von LG stützte, um ihr Ergebnis in Bezug auf das Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes zu begründen.
210 Folglich ist das zweite Argument der zweiten Rüge des dritten Teils des zweiten Klagegrundes als nicht stichhaltig zurückzuweisen.
211 Somit ist die zweite Rüge des dritten Teils und damit der dritte Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
d)
Zum vierten Teil des zweiten Klagegrundes: Rechts- und Beurteilungsfehler bei der Prüfung der potenziellen Auswirkungen der fraglichen Praxis auf den Wettbewerb
212 Mit dem vierten Teil beanstandet die Klägerin die Feststellung in den Erwägungsgründen 202 und 203 des angefochtenen Beschlusses, durch die Beseitigung des Gleisabschnitts sei LDZ daran gehindert worden, die kürzeste und kostengünstigste Strecke von der Raffinerie zu den lettischen Seehäfen Riga und Ventspils zu nutzen, und dieses Verhalten sei geeignet gewesen, wettbewerbswidrige Auswirkungen hervorzurufen. Die Klägerin beanstandet auch die drei Erwägungen, auf die sich diese Feststellung ihrer Meinung nach stützt, nämlich erstens, dass LDZ vor der Beseitigung des Gleisabschnitts eine glaubhafte Chance gehabt habe, Schienentransportdienste für die Erdölprodukte von Orlen von der Raffinerie zu einem benachbarten Seehafen anzubieten und dadurch Wettbewerbsdruck auf sie auszuüben, zweitens, dass LDZ nach der Beseitigung des Gleisabschnitts diese Möglichkeit nicht mehr gehabt habe, und drittens, dass diese Situation zu einer Abschottung des Markts der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte von der Raffinerie zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils geführt habe. Die Klägerin macht geltend, diese Erwägungen hätten keinerlei rechtliche oder tatsächliche Grundlage.
213 Insbesondere sei die Argumentation der Kommission zum einen mit Rechtsfehlern (erste Rüge) und zum anderen mit Beurteilungsfehlern (zweite Rüge) behaftet.
1) Zur ersten Rüge: Rechtsfehler
214 Die Klägerin stützt ihr erste Rüge, mit der sie Rechtsfehler geltend macht, im Wesentlichen auf zwei Argumente. Mit dem ersten Argument macht sie geltend, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts am 3. Oktober 2008 keine wettbewerbswidrigen Auswirkungen haben könne. Mit dem zweiten Argument macht sie geltend, die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts habe LDZ nicht daran gehindert, in wirksamen Wettbewerb zu treten und die für Lettland bestimmte Fracht, die zuvor auf der kurzen Strecke transportiert worden war und somit von der Beseitigung des Gleisabschnitts betroffen war, auf der langen Strecke zu transportieren (im Folgenden: betroffene Fracht).
i) Zum ersten Argument: Die Beseitigung des Gleisabschnitts habe keine wettbewerbswidrigen Auswirkungen entfaltet
215 Die Klägerin macht geltend, die Beseitigung des Gleisabschnitts am 3. Oktober 2008 habe keine wettbewerbswidrigen Auswirkungen haben können, da der Gleisabschnitt bereits seit der Aussetzung des Verkehrs am 2. September 2008 nicht mehr für den Verkehr verfügbar gewesen sei. Nicht die Beseitigung des Gleisabschnitts als solche habe LDZ daran gehindert, die kürzere und direktere Strecke von der Raffinerie zu den lettischen Seehäfen Riga und Ventspils zu nutzen, sondern die Aussetzung des Verkehrs einen Monat zuvor habe sie daran gehindert. Auch vor der Beseitigung des Gleisabschnitts hätten weder LDZ noch die Klägerin die Möglichkeit gehabt, Transportdienste unter Nutzung des Gleisabschnitts anzubieten, und dies seit dem 2. September 2008. Somit sei es ohne Bedeutung, aus welchem Grund es nicht mehr möglich gewesen sei, den Gleisabschnitt zu benutzen.
216 Nach Auffassung der Klägerin gibt es außerdem keinen Beweis dafür, dass sich die Situation für LDZ anders gestaltet hätte, wenn sie sich am 18. September 2008 nicht für die Option 2, sondern für die Option 1 entschieden hätte, d. h. für den stufenweisen Neubau einschließlich Anfangsreparaturen. Im angefochtenen Beschluss werde lediglich vermutet, dass LG in diesem alternativen Szenario (in dem der Gleisabschnitt am 3. Oktober 2008 nicht entfernt worden wäre) möglicherweise in Erwägung gezogen hätte, die Anfangsreparaturen zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen. Die Klägerin hält dieses Szenario jedoch für sehr unwahrscheinlich. Da sie aufgrund der Finanzkrise keine Mittel für eine Investition in Höhe von 40 Mio. LTL für den Zeitraum 2009–2010 erhalten habe, gebe es keinen Grund für die Vermutung, dass sie die erhebliche Geldsumme erhalten hätte, die für die Anfangsreparaturen benötigt worden sei und sich auf 21,3 Mio. LTL belaufen habe. Für die Anfangsreparaturen hätte sie das gleiche Verfahren wie für den sofortigen Neubau durchlaufen müssen, einschließlich der Beantragung von staatlichen Geldern oder Unionsmitteln. Zudem sei die Option 1, die Anfangsreparaturen beinhaltet habe, viel weniger effizient als die Option 2, und nach Auffassung der Klägerin wäre es extrem irrational gewesen, wenn sie sich dennoch zu einem späteren Zeitpunkt für die Option 1 entschieden hätte. Schließlich hätte sie die schiedsgerichtliche Entscheidung vom 17. Dezember 2010 wahrscheinlich auch dazu veranlasst, die Anfangsreparaturen nicht weiterzuverfolgen. Folglich werde die Hypothese der Kommission, wonach sie ohne die Beseitigung des Gleisabschnitts eine Option der begrenzten Reparatur hätte erwägen können, d. h. Anfangsreparaturen im Rahmen des stufenweisen Neubaus zu einem späteren Zeitpunkt, durch keinen Umstand gestützt. Somit hätte sich nach Auffassung der Klägerin die Wettbewerbssituation im Rahmen des alternativen Szenarios, in dem der Gleisabschnitt nicht entfernt worden wäre, wahrscheinlich nicht vom Status quo unterschieden.
217 Als Betreiberin von Infrastrukturen trage die Klägerin eine besondere Verantwortung speziell für die Sicherheit der Auslegung, der Instandhaltung und des Betriebs ihres Schienennetzes. Daher gelte die Verpflichtung, Störungen des Eisenbahnnetzes möglichst zu vermeiden, vorbehaltlich der übergeordneten Verpflichtung jedes Betreibers von Infrastrukturen, Unfälle zu verhindern und die Verkehrssicherheit zu gewährleisten.
218 Die Kommission und die Streithelferin treten diesem Vorbringen entgegen.
219 Vorab ist festzustellen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss das Verhalten der Klägerin untersuchte, das darin bestand, den Gleisabschnitt in großer Eile zu entfernen, ohne die erforderlichen Mittel zu mobilisieren und ohne die normalen Vorbereitungen für den Neubau zu treffen (Erwägungsgründe 182 bis 201 des angefochtenen Beschlusses). Sie stufte dieses Verhalten als missbräuchliche Praxis unter Einsatz von anderen Mitteln als denjenigen eines normalen Wettbewerbs ein, welches geeignet sei, wettbewerbswidrige Auswirkungen in Form des Ausschlusses von Wettbewerb auf dem Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte zwischen der Raffinerie und den benachbarten Seehäfen hervorzurufen, indem Hindernisse für den Markteintritt errichtet würden, ohne dass dies objektiv gerechtfertigt sei.
220 Somit hat die Kommission die Beseitigung des Gleisabschnitts als solche tatsächlich als missbräuchliches Verhalten eingestuft und die Auffassung vertreten, dass die Beseitigung unabhängig von der Aussetzung des Verkehrs auf diesem Gleisabschnitt am 2. September 2008 auf dem maßgeblichen Markt möglicherweise wettbewerbswidrige Auswirkungen gehabt habe. Insbesondere sei die Beseitigung des Gleisabschnitts geeignet gewesen, LDZ in ihrer Eigenschaft als effiziente Wettbewerberin daran zu hindern, auf dem relevanten nachgelagerten Markt Dienstleistungen anzubieten und Wettbewerbsdruck auf die Klägerin auszuüben.
221 Im vorliegenden Fall ist erstens mit der Kommission festzustellen, dass der maßgebliche Rechtsrahmen die Betreiber von Eisenbahninfrastrukturen, wie die Klägerin, dazu verpflichtete, Störungen gering zu halten und die Leistung des Eisenbahnnetzes zu verbessern. Im Fall einer Störung des Eisenbahnverkehrs musste der Betreiber der Eisenbahninfrastruktur alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Normalbetrieb wiederherzustellen.
222 Zwar trug die Klägerin, wie sie geltend macht, aufgrund des maßgeblichen Rechtsrahmens eine besondere Verantwortung speziell für die Sicherheit der Auslegung, der Instandhaltung und des Betriebs ihres Schienennetzes (17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 95/18/EG des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen und der Richtlinie 2001/14 [„Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit“] [ABl. 2004, L 164, S. 44] und Art. 24 des Schienentransportgesetzes), doch obliegt dem Betreiber von Infrastrukturen aufgrund dieses Rechtsrahmens nicht nur die Verpflichtung, die Verkehrssicherheit zu gewährleisten, sondern er ist auch verpflichtet, Störungen des Eisenbahnnetzes gering zu halten und nach einer Störung des Eisenbahnverkehrs den Normalbetrieb wiederherzustellen. Diesen zwei Verpflichtungen muss der Betreiber von Infrastrukturen Rechnung tragen. Im vorliegenden Fall konnte die Beseitigung des gesamten Gleisabschnitts nicht allein mit Sicherheitserwägungen gerechtfertigt werden, da die Sicherheit bereits durch die Aussetzung des Verkehrs am 2. September 2008 hinreichend gewährleistet worden war.
223 Zweitens trug die Klägerin, die auf dem relevanten Markt eine beherrschende Stellung innehatte, eine besondere Verantwortung dafür, durch ihr Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf diesem Markt nicht zu beeinträchtigen. Folglich hätte sie zu dem Zeitpunkt, als sie über die Lösung für den verformten Gleisabschnitt entschied, der Verantwortung Rechnung tragen müssen, die ihr nach Art. 102 AEUV oblag, und vermeiden müssen, dass jegliche Chance auf eine kurzfristige Wiederinbetriebnahme des Gleisabschnitts mittels eines stufenweisen Neubaus verbaut würde, und insoweit ihrer Verpflichtung nachkommen müssen, Störungen auf dem Eisenbahnnetz möglichst gering zu halten und nach einer Störung den Normalbetrieb wiederherzustellen.
224 Somit hat die Klägerin, unabhängig von der zuvor erfolgten Aussetzung des Verkehrs, bei der Beseitigung des gesamten Gleisabschnitts unter den im angefochtenen Beschluss berücksichtigten tatsächlichen und rechtlichen Umständen die besondere Verantwortung, die ihr nach Art. 102 AEUV oblag, außer Acht gelassen.
225 Drittens hatte zwar, wie die Klägerin vorträgt, die Aussetzung des Verkehrs auf dem Gleisabschnitt am 2. September 2008 LDZ bereits die Möglichkeit genommen, die kurze Strecke zu benutzen, um in das litauische Hoheitsgebiet zu gelangen, doch wurde die Situation, die nach der Aussetzung des Verkehrs gegeben war, durch die Beseitigung des Gleisabschnitts unbestreitbar verschlimmert, wie die Kommission zu Recht geltend macht. Die Beseitigung des Gleisabschnitts führte nämlich dazu, dass aus der Aussetzung des Verkehrs, die naturgemäß vorübergehend war, ein Dauerzustand wurde, der die Benutzung des Gleisabschnitts völlig unmöglich machte. Die Überführung eines Übergangszustands in einen Dauerzustand kann jedoch Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation haben, da sich potenzielle Wettbewerber unterschiedlich verhalten, je nachdem, ob sie davon ausgehen, dass eine Wiederherstellung des „Normalbetriebs“ kurz‑ oder mittelfristig oder überhaupt nicht eintreten wird. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass LDZ in der Tat ihren Antrag auf Erteilung einer Lizenz für die Nutzung des litauischen Teils der kurzen Strecke nach Lettland zurückzog, als Orlen schließlich zu der Auffassung gelangte, dass die Klägerin nicht beabsichtige, den Gleisabschnitt kurzfristig zu reparieren (siehe oben, Rn. 26). Zudem war es aufgrund der Beseitigung des Gleisabschnitts de facto unmöglich, die Option 1 durchzuführen, da deren erste Maßnahme, d. h. Anfangsreparaturen an den Stellen des Gleisabschnitts, die keinen sicheren Schienenverkehr ermöglichten, nicht mehr in Betracht kam. Außerdem erhöhte die Beseitigung des Gleisabschnitts, die in großer Eile und ohne vorherige Bewilligung der für den Neubau benötigten Mittel vorgenommen wurde, das im vorliegenden Fall eingetretene Risiko, dass ein sicherer Schienenverkehr auf der kurzen Strecke erst mehr als zehn Jahre später wiederhergestellt würde.
226 Die Beseitigung konnte zu einer Verdrängung vom Markt führen, da sie den Marktzugang dadurch erschwerte, dass er weniger vorteilhaften Bedingungen unterlag. Somit war die Beseitigung des Gleisabschnitts geeignet, auf dem relevanten Markt wettbewerbswidrige Auswirkungen zu entfalten.
227 Nach alledem macht die Klägerin zu Unrecht geltend, dass sich die Wettbewerbssituation im Rahmen des alternativen Szenarios nicht vom Status quo unterschieden hätte. Die Situation hätte nämlich anders sein können, da die Beseitigung des Gleisabschnitts – die in großer Eile erfolgt war, ohne die für seinen Neubau benötigten Mittel sicherzustellen – die Situation, die zum Zeitpunkt der Aussetzung des Verkehrs vorherrschte, verschlimmerte, da sie die Aussetzung des Verkehrs, die naturgemäß vorübergehend war, in eine Situation überführte, in der die Benutzung des Gleisabschnitts völlig unmöglich wurde. Außerdem wurde die Reparatur des Gleisabschnitts erschwert, da die Option 1 unmöglich wurde und die Option 2 nicht vollständig durchgeführt werden konnte.
228 Dieses Ergebnis kann durch die übrigen Argumente der Klägerin nicht in Frage gestellt werden.
229 Was erstens das Vorbringen betrifft, die Klägerin habe, da sie aufgrund der Finanzkrise keine Mittel für eine Investition in Höhe von 40 Mio. LTL zwecks Neubau für den Zeitraum 2009–2010 erhalten habe, keinen Grund gehabt zu vermuten, dass sie den bedeutenden, für die Anfangsreparaturen benötigten Geldbetrag in Höhe von 21,3 Mio. LTL erhalten hätte, zumal sie für die Anfangsreparaturen das gleiche Verfahren wie für den sofortigen Neubau hätte durchlaufen müssen, einschließlich der Beantragung von staatlichen Geldern oder Unionsmitteln, ist festzustellen, dass die Klägerin mit diesem Vorbringen die Durchführung der Option 2 zu rechtfertigen versucht. Die Kommission wirft der Klägerin jedoch nicht vor, dass sie sich statt der Option 1 für die Option 2 entschied, sondern sie beanstandet die Modalitäten der Durchführung der Option 2, insbesondere den Umstand, dass die Klägerin die Arbeiten zur Beseitigung des Gleisabschnitts einleitete, ohne jegliche Vorbereitungen für den Neubau zu treffen, so dass die Durchführung der Option 1 unmöglich wurde. Da die Beseitigung des Gleisabschnitts zu einer Eingrenzung der Optionen führte und verhinderte, dass der Verkehr auf der kurzen Strecke nach Lettland wiederaufgenommen wurde, konnte die Klägerin ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, die ihr als Unternehmen mit Monopolstellung und einem staatlichen Auftrag zum Betrieb des Schienennetzes oblagen. Somit kann die Frage, ob die Klägerin den erheblichen Geldbetrag im Hinblick auf die Anfangsreparaturen hätte erhalten können, die Feststellungen der Kommission nicht entkräften.
230 Jedenfalls bestätigt die Klägerin mit diesem Vorbringen, dass ihr bewusst war, welche Schritte sie nach der Aussetzung des Verkehrs auf dem Gleisabschnitt am 2. September 2008 hätte unternehmen müssen. Die Kommission stellt insoweit im 49. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass die Klägerin 107000 Euro ausgegeben habe, um den Gleisabschnitt in großer Eile zu beseitigen, ohne die für den Neubau benötigten Mittel zu beantragen oder das für ihre Bewilligung erforderliche Verwaltungsverfahren einzuleiten. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin nicht nur die staatlichen Mittel zu spät beantragt (siehe oben, Rn. 173), sondern auch versäumt, das Verwaltungsverfahren abzuschließen, das für die Gewährung der Unionsmittel vorgeschrieben war (siehe oben, Rn. 175).
231 Zweitens kann das Vorbringen, wonach die Option 1 viel weniger effizient sei als die Option 2 und es extrem irrational gewesen wäre, wenn die Klägerin dennoch zu einem späteren Zeitpunkt die Option 1 durchgeführt hätte, nicht durchgreifen, da die Kommission der Klägerin nicht vorgeworfen hat, die Option 2 statt der Option 1 gewählt zu haben, sondern, dass sie den Gleisabschnitt in großer Eile beseitigte, ohne zuvor die für den Neubau benötigten Mittel sicherzustellen.
232 Was drittens das Vorbringen betrifft, die schiedsgerichtliche Entscheidung vom 17. Dezember 2010 hätte die Klägerin wahrscheinlich auch veranlasst, die Anfangsreparaturen im Rahmen der hypothetischen Durchführung der Option 1 nicht weiterzuverfolgen, hat die Kommission im 89. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Recht festgestellt, dass der Geltungsbereich der schiedsgerichtlichen Entscheidung in Bezug auf den Gegenstand der Prüfung und den berücksichtigten Zeitraum begrenzt war. Die fragliche schiedsgerichtliche Entscheidung betraf nämlich nur die Auslegung eines Artikels einer Handelsvereinbarung zwischen der Klägerin und Orlen aus dem Jahr 1999 und enthielt eine Prüfung des Sachverhalts zum 30. September 2008. Somit war die im Oktober 2008 erfolgte Beseitigung des Gleisabschnitts nicht Gegenstand der schiedsgerichtlichen Entscheidung. Außerdem war die Klägerin nach dem maßgeblichen Rechtsrahmen verpflichtet, nach einer Störung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Normalbetrieb auf dem Gleisabschnitt wiederherzustellen. Folglich kann sich die Klägerin nicht auf die schiedsgerichtliche Entscheidung vom 17. Dezember 2010 berufen, um geltend zu machen, es habe ihr freigestanden, die Mittel nicht zu beantragen, die für den Neubau des Gleisabschnitts und die Wiederaufnahme des Verkehrs erforderlich waren.
233 Somit beging die Kommission keinen Rechtsfehler, als sie im angefochtenen Beschluss feststellte, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts als solche, unabhängig von der zuvor erfolgten Aussetzung des Verkehrs auf dem Gleisabschnitt, geeignet sei, wettbewerbswidrige Auswirkungen auf dem Markt zu entfalten.
234 Daher ist das erste Argument der ersten Rüge des vierten Teils zurückzuweisen.
ii) Zum zweiten Argument: Die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts habe LDZ nicht daran gehindert, in effizienten Wettbewerb zu treten
235 Die Klägerin macht geltend, die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts habe LDZ nicht daran gehindert, in effizienten Wettbewerb zu treten und die betroffene Fracht über die lange Strecke nach Lettland zu transportieren. Erstens habe der Gleisabschnitt nach der Aussetzung des Verkehrs am 2. September 2008 erst nach umfangreichen Renovierungsarbeiten wieder genutzt werden können, und zwar sowohl bei Durchführung der Option 1 als auch der Option 2. Somit sei allein die rechtliche Frage entscheidend, ob die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts LDZ in ihrer Eigenschaft als effiziente Wettbewerberin daran habe hindern können, auf dem relevanten Markt Dienstleistungen anzubieten und Wettbewerbsdruck auf die Klägerin auszuüben. Im angefochtenen Beschluss sei diese Frage jedoch nicht geprüft worden, da nur die Beseitigung des Gleisabschnitts als wettbewerbswidriges Verhalten eingestuft worden sei, obwohl die Beseitigung als solche keine Auswirkung auf den Wettbewerb gehabt habe. Zweitens habe die Kommission nicht nachgewiesen, dass die unterlassene Reparatur wahrscheinlich Verdrängungswirkung gehabt habe, sondern lediglich zu Unrecht ein viel weiter gefasstes rechtliches Kriterium angewandt, nämlich das Kriterium der potenziellen Wettbewerbsbeschränkung. Drittens werde im angefochtenen Beschluss auch nicht geprüft, ob LDZ nach der Aussetzung des Verkehrs die Möglichkeit gehabt habe, auf der gleichen Strecke, d. h. der langen Strecke nach Lettland, in Bezug auf die betroffene Fracht mit LG in Wettbewerb zu treten.
236 Die Kommission und die Streithelferin treten diesem Vorbringen entgegen.
237 Was das Vorbringen betrifft, die Beseitigung des Gleisabschnitts habe sich nicht auf den Wettbewerb ausgewirkt, da es die unterlassene Reparatur nach der Aussetzung des Verkehrs gewesen sei, die eine solche Wirkung gehabt habe, ist vorab festzustellen, dass im angefochtenen Beschluss nicht geprüft wird, ob die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts LDZ daran hindern konnte, auf dem relevanten Markt Dienstleistungen anzubieten und Wettbewerbsdruck auf die Klägerin auszuüben. Da es der Kommission jedoch gelungen ist, nachzuweisen, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts an sich als potenziell missbräuchliche Praxis eingestuft werden konnte, war diese Prüfung nicht erforderlich.
238 Folglich war die Kommission, da sie nachweisen konnte, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts geeignet war, potenzielle Auswirkungen auf den Wettbewerb zu entfalten, entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht verpflichtet, zu prüfen, ob die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts ebenfalls solche Wirkungen hervorrufen konnte. Jedenfalls wurde die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts von der Kommission im Rahmen ihrer Prüfung der wettbewerbswidrigen Auswirkungen der Beseitigung des Gleisabschnitts berücksichtigt. Die Kommission hat nämlich geprüft, wie sich die Beseitigung des Gleisabschnitts auf die Möglichkeit auswirkte, ihn zu reparieren, und somit auf die Möglichkeit der Klägerin, nach der eingetretenen Verformung ihrer Verpflichtung zur Wiederherstellung des Normalbetriebs nachzukommen, die ihr als Betreiberin der litauischen Eisenbahninfrastrukturen und als Unternehmen in marktbeherrschender Stellung oblag.
239 Was das Vorbringen betrifft, die Kommission habe nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen, dass die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts geeignet gewesen sei, wettbewerbswidrige Auswirkungen zu entfalten, da sie ein weiter gefasstes rechtliches Kriterium angewandt habe als das Kriterium der Verdrängungswirkung, ist unabhängig davon, ob, wie die Kommission geltend macht, die Begriffe „geeignet“ (englisch: capable) und „wahrscheinlich“ (englisch: likely) austauschbar sind, festzustellen, dass die Kommission im vorliegenden Fall die wahrscheinlichen Auswirkungen der Beseitigung des Gleisabschnitts geprüft hat (Erwägungsgründe 317 bis 324 und 363 des angefochtenen Beschlusses).
240 Zum Vorbringen, die Kommission habe prüfen müssen, ob die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts nach der Aussetzung des Verkehrs habe verhindern können, dass LDZ in Bezug auf die betroffene Fracht, d. h. die Fracht, die bis zum 2. September 2008 über die kurze Strecke transportiert worden sei, auf der langen Strecke nach Lettland in Wettbewerb mit der Klägerin trete, ist mit der Kommission festzustellen, dass sich dieses Argument auf die Annahme stützt, dass nur die Fracht, die bis zum 2. September 2008 über die kurze Strecke nach Lettland transportiert wurde, von der Beseitigung des Gleisabschnitts betroffen war.
241 Im 158. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission den relevanten Markt jedoch auf der Grundlage des „O&D-Ansatzes“ als den Markt für die über den Seeweg exportierten Erdölprodukte von Orlen definiert, d. h. den Markt für Schienentransportdienste von Erdölprodukten ab der Raffinerie bis zu den See-Terminals Klaipėda, Riga und Ventspils. Somit war die Fracht, die von der Beseitigung des Gleisabschnitts potenziell betroffen war, nicht auf die relativ geringen Mengen von Erdölprodukten begrenzt, die vor der Aussetzung des Verkehrs im September 2008 über den Gleisabschnitt transportiert wurden. Vielmehr handelte es sich um einen sehr erheblichen Anteil der Raffinerieproduktion von Orlen, der für den Export auf internationale Märkte über den Seeweg bestimmt war.
242 Da die Klägerin die im angefochtenen Beschluss vorgeschlagene Definition des relevanten Markts nicht beanstandet hat, kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, sie habe dadurch einen Fehler begangen, dass sie nicht prüfte, ob die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts nach der Aussetzung des Verkehrs LDZ daran hindern konnte, auf der langen Strecke nach Lettland nur für die betroffene Fracht in Wettbewerb mit der Klägerin zu treten.
243 Nach alledem beging die Kommission keinen Fehler, als sie nicht prüfte, ob die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts wettbewerbswidrige Auswirkungen auf dem fraglichen Markt haben konnte.
244 Daher ist das zweite Argument der ersten Rüge des vierten Teils und somit die erste Rüge insgesamt zurückzuweisen.
2) Zur zweiten Rüge: Fehler bei der Beurteilung der Möglichkeit von LDZ, auf der langen Strecke nach Lettland in Wettbewerb mit LG zu treten
245 Mit ihrer zweiten Rüge beanstandet die Klägerin im Wesentlichen, die Kommission habe einen Beurteilungsfehler begangen, als sie festgestellt habe, dass LDZ auf der kurzen Strecke nach Lettland, nicht jedoch auf der langen Strecke eine glaubhafte Chance gehabt habe, mit ihr in Wettbewerb zu treten.
246 Die Klägerin stützt ihre zweite Rüge im Wesentlichen auf zwei Argumentationszüge. Mit dem ersten Argumentationszug beanstandet die Klägerin die im angefochtenen Beschluss enthaltene Analyse zum Vorliegen von Hindernissen für den Markteintritt und insbesondere die Feststellung, LDZ sei auf den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen in höherem Maße von LG abhängig gewesen (Erwägungsgründe 290 bis 308 des angefochtenen Beschlusses). Mit dem zweiten Argumentationszug stellt die Klägerin die im angefochtenen Beschluss enthaltene Feststellung in Frage, die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen seien im Vergleich zu der Strecke nach Klaipėda nicht rentabel gewesen (Erwägungsgründe 309 bis 316 des angefochtenen Beschlusses).
i) Zu den Argumenten, mit denen das Vorliegen von Hindernissen für den Markteintritt bestritten wird
247 Mit dem ersten Argumentationszug bestreitet die Klägerin das Vorliegen der behaupteten Hindernisse für den Markteintritt und insbesondere die im angefochtenen Beschluss enthaltene Feststellung, LDZ sei in höherem Maße (300. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses) vom vertikal integrierten, etablierten Betreiber (293. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), d. h. der Klägerin selbst, abhängig gewesen, und zwar nicht nur auf einer Strecke von 34 km auf litauischem Hoheitsgebiet (kurze Strecke), sondern auch auf einer längeren Strecke von 152 km (lange Strecke). Ferner beanstandet die Klägerin die im angefochtenen Beschluss enthaltene Feststellung, wonach diese Situation, ex ante betrachtet, für LDZ mit einem erheblich höheren Risiko behaftet gewesen sei als die Ausübung ihrer Tätigkeiten auf den kurzen Strecken zu den lettischen Seehäfen (301. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Im Einzelnen stellt die Klägerin die im angefochtenen Beschluss enthaltene Feststellung in Frage, der von LDZ eingereichte Antrag auf Zuweisung von Kapazitäten für die lange Strecke nach Lettland habe sich auf Strecken in Litauen bezogen, die viel länger und deutlich stärker frequentiert seien, und sei deshalb komplexer gewesen, was zu mehr Reibungspunkten mit der Betreiberin der Eisenbahninfrastrukturen, d. h. LG, geführt habe (297. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
248 Die Klägerin macht insoweit erstens geltend, dass Entscheidungen über die Verteilung der Infrastrukturkapazitäten in Litauen nicht von ihr getroffen würden, sondern von der Aufsichtsbehörde der litauischen Eisenbahn (im Folgenden: VGI), die dem Ministerium für Verkehr und Kommunikation unterstellt sei. Das VGI müsse Entscheidungen diskriminierungsfrei und innerhalb einer festen Frist von vier Monaten treffen. Zweitens habe LDZ innerhalb einer Frist von 28 Tagen nach Antragstellung alle notwendigen Genehmigungen für die selbständige Ausübung ihrer Tätigkeiten auf dem ersten Teil der langen Strecke in Litauen erhalten, d. h. von der lettischen Grenze bis nach Radviliškis (Litauen). Nichts deute darauf hin, dass es für LDZ schwierig oder komplexer gewesen sei, auch die notwendigen Genehmigungen für den zweiten Teil der langen Strecke zu erhalten. Drittens erkenne die Kommission im angefochtenen Beschluss an, dass auf der langen Strecke keine Gefahr von Überkapazitäten und somit keine Gefahr von Reibungen mit der Klägerin bestanden habe. Viertens habe für die Klägerin als einzige Betreiberin der Eisenbahninfrastrukturen in Litauen die Nichtdiskriminierungspflicht gegolten, und zwar auch im Hinblick auf zusätzliche Eisenbahndienste. Es gebe keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass sie ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sei. Fünftens sei es ausgesprochen wenig plausibel, dass das Genehmigungsverfahren sowie die Bereitstellung zusätzlicher Dienste in Bezug auf 34 km (kurze Strecke) oder 60 km (erster Teil der langen Strecke) auf litauischem Hoheitsgebiet einfach, jedoch auf den weiteren 92 km (zweiter Teil der langen Strecke) sehr schwierig gewesen seien.
249 Zudem bestreitet die Klägerin, dass LDZ für den Erhalt von Informationen über die Zugangsbedingungen und die Gebühren in Bezug auf die lange Strecke stärker von ihr abhängig gewesen sei als in Bezug auf die kurze Strecke. Alle maßgeblichen Informationen würden nämlich im litauischen Amtsblatt und auf der Website des VGI veröffentlicht, und das VGI sei verpflichtet, einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Infrastrukturen zu gewährleisten und die Gebühren festzulegen. Auch wenn das Referenzdokument des Netzes für den Zeitraum 2008–2009 nicht den genauen Betrag der Gebühren für die zusätzlichen Eisenbahndienste nenne, seien alle Infrastrukturgebühren veröffentlicht und der Allgemeinheit bekannt. Auch die Formeln, mit denen die Gebühren berechnet würden, seien Teil dieser Informationen. Sobald das VGI die Gebühren berechnet habe, würden sie veröffentlicht, und zwar bevor der entsprechende Zugfahrplan in Kraft trete, so dass jeder Antragsteller ganz einfach die tatsächlichen Gebühren berechnen könne. Darüber hinaus sei es nicht plausibel, dass, selbst wenn noch eine gewisse Unklarheit in Bezug auf den genauen Betrag der Gebühren für die zusätzlichen Eisenbahndienste bestünde, diese angebliche fehlende Transparenz kein Hindernis für den Zugang zur kurzen Strecke und zum ersten Teil der langen Strecke in Litauen (für den LDZ alle erforderlichen Genehmigungen erhalten habe), jedoch ein großes Hindernis für den Zugang zum zweiten Teil der langen Strecke darstelle.
250 Die Kommission und die Streithelferin treten diesem Argumentationszug entgegen.
251 Insoweit ist festzustellen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss im Wesentlichen die Auffassung vertrat, die Beseitigung des gesamten Gleisabschnitts von 19 km, die den Wettbewerbern den Zugang zum kürzesten und direktesten Weg von der Raffinerie zur lettischen Grenze entzogen habe, sei ein Verhalten unter Einsatz von anderen Mitteln als denjenigen eines normalen Wettbewerbs, welches geeignet sei, potenzielle wettbewerbswidrige Auswirkungen auf dem nachgelagerten Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte mit Destination Klaipėda, Riga und Ventspils hervorzurufen (Erwägungsgründe 2, 177 und 202 des angefochtenen Beschlusses).
252 Die Kommission stellte zunächst fest, dass LDZ vor der Beseitigung des Gleisabschnitts eine glaubhafte Chance gehabt habe, die für den See-Export bestimmten Erdölprodukte von Orlen über die kurze Strecke nach Lettland von der Raffinerie bis zu den lettischen Seehäfen zu transportieren. Die Kommission stellte außerdem fest, die Klägerin sei ernsthaft besorgt gewesen, dass Orlen zu den Schienentransportdiensten von LDZ wechseln könnte. Ferner hob die Kommission hervor, dass Orlen und LDZ diese Möglichkeit zwei Jahre lang geprüft hätten, dass der Vorstandsvorsitzende von Orlen erklärt habe, die Verhandlungen hätten Druck auf LG ausgeübt, und dass LDZ eine Lizenz für die Nutzung des litauischen Teils der kurzen Strecke nach Lettland beantragt habe, nicht jedoch für die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen. Dennoch nahm die Kommission anschließend eine Prüfung der Kapazitäten und der Transportkosten vor. Zur Bestätigung dieser Beurteilung stellte die Kommission fest, dass erstens die Erdölprodukte von Orlen auf der Grundlage technischer und kapazitätsbezogener Erwägungen zu den lettischen Seehäfen transportiert werden könnten, zweitens die lettischen Seehäfen für den Umschlag von Erdölprodukten eine glaubhafte Alternative zum Hafen von Klaipėda seien, drittens die Frage der Kosten des Schienentransports für Orlen der wichtigste Faktor bei der Wahl einer Strecke gewesen sei, viertens die Kosten des Schienentransports von der Länge der Strecke und dem Mitgliedstaat abhingen, in dem der Transport stattfände, und fünftens LDZ in der Lage gewesen sei, auf der kurzen Strecke zu den lettischen Seehäfen ein konkurrenzfähiges Angebot zu machen.
253 Sodann stellte die Kommission fest, dass LDZ nach der Beseitigung des Gleisabschnitts nicht mehr die Möglichkeit gehabt habe, konkurrenzfähige Schienentransportdienste für die Erdölprodukte von Orlen von der Raffinerie bis zu den benachbarten Seehäfen anzubieten und folglich aufgrund der erheblichen Hindernisse für den Zugang zum Eisenbahnsektor und der diesem Sektor inhärenten Wettbewerbsnachteile von Eisenbahnbetreibern, die mit dem bereits auf dem Markt tätigen und auch für den Betrieb der Infrastrukturen zuständigen Betreiber konkurrierten, nicht mehr in der Lage gewesen sei, Wettbewerbsdruck auf die Klägerin auszuüben.
254 Um konkurrenzfähige Schienentransportdienste für die Erdölprodukte von Orlen anzubieten, habe LDZ nur die Möglichkeit gehabt, zu versuchen, auf der Strecke nach Klaipėda oder auf den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen tätig zu werden. Die 228 km lange Strecke nach Klaipėda befinde sich vollständig auf litauischem Hoheitsgebiet, und ein erheblicher Teil der langen Strecken zu den lettischen Seehäfen durchquere litauisches Hoheitsgebiet (152 km). Die Klägerin habe somit einen Wettbewerbsvorteil auf ihrem eigenen Netz, und die Wettbewerbsposition von LDZ auf der Strecke nach Klaipėda und auf den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen sei schwächer als auf den kurzen Strecken zu diesen Seehäfen.
255 Die Kommission führte außerdem die Hindernisse für den Markteintritt und die Wettbewerbsnachteile, denen ein potenzieller Konkurrent wie LDZ auf dem Netz der Klägerin ausgesetzt sein könne, detailliert auf. Der Fokus der Kommission lag auf den wichtigsten Zugangshindernissen, d. h. dem Zugang zu Eisenbahninfrastrukturen und zusätzlichen Eisenbahndiensten (Erwägungsgründe 293 bis 304 des angefochtenen Beschlusses) sowie dem Mangel an Information und Transparenz hinsichtlich der Voraussetzungen für den Marktzugang (Erwägungsgründe 305 bis 308 des angefochtenen Beschlusses). Die Kommission war der Auffassung, selbst wenn LDZ in der Lage gewesen wäre, auf den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen Schienentransportdienste für die Erdölprodukte von Orlen anzubieten, ohne Zugangshindernisse überwinden zu müssen, seien diese Strecken im Vergleich zur Strecke nach Klaipėda weniger rentabel gewesen, so dass die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen keine konkurrenzfähige Alternative zur Strecke nach Klaipėda gewesen seien.
256 Dies habe zu einer Abschottung des Markts der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte von der Raffinerie zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils geführt.
257 Als Erstes ist im vorliegenden Fall vorab festzustellen, dass die Klägerin mit ihrem Vorbringen nur die ergänzenden Beurteilungen beanstandet, die die Kommission in den Erwägungsgründen 208 ff. des angefochtenen Beschlusses vornahm, jedoch nicht die hauptsächlichen Erwägungen, die in den Erwägungsgründen 205 bis 207 des angefochtenen Beschlusses aufgeführt sind und wonach LDZ vor der Beseitigung des Gleisabschnitts eine glaubhafte Chance gehabt habe, die für den See-Export bestimmten Erdölprodukte von Orlen über die kurze Strecke nach Lettland von der Raffinerie bis zu den lettischen Seehäfen zu transportieren. Was die Entscheidungen über die Zuweisung von Kapazitäten für Eisenbahninfrastrukturen betrifft, ist mit der Kommission festzustellen, dass im angefochtenen Beschluss nicht bestritten wird, dass diese Entscheidungen vom VGI getroffen werden. Insoweit hat die Kommission im 296. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses in Bezug auf die Zuweisung von Kapazitäten in Litauen anerkannt, dass Anträge auf Zugang zu den Eisenbahninfrastrukturen dem VGI vorzulegen seien und das VGI ihre Vollständigkeit prüfe. Die Kommission hat anschließend jedoch festgestellt, ohne dass die Klägerin ihr insoweit widersprochen hat, dass es die Klägerin sei, die eine technische Evaluierung der Anträge vornehme und für das VGI den Entwurf eines Zugfahrplans erstelle. Wie die Kommission daher zu Recht hervorhebt, hing der Antrag der LDZ auf Zuweisung von Kapazitäten konkret von der Evaluierung durch die Klägerin ab. Zudem unterschied sich der Antrag auf Zuweisung von Kapazitäten vom Antrag auf Erteilung behördlicher Genehmigungen z. B. in Form des Sicherheitszertifikats, das für eine betriebliche Tätigkeit in Litauen erforderlich ist. Folglich ist es, wie die Kommission zu Recht geltend macht, nicht relevant, dass LDZ, wie die Klägerin vorträgt, innerhalb einer Frist von 28 Tagen nach Antragstellung alle notwendigen Genehmigungen für die selbständige Ausübung ihrer Tätigkeiten auf einem Teil des litauischen Abschnitts der langen Strecken zu den lettischen Seehäfen erhielt. Die im angefochtenen Beschluss enthaltene Beurteilung der Zugangshindernisse stützt sich nämlich nicht auf die Schwierigkeit, behördliche Genehmigungen zu erhalten, sondern auf die Schwierigkeit, Kapazitäten zugewiesen zu bekommen.
258 Was als Zweites das Vorbringen betrifft, auf den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen habe es Kapazitätsengpässe gegeben, ist mit der Kommission festzustellen, dass der angefochtene Beschluss das Vorhandensein von Engpässen auf diesen Strecken nicht behauptet. Vielmehr wird im angefochtenen Beschluss festgestellt, dass Anträge auf Zuweisung von Kapazitäten komplexer gewesen seien. Die Anträge hingen nämlich von einer durch die Klägerin vorzunehmenden Evaluierung einer längeren Strecke in Litauen ab, die stärker frequentiert war als der litauische Teil der kurzen Strecke nach Lettland (297. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Auf den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen bestand ein höheres Risiko von Trassenkonflikten, da diese Strecken bereits genutzt wurden, während der litauische Teil der kurzen Strecke ausschließlich für den Transport der Erdölprodukte von Orlen genutzt wurde (298. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
259 Was als Drittes das Vorbringen betrifft, für die Klägerin habe auch im Hinblick auf zusätzliche Eisenbahndienste eine Nichtdiskriminierungspflicht gegolten, enthält der angefochtene Beschluss in den Erwägungsgründen 293 bis 300 und 303 die Feststellung, dass die Umsetzung des in der Richtlinie 2001/14 enthaltenen Diskriminierungsverbots in das litauische Recht der Klägerin einen gewissen Handlungsspielraum zugestanden habe, der ihr die Festlegung nachteiliger Bedingungen für den Zugang zu den Eisenbahninfrastrukturen und die Erbringung zusätzlicher Eisenbahndienste ermöglicht habe. Insbesondere stellte die Kommission in den Erwägungsgründen 293 und 294 des angefochtenen Beschlusses fest, dass die Erbringung zusätzlicher Eisenbahndienste nicht zwangsläufig reglementiert bzw. dergestalt reglementiert sei, dass ein gewisser Handlungsspielraum in Bezug auf die Preise und die Qualität der erbrachten Dienstleistung bestehe. Dies gelte für bestimmte Wartungsdienste (für Schienenfahrzeuge), Zugang zu bestimmten Anlagen (z. B. Rangierbahnhöfe oder Anlagen zum Parken und Reinigen von Schienenfahrzeugen) und Hilfsdienste (u. a. bei Zugpannen und Störungen des Verkehrs). Wenn daher ein neuer Betreiber – wie LDZ – die Dienste des etablierten Betreibers – im vorliegenden Fall die Klägerin – in Anspruch nehme, könne Letzterer größtenteils die Bedingungen diktieren, unter denen die Dienste erbracht würden, was zu Unsicherheiten in Bezug auf Qualität und Kosten der Dienste führe. Die Klägerin hat keine dieser Feststellungen beanstandet und lediglich geltend gemacht, es gebe keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass sie ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sei.
260 Was als Viertes das Vorbringen betrifft, mit dem die Feststellung im angefochtenen Beschluss in Frage gestellt wird, wonach LDZ für den Erhalt von Informationen über Zugangsbedingungen und Gebühren in Bezug auf die lange Strecke stärker von der Klägerin abhängig gewesen sei als in Bezug auf die kurze Strecke, ist mit der Kommission festzustellen, dass im angefochtenen Beschluss anerkannt wird, dass die zur Berechnung der Infrastrukturgebühren verwendeten Formeln veröffentlicht worden sind. Die Kommission stellte jedoch außerdem fest, dass LDZ auf einer längeren Strecke in Litauen umso mehr von dem Mangel an Information und Transparenz hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen und des Preises der zusätzlichen Eisenbahndienste betroffen gewesen wäre. Insbesondere wies die Kommission im 308. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses darauf hin, dass die Klägerin im Referenzdokument des Netzes für den Zeitraum 2008–2009 (Network Statement of 2008-2009) nur die Formel zur Berechnung der Gebühren für den Zugang zu den litauischen Eisenbahninfrastrukturen definiert habe. Das Dokument enthielt nämlich keine Angaben zu den tatsächlichen Gebühren für die zusätzlichen Eisenbahndienste, sondern lediglich den Hinweis, dass die Zusatzdienste gemäß den geltenden Vorschriften in Rechnung gestellt würden. Diese Feststellung wird offenbar von der Klägerin nicht bestritten, wenn sie in ihren Schriftsätzen geltend macht, selbst wenn noch eine gewisse Unklarheit hinsichtlich des genauen Betrags der Gebühren für die zusätzlichen Eisenbahndienste bestünde, sei es nicht plausibel, dass diese angeblich fehlende Transparenz kein Hindernis für den Zugang zur kurzen Strecke und zum ersten Teil der langen Strecke in Litauen, jedoch ein großes Hindernis für den Zugang zum zweiten Teil der langen Strecke dargestellt habe. Zudem bestätigt die Klägerin implizit, dass das Referenzdokument des Netzes für den Zeitraum 2008–2009 die tatsächlichen Gebühren für die zusätzlichen Eisenbahndienste nicht benannte, wenn sie argumentiert, dass zwar das Referenzdokument den genauen Betrag der Gebühren für die zusätzlichen Eisenbahndienste nicht benannt habe, jedoch alle Infrastrukturgebühren veröffentlicht und der Allgemeinheit bekannt gewesen seien. Insoweit ist hervorzuheben, dass das Referenzdokument dem Gericht in Beantwortung einer prozessleitenden Maßnahme in der vorliegenden Rechtssache vorgelegt worden ist (siehe oben, Rn. 65) und der Betrag der tatsächlichen Gebühren für die zusätzlichen Eisenbahndienste darin in der Tat nicht genannt wird. Außerdem wurde im angefochtenen Beschluss, wie die Kommission zu Recht geltend macht, nicht festgestellt, dass es nur auf der langen Strecke nach Lettland an Transparenz fehle, sondern, dass die fehlende Transparenz der für die zusätzlichen Eisenbahndienste in Rechnung gestellten Preise für LDZ sowohl auf der langen Strecke als auch auf der Strecke nach Klaipėda mit einem erhöhten Risiko verbunden sei, während dies nicht für die kurze Strecke gelte, da LDZ auf dieser Strecke nicht oder zumindest nur in geringerem Ausmaß von den Zusatzdiensten der Klägerin abhängig sei (307. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
261 Folglich beging die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerin keinen Beurteilungsfehler, als sie die Auffassung vertrat, dass die fehlende Transparenz in Bezug auf den genauen Betrag der Gebühren für die Zusatzdienste sowohl auf der langen Strecke als auch auf der Strecke nach Klaipėda ein Zugangshindernis darstelle.
262 Was als Fünftes das Vorbringen der Klägerin in der Erwiderung betrifft, der undatierte handschriftliche Vermerk, auf den die Kommission in ihrer Klagebeantwortung Bezug nehme, gehe nicht auf die Frage ein, ob eine operative Tätigkeit auf der langen Strecke ein höheres Risiko für LDZ darstelle (283. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), ist vorab festzustellen, dass die Klägerin das fragliche Dokument erst in ihrer Erwiderung beanstandet hat, obwohl es in den Erwägungsgründen 97 bis 99 und in Nr. 3 des 316. Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses erwähnt wird. Zudem betraf das Dokument zwar nicht ausdrücklich LDZ, sondern einen lettischen Betreiber und potenziellen Wettbewerber von LG, doch wurden potenzielle Gefahren für die Interessen des Seehafens Klaipėda untersucht und unter der Überschrift „Schutz vor Lettland“ verschiedene Zugangshindernisse aufgezählt, die die Klägerin gegenüber jedem Wettbewerber aus Lettland, einschließlich LDZ, hätte errichten können. Somit konnte das fragliche Dokument entgegen dem Vorbringen der Klägerin im angefochtenen Beschluss als ein Beweis dafür angesehen werden, dass eine operative Tätigkeit auf der langen Strecke für LDZ mit einem erheblich höheren Risiko verbunden war.
263 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass keines der Argumente der Klägerin geeignet ist, die im angefochtenen Beschluss enthaltenen Feststellungen zu den Hindernissen für den Markteintritt und insbesondere die Schlussfolgerung, LDZ sei in höherem Maße von der Klägerin als vertikal integrierter, etablierter Betreiberin abhängig gewesen, in Frage zu stellen.
264 Daher ist der erste Argumentationszug der zweiten Rüge des vierten Teils zurückzuweisen.
ii) Zu den Argumenten, mit denen bestritten wird, dass die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen nicht mit der Strecke nach Klaipėda konkurrieren konnten
265 Mit dem zweiten Argumentationszug beanstandet die Klägerin die im angefochtenen Beschluss enthaltene Feststellung, die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen hätten nicht mit der Strecke nach Klaipėda konkurrieren können (Erwägungsgründe 288 und 310 des angefochtenen Beschlusses), weshalb LDZ nur auf den kurzen Strecken zu diesen Seehäfen Wettbewerbsdruck auf LG habe ausüben können, vorausgesetzt, der Gleisabschnitt wäre repariert worden.
266 Die Klägerin macht als Erstes geltend, diese Feststellung sei aus mehreren Gründen nicht plausibel.
267 Erstens habe LDZ Orlen nach der Aussetzung des Verkehrs und mit Schreiben vom 29. September 2008 ihr Schienentransportdienste nach Riga sowohl über die kurze Strecke als auch über die lange Strecke nach Lettland angeboten. Somit habe LDZ offensichtlich selbst angenommen, dass sie in der Lage sei, auch auf der langen Strecke hinsichtlich der von LG nach Klaipėda transportierten Produkte von Orlen in wirksamen Wettbewerb zu treten. Zweitens habe LG in einem internen Dokument von 2009 festgestellt, dass die Unterschiede zwischen der kurzen und der langen Strecke in Bezug auf die Entfernung und den Preis nicht wesentlich seien. Folglich sei es nicht plausibel, dass LDZ nur auf der kurzen und nicht auf der langen Strecke in der Lage gewesen sein solle, in Wettbewerb mit LG zu treten. Drittens bestünden zwischen den drei Strecken keine wesentlichen Kostenunterschiede, was auch naheliegend sei, da sie alle dem gleichen geografischen Markt angehörten. Somit sei es ausgesprochen wenig plausibel, dass LDZ nur auf dem kurzen Weg (sofern der Gleisabschnitt wiederaufgebaut oder repariert worden wäre) Druck auf die Klägerin hinsichtlich der nach Klaipėda transportierten Produkte habe ausüben können.
268 Als Zweites macht die Klägerin geltend, dass auch der von der Kommission vorgenommene Kostenvergleich zahlreiche Fehler enthalte.
269 Bereits die Formulierungen der Kommission verdeutlichten, dass dem Kostenvergleich keine solide und zuverlässige Analyse zugrunde gelegen habe. So stelle die Kommission fest, dass „sie die Auswirkungen dieser strukturellen Unterschiede auf die Transportkosten nicht genau quantifizieren“ könne und „sich die von LG und LDZ angewandten Kostenzurechnungsmethoden möglicherweise voneinander unterschieden, was sich auf ihre Schätzungen [der Kosten] ausgewirkt haben kann“. Ferner habe sie darauf hingewiesen, dass es unklar sei, „ob“ die lettischen Häfen im Vergleich zu Klaipėda einen bedeutenden Wettbewerbsvorteil in Bezug auf die Gesamtkosten des Seetransports böten, und sie habe festgestellt, dass die kurze Strecke nach Riga „die interessanteste Strecke zu sein scheine“. Als die Kommission die Kostenaufstellung der Klägerin mit derjenigen von LDZ verglichen habe, sei die wichtigste Kostenkomponente von LDZ auf dem lettischen Abschnitt der langen Strecke nach Riga die Kategorie „Andere“ gewesen, während „andere“ Kosten der Klägerin nur einen viel geringeren Prozentsatz ihrer Gesamtkosten auf dem litauischen Abschnitt der langen Strecke nach Riga oder Ventspils ausgemacht hätten. Zudem habe die Kommission nicht berücksichtigt, dass die Klägerin und LDZ völlig unterschiedliche Kostenzurechnungsmethoden angewandt hätten, weshalb ein Kostenvergleich willkürlich sei. Beispielsweise seien laut den von der Kommission verwendeten Daten die Kosten der Klägerin pro Tonnenkilometer (tkm) eher statisch und nicht von der Entfernung abhängig, während die von LDZ geschätzten Kosten auf längeren Strecken sänken, da die mit der Be- und Entladung der Fracht verbundenen Kosten als Fixkosten geschätzt würden, denen anschließend die tatsächlichen Transportkosten im Verhältnis zur Streckenlänge und zum Frachtvolumen hinzuzurechnen seien.
270 Ferner macht die Klägerin geltend, dass die in Tabelle 5 („Kosten pro Tonne für den Transport der Erdölprodukte von Orlen [lange Strecken und Strecke nach Klaipėda]“) des angefochtenen Beschlusses enthaltenen Daten, selbst wenn sie auf vergleichbaren Kostenzurechnungsmethoden beruhten, nicht das Vorbringen stützten, wonach LDZ auf der langen Strecke hinsichtlich der nach Klaipėda transportierten Produkte von Orlen nicht glaubhaft in Wettbewerb habe treten können. Zudem habe die Kommission im angefochtenen Beschluss anerkannt, dass die in Tabelle 5 enthaltenen Kosten für die langen Strecken wahrscheinlich zu hoch geschätzt seien. Dennoch erschienen die Kosten auf diesen Strecken weitgehend vergleichbar mit den Kosten auf der Strecke nach Klaipėda, so dass LDZ in der Lage gewesen sei, Wettbewerbsdruck auszuüben, insbesondere unter Berücksichtigung der allgemeinen Kostenvorteile, die sie der Kommission zufolge gegenüber der Klägerin genieße, z. B. in Bezug auf den Energiepreis und die Arbeitskosten sowie die Kosten des Seetransports. Nach Ansicht der Klägerin werden alle diese Gesichtspunkte durch den Umstand bestätigt, dass LDZ Orlen im September 2008 angeboten habe, ihre Produkte auf der langen Strecke von Klaipėda zu den lettischen Seehäfen zu transportieren. Zudem lägen die in Tabelle 5 verwendeten Kostendaten deutlich unter den Preisen, die Orlen 2008 und 2009 für die Schienentransportdienste auf der Strecke nach Klaipėda tatsächlich pro Tonne gezahlt habe.
271 Die Kommission und die Streithelferin treten diesem Argumentationszug entgegen.
272 Was vorliegend erstens das Schreiben vom 29. September 2008 betrifft, mit dem LDZ Orlen angeboten haben soll, Schienentransportdienste nach Riga sowohl über die kurze Strecke als auch über die lange Strecke zu den lettischen Seehäfen zu erbringen, ist festzustellen, dass LDZ mit diesem Schreiben den Entwurf eines Tarifsystems für das Jahr 2008 für den Transport von Erdölprodukten über lettisches Hoheitsgebiet zum Hafen von Riga unterbreitete. Aus dem Inhalt des Schreibens geht insbesondere hervor, dass der von LDZ angebotene Tarifentwurf nur die lettischen Abschnitte der langen und kurzen Strecken nach Riga betraf. In dem Schreiben wurden nämlich die Strecken Maitene – Mangali (Riga) und Rengė – Mangali (Riga) genannt. Somit kann die Klägerin nicht allein aufgrund des fraglichen Schreibens davon ausgehen, dass das Angebot von LDZ konkurrenzfähig war, da das Angebot nicht die Preise berücksichtigte, die LDZ auf den litauischen Abschnitten der zwei Strecken berechnete. Zudem hat die Klägerin keinen Nachweis zur Stützung ihres in der Erwiderung vorgetragenen Arguments erbracht, wonach LDZ zum Zeitpunkt, als sie Orlen das Angebot unterbreitet habe, ganz offensichtlich bestens über die Wettbewerbssituation und die maßgeblichen Preise und Kosten informiert gewesen sei. Außerdem impliziert das bloße Vorliegen eines Angebots nicht, dass das Angebot tatsächlich konkurrenzfähig und vor allem genauso konkurrenzfähig ist, wie es hätte sein können, wenn der Gleisabschnitt nicht beseitigt worden wäre. Somit kann die Klägerin aus dem Schreiben keine Schlussfolgerung in Bezug auf die Frage ziehen, ob LDZ in der Lage war, auf der langen Strecke wirksamen Wettbewerbsdruck auf sie auszuüben.
273 Was zweitens das interne Dokument von 2009 betrifft, in dem die Klägerin festgestellt haben soll, dass die Unterschiede zwischen der kurzen und der langen Strecke in Bezug auf die Entfernung und den Preis nicht wesentlich seien, handelt es sich bei dem fraglichen Dokument um das Dokument ES 9/VJ6. Die Feststellung, auf die sich die Klägerin bezieht, befindet sich auf der dritten und letzten Seite des Dokuments und betrifft einen Vergleich des Transports der Produkte von Orlen nach Jelgava (Lettland) über Šiauliai (Litauen) mit dem direkten Transport über Rengė. Somit enthält diese Feststellung keinen Vergleich der Kosten der gesamten Strecken zu den lettischen Seehäfen und betrifft nicht den Transport der Erdölprodukte von Orlen im Hinblick auf einen Export über den Seeweg. Zudem gilt der Umstand, dass die Unterschiede zwischen der kurzen und der langen Strecke zu den lettischen Seehäfen in Bezug auf die Entfernung und den Preis für die Klägerin nicht wesentlich sind, nicht zwangsläufig auch für LDZ.
274 Folglich können weder das oben in Rn. 272 genannte Angebot noch das oben in Rn. 273 erwähnte interne Dokument die Feststellung der Kommission in Frage stellen, wonach die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen im Vergleich zur Strecke nach Klaipėda weniger rentabel gewesen seien.
275 Was Drittens das Vorbringen betrifft, zwischen den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen, den kurzen Strecken zu den lettischen Seehäfen und der Strecke nach Klaipėda bestünden keine wesentlichen Kostenunterschiede, ist es zwar zutreffend, dass die lange Strecke nach Riga – im Gegensatz zur Strecke nach Klaipėda – auf einem längeren Abschnitt (86 km) durch Lettland verlief, wo dem angefochtenen Beschluss zufolge die Kosten des Schienentransports, insbesondere der Energiepreis und die Arbeitskosten, niedriger waren als in Litauen (253. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), doch ist ebenfalls zutreffend, dass die lange Strecke nach Riga auf 152 km durch Litauen verlief. Da die Kommission für die Berechnung der Kosten der Strecken zu den lettischen Seehäfen die Kosten der Klägerin und die Kosten von LDZ auf ihren jeweiligen Streckenetappen addierte, müssen für die Beurteilung des Kostenunterschieds zwischen den Strecken die mit dem litauischen Teil der langen Strecke nach Riga verbundenen Kosten zu den mit dem lettischen Teil derselben Strecke verbundenen Kosten hinzugerechnet werden. Gleiches gilt für die Berechnung der Kosten im Zusammenhang mit der langen Strecke nach Ventspils. Ferner hat die Klägerin die Kosten, die die Kommission in Tabelle 5 im 311. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses aufführt, nicht beanstandet. Der Tabelle ist zu entnehmen, dass – entgegen dem Vorbringen der Klägerin – in den Jahren 2008 und 2009 die Kosten des Transports der Erdölprodukte von Orlen pro Tonne auf der langen Strecke nach Riga zwischen [vertraulich] und [vertraulich] % höher waren als auf der Strecke nach Klaipėda und auf der langen Strecke nach Ventspils zwischen [vertraulich] und [vertraulich] % höher waren als auf der Strecke nach Klaipėda. Folglich gibt es entgegen dem Vorbringen der Klägerin keine ausreichenden Nachweise dafür, dass LDZ in ihrer Eigenschaft als effiziente Wettbewerberin die Möglichkeit gehabt hätte, auf dem relevanten Markt in Konkurrenz zur Klägerin Dienstleistungen auf der langen Strecke anzubieten und dadurch Wettbewerbsdruck auf sie auszuüben.
276 Viertens ist zu dem Vorbringen, das den von der Kommission vorgenommenen Kostenvergleich in Frage stellt, Folgendes hervorzuheben.
277 Was zum einen die Überlegungen zu den Formulierungen betrifft, die die Kommission in ihrer Analyse zum Kostenvergleich verwendete, kann nicht aus bestimmten, von der Kommission verwendeten Formulierungen geschlossen werden, dass dem Kostenvergleich keine solide und zuverlässige Analyse zugrunde lag. Überdies ist mit der Kommission festzustellen, dass der Hinweis, es sei nicht möglich, die Auswirkungen dieser strukturellen Unterschiede auf die Transportkosten genau zu quantifizieren (253. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), Teil einer Analyse der Faktoren ist, die sich auf die Kosten des Schienentransports auswirken, und nichts an dem Ergebnis der Analyse in Bezug auf die Rentabilität der kurzen Strecke nach Riga ändert (Erwägungsgründe 254 und 255 des angefochtenen Beschlusses). Der Hinweis darauf, dass sich die von der Klägerin und LDZ angewandten Kostenzurechnungsmethoden möglicherweise voneinander unterschieden, was sich auf ihre Schätzungen der Kosten ausgewirkt haben könne (Erwägungsgründe 271 bis 273 des angefochtenen Beschlusses), wird im angefochtenen Beschluss näher erläutert und es wird dargelegt, warum dieser Gesichtspunkt keine Bedeutung hat und sich nicht auf den Vergleich der Kosten der Klägerin mit den Kosten von LDZ auswirkt. Außerdem ist einer der von der Klägerin beanstandeten Sätze des angefochtenen Beschlusses aus seinem Kontext herausgerissen worden. Der vollständige Satz lautete nämlich: „Somit hätten die Häfen Riga und Ventspils zumindest eine glaubhafte Ersatzlösung für den Hafen Klaipėda sein können, unabhängig davon, dass auch davon ausgegangen werden kann, dass sie in Bezug auf die Gesamtkosten des Seetransports einen bedeutenden Wettbewerbsvorteil boten“ (240. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Was schließlich den Hinweis in einem anderen Abschnitt des angefochtenen Beschlusses betrifft, auf der Grundlage einer Analyse der Faktoren, die sich auf die Kosten des Schienentransports auswirkten, scheine die kurze Strecke nach Riga die attraktivste zu sein, wird diese Feststellung anschließend durch einen detaillierteren Vergleich der Kosten der Strecken in den Erwägungsgründen 255 bis 266 des angefochtenen Beschlusses untermauert, der belegt, dass die kurze Strecke nach Riga tatsächlich am attraktivsten ist.
278 Was zum anderen das Vorbringen der Klägerin betrifft, im angefochtenen Beschluss würden „Äpfel mit Birnen verglichen“, stellt die Kommission zu Recht fest, dass der angefochtene Beschluss ausführlich auf die Argumente der Klägerin im Zusammenhang mit der Kostenanalyse eingeht, insbesondere auf die Einwände hinsichtlich der Möglichkeit, die Kosten zu vergleichen. Dem 269. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ist nämlich zu entnehmen, dass die Klägerin bereits in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte geltend gemacht hatte, dass ihre Kosten nicht mit den Kosten von LDZ vergleichbar seien. Die Kommission ist dem Vorbringen der Klägerin in den Erwägungsgründen 270 bis 284 des angefochtenen Beschlusses detailliert entgegengetreten. Insbesondere erklärte sie in den Erwägungsgründen 272 und 273 des angefochtenen Beschlusses, sie habe berücksichtigt, dass sich die von der Klägerin und LDZ verwendeten Methoden zur Berechnung der Kosten möglicherweise voneinander unterschieden hätten und sich dies auf ihre Schätzungen einer Kostenkomponente, wie Verwaltungskosten, habe auswirken können. Sie wies jedoch auch darauf hin, dass ein solcher Unterschied beim methodischen Vorgehen nur einen geringen Unterschied bei den Kosten zur Folge haben könne. Ebenso erläuterte die Kommission im 274. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, warum sie der Ansicht war, dass die Kostenschätzung der Klägerin und der LDZ die gleichen Dienste umfasse und die gleichen Kostenkomponenten beinhalte, zumindest für das Jahr 2009. Wie Fn. 406 des angefochtenen Beschlusses zu entnehmen ist, analysierte die Kommission nämlich die Daten zu den Kosten der Klägerin für das Jahr 2009, da die Klägerin keine Kostenzurechnung für das Jahr 2008 eingereicht hatte.
279 Somit kann sich die Klägerin nicht auf das Argument berufen, die Methode zu Beurteilung der Kosten sei fehlerhaft, um den Kostenvergleich der Kommission im angefochtenen Beschluss in Frage zu stellen und geltend zu machen, der Vergleich sei willkürlich gewesen.
280 Dieses Ergebnis kann durch die übrigen Argumente der Klägerin nicht in Frage gestellt werden.
281 Was erstens das Vorbringen betrifft, selbst wenn die in Tabelle 5 des angefochtenen Beschlusses enthaltenen Daten auf vergleichbaren Kostenzurechnungsmethoden beruhten, würden sie nicht das Vorbringen stützen, dem zufolge LDZ auf den langen Strecken zu den lettischen Seehäfen keine glaubhafte Wettbewerberin habe sein können, ist festzustellen, dass die Klägerin keinen Nachweis dafür erbracht hat, dass die Differenz von [vertraulich] % zwischen den Kosten auf der langen Strecke nach Riga im Jahr 2008 [vertraulich] und den Kosten auf der Strecke nach Klaipėda [vertraulich] hätte vollständig bereinigt werden müssen, da die von der Kommission in Tabelle 5 des angefochtenen Beschlusses genannten Kosten für die langen Strecken „wahrscheinlich zu hoch geschätzt“ worden seien. Soweit die Klägerin mit ihrem Vorbringen außerdem geltend macht, die Differenz von [vertraulich] % zwischen den Kosten auf der langen Strecke nach Riga im Jahr 2008 [vertraulich] und den Kosten auf der Strecke nach Klaipėda [vertraulich] sei nicht erheblich gewesen, ist mit der Kommission festzustellen, dass im angefochtenen Beschluss auch nachgewiesen wurde, dass selbst bei Zugrundelegung eines konservativen Ansatzes die Kosten der langen Strecke nach Ventspils 2008 um [vertraulich] % und 2009 um [vertraulich] % höher waren als die Kosten der Strecke nach Klaipėda. Ein Unterschied von [vertraulich] % oder [vertraulich] % ist jedoch erheblich und kann nur schwerlich unter Berufung auf eine zu hohe Schätzung in Frage gestellt werden.
282 Was zweitens das Vorbringen betrifft, die in Tabelle 5 verwendeten Kostendaten [vertraulich] lägen deutlich unter den Preisen, die Orlen 2008 [vertraulich] und 2009 [vertraulich] für die Schienentransportdienste auf der Strecke nach Klaipėda tatsächlich pro Tonne gezahlt habe, so dass, wenn man der Logik folge, die die Kommission in den Erwägungsgründen 281 bis 284 des angefochtenen Beschlusses anwende, LDZ in der Lage gewesen wäre, Wettbewerbsdruck auf die Klägerin auszuüben, wenn sie dies gewollt hätte, ist entgegen dem Vorbringen der Klägerin festzustellen, dass die Kosten, die die Kommission für die lange Strecke nach Riga berechnet hat, nur sehr leicht unter den Preisen liegen, die Orlen tatsächlich für die Schienentransportdienste auf der Strecke nach Klaipėda gezahlt hat. Da es sich jedoch um Kosten und nicht um Preise handelt, ist eine – wie gering auch immer geartete – Gewinnmarge hinzuzurechnen, die die Differenz zu den Preisen, die Orlen tatsächlich für die Schienentransportdienste auf der Strecke nach Klaipėda gezahlt hat, weiter verringert.
283 Nach alledem beging die Kommission keinen Beurteilungsfehler, als sie feststellte, dass die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen im Vergleich zur Strecke nach Klaipėda nicht konkurrenzfähig gewesen seien.
284 Somit ist die zweite Rüge des vierten Teils und folglich der vierte Teil des zweiten Klagegrundes insgesamt zurückzuweisen.
285 Nach alledem ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 296 AEUV und Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 wegen unzureichender Beweise und Begründungsmangel
286 Mit dem dritten Klagegrund macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, die Kommission habe durch einen Begründungsmangel gegen Art. 296 AEUV verstoßen und Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 dadurch verletzt, dass sie keine ausreichenden Beweise für den im angefochtenen Beschluss festgestellten Verstoß gegen Art. 102 AEUV vorgelegt habe.
287 Die Kommission und die Streithelferin treten diesem Vorbringen entgegen.
288 Der dritte Klagegrund besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen, wobei mit dem ersten Teil ein Verstoß gegen Art. 296 AEUV durch einen Begründungsmangel und mit dem zweiten Teil ein Verstoß gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 geltend gemacht wird.
a)
Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 296 AEUV wegen Begründungsmangel
289 Die Klägerin stützt den ersten Teil im Wesentlichen auf zwei Rügen, die gemeinsam zu prüfen sind. Mit der ersten Rüge wird geltend gemacht, die Kommission habe nicht dargelegt, warum sie von der gefestigten Rechtsprechung zur Verweigerung des Zugangs zu wesentlichen Infrastrukturen abgewichen sei, und mit der zweiten Rüge wird beanstandet, die Kommission habe nicht hinreichend begründet, dass im vorliegenden Fall außergewöhnliche Umstände in Bezug auf den Gleisabschnitt vorlägen, die die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis rechtfertigten.
290 Es ist festzustellen, dass sich das Vorbringen der Klägerin zu den zwei Rügen des ersten Teils nicht auf eine fehlende oder unzureichende Begründung des angefochtenen Beschlusses richtet. Dieses Vorbringen fällt nämlich in Wirklichkeit mit dem Vorbringen zusammen, das sich gegen die Begründetheit des angefochtenen Beschlusses richtet. Die Pflicht zur Begründung von Beschlüssen stellt jedoch ein wesentliches Formerfordernis dar, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit der streitigen Handlung gehört. Die Begründung eines Beschlusses soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen er beruht. Weisen die Gründe Fehler auf, so beeinträchtigen diese die materielle Rechtmäßigkeit des Beschlusses, nicht aber seine Begründung, die, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält, hinreichend sein kann (vgl. Urteil vom 10. Juli 2008, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, C‑413/06 P, EU:C:2008:392, Rn. 181 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem ist dieses Vorbringen bereits im Rahmen des ersten und zweiten Klagegrundes vorgetragen, untersucht und zurückgewiesen worden.
291 Der erste Teil des dritten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003
292 Vorab ist mit der Kommission festzustellen, dass die Klägerin abgesehen von einer kurzen Erwähnung von Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 in Rn. 143 der Klageschrift ihr Vorbringen nicht dadurch untermauert, dass sie die Stellen des angefochtenen Beschlusses benennt, die ihrer Meinung nach unzureichend belegt sind. Die Klägerin hat ihr Argument jedoch in den Rn. 28 und 29 ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz näher erläutert. Insbesondere in Rn. 29 der Stellungnahme macht sie geltend, die Kommission habe sich nicht auf unmittelbare Beweise oder Urkundsbeweise gestützt, die genau und schlüssig seien und den Verstoß rechtlich hinreichend nachwiesen. Jedenfalls habe die Klägerin im Einklang mit der Rechtsprechung Argumente vorgetragen, die den von der Kommission festgestellten Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen ließen und es somit ermöglichten, eine andere plausible Erklärung des Sachverhalts zugrunde zu legen als diejenige, die die Kommission bei der Feststellung des Verstoßes zugrunde gelegt habe.
293 Aus Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie der ständigen Rechtsprechung ergibt sich, dass es im Wettbewerbsrecht, wenn ein Rechtsstreit über das Vorliegen einer Zuwiderhandlung entstanden ist, der Kommission obliegt, die von ihr festgestellten Zuwiderhandlungen nachzuweisen und Beweise beizubringen, die geeignet sind, das Vorliegen der Tatsachen, die eine Zuwiderhandlung darstellen, rechtlich hinreichend zu belegen (vgl. Urteil vom 12. April 2013, GEMA/Kommission, T‑410/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:171, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
294 Insoweit muss die Kommission zwar genaue und übereinstimmende Beweise beibringen, um die feste Überzeugung zu begründen, dass die Zuwiderhandlung begangen wurde, doch muss nicht jeder der von der Kommission vorgelegten Beweise diesen Kriterien notwendigerweise hinsichtlich jedes Merkmals der Zuwiderhandlung genügen. Nach der Rechtsprechung zur Durchführung von Art. 101 AEUV reicht es aus, dass das von der Kommission angeführte Indizienbündel bei seiner Gesamtwürdigung dieser Anforderung genügt. Dieser Grundsatz gilt auch in Rechtssachen, in denen es um die Anwendung von Art. 102 AEUV geht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, AstraZeneca/Kommission, T‑321/05, EU:T:2010:266, Rn. 477 und die dort angeführte Rechtsprechung).
295 Was die Beweiskraft der von der Kommission herangezogenen Beweismittel angeht, sind zwei Fälle zu unterscheiden.
296 Stellt die Kommission, gestützt auf die Annahme, dass der festgestellte Sachverhalt nur durch das Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens erklärt werden könne, eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln fest, erklärt der Unionsrichter die fragliche Entscheidung für nichtig, sofern das Vorbringen der betroffenen Unternehmen den von der Kommission festgestellten Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen lässt und damit eine andere plausible Erklärung der Tatsachen ermöglicht als die der Kommission, dass eine Zuwiderhandlung vorliege. In einem solchen Fall hat nämlich die Kommission den Beweis für das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht nicht erbracht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 1984, Compagnie royale asturienne des mines und Rheinzink/Kommission, 29/83 und 30/83, EU:C:1984:130, Rn. 16, und vom 31. März 1993, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, C‑89/85, C‑104/85, C‑114/85, C‑116/85, C‑117/85 und C‑125/85 bis C‑129/85, EU:C:1993:120, Rn. 126 und 127).
297 Wenn sich die Kommission aber auf Beweismittel stützt, die grundsätzlich genügen, um das Vorliegen einer Zuwiderhandlung darzutun, kann der bloße Hinweis des betroffenen Unternehmens auf die Möglichkeit des Vorliegens eines Umstands, der den Beweiswert dieser Beweismittel erschüttern könnte, nicht dazu führen, dass die Kommission die Last des Gegenbeweises dafür trägt, dass der Beweiswert durch diesen Umstand nicht erschüttert werden konnte. Vielmehr muss das betroffene Unternehmen, es sei denn, dies wäre ihm wegen des eigenen Verhaltens der Kommission nicht möglich, rechtlich hinreichend nachweisen, dass zum einen der von ihm angeführte Umstand vorliegt und zum anderen dieser Umstand den Beweiswert der Beweismittel, auf die sich die Kommission stützt, in Frage stellt (vgl. Urteil vom 15. Dezember 2010, E.ON Energie/Kommission, T‑141/08, EU:T:2010:516, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
298 Im vorliegenden Fall geht aus der Prüfung des zweiten Klagegrundes hervor, dass sich die Kommission bei der Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nicht auf die Annahme stützte, dass der festgestellte Sachverhalt nur durch die Existenz eines wettbewerbswidrigen Verhaltens erklärt werden könne. Vielmehr stützte sie sich auf Beweismittel, die grundsätzlich genügten, um das Vorliegen der beanstandeten Zuwiderhandlung darzutun. Zudem bieten die Argumente, die die Klägerin geltend macht, um den von der Kommission festgestellten Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, keine Möglichkeit, eine andere plausible Erklärung des Sachverhalts zugrunde zu legen als diejenige, auf die sich die Kommission bei der Feststellung des Verstoßes stützte.
299 Folglich ist angesichts der oben in den Rn. 292 bis 297 angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass die Kommission nicht gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen hat.
300 Daher ist der zweite Teil des dritten Klagegrundes und somit der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
4. Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 durch Anordnung einer unverhältnismäßigen Abhilfemaßnahme
301 Mit dem fünften Klagegrund beanstandet die Klägerin, der angefochtene Beschluss habe gegen Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen, da ihr eine unverhältnismäßige Abhilfemaßnahme auferlegt worden sei.
302 Die Klägerin macht erstens geltend, dass sie nach Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 nur zur Wiederherstellung der Wettbewerbssituation, wie sie vor der Beseitigung des Gleisabschnitts bestanden habe, verpflichtet werden könne und dass der Gleisabschnitt bereits vor seiner Beseitigung seit der Aussetzung des Verkehrs am 2. September 2008 nicht mehr habe benutzt werden können. Die erforderliche Investition in eine neue, nicht wesentliche Infrastruktur gehe über die Wiederherstellung der früheren Situation hinaus und sei beispiellos und unverhältnismäßig.
303 Zweitens macht die Klägerin geltend, da der Gleisabschnitt vor der Aussetzung des Verkehrs nur von einer einzigen Kundin für einen kleinen Teil ihrer Produktion genutzt worden sei und diese Kundin nun eine andere Strecke nutze, sei es ungewiss gewesen, ob sie den neuen Gleisabschnitt nutzen werde.
304 Drittens erfordere der fragliche Neubau eine sehr hohe Investition, wodurch die Klägerin gezwungen sei, ihre Ressourcen für eine einzige Kundin mit begrenztem Bedarf zu verwenden und dadurch andere Strecken zu benachteiligen.
305 Viertens sei die Verpflichtung zum Neubau des Gleisabschnitts eine unverhältnismäßige Maßnahme, wenn sie nicht verlangen dürfe, dass die zwei einzigen potenziell Begünstigten der neuen Infrastruktur einen fairen und angemessenen Teil der Baukosten übernähmen.
306 Fünftens erwidert die Klägerin auf die Klagebeantwortung der Kommission, dass es sich im vorliegenden Fall, im Gegensatz zur „Rechtssache Microsoft“, auf die sich die Kommission berufe, um eine Investition in eine völlig neue Infrastruktur und nicht um das Teilen einer bestehenden Infrastruktur handle.
307 Im Übrigen veröffentlichte die Klägerin am 9. März 2018 eine Pressemitteilung, in der sie darüber informierte, dass sie mit der Kommission einen Aktionsplan vereinbart habe, dem zufolge der Gleisabschnitt vor Ende 2019 wiederhergestellt sein werde. Laut Pressemeldungen wurde außerdem am 14. August 2018 zwischen der Klägerin und Orlen eine Vereinbarung über die Wiederaufnahme des Verkehrs auf dem Gleisabschnitt geschlossen. In der mündlichen Verhandlung haben die Klägerin und die Streithelferin bestätigt, dass die Arbeiten zum Neubau des Gleisabschnitts im Dezember 2019 fertiggestellt worden seien und dass nach Tests, die am Tag der mündlichen Verhandlung im Gange gewesen seien, der Gleisabschnitt vor Ende Februar 2020 wieder für den Verkehr geöffnet werden solle.
308 Die Kommission und die Streithelferin treten dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
309 Vorab ist festzustellen, dass die Kommission nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003, wenn sie auf eine Beschwerde hin oder von Amts wegen eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 oder 102 AEUV feststellt, die beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung verpflichten kann, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen. Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung sieht außerdem vor, dass die Kommission, soweit sie ein berechtigtes Interesse hat, auch eine Zuwiderhandlung feststellen kann, nachdem diese beendet ist (Urteil vom 9. September 2015, Philips/Kommission, T‑92/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:605, Rn. 132).
310 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts gehört, verlangt, dass die Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen, und die damit verbundenen Nachteile dürfen nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. Urteil vom 24. Mai 2012, MasterCard u. a./Kommission, T‑111/08, EU:T:2012:260, Rn. 323 und die dort angeführte Rechtsprechung).
311 Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 ausdrücklich angibt, inwieweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallende Sachverhalte gilt. Die Kommission kann den beteiligten Unternehmen gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 jede Abhilfemaßnahme struktureller oder verhaltensorientierter Art vorschreiben, die im Verhältnis zu der festgestellten Zuwiderhandlung steht und für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung erforderlich ist (Urteil vom 29. Juni 2010, Kommission/Alrosa, C‑441/07 P, EU:C:2010:377, Rn. 39).
312 Zwar ist die Kommission befugt, die Zuwiderhandlung festzustellen und den betroffenen Parteien die Abstellung aufzugeben, es steht ihr indessen nicht zu, den Parteien bezüglich der verschiedenen möglichen, allesamt dem Vertrag entsprechenden Verhaltensweisen ihre eigene Wahl aufzuzwingen (Urteil vom 18. September 1992, Automec/Kommission, T‑24/90, EU:T:1992:97, Rn. 52) oder die genauen Modalitäten der Durchführung der verschiedenen möglichen Verhaltensweisen festzulegen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 20. November 2008, SIAE/Kommission, T‑433/08 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2008:520, Rn. 37).
313 Im vorliegenden Fall wurde durch den angefochtenen Beschluss nicht nur gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 eine Geldbuße in Höhe von 27873000 Euro gegen die Klägerin verhängt, sondern der Klägerin wurde auch gemäß Art. 7 dieser Verordnung aufgegeben, die Zuwiderhandlung einzustellen und der Kommission innerhalb von drei Monaten mitzuteilen, welche Maßnahmen die Klägerin zu diesem Zweck vorschlägt (395. Erwägungsgrund und Art. 3 des angefochtenen Beschlusses). Insbesondere stellte die Kommission im 394. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass durch mehrere strukturelle oder verhaltensbezogene Lösungen eine Abstellung der Zuwiderhandlung ermöglicht werden könne, indem die Wettbewerbssituation von vor der Entfernung des Gleisabschnitts wiederhergestellt werde, entweder durch Neubau des Gleisabschnitts oder durch Beseitigung der in Nr. 7.4.2 des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils.
314 Somit wurde der Klägerin im angefochtenen Beschluss aufgegeben, die Zuwiderhandlung wirksam abzustellen, und da im angefochtenen Beschluss davon ausgegangen wurde, dass insoweit mehrere strukturelle oder verhaltensbezogene Lösungen relevant sein könnten, wurden – wie die Klägerin einräumt – zwei Optionen vorgeschlagen, nämlich der Neubau des Gleisabschnitts und die Beseitigung der Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils. Folglich sah der angefochtene Beschluss in Übereinstimmung mit der oben in den Rn. 311 und 312 angeführten Rechtsprechung mehrere geeignete Abhilfemaßnahmen für die Abstellung der Zuwiderhandlung vor, ohne die Entscheidung für eine bestimmte Abhilfemaßnahme vorwegzunehmen. Indem die Kommission die Klägerin nämlich aufforderte, Abhilfemaßnahmen vorzuschlagen, überließ sie ihr die Entscheidung über die Art und Weise der Abstellung der Zuwiderhandlung. Insbesondere überließ die Kommission der Klägerin die Entscheidung darüber, wie sie die Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils beseitigen würde, sofern sie sich nicht für die Option entschied, den Gleisabschnitt neu zu bauen.
315 Die Klägerin macht als Erstes geltend, die zweite Option, d. h. die Beseitigung der Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils, sei nicht praktikabel gewesen. Die Beseitigung dieser Nachteile und insbesondere der Abhängigkeit der LDZ von der Klägerin als vertikal integrierter, etablierter Betreiberin impliziere eine Entflechtung der Klägerin, bei der ihre Funktionen als Betreiberin von Eisenbahninfrastrukturen an Dritte veräußert würden und sie nur die Tätigkeiten als Anbieterin von Schienentransportdiensten beibehalten würde. Eine solche Entflechtung setze voraus, dass das litauische Parlament neue Rechtsvorschriften verabschiede, worauf die Klägerin keinen Einfluss habe. Zudem sei sie in einem solchen Szenario nicht wirtschaftlich überlebensfähig, da sie dem Wettbewerbsdruck von Schienengüterverkehrsunternehmen aus Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ausgesetzt wäre. Aus diesem Grund sei der Neubau des Gleisabschnitts die einzig praktikable Option gewesen. In ihrer Erwiderung ergänzt die Klägerin, dass ein Tätigwerden des Gesetzgebers auch erforderlich sei, um sie von ihrer Zuständigkeit zu entbinden, dem VGI gemäß Art. 24 Nr. 6 des Schienentransportgesetzes eine technische Evaluierung vorzulegen.
316 Wie bereits oben in Rn. 314 festgestellt, hat die Kommission im Einklang mit der oben in Rn. 312 angeführten Rechtsprechung die konkreten Modalitäten zur Beseitigung der Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils für den Fall, dass sich die Klägerin nicht für den Neubau des Gleisabschnitts entschieden hätte, weder angeordnet noch festgelegt. Insbesondere hat die Kommission weder eine Entflechtung des Unternehmens noch die Verabschiedung neuer Rechtsvorschriften verlangt.
317 Jedenfalls ist mit der Kommission festzustellen, dass das Vorbringen der Klägerin nicht belegt ist, wonach die Beseitigung der Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils zwangsläufig eine vollständige Eigentumsentflechtung erfordere. Selbst wenn erwiesen wäre, dass die Kommission im Verwaltungsverfahren eine solche Eigentumsentflechtung als Voraussetzung für eine Entscheidung bezüglich Verpflichtungszusagen gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 verlangte, beweist dieser Umstand nicht, dass die Entflechtung die einzige Möglichkeit gewesen wäre, die Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils und insbesondere die Abhängigkeit von LDZ in Bezug auf die Klägerin zu beseitigen. Gleiches gilt für den aufgrund der Einflussnahmen verschiedener Interessengruppen gescheiterten ursprünglichen Vorschlag der Kommission im Rahmen des Vierten Eisenbahnpakets, eine strikte Trennung zwischen dem Infrastrukturbetreiber und dem Eisenbahnunternehmen einzuführen. Zwar bemerkt das Europäische Parlament in seinem Dokument „Viertes Eisenbahnpaket“ vom März 2016, auf das die Klägerin Bezug nimmt, dass die finale Version des Vorschlags des Vierten Eisenbahnpakets keine Bestimmung für eine „verbindliche Entflechtung“ enthalten habe, doch fügt es hinzu, dass vertikal integrierte Unternehmen zugelassen seien, vorausgesetzt, dass der Infrastrukturverwalter vollkommen unabhängig sei und wirksame Beschlussrechte besitze. Somit wird in dem von der Klägerin selbst angeführten Dokument bestätigt, dass es eine Alternative zur totalen Eigentumsentflechtung gibt.
318 Vor dem Hintergrund der Analyse der wettbewerbswidrigen Auswirkungen, die die Kommission im angefochtenen Beschluss vornahm, stellte die Beseitigung der in Nr. 7.4.2 des angefochtenen Beschlusses beschriebenen Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils eine angemessene Abhilfemaßnahme dar, um die beanstandete Zuwiderhandlung abzustellen. Als eine der möglichen Optionen zur Beendigung der Zuwiderhandlung (394. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses) war diese Abhilfemaßnahme somit eine verhältnismäßige Maßnahme zur Abstellung der beanstandeten Zuwiderhandlung.
319 Als Zweites macht die Klägerin geltend, der Neubau des Gleisabschnitts sei eine unverhältnismäßige, beispiellose Abhilfemaßnahme.
320 Insoweit ist mit der Kommission festzustellen, dass die Abhilfemaßnahme, die aus dem Neubau des Gleisabschnitts besteht, als eine der möglichen Optionen zur Gewährleistung der Wirksamkeit des angefochtenen Beschlusses (394. Erwägungsgrund) die unmittelbare Folge der Feststellung der von der Klägerin begangenen rechtswidrigen Handlung, d. h. der Beseitigung des Gleisabschnitts, ist und lediglich die fragliche Zuwiderhandlung beendet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Mai 2012, MasterCard u. a./Kommission, T‑111/08, EU:T:2012:260, Rn. 325).
321 Dieses Ergebnis kann durch die übrigen Argumente der Klägerin nicht in Frage gestellt werden.
322 Was erstens das Argument betrifft, der Gleisabschnitt sei vor seiner Beseitigung in einem sehr schlechten Zustand gewesen, habe seit der Aussetzung des Verkehrs am 2. September 2008 nicht mehr benutzt werden können und die Kommission habe nicht geprüft, ob die Klägerin nach Art. 102 AEUV verpflichtet gewesen sei, Reparaturarbeiten vorzunehmen, so beruht dieses Argument auf einer irrigen Annahme. Dabei handelt es sich um die Annahme, die Kommission sei verpflichtet gewesen, die Nichtvornahme von Reparaturen am fraglichen Gleisabschnitt nach der Aussetzung des Verkehrs als missbräuchliches Verhalten einzustufen und die vorliegende Rechtssache im Licht der Rechtsprechung zu wesentlichen Infrastrukturen zu prüfen. Angesichts der Überlegungen, die im Rahmen der Prüfung des ersten Klagegrundes angestellt wurden, kann dieses Argument nicht durchgreifen.
323 Was zweitens das Vorbringen betrifft, der angefochtene Beschluss scheine die Klägerin zu verpflichten, in eine neue Infrastruktur zu investieren, die nur zugänglich gemacht werde, um einer Wettbewerberin zu helfen, was deutlich über eine bloße Wiederherstellung der früheren Situation hinausgehe und nicht nur beispiellos, sondern auch unverhältnismäßig sei, ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht verlangt, dass sie ihre Ressourcen in eine neue Infrastruktur investiert, die nur zugänglich gemacht wird, um einer Wettbewerberin zu helfen. Vielmehr ist dem angefochtenen Beschluss zu entnehmen, dass die Klägerin aufgrund der geltenden Regelung verpflichtet gewesen sei, gute Verkehrsbedingungen auf dem Gleisabschnitt zu gewährleisten, und dass der Staat insoweit die Finanzierung habe sicherstellen müssen. Insbesondere geht aus der nationalen Regelung hervor, dass die Klägerin verpflichtet war, alle erforderlichen Maßnahmen zur Reparatur des Gleisabschnitts zu ergreifen, einschließlich der Stellung eines Antrags bei der litauischen Regierung zwecks Bewilligung der Durchführung von Reparatur- oder Neubauarbeiten am Gleisabschnitt sowie der für die Durchführung benötigten öffentlichen Mittel. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin geht der angefochtene Beschluss somit nicht über eine bloße Wiederherstellung der früheren Situation hinaus, wenn er den Neubau des Gleisabschnitts verlangt.
324 Die Beschlüsse der Kommission, die die Klägerin anführt, um die Beispiellosigkeit der fraglichen Abhilfemaßnahme zu beweisen, können diese Feststellung nicht in Frage stellen, da die Beschlüsse im Gegensatz zur vorliegenden Rechtssache die Weigerung betreffen, Zugang zu einer wesentlichen Infrastruktur zu gewähren. Zudem ist es unerheblich, dass der Gleisabschnitt vor der Aussetzung des Verkehrs am 2. September 2008 nur von einer einzigen Kundin und nur für einen vorgeblich kleinen Teil ihrer Produktion genutzt wurde. Ebenso unerheblich ist es, dass es eine andere Strecke gibt, die diese Kundin sofort nach der Aussetzung des Verkehrs genutzt hat.
325 Ferner kann sich die Klägerin im Rahmen der Beanstandung der Unverhältnismäßigkeit der aufgegebenen Abhilfemaßnahme nicht darauf berufen, dass für den Neubau des Gleisabschnitts eine sehr hohe Investition (etwa 40 Mio. LTL im Jahr 2008) getätigt werden müsse, wodurch sie gezwungen sei, ihre sehr begrenzten Ressourcen zugunsten einer einzigen Kundin zu verwenden. Wenn die Klägerin nämlich feststellt, dass sie den Gleisabschnitt wiederherstellen muss, ohne über die erforderlichen Ressourcen zu verfügen, so ist dies nur die Folge ihres Verhaltens, d. h. ihrer Entscheidung, den Gleisabschnitt in großer Eile zu entfernen, ohne die Zustimmung des Staats einzuholen und ohne die für den Neubau benötigten Mittel zu mobilisieren.
326 Was drittens das Vorbringen der Klägerin betrifft, die Verpflichtung zum Neubau des Gleisabschnitts sei unverhältnismäßig, wenn sie nicht verlangen dürfe, dass die zwei einzigen potenziell Begünstigten der neuen Infrastruktur, d. h. Orlen und LDZ, einen fairen und angemessenen Teil der Baukosten übernähmen, ist Folgendes festzustellen.
327 Wie als Erstes aus den Erwägungsgründen 73 und 74 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hatte sich Orlen am 22. Oktober 2009 mit einem Schreiben an die Klägerin gewandt und erklärt, sie sei bereit, die Kosten für den Neubau des Gleisabschnitts zu übernehmen und zu erörtern, wie sie ihre Investition amortisieren könne. Orlen erhielt keine offizielle Antwort auf ihr Angebot und wurde nur mündlich bei einer Besprechung mit dem Vorstandsvorsitzenden der Klägerin (damals stellvertretender Minister für Verkehr und Kommunikation) darüber informiert, dass die Klägerin das Angebot ablehne. Insbesondere wies die Klägerin darauf hin, dass es gemäß dem Gesetz zur Regelung der Aktivitäten zum Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen nicht möglich sei, die Errichtung, Modernisierung und Entwicklung öffentlicher Eisenbahninfrastrukturen durch private Investitionen zu finanzieren. Ferner lieferte die Klägerin in ihrem strategischen Geschäftsplan von 2009 für den Zeitraum 2010–2012 zwei weitere Erklärungen für die Ablehnung des Angebots von Orlen. Sie wies nämlich darauf hin, dass sie zum einen für die Aufnahme eines Kredits ein offenes Ausschreibungsverfahren einleiten müsse und nicht garantiert sei, dass Orlen daraus erfolgreich hervorgehen werde, und zum anderen ihr Kreditlimit erreicht habe und ohne die Zustimmung ihrer Gläubiger keine weiteren Darlehen aufnehmen könne. Somit kann die Klägerin nicht geltend machen, die angeordnete Abhilfemaßnahme sei unverhältnismäßig gewesen, da sie nicht berechtigt gewesen sei, zu verlangen, dass sich Orlen und LDZ an den Baukosten beteiligten.
328 Als Zweites konnte die Klägerin nicht erwarten, dass die Kommission ihr die Befugnis erteilt, von Orlen und LDZ eine Beteiligung an den Baukosten zu verlangen, da ihr eine solche Befugnis ermöglicht hätte, die Vorteile des Missbrauchs in eine Vergütung umzuwandeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2012, Microsoft/Kommission, T‑167/08, EU:T:2012:323, Rn. 141 und 142). Der Vergleich, den die Klägerin zu der Rechtssache zieht, in der das Urteil vom 6. April 1995, RTE und ITP/Kommission (C‑241/91 P und C‑242/91 P, EU:C:1995:98), ergangen ist, ist insoweit nicht relevant. Der in jenem Urteil festgestellte Missbrauch betraf nämlich eine Weigerung, Zugang zu den in den Fernsehprogrammvorschauen enthaltenen Grundinformationen zu gewähren. Der Zugang wird jedoch normalerweise gegen Entrichtung einer Gebühr gewährt.
329 Somit beging die Kommission keinen Verstoß gegen Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003, als sie der Klägerin aufgab, entweder durch Neubau des Gleisabschnitts oder durch Beseitigung der Nachteile der Wettbewerber auf den Alternativstrecken zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils die Wettbewerbssituation von vor der Entfernung des Gleisabschnitts wiederherzustellen.
330 Folglich ist der fünfte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
5. Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 wegen Rechts- und Beurteilungsfehlern im angefochtenen Beschluss in Bezug auf die Festsetzung des Betrags der Geldbuße
331 Zur Stützung ihres vierten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Kommission habe mehrere Rechts- und Beurteilungsfehler begangen, als sie eine Geldbuße gegen sie verhängt habe.
332 Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen. Mit dem ersten Teil macht die Klägerin geltend, die Kommission habe einen Rechts- und Beurteilungsfehler begangen, als sie eine Geldbuße gegen sie verhängt habe. Mit dem zweiten Teil, den die Klägerin hilfsweise geltend macht und der auf die Herabsetzung der Geldbuße gerichtet ist, beanstandet die Klägerin, die Kommission habe einen Rechts- und Beurteilungsfehler begangen, da die festgesetzte Geldbuße unverhältnismäßig sei. Mit Ausnahme eines Arguments der zweiten Rüge, mit dem geltend gemacht wird, dass das Verfahren übermäßig lang gedauert habe, und das auf die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses gerichtet ist, wird der zweite Teil nachfolgend in dem Abschnitt dieses Urteils geprüft, der sich mit dem hilfsweise erhobenen Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße befasst.
333 Zur Stützung des ersten Teils ihres vierten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Kommission habe Rechts- und Beurteilungsfehler begangen, als sie eine Geldbuße gegen sie verhängt habe. Nachdem die Klägerin insoweit daran erinnert hat, dass die Kommission gemäß Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 gegen ein Unternehmen, das gegen Art. 102 AEUV verstoßen habe, eine Geldbuße festsetzen könne, ohne jedoch dazu verpflichtet zu sein, macht sie geltend, es sei unverhältnismäßig, eine Geldbuße zu verhängen, wenn ein Sachverhalt neuartig sei, was auf den vorliegenden Fall zutreffe. Insbesondere hätten die Kommission und der Gerichtshof der Europäischen Union bestätigt, dass Geldbußen in Fällen, die neuartige Schadenstheorien beträfen, nicht angemessen seien. Zudem habe die Kommission durch die Feststellung, dass der Fall Gegenstand einer Entscheidung bezüglich Verpflichtungszusagen sein könne, bestätigt, dass eine Geldbuße nicht angemessen sei.
334 Die Klägerin macht zum einen geltend, der Fall sei neuartig und ohne Präzedenz, da angenommen werde, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen verpflichtet sei, in eine Infrastruktur zu investieren, obwohl der Zugang zu dieser Infrastruktur weder grundlegend noch unerlässlich sei, um einem anderen Unternehmen zu ermöglichen, zu ihm in Wettbewerb zu treten. Zudem habe die Klägerin nicht vorhersehen können, dass Zweifel an der Schwere der Mängel des Gleisabschnitts und an ihren Absichten als ausreichend angesehen werden könnten, um eine missbräuchliche Praxis festzustellen.
335 Zum anderen tritt die Klägerin der Feststellung entgegen, sie habe mindestens fahrlässig gehandelt. Die Entscheidung, den Gleisabschnitt zu beseitigen, sei in gutem Glauben und mit der Absicht, ihn später neu zu bauen, getroffen worden. Aufgrund der Neuartigkeit der Theorie, auf die sich der angefochtene Beschluss stütze, sei das Vorliegen einer Absicht, eine Zuwiderhandlung zu begehen, oder einer dahin gehenden Fahrlässigkeit ausgeschlossen.
336 Mit der zweiten Rüge des zweiten Teils ihres vierten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Kommission habe Rechts- und Beurteilungsfehler in Bezug auf die Dauer der angeblichen Zuwiderhandlung begangen, als sie festgestellt habe, dass die Zuwiderhandlung mindestens mit Beginn der Arbeiten zur Beseitigung des Gleisabschnitts im Oktober 2008 eingesetzt habe und zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses noch angedauert habe. Die Klägerin beruft sich als Erstes darauf, dass die fragliche Zuwiderhandlung frühestens zu dem Zeitpunkt habe beginnen können, als sie entschieden habe, das Vorhaben des Neubaus nicht weiter zu verfolgen, d. h. nach der schiedsgerichtlichen Entscheidung vom 17. Dezember 2010. Als Zweites macht die Klägerin geltend, das Verwaltungsverfahren vor der Kommission habe übermäßig lange gedauert, was zum einen die Dauer der angeblichen Zuwiderhandlung in unangemessener Weise verlängert und zum anderen ihre Verteidigungsrechte verletzt habe, da einige ihrer Angestellten, die am Entscheidungsprozess beteiligt gewesen seien, in diesem Zeitraum das Unternehmen verlassen hätten, was die Vorbereitung ihrer Klage beeinträchtigt habe. Folglich sei der Betrag der Geldbuße erheblich herabzusetzen.
337 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
a)
Zur ersten Rüge des ersten Teils: Neuartigkeit der dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegenden Rechtslehre
338 Mit ihrer ersten Rüge macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, das im angefochtenen Beschluss beanstandete Verhalten stelle eine neue Missbrauchskategorie dar, deren Rechtswidrigkeit ihr nicht bekannt gewesen sei.
339 Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass sich das Vorbringen der Klägerin zu der von ihr behaupteten Neuartigkeit des beanstandeten missbräuchlichen Verhaltens auf eine fehlerhafte Auslegung des angefochtenen Beschlusses stützt. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin und wie bereits dargelegt, wurde die Klägerin durch den angefochtenen Beschluss nicht verpflichtet, in eine Infrastruktur zu investieren, die weder grundlegend noch unerlässlich ist, um einer Wettbewerberin zu ermöglichen, zu ihr in Wettbewerb zu treten. Ebenso wenig wurde die Klägerin als Unternehmen in marktbeherrschender Stellung verpflichtet, eine Wettbewerberin nur zur Verringerung ihrer Risiken des Markteintritts finanziell zu unterstützen. Wie bereits mehrfach festgestellt, vertrat die Kommission im angefochtenen Beschluss zu Recht die Auffassung, dass die Klägerin, als sie den Gleisabschnitt in großer Eile entfernte, ohne die erforderlichen Mittel zu mobilisieren und ohne die normalen Vorbereitungen für den Neubau zu treffen (Erwägungsgründe 182 bis 201 des angefochtenen Beschlusses), ein missbräuchliches Verhalten an den Tag legte, das darin bestand, von anderen Mitteln als denjenigen eines normalen Wettbewerbs Gebrauch zu machen. Darüber hinaus stellte die Kommission fest, dass dieses Verhalten geeignet sei, potenzielle wettbewerbswidrige Auswirkungen in Form des Ausschlusses von Wettbewerb auf dem Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte zwischen der Raffinerie und den benachbarten Seehäfen hervorzurufen, da Hindernisse für den Markteintritt errichtet würden, ohne dass dies objektiv gerechtfertigt sei. Die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens wie desjenigen der Klägerin, das darauf gerichtet ist, die Konkurrenten vom Markt fernzuhalten, ist jedoch mehrfach von den Unionsgerichten für rechtswidrig erklärt worden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, AstraZeneca/Kommission, C‑457/10 P, EU:C:2012:770, Rn. 164). Folglich kann die Missbräuchlichkeit eines solchen Verhaltens nicht als neu bezeichnet werden.
340 Als Zweites schließt der Umstand, dass das von der Kommission beanstandete Verhalten als neu eingestuft werden könnte, die Verhängung einer Geldbuße nicht aus. Das Gericht hat nämlich bereits festgestellt, dass die Kommission zwar in manchen Rechtssachen wegen fehlender Präzedenzfälle keine oder eine symbolische Geldbuße festgesetzt hat, in anderen Rechtssachen jedoch hohe Geldbußen auferlegt hat, auch wenn es keine Präzedenzfälle bezüglich eines Verhaltens mit den gleichen Merkmalen gab (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2017, Marine Harvest/Kommission, T‑704/14, EU:T:2017:753, Rn. 392). Zudem ist klarzustellen, dass der Beschluss K(2014) 2892 final der Kommission vom 29. April 2014 in einem Verfahren nach Artikel 102 [AEUV] und Artikel 54 des EWR-Abkommens (Sache AT.39985 – Motorola – Durchsetzung standardessenzieller GPRS-Patente, Rn. 561), den die Klägerin zur Untermauerung ihres Vorbringens anführt, nicht relevant erscheint. Dieser Beschluss stützt sich nämlich nicht nur auf den Umstand, dass das fragliche Verhalten niemals zuvor vom Unionsrichter als missbräuchlich eingestuft worden war, sondern auch auf die Tatsache, dass die nationalen Gerichte zu dieser Frage unterschiedliche Auffassungen vertreten hatten.
341 Zudem kann nach der Rechtsprechung der Umstand, dass es sich um eine neue Form des Missbrauchs handelt, weder die Schwere einer Zuwiderhandlung in Frage stellen noch zu einer Herabsetzung der Geldbuße führen. Insbesondere im Bereich der Berechnung von Geldbußen hat das Gericht bereits festgestellt, dass die Tatsache, dass ein Verhalten mit diesen Merkmalen in früheren Entscheidungen noch nicht geprüft worden ist, das Unternehmen nicht von seiner Verantwortung befreit (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November 1983, Nederlandsche Banden‑Industrie-Michelin/Kommission, 322/81, EU:C:1983:313, Rn. 107, und vom 1. Juli 2010, AstraZeneca/Kommission, T‑321/05, EU:T:2010:266, Rn. 901 bis 903).
342 Nach alledem ist die erste Rüge des ersten Teils zurückzuweisen.
b)
Zur zweiten Rüge des ersten Teils: keine Fahrlässigkeit der Klägerin
343 Was die zweite Rüge betrifft, mit der geltend gemacht wird, dass die Klägerin nicht mindestens fahrlässig gehandelt habe, stellte die Kommission im 371. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass unter Zugrundelegung des im angefochtenen Beschluss dargelegten Sachverhalts und der darin enthaltenen Bewertung die Zuwiderhandlung entweder mit der Absicht, Wettbewerber fernzuhalten, oder mindestens fahrlässig begangen worden sei, da die Klägerin außer Acht gelassen habe, dass sie durch die Beseitigung des Gleisabschnitts den Wettbewerb auf dem Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte zwischen der Raffinerie und den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils behindern würde.
344 Die Klägerin tritt dieser Feststellung entgegen und macht im Wesentlichen geltend, sie habe, als sie ihre Entscheidung für die Option 2 durch die Beseitigung des Gleisabschnitts als notwendige erste Phase dieser Option umgesetzt habe, gutgläubig und in der Absicht gehandelt, den Gleisabschnitt später wieder aufzubauen.
345 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Voraussetzung, der zufolge die Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde, dann erfüllt, wenn sich das betroffene Unternehmen über die Wettbewerbswidrigkeit seines Verhaltens nicht im Unklaren sein kann, gleichviel, ob ihm dabei bewusst ist, dass es gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrags verstößt. Einem Unternehmen ist die Wettbewerbswidrigkeit seines Verhaltens bekannt, wenn ihm die materiellen Tatsachen bekannt waren, die es rechtfertigen, sowohl eine beherrschende Stellung auf dem relevanten Markt anzunehmen als auch in diesem Verhalten – wie dies die Kommission getan hat – einen Missbrauch dieser Stellung zu sehen (Urteil vom 29. März 2012, Telefónica und Telefónica de España/Kommission, T‑336/07, EU:T:2012:172, Rn. 319 und 320; vgl. auch Urteil vom 13. Juli 2018, Stührk Delikatessen Import/Kommission, T‑58/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:474, Rn. 226 und die dort angeführte Rechtsprechung).
346 Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung kann es für einen umsichtigen Unternehmer nicht zweifelhaft sein, dass bedeutende Marktanteile zwar nicht notwendig und immer das allein ausschlaggebende Indiz für das Vorliegen einer beherrschenden Stellung sind, dass ihnen aber in dieser Hinsicht eine beträchtliche Bedeutung zukommt, die er in seinem Marktverhalten notwendigerweise berücksichtigen muss (Urteil vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche/Kommission, 85/76, EU:C:1979:36, Rn. 133). Somit konnte sich LG als etabliertes Eisenbahnunternehmen und Betreiberin der einzigen vorhandenen Infrastruktur in Litauen für die Erbringung von Schienenfrachttransportdiensten nicht in Unkenntnis darüber befinden, dass sie auf den relevanten Märkten eine beherrschende Stellung innehatte.
347 Zudem sind die Absicht und die behauptete Gutgläubigkeit der Klägerin nicht relevant für eine Widerlegung der Feststellung, dass die fragliche Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde, und aus diesem Grund kann gegen die Klägerin eine Geldbuße im Sinne von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verhängt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. April 1995, Boël/Kommission, T‑142/89, EU:T:1995:63, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung). Als sorgfältige Wirtschaftsteilnehmerin hätte LG mit den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts vertraut sein und gegebenenfalls fachkundigen Rat einholen müssen, um unter den Umständen des konkreten Falls angemessen zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung wie vorliegend der Beseitigung des Gleisabschnitts ergeben können. Das gilt insbesondere für Gewerbetreibende, die sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit gewöhnlich sehr umsichtig verhalten müssen. Von ihnen kann daher erwartet werden, dass sie die Risiken ihrer Tätigkeit besonders sorgfältig beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2012, Telefónica und Telefónica de España/Kommission, T‑336/07, EU:T:2012:172, Rn. 323 und die dort angeführte Rechtsprechung).
348 Folglich konnte sich die Klägerin nicht in Unkenntnis darüber befinden, dass die fragliche Praxis schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen zur Folge haben konnte, insbesondere angesichts ihrer gesetzlichen oder tatsächlichen Monopolstellung auf den relevanten Märkten, so dass die Kommission zu Recht der Auffassung war, dass die fragliche Zuwiderhandlung mindestens fahrlässig begangen wurde und daher die Verhängung einer Geldbuße gerechtfertigt war.
349 Überdies kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, dass die dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegende Theorie neuartig sei und daher eine Zuwiderhandlungsabsicht oder eine fahrlässige Zuwiderhandlung ausgeschlossen sei. Dieses Vorbringen ist nämlich nur darauf gerichtet, nachzuweisen, dass ihr die Rechtswidrigkeit des im angefochtenen Beschluss beanstandeten Verhaltens im Hinblick auf Art. 102 AEUV nicht bekannt gewesen sei. Folglich ist das Vorbringen im Einklang mit der oben in Rn. 341 angeführten Rechtsprechung zurückzuweisen. Jedenfalls konnte sich die Klägerin im vorliegenden Fall aus den oben in Rn. 339 dargelegten Gründen nicht über die Wettbewerbswidrigkeit ihres Verhaltens im Unklaren sein.
350 Somit beging die Kommission keine Rechts- oder Beurteilungsfehler, als sie feststellte, dass die Klägerin mindestens fahrlässig gehandelt habe (371. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
351 Dieses Ergebnis wird zudem nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Kommission im Verwaltungsverfahren der Auffassung war, der Fall könne Gegenstand einer Entscheidung bezüglich Verpflichtungszusagen sein. Wie die Kommission nämlich hervorhebt, kann aus dem Umstand, dass sie im Rahmen des Verwaltungsverfahrens möglicherweise in Erwägung gezogen hätte, von der Klägerin angebotene Verpflichtungszusagen zur Vermeidung einer Geldbuße zu akzeptieren, nicht gefolgert werden, dass sie die Festsetzung einer Geldbuße für unangemessen hielt, sondern nur, dass sie die Möglichkeit nicht ausschloss, keine Zuwiderhandlung festzustellen und keine Geldbuße zu verhängen. Folglich hinderte dieser Umstand die Kommission nicht daran, letztlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass das Vorliegen einer Zuwiderhandlung festgestellt werden müsse und eine Geldbuße zu verhängen sei.
352 Nach alledem ist die zweite Rüge und somit der erste Teil des vierten Klagegrundes zurückzuweisen.
c)
Zur zweiten Rüge des zweiten Teils, soweit sie die beanstandete übermäßige Dauer des Verfahrens betrifft
353 Was das Vorbringen zur beanstandeten übermäßigen Dauer des Verwaltungsverfahrens betrifft, macht die Klägerin zum einen geltend, die übermäßige Dauer habe ihre Verteidigungsrechte verletzt, und zum anderen ist sie der Auffassung, dass die übermäßige Dauer zu einer Herabsetzung der im angefochtenen Beschluss gegen sie verhängten Geldbuße führen müsse.
354 Vorab ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Einhaltung eines angemessenen Zeitraums bei der Abwicklung eines Verwaltungsverfahrens auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, dessen Wahrung die Unionsgerichte zu sichern haben (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, C‑452/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:829, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
355 Der Grundsatz der angemessenen Frist im Rahmen von Verwaltungsverfahren ist in Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt worden, wonach „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“ (vgl. Urteil vom 5. Juni 2012, Imperial Chemical Industries/Kommission, T‑214/06, EU:T:2012:275, Rn. 284 und die dort angeführte Rechtsprechung).
356 Zudem geht aus der Rechtsprechung hervor, dass der Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Frist zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen kann, wenn er potenzielle Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2006, Technische Unie/Kommission, C‑113/04 P, EU:C:2006:593, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
357 Was die Anwendung der Wettbewerbsregeln betrifft, kann die Überschreitung der angemessenen Frist nur dann einen Grund für die Nichtigerklärung von Entscheidungen zur Feststellung von Zuwiderhandlungen darstellen, sofern erwiesen ist, dass der Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Frist die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen beeinträchtigt hat. Außerhalb dieser besonderen Fallgestaltung wirkt sich die Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 aus (Urteil vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, C‑105/04 P, EU:C:2006:592, Rn. 42).
358 Selbst wenn man daher unterstellt, dass eine übermäßige Gesamtdauer des Verwaltungsverfahrens und eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Frist festgestellt wurden, würde eine solche Feststellung angesichts der oben in den Rn. 356 und 357 angeführten Rechtsprechung für sich allein nicht ausreichen, um den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären.
359 Zudem ist entschieden worden, dass die übermäßige Dauer des ersten Abschnitts des Verwaltungsverfahrens Auswirkungen auf die künftigen Verteidigungsmöglichkeiten der betroffenen Unternehmen haben kann, insbesondere indem sie die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte verringert, wenn diese im zweiten Verfahrensabschnitt geltend gemacht werden, da Zeit vergeht und es aus diesem Grund schwierig wird, Entlastungsbeweise zu sammeln. In einem solchen Fall müssen die betroffenen Unternehmen jedoch in rechtlich hinreichender Weise dartun, dass sie Schwierigkeiten hatten, sich gegen die Vorwürfe der Kommission zu verteidigen, und genau benennen, welche Dokumente oder Zeugenaussagen sie nicht mehr in Anspruch nehmen können und warum dies ihre Verteidigung beeinträchtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2006, Technische Unie/Kommission, C‑113/04 P, EU:C:2006:593, Rn. 54 und 60 bis 71, sowie vom 29. März 2011, ArcelorMittal Luxembourg/Kommission und Kommission/ArcelorMittal Luxembourg u. a., C‑201/09 P und C‑216/09 P, EU:C:2011:190, Rn. 118).
360 Im vorliegenden Fall hat sich die Klägerin zwar auf Schwierigkeiten berufen, bestimmte Entlastungsbeweise zusammenzutragen, diese Behauptung jedoch nicht mit konkreten Angaben untermauert. Zwar hat sie angegeben, zu welchem Zeitpunkt die betroffenen Angestellten aus dem Unternehmen ausgeschieden sind, doch hat sie nicht dargelegt, warum genau es für die Ausübung der Verteidigungsrechte unabdingbar gewesen wäre, Auskünfte von den genannten Personen zu erhalten, und vor allem, aufgrund welcher Umstände es nicht mehr möglich war, Auskünfte von diesen Personen zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2011, Bavaria/Kommission, T‑235/07, EU:T:2011:283, Rn. 331).
361 Daher ist festzustellen, dass die Klägerin nicht dargetan hat, dass eine Beeinträchtigung ihrer Verteidigungsrechte vorliegt, die auf der übermäßigen Dauer des Verwaltungsverfahrens beruht.
362 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist die zweite Rüge des zweiten Teils des vierten Klagegrundes zurückzuweisen, soweit sie die beanstandete übermäßige Dauer des Verwaltungsverfahrens betrifft.
363 Aus alledem ergibt sich, dass der Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses vollumfänglich zurückzuweisen ist.
B. Zum hilfsweise gestellten Antrag in Bezug auf den Betrag der Geldbuße
364 Mit ihrem zweiten Klageantrag beantragt die Klägerin hilfsweise, die Höhe der ihr gemäß Art. 2 des angefochtenen Beschlusses auferlegten Geldbuße herabzusetzen, da ein unverhältnismäßiger Betrag festgesetzt worden sei. Sie beanstandet erstens den Prozentsatz des Umsatzes, den die Kommission gemäß der Schwere der Zuwiderhandlung feststellte, zweitens die Dauer der Zuwiderhandlung und drittens die Entscheidung, dem Grundbetrag zur Abschreckung einen zusätzlichen Betrag hinzuzurechnen. Die Klägerin beanstandet die Höhe der Geldbuße unter Berufung auf einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und beantragt, die Höhe der ihr auferlegten Geldbuße herabzusetzen.
1. Zu den Rügen betreffend die Verhältnismäßigkeit des Betrags der Geldbuße
a)
Zur ersten Rüge: Unverhältnismäßigkeit des von der Kommission festgestellten Schwerekoeffizienten von [vertraulich] %
365 Zur Stützung der ersten Rüge macht die Klägerin geltend, der von der Kommission festgestellte Schwerekoeffizient von [vertraulich] % sei unverhältnismäßig und es fehle an einer Begründung in Bezug auf die Art oder Schwere des beanstandeten Verhaltens. Als Erstes beruft sich die Klägerin auf die Neuartigkeit des fraglichen Verhaltens. Als Zweites macht sie geltend, da der Verkehr auf dem Gleisabschnitt bereits ab seiner Aussetzung am 2. September 2008 nicht mehr möglich gewesen sei, habe die Beseitigung des Gleisabschnitts weder eine Verdrängungswirkung noch eine sonstige negative Auswirkung auf die weitere Konsolidierung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums gehabt, auf die sich die Kommission im angefochtenen Beschluss berufe. Als Drittes bestehe keine Gewissheit hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass die notwendigen Reparaturarbeiten tatsächlich vorgenommen worden wären, wenn der Gleisabschnitt nicht beseitigt worden wäre. Als Viertes sei der festgestellte Schwerekoeffizient im Licht der Praxis der Kommission in vergleichbaren, die Anwendung von Art. 102 AEUV betreffenden Fällen unverhältnismäßig.
366 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 377 bis 380 des angefochtenen Beschlusses bei der Ermittlung des Schweregrads der fraglichen Zuwiderhandlung die folgenden vier Gesichtspunkte berücksichtigte:
–
erstens die Art der Zuwiderhandlung, insbesondere den Umstand, dass das aus der Beseitigung eines zwischen zwei Mitgliedstaaten befindlichen öffentlichen Gleisabschnitts bestehende Verhalten die Konsolidierung des Binnenmarkts beeinträchtige, insbesondere des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums;
–
zweitens die Lage auf den relevanten Märkten der Klägerin, d. h. den Umstand, dass die Klägerin die einzige Anbieterin der Dienste in Litauen war, und zwar sowohl auf dem vorgelagerten Markt für den Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen in Litauen als auch auf dem nachgelagerten Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte;
–
drittens die geografische Tragweite der Zuwiderhandlung, welche die Eisenbahnverbindungen zwischen der Raffinerie und den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils in zwei Mitgliedstaaten betraf, nämlich Litauen und Lettland;
–
viertens die Modalitäten der tatsächlichen Durchführung der Zuwiderhandlung, d. h. dass das missbräuchliche Verhalten der Beseitigung des Gleisabschnitts am 3. Oktober 2008 begonnen hatte.
367 Im 381. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses nahm die Kommission zunächst eine Abwägung zwischen der begrenzten geografischen Reichweite der Zuwiderhandlung zum einen und zum anderen den sehr großen Marktanteilen der Klägerin sowie der negativen Auswirkung der fraglichen Zuwiderhandlung auf die Konsolidierung des Binnenmarkts vor und stellte sodann fest, dass der Anteil der Umsätze, die gemäß der Schwere zu berücksichtigen seien, [vertraulich] % betrage, was sie zur Festsetzung einer Geldbuße in Höhe von [vertraulich] Euro veranlasste.
368 Was im vorliegenden Fall als Erstes den Umstand betrifft, dass sich die Klägerin auf das Vorbringen im Rahmen des ersten Teils des vierten Klagegrundes zur vorgeblichen Neuartigkeit und Beispiellosigkeit der Rechtssache beruft, um die behauptete Unverhältnismäßigkeit des von der Kommission festgestellten Schwerekoeffizienten von [vertraulich] % zu beanstanden, genügt die Feststellung, dass die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens wie desjenigen der Klägerin, das darauf gerichtet ist, die Konkurrenten vom Markt fernzuhalten, mehrfach von den Unionsgerichten für rechtswidrig erklärt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, AstraZeneca/Kommission, C‑457/10 P, EU:C:2012:770, Rn. 164), wie bereits oben in Rn. 339 dargelegt. Folglich kann dieses Verhalten nicht als neuartig angesehen werden, und die Klägerin kann nicht mit Erfolg geltend machen, dass es sich um eine neue Missbrauchskategorie handle, deren Rechtswidrigkeit ihr nicht bekannt gewesen sei. Die hierzu vorgetragenen Argumente der Klägerin können daher nicht zu dem Schluss führen, dass der Schwerekoeffizient von [vertraulich] % unverhältnismäßig ist.
369 Was als Zweites das Vorbringen betrifft, die Beseitigung des Gleisabschnitts habe weder eine Verdrängungswirkung noch eine sonstige negative Auswirkung auf die weitere Konsolidierung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums gehabt, hat die Kommission, wie oben in Rn. 233 dargelegt, im angefochtenen Beschluss mit Recht festgestellt, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts als solche, unabhängig von der zuvor erfolgten Aussetzung des Verkehrs auf dem Gleisabschnitt, geeignet war, wettbewerbswidrige Auswirkungen auf dem Markt zu entfalten. Insbesondere ergibt sich aus der Prüfung des zweiten Klagegrundes, dass, wie die Kommission im angefochtenen Beschluss feststellte, die Beseitigung des Gleisabschnitts zu einer Abschottung des Markts der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte von der Raffinerie zu den Seehäfen Klaipėda, Riga und Ventspils führte. Unter diesen Umständen kann sich die Klägerin, um die Unverhältnismäßigkeit des Schwerekoeffizienten von [vertraulich] % nachzuweisen, nicht mit Erfolg darauf berufen, es habe keine Ausschlusswirkung oder negative Auswirkungen gegeben.
370 Außerdem macht die Klägerin zu Unrecht geltend, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts weder eine Verdrängungswirkung noch eine sonstige negative Auswirkung auf die weitere Konsolidierung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums gehabt habe. Wie die Kommission im 361. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausführt, ist die Beseitigung eines zwei Mitgliedstaaten (vorliegend die Republik Litauen und die Republik Lettland) verbindenden Gleisabschnitts von 19 km, die ohne objektive Rechtfertigung erfolgt und geeignet ist, eine wichtige Kundin daran zu hindern, die Dienste eines anderen Eisenbahnunternehmens in Anspruch zu nehmen, eine Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten sowie ein Verhalten, das den Zielen zu widersprechen scheint, die der Konsolidierung des Binnenmarkts für Schienenverkehrsdienstleistungen und insbesondere des Schienengüterverkehrsmarkts der Union zugrunde liegen. Die Konsolidierung dieses Marktes wäre nämlich erschwert, wenn sich ein Eisenbahnunternehmen in marktbeherrschender Stellung vor Wettbewerbern schützen könnte, indem es ohne objektive Rechtfertigung öffentliche Eisenbahninfrastrukturen beseitigt, die zwei Mitgliedstaaten verbinden.
371 Somit beging die Kommission keinen Fehler, als sie im 381. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angesichts der Art der Zuwiderhandlung und insbesondere des Umstands, dass die Beseitigung eines zwischen zwei Mitgliedstaaten befindlichen Gleisabschnitts die Konsolidierung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums beeinträchtige, und unter Berücksichtigung der begrenzten geografischen Tragweite der Zuwiderhandlung feststellte, dass der Anteil der Umsätze, der gemäß der Schwere zu berücksichtigen sei, im vorliegenden Fall [vertraulich] % betragen könne.
372 Was als Drittes das Vorbringen betrifft, der Schwerekoeffizient von [vertraulich] % sei auch im Licht der Praxis der Kommission in vergleichbaren, die Anwendung von Art. 102 AEUV betreffenden Fällen unverhältnismäßig und verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung die frühere Entscheidungspraxis der Kommission nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen bilden kann und Entscheidungen in anderen Fällen nur Hinweischarakter in Bezug auf das eventuelle Vorliegen eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz haben, da es wenig wahrscheinlich ist, dass die für sie kennzeichnenden Umstände wie die Märkte, die Waren, die Unternehmen und die betroffenen Zeiträume die gleichen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 2006, JCB Service/Kommission, C‑167/04 P, EU:C:2006:594, Rn. 201 und 205; vom 7. Juni 2007, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, C‑76/06 P, EU:C:2007:326, Rn. 60, und vom 16. Juni 2011, Caffaro/Kommission, T‑192/06, EU:T:2011:278, Rn. 46).
373 Wie jedes Organ bei all seinen Tätigkeiten hat indessen die Kommission, wenn sie eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsvorschriften gegen ein Unternehmen festsetzt, den Grundsatz der Gleichbehandlung zu beachten, der es verbietet, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln, sofern dies nicht objektiv gerechtfertigt ist. Gleichwohl können frühere Geldbußenentscheidungen der Kommission im Hinblick auf die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung nur relevant sein, wenn dargetan wird, dass die diesen Entscheidungen zugrunde liegenden tatsächlichen Gegebenheiten wie die Märkte, die Erzeugnisse, die Länder, die Unternehmen und die betroffenen Zeiträume die gleichen sind wie im vorliegenden Fall (vgl. Urteil vom 29. Juni 2012, E.ON Ruhrgas und E.ON/Kommission, T‑360/09, EU:T:2012:332, Rn. 261 und 262 und die dort angeführte Rechtsprechung).
374 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin aber nicht dargetan, dass die tatsächlichen Gegebenheiten, die den früheren Entscheidungen, auf die sie sich beruft, zugrunde lagen, die gleichen wären wie im vorliegenden Fall. Die Klägerin beruft sich nämlich auf den Beschluss der Kommission vom 20. September 2016 in einem Verfahren nach Artikel 102 AEUV und Artikel 54 des EWR-Abkommens (Sache AT.39759 – Marktabschottung durch ARA). Dieser Beschluss betraf jedoch ein missbräuchliches Verhalten, das entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht dem Verhalten vergleichbar ist, das Gegenstand der vorliegenden Rechtssache ist. Jene frühere Rechtssache betraf nämlich eine Weigerung, Zugang zu einer grundlegenden Infrastruktur zu gewähren, während im vorliegenden Fall die Prüfung des ersten Klagegrundes ergeben hat, dass die Beseitigung des Gleisabschnitts mit dem Ziel, Wettbewerber vom Markt fernzuhalten, indem ihnen der Zugang zum Markt zu weniger vorteilhaften Bedingungen gewährt wurde, nicht als eine solche Weigerung angesehen werden kann. Was die Entscheidung der Kommission vom 13. Mai 2009 in einem Verfahren nach Artikel [102 AEUV] und Artikel 54 EWR-Abkommen (Sache COMP/C‑3/37.990 – Intel) betrifft, hat die Klägerin, indem sie hervorhob, dass das in jener Entscheidung beanstandete Verhalten bedingte Rabatte betraf, selbst dargetan, dass die tatsächlichen Gegebenheiten jener Rechtssache nicht mit denjenigen des vorliegenden Falls vergleichbar sind. Folglich sind diese Entscheidungen im Hinblick auf die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht relevant.
375 Nach alledem verstieß die Kommission nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, als sie den Anteil der Umsätze, die als Schwerefaktor zur Bestimmung des Grundbetrags der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße dienten, auf [vertraulich] % festsetzte.
b)
Zur zweiten Rüge, soweit sie die übermäßige Dauer der Zuwiderhandlung infolge einer fehlerhaften Wahl des Zeitpunkts ihres Beginns betrifft
376 Was das Vorbringen betrifft, mit dem die Dauer der Zuwiderhandlung aufgrund des von der Kommission gewählten Zeitpunkts ihres Beginns beanstandet wird, ist daran zu erinnern, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss, nachdem sie festgestellt hatte, dass die Zuwiderhandlung am 3. Oktober 2008 begonnen und bei Erlass des angefochtenen Beschlusses noch angedauert habe, den Multiplikator, der auf den Anteil der Umsätze anzuwenden war, auf neun festsetzte.
377 Insoweit genügt die Feststellung, dass das Vorbringen der Klägerin, sie habe erst nach der schiedsgerichtlichen Entscheidung vom 17. Dezember 2010 entschieden, den Gleisabschnitt nicht neu zu bauen, bereits im Rahmen der Prüfung des zweiten Klagegrundes zurückgewiesen worden ist. Folglich kann sich die Klägerin nicht auf die schiedsgerichtliche Entscheidung berufen, um geltend zu machen, dass sie nicht mehr zum Neubau des Gleisabschnitts verpflichtet gewesen sei.
378 Folglich stellte die Kommission im angefochtenen Beschluss zu Recht fest, dass die Zuwiderhandlung am 3. Oktober 2008 begann, als die Klägerin anfing, den Gleisabschnitt zu beseitigen, und dass, unabhängig von der Aussetzung des Verkehrs, die Beseitigung des Gleisabschnitts geeignet war, wettbewerbswidrige Auswirkungen zu entfalten. Somit beging die Kommission keinen Fehler, als sie bei der Berücksichtigung der Dauer der Zuwiderhandlung den auf den Anteil der Umsätze anzuwendenden Multiplikator auf neun festsetzte.
379 Was den Antrag der Klägerin betrifft, die ihr auferlegte Geldbuße wegen der überlangen Dauer des Verwaltungsverfahrens erheblich herabzusetzen, genügt für dessen Zurückweisung der Hinweis, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Verletzung des Grundsatzes der Einhaltung einer angemessenen Frist durch die Kommission zwar die Nichtigerklärung einer am Ende eines auf die Art. 101 und 102 AEUV gestützten Verwaltungsverfahrens ergangenen Entscheidung der Kommission rechtfertigen kann, sofern sie auch eine Verletzung der Verteidigungsrechte des betroffenen Unternehmens mit sich bringt, ein solcher Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Frist – sein Vorliegen unterstellt – jedoch nicht zu einer Herabsetzung der verhängten Geldbuße führen kann (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑644/13 P, EU:C:2017:59, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
380 Darüber hinaus ist ebenfalls entschieden worden, dass eine auf der Grundlage der Art. 268 und 340 Abs. 2 AEUV gegen die Union erhobene Schadensersatzklage, da sie alle Fälle der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer abdecken kann, einen effektiven und allgemeinen Rechtsbehelf zur Geltendmachung und Ahndung eines solchen Verstoßes darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. November 2013, Groupe Gascogne/Kommission, C‑58/12 P, EU:C:2013:770, Rn. 82).
c)
Zur dritten Rüge: Unverhältnismäßigkeit des von der Kommission angewandten Zusatzbetrags von [vertraulich] %
381 Mit ihrer dritten Rüge beanstandet die Klägerin, dass auch die Anwendung eines der Abschreckung dienenden Zusatzbetrags in Höhe von [vertraulich] % unverhältnismäßig sei. Die Klägerin macht zunächst geltend, da es sich um einen neuartigen Fall handle, habe sie die Anwendung eines neuen und viel weiter gefassten rechtlichen Kriteriums nicht vorausahnen können. Ferner habe die Kommission in keiner anderen Rechtssache einen Zusatzbetrag für eine eigenständige Zuwiderhandlung gemäß Art. 102 AEUV festgesetzt und keine Gründe dafür angegeben, dass sie von ihrer früheren Praxis abweiche. Außerdem sei der Betrag der Geldbuße bereits abschreckend, wenn man die Größe des Unternehmens, die Art seiner Finanzierung und seinen Gewinn berücksichtige. Schließlich müsse ein etwaiger Abschreckungsfaktor aus den Gründen reduziert werden, die in Bezug auf den Schwerefaktor dargelegt worden seien.
382 Vorab ist festzustellen, dass die Kommission im 383. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorhob, dass sie gemäß Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 unabhängig von der Dauer der Beteiligung des fraglichen Unternehmens an der Zuwiderhandlung dem Grundbetrag der Geldbuße zwecks Abschreckung einen zusätzlichen Betrag in Höhe von maximal 25 % des Umsatzes hinzufügen könne. Ferner wies sie im selben Erwägungsgrund darauf hin, dass sie bei der Festlegung des in einer bestimmten Rechtssache zu berücksichtigenden Anteils der Umsätze mehreren Umständen Rechnung trage, insbesondere denjenigen, die in Ziff. 22 der Leitlinien von 2006 genannt seien. Im 384. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses verhängte die Kommission daher angesichts der Art der Zuwiderhandlung (vgl. 377. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses) einen zusätzlichen Betrag in Höhe von [vertraulich] % der Umsätze, d. h. [vertraulich] Euro.
383 Das erste Argument unterscheidet sich nicht von dem Argument, das im Rahmen der ersten Rüge des zweiten Teils des vierten Klagegrundes geltend gemacht wurde, um die Schwere der Zuwiderhandlung zu beanstanden. Da dieses Argument bereits bei der Prüfung der ersten Rüge des zweiten Teils des vierten Klagegrundes zurückgewiesen wurde, ist es auch insoweit zurückzuweisen, als es darauf gerichtet ist, die Unverhältnismäßigkeit des Zusatzbetrags von [vertraulich] % zu beanstanden.
384 Was das zweite Argument betrifft, die Kommission habe in keiner anderen Rechtssache einen Zusatzbetrag für eine eigenständige Zuwiderhandlung gemäß Art. 102 AEUV festgesetzt und keine Gründe dafür angegeben, dass sie von ihrer früheren Praxis abweiche, ist festzustellen, dass die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses bereits in mindestens einem früheren Beschluss einen Zusatzbetrag für eine eigenständige Zuwiderhandlung gemäß Art. 102 AEUV angewandt hatte, nämlich im Beschluss C(2017) 4444 final vom 27. Juni 2017 in einem Verfahren nach Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und Artikel 54 des EWR-Abkommens (Fall AT.39740 – Google Search [Shopping]). Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung und vorbehaltlich der Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes die frühere Entscheidungspraxis der Kommission nicht den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen bildet und die Kommission bei der Festsetzung der Geldbußen im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 über ein Ermessen verfügt, damit sie die Unternehmen dazu anhalten kann, die Wettbewerbsregeln einzuhalten, und das Niveau der Geldbußen jederzeit den Erfordernissen dieser Politik anpassen kann (Urteil vom 16. Juni 2011, Bavaria/Kommission, T‑235/07, EU:T:2011:283, Rn. 288; vgl. auch Urteil vom 16. Juni 2011, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, T‑240/07, EU:T:2011:284, Rn. 345 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich war diese Praxis der Kommission nicht neuartig, und jedenfalls war die Kommission nicht verpflichtet, im angefochtenen Beschluss Gründe für ein etwaiges Abweichen von ihrer früheren Praxis anzugeben.
385 Darüber hinaus bestimmt Ziff. 25 der Leitlinien von 2006, dass ein Zusatzbetrag im Fall von Zuwiderhandlungen festgesetzt werden kann, die sich nicht auf Kartelle beziehen. In Ziff. 25 heißt es nämlich:
„[U]nabhängig von der Dauer der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung fügt die Kommission einen Betrag zwischen 15 % und 25 % des Umsatzes im Sinne von Abschnitt A hinzu, um die Unternehmen von vornherein [von] der Beteiligung an horizontalen Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung von Märkten oder Mengeneinschränkungen abzuschrecken. Dieser Zusatzbetrag kann auch in Fällen anderer Zuwiderhandlungen erhoben werden. Bei der Entscheidung, welcher Anteil am Umsatz zugrunde zu legen ist, berücksichtigt die Kommission mehrere Umstände, u. a. die in Ziffer 22 genannten.“
386 Im vorliegenden Fall begründete die Kommission im Einklang mit Ziff. 22 der Leitlinien von 2006 die Anwendung des Zusatzbetrags mit der Art der Zuwiderhandlung und insbesondere mit dem Umstand, dass die aus der Beseitigung eines zwischen zwei Mitgliedstaaten befindlichen Gleisabschnitts bestehende Zuwiderhandlung die Konsolidierung des Binnenmarkts und speziell des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums beeinträchtige (Erwägungsgründe 377 und 384 des angefochtenen Beschlusses).
387 Was das dritte Argument der Klägerin betrifft, die Höhe der Geldbuße sei beispiellos für ein kleines Eisenbahnunternehmen, das nur einen minimalen bzw. gar keinen Gewinn erziele, ist daran zu erinnern, dass es sich bei der Klägerin um das staatliche Bahnunternehmen Litauens handelt, das in Litauen über ein gesetzliches Monopol für den Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen und ein faktisches Monopol auf dem Schienengüterverkehrsmarkt in Litauen verfügt und dessen Gesamtumsatz sich 2016 auf 409,5 Mio. Euro belief, wie aus dem fünften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht. Angesichts dieser Umstände kann die Klägerin nicht als kleines Eisenbahnunternehmen angesehen werden. Jedenfalls muss die Kommission die Geldbußen nicht abmildern, wenn kleine oder mittlere Unternehmen betroffen sind. Der Größe des Unternehmens wird nämlich durch die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegte Obergrenze sowie durch die Bestimmungen der Leitlinien von 2006 Rechnung getragen. Abgesehen von diesen Erwägungen zur Größe gibt es keinen Grund, kleine oder mittlere Unternehmen anders als sonstige Unternehmen zu behandeln. Die Tatsache, dass die Unternehmen von kleiner oder mittlerer Größe sind, befreit sie nicht von ihrer Verpflichtung zur Einhaltung der Wettbewerbsvorschriften (Urteil vom 28. April 2010, Amann & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, T‑446/05, EU:T:2010:165, Rn. 200).
388 Soweit die Klägerin mit ihrem vierten Argument eine Herabsetzung des im Grundbetrag enthaltenen Zusatzbetrags erreichen will, indem sie geltend macht, das Verwaltungsverfahren habe übermäßig lange gedauert, ist festzustellen, dass dieses Argument aus den oben in den Rn. 379 und 380 dargelegten Gründen zurückzuweisen ist.
2. Zur Bestimmung des Endbetrags der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße im Rahmen der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung
389 Vorab ist daran zu erinnern, dass erst, nachdem der Unionsrichter anhand der ihm vorgetragenen Klagegründe wie auch gegebenenfalls der von Amts wegen zu berücksichtigenden Gründe die Rechtmäßigkeit der ihm unterbreiteten Entscheidung überprüft hat, es ihm obliegt, sofern diese Entscheidung nicht vollständig für nichtig erklärt wird, seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auszuüben, um zum einen die Konsequenzen aus seiner Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung zu ziehen und zum anderen anhand der ihm zur Prüfung vorgetragenen Umstände zu entscheiden, ob er zu dem Zeitpunkt, zu dem er seine Entscheidung erlässt, seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung der Kommission zu setzen hat, damit der Betrag der Geldbuße angemessen ist (vgl. Urteile vom 17. Dezember 2015, Orange Polska/Kommission, T‑486/11, EU:T:2015:1002, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. Juli 2019, Hitachi-LG Data Storage und Hitachi-LG Data Storage Korea/Kommission, T‑1/16, EU:T:2019:514, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
390 So ist der Unionsrichter, wenn er seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ausübt, über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus befugt, die Beurteilung der Kommission, der Urheberin des Rechtsakts, in dem der Betrag dieser Zwangsmaßnahme ursprünglich festgelegt wurde, im Hinblick auf die Festsetzung dieses Betrags durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen, jedoch unter Ausschluss jeder Änderung der Tatbestandsmerkmale der Zuwiderhandlung, die die Kommission in der Entscheidung, über die das Gericht zu befinden hat, rechtmäßig festgestellt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 75 bis 77).
391 Folglich kann der Unionsrichter den angefochtenen Rechtsakt, auch ohne ihn für nichtig zu erklären, abändern, indem er die verhängte Geldbuße aufhebt, herabsetzt oder erhöht, und die Ausübung dieser Befugnis bewirkt, dass die Befugnis zur Verhängung von Sanktionen endgültig auf ihn übergeht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 692 und 693; vom 3. September 2009, Prym und Prym Consumer/Kommission, C‑534/07 P, EU:C:2009:505, Rn. 86, und Beschluss vom 7. Juli 2016, Westfälische Drahtindustrie und Pampus Industriebeteiligungen/Kommission, C‑523/15 P, EU:C:2016:541, Rn. 32 bis 34).
392 Die Prüfung der Angemessenheit der Geldbußen im Hinblick auf die in Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten Kriterien kann die Vorlage und die Heranziehung zusätzlicher Informationen erfordern, die nicht in der die Geldbuße verhängenden Entscheidung der Kommission erwähnt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. November 2000, Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission, C‑286/98 P, EU:C:2000:630, Rn. 57, und vom 12. Juli 2011, Fuji Electric/Kommission, T‑132/07, EU:T:2011:344, Rn. 209).
393 Im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hat das Gericht somit unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des konkreten Falls den Betrag der Geldbuße zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. September 2013, Alliance One International/Kommission, C‑679/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:606, Rn. 104, und vom 16. Juni 2011, Putters International/Kommission, T‑211/08, EU:T:2011:289, Rn. 75).
394 Dies setzt nach Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 die Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung der Klägerin unter Wahrung der Grundsätze u. a. der Verhältnismäßigkeit, der individuellen Sanktionsfestsetzung und der Gleichbehandlung voraus, ohne dass das Gericht durch die von der Kommission in den Leitlinien von 2006 definierten Richtlinien gebunden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).
395 Das Ermessen des Gerichts wird somit innerhalb der Obergrenze von 10 % des von dem betroffenen Unternehmen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nur durch die Kriterien der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung gemäß Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 begrenzt, der der zuständigen Behörde einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt, wobei diese allerdings die oben in Rn. 394 genannten Grundsätze beachten muss.
396 Im Rahmen seiner Begründungspflicht hat das Gericht ausführlich darzulegen, welche Faktoren es bei der Festsetzung der Geldbuße berücksichtigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2016, Trafilerie Meridionali/Kommission, C‑519/15 P, EU:C:2016:682, Rn. 52).
397 Was vorliegend zum einen die Anwendung des gesetzlichen Kriteriums der Schwere der Zuwiderhandlung betrifft, so ist die Festsetzung einer Geldbuße durch das Gericht nach ständiger Rechtsprechung kein streng mathematischer Vorgang (Urteile vom 5. Oktober 2011, Romana Tabacchi/Kommission, T‑11/06, EU:T:2011:560, Rn. 266, und vom 15. Juli 2015, SLM und Ori Martin/Kommission, T‑389/10 und T‑419/10, EU:T:2015:513, Rn. 436).
398 Das Gericht hat jedoch einen Betrag festzusetzen, der, gemessen an den von ihm für geeignet erachteten Kriterien, der Schwere der von der Klägerin begangenen Zuwiderhandlung angemessen ist und auch eine hinreichend abschreckende Wirkung entfaltet.
399 Das Gericht hält es für angezeigt, in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung die Art der Zuwiderhandlung, die Position von LG auf den relevanten Märkten sowie die geografische Tragweite der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.
400 Was zunächst die Art der Zuwiderhandlung betrifft, geht aus dem Inhalt der Akte hervor, dass die vollständige Beseitigung des 19 km langen Teils der kurzen Strecke, auf dem der Verkehr zunächst ausgesetzt worden war und der die Nutzung der kürzesten und kostengünstigsten Strecke zur Anbindung der Raffinerie der Streithelferin an einen lettischen Seehafen ermöglichte, wettbewerbswidrige Auswirkungen in Form des Ausschlusses von Wettbewerb auf dem Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte zwischen der Raffinerie und den benachbarten Seehäfen hervorgerufen haben kann, indem Hindernisse für den Markteintritt errichtet wurden, ohne dass dies objektiv gerechtfertigt war.
401 Was sodann die Position von LG auf den relevanten Märkten betrifft, ist festzustellen, dass LG auf dem vorgelagerten Markt für den Betrieb von Eisenbahninfrastrukturen in Litauen eine Monopolstellung hatte und auf dem nachgelagerten Markt der Erbringung von Schienentransportdiensten für Erdölprodukte das einzige aktive Unternehmen war, so dass sie auf diesem Markt ebenfalls eine Monopolstellung innehatte. Aufgrund dieser Stellung trug LG eine besondere Verantwortung dafür, durch ihr Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf diesem Markt nicht zu beeinträchtigen.
402 Schließlich ist zur geografischen Tragweite der Zuwiderhandlung festzustellen, dass die Zuwiderhandlung zwar auf einem Teil des Hoheitsgebiets von zwei Mitgliedstaaten Auswirkungen entfaltet hat, die Auswirkungen jedoch relativ begrenzt sind. Die Beseitigung des Gleisabschnitts betraf nämlich nur einen Teil einer Strecke, die die Nutzung einer von mehreren möglichen Bahnverbindungen zwischen Lettland und Litauen ermöglichte.
403 Was zum anderen die Dauer der Zuwiderhandlung betrifft, so begann diese am 3. Oktober 2008 und dauerte bis zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses an.
404 Mithin erscheint es dem Gericht bei angemessener Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung geboten, den Betrag der Geldbuße auf 20068650 Euro festzusetzen.
405 Das Gericht stellt ferner fest, dass der Betrag der Geldbuße angesichts der Notwendigkeit, der Klägerin eine Geldbuße mit abschreckender Wirkung aufzuerlegen, angemessen ist.
406 Somit wird der Betrag der gegen die Klägerin zu verhängenden Geldbuße auf 20068650 Euro festgesetzt.
Kosten
407 Nach Art. 134 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten.
408 Im vorliegenden Fall sind die Klägerin und die Kommission zur Tragung ihrer eigenen Kosten zu verurteilen.
409 Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht entscheiden, dass ein anderer Streithelfer als die in den Abs. 1 und 2 dieses Artikels genannten seine eigenen Kosten trägt. Im vorliegenden Fall hat Orlen ihre eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die in Art. 2 des Beschlusses C(2017) 6544 final der Europäischen Kommission vom 2. Oktober 2017 in einem Verfahren nach Art. 102 AEUV (Sache AT.39813 – Baltic Rail) gegen die Lietuvos geležinkeliai AB verhängte Geldbuße wird auf 20068650 Euro festgesetzt.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Lietuvos geležinkeliai und die Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
4. Die Orlen Lietuva AB trägt ihre eigenen Kosten.
Papasavvas
Kanninen
Półtorak
Porchia
Stancu
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. November 2020.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Tatsächlicher Hintergrund
B. Verwaltungsverfahren
C. Angefochtener Beschluss
1. Bestimmung der relevanten Märkte und beherrschende Stellung der Klägerin auf diesen Märkten
2. Missbräuchliches Verhalten
3. Geldbuße und Anordnung
4. Verfügender Teil des angefochtenen Beschlusses
II. Verfahren und Anträge der Parteien
III. Rechtliche Würdigung
A. Zum Hauptantrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses
1. Zum ersten Klagegrund: Rechts- und Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV in Bezug auf die Missbräuchlichkeit des Verhaltens der Klägerin
2. Zum zweiten Klagegrund: Rechts- und Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV in Bezug auf die Beurteilung der fraglichen Praxis
a) Zum ersten Teil des zweiten Klagegrundes: Fehler bei den von der Kommission geäußerten „Zweifeln“ an der tatsächlichen Mangelhaftigkeit des Gleisabschnitts
1) Zur ersten Rüge des ersten Teils: Zweifel am Vorliegen einer Verformung des Gleisabschnitts
2) Zur zweiten Rüge des ersten Teils: Fehler bei der Beurteilung des Vorbringens, die Beseitigung des Gleisabschnitts sei ausschließlich auf die Verformung zurückzuführen
3) Zur dritten Rüge des ersten Teils: Fehler bei der Beurteilung der Unterschiede zwischen den Berichten vom 5. September 2008 und den Schreiben vom 4. und 5. September 2008
4) Zur vierten Rüge des ersten Teils: Die Kommission habe das Vorbringen zu den systemischen Problemen des Gleisbetts zu Unrecht zurückgewiesen
b) Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: Beurteilungsfehler der Kommission bei ihrer Feststellung, die Beseitigung des Gleisabschnitts sei „extrem ungewöhnlich“
c) Zum dritten Teil des zweiten Klagegrundes: Fehler der Kommission bei der Beurteilung der Absichten von LG zum Zeitpunkt der Beseitigung des Gleisabschnitts
1) Zur ersten Rüge des dritten Teils: Rechtsfehler im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der wettbewerbsfeindlichen Absicht der Klägerin
2) Zur zweiten Rüge des dritten Teils: materielle Unrichtigkeit des Sachverhalts, der bei der Beurteilung der Bösgläubigkeit der Klägerin berücksichtigt wurde
i) Zum ersten Argument: Einfluss der schiedsgerichtlichen Entscheidung vom 17. Dezember 2010 auf den Entschluss, den Gleisabschnitt nicht wieder aufzubauen
ii) Zum zweiten Argument: Fehler bei der Beurteilung der drei im 192. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannten Gesichtspunkte
d) Zum vierten Teil des zweiten Klagegrundes: Rechts- und Beurteilungsfehler bei der Prüfung der potenziellen Auswirkungen der fraglichen Praxis auf den Wettbewerb
1) Zur ersten Rüge: Rechtsfehler
i) Zum ersten Argument: Die Beseitigung des Gleisabschnitts habe keine wettbewerbswidrigen Auswirkungen entfaltet
ii) Zum zweiten Argument: Die unterlassene Reparatur des Gleisabschnitts habe LDZ nicht daran gehindert, in effizienten Wettbewerb zu treten
2) Zur zweiten Rüge: Fehler bei der Beurteilung der Möglichkeit von LDZ, auf der langen Strecke nach Lettland in Wettbewerb mit LG zu treten
i) Zu den Argumenten, mit denen das Vorliegen von Hindernissen für den Markteintritt bestritten wird
ii) Zu den Argumenten, mit denen bestritten wird, dass die langen Strecken zu den lettischen Seehäfen nicht mit der Strecke nach Klaipėda konkurrieren konnten
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 296 AEUV und Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 wegen unzureichender Beweise und Begründungsmangel
a) Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 296 AEUV wegen Begründungsmangel
b) Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003
4. Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen Art. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 durch Anordnung einer unverhältnismäßigen Abhilfemaßnahme
5. Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 wegen Rechts- und Beurteilungsfehlern im angefochtenen Beschluss in Bezug auf die Festsetzung des Betrags der Geldbuße
a) Zur ersten Rüge des ersten Teils: Neuartigkeit der dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegenden Rechtslehre
b) Zur zweiten Rüge des ersten Teils: keine Fahrlässigkeit der Klägerin
c) Zur zweiten Rüge des zweiten Teils, soweit sie die beanstandete übermäßige Dauer des Verfahrens betrifft
B. Zum hilfsweise gestellten Antrag in Bezug auf den Betrag der Geldbuße
1. Zu den Rügen betreffend die Verhältnismäßigkeit des Betrags der Geldbuße
a) Zur ersten Rüge: Unverhältnismäßigkeit des von der Kommission festgestellten Schwerekoeffizienten von [vertraulich] %
b) Zur zweiten Rüge, soweit sie die übermäßige Dauer der Zuwiderhandlung infolge einer fehlerhaften Wahl des Zeitpunkts ihres Beginns betrifft
c) Zur dritten Rüge: Unverhältnismäßigkeit des von der Kommission angewandten Zusatzbetrags von [vertraulich] %
2. Zur Bestimmung des Endbetrags der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße im Rahmen der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Unkenntlich gemachte vertrauliche Angaben.
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Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 22. April 2016.#Irland und Aughinish Alumina Ltd gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Richtlinie 92/81/EWG – Verbrauchsteuer auf Mineralöle – Mineralöle, die als Brennstoff zur Tonerdegewinnung verwendet werden – Befreiung von der Verbrauchsteuer – Bestehende oder neue Beihilfen – Art. 1 Buchst. b Ziff. i, iii und iv der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Angemessene Verfahrensdauer – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Ermessensmissbrauch – Begründungspflicht – Begriff der staatlichen Beihilfe – Vorteil – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Verfälschung des Wettbewerbs.#Verbundene Rechtssachen T-50/06 RENV II und T-69/06 RENV II.
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62006TJ0050(02)
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ECLI:EU:T:2016:227
| 2016-04-22T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62006TJ0050(02)
URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
22. April 2016 (*1)
„Staatliche Beihilfen — Richtlinie 92/81/EWG — Verbrauchsteuer auf Mineralöle — Mineralöle, die als Brennstoff zur Tonerdegewinnung verwendet werden — Befreiung von der Verbrauchsteuer — Bestehende oder neue Beihilfen — Art. 1 Buchst. b Ziff. i, iii und iv der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 — Rechtssicherheit — Vertrauensschutz — Angemessene Verfahrensdauer — Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung — Ermessensmissbrauch — Begründungspflicht — Begriff der staatlichen Beihilfe — Vorteil — Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten — Verfälschung des Wettbewerbs“
In den verbundenen Rechtssachen T‑50/06 RENV II und T‑69/06 RENV II
Irland, vertreten durch E. Creedon, A. Joyce und E. McPhillips als Bevollmächtigte, im Beistand von P. McGarry, SC,
Aughinish Alumina Ltd mit Sitz in Askeaton (Irland), Prozessbevollmächtigte: C. Waterson, C. Little und J. Handoll, Solicitors,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, N. Khan, G. Conte, D. Grespan und K. Walkerová als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 2006/323/EG der Kommission vom 7. Dezember 2005 über die Befreiung von der Verbrauchsteuer auf Mineralöle, die als Brennstoff zur Tonerdegewinnung in den Regionen Gardanne und Shannon und auf Sardinien verwendet werden, durch Frankreich, Irland und Italien (ABl. 2006, L 119, S. 12), soweit diese Entscheidung die Befreiung von der Verbrauchsteuer auf Mineralöle betrifft, die als Brennstoff zur Tonerdegewinnung in der Region Shannon (Irland) verwendet werden,
erlässt
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen, der Richterin I. Pelikánová (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Buttigieg, S. Gervasoni und L. Madise,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 2015
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Streitige Befreiung
1 Tonerde (Aluminiumoxid) ist ein weißes Pulver, das vor allem zur Aluminiumherstellung verwendet wird. Es wird aus Bauxiterz durch Raffinierung gewonnen, deren letzter Schritt die Kalzinierung ist. Über 90 % der kalzinierten Tonerde werden zur Verhüttung von Aluminiummetall verwendet. Der Rest wird weiter verarbeitet und in chemischen Anwendungen verwendet. Es gibt zwei getrennte sachlich relevante Märkte: Schmelz-Aluminiumoxid (im Folgenden: SGA) und reines Aluminiumoxid (im Folgenden: CGA). Mineralöle können als Brennstoff zur Tonerdegewinnung verwendet werden.
2 In Irland, Italien und Frankreich gibt es jeweils nur einen Tonerdehersteller. In Irland handelt sich dabei um die Aughinish Alumina Ltd (im Folgenden: AAL) mit Sitz in der Region Shannon. Auch in Deutschland, Spanien, Griechenland und Ungarn sowie im Vereinigten Königreich gibt es Tonerdehersteller.
3 Seit dem 12. Mai 1983 befreit Irland Mineralöle, die bei der Tonerdegewinnung verwendet werden, von der Verbrauchsteuer (im Folgenden: streitige Befreiung). Die streitige Befreiung wurde mit dem Statutory Instrument Nr. 126/1983, Imposition of Duties (no 265) (Excise Duty on Hydrocarbon Oils) Order, 1983 (Steuerverordnung Nr. 265: Verbrauchsteuer auf Mineralöle, 1983) vom 12. Mai 1983 (im Folgenden: Verordnung von 1983) in das irische Recht eingeführt.
4 Die Anwendung der streitigen Befreiung in der Region Shannon wurde durch die Entscheidung 92/510/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, gemäß dem Verfahren in Artikel 8 Absatz 4 der Richtlinie 92/81/EWG ermäßigte Verbrauchsteuersätze oder Verbrauchsteuerbefreiungen auf Mineralöle, die zu bestimmten Zwecken verwendet werden, beizubehalten (ABl. L 316, S. 16), genehmigt. Diese Genehmigung wurde vom Rat der Europäischen Union überprüft und durch die Entscheidung 97/425/EG vom 30. Juni 1997 zur Ermächtigung bestimmter Mitgliedstaaten, gemäß dem Verfahren der Richtlinie 92/81/EWG ermäßigte Verbrauchsteuersätze oder Verbrauchsteuerbefreiungen für Mineralöle mit bestimmten Verwendungszwecken anzuwenden und beizubehalten (ABl. L 182, S. 22), bis zum 31. Dezember 1998 verlängert. Durch die Entscheidung 1999/880/EG vom 17. Dezember 1999 zur Ermächtigung bestimmter Mitgliedstaaten, gemäß dem Verfahren der Richtlinie 92/81/EWG ermäßigte Verbrauchsteuersätze oder Verbrauchsteuerbefreiungen für Mineralöle mit bestimmten Verwendungszwecken anzuwenden und beizubehalten (ABl. L 331, S. 73), wurde sie vom Rat ein weiteres Mal bis zum 31. Dezember 2000 verlängert.
5 Durch die Entscheidung 2001/224/EG des Rates vom 12. März 2001 über Verbrauchsteuerermäßigungen und ‑befreiungen für Mineralöle, die zu bestimmten Zwecken verwendet werden (ABl. L 84, S. 23), die letzte betreffend die streitige Befreiung, wurde die genannte Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 verlängert. In ihrem fünften Erwägungsgrund heißt es, dass diese Entscheidung „dem Ergebnis etwaiger Verfahren nicht vor[greift], die möglicherweise gemäß den Artikeln 87 [EG] und 88 [EG] wegen einer Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts eingeleitet werden“, und dass „[s]ie … die Mitgliedstaaten keinesfalls ihrer Pflicht [enthebt], etwaige staatliche Beihilfen gemäß Artikel 88 [EG] bei der Kommission anzumelden“.
Verwaltungsverfahren
6 Mit Schreiben vom 28. Januar 1983 teilte Irland der Kommission der Europäischen Gemeinschaften mit, dass es im Begriff sei, einer gegenüber der Alcan Aluminium Ltd (im Folgenden: Alcan) im April 1970 eingegangenen Verpflichtung im Zusammenhang mit dem Bau einer später an AAL veräußerten Aluminiumfabrik in der Region Shannon, die eine Befreiung von der Verbrauchsteuer auf in dieser Fabrik als Brennstoff zur Tonerdegewinnung verwendete Mineralöle betraf, nachzukommen. Mit Schreiben vom 22. März 1983 wies die Kommission darauf hin, dass diese Befreiung eine anmeldepflichtige staatliche Beihilfe darstelle. Darüber hinaus stellte sie klar, dass sie, wenn die Beihilfe erst zum Zeitpunkt ihres Schreibens umgesetzt werde, das Schreiben vom 28. Januar 1983 als Anmeldung im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG ansehen könne. Mit Schreiben vom 6. Mai 1983 bat Irland die Kommission darum, es als solche zu betrachten. Nach diesem Schriftwechsel traf die Kommission keine Entscheidung.
7 Mit Schreiben vom 17. Juli 2000 forderte die Kommission Irland auf, die streitige Befreiung bei ihr anzumelden. Mit Schreiben vom 27. September 2000 erinnerte sie Irland an diese Aufforderung und bat es um weitere Auskünfte. Irland antwortete mit Schreiben vom 18. Oktober 2000.
8 Mit Beschluss K (2001) 3296 vom 30. Oktober 2001 leitete die Kommission ein Verfahren nach Art. 88 Abs. 2 EG in Bezug auf die streitige Befreiung ein (im Folgenden: förmliches Prüfverfahren). Dieser Beschluss wurde Irland mit Schreiben vom 5. November 2001 übermittelt und am 2. Februar 2002 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht (ABl. C 30, S. 25).
9 Nachdem Irland mit Fax vom 1. Dezember 2001 eine Verlängerung der Antwortfrist beantragt hatte, die am 7. Dezember 2001 gewährt wurde, nahm es mit Schreiben vom 8. Januar 2002 Stellung.
10 Mit Schreiben vom 18. Februar 2002 erbat die Kommission von Irland weitere Auskünfte.
11 Mit Schreiben vom 26. und 28. Februar sowie vom 1. März 2002 wurden der Kommission Bemerkungen von AAL, der Eurallumina SpA, der Alcan Inc. bzw. der European Aluminium Association vorgelegt. Diese wurden Irland mit Schreiben vom 26. März 2002 übermittelt.
12 Mit Schreiben vom 26. April 2002 antwortete Irland auf das Ersuchen, das die Kommission ihm in ihrem Schreiben vom 18. Februar 2002 übermittelt hatte.
Tonerde‑I-Entscheidung
13 Am 7. Dezember 2005 erließ die Kommission die Entscheidung 2006/323/EG über die Befreiung von der Verbrauchsteuer auf Mineralöle, die als Brennstoff zur Tonerdegewinnung in den Regionen Gardanne und Shannon und auf Sardinien verwendet werden, durch Frankreich, Irland und Italien (ABl. 2006, L 119, S. 12, im Folgenden: Tonerde‑I‑Entscheidung).
14 Die Tonerde‑I-Entscheidung betrifft den Zeitraum vor dem 1. Januar 2004, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (ABl. L 283, S. 51), mit der die Richtlinien 92/81/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Mineralöle (ABl. L 316, S. 12) und 92/82/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Annäherung der Verbrauchsteuersätze für Mineralöle (ABl. L 316, S. 19) mit Wirkung vom 31. Dezember 2003 aufgehoben worden sind (57. Erwägungsgrund). Sie weitet das förmliche Prüfverfahren gleichwohl auf den Zeitraum nach dem 31. Dezember 2003 aus (92. Erwägungsgrund).
15 Im verfügenden Teil der Tonerde‑I-Entscheidung ist u. a. bestimmt:
„Artikel 1
Die bis 31. Dezember 2003 von Frankreich, Irland und Italien gewährten Befreiungen von der Verbrauchsteuer auf schwere Heizöle, die zur Tonerdegewinnung verwendet werden, stellen staatliche Beihilfen im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 [EG] dar.
Artikel 2
Zwischen dem 17. Juli 1990 und 2. Februar 2002 gewährte Beihilfen werden, soweit sie mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sind, nicht zurückgefordert, da dies gegen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts verstoßen würde.
Artikel 3
Die zwischen dem 3. Februar 2002 und 31. Dezember 2003 gewährten, in Artikel 1 genannten Beihilfen sind mit dem Gemeinsamen Markt im Sinne von Artikel 87 Absatz 3 [EG] vereinbar, soweit die Begünstigten mindestens einen Steuersatz von 13,01 [Euro] pro 1000 kg schweres Heizöl zahlen.
Artikel 4
Die zwischen dem 3. Februar 2002 und 31. Dezember 2003 gewährten … Beihilfen sind mit dem Gemeinsamen Markt im Sinne von Artikel 87 Absatz 3 [EG] unvereinbar, soweit die Begünstigten nicht einen Steuersatz von 13,01 [Euro] pro 1000 kg schweres Heizöl zahlten.
Artikel 5
(1) Frankreich, Irland und Italien ergreifen alle notwendigen Maßnahmen, um von den Empfängern die in Artikel 4 genannten, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfen zurückzufordern.
…
(5) Frankreich, Irland und Italien weisen die Empfänger der in Artikel 4 genannten, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfen innerhalb von zwei Monaten nach der Bekanntgabe dieser Entscheidung an, die rechtswidrig gewährten Beihilfen mit Zinsen zurückzuzahlen.“
Verfahren und Anträge der Parteien
16 Mit Klageschriften, die am 17. bzw. 23. Februar 2006 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben Irland und AAL die vorliegenden Klagen erhoben, die unter den Aktenzeichen T‑50/06 bzw. T‑69/06 in das Register eingetragen worden sind.
17 Mit besonderem Schriftsatz, der am 22. März 2006 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat AAL einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach Art. 242 EG gestellt, um die Vollstreckung der Tonerde‑I-Entscheidung auszusetzen, soweit diese Entscheidung sie betrifft. Dieser Antrag ist unter dem Aktenzeichen T‑69/06 R in das Register eingetragen worden. Mit Beschluss vom 2. August 2006 hat der Präsident des Gerichts den genannten Antrag zurückgewiesen und die Kostenentscheidung vorbehalten.
18 In Anwendung von Art. 14 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 und auf Vorschlag der Zweiten Kammer hat das Gericht nach Anhörung der Parteien gemäß Art. 51 der erwähnten Verfahrensordnung beschlossen, die vorliegende Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper zu verweisen.
19 Mit Beschluss vom 24. Mai 2007 hat der Präsident der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts die Rechtssachen T‑50/06, T‑56/06, T‑60/06, T‑62/06 und T‑69/06 (im Folgenden: Tonerde‑I-Rechtssachen) nach Anhörung der Parteien gemäß Art. 50 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung verbunden.
20 Mit Urteil vom 12. Dezember 2007, Irland u. a./Kommission (T‑50/06, T‑56/06, T‑60/06, T‑62/06 und T‑69/06, EU:T:2007:383), hat das Gericht die Tonerde‑I-Rechtssachen zu gemeinsamer Entscheidung verbunden, die Tonerde‑I-Entscheidung für nichtig erklärt und in der Rechtssache T‑62/06 die Klage im Übrigen abgewiesen.
21 Mit Rechtsmittelschrift vom 26. Februar 2008 hat die Kommission Rechtsmittel gegen dieses Urteil des Gerichts eingelegt.
22 Mit Urteil vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a. (C‑89/08 P, Slg, EU:C:2009:742), hat der Gerichtshof das Urteil Irland u. a./Kommission (oben in Rn. 20 angeführt, EU:T:2007:383) aufgehoben, soweit das Gericht damit die Tonerde‑I-Entscheidung für nichtig erklärt hatte, die Tonerde‑I-Rechtssachen an das Gericht zurückverwiesen und die Kostenentscheidung vorbehalten.
23 Im Anschluss an das Urteil Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 22 angeführt, EU:C:2009:742) sind die Tonerde‑I-Rechtssachen mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichts vom 18. Dezember 2009 gemäß Art. 118 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Zweiten erweiterten Kammer zugewiesen worden.
24 Mit Beschluss des Präsidenten der Zweiten erweiterten Kammer vom 1. März 2010 sind die Tonerde‑I-Rechtssachen zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichts vom 20. September 2010 sind die Tonerde‑I-Rechtssachen der Vierten erweiterten Kammer neu zugewiesen worden.
25 Mit Urteil vom 21. März 2012, Irland u. a./Kommission (T‑50/06 RENV, T‑56/06 RENV, T‑60/06 RENV, T‑62/06 RENV und T‑69/06 RENV, Slg, EU:T:2012:134), hat das Gericht die Tonerde‑I‑Entscheidung insoweit für nichtig erklärt, als darin festgestellt wurde oder sie auf der Feststellung beruhte, dass die bis zum 31. Dezember 2003 von der Französischen Republik, Irland und der Italienischen Republik gewährten Befreiungen von der Verbrauchsteuer auf Mineralöle, die als Brennstoff zur Tonerdegewinnung verwendet werden (im Folgenden: Befreiungen von der Verbrauchsteuer), staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG darstellten, und mit ihr angeordnet wurde, dass die Französische Republik, Irland und die Italienische Republik alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die genannten Befreiungen von den Empfängern zurückzufordern, soweit diese nicht eine Verbrauchsteuer von 13,01 Euro je 1000 kg schweres Heizöl gezahlt hatten.
26 Mit Rechtsmittelschrift vom 1. Juni 2012 hat die Kommission Rechtsmittel gegen dieses Urteil des Gerichts eingelegt.
27 Mit Urteil vom 10. Dezember 2013, Kommission/Irland u. a. (C‑272/12 P, Slg, EU:C:2013:812), hat der Gerichtshof das Urteil Irland/Kommission (oben in Rn. 25 angeführt, EU:T:2012:134) aufgehoben, die Tonerde‑I-Rechtssachen an das Gericht zurückverwiesen und die Kostenentscheidung vorbehalten.
28 Im Anschluss an das Urteil Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) sind die Tonerde‑I-Rechtssachen mit Entscheidungen des Präsidenten des Gerichts vom 21. Januar und 10. März 2014 der Ersten Kammer zugewiesen worden.
29 Gemäß Art. 119 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 haben die Parteien ihre Schriftsätze in der Rechtssache T‑50/06 RENV II am 21. Februar 2014 – was Irland angeht – bzw. am 14. April 2014 – was die Kommission betrifft – sowie in der Rechtssache T‑69/06 RENV II am 26. Februar 2014 – was AAL angeht – und am 15. April 2014 – was die Kommission betrifft – eingereicht. In ihrem Schriftsatz haben die Kläger jedoch darauf hingewiesen, dass sie an sämtlichen Klagegründen festhielten, die sie zur Stützung ihrer Anträge in den vorliegenden Klageverfahren vorgebracht hätten. Die Kommission hat dies in ihren Schriftsätzen zur Kenntnis genommen.
30 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichts vom 30. September 2014 sind die Tonerde‑I-Rechtssachen gemäß Art. 118 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Ersten erweiterten Kammer neu zugewiesen worden.
31 Auf Bericht der Berichterstatterin hat das Gericht beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen, und Irland im Rahmen einer nach Art. 64 § 3 Buchst. d der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 erlassenen prozessleitenden Maßnahme in der Rechtssache T‑50/06 RENV II zur Vorlage der Schreiben vom 8. Januar und 26. April 2002 (vgl. oben, Rn. 9 und 12) aufgefordert. Irland ist dieser Aufforderung fristgerecht nachgekommen.
32 Mit Beschluss des Präsidenten der Ersten erweiterten Kammer vom 23. März 2015 sind die vorliegenden Rechtssachen zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
33 In der Sitzung vom 6. Mai 2015 haben die Parteien mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
34 Irland beantragt,
—
die Tonerde‑I-Entscheidung insoweit für nichtig zu erklären, als diese die streitige Befreiung betrifft;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
35 AAL beantragt,
—
die Tonerde‑I-Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit diese sie betrifft;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
36 Die Kommission beantragt,
—
die Klagen abzuweisen;
—
den Klägern die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
37 Vorab ist festzuhalten, dass die vorliegenden Klagen beide dahin auszulegen sind, dass sie im Wesentlichen darauf abzielen, die Tonerde‑I-Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit in dieser das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe festgestellt wird, die Irland zwischen dem 3. Februar 2002 und dem31. Dezember 2003 auf der Grundlage der streitigen Befreiung gewährt haben soll (im Folgenden: streitige Beihilfe), und Irland die Rückforderung dieser Beihilfe aufgegeben wird (im Folgenden: angefochtene Entscheidung). Diese Klagen haben insoweit den gleichen Gegenstand.
38 Zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II macht Irland im Wesentlichen vier Klagegründe geltend. Der erste Klagegrund wird aus einem Rechtsfehler bei der Einstufung der streitigen Beihilfe im Hinblick auf Art. 88 EG hergeleitet. Mit dem zweiten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Estoppel sowie gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 gerügt. Der dritte Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Mit dem vierten Klagegrund werden im Wesentlichen ein Verstoß gegen den Grundsatz des Estoppel und ein Ermessensmissbrauch beanstandet.
39 Zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II bringt AAL sechs Klagegründe vor. Der erste Klagegrund wird im Wesentlichen aus einem Rechtsfehler bei der Einstufung der streitigen Befreiung im Hinblick auf Art. 88 EG hergeleitet. Der zweite Klagegrund betrifft im Wesentlichen einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe sowie eine Befugnisüberschreitung und einen Ermessensmissbrauch. Mit dem dritten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. m EG und Art. 157 EG ergebenden Erfordernisse gerügt. Der vierte Klagegrund bezieht sich auf einen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. Mit dem fünften Klagegrund wird im Wesentlichen ein Verstoß gegen die Grundsätze der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung im Zusammenhang mit der übermäßig langen Dauer des förmlichen Prüfverfahrens geltend gemacht. Der sechste Klagegrund betrifft im Wesentlichen einen Verstoß gegen die Begründungspflicht und gegen Art. 87 Abs. 1 EG.
40 Zunächst sind die Klagegründe zu prüfen, mit denen die Kläger im Wesentlichen die Anwendbarkeit der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf die streitige Befreiung in Abrede stellen, nämlich zum einen der zweite Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Estoppel sowie gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 und der vierte Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Estoppel und eines Ermessensmissbrauchs, die zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebracht werden, und zum anderen der zweite Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe sowie einer Befugnisüberschreitung und eines Ermessensmissbrauchs und der dritte Klagegrund eines Verstoßes gegen die sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. m EG und Art. 157 EG ergebenden Erfordernisse, die zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht werden.
41 Anschließend ist der Klagegrund zu prüfen, mit dem AAL für den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2003 im Wesentlichen der Einstufung der streitigen Befreiung als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG entgegentritt, nämlich der sechste Klagegrund, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird und einen Verstoß gegen die Begründungspflicht und gegen Art. 87 Abs. 1 EG betrifft.
42 Fortzufahren ist mit der Prüfung der Klagegründe, mit denen die Kläger im Wesentlichen die Einstufung der streitigen Befreiung als neue und nicht als bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 88 EG beanstanden, nämlich den jeweils ersten zur Stützung der vorliegenden Klagen vorgebrachten Klagegrund eines Rechtsfehlers bei der Einstufung der streitigen Beihilfe im Hinblick auf Art. 88 EG.
43 Abschließend sind die Klagegründe zu prüfen, mit denen die Kläger im Wesentlichen die Rückforderung der streitigen Beihilfe beanstanden, nämlich zum einen der dritte Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebracht wird, und zum anderen der vierte Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit und der fünfte Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung im Zusammenhang mit der übermäßig langen Dauer des förmlichen Prüfverfahrens, die zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht werden.
Zweiter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Estoppel sowie gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 und vierter Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Estoppel und eines Ermessensmissbrauchs, die zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebracht werden, einerseits, und zweiter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe sowie einer Befugnisüberschreitung und eines Ermessensmissbrauchs, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird, andererseits
44 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten zweiten Klagegrundes wirft Irland der Kommission vor, sie habe gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, so wie er in der Rechtsprechung ausgelegt werde, verstoßen, indem sie in Bezug auf die streitige Befreiung eine Entscheidung erlassen habe, die Wirkungen entfalte, die denen der Entscheidung 2001/224 zuwiderliefen; die Kommission habe mit der Tonerde‑I-Entscheidung nämlich entschieden, dass die streitige Beihilfe eine Beihilfe darstelle, die im Sinne von Art. 87 Abs. 3 EG mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei und daher zurückgefordert werden müsse, obwohl der Rat es mit der Entscheidung 2001/224 ermächtigt habe, die streitige Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 beizubehalten. Darüber hinaus trägt Irland vor, die Kommission habe mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung, die Wirkungen erzeugt habe, die denen der Entscheidung 2001/224 zuwiderliefen, ohne auf der Grundlage von Art. 230 EG eine Nichtigkeitsklage gegen die letztgenannte Entscheidung erhoben zu haben, gegen den Grundsatz des Estoppel verstoßen. Schließlich trägt Irland vor, die Kommission habe mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 verstoßen, da sie, auch wenn die streitige Befreiung, die es aufgrund der Entscheidung 2001/224 bis zum 31. Dezember 2006 anwenden dürfe, ihrer Ansicht nach zu einer Verfälschung des Wettbewerbs führe oder mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei, das in diesem Artikel vorgesehene Verfahren hätte befolgen und dem Rat geeignete Vorschläge im Hinblick auf die Aufhebung oder Änderung der erteilten Genehmigung hätte unterbreiten müssen.
45 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes macht Irland im Wesentlichen geltend, die Kommission habe mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung gegen den Grundsatz des Estoppel verstoßen und einen Ermessensmissbrauch begangen. Nach dem Grundsatz des Estoppel sei der Kommission der Erlass der angefochtenen Entscheidung verwehrt, da sie die Tonerde‑I-Entscheidung trotz ihrer Kenntnis von der streitigen Befreiung und deren Umsetzung im Einklang mit der Entscheidung 2001/224 verspätet erlassen habe. Irland stützt sich erstens auf die Anmeldung der streitigen Befreiung bei der Kommission zu Beginn des Jahres 1983, die daraufhin eine positive Entscheidung über diese Befreiung erlassen habe. Zweitens habe es der Kommission ab 1995 regelmäßig Informationen über die geschätzten Beträge der streitigen Beihilfe übermittelt, die von der Kommission für ihre Beihilfeberichte an die Welthandelsorganisation (WTO) übernommen worden seien. Drittens bezieht sich Irland auf die in den Jahren 1997, 1999 und 2001 erlassenen Genehmigungsentscheidungen des Rates, der auf Vorschlag der Kommission einstimmig entschieden habe. Viertens macht es geltend, die Kommission habe dem Rat keinen Vorschlag nach Art. 8 Abs. 5 der im Einklang mit der lex specialis des Art. 93 EG erlassenen Richtlinie 92/81 unterbreitet. Fünftens habe die Kommission auf der Grundlage von Art. 230 EG keine Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung 2001/224 erhoben. Sechstens verweist Irland darauf, dass sich die Kommission entgegen dem Erfordernis der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer Zeit gelassen habe, um die Tonerde‑I-Entscheidung zu erlassen, da diese Entscheidung mehr als 43 Monate nach Eingang seiner Antwort auf das letzte von der Kommission übermittelte Ersuchen um weitere Auskünfte im April 2002 ergangen sei. Siebtens beruft es sich auf die Erklärungen der Kommission und die Genehmigungsentscheidungen des Rates während der gesamten Dauer des förmlichen Prüfverfahrens, die die Annahme zugelassen hätten, dass die streitige Beihilfe genehmigt worden sei. Achtens stützt es sich auf das Verhalten der Kommission, die die streitige Beihilfe unter allen Umständen als bestehende Beihilfe behandelt habe. Neuntens habe die Kommission keine Anordnung zur Aussetzung der Beihilfe gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] (ABl. L 83, S. 1) erlassen, die es ermöglicht hätte, die Auswirkungen der Beihilfe auf den Gemeinsamen Markt und die Wirkungen der Rückforderung dieser Beihilfe für AAL abzuschwächen. Darüber hinaus habe die Kommission die angefochtene Entscheidung erlassen, um den Wirkungen der Entscheidung 2001/224, die es ermächtige, die streitige Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 beizubehalten, entgegenzuwirken, obwohl sie dem Rat vorgeschlagen habe, die genannte Genehmigung nur bis zum 31. Dezember 2002 zu verlängern.
46 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten zweiten Klagegrundes trägt AAL vor, die Kommission habe gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, so wie er in der Rechtsprechung ausgelegt werde, und gegen den Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe verstoßen sowie insoweit die Grenzen ihrer eigenen Befugnisse überschritten, als die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die streitige Befreiung Wirkungen erzeuge, die denen der Entscheidung 2001/224 zuwiderliefen; in der Tonerde‑I-Entscheidung werde nämlich festgestellt, dass die auf der Grundlage der streitigen Befreiung gewährte Beihilfe teilweise mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei und insoweit – außer für den Zeitraum vom 17. Juli 1990 bis 2. Februar 2002 – von ihrem Empfänger zurückgefordert werden müsse, obwohl der Rat die Irland erteilte Genehmigung zur Beibehaltung der streitigen Befreiung mit der Entscheidung 2001/224 bis zum 31. Dezember 2006 verlängert habe. AAL stützt sich in diesem Zusammenhang erstens auf die im Einklang mit der lex specialis des Art. 93 EG erlassene Richtlinie 92/81, die es Irland ermöglicht habe, von der lex generalis der Vorschriften über staatliche Beihilfen gemäß Art. 87 Abs. 1 EG abzuweichen, da die Genehmigungsentscheidungen des Rates u. a. auf der Feststellung beruhten, dass die streitige Befreiung den Wettbewerb nicht beeinträchtige bzw. nicht zu Verzerrungen auf dem Gemeinsamen Markt führe. Zweitens habe die Kommission weder auf das in Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 vorgesehene Verfahren zur Lösung etwaiger Probleme mit Wettbewerbsverzerrungen im Zusammenhang mit der vom Rat genehmigten streitigen Befreiung zurückgegriffen noch gemäß Art. 230 EG eine Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung 2001/224 erhoben. AAL stützt sich drittens auf den Vorschlag für eine Genehmigungsentscheidung des Rates vom 29. November 1999 und auf Art. 3 des Vorschlags für eine Genehmigungsentscheidung des Rates vom 15. November 2000, aus denen hervorgehe, dass die Kommission weder beabsichtigt habe, vor Ablauf der Gültigkeit der Genehmigungsentscheidungen des Rates eine endgültige abschlägige Beihilfeentscheidung zu erlassen, noch die streitige Beihilfe in Frage stelle. Viertens stützt sie sich auf die Genehmigungsentscheidungen des Rates aus der Zeit vor dem Erlass der Entscheidung 2001/224, in denen von der Möglichkeit einer parallelen Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen keine Rede sei. Fünftens macht sie geltend, der fünfte Erwägungsgrund der Entscheidung 2001/224 sei auf die streitige Befreiung, bei der es sich um eine bestehende Beihilfe handle, die im Januar 1983 angemeldet worden sei, nicht anwendbar. Sechstens habe die Kommission ihre sich aus der Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens gegen die streitige Befreiung mit Entscheidung vom 30. Oktober 2001 – d. h. ca. 14 Monate vor Ablauf der Gültigkeit der Genehmigung zur Beibehaltung dieser Befreiung, deren Erteilung sie dem Rat selbst vorgeschlagen habe – ergebende Politik am 31. Dezember 2002 geändert. Siebtens sei das Verhalten der Kommission, das im Erlass der angefochtenen Entscheidung bestehe, die vom Rat in der Entscheidung 2001/224 erteilte Genehmigung zur Anwendung der streitigen Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 zurückzunehmen und infolgedessen die Richtlinie 92/81 jedes Sinns und jeder praktischen Wirksamkeit zu berauben, rechtswidrig.
47 Jedenfalls habe die Kommission in der angefochtenen Entscheidung schon allein im Rahmen der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen einen Ermessensmissbrauch begangen, indem sie die streitige Beihilfe fälschlicherweise als rechtswidrige Beihilfe eingestuft habe, obwohl diese vom Rat genehmigt worden sei. Diese Schlussfolgerung ändere sich nicht dadurch, dass der Rat eine Genehmigung erteilt habe, die länger gültig gewesen sei als die von der Kommission vorgeschlagene, da der Rat im Rahmen seiner Befugnisse auf dem Gebiet der Steuerharmonisierung rechtmäßig gehandelt habe.
48 Die Kommission beantragt, die vorliegenden Klagegründe als unbegründet zurückzuweisen.
49 Soweit sich der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachte vierte Klagegrund auf eine konkludente Genehmigungsentscheidung bezieht, die gemäß Art. 4 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 nach Anmeldung der streitigen Befreiung bei der Kommission zu Beginn des Jahres 1983 ergangen sein und es ermöglicht haben soll, die angemeldete Beihilfe in eine bestehende Beihilfe umzuwandeln, ist vorab darauf hinzuweisen, dass dieser Klagegrund mit dem ersten Teil des zur Stützung derselben Klage vorgebrachten ersten Klagegrundes zusammenfällt, auf dessen Prüfung daher Bezug zu nehmen ist (vgl. unten, Rn. 135 bis 163).
50 Soweit Irland der Kommission unter dem Vorwand ebendieses Klagegrundes offensichtlich vorwirft, sie habe aufgrund des verspäteten Erlasses der Tonerde‑I-Entscheidung das von ihr selbst geweckte schutzwürdige Vertrauen von AAL in die Rechtmäßigkeit der streitigen Befreiung verletzt, ist dieser Klagegrund sodann dahin zu verstehen, dass er im Wesentlichen aus einem Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes hergeleitet wird. Insoweit fällt er mit dem zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten dritten Klagegrund zusammen, auf dessen Prüfung Bezug zu nehmen ist (vgl. unten, Rn. 205 bis 263).
51 Soweit Irland der Kommission im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes schließlich vorwirft, sie habe die angefochtene Entscheidung verspätet erlassen, rügt es im Wesentlichen einen Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, was der Rüge ähnelt, die AAL im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten fünften Klagegrundes geltend gemacht hat und zusammen mit dem letztgenannten Klagegrund zu prüfen ist (vgl. unten, Rn. 264 bis 273).
52 Im Übrigen wird mit den vorliegenden Klagegründen im Wesentlichen die Frage aufgeworfen, ob die Kommission insoweit gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe verstoßen hat, als die angefochtene Entscheidung angeblich Rechtswirkungen erzeugt, die denen der Entscheidung 2001/224 zuwiderlaufen, mit der Irland insbesondere deshalb ausdrücklich ermächtigt worden sein soll, die streitige Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 beizubehalten, weil diese Befreiung zu keiner Wettbewerbsverzerrung führe.
53 Mit dem zweiten und dem vierten Klagegrund, die zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebracht worden sind, wird außerdem die Frage eines etwaigen Verstoßes gegen den Grundsatz des Estoppel im Zusammenhang mit den entgegengesetzten Rechtswirkungen gestellt, die von der Entscheidung 2001/224 und der angefochtenen Entscheidung angeblich erzeugt werden, sowie eines etwaigen Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Kommission vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht das in Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 vorgesehene Verfahren eingehalten habe, um eine Umgestaltung oder die Aufhebung der Entscheidung 2001/224 zu erwirken.
54 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes wirft Irland der Kommission darüber hinaus vor, sie habe im vorliegenden Fall keine Anordnung zur Aussetzung der streitigen Beihilfe gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 erlassen.
55 Aus dem zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrund und dem zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten zweiten Klagegrund ergibt sich schließlich die Notwendigkeit, die Frage zu prüfen, ob die Kommission beim Erlass der streitigen Entscheidung möglicherweise einen Ermessensmissbrauch begangen hat.
56 Was erstens die im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten zweiten und vierten Klagegrundes erhobene Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Estoppel angeht, ist zu beachten, dass es sich bei diesem Grundsatz um ein angelsächsisches Rechtsinstitut handelt, das im Recht der Europäischen Union als solches nicht existiert, was die Tatsache unberührt lässt, dass bestimmte Grundsätze wie die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes und bestimmte Regeln wie die Regel nemo potest venire contra factum proprium, die in diesem Recht verankert sind, als mit diesem Grundsatz zusammenhängend oder verwandt betrachtet werden können. Folglich ist die vorliegende Rüge als rechtlich unbegründet zurückzuweisen, soweit sie sich auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Estoppel stützt, was die Möglichkeit zur Prüfung des Vorbringens Irlands unberührt lässt, wenn dieses als zur Stützung eines Klagegrundes angeführt erachtet werden kann, der im Wesentlichen aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes hergeleitet wird.
57 Was zweitens die im Rahmen des zur Stützung der vorliegenden Klagen jeweils vorgebrachten zweiten Klagegrundes oder des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes erhobenen Rügen betrifft, mit denen ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe, ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 oder eine Befugnisüberschreitung geltend gemacht werden, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Europäische Gemeinschaft nach dem in Art. 5 EG und Art. 7 EG verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung innerhalb der Grenzen der ihr im EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig wird und jedes Organ nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse handelt.
58 Im Übrigen spricht für die Rechtsakte der Organe nach der Rechtsprechung grundsätzlich die Vermutung der Rechtmäßigkeit, und diese Akte entfalten daher Rechtswirkungen, solange sie nicht zurückgenommen, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für nichtig erklärt oder infolge eines Vorabentscheidungsersuchens oder einer Rechtswidrigkeitseinrede für ungültig erklärt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juni 1994, Kommission/BASF u. a., C‑137/92 P, Slg, EU:C:1994:247, Rn. 48, vom 8. Juli 1999, Chemie Linz/Kommission, C‑245/92 P, Slg, EU:C:1999:363, Rn. 93, und vom 5. Oktober 2004, Kommission/Griechenland, C‑475/01, Slg, EU:C:2004:585, Rn. 18).
59 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (vgl. Beschluss vom 8. November 2007, Fratelli Martini und Cargill, C‑421/06, EU:C:2007:662, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach ständiger Rechtsprechung soll dieser Grundsatz gewährleisten, dass die unter das Unionsrecht fallenden Tatbestände und Rechtsbeziehungen vorhersehbar sind (Urteile vom 10. April 2003, Schulin, C‑305/00, Slg, EU:C:2003:218, Rn. 58, und vom 15. September 2005, Irland/Kommission, C‑199/03, Slg, EU:C:2005:548, Rn. 69). Hierzu ist es wesentlich, dass die Organe die Unantastbarkeit der von ihnen erlassenen Rechtsakte, die die rechtliche und sachliche Lage der Rechtssubjekte berühren, wahren; sie können diese daher nur unter Beachtung der Zuständigkeits- und Verfahrensregeln ändern (vgl. Urteil vom 21. Oktober 1997, Deutsche Bahn/Kommission, T‑229/94, Slg, EU:T:1997:155, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt ferner, dass die Organe Widersprüche, die durch die Durchführung verschiedener Bestimmungen des Unionsrechts entstehen können, grundsätzlich vermeiden, ganz besonders dann, wenn mit diesen Vorschriften dasselbe Ziel verfolgt wird, z. B. das eines unverfälschten Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 15. Juni 1993, Matra/Kommission, C‑225/91, Slg, EU:C:1993:239, Rn. 41 und 42, sowie vom 31. Januar 2001, RJB Mining/Kommission, T‑156/98, Slg, EU:T:2001:29, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 hat folgenden Wortlaut:
„Gelangt die Kommission zu der Auffassung, dass die in Absatz 4 genannten Befreiungen oder Ermäßigungen – insbesondere unter dem Aspekt des fairen Wettbewerbs, wegen einer Verzerrung des Funktionierens des Binnenmarktes oder aufgrund der Umweltschutzpolitik der Gemeinschaft – nicht länger aufrechterhalten werden können, so unterbreitet sie dem Rat geeignete Vorschläge. Der Rat beschließt einstimmig über diese Vorschläge.“
61 Im vorliegenden Fall wird die den erhobenen Rügen zugrunde liegende Argumentation, wie die Kommission zu Recht feststellt, durch das Urteil Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) unmittelbar widerlegt.
62 In den Rn. 45 bis 48 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) hat der Gerichtshof nämlich klar zwischen den jeweiligen Zuständigkeiten des Rates und der Kommission auf dem Gebiet der Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Verbrauchsteuer einerseits und auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen andererseits unterschieden. Er hat außerdem für Recht erkannt, dass das in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 92/81 vorgesehene Verfahren eine andere Zielsetzung und einen anderen Anwendungsbereich als die Regelung nach Art. 88 EG hat.
63 In Rn. 49 dieses Urteils hat er daraus abgeleitet, dass eine Entscheidung des Rates, mit der dieser einem Mitgliedstaat gemäß Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 92/81 die Gewährung einer Verbrauchsteuerbefreiung genehmigt hat, somit nicht zur Folge haben konnte, dass die Kommission an der Ausübung der ihr vom Vertrag eingeräumten Befugnisse und folglich daran gehindert wird, das Verfahren nach Art. 88 EG zur Prüfung, ob diese Befreiung eine staatliche Beihilfe darstellt, einzuleiten und im Anschluss an diese Prüfung gegebenenfalls eine Entscheidung wie die Tonerde‑I-Entscheidung zu erlassen.
64 Der Gerichtshof hat in Rn. 50 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) weiter ausgeführt, dass die durch die Genehmigungsentscheidungen des Rates gewährte vollständige Befreiung von der Verbrauchsteuer in Form genau festgelegter räumlicher und zeitlicher Einschränkungen, die durch die Mitgliedstaaten strikt beachtet wurden, keinerlei Auswirkungen auf die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Rat und der Kommission hatte und die Kommission daher nicht an der Ausübung ihrer Befugnisse hindern konnte.
65 In Rn. 51 dieses Urteils hat er darauf hingewiesen, dass diese Aufteilung der Zuständigkeiten im Übrigen im fünften Erwägungsgrund der Entscheidung 2001/224, die zu dem Zeitraum, für den die angefochtene Entscheidung die Rückforderung der streitigen Beihilfe anordnet, in Kraft war, beachtet wird, wenn es darin heißt, dass dem Ergebnis etwaiger Verfahren, die möglicherweise gemäß den Art. 87 EG und 88 EG eingeleitet werden, nicht vorgegriffen wird und die Mitgliedstaaten keinesfalls „ihrer Pflicht, etwaige staatliche Beihilfen … bei der Kommission anzumelden“, enthoben werden.
66 Wie der Gerichtshof in den Rn. 52 und 53 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) schließlich erneut ausgeführt hat, konnte der Umstand, dass die Genehmigungsentscheidungen des Rates auf Vorschlag der Kommission erlassen worden sind und diese zu keiner Zeit von ihren Befugnissen aus Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 oder den Art. 230 EG und 241 EG Gebrauch gemacht hat, um eine Aufhebung oder Umgestaltung dieser Genehmigungsentscheidungen zu erwirken, der Einstufung der Befreiungen von der Verbrauchsteuer als staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG nicht entgegenstehen, wenn die Voraussetzungen für das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe erfüllt waren.
67 Gemäß Art. 61 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Gericht im Fall der Zurückverweisung an die rechtliche Beurteilung in der Entscheidung des Gerichtshofs gebunden. In Anbetracht von Rn. 54 der Gründe des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) ist festzustellen, dass die oben in den Rn. 62 bis 66 angeführten Gründe die notwendige Unterstützung des Tenors dieses Urteils sind, mit dem der Gerichtshof das Urteil Irland u. a./Kommission (oben in Rn. 25 angeführt, EU:T:2012:134) aufgehoben und die Tonerde‑I-Rechtssachen an das Gericht zurückverwiesen hat.
68 Aus diesen Gründen geht jedoch hervor, dass die Kommission mit der Einleitung des Verfahrens nach Art. 88 EG zur Prüfung, ob die streitige Befreiung eine staatliche Beihilfe darstellte, und dem Erlass der Tonerde‑I-Entscheidung im Anschluss an diese Prüfung lediglich die ihr vom EG-Vertrag im Bereich der staatlichen Beihilfen eingeräumten Befugnisse ausgeübt hat, so dass sie die dem Rat im EG-Vertrag auf dem Gebiet der Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Verbrauchsteuern zugewiesenen Befugnisse oder die Rechtsakte, die der Rat in Ausübung dieser Befugnisse erlassen hatte, nicht verletzen konnte.
69 Folglich konnte die Kommission dadurch, dass sie, ohne zuvor das Verfahren nach Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 eingeleitet zu haben, das Verfahren nach Art. 88 EG zur Prüfung, ob die streitige Befreiung eine staatliche Beihilfe darstellte, eingeleitet und im Anschluss an diese Prüfung die Tonerde‑I-Entscheidung erlassen hat, obwohl Art. 1 Abs. 2 der Entscheidung 2001/224 Irland ausdrücklich zur Beibehaltung der streitigen Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 ermächtigt hatte, weder gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe noch, wie von Irland geltend gemacht, gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 verstoßen. Die auf Vorschlag der Kommission erlassenen Genehmigungsentscheidungen des Rates konnten ihre Wirkungen nämlich nur in dem Bereich entfalten, der von den Regeln zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Verbrauchsteuern erfasst wird, und griffen den Wirkungen einer etwaigen Entscheidung wie der Tonerde‑I-Entscheidung, die die Kommission in Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich der staatlichen Beihilfen erlassen konnte, nicht vor.
70 Aus den Rn. 52 und 53 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812), in denen der Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass der Begriff der Beihilfe einer objektiven Situation entspricht und nicht vom Verhalten oder von den Erklärungen der Organe abhängen kann, ergibt sich ferner, dass die Tatsache, dass die Kommission beim Erlass der Genehmigungsentscheidungen des Rates meinte, die Befreiungen von der Verbrauchsteuer führten nicht zu einer Wettbewerbsverfälschung und behinderten nicht das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, der Einstufung dieser Befreiungen als staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG nicht entgegenstehen konnte, wenn die Voraussetzungen für das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe erfüllt waren.
71 Aus der vom Gerichtshof gewählten Lösung ergibt sich erst recht, dass die Kommission bei der Einstufung der Befreiungen von der Verbrauchsteuer als staatliche Beihilfen nicht an die Beurteilungen des Rates in seinen Entscheidungen auf dem Gebiet der Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Verbrauchsteuern gebunden war, wonach die genannten Befreiungen weder zu Wettbewerbsverfälschungen führten noch das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes behinderten.
72 AAL kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, die Kommission habe mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung ihre Befugnisse überschritten. Die Kläger können daher nicht mit Erfolg geltend machen, die angefochtene Entscheidung erzeuge Rechtswirkungen, die denen der Entscheidung 2001/224 zuwiderliefen.
73 Soweit AAL der Kommission im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten zweiten Klagegrundes im Wesentlichen vorwirft, dass sie die streitige Befreiung als rechtswidrige Beihilfe eingestuft habe, obwohl diese vom Rat genehmigt worden sei, genügt für die Zurückweisung dieser Rüge als unbegründet der Hinweis, dass die Genehmigungsentscheidung des Rates, wie in Rn. 49 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) ausgeführt worden ist, im Hinblick auf die Regeln zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Verbrauchsteuern nicht zur Folge haben konnte, dass die Kommission daran gehindert wird, ihre Befugnisse im Bereich der staatlichen Beihilfen auszuüben und im Anschluss an das Verfahren nach Art. 88 EG gegebenenfalls eine Entscheidung wie die angefochtene Entscheidung zu erlassen.
74 Daher sind die Rügen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe, eines Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 und einer Befugnisüberschreitung als unbegründet zurückzuweisen.
75 Was drittens die im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes und des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten zweiten Klagegrundes erhobenen Rügen eines Ermessensmissbrauchs der Kommission angeht, ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff des Ermessensmissbrauchs nach ständiger Rechtsprechung im Unionsrecht eine präzise Bedeutung hat und sich auf eine Situation bezieht, in der eine Verwaltungsbehörde ihre Befugnisse zu einem anderen Zweck als demjenigen ausübt, zu dem sie ihr übertragen worden sind. Eine Entscheidung ist nur dann ermessensmissbräuchlich, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, dass sie zu anderen als den angegebenen Zwecken getroffen wurde (vgl. Urteil vom 9. September 2008, Bayer CropScience u. a./Kommission, T‑75/06, Slg, EU:T:2008:317, Rn. 254 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Im vorliegenden Fall bringen die Kläger für den Nachweis eines Ermessensmissbrauchs keine objektiven, schlüssigen und übereinstimmenden Indizien bei, die den Schluss zulassen würden, dass die angefochtene Entscheidung zu anderen als den angegebenen Zwecken, nämlich zur Rückforderung einer mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren staatlichen Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 3 EG, getroffen worden ist.
77 Daher sind auch die Rügen, mit denen ein Ermessensmissbrauch der Kommission geltend gemacht wird, als unbegründet zurückzuweisen.
78 Viertens ist, soweit Irland der Kommission im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes vorwirft, dass sie im vorliegenden Fall keine Anordnung zur Aussetzung der streitigen Beihilfe gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 erlassen hat, darauf hinzuweisen, dass es in dieser Vorschrift heißt: „Die Kommission kann, nachdem sie dem betreffenden Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, eine Entscheidung erlassen, mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen so lange auszusetzen, bis die Kommission eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt erlassen hat.“
79 Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 schreibt der Kommission, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, den Erlass einer Aussetzungsanordnung nicht vor, sondern bestimmt lediglich, dass sie eine solche Anordnung erlassen kann, wenn sie dies für erforderlich hält. Folglich kann Irland der Kommission, die es im vorliegenden Fall nicht für notwendig erachtet hat, eine Aussetzungsanordnung zu erlassen, nicht mit Erfolg vorwerfen, dass sie gegen Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 verstoßen habe.
80 Daher ist die Rüge, mit der im Wesentlichen ein Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
81 Vorbehaltlich der im Rahmen anderer Klagegründe (vgl. oben, Rn. 49 und 50) oder gesondert (vgl. oben, Rn. 51) zu prüfenden Rügen sind, da die übrigen im Rahmen des zur Stützung der vorliegenden Klagen jeweils vorgebrachten zweiten Klagegrundes und des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes erhobenen Rügen in vollem Umfang zurückgewiesen worden sind, diese Klagegründe selbst als unbegründet zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Erfordernisse aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. m EG und Art. 157 EG, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
82 AAL trägt vor, die Kommission habe dadurch gegen die Erfordernisse aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. m EG und Art. 157 EG verstoßen, dass die angefochtene Entscheidung, anstatt den Unternehmen der Gemeinschaft dabei zu helfen, wettbewerbsfähig zu sein, die Gemeinschaft weniger wettbewerbsfähig gemacht und ihre Lage auf dem Weltmarkt, auf den sie den Großteil ihrer Produktion ausführe, verschlechtert habe. Die Genehmigungsentscheidungen des Rates seien darauf gestützt worden, dass die streitige Befreiung nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führe, was die Kommission ursprünglich eingeräumt habe und im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 92/510 sogar festgestellt worden sei.
83 Die Kommission beantragt, den vorliegenden Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
84 Mit dem vorliegenden Klagegrund wird im Wesentlichen die Frage aufgeworfen, ob die Kommission durch den Erlass der angefochtenen Entscheidung gegen die Erfordernisse aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. m EG und Art. 157 EG verstoßen habe, da sie die Anwendung einer Maßnahme verhindert habe, nämlich der streitigen Befreiung, deren Ziel es gewesen sei, die Wettbewerbsfähigkeit von AAL auf dem Weltmarkt der Tonerdeproduktion zu stärken, ohne zu Wettbewerbsverzerrungen zu führen, wie aus der Entscheidung 2001/224 hervorgehe.
85 Art. 3 EG bestimmt u. a.:
„Die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 umfasst nach Maßgabe dieses Vertrags und der darin vorgesehenen Zeitfolge:
…
m)
die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft …“
86 In Art. 157 EG heißt es u. a.:
„(1) Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft gewährleistet sind.
Zu diesem Zweck zielt ihre Tätigkeit entsprechend einem System offener und wettbewerbsorientierter Märkte auf Folgendes ab:
—
Erleichterung der Anpassung der Industrie an die strukturellen Veränderungen;
—
Förderung eines für die Initiative und Weiterentwicklung der Unternehmen in der gesamten Gemeinschaft, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, günstigen Umfelds;
—
Förderung eines für die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen günstigen Umfelds;
—
Förderung einer besseren Nutzung des industriellen Potenzials der Politik in den Bereichen Innovation, Forschung und technologische Entwicklung.
…
(3) Die Gemeinschaft trägt durch die Politik und die Maßnahmen, die sie aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrags durchführt, zur Erreichung der Ziele des Absatzes 1 bei. Der Rat kann gemäß dem Verfahren des Artikels 251 [EG] und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses spezifische Maßnahmen zur Unterstützung der in den Mitgliedstaaten durchgeführten Maßnahmen im Hinblick auf die Verwirklichung der Ziele des Absatzes 1 beschließen.
Dieser Titel bietet keine Grundlage dafür, dass die Gemeinschaft irgendeine Maßnahme einführt, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte …“
87 Wie die Kommission zu Recht geltend macht, sah Art. 3 EG in seinem Abs. 1 Buchst. g darüber hinaus vor, dass die Tätigkeit der Gemeinschaft „ein System [umfasste], das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt[e]“. Außerdem hieß es in Art. 157 EG, dass er keine Grundlage dafür biete, dass die Gemeinschaft irgendeine Maßnahme einführe, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte.
88 Auch wenn der Gerichtshof in Rn. 52 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) festgestellt hat, dass die Kommission beim Erlass der Genehmigungsentscheidungen des Rates in Anwendung der Regeln zur Harmonisierung der Steuervorschriften meinte, dass die streitige Befreiung nicht zu einer Wettbewerbsverfälschung führe und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes nicht behindere, hat er in Rn. 53 dieses Urteils auch darauf hingewiesen, dass dies der Einstufung der genannten Befreiung als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG nicht entgegenstand, wenn die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Beihilfe erfüllt waren, wobei der Begriff der Beihilfe einer objektiven Situation entspricht und nicht vom Verhalten oder von den Erklärungen der Organe abhängen kann.
89 In der Tonerde‑I-Entscheidung hat die Kommission jedoch festgestellt, dass die streitige Befreiung u. a. deshalb als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG einzustufen sei, weil, worauf sie in den Rn. 61 und 62 dieser Entscheidung hingewiesen hat, davon auszugehen sei, dass sie den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe, auch wenn ein erheblicher Teil der Tonerdeproduktion in Aluminiumfabriken verwendet werde, da die streitige Befreiung ausdrücklich dazu diene, die Wettbewerbsfähigkeit der Begünstigen gegenüber ihren Wettbewerbern – insbesondere in der Gemeinschaft – mit Sitz in Griechenland, Spanien, Deutschland und Ungarn (seit dem Beitritt dieses Landes zur Union am 1. Mai 2004) zu stärken, und zwar durch eine Senkung ihrer Produktionskosten.
90 Im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes weist AAL lediglich darauf hin, dass die oben in Rn. 89 erwähnte Beurteilung der Kommission im Widerspruch zu der Beurteilung stehe, die den auf Vorschlag der Kommission im Bereich der Harmonisierung der Steuervorschriften erlassenen Genehmigungsentscheidungen des Rates zugrunde liege, ohne die Begründetheit dieser Beurteilung spezifisch in Frage zu stellen.
91 Da die Kommission aus den oben in Rn. 88 dargelegten Gründen im vorliegenden Fall nicht an die Beurteilungen in den auf ihren Vorschlag im Bereich der Harmonisierung der Steuervorschriften erlassenen Genehmigungsentscheidungen des Rates gebunden war, ist festzustellen, dass sie durch den Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht gegen Art. 3 Abs. 1 Buchst. m EG und Art. 157 EG verstoßen hat.
92 Folglich ist der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachte dritte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
93 Diese Zurückweisung erfolgt vorbehaltlich der im Rahmen des zur Stützung derselben Klage vorgebrachten sechsten Klagegrundes vorzunehmenden Prüfung der Frage, ob die Kommission gegen die ihr obliegende Begründungspflicht und gegen Art. 87 Abs. 1 EG verstoßen hat, indem sie in den Rn. 61 und 62 der Tonerde‑I-Entscheidung festgestellt hat, dass die Voraussetzungen einer Verfälschung des Wettbewerbs und einer Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten im vorliegenden Fall erfüllt seien (vgl. unten, Rn. 94 bis 131).
Sechster Klagegrund einer Verletzung der Begründungspflicht und eines Verstoßes gegen Art. 87 Abs. 1 EG, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
94 Als Erstes trägt AAL vor, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung die ihr obliegende Begründungspflicht verletzt, da sie die Einhaltung bestimmter Voraussetzungen für die Einstufung der streitigen Beihilfe als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG, nämlich die Voraussetzungen einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten und einer Verfälschung des Wettbewerbs, nicht angemessen begründet habe. Entsprechend dem Wunsch einiger Mitglieder der Kommission hätte diese in der angefochtenen Entscheidung darlegen müssen, weshalb sie im Anschluss an eine vollständige und aktuelle wirtschaftliche Analyse der Auswirkungen der streitigen Beihilfe auf den Wettbewerb und den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu dem Schluss gelangt sei, dass die vorerwähnten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt seien.
95 Als Zweites macht AAL geltend, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung insoweit gegen Art. 87 Abs. 1 EG verstoßen, als sie ohne seriöse wirtschaftliche Analyse fälschlicherweise festgestellt habe, dass die streitige Beihilfe ihr einen Vorteil verschaffe, den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtige und den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe. In diesem Zusammenhang habe die Kommission bei ihrer Analyse der Auswirkungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten im 62. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung erstens nicht berücksichtigt, dass es zwei unterschiedliche Erzeugnisse gebe, nämlich SGA und CGA, obwohl sie als Herstellerin von SGA im Wesentlichen mit nicht europäischen Herstellern und nicht mit den anderen europäischen – insbesondere CGA produzierenden – Herstellern im Wettbewerb stehe. Zweitens vermittle die Kommission im 61. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung ein falsches Bild der Lage, wenn sie behaupte, dass die streitige Beihilfe dazu diene, ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber ihren Wettbewerbern durch Senkung ihrer Kosten zu stärken, was nur in Bezug auf die nicht europäischen Tonerdehersteller, nicht aber in Bezug auf die europäischen Tonerdehersteller zutreffe, zwischen denen deshalb nur sehr wenig Wettbewerb herrsche, weil die Gemeinschaft ein Nettoeinfuhrland von Tonerde und ein Großteil der gemeinschaftlichen Tonerdeproduktion gebunden sei. Drittens habe die Kommission außer Acht gelassen, dass zum einen die europäischen – insbesondere die in Deutschland angesiedelten – Tonerdehersteller Befreiungen auf die von ihnen verwendete Energie erhielten, die bereits kostengünstiger sei, und sie sich zum anderen aufgrund der unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften über Lizenzen und im Umweltschutzbereich auf Kostenebene gegenüber anderen europäischen Tonerdeherstellern in einer nachteiligen Situation befinde.
96 Die Kommission beantragt, den vorliegenden Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
97 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der in Art. 253 EG vorgesehenen Begründungspflicht nach der Rechtsprechung um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (vgl. Urteile vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, Slg, EU:C:2011:620, Rn. 146 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. Mai 2014, Donau Chemie/Kommission, T‑406/09, Slg, EU:T:2014:254, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
98 Somit ist zunächst die Rüge einer Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 253 EG und anschließend die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 87 Abs. 1 EG zu behandeln.
99 Was erstens die Rüge einer Verletzung der Begründungspflicht aus Art. 253 EG angeht, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die in diesem Artikel vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. Urteil vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, Slg, EU:C:1998:154, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können (vgl. Urteil Kommission/Sytraval und Brink’s France, EU:C:1998:154, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
100 Bei der Einstufung einer Maßnahme als Beihilfe erfordert die Begründungspflicht die Angabe der Gründe, aus denen die Kommission der Ansicht ist, dass die streitige Maßnahme von Art. 87 Abs. 1 EG erfasst wird (vgl. Urteil vom 15. Juni 2010, Mediaset/Kommission, T‑177/07, Slg, EU:T:2010:233, Rn. 144 und die dort angeführte Rechtsprechung), der Beihilfen verbietet, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (Urteil vom 4. September 2009, Italien/Kommission, T‑211/05, Slg, EU:T:2009:304, Rn. 151).
101 Die Gründe, die von der Kommission in diesem Zusammenhang geliefert werden müssten, sind anhand der Erfordernisse zu bestimmen, die von der Rechtsprechung für die Feststellung aufgestellt wurden, ob die nachstehend in den Rn. 112 bis 115 wiedergegebenen Voraussetzungen einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten und einer Verfälschung des Wettbewerbs erfüllt sind.
102 Im vorliegenden Fall ist somit vor dem Hintergrund der oben in den Rn. 99 und 100 sowie unten in den Rn. 112 bis 115 wiedergegebenen Rechtsprechung zu beurteilen, ob die Kommission die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die Einhaltung der Voraussetzungen einer Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels und einer Verfälschung des Wettbewerbs hinreichend begründet hat.
103 Vorliegend hat die Kommission in den Erwägungsgründen 60 bis 62 der angefochtenen Entscheidung folgende Begründung geliefert:
„(60)
Die Befreiungen von der Verbrauchsteuer senken einen wichtigen Kostenfaktor und verschaffen den Begünstigten daher einen finanziellen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen, die Mineralöle in anderen Branchen oder Regionen verwenden.
(61) In ihren Bemerkungen erklärten die Begünstigten und Frankreich, dass die Befreiungen nicht zu einer Wettbewerbsverfälschung führen oder das Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen, weil die Gemeinschaft ein Nettoeinfuhrland von Tonerde ist, weil die EU-Hersteller auf dem Weltmarkt bestehen müssen und durch hohe Energiepreise benachteiligt sind und weil die Aufhebung der Befreiungen die Marktsituation für Tonerde in der Gemeinschaft nicht verbessern und die Sicherheit der Versorgung mit Rohstoffen zur Aluminiumherstellung verringern würde. Nach ihrer Ansicht wird die Tatsache, dass der Wettbewerb nicht verfälscht wird, dadurch bestätigt, dass keine Wettbewerber Bemerkungen zum Beschluss der Kommission zur Eröffnung des [förmlichen Prüfverfahrens] vorgelegt haben. Dies ändert jedoch nichts an der Feststellung in Erwägungsgrund 60. Im Gegenteil, es bestätigt, dass die Verbrauchsteuersenkungen explizit dazu dienen, die Wettbewerbsfähigkeit der Begünstigten gegenüber ihren Wettbewerbern durch Senkung ihrer Kosten zu stärken. Die Kommission stellt fest, dass Tonerde auch in Griechenland, Spanien, Deutschland und Ungarn gewonnen wird (auch wenn Ungarn erst seit 1. Mai 2004 EU-Mitglied ist).
(62) Tonerde (SGA und CGA) wird zwischen Mitgliedstaaten gehandelt. Das Gleiche gilt für Aluminium, dessen Markt eng mit dem Tonerdemarkt verbunden ist. Es ist daher davon auszugehen, dass die Beihilfen den innergemeinschaftlichen Handel beeinträchtigen und den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, auch wenn ein erheblicher Teil der Tonerdeproduktion in nahe gelegenen Aluminiumfabriken verwendet wird.“
104 Soweit sich die Kommission im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung auf „Tonerde (SGA und CGA)“ bezieht, ist klarzustellen, dass sie im 16. Erwägungsgrund dieser Entscheidung auf Folgendes hingewiesen hatte:
„… In verschiedenen Fusionsentscheidungen … hat die Kommission festgestellt, dass es zwei getrennte sachlich relevante Märkte gibt: Schmelz-Aluminiumoxid (nachstehend ‚SGA‘) und reines Aluminiumoxid (nachstehend ‚CGA‘). CGA ist ein viel hochwertigeres Produkt als SGA. Während der räumliche Markt für SGA der Weltmarkt ist, geht der für CGA nicht über Europa hinaus.“
105 In den Erwägungsgründen 61 und 62 der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission festgestellt, dass SGA und CGA nach den Analysen in der Entscheidung 2002/174/EG der Kommission vom 3. Mai 2000 über die Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt und dem EWR-Abkommen (Sache Nr. COMP/M.1693 – Alcoa/Reynolds) (ABl. 2002, L 58, S. 25, im Folgenden: Entscheidung Alcoa/Reynolds), die in der Fußnote zum 16. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung angeführt wird, zwei getrennte Märkte darstellten, die deshalb von europäischer Dimension seien, weil sie nicht nur in Irland, Italien und Frankreich, sondern auch in Griechenland, Spanien, Deutschland und (seit dem 1. Mai 2004) Ungarn ansässige Hersteller umfassten. Sie hat ferner festgestellt, dass Tonerde (SGA und CGA) zwischen Mitgliedstaaten gehandelt werde und sich dieser Handel grundsätzlich nur auf den geringen Teil der Tonerdeproduktion beziehe, der nicht in nahe gelegenen Aluminiumfabriken verwendet werde (im Folgenden: überschüssige Tonerde) und Dritten auf dem freien Markt angeboten werde, im Gegensatz zu „gebundener Tonerde“, die nach der im 13. Erwägungsgrund der Entscheidung Alcoa/Reynolds durchgeführten Analyse von integrierten Herstellern intern verwendet werde.
106 Außerdem hat die Kommission in den Erwägungsgründen 60 und 61 der angefochtenen Entscheidung darauf hingewiesen, dass die Befreiungen von der Verbrauchsteuer wie die streitige Befreiung die Kosten eines wichtigen Rohstoffs senkten, der von den Tonerdeherstellern verwendet werde, die in den Genuss dieser Befreiung kämen, nämlich den in Irland in der Region Shannon, in Frankreich in der Region Gardanne und in Italien auf Sardinien ansässigen Herstellern, was auf die – wenn auch in der angefochtenen Entscheidung nicht ausdrücklich vertretene – Auffassung der Kommission hinauslief, die streitige Beihilfe stelle eine Betriebsbeihilfe zugunsten der genannten Hersteller dar, deren Produktivität gegenüber den anderen europäischen Tonerdeherstellern mit Sitz in Griechenland, Spanien und Deutschland, die diese Befreiungen nicht erhielten, gestärkt werde.
107 Im 61. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission schließlich die Einwände zurückgewiesen, die von den Begünstigten, darunter AAL, und von der Französischen Republik während des Verwaltungsverfahrens erhoben worden waren.
108 Aufgrund dieser Feststellungen meinte die Kommission im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung, im vorliegenden Fall davon ausgehen zu können, dass die streitige Beihilfe den zwischenstaatlichen Handel beeinträchtige und den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe.
109 In Anbetracht der oben in den Rn. 99 und 100 sowie unten in den Rn. 112 bis 115 angeführten Rechtsprechung hat die Kommission die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die Einhaltung der Voraussetzungen einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten und einer Verfälschung des Wettbewerbs hinreichend begründet, indem sie knapp, aber klar die Gründe angegeben hat, aus denen unter Berücksichtigung der Existenz eines Handels zwischen Mitgliedstaaten und europäischer Märkte für überschüssige Tonerde (SGA und CGA) sowie der Tatsache, dass die streitige Beihilfe eine Betriebsbeihilfe darstellte, davon auszugehen war, dass diese Beihilfe durch eine Stärkung der Wettbewerbsposition der in Irland in der Region Shannon, in Frankreich in der Region Gardanne und in Italien auf Sardinien ansässigen Tonerdehersteller gegenüber den anderen europäischen Tonerdeherstellern mit Sitz in Griechenland, Spanien und Deutschland den besagten Handel beeinträchtigen und den Wettbewerb auf den erwähnten Märkten verfälschen konnte.
110 Somit ist die Rüge einer Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 253 EG zurückzuweisen.
111 Was zweitens die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 87 Abs. 1 EG angeht, trägt AAL im Wesentlichen vor, die Kommission habe im Rahmen der Einstufung als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 EG einen Rechtsfehler begangen, als sie die Ansicht vertreten habe, dass die streitige Beihilfe ihr einen Vorteil verschaffe, den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtige und den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe.
112 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Kommission im Rahmen ihrer Beurteilung der Voraussetzungen einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten und einer Verfälschung des Wettbewerbs nach der Rechtsprechung nicht zum Nachweis einer tatsächlichen Auswirkung der Beihilfen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten und einer tatsächlichen Wettbewerbsverzerrung verpflichtet ist, sondern nur zu prüfen hat, ob die Beihilfen geeignet sind, diesen Handel zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen (vgl. Urteile vom 9. September 2009, Holland Malt/Kommission, T‑369/06, Slg, EU:T:2009:319, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Italien/Kommission, oben in Rn. 100 angeführt, EU:T:2009:304, Rn. 152 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich braucht die Kommission nicht die tatsächliche Situation auf den betroffenen Märkten, den Marktanteil der durch die Beihilfe begünstigten Unternehmen, die Stellung der konkurrierenden Unternehmen und die Handelsströme zwischen Mitgliedstaaten wirtschaftlich zu analysieren (vgl. Urteil Mediaset/Kommission, oben in Rn. 100 angeführt, EU:T:2010:233, Rn. 145 und die dort angeführte Rechtsprechung).
113 Sodann ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Voraussetzungen für eine Auswirkung auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten und eine Verzerrung des Wettbewerbs im Allgemeinen untrennbar miteinander verbunden sind (Urteile vom 4. April 2001, Regione Autonoma Friuli-Venezia Giulia/Kommission, T‑288/97, Slg, EU:T:2001:115, Rn. 41, und vom 15. Juni 2000, Alzetta u. a./Kommission, T‑298/97, T‑312/97, T‑313/97, T‑315/97, T‑600/97 bis T‑607/97, T‑1/98, T‑3/98 bis T‑6/98 und T‑23/98, Slg, EU:T:2000:151, Rn. 81). Aus der Rechtsprechung geht insbesondere hervor, dass jede einem auf dem Gemeinsamen Markt tätigen Unternehmen gewährte Beihilfe Verfälschungen des Wettbewerbs hervorrufen und den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann (vgl. Urteile vom 11. Juni 2009, ASM Brescia/Kommission, T‑189/03, Slg, EU:T:2009:193, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Italien/Kommission, T‑222/04, Slg, EU:T:2009:194, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
114 Hinsichtlich der Voraussetzung einer Verfälschung des Wettbewerbs stellt die Rechtsprechung darüber hinaus eine Vermutung auf, wonach Betriebsbeihilfen, d. h. Beihilfen, mit denen ein Unternehmen von Kosten befreit werden soll, die es normalerweise im Rahmen seines laufenden Betriebs oder seiner üblichen Tätigkeiten hätte tragen müssen, diesem eine künstliche finanzielle Unterstützung verschaffen, die grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen in den Sektoren verfälscht, in denen sie gewährt werden (Urteile vom 8. Juni 1995, Siemens/Kommission, T‑459/93, Slg, EU:T:1995:100, Rn. 48 und 77, sowie vom 29. September 2000, CETM/Kommission, T‑55/99, Slg, EU:T:2000:223, Rn. 83; vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 19. September 2000, Deutschland/Kommission, C‑156/98, Slg, EU:C:2000:467, Rn. 30, und vom 5. Oktober 2000, Deutschland/Kommission, C‑288/96, Slg, EU:C:2000:537, Rn. 77 und 78). Folglich ist die Kommission, wenn sie das Vorliegen einer Betriebsbeihilfe feststellt, nicht verpflichtet, darzulegen, weshalb diese Beihilfe den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht (vgl. in diesem Sinne Urteil Deutschland/Kommission, EU:C:2000:537, Rn. 86).
115 In Bezug auf die Voraussetzung einer Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten geht aus der Rechtsprechung schließlich hervor, dass, wenn eine von einem Mitgliedstaat gewährte Beihilfe die Stellung eines Unternehmens gegenüber anderen, mit ihm konkurrierenden Unternehmen im zwischenstaatlichen Handel stärkt, dieser als durch die Beihilfe beeinflusst anzusehen ist (vgl. Urteile vom 14. September 1994, Spanien/Kommission, C‑278/92 bis C‑280/92, Slg, EU:C:1994:325, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Italien/Kommission, oben in Rn. 100 angeführt, EU:T:2009:304, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es gibt keinen Schwellenwert, bis zu dem man davon ausgehen könnte, dass der Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt wäre (vgl. Urteile ASM Brescia/Kommission, oben in Rn. 113 angeführt, EU:T:2009:193, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Italien/Kommission, oben in Rn. 113 angeführt, EU:T:2009:194, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere die Voraussetzung, wonach die Beihilfe geeignet sein muss, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, hängt nicht von der Größe des betreffenden Tätigkeitsgebiets ab (Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg, C‑280/00, Slg, EU:C:2003:415, Rn. 82).
116 Was zunächst die Rüge betrifft, mit der AAL im Wesentlichen in Abrede stellt, dass die Voraussetzung eines dem Beihilfeempfänger verschafften Vorteils erfüllt war, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 87 EG verhindern soll, dass der Handel zwischen Mitgliedstaaten durch von staatlichen Stellen gewährte Vergünstigungen beeinträchtigt wird, die in verschiedenartiger Weise durch die Bevorzugung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (vgl. Urteil vom 15. März 1994, Banco Exterior de España, C‑387/92, Slg, EU:C:1994:100, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung).
117 Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Begriff der Beihilfe nicht nur positive Leistungen wie Subventionen, sondern auch Maßnahmen, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen aber nach Art und Wirkungen gleichstehen (Urteil vom 13. Juni 2000, EPAC/Kommission, T‑204/97 und T‑270/97, Slg, EU:T:2000:148, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass eine Maßnahme, mit der die staatlichen Stellen bestimmten Unternehmen eine Abgabenbefreiung gewähren, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Abgabepflichtigen, eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG ist (Urteil Banco Exterior de España, oben in Rn. 116 angeführt, EU:C:1994:100, Rn. 14).
118 Im vorliegenden Fall geht aus dem 60. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung hervor, dass sich der AAL durch die streitige Befreiung gewährte Vorteil nach Auffassung der Kommission daraus ergab, dass „[d]ie Befreiungen von der Verbrauchsteuer … [die Kosten eines wichtigen von den Begünstigten verwendeten Rohstoffs senkten]“ und ihnen „einen finanziellen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen [verschafften], die Mineralöle in anderen Branchen oder [anderen] Regionen verwende[te]n“.
119 In Anbetracht der oben in Rn. 117 angeführten Rechtsprechung hat die Kommission daher zu Recht festgestellt, dass die Befreiungen von der Verbrauchsteuer eine Belastung beseitigten, nämlich die Verbrauchsteuer auf Mineralöle, die Unternehmen normalerweise zu tragen hatten, die wie AAL diese Öle als Brennstoff für die Tonerdegewinnung in Irland in der Region Shannon, in Frankreich in der Region Gardanne und in Italien auf Sardinien verwendeten, und diesen daher einen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen verschafften, die im Rahmen ihres Produktionsprozesses ebenfalls Mineralöle in anderen Branchen oder anderen Regionen verwendeten.
120 Diese Feststellung wird durch das Argument von AAL, das im Wesentlichen auf die angeblich ausgleichende Funktion der streitigen Befreiung unter Berücksichtigung eines objektiven Wettbewerbsnachteils gestützt wird, der ihr auf der Ebene der Produktionskosten gegenüber anderen europäischen, insbesondere den in Deutschland ansässigen, Tonerdeherstellern entstanden sein soll, nicht in Frage gestellt. Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass, wenn ein Mitgliedstaat versucht, die Wettbewerbsbedingungen eines bestimmten Wirtschaftssektors denen in anderen Mitgliedstaaten durch einseitige Maßnahmen anzunähern, dies nach gefestigter Rechtsprechung diesen Maßnahmen nicht den Charakter von Beihilfen nehmen kann (vgl. Urteil vom 29. April 2004, Italien/Kommission, C‑372/97, Slg, EU:C:2004:234, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
121 Folglich ist die Rüge, die aus der Nichteinhaltung der Voraussetzung eines dem Beihilfeempfänger verschafften Vorteils hergeleitet wird, als unbegründet zurückzuweisen.
122 Was sodann die Rüge angeht, mit der AAL im Wesentlichen in Abrede stellt, dass die Voraussetzung einer Verfälschung des Wettbewerbs erfüllt war, ist darauf hinzuweisen, dass im Einklang mit der oben in den Rn. 113 und 114 angeführten Rechtsprechung zum einen jede einem auf dem Gemeinsamen Markt tätigen Unternehmen gewährte Beihilfe Verfälschungen des Wettbewerbs hervorrufen kann und zum anderen bei Betriebsbeihilfen, d. h. Beihilfen, mit denen ein Unternehmen von Kosten befreit werden soll, die es normalerweise im Rahmen seines laufenden Betriebs oder seiner üblichen Tätigkeiten hätte tragen müssen, davon ausgegangen wird, dass sie die Wettbewerbsbedingungen in den Sektoren verfälschen, in denen sie gewährt werden.
123 Im vorliegenden Fall geht aus dem 60. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung hervor, dass nach Auffassung der Kommission „[d]ie Befreiungen von der Verbrauchsteuer … [die Kosten eines wichtigen Rohstoffs senkten]“, der von in Irland in der Region Shannon, in Frankreich in der Region Gardanne und in Italien auf Sardinien angesiedelten Tonerdeherstellern verwendet wurde. Diese Beurteilung trifft zu, da Unternehmen, die wie AAL Mineralöle als Brennstoff für die Tonerdegewinnung in den vorerwähnten Regionen verwendeten, normalerweise die Verbrauchsteuer auf Mineralöle hätten entrichten müssen, so dass sie mit den dieser Steuer entsprechenden Kosten belastet worden wären. Daher hat die Kommission, wie oben in Rn. 106 bereits festgestellt, im 60. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung implizit, aber notwendigerweise ebenfalls zu Recht die Ansicht vertreten, dass die Befreiungen von der Verbrauchsteuer Betriebsbeihilfen im Sinne der oben in Rn. 114 angeführten Rechtsprechung zugunsten der in Irland in der Region Shannon, in Frankreich in der Region Gardanne und in Italien auf Sardinien angesiedelte Tonerdehersteller entsprachen. Schließlich hat die Kommission, worauf oben in Rn. 105 bereits hingewiesen worden ist, in den Erwägungsgründen 61 und 62 der angefochtenen Entscheidung festgestellt, dass es generell einen Handel zwischen Mitgliedstaaten und europäische Märkte für überschüssige Tonerde (SGA und CGA) gebe. Diese Feststellungen stützen sich insbesondere auf eine wirtschaftliche Analyse, die die Kommission in der Entscheidung Alcoa/Reynolds (vgl. oben, Rn. 105) durchgeführt hat. Im Rahmen der vorliegenden Klage hat AAL jedoch keine durch Beweise belegte wirtschaftliche Analyse vorgelegt, die geeignet ist, die Stichhaltigkeit der allgemeinen wirtschaftlichen Analyse in der Entscheidung Alcoa/Reynolds, auf die die angefochtene Entscheidung verweist, in Frage zu stellen. Daher kann die Stichhaltigkeit der letztgenannten Analyse im vorliegenden Fall nicht in Zweifel gezogen werden. In Anbetracht all dieser in den Erwägungsgründen 60 bis 62 der angefochtenen Entscheidung getroffenen Feststellungen der Kommission durfte diese im Einklang mit der oben in den Rn. 113 und 114 angeführten Rechtsprechung davon ausgehen, dass die streitige Beihilfe den Wettbewerb auf den europäischen Märkten für überschüssige Tonerde (SGA und CGA) zwischen in Irland in der Region Shannon, in Frankreich in der Region Gardanne und in Italien auf Sardinien angesiedelten Tonerdeherstellern einerseits und in Griechenland, Spanien und Deutschland angesiedelten europäischen Tonerdeherstellern andererseits verfälschte oder zu verfälschen drohte.
124 Das Argument von AAL, das im Wesentlichen daraus hergeleitet wird, dass die Kommission die konkreten Wettbewerbsbedingungen auf den Märkten für Tonerde (SGA und CGA) nicht richtig erfasst habe, ist nicht geeignet, die Stichhaltigkeit der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Einhaltung der Voraussetzung einer Verfälschung des Wettbewerbs in Frage zu stellen. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die Kommission die betroffenen Märkte im Einklang mit der oben in Rn. 112 angeführten Rechtsprechung nicht wirtschaftlich zu analysieren brauchte und im vorliegenden besonderen Fall, in dem die streitige Befreiung eine Betriebsbeihilfe darstellte, im Übrigen davon ausgehen durfte, dass diese den Wettbewerb, zumindest in Bezug auf zwischen Mitgliedstaaten gehandelte Tonerde (SGA und CGA), deren Märkte von europäischer Dimension waren, verfälschte (vgl. oben, Rn. 123). Soweit AAL der Kommission vorwirft, diese habe nicht berücksichtigt, dass ein erheblicher Teil der Gemeinschaftsproduktion gebunden sei, ist ihre Rüge in tatsächlicher Hinsicht unbegründet, da die Kommission im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen festgestellt hat, dass sich der Handel zwischen Mitgliedstaaten nur auf überschüssige Tonerde (SGA und CGA) beziehe.
125 Soweit AAL im Wesentlichen behauptet, dass sie nicht mit den anderen europäischen, sondern nur mit nicht europäischen Tonerdeherstellern im Wettbewerb gestanden habe, ist auch dieses Argument nicht geeignet, die Stichhaltigkeit der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Einhaltung der Voraussetzung einer Verfälschung des Wettbewerbs in Frage zu stellen. Insoweit genügt die Feststellung, dass die Behauptungen von AAL nicht belegt und im Übrigen durch ihr eigenes Vorbringen widerlegt werden, wonach die streitige Befreiung es ermöglichen sollte, die auf Kostenebene nachteilige Situation eines wie sie in Irland angesiedelten Tonerdeherstellers im Vergleich zur Situation in anderen Mitgliedstaaten wie Deutschland angesiedelter Tonerdehersteller auszugleichen. Aus dem eigenen Vorbringen von AAL geht daher hervor, dass diese mit anderen europäischen Tonerdeherstellern im Wettbewerb stand.
126 Folglich ist die Rüge, mit der die Nichteinhaltung der Voraussetzung einer Verfälschung des Wettbewerbs geltend gemacht wird, als unbegründet zurückzuweisen.
127 Was schließlich die Rüge betrifft, mit der AAL im Wesentlichen in Abrede stellt, dass die Voraussetzung einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten erfüllt war, ist darauf hinzuweisen, dass im Einklang mit der oben in den Rn. 113 und 115 angeführten Rechtsprechung zum einen jede einem auf dem europäischen Markt tätigen Unternehmen gewährte Beihilfe den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann und zum anderen, wenn eine von einem Mitgliedstaat gewährte Beihilfe die Stellung eines Unternehmens gegenüber anderen, mit ihm konkurrierenden Unternehmen im zwischenstaatlichen Handel stärkt, dieser als durch die Beihilfe beeinflusst anzusehen ist.
128 Im vorliegenden Fall hat die Kommission, worauf oben in Rn. 123 bereits hingewiesen worden ist, zu Recht festgestellt, dass es generell einen Handel zwischen Mitgliedstaaten und europäische Märkte für überschüssige Tonerde (SGA und CGA) gab. Da die Befreiungen von der Verbrauchsteuer nur Tonerdeherstellern zugutekamen, die wie AAL in Irland in der Region Shannon, in Frankreich in der Region Gardanne und in Italien auf Sardinien angesiedelt waren, und nicht den in Griechenland, Spanien und Deutschland angesiedelten europäischen Tonerdeherstellern, mit denen AAL im Wettbewerb stand (vgl. oben, Rn. 123), hat die Kommission daraus außerdem zu Recht geschlossen, dass die streitige Beihilfe geeignet war, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.
129 Das von AAL vorgebrachte Argument, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, die Kommission habe außer Acht gelassen, dass ein erheblicher Teil der gemeinschaftlichen Tonerdeproduktion gebunden sei und Tonerde (SGA und CGA) nicht zwischen den Mitgliedstaaten, sondern zwischen diesen und Drittstaaten gehandelt werde, da die Gemeinschaft ein Nettoeinfuhrland dieser Erzeugnisse sei, ist nicht geeignet, die Stichhaltigkeit der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die Einhaltung der Voraussetzung einer Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in Frage zu stellen. Zum einen ist die Rüge in tatsächlicher Hinsicht unbegründet, da sie sich auf Tonerde bezieht, die für den Eigenbedarf verwendet wird. Wie oben in Rn. 124 bereits ausgeführt worden ist, hat die Kommission im 62. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung nämlich im Wesentlichen festgestellt, dass der Handel zwischen Mitgliedstaaten lediglich überschüssige Tonerde (SGA und CGA) betreffe. Zum anderen wird die Rüge, soweit sie sich auf den Handel mit Tonerde (SGA und CGA) zwischen den Mitgliedstaaten bezieht, nicht belegt und sogar durch das eigene Vorbringen von AAL in ihren Schriftsätzen angeführte widerlegt, wonach „[der] kleinere in Form von Aluminiumoxidtrihydrat veräußerte Teil [ihrer Produktion] … von einem Hersteller reinen Aluminiumoxids … mit Sitz in Deutschland als Ausgangsprodukt verwendet [werde]“ und „[d]as gesamte [von ihr] hergestellte Aluminiumoxid … über ihr Seeverkehrsterminal auf Märkte außerhalb Irlands, hauptsächlich im Vereinigten Königreich, in Skandinavien und an anderen Orten in Europa ausgeführt [werde]“. Aus dem eigenen Vorbringen von AAL ergibt sich daher, dass diese zwischenstaatliche Handelsströme mit überschüssiger Tonerde (SGA und CGA) speiste.
130 Folglich ist die Rüge, die aus der Nichteinhaltung der Voraussetzung einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten hergeleitet wird, als unbegründet zurückzuweisen.
131 Da somit sämtliche im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten sechsten Klagegrundes erhobenen Rügen zurückgewiesen worden sind, ist dieser Klagegrund selbst in vollem Umfang als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Stützung der vorliegenden Klagen jeweils vorgebrachter erster Klagegrund eines Rechtsfehlers bei der Einstufung der streitigen Beihilfe im Hinblick auf Art. 88 EG
132 Im Rahmen des zur Stützung der vorliegenden Klagen jeweils vorgebrachten ersten Klagegrundes werfen die Kläger der Kommission vor, diese habe in der angefochtenen Entscheidung einen Rechtsfehler begangen, indem sie die streitige Beihilfe als neue Beihilfe im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG und nicht als bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 88 Abs. 1 EG eingestuft und auf die genannte Beihilfe nicht das Verfahren betreffend bestehende Beihilferegelungen angewandt habe.
133 Der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachte erste Klagegrund ist in drei alternative Teile untergliedert. Mit dem ersten Teil wird im Wesentlichen ein Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel sowie ein Verstoß gegen die in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Verfahrensvorschriften für bestehende Beihilferegelungen geltend gemacht. Der zweite Teil wird aus einem Verstoß gegen Art. 88 EG in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b Ziff. iv und Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 sowie aus einem Verstoß gegen die in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Verfahrensvorschriften für bestehende Beihilferegelungen hergeleitet. Der dritte Teil betrifft im Wesentlichen einen Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel.
134 Der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachte erste Klagegrund ist ebenfalls in drei alternative Teile untergliedert. Mit dem ersten Teil wird im Wesentlichen ein Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel geltend gemacht. Der zweite Teil wird aus einem Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. iii dieser Verordnung kodifizierte Regel hergeleitet. Der dritte Teil betrifft im Wesentlichen einen Verstoß gegen Art. 88 EG in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b Ziff. iv und Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999.
Erster Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und zweiter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes, mit denen ein Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel sowie – in der Rechtssache T‑50/06 RENV II – ein Verstoß gegen die in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Verfahrensvorschriften für bestehende Beihilferegelungen geltend gemacht werden
135 Die Kläger tragen im Wesentlichen vor, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel verstoßen, indem sie bei der Einstufung der streitigen Beihilfe als neue Beihilfe im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG nicht berücksichtigt habe, dass diese Beihilfe als genehmigt gelten müsse, da sich die Kommission nicht innerhalb angemessener Frist nach ihrer Anmeldung zur streitigen Befreiung geäußert habe. In der Rechtssache T‑50/06 RENV II macht Irland darüber hinaus einen Verstoß gegen die in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Verfahrensvorschriften für bestehende Beihilferegelungen geltend.
136 Irland stützt sich in diesem Zusammenhang als Erstes auf das Schreiben vom 6. Mai 1983, aus dem hervorgehe, dass es das von der Kommission im Schreiben vom 22. März 1983 unterbreitete Angebot angenommen habe, sein Schreiben vom 28. Januar 1983, in dem es diese über die beabsichtigte streitige Befreiung unterrichtet habe, als Anmeldung im Sinne von Art. 88 Abs. 2 EG zu behandeln. Als Zweites beruft es sich erneut auf das Schreiben vom 6. Mai 1983, mit dem es der Kommission im Einklang mit der in Art. 4 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Regel die Durchführung der streitigen Befreiung im Voraus angezeigt habe. Als Drittes macht es geltend, die Kommission habe es in den beiden auf die Anmeldung der streitigen Befreiung folgenden Monaten versäumt, im Einklang mit der in Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Frist oder innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Anmeldung der beabsichtigten Durchführung eine Entscheidung zu treffen, und sei bis 1992, d. h. während der auf diese Anmeldungen folgenden neun Jahre, nicht tätig geworden bzw. habe geschwiegen. Als Viertes sei der Umstand, dass es die streitige Befreiung durchgeführt habe, ohne eine förmliche Stellungnahme der Kommission im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen abzuwarten, in tatsächlicher Hinsicht unbeachtlich, da diese Stellungnahme nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgegeben und die streitige Befreiung mehr als zwei Monate nach ihrer Anmeldung bei der Kommission am 28. Januar 1983 durchgeführt worden sei. Darüber hinaus macht Irland geltend, die Kommission habe sich selbst so verhalten, als vertrete sie die Auffassung, bei der streitigen Beihilfe handle es sich um eine bestehende Beihilfe. Es stützt sich insoweit erstens auf den klaren und präzisen Wortlaut des vierten Erwägungsgrundes der Entscheidung 92/510, wonach „[d]ie Kommission wie auch alle Mitgliedstaaten … der Auffassung [seien], dass [die] Befreiungen aufgrund besonderer politischer Zielsetzungen gerechtfertigt [seien] und nicht zu einer Verzerrung des Wettbewerbs oder zu einer Beeinträchtigung des Funktionierens des [Gemeinsamen Marktes] führ[t]en“, der als eine positive Entscheidung über die am 28. Januar 1983 angemeldete streitige Befreiung oder zumindest als eine Grundsatzerklärung anzusehen sei, die erkennen lasse, dass die Zweifel der Kommission an der Vereinbarkeit der streitigen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt bereits ausgeräumt worden seien. Zweitens stützt sich Irland auf die im fünften Erwägungsgrund der Entscheidung 97/425 und im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 1999/880 verwendete Terminologie, die der Terminologie ähnele, die die Kommission verwende, wenn sie auf der Grundlage von Art. 17 der Verordnung Nr. 659/1999 bestehende Beihilferegelungen prüfe. Drittens beruft es sich auf die Vorschläge für Genehmigungsentscheidungen des Rates von November 1999 und 2000 sowie auf den fünften Erwägungsgrund der Entscheidung 2001/224, die keinerlei Warnsignal hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der streitigen Beihilfe enthielten. Viertens habe die Kommission jedenfalls dem Rat selbst vorgeschlagen, die Anwendung der streitigen Befreiung nach 1983 zu genehmigen. Darüber hinaus wirft Irland der Kommission im Wesentlichen vor, sie habe dadurch das in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Verfahren bei bestehenden Beihilferegelungen verletzt, dass sie die Rückforderung der streitigen Beihilfe rückwirkend angeordnet habe, obwohl sie im Rahmen der laufenden Kontrolle bestehender Beihilferegelungen ausschließlich befugt sei, die Aufhebung oder Umgestaltung dieser Beihilfe innerhalb einer von ihr festgelegten Frist vorzuschreiben.
137 AAL beruft sich erstens auf das Schreiben vom 6. Mai 1983, aus dem hervorgehe, dass Irland das von der Kommission im Schreiben vom 22. März 1983 unterbreitete Angebot angenommen habe, das Schreiben vom 28. Januar 1983, in dem sie über die beabsichtigte streitige Befreiung unterrichtet worden sei, als Anmeldung im Sinne von Art. 88 Abs. 2 EG zu behandeln. Zweitens verweist sie auf die Durchführung der streitigen Befreiung ca. drei Monate nach Übermittlung des Schreibens vom 28. Januar 1983 an die Kommission. Drittens beruft sie sich auf das Schreiben vom 6. Mai 1983, mit dem Irland der Kommission die Durchführung der streitigen Befreiung im Einklang mit der in Art. 4 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Regel im Voraus angezeigt habe. Viertens macht sie geltend, das Argument der Kommission, wonach Irland und sie selbst die streitige Befreiung nicht unter strikter Einhaltung der von der Rechtsprechung (Urteil vom 11. Dezember 1973, Lorenz,120/73, Slg, EU:C:1973:152) entwickelten und später in der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Voraussetzungen durchgeführt hätten, könne ihr nicht entgegengehalten werden, da die Kommission selbst von diesem Rechtsrahmen abgewichen sei, indem sie Irland angeboten habe, sein Schreiben vom 28. Januar 1983 als Anmeldung zu betrachten, und sich damit der Möglichkeit begeben habe, innerhalb eines angemessenen Zeitraums von zwei Monaten Stellung zu nehmen. Hilfsweise trägt sie vor, das aus der angeblichen Unvollständigkeit der Anmeldung hergeleitete Argument der Kommission könne ihr nicht entgegengehalten werden, da diese, nachdem sie von Irland über die unmittelbar bevorstehende Durchführung der Beihilfe unterrichtet worden sei, im Schreiben vom 22. März 1983 darauf verzichtet habe, eine vervollständigte Anmeldung zu verlangen. Fünftens bringt sie die Untätigkeit und das Schweigen der Kommission bis Juli 2000, d. h. während der auf die Anmeldung der streitigen Befreiung und die Unterrichtung über deren unmittelbar bevorstehende Durchführung folgenden 17 Jahre, zur Sprache. Sechstens stützt sie sich darauf, dass die Kommission die Anmeldung vom 28. Januar 1983 außer Acht gelassen habe, als sie am 17. Juli 2000 die Anmeldung der Befreiung verlangt und am 30. Oktober 2001 das förmliche Prüfverfahren eingeleitet habe, was sie zur Begehung eines Fehlers bei der Einstufung der Beihilfe verleitet habe. Siebtens bezieht sie sich auf den vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 92/510, durch den die Kommission gewissermaßen anerkannt habe, dass es sich bei der streitigen Befreiung um eine bestehende Beihilfe handle. Achtens stützt sie sich auf die von der Kommission herbeigeführte und während eines langen Zeitraums akzeptierte Lage, die es objektiv gebiete, die streitige Beihilfe als bestehende Beihilfe einzustufen.
138 Die Kommission beantragt, die vorliegenden Teile des jeweils ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
139 Insoweit ist vorab darauf hinzuweisen, dass der EG-Vertrag für bestehende und für neue Beihilfen unterschiedliche Verfahren vorsieht. Während neue Beihilfen gemäß Art. 88 Abs. 3 EG der Kommission vorher zu melden sind und nicht durchgeführt werden dürfen, bevor in dem Verfahren keine abschließende Entscheidung ergangen ist, dürfen bestehende Beihilfen gemäß Art. 88 Abs. 1 EG rechtmäßig durchgeführt werden, solange die Kommission nicht ihre Unvereinbarkeit festgestellt hat (vgl. Urteil vom 24. März 2011, Freistaat Sachsen und Land Sachsen-Anhalt/Kommission, T‑443/08 und T‑455/08, Slg, EU:T:2011:117, Rn. 187 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hinsichtlich bestehender Beihilfen kann daher gegebenenfalls nur eine Entscheidung ergehen, die ihre Unvereinbarkeit mit Wirkung für die Zukunft feststellt (vgl. Urteil Freistaat Sachsen und Land Sachsen-Anhalt/Kommission, EU:T:2011:117, Rn. 187 und die dort angeführte Rechtsprechung).
140 Soweit die Kläger förmlich einen Verstoß gegen Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 geltend machen, ist darüber hinaus zu beachten, dass die in dieser Bestimmung enthaltene materiell-rechtliche Vorschrift zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung durch die Kommission bereits in Kraft getreten war, nämlich am 16. April 1999. Auch wenn die Wahrung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes der sofortigen Anwendung materiell-rechtlicher Vorschriften nach der Rechtsprechung (Urteile vom 14. Mai 1975, CNTA/Kommission, 74/74, Slg, EU:C:1975:59, Rn. 33 bis 43, vom 26. Juni 1990, Sofrimport/Kommission, C‑152/88, Slg, EU:C:1990:259, Rn. 16 und 17, sowie vom 5. Oktober 1993, Driessen u. a., C‑13/92 bis C‑16/92, Slg, EU:C:1993:828, Rn. 30 bis 35) Grenzen setzt, können diese Grenzen im Fall einer rechtswidrigen Beihilfe oder einer angemeldeten Beihilfe vor ihrer Genehmigung durch die Kommission nicht gelten. Nach der Systematik und der Logik der Kontrolle staatlicher Beihilfen ist die Lage nämlich nicht sofort und endgültig durch die Anmeldung oder die Gewährung der Beihilfe festgelegt, sondern bleibt bis zu einer Entscheidung der Unionsorgane offen. In diesem Zusammenhang hat die Kommission die materiell-rechtlichen Vorschriften anzuwenden, die zu dem Zeitpunkt gelten, zu dem sie sich zur betreffenden Beihilfe oder Beihilferegelung sowie zu deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt äußert, da die Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidung nur anhand dieser Vorschriften zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 11. Dezember 2008, Kommission/Freistaat Sachsen, C‑334/07 P, Slg, EU:C:2008:709, Rn. 53). Zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung durch die Kommission war Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 daher in Kraft, so dass er im vorliegenden Fall anwendbar ist.
141 Die Verfahrensvorschriften in Art. 4 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999, auf den Art. 1 Buchst. b Ziff. iii dieser Verordnung verweist, können hingegen nicht für Verfahrenshandlungen gelten, die vor ihrem Inkrafttreten am 16. April 1999 vorgenommen worden sind. Nach der Rechtsprechung sind Verfahrensvorschriften nämlich im Allgemeinen auf die bei ihrem Inkrafttreten laufenden Verfahren anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u. a., 212/80, bis 217/80, Slg, EU:C:1981:270, Rn. 9, sowie vom 23. Februar 2006, Molenbergnatie, C‑201/04, Slg, EU:C:2006:136, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum Zeitpunkt des Verfahrens zur Vorprüfung der streitigen Befreiung, während dessen die streitige Beihilfe als von der Kommission genehmigt gelten soll, nämlich im Laufe des Jahres 1983, waren diese Vorschriften jedoch noch nicht in Kraft getreten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass mit Art. 4 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999, wie die Kommission im 67. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung zu Recht anerkannt hat, u. a. bestimmte Verfahrensvorschriften kodifiziert werden sollten, die nach der sich aus dem Urteil Lorenz (oben in Rn. 137 angeführt, EU:C:1973:152, Rn. 6) ergebenden Rechtsprechung des Gerichtshofs (im Folgenden: Lorenz-Rechtsprechung) zu dem Zeitpunkt anwendbar waren, zu dem die geltend gemachten Verfahrenshandlungen erfolgt sind. Nach dieser von AAL in der Rechtssache T‑69/06 RENV II angeführten Rechtsprechung besagt Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag (nunmehr Art. 88 Abs. 3 EG), dass, wenn die Kommission, obwohl sie durch einen Mitgliedstaat von der beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe unterrichtet worden ist, es unterlässt, ein förmliches Verfahren nach Art. 93 Abs. 2 EG-Vertrag (nunmehr Art. 88 Abs. 2 EG) (bzw. förmliches Prüfverfahren) einzuleiten, indem sie den betreffenden Mitgliedstaat zur Stellungnahme auffordert, dieser nach Ablauf der zur ersten Prüfung des Vorhabens ausreichenden Frist die geplante Beihilfemaßnahme unter der Bedingung durchführen darf, dass er dies der Kommission zuvor anzeigt; damit fällt die Beihilfe dann unter die Regelung für bestehende Beihilfen (Urteil vom 9. August 1994, Namur-Les assurances du crédit, C‑44/93, Slg, EU:C:1994:311, Rn. 12). Bei dem ausreichenden oder angemessenen Zeitraum, welcher der Kommission für die Vornahme der ersten Prüfung (bzw. das Vorprüfungsverfahren) zusteht, ist nach Auffassung des Gerichtshofs von der in den Art. 173 EG-Vertrag und 175 EG-Vertrag (nunmehr Art. 230 EG und 232 EG) vorgesehenen Zweimonatsfrist für die Erhebung von Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen auszugehen (Urteil Lorenz, oben in Rn. 137 angeführt, EU:C:1973:152, Rn. 4).
142 Die Rügen eines Verstoßes gegen Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 sind somit als Rügen zu verstehen, die sich im Wesentlichen auf einen Verstoß gegen die Lorenz-Rechtsprechung beziehen.
143 Im vorliegenden Fall tragen die Kläger im Wesentlichen vor, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung einen Fehler begangen, indem sie die streitige Beihilfe als neue Beihilfe eingestuft und rückwirkend ihre Rückforderung angeordnet habe, obwohl es sich um eine bestehende Beihilfe im Sinne der Lorenz-Rechtsprechung handle, da sich die Kommission nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach ihrer Anmeldung zur streitigen Befreiung geäußert habe.
144 Erstens ist zu prüfen, ob das Schreiben vom 28. Januar 1983 nicht formal als Anmeldung der streitigen Befreiung im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG angesehen werden könnte, und hilfsweise, ob diese Anmeldung deshalb unvollständig war, weil Irland im Schreiben vom 6. Mai 1983 nicht auf die Frage geantwortet hat, die ihm von der Kommission im Schreiben vom 22. März 1983 in Bezug auf die Dauer der Gewährung der Beihilfe an AAL gestellt worden war.
145 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle auf keinen Fall die vom Urheber der angefochtenen Handlung gegebene Begründung durch seine eigene ersetzen darf (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Januar 2013, Frucona Košice/Kommission, C‑73/11 P, Slg, EU:C:2013:32, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gericht kann sich bei der Zurückweisung eines vor ihm geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes folglich nicht auf in der streitigen Entscheidung nicht zu findende Gründe stützen, ohne die Grenzen seiner Kontrolle zu überschreiten (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil Frucona Košice/Kommission, EU:C:2013:32, Rn. 88).
146 Im 67. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung hat die Kommission Folgendes festgestellt:
„… die Beihilfen [können] nicht als gemäß Artikel 4 Absatz 6 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates genehmigt gelten. Frankreich und Italien haben die Maßnahmen nie angemeldet. In seinem Schreiben vom 6. Mai 1983 hat Irland bestätigt, dass die Beihilfe erst zu diesem Zeitpunkt angewandt wurde und dass sein Schreiben an die Kommission als Anmeldung im Sinne von Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag angesehen werden kann. Irland hat die Kommission jedoch nie gemäß Artikel 4 Absatz 6 der Verordnung Nr. 659/1999 des Rates offiziell von seiner Absicht, die Beihilfemaßnahme durchzuführen, in Kenntnis gesetzt. Im Gegenteil, es hat die Maßnahme nur eine Woche nach dem Schreiben vom 6. Mai 1983, in dem die Kommission aufgefordert wurde, die Beihilfe als angemeldet zu betrachten, in Kraft gesetzt. Nach Ansicht der Kommission muss die Beihilfe daher als rechtswidrig im Sinne von Artikel 1 Buchstabe f der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates betrachtet werden. Die französischen und italienischen Beihilfen wurden im Widerspruch zu Artikel 88 Absatz 3 EG-Vertrag in Kraft gesetzt, ohne die Genehmigung der Kommission abzuwarten. Die Mitgliedstaaten können sich in Bezug auf diese Beihilfen nicht auf Artikel 4 Absatz 6 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 berufen. Die Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates trat zwar erst 1999 in Kraft, aber bereits vor diesem Termin galten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ähnliche Vorschriften“.
147 Außerdem hat die Kommission in Art. 5 Abs. 5 der Tonerde‑I-Entscheidung u. a. Irland aufgegeben, die zwischen dem 3. Februar 2002 und dem 31. Dezember 2003 gewährte streitige Beihilfe von ihrer Empfängerin, nämlich AAL, zurückzufordern.
148 Aus dem 67. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung ergibt sich, dass die Kommission in dieser Entscheidung zwar der Französischen und der Italienischen Republik entgegengehalten hat, die von ihnen angewandten Befreiungen von der Verbrauchsteuer nicht bei ihr angemeldet zu haben; Irland hat sie jedoch nie vorgeworfen, die streitige Befreiung nicht bei ihr angezeigt zu haben, sondern lediglich, sie nicht – wie von der Lorenz-Rechtsprechung verlangt – offiziell von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt zu haben, die genannte Befreiung durchzuführen, was es nur eine Woche nach Übermittlung des Schreibens vom 6. Mai 1983, mit dem sie aufgefordert wurde, das Schreiben vom 28. Januar 1983 als Anmeldung zu betrachten, getan hat. Dies steht im Einklang mit der Tatsache, dass Irland im Schreiben vom 6. Mai 1983 lediglich ein von der Kommission im Schreiben vom 22. März 1983 unterbreitetes Angebot angenommen hat, das Schreiben vom 28. Januar 1983, mit dem Irland sie von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, die streitige Befreiung durchzuführen, gemäß Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag als Anmeldung zu behandeln.
149 Da die angefochtene Entscheidung nicht damit begründet wird, dass Irland die streitige Befreiung nicht bzw. unvollständig bei der Kommission angemeldet habe, kann sich das Gericht bei der Zurückweisung des ersten Teils des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes nicht auf einen solchen Grund stützen, ohne die Grenzen seiner ihm im Rahmen einer Nichtigkeitsklage obliegenden Kontrolle zu überschreiten.
150 Folglich ist das Vorbringen der Kommission gegen den ersten Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes, mit dem das Fehlen einer Anmeldung der streitigen Befreiung im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG und hilfsweise die Unvollständigkeit der behaupteten Anmeldung geltend gemacht wird, zurückzuweisen.
151 Zweitens ist der Einwand der Kommission gegen den zweiten Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes zu prüfen, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, sie habe das Schreiben vom 28. Januar 1983 allein aufgrund des Schreibens vom 6. Mai 1983 als Anmeldung der streitigen Befreiung im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG betrachten können, so dass die Frist mit Eingang des letztgenannten Schreibens zu laufen beginnen müsse.
152 Insoweit ist zu beachten, dass Irland erst mit Schreiben vom 6. Mai 1983 bei der Kommission beantragt hat, sein Schreiben vom 28. Januar 1983 gemäß Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag als Anmeldung zu betrachten, wie es von der Kommission im Schreiben vom 22. März 1983 vorgeschlagen worden war. Die Kommission trägt somit zu Recht vor, dass die streitige Beihilfe vor Eingang des Schreibens vom 6. Mai 1983 als nicht förmlich angemeldet anzusehen war, so dass die ausreichende oder angemessene Frist für die Durchführung der ersten Prüfung dieser Beihilfe erst mit Eingang des letztgenannten Schreibens zu laufen beginnen konnte.
153 Drittens ist über den Einwand der Kommission gegen den ersten Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und den zweiten Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes zu entscheiden, mit dem geltend gemacht wird, das Schreiben vom 6. Mai 1983 könne nicht, wie die Kläger vortragen, als die von der Rechtsprechung geforderte vorherige Anzeige der Durchführung des Beihilfevorhabens angesehen werden.
154 In diesem Zusammenhang ergibt sich sowohl aus dem Inhalt als auch den Zielsetzungen des Art. 93 EG-Vertrag (nunmehr Art. 88 EG), dass als bestehende Beihilfen im Sinne des Abs. 1 dieses Artikels u. a. die Beihilfen anzusehen sind, die unter den Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag ordnungsgemäß durchgeführt werden durften, einschließlich derjenigen, die sich aus der Auslegung dieser Vorschrift durch den Gerichtshof im Urteil Lorenz (oben in Rn. 137 angeführt, EU:C:1973:152, Rn. 4 bis 6) ergeben (Urteile Namur-Les assurances du crédit, oben in Rn. 141 angeführt, EU:C:1994:311, Rn. 13, und vom 17. Juni 1999, Piaggio, C‑295/97, Slg, EU:C:1999:313, Rn. 48). Unter Berücksichtigung der sich aus der Lorenz-Rechtsprechung ergebenden Verfahrensregeln hängt die Umwandlung einer angemeldeten Beihilfe in eine bestehende Beihilfe von zwei Voraussetzungen ab, deren Erfüllung notwendig und ausreichend ist. Zum einen muss der Mitgliedstaat der Kommission seine Absicht, das Förderungsvorhaben durchzuführen, anzeigen, und zum anderen darf die Kommission binnen zwei Monaten nach der vollständigen Anmeldung des Beihilfevorhabens das kontradiktorische Verfahren des Art. 93 Abs. 2 EG-Vertrag nicht eingeleitet haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Februar 2001, Österreich/Kommission, C‑99/98, Slg, EU:C:2001:94, Rn. 84).
155 Im vorliegenden Fall ist nur über die mögliche Nichterfüllung der Voraussetzung im Zusammenhang mit der vorherigen Anzeige der Durchführung des Beihilfevorhabens bei der Kommission durch den Mitgliedstaat – der einzigen Voraussetzung, die von der Kommission im 67. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung geprüft worden ist (vgl. oben, Rn. 146) – zu entscheiden.
156 Selbst wenn man davon ausgeht, dass Irland die streitige Befreiung zu dem Zeitpunkt vollständig bei der Kommission angemeldet hat, zu dem es sie mit seinem Schreiben vom 6. Mai 1983 aufgefordert hat, sein Schreiben vom 28. Januar 1983 gemäß Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag als Anmeldung zu betrachten, wie es von der Kommission im Schreiben vom 22. März 1983 vorgeschlagen worden war, verfügte diese unter Berücksichtigung der in der Lorenz-Rechtsprechung aufgestellten Verfahrensregeln über eine Frist von zwei Monaten für die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens. Aus den letztgenannten Regeln ergibt sich, dass Irland die streitige Befreiung erst nach Ablauf dieser Frist, d. h. grundsätzlich erst am 7. Juli 1983, umsetzen durfte (vgl. in diesem Sinne Urteil Österreich/Kommission, oben in Rn. 154 angeführt, EU:C:2001:94, Rn. 77), vorausgesetzt, es hatte dies der Kommission zuvor angezeigt, da die auf der Grundlage der genannten Befreiung gewährte Beihilfe dann unter die Regelung für bestehende Beihilfen fiel (Urteil Namur-Les assurances du crédit, oben in Rn. 141 angeführt, EU:C:1994:311, Rn. 12).
157 Zum einen ist jedoch festzustellen, dass das Schreiben vom 6. Mai 1983, das die Anmeldung der streitigen Befreiung bei der Kommission bestätigte, nicht auch als vorherige Anzeige der Durchführung dieser Befreiung betrachtet werden konnte. Selbst wenn die vorherige Anzeige vor Ablauf der für die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens vorgesehenen Zweimonatsfrist, also in einem Zeitraum, in dem Irland jedenfalls nicht befugt war, die streitige Befreiung umzusetzen, hätte abgegeben werden können, ist nämlich darauf hinzuweisen, dass Irland die Kommission in diesem Schreiben keineswegs darüber unterrichtet hat, dass es, sollte sie sich nicht äußern, die erwähnte Befreiung umsetzen werde, sondern lediglich eingeräumt hat, dass die streitige Befreiung anzumelden war, bestätigt hat, dass es sie bei der Kommission anmelden werde, und dieser zusätzliche Informationen über die genannte Befreiung erteilt hat. Zum anderen lässt sich den Akten nicht entnehmen, dass Irland der Kommission nach Übermittlung des Schreibens vom 6. Mai 1983 und vor Umsetzung der streitigen Befreiung am 12. Mai 1983 einen Schriftsatz übermittelt hätte, der eine vorherige Anzeige der Umsetzung dieser Befreiung darstellen könnte.
158 Folglich trägt die Kommission zu Recht vor, dass im vorliegenden Fall nicht sämtliche von der Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen für die Umgestaltung einer angemeldeten Beihilfe in eine bestehende Beihilfe erfüllt sind.
159 Viertens bleibt das Vorbringen der Kläger zu prüfen, mit dem geltend gemacht wird, die Kommission habe sich selbst so verhalten, als handle es sich bei der streitigen Beihilfe um eine bestehende Beihilfe, wobei dieses Vorbringen praktisch auf den Inhalt der auf Vorschlag der Kommission erlassenen Genehmigungsentscheidungen des Rates sowie auf die lange Zeitspanne gestützt wird, während deren die Kommission davon abgesehen hat, ein förmliches Prüfverfahren einzuleiten.
160 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob im Einklang mit der oben in Rn. 154 angeführten Rechtsprechung eine neue oder bestehende Beihilfe vorliegt und folglich vor ihrer Einführung das Vorprüfungsverfahren nach Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag eingeleitet werden muss, nicht von der subjektiven Einschätzung der Kommission abhängen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Piaggio, oben in Rn. 154 angeführt, EU:C:1999:313, Rn. 47 und 48). Außerdem kann der bloße Umstand, dass die Kommission während einer verhältnismäßig langen Zeit keine Prüfung in Bezug auf eine bestimmte staatliche Maßnahme eingeleitet hat, dieser Maßnahme allein nicht den objektiven Charakter einer bestehenden Beihilfe nehmen, wenn es sich um eine Beihilfe handelt (Urteil vom 30. April 2002, Government of Gibraltar/Kommission, T‑195/01 und T‑207/01, Slg, EU:T:2002:111, Rn. 129).
161 Aus der oben in Rn. 160 angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass das Vorbringen der Kläger, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, das Verhalten der Kommission bringe ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass die streitige Beihilfe eine bestehende Beihilfe sei, als unbegründet zurückzuweisen ist.
162 Nach alledem ist festzustellen, dass die Kommission keinen Fehler begangen hat, als sie es abgelehnt hat, davon auszugehen, dass die streitige Beihilfe nach Anmeldung in eine bestehende Beihilfe umgewandelt worden sei. Mit der Anordnung der Rückforderung dieser Beihilfe rückwirkend zum 3. Februar 2002 hat sie somit auch nicht gegen das in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Verfahren für bestehende Beihilferegelungen verstoßen, da dieses Verfahren für die genannte Beihilfe nicht galt.
163 Folglich sind der erste Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und der zweite Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
Zweiter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und dritter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes, mit denen ein Verstoß gegen Art. 88 EG in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b Ziff. iv und Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 geltend gemacht wird
164 Die Kläger tragen vor, die Kommission habe im 68. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung gegen Art. 88 EG in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b Ziff. iv und Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 verstoßen, indem sie bei der Einstufung der streitigen Beihilfe als neue Beihilfe im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG ab dem 17. Juli 1990 nicht berücksichtigt habe, dass AAL diese Beihilfe seit September 1983 erhalte, die für die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen gemäß Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 geltende Verjährungsfrist von zehn Jahren somit zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission zu handeln begonnen habe – am 17. Juli 2000 –, ausgelaufen gewesen sei und die streitige Beihilfe ab diesem Zeitpunkt als bestehende Beihilfe gelte.
165 Darüber hinaus wirft Irland der Kommission in der Rechtssache T‑50/06 RENV II im Wesentlichen vor, sie habe dadurch gegen die in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Verfahrensregeln für bestehende Beihilferegelungen verstoßen, dass sie in der angefochtenen Entscheidung rückwirkend die Rückforderung der streitigen Beihilfe angeordnet habe, obwohl sie im Rahmen der laufenden Kontrolle bestehender Beihilferegelungen lediglich dazu befugt sei, innerhalb einer vor ihr festgesetzten Frist die Aufhebung oder Umgestaltung dieser Beihilfe vorzuschreiben.
166 In diesem Zusammenhang macht Irland erstens geltend, die Verjährung trete, wie das Schrifttum bestätige, mit Ablauf der Verjährungsfrist ein, wenn sich die Merkmale der Beihilfe, wie im vorliegenden Fall, während dieser Frist nicht geändert hätten. Zweitens beruft es sich auf die Verpflichtung zur Einstufung jeder staatlichen Beihilfe entweder als „bestehende“ Beihilfe oder als „neue“ Beihilfe im Sinne von Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999, wobei der Begriff der „teilweise bestehenden und teilweise neuen“ Beihilfe in der Verordnung Nr. 659/1999 nicht vorgesehen sei. Drittens verweist es auf die Rechtsprechung, aus der sich ergebe, dass mit der Verjährungsfrist vor allem die Rechte oder Interessen bestimmter Beteiligter, darunter der betreffende Mitgliedstaat und der Beihilfeempfänger, geschützt werden sollten. Viertens macht es geltend, die Frist für das Schreiben vom 17. Juli 2000, das nach Auslaufen der in Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Verjährungsfrist erstellt worden sei, entfalte keine aufschiebende Wirkung. Fünftens bezieht es sich auf den Begriff „bestehende Beihilfe“ in der Verordnung Nr. 659/1999, der nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich erhaltene finanzielle Vorteile betreffe, sondern auch Beihilferegelungen einschließe. Darüber hinaus wirft Irland der Kommission im Wesentlichen vor, sie habe dadurch gegen die in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Verfahrensregeln für bestehende Beihilferegelungen verstoßen, dass sie in der angefochtenen Entscheidung rückwirkend die Rückforderung der streitigen Beihilfe angeordnet habe, obwohl sie im Rahmen der laufenden Kontrolle bestehender Beihilferegelungen lediglich dazu befugt sei, innerhalb einer von ihr festgesetzten Frist die Aufhebung oder Umgestaltung dieser Beihilfe vorzuschreiben.
167 AAL macht erstens geltend, die von der Kommission in der angefochtenen Entscheidung vorgenommene Auslegung von Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999, wonach nur der Teil der auf der Grundlage der streitigen Befreiung gewährten Beihilfe, für den die Frist ausgelaufen sei, als bestehende Beihilfe gelte, verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Zweitens könne die Kommission nicht – erstmals in der Klagebeantwortung – vortragen, dass es sich bei der streitigen Befreiung eher um eine Beihilferegelung handle als um eine Einzelbeihilfe, die ihr sukzessive gewährt worden sei, nämlich jedes Mal dann, wenn sie in Anwendung der streitigen Befreiung im Rahmen eines Zollvorgangs von der Verbrauchsteuer befreit worden sei. Drittens stützt sich AAL auf den Ausdruck „gilt“ in Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999, aus dem sich im vorliegenden Fall ableiten lasse, dass die Einzelbeihilfe als nach Ablauf einer Frist von zehn Jahren ab der erstmaligen Gewährung der Beihilfe im Jahr 1983 zu einer bestehenden Beihilfe geworden gelte.
168 Die Kommission beantragt, die vorliegenden Teile des jeweils ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
169 Soweit die Kläger einen Verstoß gegen Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 geltend machen, ist zu beachten, dass diese Vorschrift im Einklang mit der oben in Rn. 140 angeführten Rechtsprechung zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kommission über die streitige Beihilfe in Kraft war, so dass sie im vorliegenden Fall anwendbar ist.
170 Nach ihrem Wortlaut sind „Beihilfen, die gemäß Artikel 15 als bereits bestehende Beihilfen gelten“, als „bestehende Beihilfen“ einzustufen.
171 Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 bestimmt:
„(1) Die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen gelten für eine Frist von zehn Jahren.
(2) Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger entweder als Einzelbeihilfe oder im Rahmen einer Beihilferegelung gewährt wird. Jede Maßnahme, die die Kommission oder ein Mitgliedstaat auf Antrag der Kommission bezüglich der rechtswidrigen Beihilfe ergreift, stellt eine Unterbrechung der Frist dar. Nach jeder Unterbrechung läuft die Frist von neuem an. Die Frist wird ausgesetzt, solange die Entscheidung der Kommission Gegenstand von Verhandlungen vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist.
(3) Jede Beihilfe, für die diese Frist ausgelaufen ist, gilt als bestehende Beihilfe.“
172 Wie aus dem 14. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/1999 hervorgeht, sollen mit der Verjährungsfrist in Art. 15 dieser Verordnung vor allem bestimmte Beteiligte, darunter der betreffende Mitgliedstaat und der Beihilfeempfänger, geschützt werden (Urteil vom 6. Oktober 2005, Scott/Kommission, C‑276/03 P, Slg, EU:C:2005:590, Rn. 30).
173 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 um eine Verfahrensvorschrift handelt, die im Einklang mit der oben in Rn. 141 angeführten Rechtsprechung zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens, d. h. im vorliegenden Fall am 16. April 1999, Anwendung finden sollte. Da Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 im Gegensatz zu Art. 11 Abs. 2 letzter Unterabsatz dieser Verordnung in Bezug auf seine zeitliche Anwendung keine Übergangsvorschrift enthält, ist jedoch festzustellen, dass er auf alle am 16. April 1999 laufenden oder ab diesem Datum eröffneten förmlichen Prüfverfahren anwendbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. November 2008, Hotel Cipriani u. a./Kommission, T‑254/00, T‑270/00 und T‑277/00, Slg, EU:T:2008:537, Rn. 357). Auch wenn die Beihilfe vor dem Inkrafttreten von Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 gewährt worden ist, führt dieser folglich gleichwohl dazu, dass die darin vorgesehene Frist von zehn Jahren zu laufen beginnt, wenn die Entscheidung über die Rückforderung der besagten Beihilfe, wie im vorliegenden Fall, nach Inkrafttreten des genannten Artikels ergeht.
174 Im vorliegenden Fall tragen die Kläger im Wesentlichen vor, die Kommission habe einen Fehler begangen, als sie die Ansicht vertreten habe, bei der streitigen Beihilfe handle es sich um eine neue Beihilfe, obwohl sie im 68. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung zu dem Schluss gekommen sei, dass die in Anwendung der streitigen Befreiung gewährte Beihilfe eine Beihilfe darstelle, die gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 für die Zeit vor dem 17. Juli 1990 als bereits bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv dieser Verordnung gelte, und obwohl der Vorteil der in Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Verjährung auch für die streitige Befreiung gelten müsse.
175 Im 68. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung hat die Kommission Folgendes festgestellt:
„… die Beihilfen [können] nur teilweise als bestehende Beihilfen nach Artikel 15 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates betrachtet werden. Nach diesem Artikel gelten die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen für eine Frist von zehn Jahren, beginnend mit dem Tag, an dem die rechtswidrige Beihilfe gewährt wird. … Im Falle Irlands wurde dieser Zeitraum durch das Schreiben der Kommission vom 17. Juli 2000 unterbrochen. Dies bedeutet, dass nur die irische Befreiung bezüglich des Zeitraums vor dem 17. Juli 1990 als bestehende Beihilfe betrachtet werden kann.“
176 Aus dem vorerwähnten Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung geht hervor, dass die Kommission in dieser die Auffassung vertreten hat, die streitige Befreiung stelle für die Zeit vor dem 17. Juli 1990 eine Beihilfe dar, die gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 als bereits bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv dieser Verordnung gelte.
177 In ihren Schriftsätzen macht die Kommission geltend, diese Lösung sei im Hinblick auf die Tatsache, dass es sich bei der streitigen Befreiung um eine „Beihilferegelung“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999 handle, sowie darauf gerechtfertigt, dass die Verjährungsfrist im Einklang mit Art. 15 dieser Verordnung erst an dem Tag zu laufen begonnen habe, an dem AAL im Rahmen der genannten Regelung tatsächlich eine rechtswidrige Beihilfe gewährt worden sei.
178 Nach Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999 „bezeichnet … ‚Beihilferegelung‘ eine Regelung, wonach Unternehmen, die in der Regelung in einer allgemeinen und abstrakten Weise definiert werden, ohne nähere Durchführungsmaßnahmen Einzelbeihilfen gewährt werden können, beziehungsweise eine Regelung, wonach einem oder mehreren Unternehmen nicht an ein bestimmtes Vorhaben gebundene Beihilfen für unbestimmte Zeit und/oder in unbestimmter Höhe gewährt werden können“. Diese Vorschrift kodifiziert und präzisiert eine frühere Rechtsprechung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 1996, Kahn Scheepvaart/Kommission, T‑398/94, Slg, EU:T:1996:73, Rn. 41 und 49).
179 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die streitige Befreiung durch die am 13. Mai 1983 wirksam gewordene Verordnung von 1983 in das irische Recht eingeführt worden ist. Diese Verordnung gewährt einen Nachlass auf die Verbrauchsteuer auf Mineralöle, die als Brennstoff zur Tonerdegewinnung verwendet werden, dessen Höhe dem Betrag der genannten Verbrauchsteuer entspricht, was in der Praxis auf eine Befreiung von dieser Steuer hinausläuft. Selbst unter Berücksichtigung der in den Genehmigungsentscheidungen des Rates genau festgelegten räumlichen und zeitlichen Einschränkungen der streitigen Befreiung (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Irland u. a., oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812, Rn. 50) entspricht diese Maßnahme entgegen dem Vorbringen von AAL einer „Beihilferegelung“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999, da die Beihilfeempfänger allgemein und abstrakt im Wesentlichen als Tonerdehersteller definiert werden und der ihnen gewährte Beihilfebetrag unbestimmt bleibt.
180 Soweit AAL der Kommission vorwirft, diese habe erstmals in der Klagebeantwortung die Auffassung vertreten, bei der streitigen Befreiung handle es sich eher um eine Beihilferegelung als um eine Einzelbeihilfe, genügt die Feststellung, dass diese Rüge auf der Annahme beruht, dass die angefochtene Entscheidung eine Einstufung der streitigen Befreiung als „Beihilferegelung“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 659/1999 ausschließe. AAL hat zur Stützung einer solchen Annahme jedoch nichts vorgebracht. Folglich ist die vorliegende Rüge zurückzuweisen.
181 Wie die Kommission zu Recht bemerkt, geht aus Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 hervor, dass im Rahmen einer Beihilferegelung die Verjährungsfrist an dem Tag zu laufen beginnt, an dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger gewährt wird, was im vorliegenden Fall jeder Einfuhr durch AAL oder jeder Lieferung an diese aus einer Raffinerie oder einem Lager von Mineralölen entspricht, die dazu bestimmt sind, als Brennstoff zur Tonerdegewinnung in ihrer Fabrik in der Region Shannon verwendet zu werden. In der Praxis ist AAL nämlich bei jeder dieser Handlungen in den Genuss der streitigen Befreiung gekommen und hat in Anwendung dieser Befreiung eine individuelle Beihilfe erhalten (vgl. Urteil Hotel Cipriani u. a./Kommission, oben in Rn. 173 angeführt, EU:T:2008:537, Rn. 364 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher lief die in Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 genannte Verjährungsfrist entgegen dem Vorbringen der Kläger für jede Beihilfe, die im Rahmen der der streitigen Befreiung entsprechenden Beihilferegelung auf diese Art und Weise gewährt worden war, ab dem Tag der Beihilfegewährung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, France Télécom/Kommission, C‑81/10 P, Slg, EU:C:2011:811, Rn. 84).
182 Diese Auslegung von Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999, die sich auf den Beginn der Verjährungsfrist (dies a quo) für eine im Rahmen einer Beihilferegelung gewährte Beihilfe bezieht, wird durch das von Irland in der Rechtssache T‑50/06 RENV II angeführte Urteil Scott/Kommission (oben in Rn. 172 angeführt, EU:C:2005:590), das ausschließlich die Frage betraf, ob die in diesem Artikel genannte Unterbrechung der Verjährungsfrist von einer Mitteilung der die Verjährung unterbrechenden Handlung an den Beihilfeempfänger abhing, nicht in Frage gestellt.
183 Im Übrigen ist die in Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 genannte Verjährungsfrist in Bezug auf die streitige Befreiung durch das Schreiben der Kommission vom 17. Juli 2000 unterbrochen worden.
184 Somit hat die Kommission im 68. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass die in Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 genannte Frist nur für die vor dem 17. Juli 1990 gewährte Befreiung ausgelaufen sei und die nach diesem Zeitpunkt gewährte streitige Beihilfe folglich nicht als bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 659/1999 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 dieser Verordnung gelten könne. Mit der Anordnung der Rückforderung dieser Beihilfe rückwirkend zum 3. Februar 2002 hat sie somit auch nicht gegen das in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Verfahren für bestehende Beihilferegelungen verstoßen, da dieses Verfahren für die erwähnte Beihilfe nicht galt.
185 Folglich sind der zweite Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und der dritte Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
Dritter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und erster Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes, mit denen im Wesentlichen ein Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel geltend gemacht wird
186 Die Kläger machen im Wesentlichen geltend, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung insoweit gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel verstoßen, als sie bei der Einstufung der streitigen Beihilfe als neue Beihilfe im Sinne von Art. 88 Abs. 3 EG nicht berücksichtigt habe, dass Irland vor seinem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) am 1. Januar 1973 gegenüber Alcan eine rechtsverbindliche Verpflichtung in Bezug auf die Anwendung der streitigen Befreiung im Rahmen des Betriebs der von ihr in der Region Shannon angesiedelten und später an AAL veräußerten Aluminiumfabrik eingegangen sei, so dass die streitige Beihilfe vor dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags in seinem Hoheitsgebiet gewährt worden sei.
187 In diesem Zusammenhang stützt sich Irland erstens auf die in den seit 1970 mit Alcan ausgetauschten Schreiben formalisierte Verpflichtung, wonach auf die für die Tonerdegewinnung in der von Alcan in der Region Shannon geplanten Fabrik verwendeten Rohstoffe keine Steuern geschuldet sein sollten. Zweitens beruft es sich auf den rechtsverbindlichen Charakter dieser Verpflichtung im irischen Recht, der von den Rechtsberatern der irischen Regierung und vom Attorney General im Jahr 1981 bestätigt worden sei. Drittens verweist es auf das Fehlen einer eingehenden Untersuchung der Kommission über die Art dieser Verpflichtung im irischen Recht. Viertens bezieht es sich auf den Inhalt des Schreibens vom 6. Mai 1983, in dem es nie anerkannt habe, dass die streitige Beihilfe keine bestehende Beihilfe darstelle, sondern lediglich auf das Angebot der Kommission geantwortet habe, das Schreiben von Januar 1983 als Anzeige der Durchführung der streitigen Befreiung zu behandeln. Fünftens sei es irrelevant, dass die Verordnung von 1983 nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags in seinem Hoheitsgebiet erlassen worden sei, da diese Verordnung lediglich die förmliche Durchführung einer rechtsverbindlichen Verpflichtung darstelle, die vor diesem Inkrafttreten gegenüber Alcan eingegangen worden sei, und das Gesetz, das dem Minister den Erlass der erwähnten Verordnung gestattet habe, zum Zeitpunkt der Übernahme dieser Verpflichtung bereits in Kraft gewesen sei.
188 AAL beruft sich erstens auf die rechtsverbindliche Verpflichtung, die Irland im April 1970 gegenüber Alcan eingegangen ist und nach der auf die Rohstoffe, die zur Tonerdegewinnung in der Fabrik verwendet werden, deren Bau in der Region Shannon geplant war, keine Steuern geschuldet sein sollten; das Bestehen dieser rechtlichen Verpflichtung sei Alcan durch das Schreiben Irlands an die Kommission vom 28. Januar 1983 bestätigt worden. Zweitens beruft sie sich auf den Standpunkt, den Irland konstant – auch im Schreiben vom 6. Mai 1983 – vertreten habe und wonach die streitige Befreiung eine nicht anmeldepflichtige, weil zum Zeitpunkt seines Beitritts zur EWG bereits bestehende Beihilfe darstelle, von der im Jahr 1983 lediglich die Durchführung bei der Kommission angezeigt worden sei. Drittens verweist sie auf die fehlende Einschlägigkeit der speziellen Steuerregelung, da die Beihilfe in einer allgemeinen Befreiung von der inländischen Steuer auf zur Verarbeitung bestimmte Rohstoffe bestehe. Viertens führt sie das Wesen des irischen Gesetzgebungsverfahrens ins Feld, in dem der Minister auf dem Verordnungswege entscheide und das Parlament die rechtliche Maßnahme anschließend auf dem Gesetzeswege bestätige.
189 Die Kommission beantragt, den dritten Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes in Anwendung der Regel nemo potest venire contra factum proprium als unzulässig zurückzuweisen, da Irland im Rahmen des Verwaltungsverfahrens eine gegenteilige Position bezogen habe. Dieser Teil sei jedenfalls unbegründet. Im Übrigen beantragt die Kommission, den ersten Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
190 Soweit die Kläger förmlich einen Verstoß gegen Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 geltend machen, ist vorab zu beachten, dass dieser Artikel im Einklang mit der oben in Rn. 140 angeführten Rechtsprechung zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kommission über die streitige Beihilfe in Kraft war, so dass er im vorliegenden Fall anwendbar ist.
191 Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift können „alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind“, als „bestehende Beihilfen“ eingestuft werden.
192 Was erstens die von der Kommission gegen den dritten Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes erhobene Unzulässigkeitseinrede angeht, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Regel nemo potest venire contra factum proprium niemand anfechten kann, was er zuvor anerkannt hat (vgl. in diesem Sinne entsprechend Beschluss vom 13. Februar 2014, Marszałkowski/HABM, C‑177/13 P, EU:C:2014:183, Rn. 73 und 74 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
193 Unterstellt, die Kommission kann sich in Bezug auf das ursprüngliche Vorbringen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens mit Erfolg auf die Regel nemo potest venire contra factum proprium berufen, ist vorliegend zu prüfen, ob Irland während des genannten Verfahrens eingeräumt hat, die streitige Beihilfe nicht vor seinem Beitritt zur EWG am 1. Januar 1973 gewährt zu haben.
194 Im Schreiben vom 6. Mai 1983 hat Irland erklärt, es könne auf der Grundlage des im Schreiben der Kommission vom 22. März 1983 angeführten Vorbringens zu den Verpflichtungen, die es gegenüber Alcan angeblich eingegangen ist, einräumen, dass die Durchführung dieser Verpflichtungen gemäß Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag anzuzeigen sei, und hat daraufhin beantragt, sein Schreiben vom 28. Januar 1983 als eine solche Anzeige zu behandeln. Im letzten Satz des 65. Erwägungsgrundes der Tonerde‑I-Entscheidung hat die Kommission daher festgestellt, dass Irland in seinem Schreiben vom 6. Mai 1983 ihrer Auffassung zugestimmt habe, dass die streitige Beihilfe anzumelden sei, was auf die Auffassung hinauslief, dass es sich nicht um eine bestehende Beihilfe handle, sondern um eine neue Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 659/1999, da nur für neue Beihilfen die Anzeigepflicht gemäß Art. 93 Abs. 3 EG-Vertrag galt (Urteil Piaggio, oben in Rn. 154 angeführt, EU:C:1999:313, Rn. 48).
195 Wie aus dem 53. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung hervorgeht, hatte Irland jedoch im Rahmen des förmlichen Prüfverfahrens an die Vorgeschichte der streitigen Befreiung erinnert und die Ansicht vertreten, dass sie als bestehende Beihilfe betrachtet werden müsse.
196 Im Schreiben von AAL an die Kommission vom 1. März 2002 war dieses Vorbringen zwar auf die Frage beschränkt, ob sich die streitige Befreiung, die ursprünglich eine neue Beihilfe darstellte, nach Anmeldung bei der Kommission im Einklang mit der später in Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Lorenz-Rechtsprechung nicht in eine bestehende Beihilfe umgewandelt hatte (vgl. oben, Rn. 135 und 136). In diesem Schreiben wies AAL nämlich darauf hin, dass „die Befreiung von den irischen Behörden im Mai 1983 als staatliche Beihilfe angemeldet worden und zu einer bestehenden Beihilfe im Sinne der Vorschriften über staatliche Beihilfen geworden [sei]“.
197 In Nr. 3.1 des Schreibens vom 8. Januar 2002, das im 13. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung angeführt und in Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts in Kopie vorgelegt worden ist, hat Irland jedoch daran festgehalten, dass es „die fragliche Beihilfe als von den Behörden im Jahr 1970 – vor seinem Beitritt zur EWG – genehmigt und seit 1982 bestehend“ betrachte. Außerdem hat Irland dem im 13. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung angeführten und in Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts in Kopie vorgelegten Schreiben vom 26. April 2002 auf Ersuchen der Kommission eine Reihe von Dokumenten als Anlage beigefügt, die nachweisen sollen, dass es die streitige Beihilfe vor seinem Beitritt zur EWG gewährt hatte.
198 Die Bewertung der eingereichten Unterlagen ergibt daher, dass Irland nach der Anmeldung der Befreiung bei der Kommission während des Verwaltungsverfahrens weiterhin die Auffassung vertreten hat, es habe die streitige Beihilfe vor seinem Beitritt zur EWG gewährt, was die Kommission dazu veranlasst hat, diese Frage zu prüfen.
199 Auch wenn Irland das Angebot der Kommission angenommen hat, das Schreiben von Januar 1983 als Anzeige der Durchführung der streitigen Befreiung zu behandeln, lässt sich in diesem Zusammenhang nicht feststellen, dass es im Rahmen des dritten Teils des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes tatsächliche und rechtliche Umstände angefochten hätte, die es im Rahmen des Verwaltungsverfahrens zuvor anerkannt haben soll.
200 Daher ist davon auszugehen, dass die Behauptung der Kommission, wonach Irland während des Verwaltungsverfahrens anerkannt habe, dass es die streitige Beihilfe nicht vor seinem Beitritt zur EWG am 1. Januar 1973 gewährt habe, in tatsächlicher Hinsicht unbegründet ist, so dass die von der Kommission auf der Grundlage der Regel nemo potest venire contra factum proprium erhobene Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen ist.
201 Was zweitens die Begründetheit des dritten Teils des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und des ersten Teils des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass eine Beihilferegelung, um als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 eingestuft werden zu können, nicht nur vor dem Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats zur EWG eingeführt worden sein muss, in dem Sinne, dass sich die zuständigen nationalen Instanzen rechtlich verbindlich für die Gewährung von Beihilfen in Anwendung dieser Regelung entschieden haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2004, Fleuren Compost/Kommission, T‑109/01, Slg, EU:T:2004:4, Rn. 73 und 74), sondern auch durchgeführt worden sein muss, in dem Sinne, dass eine effektive Auszahlung bestimmter im Rahmen der genannten Regelung gewährter Beihilfen tatsächlich erfolgt ist.
202 Im vorliegenden Fall ist die streitige Befreiung, die sich den Klägern zufolge aus einer Verpflichtung ergeben soll, die Irland vor seinem Beitritt zur EWG am 1. Januar 1973 gegenüber Alcan eingegangen ist, jedenfalls – zwischen den Parteien unstreitig – erst ab 1983 durchgeführt worden, d. h. zu einem Zeitpunkt lange nach dem genannten Beitritt. Hierzu in der mündlichen Verhandlung befragt, haben die Kläger nicht nachweisen können, dass die für die Einstufung der fraglichen Beihilferegelung als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 erforderliche Voraussetzung im Zusammenhang mit der Durchführung dieser Regelung vor dem Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats zur EWG im vorliegenden Fall erfüllt gewesen wäre.
203 Ohne dass es einer Prüfung der Frage bedarf, ob Irland, wie die Kläger vortragen, vor seinem Beitritt zur EWG gegenüber Alcan eine rechtsverbindliche Verpflichtung in Bezug auf die Anwendung der streitigen Befreiung im Rahmen des Betriebs der von Alcan in der Region Shannon angesiedelten und später an AAL veräußerten Aluminiumfabrik eingegangen ist, lässt sich daher feststellen, dass es im vorliegenden Fall an einer der für die Einstufung der streitigen Befreiung als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 erforderlichen Voraussetzungen fehlt. Demnach sind der dritte Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und der erste Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes zurückzuweisen.
204 Da somit sämtliche Teile zurückgewiesen worden sind, die im Rahmen der zur Stützung der vorliegenden Klagen vorgebrachten Klagegründe geltend gemacht werden, sind diese Klagegründe in vollem Umfang zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebracht wird, und vierter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
205 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten dritten Klagegrundes trägt Irland vor, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, indem sie entschieden habe, dass die berechtigten Erwartungen von AAL in die Rechtmäßigkeit der angeblich gewährten Beihilfe am 2. Februar 2002, d. h. am Tag der Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, geendet hätten. In diesem Zusammenhang macht es zunächst geltend, AAL habe berechtigte Erwartungen in die Einstufung der streitigen Beihilfe als bestehende Beihilfe hegen können. Zum einen stützt es sich auf die Widersprüchlichkeit der Tonerde‑I-Entscheidung, in deren Erwägungsgründen 68 und 104 der Schluss gezogen werde, dass die streitige Beihilfe teilweise – bezüglich des Zeitraums vor dem 17. Juli 1990 – eine bestehende Beihilfe darstelle, gleichzeitig aber darauf hingewiesen werde, dass es sich bei dieser Beihilfe um eine neue, größtenteils mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 3 EG handle. Zum anderen beruft es sich darauf, dass die Kommission einen Fehler begangen habe, der erstens darin bestehe, dass sie die streitige Beihilfe nicht als bestehende Beihilfe eingestuft habe, zweitens darin, dass sie im vorliegenden Fall nicht das Verfahren für bestehende Beihilferegelungen nach der Verordnung Nr. 659/1999 angewandt habe, und drittens darin, dass sie die Entscheidung über die Unvereinbarkeit der streitigen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt im Sinne von Art. 87 Abs. 3 EG verspätet getroffen habe, da die angefochtene Entscheidung mehr als 43 Monate nach Eingang seiner Antwort auf das letzte von der Kommission übermittelte Ersuchen um zusätzliche Auskünfte im April 2002 ergangen sei. Sodann trägt Irland vor, die Kommission könne sich nicht das Recht oder die Befugnis anmaßen, in der angefochtenen Entscheidung über den Zeitpunkt zu entscheiden, zu dem sie das schutzwürdige Vertrauen von AAL in die Rechtmäßigkeit der angeblich gewährten Beihilfe geweckt und später zerstört habe. Schließlich glaubt Irland, es könne sich, ebenso wie AAL, berechtigterweise auf die Entscheidung 2001/224 stützen, die es ermächtigt habe, die streitige Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 beizubehalten.
206 In der Erwiderung macht Irland geltend, die Rückforderung der Beihilfe sei in Anbetracht von Art. 7 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999, wonach die Kommission sich darum bemühen müsse, eine Entscheidung innerhalb von 18 Monaten zu erlassen, des Gleichheitssatzes sowie der Tatsache, dass sie sich die Befugnis angemaßt habe, selbst über die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes in der Person von AAL zu entscheiden, auf den Zeitraum von 18 Monaten vor Erlass der Tonerde‑I-Entscheidung zu begrenzen. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass die Kommission widersprüchliche Signale gegenüber AAL ausgesendet habe und diese ihre Verluste im Fall einer Erstattung der angeblich ab dem 3. Februar 2002 gewährten Beihilfe nicht habe begrenzen können. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass die Kommission keine Anordnung zur Aussetzung der streitigen Beihilfe gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 erlassen und daher nicht versucht habe, die Auswirkungen dieser Beihilfe auf den Gemeinsamen Markt zu mildern.
207 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes trägt AAL vor, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verstoßen. Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen, von denen der zweite lediglich die Fortsetzung des ersten auf der Grundlage zusätzlicher Argumente darstellt.
208 Im Rahmen des ersten Teils des vierten Klagegrundes macht AAL geltend, die Kommission habe in der angefochtenen Entscheidung gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verstoßen, und zwar insbesondere dadurch, dass sie die Rückforderung der streitigen Beihilfe angeordnet und dies in den Erwägungsgründen 98 und 99 der Tonerde‑I-Entscheidung zum einen damit begründet habe, dass die Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens ihre berechtigten Erwartungen in die Rechtmäßigkeit der streitigen Beihilfe beendet habe, und zum anderen damit, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit nach Klärung einer zuvor unklaren Rechtslage nicht länger Anwendung finde. Im vorliegenden Fall lägen außergewöhnliche Umstände vor, die es ihr im Einklang mit der Rechtsprechung erlaubten, sich auf ein schutzwürdiges Vertrauen in die Tatsache, dass die streitige Beihilfe in Anwendung der Entscheidung 2001/224 rechtmäßig gewährt worden sei und nicht zurückgefordert werde, sowie darin zu berufen, dass die streitige Befreiung im Einklang mit der letztgenannten Entscheidung rechtmäßig bis zum 31. Dezember 2006 angewandt werden könne, und dies sogar nach Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens. Diese Veröffentlichung habe die unklare Rechtslage in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der streitigen Befreiung nicht beseitigt. In diesem Zusammenhang beruft sich AAL erstens auf die Anmeldung der streitigen Befreiung bei der Kommission im Jahr 1983 und deren Untätigkeit bzw. Schweigen während eines Zeitraums von 17 Jahren. Zweitens bezieht sie sich auf die auf Vorschlag der Kommission einstimmig ergangenen Genehmigungsentscheidungen des Rates, die sie deshalb zu der Annahme veranlasst hätten, dass die streitige Beihilfe rechtmäßig sei, weil sie festgestellt oder auf der Prämisse beruht hätten, dass die streitige Befreiung nicht zu Wettbewerbsverfälschungen führe, und Irland die Anwendung dieser Befreiung, zuletzt bis 2006, gestattet hätten. Drittens stützt sie sich auf den Vorschlag für eine Genehmigungsentscheidung des Rates von November 1999, aus dem die Absicht der Kommission hervorgehe, letztendlich die Aufhebung der Genehmigung zur Anwendung der streitigen Befreiung zu erlangen, nicht aber, die in Anwendung dieser Befreiung gewährte Beihilfe für den gesamten Zeitraum zurückzufordern, in dem die genannte Befreiung vom Rat genehmigt gewesen sei. Viertens beruft sie sich auf ihr Vertrauen in die Tatsache, dass Irland seinen Verpflichtungen nach Maßgabe der Vorschriften über staatliche Beihilfen nachkomme. Fünftens verweist sie auf die Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, die lediglich die Zweifel der Kommission an der Vereinbarkeit der streitigen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt zum Ausdruck bringe und nicht geeignet sei, ihr im Hinblick auf die Entscheidung 2001/224 schutzwürdiges Vertrauen in die Tatsache in Frage zu stellen, dass die bis 2006 gewährte Beihilfe jedenfalls nicht zurückgefordert werde. Sechstens beruft sie sich auf ihr Vertrauen in die Tatsache, dass das förmliche Prüfverfahren nicht zu einer ablehnenden Beihilfeentscheidung führen werde. Siebtens macht sie geltend, die Kommission habe die Tonerde‑I-Entscheidung, die entgegen den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Verwaltung und der Rechtssicherheit mehr als 43 Monate nach Eingang der Antwort Irlands auf das letzte von der Kommission übermittelte Ersuchen um zusätzliche Auskünfte im April 2002 ergangen sei, verspätet erlassen, was ihre berechtigten Erwartungen in die Tatsache verstärkt habe, dass die streitige Beihilfe nicht zurückgefordert werde. Achtens bezieht sie sich auf das Verhalten der Kommission beim Erlass der Richtlinie 2003/96 durch den Rat, insbesondere deren Pressemitteilung vom 27. Oktober 2003, in der dieser Erlass begrüßt worden sei, was ihr berechtigtes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der streitigen Beihilfe im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen genährt habe. Neuntens habe die Kommission Irland nicht gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 aufgegeben, die angeblich gewährte rechtswidrige Beihilfe so lange auszusetzen, bis sie eine Entscheidung über die Vereinbarkeit dieser Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt erlassen habe. Zehntens führt AAL die erheblichen langfristigen Investitionen in Form des Baus einer Anlage mit Kraft-Wärme-Kopplung, die ca. 100 Mio. Euro gekostet habe, einerseits und von Investitionen in Höhe von 70 Mio. Euro zur Erhöhung ihrer Produktionskapazität andererseits ins Feld, die sie im Herbst 2003 auf der Grundlage ihres schutzwürdigen Vertrauens in die Anwendung der streitigen Befreiung bis zum 31. Dezember 2006 oder zumindest in die Nichtrückforderung der bis zu diesem Zeitpunkt gewährten Beihilfe in gutem Glauben getätigt habe.
209 Die Kommission beantragt, die vorliegenden Klagegründe als unbegründet zurückzuweisen.
210 Vorab ist festzustellen, dass, soweit AAL im Rahmen der ersten Teils des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit rügt, sich dieser Teil mit der Rüge deckt, die im Rahmen des zur Stützung ebendieser Klage vorgebrachten zweiten Klagegrundes erhoben worden ist und ebenfalls einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit betrifft.
211 Aus den oben in den Rn. 59 und 61 bis 74 dargelegten Gründen ist diese Rüge jedoch als unbegründet zurückzuweisen.
212 Im Übrigen wird mit dem zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten dritten Klagegrund und dem zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrund im Wesentlichen die Frage aufgeworfen, ob die Kommission dadurch gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen hat, dass sie in der angefochtenen Entscheidung die Rückforderung der streitigen Beihilfe verlangt hat.
213 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes, der einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteil vom 14. Oktober 1999, Atlanta/Europäische Gemeinschaft, C‑104/97 P, Slg, EU:C:1999:498, Rn. 52), jeder Wirtschaftsteilnehmer berufen kann, bei dem ein Unionsorgan begründete Erwartungen geweckt hat (Urteile vom 11. März 1987, Van den Bergh en Jurgens und Van Dijk Food Products [Lopik]/EWG, 265/85, Slg, EU:C:1987:121, Rn. 44, vom 24. März 2011, ISD Polska u. a./Kommission, C‑369/09 P, Slg, EU:C:2011:175, Rn. 123, sowie vom 27. September 2012, Producteurs de légumes de France/Kommission, T‑328/09, EU:T:2012:498, Rn. 18). Ist ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer jedoch in der Lage, den Erlass einer Unionsmaßnahme vorauszusehen, die seine Interessen berühren kann, so kann er sich im Fall ihres Erlasses nicht auf diesen Grundsatz berufen (Urteile vom 1. Februar 1978, Lührs, 78/77, Slg, EU:C:1978:20, Rn. 6, und vom 25. März 2009, Alcoa Trasformazioni/Kommission, T‑332/06, EU:T:2009:79, Rn. 102). Das Recht, sich auf Vertrauensschutz zu berufen, ist an drei kumulative Voraussetzungen gebunden. Erstens muss die Verwaltung dem Betroffenen präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Zusicherungen von zuständiger und zuverlässiger Seite machen. Zweitens müssen diese Zusicherungen geeignet sein, bei dem Adressaten begründete Erwartungen zu wecken. Drittens müssen die Zusicherungen im Einklang mit den anwendbaren Rechtsnormen stehen (vgl. Urteil Producteurs de légumes de France/Kommission, EU:T:2012:498, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
214 Was insbesondere die Anwendbarkeit des Grundsatzes des Vertrauensschutzes im Bereich staatlicher Beihilfen angeht, ist sodann darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat, dessen Behörden eine Beihilfe unter Verletzung der Verfahrensvorschriften des Art. 88 EG gewährt haben, unter Berufung auf das geschützte Vertrauen des begünstigten Unternehmens die Gültigkeit einer Entscheidung der Kommission, die die Rückforderung der Beihilfe anordnet, vor dem Unionsrichter anfechten kann, sich aber nicht der Verpflichtung entziehen kann, Maßnahmen zur Durchführung dieser Entscheidung zu ergreifen (vgl. Urteil vom 14. Januar 1997, Spanien/Kommission, C‑169/95, Slg, EU:C:1997:10, Rn. 48 und 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Aus der Rechtsprechung geht ferner hervor, dass die Empfänger einer Beihilfe unter Berücksichtigung der grundlegenden Rolle der Anmeldepflicht für eine effektive Kontrolle staatlicher Beihilfen durch die Kommission, die zwingend ist, grundsätzlich nur dann ein schutzwürdiges Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der genannten Beihilfe haben können, wenn diese unter Beachtung des Verfahrens des Art. 88 EG gewährt worden ist; ein sorgfältiger Wirtschaftsteilnehmer kann sich normalerweise vergewissern, dass dieses Verfahren beachtet worden ist. Insbesondere wenn eine Beihilfe ohne vorherige Anmeldung bei der Kommission durchgeführt oder ihre Durchführung – wie im vorliegenden Fall – nicht im Einklang mit der Lorenz-Rechtsprechung vorher angezeigt wird (vgl. oben, Rn. 154 und 156 bis 158), so dass sie gemäß Art. 88 Abs. 3 EG rechtswidrig ist, kann der Empfänger der Beihilfe zu diesem Zeitpunkt kein schutzwürdiges Vertrauen in die Rechtmäßigkeit ihrer Gewährung haben (vgl. in diesem Sinne Urteil Producteurs de légumes de France/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, EU:T:2012:498, Rn. 20 und 21 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor (Urteil vom 20. September 1990, Kommission/Deutschland, C‑5/89, Slg, EU:C:1990:320, Rn. 16; vgl. auch Urteile vom 29. April 2004, Italien/Kommission, C‑298/00 P, Slg, EU:C:2004:240, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 30. November 2009, Frankreich/Kommission, T‑427/04 und T‑17/05, Slg, EU:T:2009:474, Rn. 263 und die dort angeführte Rechtsprechung).
215 Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die Einhaltung eines angemessenen Zeitraums bei der Durchführung eines Verwaltungsverfahrens einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteil vom 27. November 2003, Regione Siciliana/Kommission, T‑190/00, Slg, EU:T:2003:316, Rn. 136). Auch im Hinblick auf das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit, das es der Kommission verbietet, unbegrenzt lange zu warten, ehe sie von ihren Befugnissen Gebrauch macht, hat das Gericht zu prüfen, ob der Ablauf des Verwaltungsverfahrens ein übermäßig verzögertes Handeln der Kommission erkennen lässt (Urteile vom 24. September 2002, Falck und Acciaierie di Bolzano/Kommission, C‑74/00 P und C‑75/00 P, Slg, EU:C:2002:524, Rn. 140 und 141, sowie Fleuren Compost/Kommission, oben in Rn. 201 angeführt, EU:T:2004:4, Rn. 145 bis 147).
216 Ein säumiges Verhalten der Kommission bis zur Entscheidung, dass eine Beihilfe rechtswidrig ist und von einem Mitgliedstaat aufgehoben und zurückgefordert werden muss, kann unter bestimmten Umständen bei den Empfängern dieser Beihilfe ein berechtigtes Vertrauen wecken, das es der Kommission verwehren kann, diesem Mitgliedstaat die Rückforderung der fraglichen Beihilfe aufzugeben (Urteil vom 24. November 1987, RSV/Kommission, 223/85, Slg, EU:C:1987:502, Rn. 17).
217 Die bloße Tatsache, dass die Verordnung Nr. 659/1999 außer einer Verjährungsfrist von zehn Jahren (ab Gewährung der Beihilfe), nach deren Ablauf die Rückforderung der Beihilfe nicht mehr angeordnet werden kann, für die Prüfung einer rechtswidrigen Beihilfe durch die Kommission gemäß ihrem Art. 13 Abs. 2, der bestimmt, dass die Kommission nicht an die in Art. 7 Abs. 6 dieser Verordnung genannte Frist gebunden ist, keine Frist – nicht einmal eine Orientierungsfrist – vorsieht, hindert den Unionsrichter nicht daran, zu prüfen, ob dieses Organ keinen angemessenen Zeitraum eingehalten hat oder zu spät tätig geworden ist (vgl. in diesem Sinne entsprechend – in Bezug auf eine Orientierungsfrist – Urteile vom 15. Juni 2005, Regione autonoma della Sardegna/Kommission, T‑171/02, Slg, EU:T:2005:219, Rn. 57, sowie vom 9. September 2009, Diputación Foral de Álava u. a./Kommission, T‑230/01 bis T‑232/01 und T‑267/01 bis T‑269/01, EU:T:2009:316, Rn. 338 und 339, und Diputación Foral de Álava u. a./Kommission, T‑30/01 bis T‑32/01 und T‑86/02 bis T‑88/02, Slg, EU:T:2009:314, Rn. 259 und 260).
218 Nach der Rechtsprechung gebietet es der Grundsatz der Rechtssicherheit schließlich, dass die Kommission, wenn sie unter Verletzung der ihr obliegenden Sorgfaltspflicht aufgrund von Unsicherheitsfaktoren und eines Mangels an Klarheit in den anwendbaren Rechtsvorschriften, kombiniert mit einer fehlenden Reaktion über einen längeren Zeitraum trotz ihrer Kenntnis der betreffenden Beihilfen, eine unklare Rechtslage geschaffen hat, diese Rechtslage zu klären hat, bevor sie irgendeine Maßnahme im Hinblick auf die Anordnung der Rückforderung der bereits ausgezahlten Beihilfen ergreifen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 1970, Kommission/Frankreich, 26/69, Slg, EU:C:1970:67, Rn. 28 bis 32).
219 Vor dem Hintergrund der oben in den Rn. 210 und 218 in Erinnerung gerufenen Regeln ist das Vorbringen der Parteien zu prüfen.
220 Im vorliegenden Fall ist zunächst hervorzuheben, dass die streitige Befreiung, selbst wenn anerkannt wird, dass sie mit den Schreiben vom 28. Januar und vom 6. Mai 1983 bei der Kommission angemeldet wurde, rechtswidrig durchgeführt worden ist, da eine der sich aus der Lorenz-Rechtsprechung ergebenden Verfahrensvorschriften, nämlich diejenige, die dem Mitgliedstaat vorschreibt, der Kommission die Durchführung des Beihilfevorhabens anzuzeigen, nicht beachtet worden ist (vgl. oben, Rn. 154 und 156 bis 158). Die streitige Beihilfe ist daher unter Verstoß gegen Art. 88 Abs. 3 EG rechtswidrig durchgeführt worden.
221 Sodann ist die Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens im Amtsblatt entgegen dem Vorbringen der Kläger geeignet gewesen, die berechtigten Erwartungen von AAL in die Ordnungsmäßigkeit der streitigen Befreiung zu beenden, wenn man die unklare Rechtslage berücksichtigt, die zuvor durch den Wortlaut der auf Vorschlag der Kommission ergangenen Genehmigungsentscheidungen des Rates, einschließlich des Wortlauts der während des von der angefochtenen Entscheidung betroffenen Zeitraums in Kraft befindlichen Entscheidung 2001/224, geschaffen worden war.
222 In den Rn. 52 und 53 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812), an die das Gericht gemäß Art. 61 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs gebunden ist, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Umstand, dass die Genehmigungsentscheidungen des Rates auf Vorschlag der Kommission erlassen worden sind und diese zu keiner Zeit von ihren Befugnissen aus Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 oder den Art. 230 EG und 241 EG Gebrauch gemacht hat, um eine Aufhebung oder Umgestaltung dieser Genehmigungsentscheidungen zu erwirken, in Bezug auf die Pflicht zur Rückforderung der unvereinbaren Beihilfe sowie in Anwendung der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit zu berücksichtigen war, wie die Kommission dies in der Tonerde‑I-Entscheidung getan hatte, indem sie davon absah, die Rückforderung der Beihilfen anzuordnen, die bis zum 2. Februar 2002, dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Entscheidungen über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens im Amtsblatt, gewährt worden waren. Dieser Grund ist für die Schlussfolgerung des Gerichtshofs in Rn. 54 des Urteils Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812), wonach die in den Rn. 39 bis 44 ebendieses Urteils dargelegten Gründe die Feststellung des Gerichts, dass durch die Tonerde‑I-Entscheidung die Gültigkeit der Genehmigungsentscheidungen des Rates in Frage gestellt werde, rechtlich nicht begründen können und daher gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Vermutung der Rechtmäßigkeit der Rechtsakte der Organe verstoßen, sowie die auf denselben Gründen beruhende Feststellung, dass die Kommission in der Rechtssache T‑62/06 RENV gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen habe, entscheidend gewesen.
223 In Anbetracht der sich aus den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit ergebenden Erfordernisse stand die unklare Rechtslage, die durch den Wortlaut der auf Vorschlag der Kommission erlassenen Genehmigungsentscheidungen des Rates geschaffen worden war, lediglich der Rückforderung der Beihilfe entgegen, die auf der Grundlage der streitigen Befreiung bis zum Tag der Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens im Amtsblatt gewährt worden war. Ab dieser Veröffentlichung musste AAL hingegen wissen, dass die streitige Beihilfe, falls sie eine staatliche Beihilfe darstellte, gemäß Art. 88 EG von der Kommission zu genehmigen war.
224 Folglich hat die Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die berechtigten Erwartungen, die AAL in Anbetracht der zuvor auf Vorschlag der Kommission erlassenen Genehmigungsentscheidungen des Rates bis dahin in die Rechtmäßigkeit der streitigen Befreiung haben konnte, tatsächlich beendet.
225 Die Kommission hat im 98. Erwägungsgrund der Tonerde‑I-Entscheidung daher zu Recht berücksichtigt, dass die Umstände dieses Falls insofern außergewöhnlich gewesen seien, als sie dem Rat Vorschläge vorgelegt und so Unklarheiten geschaffen und aufrechterhalten habe, und dass, da sie nicht feststellen könne, ob und, wenn ja, wann die einzelnen Begünstigten tatsächlich von den Mitgliedstaaten über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens informiert worden seien, nicht auszuschließen sei, dass sich die Begünstigten bis zum 2. Februar 2002, als ihre Beschlüsse zur Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens in Bezug auf die Befreiungen von der Verbrauchsteuer im Amtsblatt veröffentlicht worden seien, auf berechtigte Erwartungen hätten verlassen können, wobei spätestens mit dieser Veröffentlichung jede mit dem Wortlaut der Genehmigungsentscheidungen des Rates zusammenhängende Ungewissheit dahin gehend, dass die fraglichen Maßnahmen von ihr nach Art. 88 EG genehmigt werden müssten, wenn sie staatliche Beihilfen darstellten, beseitigt worden sei.
226 Die Richtigkeit dieser Lösung wird durch das weitere Vorbringen der Kläger nicht in Frage gestellt.
227 Was das Argument angeht, das Irland aus der vermeintlichen Widersprüchlichkeit der Tonerde‑I-Entscheidung herleitet, da in deren Erwägungsgründen 68 und 104 der Schluss gezogen werde, dass die streitige Beihilfe teilweise eine bestehende und teilweise eine neue Beihilfe darstelle, ist aus den bereits oben in den Rn. 174 bis 184 dargelegten Gründen zu bemerken, dass die Kommission die in Art. 15 der Verordnung Nr. 659/1999 festgelegte Regel in diesen Erwägungsgründen zutreffend und in sich widerspruchsfrei angewandt hat, wenn man berücksichtigt, dass die streitige Befreiung ihrem Wesen nach eine „Beihilferegelung“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d dieser Verordnung ist. Daher ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
228 Was das Argument betrifft, das Irland aus dem Fehler herleitet, den die Kommission begangen haben soll, als sie die streitige Beihilfe nicht als bestehende Beihilfe eingestuft und auf die streitige Befreiung nicht das Verfahren für bestehende Beihilferegelungen angewandt hat, ist aus den oben in den Rn. 139 bis 143, 155 bis 162, 190 und 201 bis 203 dargelegten Gründen festzustellen, dass die Kommission in diesen Erwägungsgründen keinen Fehler begangen hat, indem sie Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 in Verbindung mit der Lorenz-Rechtsprechung sowie Art. 1 Buchst. b Ziff. i dieser Verordnung auf die in Anwendung der streitigen Befreiung gewährte streitige Beihilfe angewandt hat. Daher ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
229 Hinsichtlich des Arguments, das AAL aus der offensichtlichen Untätigkeit der Kommission während der auf die Anmeldung der streitigen Befreiung im Jahr 1983 folgenden 17 Jahre herleitet, ist zu beachten, dass, da die Genehmigungsentscheidungen des Rates, worauf im fünften Erwägungsgrund der Entscheidung 2001/224 hingewiesen wird, Irland keinesfalls von der Anmeldung etwaiger staatlicher Beihilfen enthoben (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Irland u. a., oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812, Rn. 51) und dieser Mitgliedstaat die streitige Befreiung nach der Anmeldung ohne die von der Lorenz-Rechtsprechung geforderte vorherige Anzeige ihrer Durchführung (vgl. oben, Rn. 220) in Kraft gesetzt hat, der Kommission nicht vorgeworfen werden kann, dass sie nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums ab dem einen oder anderen dieser Ereignisse eine Entscheidung erlassen hat, in der sie sich zur Vereinbarkeit der streitigen Befreiung mit dem Gemeinsamen Markt im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen äußert. Folglich ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
230 Was das Argument angeht, das AAL aus ihrem angeblichen Vertrauen in die Tatsache herleitet, dass Irland seinen Verpflichtungen auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen nachkommen werde, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Mitgliedstaat, um die streitige Befreiung rechtmäßig durchführen zu können, seine Verpflichtung einhalten musste, die genannte Befreiung nicht nur gemäß Art. 88 Abs. 3 EG bei der Kommission anzumelden, sondern im Einklang mit der Lorenz-Rechtsprechung auch ihre Durchführung vorher anzuzeigen. Außerdem darf ein beihilfebegünstigtes Unternehmen, da die Überwachung der staatlichen Beihilfen durch die Kommission in Art. 88 EG zwingend vorgeschrieben ist, nach ständiger Rechtsprechung auf die Rechtmäßigkeit der Beihilfe grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Beachtung des dort vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde. Einem sorgfältigen Gewerbetreibenden ist es nämlich regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, ob dieses Verfahren beachtet wurde (Urteile Kommission/Deutschland, oben in Rn. 214 angeführt, EU:C:1990:320, Rn. 14, und Spanien/Kommission, oben in Rn. 214 angeführt, EU:C:1997:10, Rn. 51). Im vorliegenden Fall hatte AAL sich daher – gegebenenfalls bei der Kommission – zu vergewissern, ob Irland sämtliche ihm obliegende Verpflichtungen, insbesondere die Verpflichtung, der Kommission die Durchführung der streitigen Befreiung vorher anzuzeigen, eingehalten hatte. Folglich ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
231 Was das Vorbringen betrifft, das die Kläger aus dem verspäteten Erlass der Tonerde‑I-Entscheidung durch die Kommission herleiten, ist zu beachten, dass es sich hierbei nicht um einen außergewöhnlichen Umstand handelt, der geeignet gewesen wäre, bei AAL erneut ein schutzwürdiges Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der streitigen Beihilfe zu wecken, und zwar aus sämtlichen nachstehend in den Rn. 232 bis 255 dargelegten Gründen.
232 Als Erstes ist zu prüfen, ob die Dauer des förmlichen Prüfverfahrens im vorliegenden Fall die Grenzen des Zumutbaren überschritten hat.
233 Insoweit ist festzustellen, dass der Gerichtshof im Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502) die Ansicht vertreten hat, dass die Kommission die Grenzen des Zumutbaren überschritten hatte, indem sie sich 26 Monate Zeit ließ, bevor sie ihre Entscheidung erließ.
234 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Richtwert für den Abschluss eines förmlichen Prüfverfahrens im Rahmen angemeldeter staatlicher Beihilfen gemäß Art. 7 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 18 Monate beträgt. Diese Frist gibt, auch wenn sie gemäß Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 nicht für rechtswidrige Beihilfen gilt (vgl. oben, Rn. 217), einen nützlichen Bezugspunkt für die Bestimmung der angemessenen Dauer eines förmlichen Prüfverfahrens ab, das, wie in den vorliegenden Rechtssachen, eine rechtswidrig durchgeführte Maßnahme betrifft (vgl. oben, Rn. 220).
235 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission die Französische Republik, Irland und die Italienische Republik am 17. Juli 2000 aufgefordert hat, die Befreiungen von der Verbrauchsteuer im Rahmen der Vorschriften über staatliche Beihilfen bei ihr anzumelden. Die Antworten, die nicht die Qualität einer Anmeldung hatten, sind im September, Oktober und Dezember 2000 bei ihr eingegangen. Sodann hat sie mit Beschluss vom 30. Oktober 2001, der den betreffenden Mitgliedstaaten am 5. November 2001 übermittelt und am 2. Februar 2002 im Amtsblatt veröffentlicht wurde, das förmliche Prüfverfahren eingeleitet. Anschließend wurden ihr Bemerkungen von AAL (Schreiben vom 26. Februar und vom 1. März 2002), Eurallumina (Schreiben vom 28. Februar 2002), der Alcan Inc. (Schreiben vom 1. März 2002) sowie der European Aluminium Association (Schreiben vom 26. Februar 2002) vorgelegt. Diese Bemerkungen wurden Irland sowie der Italienischen und der Französischen Republik am 26. März 2002 mitgeteilt. Irland legte am 8. Januar 2002 Bemerkungen zum Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens vor. Die Kommission ersuchte Irland am 18. Februar 2002 um weitere Auskünfte, das, nachdem es eine Verlängerung der Antwortfrist beantragt hatte, am 26. April 2002 antwortete. Die Französische Republik, die am 21. November 2001 ebenfalls eine Verlängerung der Antwortfrist beantragt hatte, legte am 12. Februar 2002 Bemerkungen zum Eröffnungsbeschluss vor. Die Italienische Republik legte ihre Bemerkungen am 6. Februar 2002 vor.
236 Die Tonerde‑I-Entscheidung wurde am 7. Dezember 2005 erlassen.
237 Somit sind zwischen dem Erlass des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens und dem Erlass der Tonerde‑I-Entscheidung etwas mehr als 49 Monate vergangen.
238 Auf den ersten Blick erscheint eine solche Dauer, die fast doppelt so lang gewesen ist wie die im Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502) berücksichtigte und etwas mehr als doppelt so lang wie die in Art. 7 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 für den Abschluss eines förmlichen Prüfverfahrens im Rahmen angemeldeter staatlicher Beihilfen vorgesehene Dauer, unangemessen. Im Einklang mit der Rechtsprechung ist gleichwohl zu prüfen, ob sich diese Dauer nicht durch die Umstände des vorliegenden Falls rechtfertigen ließ.
239 Die von der Kommission in diesem Zusammenhang angeführten Umstände können eine Prüfungsdauer von 49 Monaten jedoch nicht rechtfertigen.
240 Bei der Beurteilung dieser Dauer sind zwar zum einen die den Mitgliedstaaten und den Begünstigten eingeräumte Frist zur Stellungnahme und zum anderen die Tatsache zu berücksichtigen, dass die französische, die irische und die italienische Regierung bei der Kommission Verlängerungen der Fristen für die Abgabe ihrer Stellungnahmen und Antworten im Rahmen des förmlichen Prüfverfahrens beantragt haben. Angesichts der engen Verbindungen, die im vorliegenden Fall zwischen den Befreiungen von der Verbrauchsteuer bestehen, da es um ähnliche Maßnahmen geht, die am Ende parallel geführter Verfahren durch dieselbe Entscheidung des Rates genehmigt worden sind, ist sämtlichen in den betreffenden Verfahren vorgenommenen Prozesshandlungen, insbesondere dem Umstand, dass Irland am 26. April 2002 auf das letzte von der Kommission übermittelte Ersuchen um zusätzliche Informationen geantwortet hat, Rechnung zu tragen.
241 Nach dem letztgenannten Datum sind allerdings noch etwas mehr als 43 Monate vergangen, bevor die Kommission die Tonerde‑I-Entscheidung erlassen hat. Im Licht sämtlicher von den betreffenden Mitgliedstaaten und den interessierten Parteien eingereichter Bemerkungen lässt sich ein derart langer Zeitraum für die Prüfung der fraglichen Unterlagen unter den Umständen des vorliegenden Falls jedoch nicht rechtfertigen.
242 Was erstens die geltend gemachte Schwierigkeit der Verfahren angeht, ist diese nicht nachgewiesen und könnte, selbst wenn dem so wäre, eine derart lange Prüfungsdauer wie im vorliegenden Fall nicht rechtfertigen. Die Akten enthalten nämlich keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Kommission mit besonders gravierenden rechtlichen Problemen konfrontiert worden wäre; im Übrigen weist die Tonerde‑I-Entscheidung eine überschaubare Länge (112 Erwägungsgründe) auf und lässt in ihren Ausführungen keine offensichtliche Schwierigkeit erkennen. Sodann hatte die Kommission bereits lange vor Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens Kenntnis von den Verbrauchsteuerbefreiungen, da die ersten Befreiungsanträge bis in die Jahre 1992 für Irland, 1993 für die Italienische Republik und 1997 für die Französische Republik zurückreichten. Im Übrigen ist es die Kommission, die dem Rat die aufeinanderfolgenden Vorschläge für Entscheidungen über die Genehmigung der Verbrauchsteuerbefreiungen übermittelt hat, nachdem bei ihr diesbezügliche Anträge der Französischen Republik, Irlands und der Italienischen Republik eingegangen waren. Schließlich hat die Kommission die WTO im Rahmen ihrer Berichte über staatliche Beihilfen von der irischen Befreiung in Kenntnis gesetzt.
243 Außerdem hat die Kommission selbst darauf hingewiesen, dass sie die Befreiungen von der Verbrauchsteuer seit 1999 als Verstöße gegen die Vorschriften über staatliche Beihilfen betrachte. Sie ist somit von diesem Zeitpunkt an in der Lage gewesen, ihre Überlegungen zur Ordnungsmäßigkeit der genannten Befreiungen im Hinblick auf diese Vorschriften zu vertiefen.
244 Darüber hinaus belegt die Tatsache, dass die Kommission die Französische Republik, Irland oder die Italienische Republik während der 43 Monate vor Erlass der Tonerde‑I-Entscheidung nicht mehr um zusätzliche Auskünfte ersucht hat, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt über alle Informationen verfügte, die sie für den Erlass ihrer Entscheidung über die Befreiungen von der Verbrauchsteuer benötigte.
245 Schließlich kann sich die Kommission nicht mit Erfolg auf die angebliche Schwierigkeit berufen, die sich aus der Entwicklung der Gemeinschaftsregelung für die Besteuerung von Mineralölen, insbesondere aus dem Erlass der Richtlinie 2003/96, ergeben soll. Die Tonerde‑I-Entscheidung betrifft nämlich einen rechtlichen Sachverhalt, der nicht unter die sich aus der Richtlinie 2003/96 ergebende neue Regelung für die Besteuerung von Mineralölen fiel, die erst am 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist, sondern unter die zuvor geltende Regelung für die Besteuerung von Mineralölen. Daher wirkte sich die von der Kommission geltend gemachte Entwicklung der Gemeinschaftsregelung im vorliegenden Fall nicht aus. Dies wird dadurch bestätigt, dass die Kommission in der Tonerde‑I-Entscheidung ein neues förmliches Prüfverfahren in Bezug auf die Befreiungen von der Verbrauchsteuer auf Mineralöle eingeleitet hat, die ab dem 1. Januar 2004 – dem Zeitpunkt, zu dem die sich aus der Richtlinie 2003/96 ergebende neue Regelung für die Besteuerung von Mineralölen in Kraft trat – als Brennstoff zur Tonerdegewinnung in der Region Gardanne, der Region Shannon und auf Sardinien verwendet werden. Jedenfalls ist hervorzuheben, dass die Tonerde‑I-Entscheidung fast zwei Jahre nach Erlass der Richtlinie 2003/96 ergangen ist. Die von der Kommission behauptete Notwendigkeit, in der Tonerde‑I-Entscheidung die sich aus der Richtlinie 2003/96 ergebende neue Regelung für die Besteuerung von Mineralölen zu berücksichtigen, konnte als solche jedoch nicht genügen, um eine derart lange Dauer wie im vorliegenden Fall zu rechtfertigen.
246 Unter diesen Umständen hatte die Kommission eine gute Kenntnis des rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhangs der Befreiungen von der Verbrauchsteuer und sah sich bei der Prüfung dieser Befreiungen anhand der Vorschriften über staatliche Beihilfen keinen offensichtlichen Schwierigkeiten gegenüber.
247 Was zweitens die von der Kommission geltend gemachten Schwierigkeiten praktischer und sprachlicher Natur betrifft, so können diese, selbst wenn unterstellt wird, dass sie nachgewiesen sind, eine derart lange Dauer wie im vorliegenden Fall nicht rechtfertigen. Die Kommission verfügte jedenfalls über Dienststellen, die es ihr ermöglichten, den von ihr behaupteten sprachlichen Schwierigkeiten zu begegnen und parallel die Befreiungen von der Verbrauchsteuer innerhalb deutlich kürzerer Zeiträume als dem vorliegenden zu prüfen, insbesondere durch eine gute Koordination ihrer Dienststellen.
248 Folglich ist die Dauer der Prüfung der streitigen Beihilfe im vorliegenden Fall unangemessen.
249 Als Zweites ist zu prüfen, ob AAL aufgrund dieses säumigen Verhaltens, das die Kommission an den Tag legte, bis sie die angefochtene Entscheidung erließ, gute Gründe für die Annahme hatte, dass die Zweifel der Kommission behoben waren und die streitige Befreiung keinem Einwand begegnete, und ob dieses säumige Verhalten die Kommission daran hindern konnte, die Rückforderung der zwischen dem 3. Februar 2002 und dem 31. Dezember 2003 auf der Grundlage dieser Befreiung gewährten Beihilfe zu verlangen, wie im Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502, Rn. 16) entschieden wurde.
250 Nach jenem Urteil war die Tatsache, dass sich die Kommission 26 Monate Zeit gelassen hatte, um ihre Entscheidung zu erlassen, zwar geeignet, bei der klagenden Empfängerin der Beihilfe ein berechtigtes Vertrauen entstehen zu lassen, das es der Kommission verwehrte, den betroffenen nationalen Behörden aufzugeben, die Rückforderung dieser Beihilfe aufzugeben.
251 Auch wenn die Gebote der Rechtssicherheit, die private Interessen schützen, gewahrt werden müssen, sind sie jedoch gegen die Gebote des Schutzes der öffentlichen Interessen abzuwägen, zu denen im Bereich der staatlichen Beihilfen das Interesse daran gehört, zu verhindern, dass das Funktionieren des Marktes durch wettbewerbsschädliche Beihilfen verfälscht wird; deshalb ist es nach ständiger Rechtsprechung erforderlich, dass rechtswidrige Beihilfen zur Wiederherstellung der früheren Lage zurückgezahlt werden (vgl. Urteil vom 5. August 2003, P & O European Ferries [Vizcaya] und Diputación Foral de Vizcaya/Kommission, T‑116/01 und T‑118/01, Slg, EU:T:2003:217, Rn. 207 und 208 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
252 In der Rechtsprechung ist das Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502) daher in dem Sinne ausgelegt worden, dass die konkreten Umstände der Rechtssache, die zu seinem Erlass geführt hat, für die vom Gerichtshof eingeschlagene Richtung von entscheidender Bedeutung gewesen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Italien/Kommission, oben in Rn. 214 angeführt, EU:C:2004:240, Rn. 90, Italien/Kommission, oben in Rn. 120 angeführt, EU:C:2004:234, Rn. 119, Diputación Foral de Álava u. a./Kommission, oben in Rn. 217 angeführt, EU:T:2009:314, Rn. 286, sowie Diputación Foral de Álava u. a./Kommission, oben in Rn. 217 angeführt, EU:T:2009:316, Rn. 344). Insbesondere ist berücksichtigt worden, dass die Beihilfe, um die es im Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502) ging, gewährt worden war, bevor die Kommission das sich darauf beziehende förmliche Prüfverfahren eingeleitet hatte. Außerdem war sie, wenngleich erst nach ihrer Auszahlung, bei der Kommission förmlich angemeldet worden. Darüber hinaus sollte sie die Mehrkosten im Zusammenhang mit von der Kommission genehmigten Beihilfen decken und betraf einen Sektor, der seit 1977 mit Genehmigung der Kommission bezuschusst worden war. Schließlich erforderte die Prüfung der Vereinbarkeit der Beihilfe keine eingehende Untersuchung.
253 In der vorliegenden Rechtssache finden sich allerdings nicht sämtliche außergewöhnlichen Umstände wieder, die in der Rechtssache gegeben waren, die zum Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502) geführt hat. Wie in der letztgenannten Rechtssache war der Kommission die streitige Befreiung zu dem Zeitpunkt, zu dem sie offensichtlich untätig geblieben ist, zwar bereits recht gut bekannt, so dass sie sich eine Meinung zu deren Ordnungsmäßigkeit im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen bilden konnte und insoweit keine eingehende Untersuchung mehr durchführen musste. Andere im Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502) festgestellte wesentliche Umstände sind im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben. Insbesondere ist die streitige Beihilfe in der vorliegenden Rechtssache gewährt worden, nachdem die Kommission das sich auf die streitige Befreiung beziehende förmliche Prüfverfahren eingeleitet hatte.
254 Dadurch unterscheiden sich die konkreten Umstände der Rechtssache, die zum Urteil RSV/Kommission (oben in Rn. 216 angeführt, EU:C:1987:502) geführt hat, grundlegend von den Umständen, die der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegen.
255 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass, wie der Gerichtshof in Rn. 52 des Urteils vom 11. November 2004, Demesa und Territorio Histórico de Álava/Kommission (C‑183/02 P und C‑187/02 P, Slg, EU:C:2004:701), in Bezug auf außergewöhnliche Umstände, die beim Empfänger einer rechtswidrigen Beihilfe berechtigterweise ein schutzwürdiges Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit dieser Beihilfe wecken könnten, entschieden hat, die offensichtliche Untätigkeit der Kommission irrelevant ist, wenn ihr eine Beihilferegelung nicht gemeldet wurde. Eine solche Lösung ist auch in einem Fall geboten, in dem eine Beihilferegelung, wie in den vorliegenden Rechtssachen, ohne die von der Lorenz-Rechtsprechung geforderte vorherige Anzeige ihrer Durchführung (vgl. oben, Rn. 220) und damit ohne vollständige Einhaltung des Verfahrens des Art. 88 EG umgesetzt worden ist (vgl. die oben in Rn. 214 angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall kommt der offensichtlichen Untätigkeit der Kommission während der 43 Monate nach der Antwort Irlands auf das letzte Ersuchen der Kommission um zusätzliche Informationen (vgl. oben, Rn. 241), so sehr sie auch gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer verstößt, unter dem Gesichtspunkt der Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf die rechtswidrig durchgeführte streitige Beihilfe jedoch keine besondere Bedeutung zu. Demnach genügt sie nicht für die Feststellung des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände, die geeignet gewesen wären, bei AAL erneut ein schutzwürdiges Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der streitigen Beihilfe im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen zu wecken. Folglich hinderte der bloße Umstand, dass im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer für den Erlass der Tonerde‑I-Entscheidung verstoßen worden ist, die Kommission nicht daran, in dieser Entscheidung die Rückforderung der streitigen Beihilfe anzuordnen.
256 Das Vorbringen zur Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer ist daher zurückzuweisen.
257 Hinsichtlich des Arguments, das Irland aus der Nichteinhaltung der in Art. 7 Abs. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 genannten Frist von 18 Monaten herleitet, ist zu beachten, dass die letztgenannte Vorschrift im Fall angemeldeter Beihilfen lediglich vorsieht: „Die Kommission bemüht sich darum, eine Entscheidung möglichst innerhalb von 18 Monaten nach Eröffnung des [förmlichen] Prüfverfahrens zu erlassen.“ Aus diesem Artikel geht nicht hervor, dass der bloße Ablauf der darin erwähnten Frist die Kommission – vorbehaltlich der in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 festgelegten Verjährungsfrist von zehn Jahren – an der Rückforderung von Beihilfen hindern würde. Art. 7 Abs. 7 dieser Verordnung sieht nämlich vor: „Ist die Frist nach Absatz 6 abgelaufen, so erlässt die Kommission auf Wunsch des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb von zwei Monaten auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Informationen eine Entscheidung.“ Demnach ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
258 Das Argument, das AAL aus dem Umstand herleitet, dass die Kommission den Erlass der Richtlinie 2003/96 durch den Rat öffentlich begrüßt hat, ist unerheblich, da die Tatsache, dass Art. 18 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2003/96 es Irland gestattete, die streitige Befreiung ab dem 1. Januar 2003 beizubehalten, für ein etwaiges schutzwürdiges Vertrauen von AAL in die Rechtmäßigkeit der streitigen Befreiung im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen irrelevant ist. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 anwendbar geworden ist, d. h. am 1. Januar 2003, musste AAL nämlich über die Existenz eines laufenden förmlichen Prüfverfahrens, das die streitige Befreiung betraf, sowie darüber unterrichtet sein, dass die streitige Befreiung, falls sie eine staatliche Beihilfe darstellte, gemäß Art. 88 EG von der Kommission zu genehmigen war. Diese Rechtslage konnte nicht dadurch geändert werden, dass die Richtlinie 2003/96, in deren 32. Erwägungsgrund es ausdrücklich heißt, dass diese Richtlinie „dem Ergebnis etwaiger Verfahren über staatliche Beihilfen gemäß den Artikeln 87 [EG] und 88 [EG] nicht vor[greift]“, am 27. bzw. 31. Oktober 2003 erlassen worden und in Kraft getreten ist (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil Kommission/Irland u. a., oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812, Rn. 51). Daher war Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 nach der Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens nicht geeignet, bei AAL erneut ein schutzwürdiges Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der streitigen Befreiung im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen zu wecken.
259 Was das Vorbingen betrifft, das die Kläger daraus herleiten, dass es die Kommission im vorliegenden Fall unterlassen hat, gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 eine Anordnung zur Aussetzung der streitigen Beihilfe zu erlassen, genügt der Hinweis, dass diese Vorschrift, wie bereits oben in Rn. 79 dargelegt worden ist, der Kommission, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, den Erlass einer Aussetzungsanordnung nicht vorschreibt, sondern lediglich vorsieht, dass die Kommission eine solche Anordnung erlassen kann, wenn sie es für erforderlich hält. Aus der Tatsache, dass die Kommission den Erlass einer Aussetzungsanordnung nicht für notwendig erachtet hatte, kann AAL im vorliegenden Fall folglich keinerlei Schlüsse gezogen haben. Demnach ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
260 Hinsichtlich des Arguments, das AAL aus den langfristigen Investitionen herleitet, die sie in ihrer in der Region Shannon angesiedelten Aluminiumfabrik getätigt hat, ist festzustellen, dass die Kommission diese im vorliegenden Fall zu Recht nicht berücksichtigt hat. AAL kann nämlich nicht mit Erfolg geltend machen, diese Investitionen seien auf der Grundlage eines schutzwürdigen Vertrauens getätigt worden, das sie in die Tatsache gehabt habe, dass die genannten Investitionen – u. a. dank des Vorteils, den sie bis zum 31. Dezember 2006 aus der streitigen Befreiung ziehen würde – amortisiert werden könnten. Aus den Erklärungen, die AAL in ihren Schriftsätzen selbst abgegeben hat, geht insoweit hervor, dass die betreffenden Investitionen „im Herbst 2003 in Auftrag gegeben“ worden sind, also zu einem Zeitpunkt, der nach der Veröffentlichung des Beschlusses der Kommission über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens am 2. Februar 2002 liegt. Wie sich oben aus den Rn. 221 bis 225 ergibt, durfte AAL nach dieser Veröffentlichung jedoch weder länger auf die Rechtmäßigkeit der streitigen Befreiung im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen noch auf die Tatsache vertrauen, dass, falls die genannte Befreiung eine staatliche Beihilfe darstellte, die Kommission ihre Rückforderung anordnen könnte. Wie bereits oben in Rn. 258 bemerkt worden ist, war der Erlass der Richtlinie 2003/96, deren Bestimmungen lediglich die Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Verbrauchsteuern regelten, nicht geeignet, nach der Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens bei AAL erneut ein schutzwürdiges Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der streitigen Beihilfe im Hinblick auf die Vorschriften über staatliche Beihilfen und in die Tatsache zu wecken, dass sie nicht in Anwendung der letztgenannten Vorschriften zurückgefordert würde. Jedenfalls hat AAL keine Beweise dafür vorgelegt, dass sie diese Investitionen auf der Grundlage ihres schutzwürdigen Vertrauens in die Tatsache getätigt hätte, dass die genannten Investitionen – u. a. dank des Vorteils, den sie bis zum 31. Dezember 2006 aus der streitigen Befreiung ziehen würde – amortisiert werden könnten. Eine der Investitionen ist im Übrigen im Rahmen eines Wettbewerbs, nämlich der Irish Capacity 2005 Competition, den AAL im Jahr 2003 gewonnen hat, getätigt worden. Daher durfte die Kommission das schutzwürdige Vertrauen, das AAL im vorliegenden Fall in die Tatsache gehabt zu haben behauptet, dass die in ihre in der Region Shannon angesiedelte Aluminiumfabrik getätigten Investitionen – u. a. dank des Vorteils, den sie bis zum 31. Dezember 2006 aus der streitigen Befreiung ziehen würde – amortisiert werden könnten, in der angefochtenen Entscheidung außer Acht lassen. Folglich ist das vorliegende Argument als unbegründet zurückzuweisen.
261 Dem Vorbringen Irlands, wonach AAL ihre Verluste, falls sie die in Anwendung der streitigen Befreiung gewährte Beihilfe zurückzahlen müsse, vor dem 31. Dezember 2003 nicht habe decken können, kann schließlich nicht gefolgt werden, da es in der Erwiderung in der Rechtssache T‑50/06 RENV II, in der es angeführt wurde, weder näher ausgeführt noch belegt worden ist.
262 Nach alledem ist festzustellen, dass die Kläger im vorliegenden Fall keine außergewöhnlichen Umstände nachgewiesen haben, aufgrund deren AAL vernünftigerweise davon ausgehen durfte, dass die Zweifel der Kommission behoben waren und die streitige Befreiung keinem Einwand begegnete, was es der Kommission verwehrt hätte, in der angefochtenen Entscheidung die Rückforderung der streitigen Beihilfe anzuordnen.
263 Folglich sind der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachte dritte Klagegrund und der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachte vierte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, die im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes erhoben wird, sowie fünfter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung im Zusammenhang mit der übermäßig langen Dauer des förmlichen Prüfverfahrens, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
264 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes wirft Irland der Kommission im Wesentlichen vor, sie habe dadurch gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer verstoßen, dass sie die angefochtene Entscheidung verspätet erlassen habe (vgl. oben, Rn. 45 und 51).
265 Im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten fünften Klagegrundes trägt AAL vor, die Kommission habe dadurch gegen die Grundsätze der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen, dass sie sich mit dem Erlass der Tonerde‑I-Entscheidung, die erst mehr als 43 Monate nach Eingang der Antwort Irlands auf das letzte von der Kommission übermittelte Ersuchen um zusätzliche Informationen im April 2002 ergangen sei, zu viel Zeit gelassen habe.
266 Die Kommission beantragt, die vorliegende Rüge und den vorliegenden Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
267 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission durch das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit daran gehindert ist, unbegrenzt lange zu warten, ehe sie von ihren Befugnissen Gebrauch macht (Urteile vom 14. Juli 1972, Geigy/Kommission, 52/69, Slg, EU:C:1972:73, Rn. 20 und 21, sowie Falck und Acciaierie di Bolzano/Kommission, oben in Rn. 215 angeführt, EU:C:2002:524, Rn. 140).
268 Außerdem stellt es einen Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung dar, dass die Kommission beim Erlass von Entscheidungen nach Abschluss von Verwaltungsverfahren auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik einen angemessenen Zeitraum einhalten muss (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2011, Eridania Sadam/Kommission, T‑579/08, EU:T:2011:608, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). Beschließt die Kommission im Bereich staatlicher Beihilfen die Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens, so steht ihr daher ein angemessener Zeitraum zu, um dieses Verfahren zu Ende zu führen (Beschluss vom 11. Juli 1979, Fédération nationale des producteurs de vins de table et vins de pays/Kommission, 59/79, Slg, EU:C:1979:188, S. 2425, 2428).
269 Im vorliegenden Fall ist die Dauer der Prüfung der streitigen Beihilfe, wie oben in Rn. 248 festgestellt worden ist, gewiss unangemessen.
270 Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer rechtfertigt die Nichtigerklärung einer nach deren Ablauf erlassenen Entscheidung jedoch nur insoweit, als er auch eine Verletzung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen mit sich bringt. Ist nicht bewiesen, dass die übermäßig lange Verfahrensdauer die Möglichkeit für die betroffenen Unternehmen beeinträchtigt hat, sich wirksam zu verteidigen, wirkt sich die Nichtbeachtung des Grundsatzes der Sachbehandlung innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens aus und kann daher nur als Ursache eines Schadens angesehen werden, der vor dem Unionsrichter geltend gemacht werden kann (vgl. Urteil Eridania Sadam/Kommission, oben in Rn. 268 angeführt, EU:T:2011:608, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
271 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass sich die Beteiligten, wie im vorliegenden Fall AAL, in der in Art. 88 Abs. 2 EG genannten Prüfungsphase noch lange nicht auf die Verteidigungsrechte berufen können, die Personen zuerkannt worden sind, gegen die ein Verfahren eingeleitet wird, und lediglich über das Recht verfügen, in angemessener Weise unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls in das Verwaltungsverfahren einbezogen zu werden (vgl. Urteil Eridania Sadam/Kommission, oben in Rn. 268 angeführt, EU:T:2011:608, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
272 Im vorliegenden Fall machen die Kläger nicht geltend, die Kommission habe während des förmlichen Prüfverfahrens den Anspruch von AAL auf rechtliches Gehör und deren Recht, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls in angemessener Weise in das Verfahren einbezogen zu werden, verletzt.
273 Folglich sind die im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes erhobene Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer und der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachte fünfte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
274 Da sämtliche zur Stützung der vorliegenden Klagen vorgebrachten Klagegründe und Rügen zurückgewiesen worden sind, müssen diese Klagen selbst in vollem Umfang abgewiesen werden.
Kosten
275 Gemäß Art. 219 der Verfahrensordnung des Gerichts entscheidet dieses in seinen Entscheidungen nach Aufhebung und Zurückverweisung über die Kosten des Rechtsstreits vor dem Gericht und über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof. Da der Gerichtshof in den Urteilen Kommission/Irland u. a. (oben in Rn. 22 angeführt, EU:C:2009:742) sowie Kommission/Irland u. a., oben in Rn. 27 angeführt, EU:C:2013:812) die Kostenentscheidung vorbehalten hat, hat das Gericht im vorliegenden Urteil auch über die Kosten dieser Rechtsmittelverfahren zu entscheiden.
276 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Gemäß Art. 135 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann das Gericht aus Gründen der Billigkeit jedoch ausnahmsweise entscheiden, dass eine unterliegende Partei neben ihren eigenen Kosten nur einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt. Außerdem kann das Gericht nach Art. 135 Abs. 2 dieser Verfahrensordnung auch eine obsiegende Partei zur Tragung eines Teils der Kosten oder sämtlicher Kosten verurteilen, wenn dies wegen ihres Verhaltens, auch vor Klageerhebung, gerechtfertigt erscheint. Insbesondere ist es dem Gericht möglich, ein Organ, dessen Entscheidung nicht für nichtig erklärt worden ist, zur Tragung der Kosten zu verurteilen, wenn diese Entscheidung aufgrund ihrer Unzulänglichkeit einen Kläger möglicherweise zur Erhebung einer Klage veranlasst hat (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2010, Evropaïki Dynamiki/Kommission, T‑387/08, EU:T:2010:377, Rn. 177 und die dort angeführte Rechtsprechung).
277 Die Kläger sind mit ihren Anträgen unterlegen. Im Rahmen der Prüfung der vorliegenden Klagen ist jedoch oben in Rn. 248 festgestellt worden, dass die Kommission beim Erlass der angefochtenen Entscheidung gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer verstoßen hatte, was die Kläger möglicherweise dazu bewogen hat, die Klagen zu erheben, um diesen Verstoß feststellen zu lassen. Unter diesen Umständen hält das Gericht es in den Rechtssachen T‑50/06, T‑50/06 RENV I und T‑50/06 RENV II für gerecht und billig, Irland zur Tragung seiner eigenen Kosten und von drei Vierteln der Kosten der Kommission zu verurteilen, während diese zur Tragung eines Viertels ihrer eigenen Kosten verurteilt wird, sowie in den Rechtssachen T‑69/06, T‑69/06 RENV I und T‑69/06 RENV II AAL zur Tragung ihrer eigenen Kosten und von drei Vierteln der Kosten der Kommission zu verurteilen, während diese zur Tragung eines Viertels ihrer eigenen Kosten verurteilt wird. In der Rechtssache T‑69/06 R ist AAL hingegen zur Tragung der gesamten Kosten zu verurteilen. In den Rechtssachen C‑89/08 P und C‑272/12 P sind Irland und AAL, da der Kommission in diesen beiden Rechtssachen je fünf Parteien gegenüberstanden, in Anwendung des in den Rechtssachen T‑50/06, T‑50/06 RENV I und T‑50/06 RENV II sowie in den Rechtssachen T‑69/06, T‑69/06 RENV I und T‑69/06 RENV II gewählten Verteilungsschlüssels jeweils zur Tragung ihrer eigenen Kosten und von drei Zwanzigsteln, d. h. eines Fünftels von drei Vierteln, der Kosten der Kommission zu verurteilen, während diese zur Tragung eines Fünftels ihrer eigenen Kosten verurteilt wird.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Irland trägt seine eigenen Kosten und in den Rechtssachen T‑50/06, T‑50/06 RENV I und T‑50/06 RENV II drei Viertel der Kosten der Europäischen Kommission sowie in den Rechtssachen C‑89/08 P und C‑272/12 P drei Zwanzigstel der Kosten der Kommission.
3. Die Aughinish Alumina Ltd trägt ihre eigenen Kosten und in den Rechtssachen T‑69/06, T‑69/06 RENV I und T‑69/06 RENV II drei Viertel der Kosten der Kommission, in den Rechtssachen C‑89/08 P und C‑272/12 P drei Zwanzigstel der Kosten der Kommission und in der Rechtssache T‑69/06 R die gesamten Kosten.
4. Die Kommission trägt in den verbundenen Rechtssachen T‑50/06 und T‑69/06, in den verbundenen Rechtssachen T‑50/06 RENV I und T‑69/06 RENV I sowie in den verbundenen Rechtssachen T‑50/06 RENV II und T‑69/06 RENV II ein Viertel ihrer eigenen Kosten und in den Rechtssachen C‑89/08 P und C‑272/12 P ein Fünftel ihrer eigenen Kosten.
Kanninen
Pelikánová
Buttigieg
Gervasoni
Madise
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. April 2016.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Streitige Befreiung
Verwaltungsverfahren
Tonerde‑I-Entscheidung
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Zweiter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Estoppel sowie gegen Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 92/81 und vierter Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Estoppel und eines Ermessensmissbrauchs, die zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebracht werden, einerseits, und zweiter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit der Rechtsakte der Organe sowie einer Befugnisüberschreitung und eines Ermessensmissbrauchs, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird, andererseits
Dritter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Erfordernisse aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. m EG und Art. 157 EG, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
Sechster Klagegrund einer Verletzung der Begründungspflicht und eines Verstoßes gegen Art. 87 Abs. 1 EG, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
Zur Stützung der vorliegenden Klagen jeweils vorgebrachter erster Klagegrund eines Rechtsfehlers bei der Einstufung der streitigen Beihilfe im Hinblick auf Art. 88 EG
Erster Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und zweiter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes, mit denen ein Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel sowie – in der Rechtssache T‑50/06 RENV II – ein Verstoß gegen die in den Art. 17 und 18 der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierten Verfahrensvorschriften für bestehende Beihilferegelungen geltend gemacht werden
Zweiter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und dritter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes, mit denen ein Verstoß gegen Art. 88 EG in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b Ziff. iv und Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 geltend gemacht wird
Dritter Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes und erster Teil des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebrachten ersten Klagegrundes, mit denen im Wesentlichen ein Verstoß gegen Art. 88 EG und die in Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 kodifizierte Regel geltend gemacht wird
Dritter Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebracht wird, und vierter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, die im Rahmen des zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑50/06 RENV II vorgebrachten vierten Klagegrundes erhoben wird, sowie fünfter Klagegrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer, der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung im Zusammenhang mit der übermäßig langen Dauer des förmlichen Prüfverfahrens, der zur Stützung der Klage in der Rechtssache T‑69/06 RENV II vorgebracht wird
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 21. Dezember 2022.#Vialto Consulting Kft. gegen Europäische Kommission.#Instrument für Heranführungshilfe – Finanzhilfen – Untersuchungen des OLAF – Verwaltungssanktion – Ausschluss von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge und von Verfahren zur Gewährung von Finanzhilfen aus dem Gesamthaushaltsplan der Union für die Dauer von zwei Jahren – Begründungspflicht – Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2185/96 – Grundsatz der guten Verwaltung – Vertrauensschutz – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung – Verhältnismäßigkeit der Sanktion.#Rechtssache T-537/18.
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62018TJ0537
|
ECLI:EU:T:2022:852
| 2022-12-21T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62018TJ0537 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 15. Juli 2015 (Auszüge).#Siderurgica Latina Martin SpA (SLM) und Ori Martin SA gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Einheitliche, komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Verjährung – Leitlinien von 2006 für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Zurechnung der Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung an die Muttergesellschaft – Verhältnismäßigkeit – Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen – Unbeschränkte Nachprüfung.#Rechtssachen T-389/10 und T-419/10.
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62010TJ0389
|
ECLI:EU:T:2015:513
| 2015-07-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010TJ0389
URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)
15. Juli 2015 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Europäischer Markt für Spannstahl — Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen — Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird — Einheitliche, komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung — Verjährung — Leitlinien von 2006 für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen — Zurechnung der Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung an die Muttergesellschaft — Verhältnismäßigkeit — Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen — Unbeschränkte Nachprüfung“
In den Rechtssachen T‑389/10 und T‑419/10
Siderurgica Latina Martin SpA (SLM) mit Sitz in Ceprano (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte G. Belotti und F. Covone,
Klägerin in der Rechtssache T‑389/10,
Ori Martin SA mit Sitz in Luxemburg (Luxemburg), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt P. Ziotti,
Klägerin in der Rechtssache T‑419/10,
gegen
Europäische Kommission, in der Rechtssache T‑389/10 vertreten zunächst durch B. Gencarelli, V. Bottka und P. Rossi, dann durch V. Bottka, P. Rossi und G. Conte als Bevollmächtigte, und in der Rechtssache T‑419/10 vertreten zunächst durch B. Gencarelli, V. Bottka und P. Rossi, dann durch V. Bottka, P. Rossi und G. Conte als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung und Abänderung des Beschlusses K(2010) 4387 endg. der Kommission vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 EWR-Abkommen (COMP/38.344 – Spannstahl), geändert durch den Beschluss K(2010) 6676 endg. der Kommission vom 30. September 2010 und durch den Beschluss C(2011) 2269 final der Kommission vom 4. April 2011,
erlässt
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen (Berichterstatter) sowie der Richter F. Dehousse und A. M. Collins,
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündlichen Verhandlungen vom 30. Juni 2014
folgendes
Urteil (1 )
[nicht wiedergegeben]
Verfahren und Anträge der Parteien
44 Mit Klageschrift, die am 13. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat SLM die Klage in der Rechtssache T‑389/10 erhoben.
45 Mit Klageschrift, die am 14. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Ori Martin die Klage in der Rechtssache T‑419/10 erhoben.
46 Mit Beschluss vom 29. Oktober 2010 hat das Gericht (Erste Kammer) die Klägerinnen darüber informiert, dass sie Gelegenheit hätten, ihre Klagegründe und Anträge im Hinblick auf die Änderungen durch den ersten Änderungsbeschluss anzupassen. SLM und Ori haben von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch gemacht.
47 Mit Beschluss vom 6. Juni 2011 hat das Gericht die Kommission aufgefordert, ihm den zweiten Änderungsbeschluss vorzulegen.
48 Am 22. Juni 2011 hat die Kommission den zweiten Änderungsbeschluss übermittelt.
49 Mit Beschluss vom 30. Juni 2011 hat das Gericht (Erste Kammer) die Klägerinnen darüber informiert, dass sie Gelegenheit hätten, ihre Klagegründe und Anträge im Hinblick auf die Änderungen durch den zweiten Änderungsbeschluss anzupassen.
50 SLM und Ori Martin haben im Rahmen ihrer am 13. April 2011 eingereichten Erwiderungen zu dem an sie gerichteten zweiten Änderungsbeschluss Stellung genommen.
51 Am 20. Oktober 2011 hat die Kommission die Urschrift ihrer Gegenerwiderungen in der Verfahrenssprache sowie ihre Ausführungen zu den Stellungnahmen von SLM und Ori Martin zum zweiten Änderungsbeschluss eingereicht, was den Abschluss des schriftlichen Verfahrens zur Folge hatte.
52 Aufgrund einer Änderung der Zusammensetzung des Gerichts ab dem 23. September 2013 ist der Berichterstatter der Sechsten Kammer zugeteilt worden, der die vorliegenden Rechtssachen deshalb zugewiesen worden sind.
53 Die Vorberichte nach Art. 52 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 sind der Sechsten Kammer am 8. November 2013 übermittelt worden.
54 In der Rechtssache T‑389/10 hat das Gericht die Parteien mit Beschluss vom 17. Dezember 2013 aufgefordert, einer Reihe von prozessleitenden Maßnahmen nachzukommen.
55 Mit Schreiben vom 28. Januar bzw. 28. Februar 2014 sind SLM und die Kommission diesen Maßnahmen nachgekommen. Die Kommission hat in ihrer Erwiderung jedoch angemerkt, dass sie bestimmten Aufforderungen zur Vorlage von Unterlagen nicht vollständig nachkommen könne, da ihr die verlangten Unterlagen im Rahmen der Bearbeitung von Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung übermittelt worden seien. SLM hat zu dieser Anmerkung der Kommission Stellung genommen.
56 Am 16. Mai 2014 hat das Gericht der Kommission im Rahmen der Beweiserhebung gemäß Art. 65 seiner Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 aufgegeben, die Unterlagen vorzulegen, zu deren Vorlage sie im Anschluss an die prozessleitenden Maßnahmen vom 17. Dezember 2013 nicht bereit gewesen war.
57 Mit prozessleitender Maßnahme vom selben Tag hat das Gericht die Kommission aufgefordert, bestimmte Unterlagen zur Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung im Stadium des Verwaltungsverfahrens vorzulegen.
58 Die Kommission hat die verlangten Unterlagen am 27. Mai bzw. am 6. Juni 2014 vorgelegt.
59 In der Rechtssache T‑419/10 hat das Gericht die Parteien mit Beschluss vom 17. Dezember 2013 aufgefordert, einer Reihe von prozessleitenden Maßnahmen nachzukommen.
60 Mit Schreiben vom 28. bzw. 30. Januar 2014 sind Ori Martin und die Kommission diesen Maßnahmen nachgekommen.
61 Die Parteien haben in den Sitzungen vom 30. Juni 2014 mündlich verhandelt sowie die schriftlichen und mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet. Weiterhin wurden die Parteien aufgefordert, zu einer eventuellen Verbindung der vorliegenden Rechtssachen T‑389/10 und T‑419/10 zu gemeinsamer Entscheidung gemäß Art. 50 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 Stellung zu nehmen.
62 In der Rechtssache T‑389/10 beantragt SLM,
—
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
—
die gegen sie und Ori Martin gesamtschuldnerisch verhängte Geldbuße im Licht des zweiten Änderungsbeschlusses neu festzusetzen;
—
im Rahmen der Beweiserhebung gemäß Art. 65 Buchst. c und den Art. 68 ff. der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 die Vernehmung der Vertreter von Redaelli und ITC oder ihre Anhörung als Zeugen zu folgender Frage anzuordnen: „Trifft es zu, dass SLM nicht vor Ende 1999 an Zusammenkünften teilgenommen hat, die das fragliche Kartell zum Gegenstand hatten?“ und die Kommission aufzufordern, eine Liste mit der Zahl der zwischen Anfang 2002 und Juni 2010 mit der Angelegenheit befassten Beamten, einschließlich der Direktoren und Referatsleiter, vorzulegen;
—
der Kommission aufzugeben, die aufgelaufenen Zinsen auf den bereits gezahlten Betrag zu zahlen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
63 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen und die Beweisanträge zurückzuweisen;
—
SLM die Kosten aufzuerlegen.
64 In der Rechtssache T‑419/10 beantragt Ori Martin,
—
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit sie für das mit einer Sanktion belegte Verhalten haftbar gemacht wurde;
—
die gegen sie verhängte Geldbuße aufzuheben oder herabzusetzen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
65 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
Ori Martin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
66 Das Gericht hat nach Anhörung der Parteien (oben, Rn. 61) beschlossen, die vorliegenden Rechtssachen in Anwendung von Art. 50 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden.
67 Zur Begründung ihrer Klage macht SLM mehrere Klagegründe geltend.
68 Die ersten beiden Klagegründe werden im Hinblick auf die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses, soweit er SLM betrifft, vorgebracht und beziehen sich zum einen auf die Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer und zum anderen auf die Verletzung des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung.
69 Die anderen Klagegründe werden im Hinblick auf die Ermäßigung der streitigen Geldbuße geltend gemacht. Diese Klagegründe betreffen erstens die fälschliche Anwendung der Leitlinien von 2006 anstatt der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 Abs. 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden (ABl. 1998, C 9, S. 3, im Folgenden: Leitlinien von 1998), zweitens eine Nichteinhaltung der 10%‑Grenze und eine Verletzung der diesbezüglichen Begründungspflicht, drittens eine Verletzung der Begründungspflicht in Bezug auf die Ermittlung der Schwere der Zuwiderhandlung und die Erhöhung zu Abschreckungszwecken, viertens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, fünftens eine falsche Beurteilung der Dauer der Beteiligung von SLM an dem Kartell, sechstens eine Nichtberücksichtigung mildernder Umstände für SLM, siebtens eine Nichtberücksichtigung der Erklärungen von SLM, achtens eine Nichtberücksichtigung der Zahlungsunfähigkeit von SLM und neuntens die Verjährung der Zuwiderhandlung.
70 Im Anschluss an den zweiten Änderungsbeschluss hat SLM ihre Klagegründe angepasst, um einen neuen Aspekt des Rechtsstreits geltend zu machen, der sich auf Fehler bei der Berechnung bezieht, die von der Kommission bei der Bestimmung des Teils der Geldbuße, für den SLM allein hafte, und des Teils, für den SLM und Ori Martin gesamtschuldnerisch zu haften hätten, begangen worden sei.
71 Aus der Antwort von SLM auf die prozessleitenden Maßnahmen geht hervor, dass nicht mehr über die ursprünglich geltend gemachten Klagegründe entschieden zu werden braucht, soweit diese zum einen die Nichteinhaltung der 10%-Grenze und eine Verletzung der diesbezüglichen Begründungspflicht – außer zur Ermittlung der Folgen, die der diesbezügliche Vortrag zugunsten von SLM auf die Zuweisung der Prozesskosten haben kann – und zum anderen die Nichtberücksichtigung der Zahlungsunfähigkeit von SLM betreffen. Dies wurde in der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis genommen.
72 Ori Martin trägt zur Begründung ihrer Klage drei Klagegründe vor. Mit dem ersten Klagegrund macht sie die Verjährung der Zuwiderhandlung geltend. Der zweite Klagegrund betrifft eine Verletzung mehrerer Regeln für die Zurechnung der Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung an Ori Martin als fast ausschließliche Eigentümerin von SLM. Der dritte Klagegrund richtet sich gegen bestimmte Aspekte der Berechnung der Geldbuße und macht Zweifel an der Anwendbarkeit der Leitlinien von 2006 anstatt der Leitlinien von 1998 geltend.
73 Das Vorbringen von SLM und Ori Martin zur Verjährung, zur Anwendbarkeit der Leitlinien von 2006 anstatt der Leitlinien von 1998 und zu bestimmten Aspekten der Berechnung der Geldbuße überschneiden sich. Dieses Vorbringen wird zusammen geprüft.
A – Zur Verjährung der Zuwiderhandlung
1. Vorbringen der Parteien
74 SLM und Ori Martin machen geltend, die Befugnis der Kommission, Geldbußen zu verhängen, sei im vorliegenden Fall verjährt. Die Verjährungsfrist habe am 19. September 2002, dem Zeitpunkt der Beendigung der Zuwiderhandlung, zu laufen begonnen und habe am 19. September 2007 geendet. Keine der von der Kommission nach diesem Zeitpunkt und vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgenommenen Handlungen, nämlich ihr Auskunftsverlangen zu den Umsatzzahlen der Unternehmen, ihre Stellungnahmen zu den Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung und eine am 7. und 8. Juni 2006 in den Geschäftsräumen eines Wirtschaftsprüfers vorgenommene Nachprüfung, sei zur Ermittlung des Sachverhalts oder zur Verfolgung der Zuwiderhandlung erforderlich gewesen. Die Übermittlung der Mitteilung der Beschwerdepunkte am 30. September 2008 sei mithin nach Ablauf der in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Frist von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt der Beendigung der Zuwiderhandlung erfolgt.
75 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
2. Würdigung durch das Gericht
76 Nach Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 verjährt die Befugnis der Kommission, wegen Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV Geldbußen festzusetzen, nach fünf Jahren. Die Verjährungsfrist beginnt mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist.
77 Diese Verjährungsfrist wird jedoch durch jede auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Handlung der Kommission unterbrochen. Die schriftlichen Auskunftsverlangen der Kommission und die schriftlichen Nachprüfungsaufträge, die die Kommission ihren Bediensteten erteilt, werden als Beispiele für Handlungen aufgeführt, durch die die Verjährung unterbrochen wird.
78 Hierzu ist in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 eindeutig festgelegt, dass die Unterbrechung der Verjährung mit dem Tag eintritt, an dem die Handlung mindestens einem an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen oder einer beteiligten Unternehmensvereinigung bekannt gegeben wird, und dass die Unterbrechung gegenüber allen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen wirkt.
79 Im vorliegenden Fall hat die Kommission innerhalb von fünf Jahren ab dem 19. September 2002, dem Zeitpunkt der Beendigung der Zuwiderhandlung, verschiedenen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen mehrere auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Auskunftsverlangen bekannt gegeben.
80 Als von der Kommission in ihrer Erwiderung auf diesbezügliche Fragen des Gerichts angeführtes Beispiel kann den Akten entnommen werden, dass sie am 19. April 2006 ein Auskunftsverlangen, insbesondere zur Rolle eines italienischen Wirtschaftsprüfers im Kartell, an ITC gerichtet hat. Auch ist unstreitig, dass die Kommission am 7. und 8. Juni 2006 eine Nachprüfung durchgeführt hat, in deren Rahmen sie zahlreiche, in Anhang 5 des angefochtenen Beschlusses aufgelistete Unterlagen beschlagnahmt hat, die es ihr ermöglicht haben, wichtige Gesichtspunkte bezüglich des Club Italia zu bestätigen.
81 Aufgrund dieser Vorgehensweise hat die Kommission die Verjährungsfrist gegenüber allen vor dem 19. September 2007 an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen unterbrochen. Mithin war die Befugnis der Kommission zur Verhängung von Geldbußen nicht verjährt, als sie am 30. September 2008 die Mitteilung der Beschwerdepunkte bzw. am 30. Juni 2010 den ursprünglichen Beschluss erließ.
82 Die Klagegründe bezüglich der Verjährung sind daher als unbegründet zurückzuweisen.
B – Zur Anwendung der Leitlinien von 2006 anstatt der Leitlinien von 1998
1. Vorbringen der Parteien
83 SLM und Ori Martin werfen der Kommission vor, die Leitlinien von 2006 angewandt zu haben, um Handlungen zu sanktionieren, die vor deren Veröffentlichung begangen worden seien. SLM macht insbesondere geltend, die rückwirkende Anwendung eines strengeren Strafgesetzes verstoße gegen den Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von Strafen und gegen das Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften. Insbesondere könne die Kommission Dritten nicht die in Ziff. 38 der Leitlinien von 2006 festgelegte Regel zum zeitlichen Geltungsbereich entgegenhalten, da diese neuen Leitlinien nicht gemeinsam mit anderen Organen oder den Mitgliedstaaten erlassen worden seien. Die Anwendung der Leitlinien von 2006 auf die Situation von SLM stelle weiterhin eine Ungleichbehandlung dar, da gegen die Mehrzahl der Unternehmen, die für Handlungen, die mit den SLM in Anwendung der Leitlinien von 2006 vorgeworfenen vergleichbar seien, mit einer Sanktion belegt worden seien, Geldbußen in einer geringeren Höhe, in der Größenordnung von 1 % bis 5 % ihres Umsatzes, festgesetzt worden seien. Die Höhe der Geldbuße müsse daher vom Gericht unter Berücksichtigung der zur Zeit der maßgeblichen Handlungen und bei Eröffnung des Verwaltungsverfahrens anwendbaren Leitlinien von 1998 überprüft werden.
84 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
2. Würdigung durch das Gericht
85 Art. 7 Abs. 1 („Keine Strafe ohne Gesetz“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sieht Folgendes vor:
„Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“
86 Eine ähnliche Bestimmung ist in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechtecharta) enthalten, in deren Art. 49 Abs. 1 es heißt:
„Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“
87 Diesbezüglich stellt Art. 53 der Grundrechtecharta klar, dass die vorgenannte Bestimmung nicht als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen ist, die u. a. durch die internationalen Übereinkünfte anerkannt werden, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
88 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es in Art. 15 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962 – Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) hieß:
„2. Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis einer Million [Euro] oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig:
a)
gegen Artikel [101] Absatz (1) [AEUV] oder Artikel [102 AEUV] verstoßen …
Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.“
89 Diese Bestimmung wurde mit Wirkung vom 1. Mai 2004 durch Art. 43 der Verordnung Nr. 1/2003 aufgehoben und durch Art. 23 Abs. 2 und 3 dieser Verordnung ersetzt, der bestimmt:
„(2) Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig:
a)
gegen Artikel [101 AEUV] oder Artikel [102 AEUV] verstoßen …
Die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung darf 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.
…
(3) Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.“
90 In der Folge hat die Kommission am 1. September 2006 im Amtsblatt die Leitlinien von 2006 veröffentlicht. In diesem Dokument wird die Methode dargelegt, die die Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße gegen Unternehmen, die eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG (jetzt Art. 101 AEUV) begangen haben, zugrunde legt. Ziff. 38 der Leitlinien von 2006 lautet:
„Die [Leitlinien von 2006] finden in sämtlichen Verfahren Anwendung, in denen nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt eine Mitteilung der Beschwerdepunkte ergeht, ungeachtet der Frage, ob die Geldbuße gemäß Artikel 23 Absatz 2 der Verordnung … Nr. 1/2003 oder gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 verhängt wird.“
91 Die Leitlinien von 2006 treten somit an die Stelle der Leitlinien von 1998.
92 Hierzu ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass die von der Verwaltung erlassenen internen Verhaltensnormen, die Rechtswirkung auf Dritte ‐ wie Wirtschaftsteilnehmer, die gegen Art. 101 AEUV verstoßen könnten ‐ entfalten sollen, aufgrund ihrer Natur zwar nicht als zwingende Rechtsvorschriften qualifiziert werden können, jedoch richtungweisende Verhaltensnormen darstellen, von denen die Verwaltung im Einzelfall nicht von sich aus ohne Angabe von Gründen abweichen kann, die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sind (Urteil vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg, EU:C:2005:408, Rn. 209 und 210).
93 Daraus ergibt sich, dass die Leitlinien von 2006, bei denen es sich um solche Verhaltensnormen handelt, von dem Begriff „Recht“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und von Art. 49 Abs. 1 der Grundrechtecharta erfasst sind (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 92 angeführt, EU:C:2005:408, Rn. 216, und vom 18. Mai 2006, Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, C‑397/03 P, Slg, EU:C:2006:328, Rn. 20).
94 Diese Bestimmungen dürfen zwar nicht so verstanden werden, dass sie die allmähliche Präzisierung der Strafbarkeitsregelung verbieten, können aber der rückwirkenden Anwendung einer neuen Auslegung einer Norm, die eine Zuwiderhandlung festlegt, entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 92 angeführt, EU:C:2005:408, Rn. 217, und die in Rn. 215 dieses Urteils angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte).
95 Der Umstand allein, dass die Leitlinien von 2006 den Höchstsatz von 10 % des Umsatzes der mit Sanktionen belegten Unternehmen, der in Art. 15 Abs. 2 der auf den dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt anwendbaren Verordnung Nr. 17 vorgesehen ist, einhalten, reicht somit entgegen der Auffassung der Kommission nicht für den Nachweis aus, dass die Anwendung dieser Leitlinien von 2006 nicht gegen das Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften verstößt.
96 Gegen dieses Verbot könnte nämlich bei Anwendung einer Auslegung verstoßen werden, die zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung nicht hinreichend vorhersehbar war (Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 92 angeführt, EU:C:2005:408, Rn. 218).
97 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Leitlinien als eine Auslegung der Kommission betreffend das Verhalten, zu dessen Einhaltung sie sich bei der Verhängung von Geldbußen verpflichtet, anzusehen ist, und es geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die von der Kommission vorgenommenen Änderungen an dieser Auslegung mit dem Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften und dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar sind, sofern diese Änderungen als hinreichend vorhersehbar angesehen werden können.
98 Des Weiteren hängt nach der Rechtsprechung die Bedeutung des Begriffs der Vorhersehbarkeit in hohem Maß vom Inhalt der in Rede stehenden Vorschrift, von dem durch sie geregelten Bereich sowie von der Zahl und der Eigenschaft ihrer Adressaten ab. Der Vorhersehbarkeit des Gesetzes steht nicht entgegen, dass die betreffende Person gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um unter den Umständen des konkreten Falls angemessen zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können. Das gilt insbesondere für berufsmäßig tätige Personen, die gewohnt sind, sich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit sehr umsichtig verhalten zu müssen. Von ihnen kann erwartet werden, dass sie die mit ihren Zuwiderhandlungen verbundenen Risiken besonders sorgfältig beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 92 angeführt, EU:C:2005:408, Rn. 219 und die dort angeführte Rechtsprechung).
99 Jedoch verlangt die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln, dass die Kommission jederzeit das Niveau der Geldbußen den Erfordernissen dieser Politik anpassen kann. Folglich können Unternehmen, die von einem Verwaltungsverfahren betroffen sind, das zu einer Geldbuße führen kann, weder darauf vertrauen, dass die Kommission das zuvor praktizierte Bußgeldniveau nicht überschreiten wird, noch auf eine bestimmte Methode für die Berechnung der Geldbußen (vgl. Urteil Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, oben in Rn. 93 angeführt, EU:C:2006:328, Rn. 21 und 22 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
100 Die betroffenen Unternehmen mussten sich daher im vorliegenden Fall bewusst sein, dass die Kommission jederzeit beschließen kann, das Niveau der Geldbußen gegenüber dem zuvor praktizierten Niveau anzuheben. Dies gilt nicht nur dann, wenn die Kommission die Höhe der Geldbußen in besonderen Fällen anhebt, sondern auch dann, wenn diese Anhebung dadurch erfolgt, dass Verhaltensnormen mit allgemeiner Geltung wie die Leitlinien auf konkrete Fälle angewandt werden (vgl. Urteil Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, oben in Rn. 93 angeführt, EU:C:2006:328, Rn. 23 und 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
101 Solche Unternehmen können daher nicht davon ausgehen, dass die Kommission nach Erlass der Leitlinien von 1998 auf keinen Fall neue Leitlinien auf laufende Verfahren anwenden konnte, ohne das berechtigte Vertrauen der Unternehmen zu verletzen. Es ist jedoch zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung der Leitlinien von 2006 im vorliegenden Fall den von der Rechtsprechung aufgestellten Erfordernissen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit entsprechen.
102 Die Leitlinien von 2006 finden gemäß ihrer Ziff. 38 in sämtlichen Verfahren Anwendung, in denen nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt eine Mitteilung der Beschwerdepunkte ergeht. Da diese Veröffentlichung am 1. September 2006 erfolgte und die Mitteilung der Beschwerdepunkte vorliegend frühestens am 30. September 2008 zugestellt wurde, wurde der Betrag der verhängten Geldbuße somit anhand der in den Leitlinien von 2006 vorgesehenen Methode berechnet.
103 Erstens ist das Argument von SLM, die Kommission sei nicht befugt gewesen, die in Ziff. 38 der Leitlinien festgelegte Regel zum zeitlichen Geltungsbereich zu erlassen und Dritten entgegenzuhalten, zurückzuweisen. Die Möglichkeit der Geltendmachung dieser Regel, die dadurch, dass sie die Voraussetzungen für die zeitliche Geltung der Leitlinien von 2006 klar und objektiv festlegt, zur Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit beiträgt, ergibt sich nämlich aus der der Kommission durch die Rechtsprechung zuerkannten Befugnis, sich selbst durch Angabe der Bedingungen, unter denen sie das ihr durch die Verordnung Nr. 1/2003, bei der es sich um die Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses handelt, eingeräumte Ermessen ausüben wird, zu beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteile Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 92 angeführt, EU:C:2005:408, Rn. 211 und 213, und vom 2. Februar 2012, Denki Kagaku Kogyo und Denka Chemicals/Kommission, T‑83/08, EU:T:2012:48, Rn. 108).
104 Zweitens ist mithin zu prüfen, ob der Erlass der Leitlinien von 2006 hinreichend vorhersehbar im Sinne der oben in den Rn. 96 bis 100 dargestellten Rechtsprechung war.
105 Wie sich aus ihren Ziff. 5 bis 7 ergibt, besteht die hauptsächliche Neuerung der Leitlinien von 2006 darin, dass als Ausgangspunkt für die Berechnung der Geldbuße ein Grundbetrag verwendet wird, der sich nach dem Wert der verkauften Waren oder Dienstleistungen, mit denen die Zuwiderhandlung in Zusammenhang steht, sowie der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung bestimmt, wobei ferner ein besonderer Betrag zur Abschreckung der Unternehmen von der Aufnahme rechtswidriger Verhaltensweisen einbezogen wird. Die Leitlinien von 2006 stellen mithin auf die in der Verordnung Nr. 17 festgelegten und in die Verordnung Nr. 1/2003 übernommenen Kriterien der Schwere und der Dauer ab, die bereits in den Leitlinien von 1998 berücksichtigt worden waren (vgl. in diesem Sinne Urteil Denki Kagaku Kogyo und Denka Chemicals/Kommission, oben in Rn. 103 angeführt, EU:T:2012:48, Rn. 114).
106 Im Übrigen verstößt die Möglichkeit, dass ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer die Höhe der Geldbußen, die die Kommission im Einzelfall verhängen wird, nicht im Voraus genau einschätzen kann, für sich genommen nicht gegen das dem Verbot der Rückwirkung von Strafvorschriften innewohnende Erfordernis der Vorhersehbarkeit. Die von der Wettbewerbspolitik verfolgten Ziele der Verfolgung und Abschreckung können es nämlich rechtfertigen, zu verhindern, dass die Unternehmen genau die Vor- und Nachteile einschätzen können, die für sie mit ihrer Beteiligung an einer Zuwiderhandlung verbunden wären. Es genügt, dass die Unternehmen, falls erforderlich mit Hilfe eines Rechtsberaters, in hinreichend genauer Weise die Kriterien und die Größenordnung der ihnen drohenden Geldbußen vorhersehen können. Wie bereits festgestellt, ergeben sich die in den Leitlinien von 2006 berücksichtigten Kriterien aus den in der Verordnung Nr. 17 genannten, die bereits in den Leitlinien von 1998 berücksichtigt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa/Kommission, C‑266/06 P, EU:C:2008:295, Rn. 55, und Denki Kagaku Kogyo und Denka Chemicals/Kommission, oben in Rn. 103 angeführt, EU:T:2012:48, Rn. 118).
107 Daraus ist zu schließen, dass die Leitlinien von 2006 und die darin vorgesehene neue Berechnungsmethode, falls sie sich verschärfend auf die Höhe der Geldbußen ausgewirkt haben sollte, für Unternehmen wie SLM zum Zeitpunkt der Begehung der betreffenden Zuwiderhandlung hinreichend vorhersehbar waren. Die Kommission hat mithin dadurch, dass sie in dem angefochtenen Beschluss die Leitlinien von 2006 zur Berechnung der für eine vor deren Erlass begangene Zuwiderhandlung angewandt hat, nicht gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen (vgl. in diesem Sinne Urteil Denki Kagaku Kogyo und Denka Chemicals/Kommission, oben in Rn. 103 angeführt, EU:T:2012:48, Rn. 117 und 124).
108 Mithin ist der auf die Anwendung der Leitlinien von 2006 anstatt der Leitlinien von 1998 gestützte Klagegrund zurückzuweisen, ohne dass darüber entschieden zu werden braucht, ob SLM zu Recht geltend macht, eine solche Anwendung habe zu einer schwereren Geldbuße geführt als die, die bei einer Berechnung in Anwendung der Leitlinien von 1998 verhängt worden wäre.
109 Wie nämlich oben in den Rn. 99 und 100 erläutert, läuft es den von SLM geltend gemachten Grundsätzen nicht zuwider, wenn Leitlinien angewandt werden, die sich möglicherweise verschärfend auf die Höhe von Geldbußen für begangene Zuwiderhandlungen auswirken, sofern die damit umgesetzte Politik zum Zeitpunkt der Begehung der betreffenden Zuwiderhandlungen hinreichend vorhersehbar war (vgl. Urteile vom 12. Dezember 2007, BASF und UCB/Kommission, T‑101/05 und T‑111/05, Slg, EU:T:2007:380, Rn. 233 und 234 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Denki Kagaku Kogyo und Denka Chemicals/Kommission, oben in Rn. 103 angeführt, EU:T:2012:48, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).
110 Jedenfalls hat SLM dadurch, dass sie sich auf eine Zusammenfassung der von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss herangezogenen Berechnungsfaktoren beschränkt, nicht nachgewiesen, dass die Höhe der Geldbuße, die nach der in den Leitlinien von 1998 festgelegten Methode gegen sie hätte verhängt werden können, notwendigerweise geringer gewesen wäre. SLM weist im vorliegenden Fall nämlich lediglich auf bestimmte Unterschiede zwischen den Leitlinien von 2006 und den Leitlinien von 1998 hin (den Zusatzbetrag, die Modalitäten der Berücksichtigung der Dauer der Zuwiderhandlung, den Inhalt der mildernden Umstände), ohne anzugeben, zu welchem Ergebnis die Kommission bei Anwendung der Leitlinien von 1998, deren Ausgangspunkt für die Berechnung ebenfalls von dem in den Leitlinien von 2006 verwendeten abweicht, hätte kommen können.
111 Um sodann auf den Vortrag von SLM einzugehen, mit dem diese beanstandet, die Leitlinien von 2006 seien ihr gegenüber mit einer ungerechtfertigten Strenge angewandt worden, und geltend macht, es handele sich dabei um einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, genügt der Hinweis, dass diese Frage nichts mit der Frage der Vereinbarkeit der Anwendung der Leitlinien von 2006 mit dem Rückwirkungsverbot zu tun hat. Das diesbezügliche Vorbringen von SLM wird anschließend im Zusammenhang mit ihrem identischen Vortrag zu den Faktoren, die von der Kommission bei der Anwendung dieser Leitlinien zur Ermittlung der Höhe der fraglichen Geldbuße berücksichtigt wurden, geprüft werden.
112 Der auf die fälschliche Anwendung der Leitlinien von 2006 anstatt der Leitlinien von 1998 gestützte Klagegrund ist mithin als unbegründet zurückzuweisen.
C – Zu den bei der Berechnung der Geldbuße berücksichtigten Faktoren und zur Behandlung der der Kommission vorgelegten Beweismittel
113 Mehrere der von SLM angeführten Klagegründe beziehen sich auf die von der Kommission zur Berechnung der Höhe der Geldbuße berücksichtigten Faktoren. Diese Klagegründe betreffen den „Begründungsmangel bei der Festsetzung der Sanktion“, die nach 2000 erfolgte Verwendung des europäischen Umsatzes von SLM zur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße, den „Begründungsmangel in Bezug auf die Ermittlung der den Unternehmen gemeinsamen Schwere der Zuwiderhandlung zur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße“ und den „Begründungsmangel bei der Festsetzung des in Ziff. 25 der Leitlinien vorgesehenen Zusatzbetrags“ sowie den diesbezüglichen Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem, den Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Grundsatz der Gleichbehandlung, da die Sanktion die „behauptete Schwere der Zuwiderhandlung“, „deren Auswirkungen“, „den wirtschaftlichen Kontext des Sektors“, die frühere Praxis der Kommission oder die „SLM und den anderen betroffenen Unternehmen zur Last gelegten Tatsachen“ nicht hinreichend berücksichtigt habe, die unzutreffende Beurteilung der Dauer der Teilnahme von SLM an der Zuwiderhandlung, die Nichtberücksichtigung mildernder Umstände im Hinblick auf ihre geringen Marktanteile, die Zusammenarbeit mit der Kommission und die „untergeordnete Rolle“ von SLM bei der Zuwiderhandlung sowie die Nichtberücksichtigung von Erklärungen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung.
114 Um die Prüfung dieser Klagegründe zu erleichtern, hat das Gericht vorgeschlagen, was von SLM akzeptiert worden ist, sie nach Maßgabe der einzelnen von der Kommission vorgenommenen Schritte zur Festsetzung der Geldbuße zusammenzufassen, nämlich zum einen die zur Bestimmung des Grundbetrags berücksichtigten Faktoren (Umsätze, Schwere, Dauer, Zusatzbetrag) und zum anderen die Faktoren, die zur Anpassung dieses Betrags berücksichtigt werden können (mildernde Umstände und Kronzeugenregelung, Leistungsfähigkeit). Des Weiteren wird das übergreifende Vorbringen von SLM zur Rüge der Verletzung der Begründungspflicht oder der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung berücksichtigt.
115 Im Übrigen macht SLM mit dem auf die Verletzung des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung gestützten Klagegrund in Wirklichkeit vier Aspekte der Angelegenheit geltend, aus denen sich ergeben soll, dass die Kommission von SLM vorgelegte Beweismittel parteiisch und ungerecht zurückgewiesen hat, um anderen, ihr zur Verfügung stehenden Elementen Vorrang einzuräumen. Diese Aspekte betreffen die Behandlung der von SLM im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vorgelegten Beweismittel, die den Zusammenkünften des Club Italia, für die nicht berichtet werde, dass SLM anwesend gewesen sei, beigemessene Bedeutung, den Einfluss, den die Zeitpunkte des Erhalts der für den Vertrieb von Spannstahl in verschiedenen Mitgliedstaaten der Union erforderlichen technischen Zulassungen haben könnten, und den Zeitpunkt, zu dem die Kontrollen der von den Mitgliedern des Club Italia mit dieser Aufgabe betrauten Person begonnen hätten.
116 Die vorstehend von SLM angeführten Aspekte werden ebenfalls im Zusammenhang mit den verschiedenen Klagegründen bezüglich der zur Berechnung der Geldbuße berücksichtigten Faktoren geltend gemacht. Sie werden deshalb zusammen geprüft.
117 Mit diesen Argumenten wird insgesamt vor allem der Beschluss der Kommission kritisiert, in dem die Beteiligung von SLM an einem Komplex von Vereinbarungen und/oder abgestimmten Verhaltensweisen im Spannstahlsektor vom 10. Februar 1997 bis zum 19. September 2002 festgestellt wird, ohne den Inhalt und die Dauer der geltend gemachten oder von SLM zugestandenen Beteiligung zu berücksichtigen. SLM trägt zum einen vor, sie habe vor Ende 1999 nicht an der Zuwiderhandlung teilgenommen, und zum anderen, dass ihre Beteiligung zu diesem Zeitpunkt auf Italien beschränkt gewesen sei und erst später andere Gebiete erfasst habe.
118 Ori Martin macht zu ihrem bestimmte Aspekte der Berechnung der Geldbuße betreffenden Klagegrund mehrere Beurteilungsfehler der Kommission bei der Anwendung der Leitlinien von 2006 sowie einen Verstoß gegen Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003, eine Verletzung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung, eine Verletzung des Grundsatzes der individuellen Zumessung von Strafen und des Bestimmtheitsgrundsatzes sowie eine Verletzung der Begründungspflicht geltend. Ori Martin bringt im Wesentlichen drei Rügen zu diesem Klagegrund vor: Die erste Rüge leitet sich aus einer fehlerhaften Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung her, die zweite aus einer rechtswidrigen Anwendung des in Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 vorgesehenen Zusatzbetrags und die dritte aus der Nichtberücksichtigung bestimmter mildernder Umstände.
119 Diese Rügen werden zusammen mit den von SLM zu denselben Fragen vorgebrachten Rügen geprüft.
120 Im Wesentlichen ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen unter dem Deckmantel einer Kritik an dem Ergebnis der von der Kommission anhand der in den Leitlinien von 2006 festgelegten Methode zur Festsetzung der Geldbuße vorgenommenen Beurteilungen geltend machen, dass den Besonderheiten der – sowohl späten als auch beschränkten – Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung nicht gebührend Rechnung getragen worden sei.
1. Vorbemerkungen
a) Inhalt des angefochtenen Beschlusses
121 Nach Art. 1 des angefochtenen Beschlusses haben SLM und Ori Martin gegen Art. 101 AEUV und gegen Art. 53 des EWR-Abkommens verstoßen, indem sie sich vom 10. Februar 1997 bis zum 19. September 2002 – was SLM angeht – und vom 1. Januar 1999 bis zum 19. September 2002 – was Ori Martin angeht – an einer „fortdauernden Vereinbarung und/oder abgestimmten Verhaltensweise im Spannstahlsektor des Binnenmarkts sowie – seit dem 1. Januar 1994 – des EWR beteiligt haben“ (im Folgenden: Kartell oder einheitliche Zuwiderhandlung; hierbei handelt es sich nach der üblicherweise verwendeten Terminologie zugleich um eine komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung).
Tatkomplexe des Kartells und Einstufung als einheitliche Zuwiderhandlung
122 In Rn. 122 des angefochtenen Beschlusses wird das Kartell als „Absprache auf europäischer Ebene mit einer Züricher und einer europäischen Phase und/oder ggf. nationalen/regionalen Absprachen“ beschrieben. In den Rn. 123 bis 135 dieses Beschlusses werden diese verschiedenen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen kurz umrissen und sodann im Einzelnen dargestellt und anhand von Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens beurteilt.
123 Vereinfacht dargestellt bestand das Kartell aus folgenden Absprachen:
—
Züricher Club (erste Phase der Absprache auf europäischer Ebene): Diese Vereinbarung dauerte vom 1. Januar 1984 bis zum 9. Januar 1996; ihr Gegenstand waren die Festlegung von Länderquoten (Deutschland, Österreich Benelux, Frankreich, Italien und Spanien), die Aufteilung von Kunden, die Preise und der Austausch sensibler Geschäftsinformationen. Mitglieder des Clubs waren Tréfileurope, Nedri, WDI, DWK und Redaelli, die mindestens seit 1993 und 1995 mehrere italienische Gesellschaften vertrat; 1992 kam Emesa und 1993 Tycsa hinzu.
—
Club Italia: nationale Absprache, die vom 5. Dezember 1995 bis zum 19. September 2002 dauerte. Gegenstand dieser Vereinbarung war die Festlegung von Quoten für Italien und für Ausfuhren von dort in die übrigen europäischen Länder. Mitglieder des Clubs waren die italienischen Gesellschaften Redaelli, ITC, CB und Itas, denen sich später Tréfileurope und Tréfileurope Italia (3. April 1995), SLM (10. Februar 1997), Trame (4. März 1997), Tycsa (17. Dezember 1996), DWK (24. Februar 1997) und Austria Draht (15. April 1997) anschlossen.
—
Vereinbarung für Südeuropa: eine 1996 von den italienischen Unternehmen Redaelli, ITC, CB und Itas mit Tycsa und Tréfileurope ausgehandelte und abgeschlossene regionale Absprache zur Festlegung der Marktdurchdringung durch die einzelnen Teilnehmer in den süd- bzw. mitteleuropäischen Ländern (Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und Luxemburg) und zur Verpflichtung, gemeinsam Verhandlungen über Lieferquoten mit den anderen (nord-)europäischen Herstellern zu führen.
—
Club Europa (zweite Phase der Absprache auf europäischer Ebene): Diese Absprache wurde im Mai 1997 von Tréfileurope, Nedri, WDI, DWK, Tycsa und Emesa (als „ständige Mitglieder“ oder „sechs Hersteller“ bezeichnet) getroffen und endete im September 2002. Mit ihr sollte die Krise des Züricher Clubs überwunden werden. Es sollten neue Quoten (ausgehend vom vierten Quartal 1995 bis zum ersten Quartal 1997) festgelegt, die Kunden aufgeteilt und die Preise festgesetzt werden. Die sechs Hersteller vereinbarten Koordinierungsregeln, u. a. die Benennung von Koordinatoren für die Umsetzung der Absprachen in den einzelnen Ländern sowie für die Abstimmung mit anderen interessierten Gesellschaften, die in denselben Ländern oder im Hinblick auf dieselben Kunden tätig waren. Ihre Vertreter kamen weiterhin regelmäßig auf unterschiedlichen Ebenen zusammen, um die Umsetzung der Absprachen zu überwachen. Sie tauschten sensible Geschäftsinformationen aus. Bei Abweichungen vom vereinbarten Handelsverhalten kam eine angemessene Ausgleichsregelung zur Anwendung.
—
Abstimmung in Bezug auf den Kunden Addtek: Im Rahmen dieser Absprache auf europäischer Ebene unterhielten die „sechs Hersteller“, gelegentlich gemeinsam mit den italienischen Herstellern und mit Fundia, spontan (ad hoc) auch zwei‑ oder mehrseitige Kontakte und beteiligten sich an der Festsetzung von Preisen und der Aufteilung von Kunden, wenn ein entsprechendes Interesse bestand. Zum Beispiel stimmten Tréfileurope, Nedri, WDI, Tycsa, Emesa, CB und Fundia die Preise und die Liefermengen für den Kunden Addtek untereinander ab. Die entsprechenden Bauvorhaben betrafen vorwiegend Finnland, Schweden und Norwegen, aber auch die Niederlande, Deutschland, die baltischen Staaten sowie Mittel- und Osteuropa. Die Koordinierung in Bezug auf Addtek erfolgte im Rahmen der Absprache auf europäischer Ebene bereits in der Phase des Züricher Clubs und dauerte zumindest bis Ende 2001 fort.
—
Gespräche zwischen dem Club Europa und dem Club Italia: Mindestens von September 2000 bis September 2002 kamen die sechs Hersteller sowie ITC, CB, Redaelli, Itas und SLM regelmäßig mit dem Ziel zusammen, die italienischen Gesellschaften als ständige Mitglieder in die Absprache auf europäischer Ebene einzubinden. Die italienischen Gesellschaften wollten die italienische Quote in Europa steigern, während dem Club Europa daran gelegen war, den Status quo aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck fanden Zusammenkünfte des Club Italia zur Festlegung einer gemeinsamen Position, Zusammenkünfte des Club Europa zur Überprüfung dieser Position und/oder zur Entwicklung einer eigenen Position und Zusammenkünfte von Mitgliedern des Club Europa mit Vertretern italienischer Gesellschaften statt, um eine Vereinbarung über die Aufteilung der italienischen Quote auf einem bestimmten Markt zu treffen. Die Teilnehmer dieser Zusammenkünfte tauschten sensible Geschäftsinformationen aus. Für eine Neuaufteilung der europäischen Quote mit dem Ziel einer Einbeziehung der italienischen Hersteller vereinbarten sie die Zugrundelegung eines neuen Bezugszeitraums (30. Juni 2000 bis 30. Juni 2001). Sie verständigten sich auch auf ein allgemeines Ausfuhrvolumen innerhalb Europas für die italienischen Gesellschaften, das diese untereinander nach Ländern aufteilten. Gleichzeitig sprachen sie über Preise. Dabei versuchten die Mitglieder des Club Europa, den im Club Italia von den italienischen Herstellern angewandten Mechanismus zur Preisfestsetzung für ganz Europa einzuführen.
—
Club España: Parallel zur Absprache auf europäischer Ebene und zum Club Italia vereinbarten fünf spanische (Trefilerías Quijano, Tycsa, Emesa, Galycas und Proderac, Letztere ab Mai 1994) und zwei portugiesische Unternehmen (Socitrel, ab April 1994, und Fapricela, ab Dezember 1998) für den Zeitraum von mindestens Dezember 1992 bis September 2002 für Spanien und Portugal, ihre Marktanteile stabil zu halten sowie Quoten festzulegen, Kunden aufzuteilen, auch bei öffentlichen Bauaufträgen, und die Preise und Zahlungsbedingungen zu vereinbaren. Sie tauschten auch sensible Geschäftsinformationen aus.
124 Nach Auffassung der Kommission weisen die vorstehend beschriebenen Absprachen insgesamt die Merkmale einer einzigen und fortdauernden Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens auf (Rn. 135 oder 609 oder Abschnitt 12.2.2 des angefochtenen Beschlusses).
125 Die Kommission hat insbesondere die Ansicht vertreten, die genannten Absprachen seien Teil eines Gesamtplans gewesen, der die Grundzüge des Verhaltens der Kartellmitglieder in allen geografischen Räumen vorgegeben habe: „Die Kartellmitglieder beschränkten sich in ihrem jeweiligen Geschäftsverhalten im Zusammenhang mit einem gemeinsamen wettbewerbswidrigen Zweck und einem einzigen wettbewerbswidrigen wirtschaftlichen Ziel der Verfälschung und der Ausschaltung der normalen Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt für Spannstahl im EWR sowie der Herstellung eines Gesamtgleichgewichts, insbesondere durch die Festlegung von Quoten und Preisen, durch die Aufteilung von Kunden und durch den Austausch sensibler geschäftlicher Informationen“ (Rn. 610 des angefochtenen Beschlusses, vgl. auch Abschnitt 9.3 des angefochtenen Beschlusses).
126 Die Kommission hat hierzu ausgeführt:
„Der Plan, an dem sich DWK, WDI, Tréfileurope, Nedri, Tycsa, Emesa, Fundia, Austria Draht, Redaelli, CB, ITC, Itas, SLM, Trame, Proderac, Fapricela, Socitrel, Galycas und Trefilerías Quijano beteiligten (wenngleich nicht alle gleichzeitig), wurde in einem Zeitraum von wenigstens 18 Jahren mit einem Komplex geheimer Absprachen, gezielter Vereinbarungen und/oder aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen entwickelt und durchgeführt, der dem gemeinsamen Ziel einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den genannten Gesellschaften diente und in dem durchgehend ähnliche Mechanismen zur Verfolgung dieses gemeinsamen Ziels eingesetzt wurden (siehe Abschnitt 9.3.1). Selbst in Zeiten, in denen eine Absprache nicht reibungslos funktionierte, wurden doch andere Absprachen wie vereinbart eingehalten“ (Rn. 612 des angefochtenen Beschlusses).
Feststellungen zu SLM
127 In dem angefochtenen Beschluss hat die Kommission festgestellt, dass SLM vom 10. Februar 1997 bis zum 19. September 2002 unmittelbar am Kartell, insbesondere am Club Italia und an der Einbindung der italienischen Hersteller in den Club Europa, beteiligt gewesen sei (Rn. 862 des angefochtenen Beschlusses).
128 Die Kommission hat sich in diesem Zusammenhang auf die folgenden Umstände bezogen, die in einem die individuelle Beteiligung von SLM am Club Italia betreffenden Teil des angefochtenen Beschlusses in den Rn. 474 bis 478 dargelegt werden:
„(474)
Zahlreiche Anzeichen deuten darauf hin, dass SLM seit dem 18.12.1995 von der italienischen Vereinbarung Kenntnis hatte; an diesem Tag wurde beschlossen, u. a. SLM über die neuen Preise zu informieren, die ab 1996 gefordert werden sollten … Außerdem wurde in der Zusammenkunft vom 17.12.1996 … eine Tabelle verteilt, aus der die kundenbezogene Aufteilung von Tonnagen hervorging und in der die Hauptlieferanten für eine Reihe von Kunden auf dem italienischen Markt für das Jahr 1997 benannt wurden. Auch wenn in den für SLM vorgesehenen Spalten keine Eintragungen vorgenommen wurden, ist doch bereits die Tatsache, dass SLM überhaupt in der Tabelle berücksichtigt wurde, als Anzeichen dafür zu betrachten, dass die Parteien Gespräche geführt oder dies zumindest beabsichtigt haben. In den Zusammenkünften am 19.1.1997 und am 27.1.1997 wurde ebenfalls über SLM gesprochen. Die erste nachweisliche konkrete Quotenzuteilung für SLM erfolgte in der Zusammenkunft am 10.2.1997; daher nimmt die Kommission diesen Zeitpunkt als Beginn der Beteiligung von SLM an der italienischen Absprache an. Die handschriftlichen Notizen von ITC … zu dieser Zusammenkunft enthalten eine Liste mit der Aufteilung der (vorgesehenen) Liefermengen für bestimmte Kunden auf SLM einerseits und Redaelli, CB, Tycsa und ITC … andererseits. In den Notizen von ITC wird ausdrücklich festgehalten, dass CB und ITC Informationen zu den Liefermengen von SLM von [einem Vertreter von SLM] erhalten hatten. Auch am 7.4.1997 wurde über SLM gesprochen. Für die Anwesenheit von SLM bei über 100 Zusammenkünften in Verbindung mit dem italienischen Markt zwischen dem 15.4.1997 und September 2002 sind eindeutige Belege verfügbar. Und wenn SLM selbst nicht anwesend war, haben die übrigen Mitglieder des Club Italia über SLM gesprochen; auch dies ist als Anzeichen für die fortgesetzte Beteiligung und Mitwirkung von SLM im Club Italia zu werten.
(475) SLM … räumt die Beteiligung am Club Italia seit Ende 1999 bis 2002 (mit [zwei Vertretern von SLM]) ein; eine Beteiligung auf Ebene der Unternehmensleitung sei bei einigen Zusammenkünften europäischer Hersteller im Hotel Villa Malpensa im Jahr 2001 gegeben gewesen. Und schließlich erklärt SLM, in einer Zusammenkunft am Sitz von Redaelli Ende 1998 oder Anfang 1999 zur Beteiligung an regelmäßigen Zusammenkünften und zu Diskussionen über Volumenbeschränkungen eingeladen worden zu sein. Zunächst [habe] SLM abgelehnt, sich dann aber doch zu einer Teilnahme entschieden.
(476) SLM … bestreitet jedoch die Schlussfolgerungen der Kommission bezüglich des Beginns der Beteiligung am Kartell und erklärt, sich am Club Italia erst seit Ende 1999 beteiligt zu haben. Erstens argumentiert SLM, an der Zusammenkunft vom 10.2.1997 nicht teilgenommen zu haben. Die Kommission stellt jedoch fest, dass vorliegende Beweisunterlagen zur Zusammenkunft vom 10.2.1997 (handschriftliche Notizen von ITC) detaillierte Quotenaufteilungen bei bestimmten Kunden u. a. auch auf SLM belegen. Wie bereits erläutert, wurden die Daten von [dem] Vertreter von SLM mitgeteilt …; auch dies zeigt, dass SLM vor dieser Zusammenkunft Informationen weitergegeben haben muss.
Insoweit ist unerheblich, dass die Gesellschaft bei dieser Zusammenkunft angeblich nicht anwesend gewesen sein soll.
(477) Selbst wenn SLM am 4.3.1997 gewisse Zweifel bezüglich der künftigen Stellung im Kartell erkennen ließ, ist doch darauf hinzuweisen, dass SLM bereits im folgenden Monat wieder an den Kartellzusammenkünften teilnahm (d. h. an der Zusammenkunft vom 15.4.1997, in der die Preise für Ausgangserzeugnisse und die Verkaufspreise für Frankreich, Spanien und Deutschland festgesetzt wurden und in denen über Verkaufszahlen von Redaelli bei einer Reihe von Kunden und über Angebote gesprochen wurde, die SLM und CB bestimmten Kunden unterbreitet hatten). Vielmehr nahm SLM weiterhin regelmäßig an den Zusammenkünften des Club Italia teil und führte mit den anderen Kartellmitgliedern Gespräche bis zum Beginn der Nachprüfungen durch die Kommission … Die ‚Zweifel‘ von SLM sind sicher nicht als Unterbrechung der Beteiligung am Kartellverhalten zu bewerten.
(478) Redaelli zufolge war SLM zwar nicht von Anfang an der Vereinbarung über die Aufteilung des italienischen Marktes beteiligt, … ITC, … Tréfileurope … und CB … bestätigen jedoch, dass SLM an den Zusammenkünften des Club Italia teilgenommen hat. Die italienische Absprache war zwar von Anfang an bekannt (siehe Entscheidung der Mitglieder, SLM zu informieren); in Anbetracht der ihr vorliegenden … Beweismittel geht die Kommission jedoch davon aus, dass die fortdauernde Beteiligung von SLM erst am 10.2.1997 begann und am 19.9.2002 endete.“
129 In dem die Charakterisierung als einheitliche, komplexe und fortdauernde Zuwiderhandlung betreffenden Teil des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission in den Rn. 649 und 650 Folgendes hervorgehoben:
„(649)
SLM war nicht nur seit dem 10.2.1997 am Club Italia beteiligt …, sondern nahm seit dem 11.9.2000 auch an den Gesprächen über die Erweiterung des Club Europa teil … SLM bestreitet nicht die Teilnahme an der Zusammenkunft vom 11.9.2000. Allerdings war SLM noch vor diesem Zeitpunkt bewusst bzw. SLM hätte noch vor diesem Zeitpunkt bewusst sein müssen, dass der Club Italia (dem SLM angehörte) Teil eines umfassenderen Plans war, der auch eine europäische Ebene beinhaltete. Erstens liegen der Kommission Beweise dafür vor, dass SLM bereits in einem frühen Stadium der Beteiligung am Club Italia mit Gesellschaften zusammenkam, die auch an den anderen Clubs beteiligt waren wie etwa DWK, Tréfileurope (als Teilnehmer der Absprache auf europäischer Ebene) und Tycsa (als Teilnehmer der Absprache auf europäischer Ebene und des Club España) und mit diesen Gesellschaften über die Bedingungen auf dem europäischen Markt sprach. In einer Zusammenkunft dieser Gesellschaften am 15.4.1997 wurde über die Preise in mehreren europäischen Ländern (Frankreich, Spanien und Deutschland) sowie über Einfuhren und Ausfuhren gesprochen … Am 29.11.1999 … kam SLM mit Redaelli, Austria Draht, Tréfileurope, Tycsa und DWK zusammen und erörterte nicht nur die Preise der beiden am Club España beteiligten Gesellschaften (Emesa und Fapricela) in Spanien und in Portugal, sondern sprach auch über Addtek, den größten Kunden auf dem skandinavischen Markt als zentralen Gegenstand des ‚Skandinavischen Clubs‘ … Außerdem beteiligte sich SLM in einer Zusammenkunft am 18.1.2000 (mit Redaelli, ITC, Itas, AFT/Tréfileurope Italia, CB, Nedri, Tycsa und Tréfileurope) an einem Gespräch über die Situation und die Probleme auf dem europäischen Markt. Am 21.2.2000 fand ein Treffen statt, in dem SLM mit Redaelli, ITC, Itas, Tréfileurope Italia, CB, Tréfileurope, DWK und (telefonisch) Tycsa zusammenkam und u. a. über Liefermengen in Spanien und über eine Preiserhöhung in Deutschland sprach … In einer Zusammenkunft von SLM, Redaelli, ITC, Itas, CB, Tréfileurope Italia, DWK, Tycsa und Trame am 13.3.2000 wurde über die Lage in den Niederlanden und in der Schweiz gesprochen. Am 15.5.2000 äußerte Tréfileurope in Anwesenheit von SLM, ITC, Itas, Tréfileurope Italia, CB, SLM, Trame und DWK die Ansicht, dass sich der Club Europa und der Club Italia in einer Krise befänden. Am 12.6.2000 kam SLM mit Redaelli, ITC, Itas, Tréfileurope Italia[,] CB, Trame, Tycsa und DWK zusammen; in dieser Zusammenkunft wurde darauf hingewiesen, dass der Club Europa sich über Tycsa beschwere …
(650) Damit ist hinreichend nachgewiesen, dass SLM mindestens seit dem 29.11.1999 wusste oder hätte wissen müssen, dass SLM über die Beteiligung am Club Italia in einen mehrere Ebenen beinhaltenden umfassenderen Plan eingebunden war.“
130 Zu den Anmerkungen von SLM zu deren Beteiligung am Club Italia vor Ende 1999 hat die Kommission ferner Folgendes festgestellt:
„(863)
SLM bestreitet, bis Ende 1999 am Kartell und insbesondere am Club Italia beteiligt gewesen zu sein. Die Beteiligung von SLM am Club Italia seit dem 10.2.1997 ist jedoch mit Beweisunterlagen und mehreren Erklärungen im Zusammenhang mit Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung (von ITC, Tréfileurope und CB …) eindeutig belegt. Außerdem erklärt SLM, trotz der Beteiligung an verschiedenen Zusammenkünften des Club Italia eine aggressive Geschäftspolitik verfolgt und keine rechtswidrigen Vereinbarungen getroffen zu haben; wenn Daten an Wettbewerber weitergegeben worden seien, hätten diese Daten zwar glaubhaft gewirkt, aber niemals mit den tatsächlichen Daten übereingestimmt. … In diesem Zusammenhang ist es hinreichend, erneut darauf hinzuweisen, dass jegliche mittelbaren oder unmittelbaren Kontakte zwischen Wettbewerbern mit dem Ziel, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potenziellen Wettbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Wettbewerber über das Marktverhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht, verboten sind … Daher ist die bloße Beteiligung an Zusammenkünften mit wettbewerbswidrigem Gegenstand bereits hinreichend, um eine Haftung zu begründen. Ob SLM die Kartellvereinbarungen eingehalten hat, ist unerheblich. Betrügereien sind typisch für Kartelle, insbesondere bei Kartellen von langer Dauer … Außerdem räumt SLM selbst ein, die Beteiligung sei erfolgt, um den Kundenstamm auszuweiten oder zumindest zu halten.“
131 Zu den Anmerkungen von SLM zum Club Italia hat die Kommission Folgendes festgestellt:
„(864)
SLM bestreitet ferner, vom 11.9.2000 bis zum 19.9.2002 an der Einbeziehung italienischer Hersteller in den Club Europa beteiligt gewesen zu sein. SLM erklärt, nur an neun der 51 Zusammenkünfte des Club Europa teilgenommen zu haben; diese Beteiligung sei in einer sehr späten Phase und nur auf Drängen der übrigen italienischen Hersteller erfolgt. Ferner beruft sich SLM darauf, nicht an einer Beteiligung am Club Europa interessiert gewesen zu sein, weil SLM für die meisten betroffenen Länder ohnehin nicht die erforderlichen Zulassungen besessen habe. Und schließlich argumentiert SLM, die Beteiligung an den Zusammenkünften des Club Europa sei aus Fahrlässigkeit erfolgt.
(865) SLM hat in einem Zeitraum von nur zwei Jahren (vom 11.9.2000 bis zum 19.9.2002) in regelmäßigen Abständen an neun Zusammenkünften des Club Europa teilgenommen … Außerdem wurde SLM bei zwei weiteren Zusammenkünften erwartet (am 23. und am 25.7.2001). Damit ist erwiesen, dass sich SLM seit der Phase der Erweiterung des Club Europa regelmäßig an Zusammenkünften des Club Europa beteiligt hat. Unter diesen Umständen sind die Gründe oder Interessen von SLM für die Beteiligung an den Kartellzusammenkünften unerheblich ebenso wie die Tatsache, dass SLM angeblich für einige bzw. für die meisten betroffenen Länder keine Zulassung besaß. Selbst für den Fall, dass SLM in keinem vom Kartell betroffenen Land eine Zulassung besessen hätte, kann vermutet werden, dass sich die Beteiligung an den Zusammenkünften auf das Verhalten von SLM sowohl in Italien als auch in anderen Ländern, in denen SLM tätig war, sowie auf die Entscheidung darüber ausgewirkt hat, in welchen Ländern SLM eine Zulassung beantragte … In jedem Fall war der Club Europa für Italien und für verschiedene weitere Länder von Bedeutung, in denen SLM als Anbieter auftrat, und insoweit hatte SLM mit Sicherheit ein Interesse an diesen Gesprächen. Schließlich entbindet die angebliche Fahrlässigkeit ein Unternehmen nicht von der Haftbarkeit für seine Beteiligung an einem Kartell. Daher gelangt die Kommission zu dem Ergebnis, dass SLM vom 11.9.2000 bis zum 19.9.2002 am Club Europa beteiligt war.
(866) In jedem Fall ist ebenfalls erwiesen, dass SLM seit dem 10.2.1997 am Club Italia beteiligt war … Daher sollte SLM für die Beteiligung am Kartell vom 10.2.1997 bis zum 19.9.2002 haften.“
Situation von Ori Martin
132 Nachdem die Kommission in Rn. 866 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, dass SLM für die Beteiligung am Kartell vom 10. Februar 1997 bis zum 19. September 2002 haften solle, ist sie wie folgt auf die Situation von Ori Martin eingegangen:
„(867)
Seit dem 1.1.1999 befand sich SLM zu 100 % im Besitz der ORI Martin SA (die am 31.10.2001 2 % an die ORI Martin Lux SA veräußerte).
(868) In Anbetracht der (nahezu) 100%igen Beteiligung der ORI Martin SA an SLM vom 1.1.1999 bis zum 19.9.2002 stellt die Kommission fest, dass die ORI Martin SA bestimmenden Einfluss auf die Siderurgica Latina Martin SpA ausgeübt hat.
(869) In ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte bestreitet die ORI Martin SA den von der Kommission zugrunde gelegten Sachverhalt nicht, macht aber geltend, sie dürfe nicht gesamtschuldnerisch mit SLM haftbar gemacht werden. Insbesondere führt die Gesellschaft aus, die Kommission habe nicht hinreichend nachgewiesen, dass die ORI Martin SA bestimmenden Einfluss auf SLM ausgeübt habe. Die Gesellschaft ist der Ansicht, diese Vermutung würde gegen den Grundsatz der persönlichen Haftung verstoßen und argumentiert, die Kommission habe keine mittelbare oder unmittelbare Beteiligung der ORI Martin SA an der Zuwiderhandlung nachgewiesen.
(870) Nach ständiger … Rechtsprechung … kann die Kommission vermuten, dass Muttergesellschaften bestimmenden Einfluss auf ihre 100%igen Tochtergesellschaften ausüben. In einem solchen Fall obliegt es der Muttergesellschaft, diese Vermutung mit entsprechendem Beweismaterial zu widerlegen, aus dem hervorgeht, dass die jeweilige Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten unabhängig bestimmt hat. Wenn die Muttergesellschaft einen entsprechenden hinreichenden Nachweis nicht erbringt, ist dies als Bestätigung der Vermutung zu betrachten und als hinreichende Grundlage für eine Zurechnung der Verantwortung zu bewerten.
(871) Die angeblich fehlende unmittelbare Beteiligung der Muttergesellschaft am wettbewerbswidrigen Verhalten und die angebliche Unkenntnis des Verhaltens ist insoweit nicht von Bedeutung. Dass die Haftung für die Zuwiderhandlung einer Tochter der jeweiligen Mutter zu[ge]rechnet werden kann, beruht darauf, dass die beiden Gesellschaften im Sinne der Wettbewerbsregeln der Union ein einziges Unternehmen darstellen; … der Nachweis einer Beteiligung der Muttergesellschaft an der Zuwiderhandlung oder des Wissens der Muttergesellschaft um die Zuwiderhandlung ist daher nicht erforderlich.
(872) Im Zusammenhang mit dem Grundsatz der persönlichen Haftung bezieht sich Artikel 101 AEUV auf ‚Unternehmen‘, die jeweils aus mehreren rechtlichen Einheiten bestehen können. Gegen den Grundsatz der persönlichen Haftung wird dabei nicht verstoßen, wenn verschiedene rechtliche Einheiten aufgrund von Umständen haftbar gemacht werden, die mit ihrer eigenen Rolle und ihrem Verhalten im genannten Unternehmen in Verbindung stehen. Bei Muttergesellschaften von Unternehmensgruppen wird die Haftung dadurch begründet, dass diese die Geschäftspolitik der unmittelbar von den jeweiligen Sachverhalten betroffenen Tochterunternehmen wirksam kontrolliert haben (siehe Abschnitt 13).
(873) Die ORI Martin erklärt ferner, keinen bestimmenden Einfluss auf SLM ausgeübt zu haben; SLM habe sich auf dem Spannstahlmarkt immer unabhängig verhalten. Dies sei daran ersichtlich, dass für SLM keine Berichtspflicht gegenüber der ORI Martin bestanden habe; diese sei zudem eine Finanzholding gewesen und habe daher nicht über die Geschäftspolitik von SLM entschieden.
(874) Die bloße Tatsache, dass eine Gesellschaft eine Finanzholding darstellt, schließt nicht aus, dass diese Gesellschaft bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaften ausübt. Die ORI Martin hatte aufgrund ihrer finanziellen Beteiligung durchaus ein Interesse an SLM und spielte eine entsprechende Rolle. Und schließlich erklärt die ORI Martin zwar, nicht im von diesem Kartell betroffenen Spannstahlsektor tätig gewesen zu sein; die Kommission weist jedoch darauf hin, dass ihre Tochter, die ORI Martin SpA, im Stahlgeschäft tätig war; insoweit stand die Geschäftstätigkeit von SLM sehr wohl in Zusammenhang mit dem Geschäftsgegenstand der Gruppe. Vor diesem Hintergrund kann die ORI Martin nicht als reine Holdinggesellschaft beschrieben werden und sich auf keinen Fall ihrer Haftung entziehen.
(875) Entsprechend sollte dieser Beschluss an die SLM und die ORI Martin gerichtet werden. Die SLM sollte für den Zeitraum vom 10.2.1997 bis zum 19.9.2002 haftbar gemacht werden, und die ORI Martin sollte gesamtschuldnerisch mit SLM für das wettbewerbswidrige Verhalten dieser Gesellschaft im Zeitraum vom 1.1.1999 bis zum 19.9.2002 haftbar gemacht werden.“
Berechnung der gegen SLM und Ori Martin verhängten Geldbuße
133 Die Kommission hat die gegen SLM und Ori Martin verhängte Geldbuße anhand der in den Leitlinien von 2006 festgelegten Methode berechnet (Rn. 920 bis 926 des angefochtenen Beschlusses).
134 Dabei hat die Kommission die folgenden Berechnungsfaktoren zugrunde gelegt:
—
Der berücksichtige Umsatz wurde auf 15,86 Mio. Euro festgesetzt (Rn. 5 des ersten Änderungsbeschlusses).
—
Der für die Berechnung des Grundbetrags berücksichtigte Anteil am Umsatz von SLM beläuft sich auf 19 % (Rn. 953 des angefochtenen Beschlusses).
—
Die Dauer der Beteiligung an dem Kartell – fünf Jahre und sieben Monate für SLM sowie drei Jahre und acht Monate für Ori Martin – führt zu einem Multiplikationsfaktor von 5,58 für SLM und von 3,66 für Ori Martin (Rn. 7 des ersten Änderungsbeschlusses).
—
Zur Ermittlung des Zusatzbetrags hat die Kommission einen Koeffizienten von 19 % festgesetzt (Rn. 962 des angefochtenen Beschlusses).
—
Der Grundbetrag ist auf 19,8 Mio. Euro festgesetzt worden (Rn. 9 des ersten Änderungsbeschlusses).
—
Es sind keine erschwerenden oder mildernden Umstände anerkannt worden.
—
Der Betrag der Geldbuße vor Anwendung des Schwellenwerts von 10 % des Umsatzes ist auf 19,8 Mio. Euro festgesetzt worden (Rn. 10 des ersten Änderungsbeschlusses).
—
Der Antrag von SLM auf Ermäßigung im Rahmen der Kronzeugenregelung ist abgewiesen worden (Rn. 1126 bis 1129 des angefochtenen Beschlusses).
—
Die Geldbuße wurde nach Berücksichtigung des Schwellenwerts von 10 % auf 15,956 Mio. Euro herabgesetzt, damit im Hinblick auf die Geldbuße, für die SLM allein zu haften hat, die Obergrenze von 10 % des Umsatzes der Gesellschaft eingehalten wird (Rn. 17 und 19 des zweiten Änderungsbeschlusses).
—
Der von SLM gestellte Antrag auf Ermäßigung wegen Berücksichtigung ihrer Leistungsfähigkeit ist im Hinblick auf den im angefochtenen Beschluss ursprünglich festgesetzten Betrag abgewiesen worden (Rn. 1169 bis 1172 des angefochtenen Beschlusses).
—
Der Endbetrag der SLM für ihre Beteiligung am Kartell im Zeitraum vom 1. Januar 1999 bis zum 19. September 2002 auferlegten Geldbuße beläuft sich auf 15,956 Mio. Euro; davon haftet Ori Martin gesamtschuldnerisch für 14 Mio. Euro (Art. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses sowie Rn. 21 und Art. 1 Nr. 2 des zweiten Änderungsbeschlusses); SLM haftet allein für die Zahlung von 1,956 Mio. Euro für ihre Beteiligung am Kartell im Zeitraum vom 10. Februar 1997 bis zum 31. Dezember 1998 (Art. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses sowie Art. 1 Nr. 2 des zweiten Änderungsbeschlusses).
b) Grundlagen
135 Nach Art. 49 Abs. 3 der Grundrechtecharta darf das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.
136 Insoweit werden in Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 53 Abs. 1 des EWR-Abkommens Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die in der unmittelbaren oder mittelbaren Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen oder der Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung oder des Absatzes bestehen, ausdrücklich für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt. Solche Zuwiderhandlungen werden von der Rechtsprechung, insbesondere wenn es sich um horizontale Kartelle handelt, als besonders schwerwiegend eingestuft, da sie sich unmittelbar auf die wesentlichen Wettbewerbsparameter auf dem betreffenden Markt auswirken (Urteil vom 11. März 1999, Thyssen Stahl/Kommission, T‑141/94, Slg, EU:T:1999:48, Rn. 675).
137 Nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 kann die Kommission gegen Unternehmen, die sich an einer solchen Zuwiderhandlung beteiligen, eine Geldbuße verhängen, sofern deren Betrag für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen 10 % seines jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigt. Nach Art. 23 Abs. 3 der Verordnung ist bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.
138 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Bemessung von Geldbußen sämtliche Faktoren zu berücksichtigen, die für die Beurteilung der Schwere der genannten Zuwiderhandlungen relevant sein können; dazu gehören insbesondere die Rolle, die jede Partei bei der Zuwiderhandlung gespielt hat, und die Gefahr, die derartige Zuwiderhandlungen für die Ziele der Union bedeuten. Wurde die Zuwiderhandlung von mehreren Unternehmen begangen, ist die relative Schwere des Tatbeitrags jedes Unternehmens zu prüfen (vgl. Urteil vom 8. Juli 1999, Hercules Chemicals/Kommission, C‑51/92 P, Slg, EU:C:1999:357, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).
139 Desgleichen ist die Tatsache, dass sich ein Unternehmen nicht an allen Tatkomplexen eines Kartells beteiligt hat oder dass es bei den Aspekten, an denen es beteiligt war, eine untergeordnete Rolle gespielt hat, bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung und gegebenenfalls bei der Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigen (Urteile vom 8. Juli 1999, Kommission/Anic Partecipazioni, C‑49/92 P, Slg, EU:C:1999:356, Rn. 90, und vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, 204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg, EU:C:2004:6, Rn. 86).
140 Insbesondere sind bei einer einheitlichen Zuwiderhandlung im Sinne einer komplexen Zuwiderhandlung, die aus einer Gesamtheit von Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen auf verschiedenen Märkten besteht, wenn die Zuwiderhandelnden dort nicht alle präsent sind oder den Gesamtplan möglicherweise nur zum Teil kennen, die Sanktionen individuell festzulegen, d. h. anhand der für die betreffenden Unternehmen kennzeichnenden Verhaltensweisen und Eigenschaften (vgl. entsprechend Urteil vom 7. Juni 2007, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, C‑76/06 P, Slg, EU:C:2007:326, Rn. 44).
141 Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt in diesem Zusammenhang, dass die Geldbuße in angemessenem Verhältnis zu den Faktoren festzusetzen ist, die bei der Beurteilung der objektiven Schwere der Zuwiderhandlung als solcher und der Beurteilung der relativen Schwere der Beteiligung des mit einer Sanktion belegten Unternehmens an der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne, unter Berücksichtigung der mittlerweile getroffenen Unterscheidung zwischen der objektiven Schwere der Zuwiderhandlung im Sinne der Ziff. 22 und 23 der Leitlinien von 2006 und der anhand der unternehmensspezifischen Umstände zu beurteilenden relativen Schwere der Beteiligung des betreffenden Unternehmens an der Zuwiderhandlung im Sinne der Ziff. 27 ff. dieser Leitlinien, Urteil vom 27. September 2006, Jungbunzlauer/Kommission, T‑43/02, Slg, EU:T:2006:270, Rn. 226 bis 228 und die dort angeführte Rechtsprechung).
142 Bei einer Sanktion, die wegen Verstoßes gegen das Kartellrecht verhängt wurde, hat die Kommission daher darauf zu achten, dass sie die Strafen für die Zuwiderhandlungen individuell festlegt, unter Berücksichtigung der besonderen Situation jedes Zuwiderhandelnden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2011, Lucite International und Lucite International UK/Kommission, T‑216/06, EU:T:2011:475, Rn. 87 und 88, und vom 14. Mai 2014, Donau Chemie/Kommission, T‑406/09, Slg, EU:T:2014:254, Rn. 92). Daher kann ein Zuwiderhandelnder, der für bestimmte Tatkomplexe einer einheitlichen Zuwiderhandlung nicht verantwortlich gemacht wird, bei der Durchführung dieser Komplexe keine Rolle gespielt haben. Wegen des beschränkten Umfangs der ihm zur Last gelegten Zuwiderhandlung ist die Verletzung des Wettbewerbsrechts bei ihm zwangsläufig weniger schwer als bei Zuwiderhandelnden, die sich an allen Tatkomplexen der Zuwiderhandlung beteiligt haben.
143 Die individuelle Festlegung der Strafe für eine Zuwiderhandlung kann in der Praxis – wie im angefochtenen Beschluss – in verschiedenen Stadien der Festsetzung der Geldbuße erfolgen.
144 Erstens kann die Kommission die Besonderheit der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung im Stadium der Beurteilung der objektiven Schwere der einheitlichen Zuwiderhandlung anerkennen. Im vorliegenden Fall hat die Kommission in diesem Stadium zum einen die sachliche (bei Fundia, die sich nur an der Koordinierung betreffend Addtek beteiligte) oder räumliche Beschränkung (bei Socitrel, Fapricela und Proderac, die sich nur am Club España beteiligten, der allein Spanien und Portugal betraf) der Beteiligung an der einheitlichen Zuwiderhandlung und zum anderen die späte Kenntniserlangung von der europäischen Dimension der Zuwiderhandlung (Mai 2001 bei den genannten Unternehmen) berücksichtigt.
145 Zweitens kann die Kommission die Besonderheit der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung im Stadium der Beurteilung der in Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 genannten mildernden Umstände bei der Würdigung sämtlicher einschlägiger Umstände in einer Gesamtperspektive (vgl. Ziff. 27 der Leitlinien von 2006) anerkennen. Zwar ist keinem Unternehmen der Nachweis gelungen, dass die Zuwiderhandlung fahrlässig begangen wurde. Die Kommission hat aber anerkannt, dass Proderac und Trame (Emme) eine erheblich eingeschränktere Rolle spielten als die übrigen Kartellmitglieder und dass ihre Geldbuße deshalb entsprechend ermäßigt werden sollte (5 %).
146 Drittens kann die Kommission die Besonderheit der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung in einem späteren Stadium als dem der Beurteilung der objektiven Schwere der Zuwiderhandlung oder der von den betreffenden Unternehmen geltend gemachten mildernden Umstände anerkennen. Nach Ziff. 36 der Leitlinien von 2006 kann sie in bestimmten Fällen eine symbolische Geldbuße verhängen, und nach Ziff. 37 dieser Leitlinien kann sie u. a. aufgrund der besonderen Umstände einer Situation auch von der in den Leitlinien dargelegten allgemeinen Methode für die Berechnung der Geldbußen abweichen.
147 Im vorliegenden Fall hat die Kommission weder im ursprünglichen Stadium der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung als solcher noch im späteren Stadium der Erörterung mildernder Umstände oder in irgendeinem anderen Stadium bei der Festsetzung der Geldbuße der von den Klägerinnen geltend gemachten besonderen Situation Rechnung getragen.
148 Infolgedessen hat die Kommission bei den Klägerinnen mangels mildernder oder besonderer Umstände dieselbe Formel angewandt wie bei den Unternehmen, die sich an allen und nicht nur an einigen Tatkomplexen des Gesamtkartells beteiligten. Nach dieser Formel werden 19 % des Umsatzes, den das betreffende Unternehmen im EWR mit Spannstahl erzielt hat (für die Schwere der Zuwiderhandlung als solche), mit der Zahl der Jahre und Monate der Beteiligung an der Zuwiderhandlung (individuelle Dauer der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung bzw. des Zeitraums, für den vermutet wird, dass Ori Martin einen bestimmenden Einfluss auf SLM ausgeübt hat) multipliziert, zuzüglich 19 % des Umsatzes, den das betreffende Unternehmen im EWR mit Spannstahl erzielt hat (Zusatzbetrag).
149 Für die Klägerinnen wurde das Ergebnis der Berechnung nach dieser Formel (Geldbuße in Höhe von 19,8 Mio. Euro) auf 15,956 Mio. Euro herabgesetzt, damit im Hinblick auf die Geldbuße, für die SLM allein zu haften hat, die Obergrenze von 10 % des Umsatzes der Gesellschaft eingehalten wird.
150 Die Rügen von SLM und Ori Martin, die Kommission habe bei der Festsetzung der Geldbuße den Besonderheiten der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung nicht gebührend Rechnung getragen, sind im Licht der vorstehenden Ausführungen zu prüfen.
2. Zum allgemeinen Begründungsmangel und zum allgemeinen Vorwurf der Voreingenommenheit
151 Vorab führt SLM aus, sie könne weder nachvollziehen, wie die Kommission den Betrag der Geldbuße festgesetzt habe, noch, wie sie diesen Betrag zwischen ihr und Ori Martin aufgeteilt habe. Eine solche Verletzung der Begründungspflicht müsse zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses und dessen Abänderung führen.
152 Es zeigt sich jedoch, dass die in dem angefochtenen Beschluss enthaltenen und oben in den Rn. 133 und 134 zusammengefassten Angaben der Kommission es SLM ermöglichten, die verschiedenen, zur Festsetzung der Geldbuße berücksichtigten Faktoren nachzuvollziehen. Weiter hat die Kommission in dem angefochtenen Beschluss die Gründe dargelegt, aus denen sie von einer gesamtschuldnerischen Haftung von SLM und Ori Martin für einen Teil der Geldbuße, mit der die Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung im Zeitraum vom 1. Januar 1999 bis zum 19. September 2002 geahndet wird, ausgehen konnte (Rn. 867 bis 875 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 132).
153 Außerdem wirft SLM der Kommission vor, stets zu ihren Ungunsten entschieden zu haben, wenn die ihr zur Verfügung stehenden Elemente nicht mit der bei ihren Ermittlungen verfolgten These vereinbar gewesen seien.
154 In Anbetracht der Angaben in dem angefochtenen Beschluss und insbesondere in den Anhängen 2 und 3, in denen der Inhalt der verschiedenen, von der Kommission zusammengetragenen Beweise hinsichtlich des Züricher Clubs/Club Europa und des Club Italia dargelegt werden, kann allein aufgrund des Umstands, dass sie einer anderen als der von SLM vorgetragenen Erklärung den Vorzug gegeben hat, kein parteiisches oder ungerechtes Verhalten der Kommission geltend gemacht werden. Die Voreingenommenheit kann nicht allein daraus abgeleitet werden, dass das Verwaltungsverfahren mit einem für SLM ungünstigen Ergebnis abgeschlossen wurde.
155 Die von SLM vorgebrachten Klagegründe zum allgemeinen Begründungsmangel und zum allgemeinen Vorwurf der Voreingenommenheit sind daher als unbegründet zurückzuweisen.
3. Zu den zur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße berücksichtigten Faktoren (Umsätze, Schwere, Dauer, Zusatzbetrag)
156 Im Hinblick auf die Faktoren, die zur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße berücksichtigt wurden, sind die folgenden Rügen zu prüfen: die von SLM im Rahmen ihres vierten Klagegrundes geltend gemachte Rüge hinsichtlich der Umsätze im Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung; der fünfte von SLM vorgebrachte Klagegrund sowie die erste und die zweite von Ori Martin geltend gemachte Rüge zur Schwere der Zuwiderhandlung und der Festsetzung eines Zusatzbetrags; der sechste von SLM vorgebrachte Klagegrund, der sich ‐ unter dem Deckmantel der Geltendmachung einer Verletzung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung – ebenfalls gegen die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung richtet, und der siebte von SLM vorgebrachte Klagegrund betreffend die Beurteilung der Dauer der Zuwiderhandlung.
a) Zu den Umsätzen im Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung
Vorbringen der Parteien
157 SLM trägt vor, aus Rn. 865 des angefochtenen Beschlusses gehe hervor, dass sie erst ab September 2000 am Club Europa beteiligt gewesen sei. Für den Zeitraum davor hätten die außerhalb Italiens erzielten Umsätze daher nicht zur Festsetzung der Geldbuße berücksichtigt werden dürfen. Der angefochtene Beschluss müsse dahin abgeändert werden, dass die außerhalb Italiens erzielten Umsätze nur für den Zeitraum zu berücksichtigen seien, in dem SLM am Club Europa beteiligt gewesen sei.
158 Die Kommission erklärt, SLM habe mindestens von 1995 und bis September 2002 parallel zu den Absprachen auf europäischer Ebene an wettbewerbswidrigen Zusammenkünften teilgenommen, die sowohl Italien als auch Ausfuhren aus Italien in die übrigen europäischen Länder betroffen hätten. Es sei mithin objektiv gerechtfertigt, den Grundbetrag der Geldbuße unter Berücksichtigung des von SLM in Europa erzielten Umsatzes festzusetzen.
Würdigung durch das Gericht
159 Aus Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 geht hervor, dass „[die Kommission z]ur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße … den Wert der von dem betreffenden Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des EWR verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang stehen[, verwendet]“. Die Kommission hat in derselben Ziffer weiter ausgeführt, dass „[i]m Regelfall … der Umsatz im letzten vollständigen Geschäftsjahr zugrunde zu legen [ist], in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war“. Wie nämlich aus Ziff. 37 der Leitlinien von 2006 hervorgeht, „[wird i]n diesen Leitlinien … die allgemeine Methode für die Berechnung der Geldbußen dargelegt; jedoch können die besonderen Umstände eines Falles … ein Abweichen von dieser Methode … rechtfertigen“.
160 Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich die Kommission zur Definition des für Bestimmung des Umsatzes relevanten räumlichen Markts im Wesentlichen auf das vom Züricher Club sowie anschließend vom Club Europa erfasste Gebiet bezogen hat.
161 So hat die Kommission in Rn. 932 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass „[dieses Gebiet v]on 1984 bis 1995 (Zeitraum des Züricher Clubs) … aus Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Spanien und Österreich [bestand]“, dass „1992 Portugal hinzu[kam] (im Rahmen der Absprachen im Club España)“ und dass „[v]on 1996 bis 2002 (dem Zeitraum der Krise des Züricher Clubs, dem Zeitraum, in dem die Quotenvereinbarung des Club Europa vorbereitet wurde, dem Zeitraum des Club Europa und der Phase der Erweiterung des Club Europa) … der räumlich relevante Markt dieselben Länder wie in der Phase des Züricher Clubs, einschließlich Portugals, sowie Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen [beinhaltete]“.
162 Die Kommission hat jedoch ausgeführt, dass sie, um der Entwicklung des räumlich relevanten Markts Rechnung zu tragen, die Umsätze in Portugal vor dem 15. Dezember 1992 und die Umsätze in Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen vor dem 9. Januar 1996 aus dem berücksichtigten Umsatz ausgeklammert habe. Ebenso habe sie, um dem Beitritt zur Union bzw. dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens Rechnung zu tragen, die Umsätze in Spanien vor dem 1. Januar 1986 bzw. die Umsätze in Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen vor dem 1. Januar 1994 nicht berücksichtigt. Im Hinblick auf Fundia, deren Beteiligung am Kartell sich auf die Abstimmung in Bezug auf den Kunden Addtek beschränkt habe, habe sie im Übrigen nur die von Fundia mit diesem Kunden erzielten Umsätze berücksichtigt (Rn. 932, 933 und 935 des angefochtenen Beschlusses).
163 Die Kommission hat daher in dem angefochtenen Beschluss bestimmte, mit der Entwicklung des Kartells im Lauf der Zeit, der Änderung des Anwendungsbereichs der anwendbaren Regeln oder den Modalitäten der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung verbundene Faktoren berücksichtigt, um bei der Festsetzung des zugrunde zu legenden Umsatzes zwischen zwei oder mehr Situationen zu unterscheiden. Dies ist umso mehr erforderlich, wenn eine einheitliche, in Wirklichkeit komplexe, Zuwiderhandlung der in dem angefochtenen Beschluss geahndeten Art vorliegt, die aus „einer fortdauernden Vereinbarung und/oder abgestimmten Verhaltensweise im Spannstahlsektor des Binnenmarkts sowie – seit dem 1. Januar 1994 – des EWR“ im Zeitraum vom 1. Januar 1984 bis zum 19. September 2002 besteht.
164 Zweitens ergibt sich aus den Akten, dass der Umsatz, welcher der Kommission als Ausgangspunkt für die Festsetzung der Geldbuße dient (15,863 Mio. Euro), dem von SLM in den verschiedenen Staaten, für die Auskünfte von ihr verlangt worden waren, erzielten Umsatz entspricht (Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Spanien, Portugal, Dänemark, Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen).
165 In räumlicher Hinsicht sind fast alle Verkäufe in Italien erfolgt (insgesamt etwa 96,5 %); der Rest der Verkäufe erfolgte in Österreich, Deutschland oder Frankreich (insgesamt etwa 3,5 %).
166 Aus der Akte geht ebenfalls hervor, dass SLM die für den Vertrieb von Spannstahl in Europa – außerhalb Italiens – erforderlichen technischen Zulassungen für Deutschland und Frankreich erst im August 2000, für Österreich erst im Juli 2001 und für die Niederlande erst im Januar 2002 erhalten hat. Erst nach Beendigung der Zuwiderhandlung, d. h. im Juli 2006 für Spanien und im April 2007 für Belgien, hat SLM die für diese Länder erforderlichen technischen Zulassungen erhalten.
167 In ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen der Kommission vom 9. September 2009 hat SLM weiter ausgeführt, die vor Zulassung ihrer Produkte im Juli 2001 erfolgten Verkäufe in Österreich seien für „gewerbetreibende österreichische Kunden [bestimmt gewesen], die diese Produkte in Länder außerhalb Österreichs weiterverkauften“. Aus den der Kommission übermittelten Informationen ergibt sich in der Tat, dass SLM in den Jahren 1999 und 2000 in Österreich einige Umsätze erzielt hat.
168 Drittens ist, wie SLM geltend macht, festzustellen, dass die Kommission in der vorliegenden Rechtssache davon ausging, dass, obgleich SLM sich vom 10. Februar 1997 bis zum 19. September 2002 am Club Italia beteiligt habe und sie seit dem 29. November 1999 gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass sie über die Beteiligung am Club Italia in einen mehrere Ebenen beinhaltenden umfassenderen Plan eingebunden gewesen sei, ihre Beteiligung am Club Europa erst ab dem 11. September 2000 zu berücksichtigen sei (Rn. 650, 865 und 866 des angefochtenen Beschlusses).
169 Zur Berücksichtigung der Modalitäten der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung ist daher zwischen zwei Zeiträumen zu unterscheiden: einem ersten Zeitraum vom 10. Februar 1997 bis zum 10. September 2000, welcher der Beteiligung von SLM allein am Club Italia entspricht, und einem zweiten Zeitraum vom 11. September 2000 bis zum 19. September 2002, in dem SLM sowohl am Club Italia als auch am Club Europa beteiligt war.
170 Für den zweiten Zeitraum ist es angesichts des von der Beteiligung von SLM am Club Italia und am Club Europa betroffenen räumlich relevanten Markts objektiv gerechtfertigt, den Betrag der Geldbuße unter Berücksichtigung des von SLM in Europa erzielten Umsatzes festzusetzen. SLM hat in diesem Zeitraum in der Tat Umsätze in Italien, aber auch in Österreich, Deutschland und Frankreich erzielt.
171 Für den ersten Zeitraum ist dagegen zu überprüfen, ob der von der Beteiligung von SLM am Club Italia und am Club Europa betroffene räumlich relevante Markt die Annahme zulässt, dass es objektiv gerechtfertigt ist, die Geldbuße unter Berücksichtigung des von SLM in Europa erzielten Umsatzes festzusetzen.
172 Für die in Italien erzielten Umsätze, die 96,5 % des zur Festsetzung der Geldbuße berücksichtigten Umsatzes von SLM darstellen, stellt sich diese Frage nicht, da diese im ersten Zeitraum eindeutig vom Club Italia erfasst waren.
173 Im Hinblick auf Österreich, worauf etwa 2 % des zur Festsetzung der Geldbuße berücksichtigten Umsatzes von SLM entfallen, ist festzustellen, dass keiner der in der vorliegenden Rechtssache angeführten Gesichtspunkte die Feststellung zulässt, dass dieses Land Gegenstand der Gespräche war, die vom 10. Februar 1997 bis zum 10. September 2000 in Anwesenheit von SLM im Club Italia stattfanden. In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Kommission aufgefordert, die Beweise dafür zu benennen, dass bei der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung in Anwesenheit von deren Vertretern Quoten für die Ausfuhren aus Italien nach Österreich oder sensible Geschäftsinformationen im Zusammenhang mit Verkäufen von Spannstahl in Österreich angesprochen worden waren. Die Kommission hat geantwortet, sie sei nicht in der Lage, solche Beweismittel vorzulegen.
174 Zur Festsetzung der Geldbuße unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der von SLM begangenen Zuwiderhandlung können in diesem Zusammenhang nicht für die gesamte Dauer ihrer Beteiligung an dem Kartell Umsätze zugrunde gelegt werden, die in einem Staat erzielt wurden, der nicht Gegenstand von Gesprächen war, die in ihrer Anwesenheit im Club Italia stattgefunden haben. Der von SLM in Österreich erzielte Umsatz kann mithin nur für den der Dauer ihrer Beteiligung am Club Europa entsprechenden Zeitraum berücksichtigt werden.
175 Im Hinblick auf Deutschland und Frankreich, auf die etwa 1,5 % des zur Festsetzung der Geldbuße berücksichtigten Umsatzes von SLM entfallen, hat die Kommission zu Recht darauf hingewiesen, dass der Club Italia nicht nur die Ebene des Heimatmarkts betraf, sondern auch in dem Sinne über diese Ebene hinausging, dass mehrmals – in Anwesenheit oder Abwesenheit von Vertretern von SLM – Gespräche zur Festlegung von Quoten für Ausfuhren aus Italien oder zum Austausch sensibler Geschäftsinformationen zur Lage in Deutschland oder Frankreich bzw. in anderen Staaten stattgefunden haben.
176 So ergibt sich für den Zeitraum vom 10. Februar 1997 bis zum 10. September 2000 aus den Angaben zu den Zusammenkünften des Club Italia in Anhang 3 des angefochtenen Beschlusses, dass die Gespräche vom 15. April 1997 – in Anwesenheit eines Vertreters von SLM – insbesondere die „Festsetzung der Preise für Ausgangserzeugnisse sowie der Verkaufspreise für Frankreich, Spanien und Deutschland (für Deutschland von September 1997 bis Januar 1998)“ zum Gegenstand hatten. Ebenso haben – diesmal ohne Vertreter von SLM – die Teilnehmer an der Zusammenkunft vom 22. Oktober 1997„Informationen zu Preisen in Deutschland, Belgien und den Niederlanden [ausgetauscht]“, und die Teilnehmer an der Zusammenkunft vom 29. November 1999 haben „über [ihre] Anforderungen[,] über den spanischen Markt [und] über die Preise … in Spanien und Portugal“ gesprochen. Darüber hinaus wurde bei der Zusammenkunft vom 21. Februar 2000, bei der ein Vertreter von SLM anwesend war, über „eine Preiserhöhung um ‚+40 %‘ in Deutschland“ gesprochen.
177 Auch wenn im Zeitraum vom 10. Februar 1997 bis zum 10. September 2000 gelegentlich über die Lage in Deutschland und Frankreich gesprochen wurde, zeigt sich jedoch ebenfalls, dass SLM Umsätze in diesen Staaten erst ab August 2000 erzielen konnte und dass diese Umsätze nach den Daten, die SLM der Kommission diesbezüglich auf ein Auskunftsverlangen vom 9. September 2009 übermittelt hatte, in Deutschland erst im Laufe des Jahres 2000 und in Frankreich erst im Laufe des Jahres 2001 erzielt wurden.
178 Zur Festsetzung der Geldbuße unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der von SLM begangenen Zuwiderhandlung können in diesem Zusammenhang nicht für die gesamte Dauer ihrer Beteiligung an dem Kartell Umsätze zugrunde gelegt werden, die in Staaten erzielt wurden, in denen sie ursprünglich insbesondere deshalb nicht präsent war, weil sie keine Zulassung für den Vertrieb ihrer Produkte in diesen Staaten hatte. Der von SLM in Deutschland und Frankreich erzielte Umsatz kann mithin erst ab dem Zeitpunkt berücksichtigt werden, zu dem mit den Verkäufen begonnen wurde, d. h. für Deutschland im Laufe des Jahres 2000 und für Frankreich jedenfalls im Laufe des Jahres 2001.
179 Somit ist es im Hinblick auf die Komplexität der in Rede stehenden, mehrere getrennte Tatkomplexe – u. a. den Club Italia und den Club Europa – umfassenden Zuwiderhandlung und zur Berücksichtigung der besonderen Modalitäten der Beteiligung von SLM an der ihr zur Last gelegten Zuwiderhandlung nicht objektiv gerechtfertigt, als Ausgangspunkt für die Festsetzung der Geldbuße unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer der von SLM begangenen Zuwiderhandlung die gesamten von SLM in Europa erzielten Umsätze zugrunde zu legen.
180 Die Folgen der vorstehenden Ausführungen für die Festsetzung der Geldbuße wird das Gericht nachfolgend im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung erörtern.
b) Zum Anteil am Umsatz, der sich nach der Schwere der Zuwiderhandlung richtet
Vorbringen der Parteien
181 SLM und Ori Martin machen geltend, die Entscheidung der Kommission, den zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigten Anteil am Umsatz auf 19 % festzusetzen, sei nicht hinreichend begründet und verletze den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Grundsatz der Gleichbehandlung sowie den Grundsatz der individuellen Bestrafung. Erstens hätte die mindestens bis September 2000 unterbliebene Beteiligung von SLM an der europaweiten Dimension des Kartells auf dieser Ebene berücksichtigt werden müssen. SLM sei weder am Züricher Club noch am Club España noch auch an der Vereinbarung für Südeuropa, der Vereinbarung für Nordeuropa auf dem skandinavischen Markt und den Addtek‑Ausschreibungsverfahren beteiligt gewesen. Sie gehöre auch nicht zu den ständigen Mitgliedern des Club Europa und habe niemals eine koordinierende Rolle innerhalb des Kartells gespielt. Ein Betrag in Höhe von 19 % hätte nur für die Unternehmen festgesetzt werden dürfen, von denen das Kartell initiiert worden sei und die stark an dessen Umsetzung beteiligt gewesen seien. Zweitens hätte die Kommission zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung auch deren konkrete Folgen berücksichtigen müssen. Drittens sei SLM – abgesehen davon, dass die zur Ahndung der Zuwiderhandlung auferlegten Geldbußen weit höher als die in der Vergangenheit zur Ahndung von Kartellen auferlegten Geldbußen seien und über den im Jahr 2001 in dem Sektor erzielten Umsatz hinausgingen ‐ dreieinhalbmal höher bestraft worden als Redaelli, die seit 1984 auf europäischer und italienischer Ebene beteiligt gewesen sei, sechsmal höher als Emme, deren Beteiligung an dem Kartell im Hinblick auf Inhalt und Dauer mit der Beteiligung von SLM vergleichbar sei, siebenmal höher als CB und viermal höher als ITC, die mehr als SLM verwickelt seien. Das Gericht müsse daher die Geldbuße erheblich herabsetzen, um der tatsächlichen Rolle von SLM bei der Zuwiderhandlung sowie dem Fehlen konkreter Auswirkungen ihrer Kartellteilnahme auf den Markt Rechnung zu tragen und für eine einheitliche Behandlung von SLM und den übrigen mit Sanktionen belegten Unternehmen zu sorgen.
182 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
Würdigung durch das Gericht
183 Mit den verschiedenen vorstehend aufgeführten Rügen wird das Ergebnis der von der Kommission anhand der in den Leitlinien von 2006 dargelegten allgemeinen Methode vorgenommenen Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung beanstandet.
184 Dazu heißt in den Ziff. 19 bis 23 der Leitlinien von 2006:
„(19)
Zur Bestimmung des Grundbetrags wird ein bestimmter Anteil am Umsatz, der sich nach der Schwere des Verstoßes richtet, mit der Anzahl der Jahre der Zuwiderhandlung multipliziert.
(20) Die Schwere der Zuwiderhandlung wird in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände beurteilt.
(21) Grundsätzlich kann ein Betrag von bis zu 30 % des Umsatzes festgesetzt werden.
(22) Bei der Bestimmung der genauen Höhe innerhalb dieser Bandbreite berücksichtigt die Kommission mehrere Umstände, u. a. die Art der Zuwiderhandlung, den kumulierten Marktanteil sämtlicher beteiligten Unternehmen, den Umfang des von der Zuwiderhandlung betroffenen räumlichen Marktes und die etwaige Umsetzung der Zuwiderhandlung in der Praxis.
(23) Horizontale, üblicherweise geheime Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung der Märkte oder Einschränkung der Erzeugung gehören ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Verstößen und müssen unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten streng geahndet werden. Für solche Zuwiderhandlungen ist daher grundsätzlich ein Betrag am oberen Ende dieser Bandbreite anzusetzen.“
185 Die Kommission hat in Rn. 953 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass der zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigte Anteil am Umsatz von SLM innerhalb der bis zu 30 % reichenden Bandbreite auf 19 % festzusetzen sei.
186 Gemäß den Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss wurde dieser Anteil unter Berücksichtigung der vier Umstände festgesetzt, die in Rn. 22 der Leitlinien von 2006 als Beispiele aufgeführt werden.
187 Was erstens die Art der Zuwiderhandlung betrifft, hat die Kommission festgestellt, dass „[a]lle Unternehmen außer Fundia … an Marktaufteilungen (Quotenaufteilungen), Kundenaufteilungen und horizontalen Preisabsprachen beteiligt [waren]“ und dass „[d]iese Absprachen … zu den schädlichsten Einschränkungen des Wettbewerbs [zählen], da sie die wesentlichen Wettbewerbsparameter verzerren“ (Rn. 939 des angefochtenen Beschlusses).
188 Was zweitens den kumulierten Marktanteil der Unternehmen, denen eine Zuwiderhandlung nachgewiesen werden konnte, betrifft, ist die Kommission davon ausgegangen, dass dieser „auf etwa 80 % geschätzt“ werden könne (Rn. 946 des angefochtenen Beschlusses).
189 Was drittens den räumlichen Umfang der Zuwiderhandlung betrifft, hat die Kommission festgestellt, dass dieser „im Laufe der Zeit … erweitert [wurde]“, dass „1984 bis 1995 … die Zuwiderhandlung Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Spanien und Österreich [betraf]“ und dass „1996 bis 2002 … zu den genannten Ländern Portugal, Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen [hinzukamen]“ (Rn. 947 des angefochtenen Beschlusses).
190 Was viertens die Umsetzung der Zuwiderhandlung in der Praxis betrifft, hat die Kommission ausgeführt, dass „die getroffenen Absprachen auch umgesetzt wurden, wenngleich nicht immer uneingeschränkt erfolgreich bzw. effizient“ (Rn. 950 des angefochtenen Beschlusses).
191 Das Vorbringen der Klägerinnen ist vor dem Hintergrund dieser Feststellungen zu prüfen.
192 SLM und Ori Martin machen erstens geltend, die Kommission hätte bei der Bestimmung des Umsatzanteils die im Vergleich zu anderen Unternehmen – die weit mehr oder seit längerer Zeit einbezogen gewesen seien – geringere Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung berücksichtigen müssen. Dabei führen sie aus, die Kommission habe ihre Erwägungen nicht hinreichend individualisiert, um den Besonderheiten der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung Rechnung zu tragen.
193 In Anbetracht der in den Leitlinien von 2006 dargelegten allgemeinen Methode nimmt die Kommission eine solche individuelle Festlegung der Sanktion jedoch gewöhnlich nicht im ursprünglichen Stadium der Bemessung des Grundbetrags, sondern im späteren Stadium der Anpassung dieses Betrags oder sogar in einem noch späteren Stadium vor, sofern dies erforderlich sein sollte.
194 Es ist festzustellen dass die Kommission im Stadium der Bemessung des Grundbetrags die Unternehmen, die als Anführer oder Koordinatoren der verschiedenen Aspekte der Zuwiderhandlung tätig waren, nicht anders behandelt hat als die Unternehmen, die nur daran beteiligt waren. Auch hat es die Kommission nicht für zweckmäßig gehalten, zwischen Unternehmen, die zunächst nur am Club Italia beteiligt waren, und Unternehmen, die gleichzeitig am Club Italia und am Züricher Club oder am Club Europa beteiligt waren, zu unterscheiden, da sich nach Ansicht der Kommission „der räumliche Umfang des Club Italia erheblich mit dem der Absprachen auf europäischer Ebene überschneidet“ (Rn. 949 des angefochtenen Beschlusses).
195 Im vorliegenden Fall wird keine der vier von der Kommission zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung, den zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigten Umsatzanteil auf 19 % festzusetzen, getroffenen Feststellungen als solche von den Klägerinnen in Frage gestellt. Alle diese Feststellungen sind in Anbetracht des in diesem Zusammenhang in dem angefochtenen Beschluss angeführten Akteninhalts objektiv nachgewiesen und gelten für die Zuwiderhandlung im Allgemeinen und nicht speziell für SLM.
196 Im Übrigen kann im Zusammenhang mit der Festsetzung des zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigten Umsatzanteils nicht geltend gemacht werden, die Kommission habe die fehlende Beteiligung von SLM am Züricher Club oder an anderen Aspekten der Zuwiderhandlung nicht berücksichtigt, da dieser Anteil erst ab dem Zeitpunkt angewandt wurde, zu dem sich SLM an der Zuwiderhandlung beteiligt hat, und nur für den von SLM im Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung erzielten Umsatz gilt (vgl. hierzu oben, Rn. 159 bis 180).
197 Die erste Rüge ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
198 Zweitens ist im Hinblick auf den Einfluss, den das Argument, das Kartell habe nicht die erwarteten Auswirkungen auf den Markt gehabt, darauf hinzuweisen, dass die Kommission in der vorliegenden Rechtssache festgestellt hat, dass bei Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, die auf eine Beschränkung des Wettbewerbs abzielten, die tatsächliche Wirkung einer Vereinbarung unberücksichtigt bleiben könne. Die Kommission hat im vorliegenden Fall jedoch ausgeführt, dass solche Auswirkungen als wahrscheinlich anzunehmen seien, da erwiesen sei, dass diese Absprachen mindestens teilweise tatsächlich umgesetzt worden seien (Rn. 676 bis 681 des angefochtenen Beschlusses).
199 Bei der Festsetzung des zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigten Umsatzanteils hat die Kommission jedenfalls nicht die Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt, sondern nur den Umstand erwähnt, dass diese tatsächlich umgesetzt worden sei.
200 Im Übrigen ist vorliegend festzustellen, dass der von der Kommission festgesetzte Umsatzanteil im unteren Bereich des oberen Endes dieser Bandbreite (von 15 % bis 30 %) angesiedelt ist, obwohl die Kommission in den Leitlinien von 2006 nach der Feststellung, dass ein Kartell der vorliegend in Rede stehenden Art zu den schwerwiegendsten Verstößen gehört und streng geahndet werden müsse, ausgeführt hat, dass in einem solchen Fall grundsätzlich ein Betrag am oberen Ende dieser Bandbreite anzusetzen sei.
201 Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass die Kommission, wenn sie tatsächlich konkrete Auswirkungen festgestellt hätte, einen höheren Betrag als 19 % festgesetzt hätte.
202 Angesichts des von der Kommission zugrunde gelegten Schweregrads und der zur Rechtfertigung angeführten Gründe ist die zweite Rüge daher als ins Leere gehend zurückzuweisen.
203 Drittens ist die Rüge, die auf dem angesichts der bisherigen Praxis der Kommission oder des Umsatzvolumens im Spannstahlsektor insgesamt unverhältnismäßigen Charakter der zur Ahndung der Zuwiderhandlung verhängten Geldbuße beruht, ohne Weiteres zurückzuweisen. Eine solche Frage, welche die von der Kommission betriebene Wettbewerbspolitik zur Bekämpfung von Kartellen zum Gegenstand hat, geht über den Rahmen der gerichtlichen Kontrolle des angefochtenen Beschlusses hinaus. Im vorliegenden Fall ist nicht über den Gesamtbetrag der von der Kommission im Laufe der Zeit verhängten Geldbußen zu entscheiden oder auf den absoluten Wert des Gesamtbetrags der für das Spannstahl-Kartell verhängten Geldbußen einzugehen.
204 Ebenso ist im Hinblick auf die Rüge zu den behaupteten Unterschieden zwischen SLM und den anderen, in dem angefochtenen Beschluss mit Sanktionen belegten Unternehmen festzustellen, dass die gerichtliche Kontrolle in diesem Stadium die von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss vorgenommene Beurteilung bei der Festsetzung des zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigten Umsatzanteils auf 19 % zum Gegenstand hat. Diese Beurteilung wurde jedoch nicht in Anbetracht des Endergebnisses, d. h. der letztendlich, gegebenenfalls nach Anpassung zur Berücksichtigung bestimmter Umstände verhängten Geldbuße, sondern in einem früheren Stadium, nämlich dem Stadium, in dem der für die Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße zu berücksichtigende Umsatzanteil bestimmt wurde, vorgenommen. Der Endbetrag der Geldbuße hängt daher von Faktoren ab, die den jeweils betroffenen Unternehmen eigen sind, wie etwa der Mitarbeit im Zusammenhang mit der Kronzeugenregelung oder der gesetzlichen Obergrenze von 10 % des Gesamtumsatzes. Da im vorliegenden Fall keine Argumente vorliegen, die den Schluss zuließen, dass die Situation von Redaelli, CB oder ITC im Hinblick auf alle von der Kommission zur Beurteilung der Situation dieser Unternehmen berücksichtigten Faktoren mit der Situation von SLM vergleichbar sei, ist diese Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
205 Schließlich ist hinsichtlich der Rüge zur unzureichenden Begründung festzustellen, dass die Faktoren, die berücksichtigt wurden, um den zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigten Anteil am Umsatz von SLM festzusetzen, rechtlich hinreichend in dem angefochtenen Beschluss dargelegt werden (Rn. 936 bis 953 des angefochtenen Beschlusses).
206 Im Übrigen kann Art. 296 AEUV nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Kommission dazu verpflichtet, in ihren Beschlüssen die Gründe dafür zu erläutern, aus denen sie bei der Berechnung der Höhe der Geldbuße andere, gegenüber dem im angefochtenen Beschluss tatsächlich gewählten Ansatz hypothetische Ansätze nicht verfolgt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Mai 2010, IMI u. a./Kommission, T‑18/05, Slg, EU:T:2010:202, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung).
207 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Rügen der Klägerinnen zu dem Anteil am Umsatz, der sich nach der Schwere der Zuwiderhandlung richtet, zurückzuweisen sind.
c) Zur Dauer der Beteiligung von SLM am Kartell
Vorbringen der Parteien
208 SLM beantragt die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses, soweit ihr darin zur Last gelegt wird, ab Februar 1997 anstatt ab Ende 1999 am Club Italia beteiligt gewesen zu sein. Insbesondere habe die Kommission mehrere wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen, die den Zeitpunkt des Beginns der Beteiligung von SLM am Club Italia hätten widerlegen können. Erstens sei kein Vertreter von SLM bei der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 anwesend gewesen. Zweitens sei in der folgenden Zusammenkunft vom 4. März 1997 berichtet worden, dass sich SLM noch nicht entschieden habe, ob sie sich am Club Italia beteiligen werde, und Redaelli habe im Übrigen erklärt, SLM sei nicht an der Vereinbarung über die Aufteilung des italienischen Marktes beteiligt gewesen. Drittens sei in einer Zusammenkunft im April 1998, an der sie erneut nicht teilgenommen habe, angemerkt worden, dass SLM eine aggressive Geschäftspolitik verfolgt habe. Viertens ergebe sich aus dem Antrag von Redaelli auf Anwendung der Kronzeugenregelung vom 20. März 2003, dass SLM erst ab Ende 1999 an den Zusammenkünften teilgenommen habe, was von Tréfileurope bestätigt worden sei. Fünftens bezögen sich die einzigen von der mit der Durchführung der Nachprüfungen beauftragten Person ausgestellten und SLM betreffenden Rechnungen, die gefunden worden seien, auf den Zeitraum ab März 2000 und nicht auf den Zeitraum davor.
209 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Sie weist auf den Begriff und den Inhalt der einheitlichen Zuwiderhandlung hin, die seit der Gründung des Züricher Clubs im Jahr 1984 bestanden habe und an der sich SLM ab dem 10. Februar 1997 durch ihre Teilnahme an einem bereits umgesetzten Plan beteiligt habe. Bei der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 habe es sich um die erste direkte Beteiligung von SLM an dem Kartell gehandelt, wie dies aus der Zuteilung von Quoten und der Übermittlung der von einem Vertreter von SLM zur Verfügung gestellten Daten hervorgehe.
Würdigung durch das Gericht
210 SLM bestreitet nicht, ab Ende 1999 am Club Italia beteiligt gewesen zu sein. Dies hat sie kurz nach den von der Kommission im September 2002 durchgeführten Nachprüfungen eingeräumt. Vor Gericht hat SLM ebenfalls nicht bestritten, an der letzten Phase des Club Europa beteiligt gewesen zu sein, in der dieser von September 2000 bis zum 19. September 2002 in den Club Italia einbezogen worden war.
211 Dagegen bestreitet sie, im Zeitraum vom 10. Februar 1997 bis Ende 1999 am Club Italia beteiligt gewesen zu sein. Für diesen Zeitraum sei ihre Beteiligung am Kartell auszuschließen.
212 Wie bereits ausgeführt, sind gemäß Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 bei der Festsetzung der Geldbuße sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.
213 Die Kommission hat diesbezüglich in Ziff. 24 der Leitlinien von 2006 Folgendes ausgeführt: „Um der Dauer der Mitwirkung der einzelnen Unternehmen an der Zuwiderhandlung in voller Länge Rechnung zu tragen, wird der nach dem Umsatz ermittelte Wert … mit der Anzahl der Jahre multipliziert, die das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war“. In derselben Ziffer stellt sie klar: „Zeiträume bis zu sechs Monaten werden mit einem halben, Zeiträume von mehr als sechs Monaten bis zu einem Jahr mit einem ganzen Jahr angerechnet“.
214 Wie in Rn. 956 des angefochtenen Beschlusses angegeben, hat es die Kommission im vorliegenden Fall jedoch vorgezogen, von der jeweils ermittelten tatsächlichen Dauer der Beteiligung an der Zuwiderhandlung in Jahren und vollständigen Monaten auszugehen und diesen Zeitraum jeweils auf den nächsten Monat abzurunden, statt die Zeiträume, wie in den Leitlinien vorgeschlagen, aufzurunden.
215 Im Übrigen hat die Kommission nach der Rechtsprechung nicht nur das Vorliegen eines Kartells, sondern auch dessen Dauer zu beweisen. Was insbesondere den Nachweis einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV betrifft, hat die Kommission die von ihr festgestellten Zuwiderhandlungen zu beweisen und Beweise beizubringen, die geeignet sind, das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend zu belegen (vgl. Urteil vom 17. Mai 2013, Trelleborg Industrie und Trelleborg/Kommission, T‑147/09 und T‑148/09, Slg, EU:T:2013:259, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
216 Hat das Gericht Zweifel, muss dies dem Unternehmen zugutekommen, an das sich der Beschluss richtet, mit dem eine Zuwiderhandlung festgestellt wird. Das Gericht kann daher nicht davon ausgehen, dass die Kommission das Vorliegen der betreffenden Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, wenn bei ihm noch Zweifel in dieser Hinsicht bestehen; dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um eine Klage auf Nichtigerklärung oder Abänderung eines Beschlusses handelt, mit dem eine Geldbuße verhängt wird. In diesem Fall ist nämlich der Grundsatz der Unschuldsvermutung zu beachten, der zu den in der Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört und in Art. 48 Abs. 1 der Grundrechtecharta verankert ist. Angesichts der Art der betreffenden Zuwiderhandlungen sowie der Art und des Schweregrads der ihretwegen verhängten Sanktionen ist der Grundsatz der Unschuldsvermutung insbesondere in Verfahren wegen Verstößen gegen die für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln anwendbar, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können. Somit ist es erforderlich, dass die Kommission aussagekräftige und übereinstimmende Beweise beibringt, um die feste Überzeugung zu begründen, dass die behauptete Zuwiderhandlung begangen wurde (vgl. Urteil Trelleborg Industrie und Trelleborg/Kommission, oben in Rn. 215 angeführt, EU:T:2013:259, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
217 Dabei muss nicht jeder von der Kommission vorgelegte Beweis diesen Kriterien notwendigerweise hinsichtlich jedes einzelnen Merkmals der Zuwiderhandlung genügen. Es genügt, wenn ein von der Kommission angeführtes Bündel von Indizien im Ganzen betrachtet dem genannten Erfordernis entspricht (vgl. Urteil Trelleborg Industrie und Trelleborg/Kommission, oben in Rn. 215 angeführt, EU:T:2013:259, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
218 Im Übrigen ist es üblich, dass die mit wettbewerbswidrigen Vereinbarungen verbundenen Tätigkeiten im Geheimen ablaufen, die Zusammenkünfte heimlich stattfinden und die Unterlagen darüber auf ein Minimum reduziert werden. Selbst wenn die Kommission Schriftstücke findet, die, wie z. B. Protokolle über Zusammenkünfte, eine unzulässige Kontaktaufnahme zwischen Wirtschaftsteilnehmern ausdrücklich bestätigen, handelt es sich folglich normalerweise nur um lückenhafte und vereinzelte Belege, so dass es häufig erforderlich ist, bestimmte Einzelheiten durch Schlussfolgerungen zu rekonstruieren. In den meisten Fällen muss daher das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise oder Vereinbarung aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können (vgl. Urteil Trelleborg Industrie und Trelleborg/Kommission, oben in Rn. 215 angeführt, EU:T:2013:259, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
219 Schließlich muss die Kommission, soweit es an Beweisen fehlt, mit denen die Dauer einer Zuwiderhandlung direkt belegt werden kann, nach der Rechtsprechung zumindest Beweise beibringen, die sich auf Fakten beziehen, die zeitlich so nahe beieinander liegen, dass sie vernünftigerweise den Schluss zulassen, dass die Zuwiderhandlung zwischen zwei konkreten Zeitpunkten ohne Unterbrechung fortgeführt wurde (vgl. Urteil Trelleborg Industrie und Trelleborg/Kommission, oben in Rn. 215 angeführt, EU:T:2013:259, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
220 Die Kommission ist im vorliegenden Fall davon ausgegangen, dass sich SLM vom 10. Februar 1997 bis zum 19. September 2002 an der Zuwiderhandlung beteiligt hat (Art. 1 und Rn. 862 und 899 des angefochtenen Beschlusses sowie oben, Rn. 127 bis 131).
221 Nach Ansicht der Kommission handelte es sich bei den Modalitäten der Beteiligung von SLM an dem Kartell um Folgendes:
—
SLM sei vom 10. Februar 1997 bis zum 19. September 2002 am Club Italia beteiligt gewesen (Rn. 866 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 127, 128 und 130).
—
Mindestens seit dem 29. November 1999 habe SLM gewusst oder hätte sie wissen müssen, dass sie über die Beteiligung am Club Italia in einen mehrere Ebenen beinhaltenden umfassenderen Plan eingebunden gewesen sei, dessen Ziel es gewesen sei, den Spannstahlmarkt auf europäischer Ebene zu stabilisieren, um einem Preisverfall entgegenzuwirken (Rn. 649 und 650 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 129). Diese Kenntnis habe die verschiedenen Aspekte der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung, einschließlich der in der Zusammenkunft vom 29. November 1999 besprochenen skandinavischen Dimension, umfasst.
—
SLM sei vom 11. September 2000 bis zum 19. September 2002 am Club Europa beteiligt gewesen (Rn. 865 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 13).
– Zu den Umständen vor der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997
222 Noch vor ihrer Bezugnahme auf die Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 hat die Kommission in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt, dass ihr zahlreiche Anhaltspunkte vorlägen, die den Schluss zuließen, dass SLM vom Bestehen des Club Italia Kenntnis gehabt habe (Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 128).
223 Die von der Kommission diesbezüglich geltend gemachten Umstände sind jedoch weder einzeln noch auch zusammengenommen stichhaltig.
224 Der erste von der Kommission in Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses angeführte Umstand verweist auf zwei Angaben in einem Dokument, das die handschriftlichen Notizen von ITC zur Zusammenkunft des Club Italia vom 18. Dezember 1995 enthält, in dem Redaelli, Itas, CB und ITC ab 1996 jeweils die Preise für das nächste Vierteljahr festgesetzt hätten. Nach diesem Dokument und dem von der Kommission daraus entnommenen Inhalt hätten Drittunternehmen über diese neuen Preise informiert werden müssen. Dabei habe es sich um „die ausländischen Hersteller/Trame/SLM“ bzw. um „[Vertreter von Tréfileurope, Trame und DWK]/SLM“ gehandelt. Zwar kann dieses Dokument für den Nachweis herangezogen werden, dass die Hauptbeteiligten (Redaelli, CB, Itas und ITC) eine Ausweitung ihrer Vereinbarung beabsichtigten; für den Nachweis, dass diese Absichtserklärung tatsächlich umgesetzt worden ist und dass SLM von den neuen, von Redaelli, Itas, CB und ITC festgesetzten Preisen zumindest Kenntnis hatte, sind jedoch weitere Beweismittel erforderlich. Im vorliegenden Fall liegen keine solchen Beweise vor.
225 Der zweite von der Kommission angeführte Umstand bezieht sich auf Tabellen, die in der Zusammenkunft des Club Italia vom 17. Dezember 1996 verteilt worden seien, aus denen die Aufteilung der kundenbezogenen Tonnagen und die Benennung der Hauptlieferanten auf dem italienischen Markt für 1997 hervorgingen. Nach den Ausführungen der Kommission in Rn. 417 des angefochtenen Beschlusses waren „Austria Draht, Trame, SLM und DWK … in der Excel-Tabelle vorgesehen; die Spalten mit der Bezeichnung der jeweiligen Kunden und den zulässigen Liefermengen enthielten aber keine Eintragungen“. In Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses hat sie weiter festgestellt: „Auch wenn in den für SLM vorgesehenen Spalten keine Eintragungen vorgenommen wurden, ist doch bereits die Tatsache, dass SLM überhaupt in der Tabelle berücksichtigt wurde, als Anzeichen dafür zu betrachten, dass die Parteien Gespräche geführt oder dies zumindest beabsichtigt haben.“ Auch hier kann das vorgenannte Dokument mangels Beweisen dafür, dass SLM tatsächlich an den sie betreffenden Gesprächen teilgenommen hat, nicht dahin ausgelegt werden, dass dies der Fall war.
226 Der dritte von der Kommission in Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses angeführte Umstand verweist darauf, dass in den handschriftlichen Notizen von ITC zu den Zusammenkünften des Club Italia vom 17. (tatsächlich 19.) und vom 27. Januar 1997 auf SLM hingewiesen worden sei. Solche Hinweise genügen nicht für den Nachweis, dass SLM noch vor dem Beginn ihrer Beteiligung am Club Italia Kenntnis von diesem hatte. Die bloße Erwähnung eines konkurrierenden Unternehmens durch die Mitglieder eines Kartells kann nämlich nicht dafür ausreichen, dass dieses Unternehmen zu einem Mitglied des Kartells gemacht wird. Zudem ist im vorliegenden Fall unklar, worauf sich die Hinweise auf SLM beziehen. In den Notizen zur Zusammenkunft vom 19. Januar 1997 – deren teilweise Unlesbarkeit von ITC eingeräumt wird – scheint sich die Angabe „SLM/Trame“ auf einen Versuch der Ermittlung der Lieferanten eines Kunden zu beziehen. Neben diese Angabe wurde jedoch ein Fragezeichen gesetzt. Die Notizen zu der Zusammenkunft vom 27. Januar 1997 enthalten mehrere Hinweise auf SLM; diese sind jedoch nicht alle verständlich. Am ehesten nachvollziehbar scheint die Angabe, dass SLM einem Kunden „920“ angeboten hat und dass Trame ein anderes Angebot unterbreitet hat. Zu diesem Punkt ist jedoch darauf hinzuweisen, dass anderen schriftlichen Notizen von ITC zum Januar 1997 (in denen ebenfalls auf diese „920“ Bezug genommen wird) entnommen werden kann, dass von dem Kunden Michele angegeben wurde, dass „SLM ihm ein schriftliches Angebot zu 940 übermittelt hat“. Diese Angabe veranschaulicht die in den Schriftsätzen von SLM enthaltene Behauptung, ihre Wettbewerber seien in der Lage gewesen, über gemeinsame Kunden zahlreiche Informationen über die von SLM gelieferten Mengen und praktizierten Preise zu erhalten. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass der vorgeschlagene Preis weit geringer als der von den Mitgliedern des Club Italia gewünschte Preis war (die in der Zusammenkunft vom 18. Dezember 1995 geplanten Preise betrugen zwischen 1300 und 1400; die handschriftlichen Notizen von ITC vom 27. Januar 1997 erwähnen Angebote von Redaelli zu 1090).
227 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die verschiedenen, in Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses geltend gemachten, vor der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 liegenden Umstände nicht die Feststellung tragen können, dass „[z]ahlreiche Anzeichen … darauf [hindeuten], dass SLM seit dem 18.12.1995 von der italienischen Vereinbarung Kenntnis hatte“. Jedenfalls hat die Kommission keine Verantwortlichkeit von SLM für den Zeitraum vor dem 10. Februar 1997 angenommen.
– Zu den Umständen im Zusammenhang mit der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997
228 Zur Bestimmung des Beginns der Beteiligung von SLM am Club Italia ist die Kommission davon ausgegangen, dass „[d]ie erste nachweisliche konkrete Quotenzuteilung für SLM … in der Zusammenkunft am 10.2.1997 [erfolgte]“ (Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 128).
229 Nach den Angaben der Kommission in der diese Zusammenkunft betreffenden Rubrik in Anhang 3 des angefochtenen Beschlusses hat diese Zusammenkunft wahrscheinlich in den Räumen von Redaelli in Anwesenheit von Vertretern von Redaelli, CB, Itas und ITC stattgefunden. SLM wird nicht als Teilnehmer an dieser Zusammenkunft erwähnt.
230 Im Übrigen ging es nach den von der Kommission in der vorgenannten Rubrik angeführten Beweisen in der Zusammenkunft des Club Italia vom 10. Februar 1997 um die folgenden Punkte:
—
„ITC; Handschriftliche Aufzeichnungen von Herrn [A.] zur Zusammenkunft betreffend den Austausch von Informationen über Liefermengen großer Kunden und berechnete Preise“ (im Folgenden: Angaben zum Austausch von Informationen);
—
„Ferner Aufzeichnungen über Quotenaufteilung bei bestimmten (namentlich genannten) Kunden auf SLM einerseits und Redaelli, CB, Tycsa, ITC/[A.] andererseits“ sowie der Umstand, dass „diese Auskunft … von CB (Herrn [C.]) und Itas (Herrn [Am.]) [stamme], d[ie] die Daten zu SLM seinerseits von Herrn [Ch.], dem Vertreter von SLM, erhalten h[ätten]“ (im Folgenden: Angaben zur Zuteilung von „Quoten“);
—
„Außerdem wird auf [die mit den Nachprüfungen beauftragte Person] verwiesen: [Pr.]: Nr. 1 Redaelli – Nr. 2 Tréfileurope – Nr. 3 ITAS – Nr. 4 CB – Nr. 5 Italcables“ (im Folgenden: Angaben zur mit den Nachprüfungen beauftragten Person);
—
„Hingewiesen wird auch darauf, dass Trame … 930 t im Ausland verkaufen würde …“ (diese Angabe ist ohne Bedeutung für die vorliegende Rechtssache);
—
„Herr [A. (ITC)] notierte auch die Telefonnummern der Herren [K.] (Tréfileurope)], [T. (DWK)], [Ch. (SLM)], [C. (CB)] und [Pr.]; nächste Zusammenkunft 17.2.1997“ (im Folgenden: Angabe der Telefonnummer des Vertreters von SLM).
231 Diese Informationen stammen zum einen aus einem Dokument, das die handschriftlichen Notizen von ITC zu der vorliegend in Rede stehenden Zusammenkunft enthält und zum anderen aus dem Antrag von ITC auf Anwendung der Kronzeugenregelung vom 21. September 2002. Mithin verfügt die Kommission zu diesem Punkt, wie sie in einer Antwort auf eine von dem Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gestellte Frage klargestellt hat, nur über eine einzige Informationsquelle, nämlich ITC.
232 Die Feststellung der Kommission im angefochtenen Beschluss, wonach „[d]ie Beteiligung von SLM am Club Italia seit dem 10.2.1997 … jedoch mit Beweisunterlagen und mehreren Erklärungen im Zusammenhang mit Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung (von ITC, Tréfileurope und CB …) eindeutig belegt [ist]“ (Rn. 863 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 130), kann daher irreführend erscheinen, da dies allein aus dem von ITC gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung hervorgeht. Die SLM betreffenden Erklärungen im Zusammenhang mit den von Tréfileurope und CB gestellten Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung betrafen nämlich nicht den Zeitpunkt des Beginns ihrer Beteiligung am Club Italia, sondern enthielten nur die Angabe, dass SLM am Club Italia beteiligt gewesen sei. Aus den von Redaelli und Tréfileurope gestellten Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung ist weiterhin zu entnehmen, dass der Club Italia zwei Phasen durchlaufen hat: eine erste Phase, in der er sich aus einem harten Kern, bestehend aus Redaelli, CB, Itas und ITC sowie Tréfileurope, zusammensetzte, und eine zweite Phase, in der weitere Gesellschaften, darunter auch SLM, zu diesen hinzukamen.
233 Auch ist die in Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses von der Kommission vorgenommene Auslegung der Beweismittel, die im Zusammenhang mit der Zusammenkunft des Club Italia vom 10. Februar 1997 von ihr geltend gemacht werden, nicht geeignet, die Zweifel des Gerichts auszuräumen.
234 Erstens ist im Hinblick auf den Inhalt der Angaben zur Zuteilung von Quoten festzustellen, dass der von der Kommission verwendete Begriff „Zuteilung von Quoten“ mehrdeutig ist, da unklar ist, ob sich die Mengen, die in den handschriftlichen Notizen von ITC im Hinblick auf SLM und andere Lieferanten genannt werden, auf bereits gelieferte Mengen oder auf noch zu liefernde Mengen beziehen. In dem von ITC gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung wird diesbezüglich angegeben, es handele sich um von SLM vorgenommene Lieferungen.
235 Vorliegend kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gespräche zwischen Vertretern von Redaelli, CB, Itas und ITC bei der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 nicht zum Gegenstand hatten, die Verkäufe von SLM, einem bei der Zusammenkunft nicht anwesenden Unternehmen, zu garantieren, sondern vielmehr, die Kunden von SLM zu ermitteln und deren relative Bedeutung als Lieferantin dieser Kunden im Verhältnis zu derjenigen der Mitglieder des Club Italia abzuschätzen. Mit dieser Hypothese könnte erklärt werden, warum die Angaben zu den Quoten in zwei Spalten aufgeteilt wurden – eine für SLM und eine für Redaelli, CB, Tycsa und ITC.
236 Zweitens ergibt sich aus Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses im Hinblick auf die Herkunft der SLM betreffenden, in den Angaben zur Zuteilung von Quoten enthaltenen Informationen, dass „[i]n den Notizen von ITC … ausdrücklich festgehalten [wird], dass CB und ITC Informationen zu den Liefermengen von SLM von [einem Vertreter von SLM] … erhalten hatten“. In Anbetracht der Notizen von ITC, die wahrscheinlich im relevanten Zeitraum erstellt wurden, erscheint diese Feststellung jedoch nicht so eindeutig. Es kann nur festgestellt werden, dass diese Notizen mit der Angabe „SLM“ in Verbindung mit dem in Großbuchstaben geschriebenen Namen eines ihrer Vertreter beginnen und anschließend die Angaben zur Zuteilung von Quoten dargestellt werden. In ihrem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung hat ITC angegeben, dass die Informationen bezüglich SLM von den Vertretern von CB und Itas übermittelt worden seien und dass diese angegeben hätten, diese von dem vorgenannten Vertreter von SLM erhalten zu haben.
237 Es handelt sich mithin um eine indirekte Inanspruchnahme von SLM, da diese aufgrund von Angaben erfolgt, die angeblich von Vertretern von CB und Itas gegenüber einem Vertreter von ITC gemacht wurden. Zur Feststellung der Richtigkeit dieser Angaben hätte die Kommission versuchen können, bei CB und Itas zu überprüfen, ob die von ITC mehr als fünf Jahre nach den Ereignissen gemachten Angaben tatsächlich dem Inhalt dieser Zusammenkunft entsprachen. Die der Kommission im vorliegenden Fall zur Verfügung stehenden Beweismittel reichen nicht aus, um der von SLM vertretenen These, mit der sie bestreitet, dass diese Informationen von ihr stammen, und geltend macht, diese hätten leicht von Kunden oder Wettbewerbern erlangt werden können (wie dies oben in Rn. 226 in einem anderen Fall festgestellt wurde), jede Plausibilität abzusprechen.
238 Drittens kann es in Anbetracht der weiteren, in den handschriftlichen Notizen von ITC wiedergegebenen Informationen widersprüchlich erscheinen, SLM Quoten zuzuteilen, ohne sich zugleich – wie dies indessen für Redaelli, Tréfileurope, CB, Itas und ITC geschehen ist – zu vergewissern, dass diese von der mit der Durchführung der Nachprüfungen beauftragten Person überprüft werden. Weiterhin kann die Angabe der Telefonnummer des Vertreters von SLM zwar als Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass dieser im Anschluss an die Zusammenkunft möglicherweise kontaktiert wurde. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Beweis hierfür, und dies kann auch mit der etwaigen Absicht der Mitglieder des Club Italia erklärt werden, SLM künftig, nachdem sie in der Lage sein würden, die Rolle dieses Lieferanten auf dem italienischen Markt besser beurteilen zu können, einzubinden.
239 Schließlich ist jedenfalls auch festzustellen, dass die Kommission – ebenso wie hinsichtlich der Beweismittel zu den Umständen vor der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 – nicht den geringsten Beweis vorlegen kann, dem sich rechtlich hinreichend entnehmen ließe, dass es SLM bewusst war, dass sie in Anbetracht der sie betreffenden Gespräche zwischen Mitgliedern des Club Italia an diesem beteiligt gewesen sein soll.
240 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Beweismittel zu der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 angesichts des Fehlens jeglicher Elemente zur Bestätigung ihres Inhalts nicht für die Annahme genügen, dass die Beteiligung von SLM am Club Italia zu diesem Zeitpunkt begonnen hat.
– Zu den Umständen nach der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997
241 Zur Begründung ihrer Beurteilung zum Beginn und zur Dauer der Beteiligung von SLM am Club Italia führt die Kommission ferner Umstände an, die nach der Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 liegen (Rn. 474 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 128).
242 Insbesondere hat die Kommission im angefochtenen Beschluss mehrere Argumente zurückgewiesen, die SLM vor Gericht erneut geltend gemacht hat. Dabei handelt es sich um die von ITC in ihrem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung unter Bezugnahme auf handschriftliche Notizen zur Zusammenkunft des Club Italia vom 4. März 1997 gemachte Angabe, SLM habe noch Zweifel, um das Argument des Fehlens von SLM betreffenden, von der mit der Durchführung der Nachprüfungen beauftragten Person ausgestellten Rechnungen für den Zeitraum vor dem Jahr 2000 und um den Inhalt einer Erklärung von Redaelli in ihrem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung vom 20. März 2003 (Rn. 477 und 478 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 128).
243 Was die Aussagen von ITC unter Bezugnahme auf handschriftliche Notizen zur Zusammenkunft des Club Italia vom 4. März 1997, bei der Vertreter von Redaelli, CB, Itas, ITC, Tréfileurope sowie eine von der mit der Durchführung der Nachprüfungen beauftragten Person angestellte Person anwesend waren, angeht, hat diese ausgeführt, dass „die Hersteller bei der Zusammenkunft darüber informiert wurden, dass … Trame und DWK teilnehmen möchten und beim nächsten Mal anwesend sein werden; SLM dagegen … noch Zweifel [hat]“ (Durante l’incontro i produttori vengono informati che Trame e DWK vogliono partecipare ed interverranno la prossima volta, mentre la SLM è ancora in dubbio). Nach Ansicht der Kommission sind diese Zweifel von SLM sicherlich nicht als Unterbrechung ihrer Beteiligung am Club Italia auszulegen.
244 Das Gericht kann einer solchen Auslegung jedoch nicht zustimmen, da die Kommission in diesem Stadium noch nicht rechtlich hinreichend nachweisen kann, dass SLM zu diesem Zeitpunkt am Club Italia beteiligt war. Im Gegenteil legen die vorgenannten Ausführungen von ITC nahe, dass SLM im März 1997 immer noch nicht ihre Zustimmung zu ihrem Beitritt zum Club Italia zum Ausdruck gebracht hatte.
245 Die Beteiligung von SLM am Club Italia ergibt sich jedoch eindeutig aus den Angaben zur Zusammenkunft vom 15. April 1997, an der ein Vertreter von SLM teilgenommen hat und in der ein „Gespräch über Lieferungen von Redaelli an eine Reihe von Kunden sowie über die Angebote an Kunden von SLM und CB, Kunden und Lieferquoten“, eine „[d]etaillierte Übersicht über die Liefermengen von … SLM …“ sowie ein „Gespräch über Quotenaufteilung auf die genannten Gesellschaften (unter Angabe konkreter Prozentanteile)“ stattgefunden haben (Anhang 3 des angefochtenen Beschlusses).
246 Ferner ergibt sich aus den Feststellungen im angefochtenen Beschluss zur Zusammenkunft des Club Italia vom 30. September 1997, die in Anwesenheit eines Vertreters von SLM stattfand, dass über die „Festlegung von Lieferquoten, Mindestpreisen und Kriterien zur Ermittlung dieser Quoten“ gesprochen wurde. Die Zusammenkunft vom 22. Dezember 1997, für die nicht angegeben wird, dass SLM anwesend war, betraf ähnliche Punkte in Bezug auf SLM, ebenso wie die Zusammenkünfte vom 11. Januar 1998, vom 29. Januar 1998, vom 1. Februar 1998, vom 5. März 1998, vom 12. April 1998, vom 19. April 1998, vom 21. Juni 1998, vom 3. September 1998, vom 27. September 1998, vom 15. November 1998, vom 29. November 1998, vom 14. Dezember 1998, vom 20. Januar 1999, vom 6. Februar 1999, vom 24. Februar 1999, vom 11. März 1999, vom 30. März 1999, vom 18. Mai 1999, vom 15. Juni 1999, vom 30. Juni 1999, vom 16. Juli 1999, vom 7. September 1999, vom 5. Oktober 1999, vom 19. Oktober 1999, vom 29. November 1999, vom 4. Dezember 1999, vom 14. Dezember 1999 und vom 18. Januar 2000, wobei für diese angegeben wird, dass SLM anwesend war.
247 Im Anschluss fanden, bis zur Zusammenkunft vom 16. September 2002 in Mailand (Italien), weitere Zusammenkünfte in Anwesenheit eines Vertreters von SLM statt, bei denen insbesondere über Quoten und Preise gesprochen wurde.
248 In diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass zu einem nicht näher angegebenen Zeitpunkt des Jahres 1998 in einer im Besitz von Tréfileurope befindlichen Tabelle, in der SLM erwähnt wird, die Kundenaufteilung für 1998 aufgeführt wurde, ohne jedoch Einträge für SLM zu enthalten – wie dies eindeutig in Anhang 3 des angefochtenen Beschlusses wiedergegeben wird –, nicht geeignet, die aus den vorgenannten Umständen abgeleitete Feststellung, dass nämlich die Kommission für das Gericht hinreichend belegt hat, dass SLM ab dem 15. April 1997 an Gesprächen im Club Italia, die eindeutig wettbewerbswidrige Ziele zum Gegenstand hatten, teilgenommen hat, in Frage zu stellen.
249 Auch genügt der Umstand, dass die mit der Durchführung der Nachprüfungen beauftragte Person vor dem Jahr 2000 keine Rechnungen für SLM vorgelegt hat, ebenso wenig wie die Erklärung von Redaelli in ihrem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung, wonach SLM nicht ab Beginn der Aufnahme der Tätigkeit des Club Italia an diesem beteiligt war, nicht, um den vorstehend gezogenen Schluss in Frage zu stellen.
250 Im Übrigen ist inzident darauf hinzuweisen, dass, wie von SLM geltend gemacht, die Kommission eine Beteiligung von SLM am Club Europa nur für den Zeitraum vom 11. September 2000 bis zum 19. September 2002 angenommen hat (Rn. 865 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 131) und dass die Kommission festgestellt hat, dass SLM erst ab dem 29. November 1999 gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass sie über die Beteiligung am Club Italia in einen mehrere Ebenen beinhaltenden umfassenderen Plan eingebunden gewesen sei, dessen Ziel es gewesen sei, den Spannstahlmarkt auf europäischer Ebene zu stabilisieren, um einem Preisverfall entgegenzuwirken (Rn. 650 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 129). Dabei handelt es sich nämlich um Gesichtspunkte, anhand derer die Besonderheiten der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung charakterisiert werden können, wobei diese nicht mit denen der anderen Unternehmen übereinstimmt, die, wie Redaelli oder Tréfileurope, länger oder umfassender an den verschiedenen Tatkomplexen der einheitlichen Zuwiderhandlung beteiligt waren.
– Ergebnis
251 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Beteiligung von SLM am Club Italia anstatt ab dem 10. Februar 1997 erst ab dem 15. April 1997 hinreichend beweiskräftig belegt werden kann. Diese Beteiligung ist im Anschluss bis September 2002 nachgewiesen.
252 Der angefochtene Beschluss ist daher in diesem Punkt für nichtig zu erklären, und von der in Bezug auf SLM festgestellten Dauer der Zuwiderhandlung ist ein Zeitraum von zwei Monaten vom 10. Februar bis zum 14. April 1997 abzuziehen. Dieser Zeitraum hat keine Auswirkung auf den in Bezug auf Ori Martin festgestellten Zeitraum, da ihr die Verantwortlichkeit für die von SLM begangene Zuwiderhandlung erst ab dem 1. Januar 1999 zugerechnet wird.
253 Weiter ist im Hinblick auf SLM auf Folgendes hinzuweisen:
—
Ihre Beteiligung am Club Europa wurde von der Kommission nur für den Zeitraum vom 11. September 2000 bis zum 19. September 2002 angenommen (Rn. 865 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 131).
—
Ab dem 29. November 1999 wusste sie oder hätte sie wissen müssen, dass sie über die Beteiligung am Club Italia in einen mehrere Ebenen beinhaltenden umfassenderen Plan eingebunden war, dessen Ziel es war, den Spannstahlmarkt auf europäischer Ebene zu stabilisieren, um einem Preisverfall entgegenzuwirken (Rn. 650 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 129).
254 Diese Umstände sind auch bei der Berechnung der gegen SLM verhängten Geldbuße zu berücksichtigen, da die Kommission nicht zwischen den verschiedenen Modalitäten der Beteiligung von SLM am Kartell unterschieden hat: von April 1997 bis November 1999 nur im Rahmen des Club Italia und anschließend von Dezember 1999 bis September 2002 auf europäischer Ebene.
255 Die Folgen der vorstehenden Ausführungen für die Festsetzung der Geldbuße wird das Gericht nachfolgend im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung erörtern.
d) Zum als Zusatzbetrag festgesetzten Anteil am Umsatz
Vorbringen der Parteien
256 SLM und Ori Martin machen im Hinblick auf die Festsetzung des in Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 vorgesehenen Zusatzbetrags dieselben Argumente geltend wie zur Beurteilung der Schwere. Die Entscheidung, die Geldbuße um 19 % des Umsatzes zu erhöhen, sei anhand keines Kriteriums nachvollziehbar. Diese Entscheidung sei insbesondere aufgrund der beschränkten Rolle von SLM zu beanstanden. Allgemein sei ein erschwerender Umstand, der allein an die abschreckende Wirkung geknüpft sei, ungerecht und mit einer zweiten Ahndung für ein und dasselbe Verhalten gleichzusetzen. Des Weiteren verstoße die Festsetzung eines identischen Prozentsatzes für alle Unternehmen, an die sich der Beschluss richte, mit Ausnahme von Fundia, Socitrel, Fapricela und Proderac, unabhängig von ihrer Beteiligung und ihrer jeweiligen Rolle, gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
257 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Sie habe im vorliegenden Fall den Grundbetrag nur in Anbetracht der horizontalen Natur der zu ahndenden Zuwiderhandlung und damit ihrer spezifischen Schwere, unabhängig vom Umfang des erzielten rechtswidrigen Vorteils, angepasst. Es sei keinerlei doppelte Ahndung vorgenommen worden.
Würdigung durch das Gericht
258 Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 lautet:
„[U]nabhängig von der Dauer der Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung fügt die Kommission einen Betrag zwischen 15 % und 25 % des Umsatzes … hinzu, um die Unternehmen von vornherein [von] der Beteiligung an horizontalen Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung von Märkten oder Mengeneinschränkungen abzuschrecken. Dieser Zusatzbetrag kann auch in Fällen anderer Zuwiderhandlungen erhoben werden. Bei der Entscheidung, welcher Anteil am Umsatz zugrunde zu legen ist, berücksichtigt die Kommission mehrere Umstände, u. a. die in Ziffer 22 [der Leitlinien von 2006] genannten.“
259 Wie sich im vorliegenden Fall aus dem angefochtenen Beschluss ergibt, hat die Kommission nach einem Hinweis in Rn. 957 auf die vorgenannte Bestimmung in Rn. 962 festgestellt: „Unter Berücksichtigung des vorliegenden Sachverhalts und insbesondere der in Abschnitt 19.1.3 [hinsichtlich der Schwere der Zuwiderhandlung] erörterten Faktoren ist es angemessen, für Fundia einen Zusatzbetrag in Höhe von 16 % des Umsatzes, für Socitrel, Fapricela und Proderac in Höhe von 18 % und für alle übrigen Unternehmen [u. a. SLM] in Höhe von 19 % festzusetzen.“
260 Hierzu ist festzustellen, dass die Zuwiderhandlung, an der SLM beteiligt war, durch horizontale Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung von Märkten und zu Mengeneinschränkungen gekennzeichnet ist, die für den Wettbewerb innerhalb der Union besonders schädlich sind. Die Kommission hat ausgeführt, dass sie in solchen Fällen einen Betrag zwischen 15 % und 25 % hinzufügen wird, um die Unternehmen von vornherein von rechtswidrigen Verhaltensweisen abzuschrecken. Dies hat sie vorliegend getan, indem sie diesen Betrag für SLM auf 19 % festgesetzt hat.
261 Eine solche, vorab formulierte Argumentation kann nicht als ungerecht oder als mit einer zweiten Ahndung vergleichbar angesehen werden, da sie nur die Faktoren aufgreift, die die Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße zu berücksichtigen beabsichtigt. Diesbezüglich überschreitet die Kommission mit der Angabe, dass sie es für die Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße für angemessen erachtet, diesem Grundbetrag einen von der Dauer der Beteiligung unabhängigen Betrag hinzuzufügen, um die Unternehmen von vornherein von rechtswidrigen Verhaltensweisen abzuschrecken, nicht die von den Wettbewerbsregeln für Unternehmen gesetzten Grenzen gemäß Art. 101 AEUV und Art. 23 der ihrer Durchführung dienenden Verordnung Nr. 1/2003.
262 Die von der Kommission in diesem Stadium ihrer Untersuchung berücksichtigten Faktoren betreffen, wie bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung im Rahmen der Festsetzung des Grundbetrags, die Zuwiderhandlung im Allgemeinen. Der Grundbetrag wird von der Kommission erst in einem späteren Stadium angepasst, um etwaigen mildernden Umständen, u. a. der von den Klägerinnen geltend gemachten beschränkten Rolle, Rechnung zu tragen.
263 Da SLM nichts vorträgt, was geeignet wäre, die Argumentation der Kommission zur Art der Zuwiderhandlung, zum kumulierten Marktanteil sämtlicher beteiligten Unternehmen, zum Umfang des von der Zuwiderhandlung betroffenen räumlichen Markts und zur Umsetzung der Zuwiderhandlung, wobei es sich um die verschiedenen, in dem angefochtenen Beschluss diesbezüglich berücksichtigten Faktoren handelt, in Frage zu stellen, kann der Kommission somit nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie es für angemessen erachtet hat, dem Grundbetrag einen von der Dauer der Beteiligung unabhängigen Betrag hinzuzufügen.
264 Auch wenn die Kommission im Übrigen keine besondere Begründung im Hinblick auf den für den Zusatzbetrag berücksichtigten Umsatzanteil anführt, genügt insoweit der einfache Verweis auf die Analyse der Faktoren, die für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung verwendet wurden. Die Ausführungen zur Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Begründung des zur Bestimmung des für die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung herangezogenen Umsatzanteils gelten nämlich auch für die Beurteilung der Begründung zur Rechtfertigung des für die Bestimmung des zu Abschreckungszwecken dienenden Zusatzbetrags herangezogenen Umsatzanteils (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission, C‑439/11 P, Slg, EU:C:2013:513, Rn. 124).
265 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Rügen der Klägerinnen zu der von der Kommission bei der Festsetzung des Grundbetrags in Anwendung der Leitlinien von 2006 vorgenommenen Berücksichtigung eines Zusatzbetrags zurückzuweisen sind.
4. Zu den für die Anpassung des Grundbetrags zu berücksichtigenden Faktoren
266 Im Hinblick auf die Faktoren, die zur Anpassung des Grundbetrags der Geldbuße berücksichtigt wurden, sind die folgenden Rügen zu prüfen: zum einen die Argumente, die von SLM und Ori Martin im Hinblick auf die mildernden Umstände geltend gemacht wurden, und zum anderen die von SLM angeführten Argumente zur Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung.
a) Zu den mildernden Umständen
Vorbringen der Parteien
267 SLM und Ori Martin machen geltend, die Kommission habe SLM zu Unrecht die Zuerkennung mildernder Umstände nach Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 verweigert. SLM macht hierzu ihre geringen Marktanteile in Europa und Italien (3 % bzw. 10 %), ihre späte und beschränkte Beteiligung an der Zuwiderhandlung sowie das Eingeständnis eines Großteils der zur Last gelegten Tatsachen einige Tage nach der Nachprüfung geltend. Aufgrund ihrer aggressiven Geschäftspolitik sei SLM von den anderen Beteiligten an der Zuwiderhandlung stets als „outsider“ angesehen worden. Ferner habe SLM an der Mehrzahl der kollusiven Zusammenkünfte nicht teilgenommen und aufgrund ihres Verhaltens und der damit für die Unternehmen, die seit 1995 an der Zuwiderhandlung teilgenommen hätten, verbundenen Sanktionen erhebliche Verluste verzeichnen müssen. Ori Martin ist der Auffassung, die Kommission habe die nur späte und beschränkte Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung nicht berücksichtigt.
268 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
Würdigung durch das Gericht
269 Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 lautet:
„Der Grundbetrag der Geldbuße kann verringert werden, wenn die Kommission mildernde Umstände wie beispielsweise die nachstehend aufgeführten feststellt:
—
vom Unternehmen nachgewiesene Beendigung des Verstoßes nach dem ersten Eingreifen der Kommission, außer im Falle geheimer Vereinbarungen oder Verhaltensweisen (insbesondere von Kartellen);
—
vom Unternehmen beigebrachte Beweise, dass die Zuwiderhandlung aus Fahrlässigkeit begangen wurde;
—
vom Unternehmen beigebrachte Beweise, dass die eigene Beteiligung sehr geringfügig war und sich das Unternehmen der Durchführung der gegen die Wettbewerbsregeln verstoßenden Vereinbarungen in dem Zeitraum, in dem sie ihnen beigetreten war, in Wirklichkeit durch eigenes Wettbewerbsverhalten auf dem Markt entzogen hat;
—
der bloße Umstand einer kürzeren Beteiligung im Vergleich zu den übrigen Unternehmen wird nicht als mildernder Umstand anerkannt, da er bereits im Grundbetrag zum Ausdruck kommt;
—
aktive Zusammenarbeit des Unternehmens mit der Kommission außerhalb des Anwendungsbereichs der Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen und über seine rechtliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit hinaus;
—
Genehmigung oder Ermutigung des wettbewerbswidrigen Verhaltens durch die Behörden oder geltende Vorschriften.“
270 SLM beruft sich im vorliegenden Fall auf drei Arten von Argumenten, um geltend zu machen, dass die Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße einen oder mehrere mildernde Umstände hätte berücksichtigen müssen. Dabei handelt es sich erstens um ihre geringen Marktanteile in Europa und Italien, zweitens um ihre Zusammenarbeit mit der Kommission und drittens um ihre untergeordnete Rolle innerhalb des Kartells, sowohl im Hinblick auf die Dauer ihrer Beteiligung daran als auch im Hinblick auf deren Inhalt. Das letztgenannte Argument wird auch von Ori Martin geltend gemacht.
271 Zu dem auf den geringen Marktanteil von SLM in den verschiedenen von der Zuwiderhandlung betroffenen europäischen Staaten (auf weniger als 3 % geschätzt) und in Italien (auf weniger als 10 % geschätzt) gestützten Argument ist festzustellen, dass der Umstand, dass ein solches Argument nicht ausdrücklich als einer der mildernden Umstände aufgeführt wird, die bei der Festsetzung der Geldbuße berücksichtigt werden können, nicht ausreicht, um dessen eventuelle Erheblichkeit auszuschließen. In Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 werden bestimmte mildernde Umstände, die berücksichtigt werden können, nur demonstrativ und nicht abschließend aufgezählt, wie aus der Verwendung des Begriffs „wie beispielsweise“ in dieser Ziffer hervorgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2011, Aragonesas Industrias y Energía/Kommission, T‑348/08, Slg, EU:T:2011:621, Rn. 279 und 280).
272 Im vorliegenden Fall kann der Kommission indessen nicht vorgeworfen werden, die geringen Marktanteile von SLM nicht berücksichtigt zu haben, um ihr eine Ermäßigung der Geldbuße wegen mildernder Umstände zu gewähren.
273 In methodologischer Hinsicht ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Kommission das relative Gewicht von SLM im Spannstahlsektor bei der Festsetzung der Geldbuße berücksichtigt hat, da sie den mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehenden Umsatz des Unternehmens als Ausgangspunkt für ihre Berechnung der Geldbuße verwendet hat.
274 Zudem ist die Höhe der von SLM angegebenen Marktanteile als solche nicht unerheblich. Auch ist diese Höhe mit der Höhe der von den an der Zuwiderhandlung Beteiligten insgesamt gehaltenen Marktanteile – diese entsprach etwa 80 % der Spannstahlverkäufe innerhalb des EWR, wobei Italien der wichtigste Verbraucher von Spannstahl war – und der sehr heterogenen Nachfragestruktur für Spannstahl mit sehr wenigen Großkunden in Verhältnis zu setzen (Rn. 98 bis 102 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 14 bis 16).
275 Im Übrigen hat SLM nicht dargetan, inwiefern die Höhe ihrer Marktanteile in Europa oder Italien als solche eine Ermäßigung des Grundbetrags der Geldbuße wegen mildernder Umstände rechtfertigen sollte.
276 In Ermangelung jedes Vortrags in diesem Sinne kann der Kommission nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie sich nicht die Frage gestellt hat, ob sie den geringen Marktanteil von SLM bei der Festsetzung der Geldbuße in besonderer Weise als mildernden Umstand hätte berücksichtigen müssen.
277 Das Vorbringen, der geringe Marktanteil von SLM hätte als mildernder Umstand berücksichtigt werden müssen, den die Kommission in Anwendung von Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 hätte feststellen müssen, ist mithin als unbegründet zurückzuweisen.
278 Was das Vorbringen zur Zusammenarbeit mit der Kommission angeht, weist SLM darauf hin, dass sie ihre Beteiligung an einem Großteil der zur Last gelegten Tatsachen einige Tage nach der Nachprüfung eingeräumt habe, was von der Kommission nicht bestritten wird.
279 Wie im angefochtenen Beschluss angegeben, ist die Kommission der Ansicht, dass das bloße Nichtbestreiten des Sachverhalts nicht bereits eine Ermäßigung der Geldbuße wegen mildernder Umstände rechtfertige. Die Kommission hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass sie nicht mehr an ihre diesbezügliche frühere Entscheidungspraxis gebunden sei und dass eine Belohnung für das Nichtbestreiten des Sachverhalts zwar in der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 1996, C 207, S. 4) vorgesehen gewesen, später aber aufgegeben worden sei (Rn. 1009 des angefochtenen Beschlusses).
280 Es ist festzustellen, dass die Einräumung eines Teils der ihr zur Last gelegten Tatsachen durch SLM jedenfalls die Arbeit der Kommission nicht erleichtert hat, da der betreffende Teil dem Zeitraum von 1999 bis 2002 entspricht, für den die Kommission bereits über mehrere Informationsquellen und über sehr zahlreiche, u. a. anlässlich der im September 2002 vorgenommenen Nachprüfungen beschlagnahmte Beweismittel verfügte. Die Einräumung der fraglichen Tatsachen durch SLM hatte damit keine Auswirkung auf die Feststellung der Zuwiderhandlung ihr gegenüber oder gegenüber den anderen, an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen.
281 Das Vorbringen, die Einräumung eines Teils der ihr zur Last gelegten Tatsachen durch SLM hätte als mildernder Umstand berücksichtigt werden müssen, den die Kommission in Anwendung von Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 hätte feststellen müssen, ist mithin als unbegründet zurückzuweisen.
282 Hierzu ergibt sich aus den Akten, dass die der Kommission von SLM in ihrem Schreiben vom 25. Oktober 2002 bzw. im Anschluss in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte mitgeteilten Angaben keinen Einfluss auf die Feststellung der Zuwiderhandlung hatten. So stammen die Informationen zur Erweiterung des Club Europa von September 2000 bis September 2002 im Wesentlichen aus anderen Quellen.
283 Was das Argument zur untergeordneten Rolle von SLM bei der Zuwiderhandlung, sowohl im Hinblick auf die Dauer als auch im Hinblick auf den Inhalt, angeht, ist bezüglich der begrenzten Dauer der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung zunächst darauf hinzuweisen, dass diesem Faktor bereits im Stadium der Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße, für den die Dauer der Beteiligung jedes Unternehmens an der Zuwiderhandlung berücksichtigt wird, Rechnung getragen worden ist.
284 So hat die Kommission in den Leitlinien von 2006 ausgeführt, dass „der bloße Umstand einer kürzeren Beteiligung im Vergleich zu den übrigen Unternehmen … nicht als mildernder Umstand anerkannt [wird], da er bereits im Grundbetrag zum Ausdruck kommt“.
285 Es lässt sich zwar nicht ausschließen, dass in bestimmten Fällen ein wesentlicher Unterschied in der Beteiligungsdauer der betroffenen Unternehmen im Rahmen der mildernden Umstände berücksichtigt werden kann. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Die Beteiligung von SLM am Club Italia dauerte in der vorliegenden Rechtssache nämlich über mehrere Jahre an und erfolgte in Kenntnis der Sachlage. Aufgrund der hinreichend bedeutsamen Dauer dieser Beteiligung besteht keine Notwendigkeit für die Kommission, die Dauer der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung im Rahmen der mildernden Umstände zu berücksichtigen.
286 Was den angeblich beschränkten Inhalt der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung und dessen Auswirkung auf die Festsetzung der gegen dieses Unternehmen verhängten Geldbuße anbelangt, streiten die Parteien über die Bedeutung der diesbezüglich vorgetragenen Gesichtspunkte.
287 Hierzu ergibt sich aus Ziff. 29 der Leitlinien von 2006, dass die Kommission zur Feststellung eines solchen mildernden Umstands von dem betroffenen Unternehmen grundsätzlich verlangt, dass es „Beweise [erbringt], dass die eigene Beteiligung sehr geringfügig war und sich das Unternehmen der Durchführung der gegen die Wettbewerbsregeln verstoßenden Vereinbarungen in dem Zeitraum, in dem sie ihnen beigetreten war, in Wirklichkeit durch eigenes Wettbewerbsverhalten auf dem Markt entzogen hat“.
288 In der Vergangenheit ging die Kommission davon aus, dass ein Unternehmen bei „ausschließlich passive[r] Mitwirkung oder reine[m] Mitläufertum“ in den Genuss einer Ermäßigung des Grundbetrags aufgrund mildernder Umstände kommen könne (vgl. Ziff. 3 der Leitlinien von 1998).
289 Nach Ansicht von SLM entspricht ihre Beteiligung an dem Kartell diesen Definitionen. Sie beruft sich hierzu auf ihre aggressive Geschäftspolitik, die aufgrund ihres Verhaltens und der damit verbundenen Sanktionen erlittenen Verluste, den Umstand, dass die anderen beteiligten Unternehmen sie – jedenfalls bis zum Jahr 2000 – nicht als Kartellmitglied angesehen hätten, und den Umstand, dass sie an der Mehrzahl der kollusiven Zusammenkünfte nicht teilgenommen habe.
290 Nach Ansicht der Kommission entspricht ihre Beteiligung nicht den vorgenannten Definitionen.
291 So hat die Kommission in Rn. 990 des angefochtenen Beschlusses bei der Prüfung des Vorbringens zur „unbedeutenden und/oder passiven Rolle“ Folgendes ausgeführt:
„SLM war zwischen 1997 und 2002 kontinuierlich und regelmäßig bei über 100 Zusammenkünften des Club Italia anwesend und hat sich an der Festlegung von Quoten, der Aufteilung von Kunden und der Festsetzung von Preisen sowie am Austausch sensibler geschäftlicher Informationen beteiligt … Entgegen dem Vorbringen von SLM bestätigen ITC, Tréfileurope und CB in ihren Erklärungen, dass SLM am Kartell beteiligt war … Folglich kann die Rolle von SLM im Kartell nicht als sehr geringfügig, ausschließlich passiv oder unbedeutend bezeichnet werden.“
292 Die Prüfung der von der Kommission angeführten Beweise und insbesondere der in Anhang 3 des angefochtenen Beschlusses aufgeführten Angaben im Hinblick auf die Zusammenkunft vom 15. April 1997, an der ein Vertreter von SLM teilgenommen hat und deren Inhalt von ITC und Tréfileurope mitgeteilt wurde, zeigt, dass SLM lange vor dem Jahr 2000 als Kartellteilnehmer angesehen wurde.
293 Außerdem ergibt sich aus dem angefochtenen Beschluss ferner, dass SLM an einer wesentlichen Zahl von kollusiven Zusammenkünften teilgenommen hat und dass diese Zahl ausreicht, um die Möglichkeit auszuschließen, dass ihre Beteiligung als lediglich passiv oder unbedeutend oder als sehr geringfügig bezeichnet wird.
294 Im Übrigen hat die Kommission in den Rn. 1015 bis 1022 des angefochtenen Beschlusses bei der Prüfung des Vorbringens zur „Nichtumsetzung/sehr geringfügigen Rolle“ ausgeführt, SLM habe, wie andere Unternehmen, behauptet, sie habe die Kartellvereinbarungen nicht umgesetzt oder das Funktionieren des Kartells durch ein wettbewerbskonformes Verhalten auf dem Markt gestört. Zur Stützung dieses Vorbringens habe SLM verschiedene Rechnungen vorgelegt und behauptet, dass sie ihren Umsatz erhöht habe.
295 Hierzu hat die Kommission Folgendes festgestellt:
—
„[D]ie vorgelegten Beweise [bestehen] größtenteils aus Daten …, die nur von der vorlegenden Partei selbst bestätigt wurden“ (Rn. 1018 des angefochtenen Beschlusses).
—
„In jedem Fall beweisen gelegentliche Betrügereien in Bezug auf Preisabsprachen und/oder die vereinbarte Aufteilung von Quoten und Kunden nicht an sich, dass eine Partei die Kartellvereinbarungen nicht umgesetzt hätte. Interne Konflikte und Rivalitäten und Betrügereien sind typisch für Kartelle, insbesondere bei Kartellen von langer Dauer … Der Umstand, dass ein Unternehmen gewisse Vereinbarungen nicht eingehalten hat, bedeutet insoweit also nicht, dass das Unternehmen keinerlei Kartellvereinbarungen umgesetzt und sich auf dem Markt uneingeschränkt wettbewerbskonform verhalten hätte“ (Rn. 1018 des angefochtenen Beschlusses).
—
„Die Umsetzung der Kartellvereinbarungen wurde durch die Überwachungsregelung … und durch die sehr häufigen Kartellzusammenkünfte sichergestellt, in denen die Wettbewerber regelmäßig vertrauliche Informationen austauschten und die den Parteien Vergleiche der jeweiligen Zahlen und/oder eine Anpassung der Quoten, Preise und Kundenaufteilungen ermöglichten … SLM … [hat] – ebenso wie alle übrigen Adressaten dieses Beschlusses – nachweislich regelmäßig an Zusammenkünften teilgenommen, in denen Preise, Quoten und Kunden erörtert und überwacht wurden … Zudem wird darauf verwiesen, dass … SLM … ihre Liefermengen von … [einem] externe[n] Prüfer kontrollieren [ließ] …“ (Rn. 1019 des angefochtenen Beschlusses).
296 Zusammenfassend stellt die Kommission fest, dass „keine der Parteien bewiesen hat, dass sie sich tatsächlich der Durchführung der unzulässigen Vereinbarungen entzog, indem sie sich auf dem Markt wettbewerbskonform verhalten hätte, oder indem sie sich zumindest den Verpflichtungen zur Umsetzung des Kartells so eindeutig und nachdrücklich widersetzte hätte, dass dadurch sogar dessen Funktionieren selbst gestört worden wäre“, und dass „[f]olglich … keine mildernden Umstände unter Berufung auf die Nichtumsetzung der Vereinbarungen bzw. auf eine sehr geringfügige Rolle geltend gemacht werden [können]“ (Rn. 1022).
297 Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass SLM zwar den Akten zufolge tatsächlich regelmäßig an kollusiven Zusammenkünften teilgenommen hat und einem Kontrollmechanismus unterstellt war. Dagegen ist nicht unerheblich, ob sich SLM im Anschluss an diese Zusammenkünfte trotz des Kontrollmechanismus – wie von ihr behauptet – auf dem Markt wettbewerbskonform verhalten hat. Die Kommission kann mithin nicht überzeugen, wenn sie das Vorbringen von SLM mit der Begründung zurückweist, deren Beteiligung an der Zuwiderhandlung gehe aus den Akten hervor.
298 Auch das Argument zur fehlenden „Bestätigung“ der von SLM übermittelten Informationen ist nicht ausreichend, um diesen jeden Wert abzusprechen. Hätte die Kommission auch nur den geringsten Zweifel an der Authentizität und dem Wahrheitsgehalt der aus den von SLM übermittelten Rechnungen oder der behaupteten Umsatzerhöhung zu entnehmenden Informationen gehabt, hätte sie zusätzliche Informationen von SLM verlangen oder ihre eigene Untersuchung zu diesen Informationen anstrengen können.
299 Aus der Prüfung dieser Rechnungen und den diesbezüglichen Stellungnahmen der Parteien in der mündlichen Verhandlung ergibt sich jedoch, dass diese Rechnungen nicht sehr zahlreich waren und nur einen sehr kurzen Zeitraum, nämlich Anfang November 2001, betrafen. Diese Dokumente können mithin nicht in stichhaltiger Weise dafür angeführt werden, dass sich SLM der Durchführung der gegen die Wettbewerbsregeln verstoßenden Vereinbarungen in dem Zeitraum, in dem sie ihnen beigetreten gewesen sei, in Wirklichkeit durch eigenes Wettbewerbsverhalten auf dem Markt entzogen habe. Die Kommission weist daher im vorliegenden Fall zu Recht darauf hin, dass „gelegentliche Betrügereien“ nicht an sich beweisen, dass eine Partei die Kartellvereinbarungen nicht umgesetzt hätte.
300 Im Übrigen liefert SLM nicht den geringsten Beweis dafür, dass sie von den anderen Beteiligten an der Zuwiderhandlung aufgrund ihrer aggressiven Geschäftspolitik als „outsider“ angesehen worden sei und deshalb Vergeltungsmaßnahmen seitens der anderen Kartellmitglieder erlitten habe. Solche Behauptungen können daher nicht berücksichtigt werden.
301 Das Vorbringen, die Kommission hätte angesichts der im Verwaltungsverfahren übermittelten Dokumente davon ausgehen müssen, dass die Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung sehr geringfügig im Sinne von Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 gewesen sei, ist mithin als unbegründet zurückzuweisen.
302 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die von den Klägerinnen auf die verschiedenen, zum Nachweis mildernder Umstände im Sinne von Ziff. 29 der Leitlinien von 2006 vorgebrachten Argumente gestützten Rügen zurückzuweisen sind.
b) Zu den Erklärungen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung
Angefochtener Beschluss
303 Die Kommission hat in dem angefochtenen Beschluss Folgendes festgestellt :
„(1126)
SLM beansprucht eine Ermäßigung der Geldbuße für die Mitteilung selbstbelastende Informationen, die das Unternehmen in seiner Antwort auf das erste Auskunftsverlangen mitgeteilt habe. Dieses Verhalten sei weit über den Rahmen einer regulären Zusammenarbeit mit der Kommission hinausgegangen. Ferner macht SLM geltend, es habe nicht mehr Informationen liefern können, weil es damals nicht habe entscheiden können, welche Beweismittel der Kommission bereits vorlagen und weil es an dieser Zuwiderhandlung nur am Rande beteiligt gewesen sei. Schließlich macht SLM geltend, die Kommission habe ihre Schlussfolgerungen aufgrund der Erklärungen von SLM besser untermauern können.
(1127) Eine Ermäßigung der Geldbuße im Rahmen der Kronzeugenregelung kommt nur dann in Betracht, wenn die mitgeteilten Informationen von erheblichem Mehrwert sind. Dass die mitgeteilten Informationen selbstbeschuldigend sind oder dass die Kommission sich bei ihrer Beschreibung des Kartells auf diese Informationen gestützt hat, ist insoweit nicht entscheidend. Wenn ein Unternehmen eine Ermäßigung der Geldbuße beantragt, wird zudem erwartet, dass das Unternehmen der Kommission alle relevanten Informationen vorlegt, die sich in seinem Besitz befinden, und eine Ermäßigung kommt um so eher in Betracht, je schneller ein Unternehmen handelt. Dass SLM nicht in der Lage gewesen sei, mehr Informationen mitzuteilen, weil SLM nicht habe ermessen können, welche Beweismittel der Kommission bereits vorlagen, ist daher unerheblich.
(1128) Am 30.10.2002 beantragte SLM zusammen mit der Beantwortung eines Auskunftsverlangens eine Ermäßigung der Geldbuße. In dieser Antwort bestätigt SLM die eigene Beteiligung an vier Typen von Zusammenkünften: an den [Sitzungen von] ESIS [Eurostress Information Service mit Sitz in Düsseldorf] …, den Zusammenkünften italienischer Hersteller auf Führungsebene von 1999 bis 2002, an den Zusammenkünften europäischer Hersteller auf Führungsebene bzw. operativer Ebene im Jahr 2001 und an den Zusammenkünften italienischer Hersteller auf Vertriebsebene von 1999 bis 2002. Was die Frage eines möglichen Mehrwerts des Vorbringens von SLM anbelangt, so ist festzustellen, dass die Beschreibungen dieser Zusammenkünfte jedoch aus bereits vorliegendem Beweismaterial bekannt waren und die Erklärungen ungenau formuliert waren.
(1129) Bezüglich der Erweiterung des Club Europa erläutert SLM, 2001 sei es zu Zusammenkünften von italienischen Herstellern mit Herstellern aus den übrigen europäischen Ländern gekommen, um eine Vereinbarung über den Status quo der italienischen Ausfuhren in den europäischen Markt zu treffen. Die Gesellschaft erklärt, an drei dieser Zusammenkünfte teilgenommen zu haben[,] und legt Protokolle zu zwei Zusammenkünften vor; eine dieser beiden Zusammenkünfte war die Zusammenkunft vom 4.9.2001 (aus der ersichtlich ist, dass die Gesellschaften sich um eine Klärung des Status quo der italienischen Ausfuhren und um eine Stabilisierung der Preise bemühten). Diese Zusammenkunft wurde mehrfach bereits in der Mitteilung der Beschwerdepunkte genannt. Allerdings wurden diese Zusammenkunft und weitere Zusammenkünfte mit ähnlichem Ziel bereits mit Hilfe von Beweismitteln aus mehreren früheren Quellen nachgewiesen. Die von SLM mitgeteilten Informationen sind daher nicht mit einem erheblichen Mehrwert verbunden.“
Vorbringen der Parteien
304 SLM macht geltend, die Kommission habe ihre Geldbuße zu Unrecht nicht aufgrund der im Verwaltungsverfahren geleisteten Zusammenarbeit ermäßigt. SLM trägt insbesondere vor, aufgrund ihrer untergeordneten Rolle bei der Zuwiderhandlung habe sie, als sie sich zur Zusammenarbeit entschieden habe, nicht wissen können, welche Beweismittel der Kommission bereits vorgelegen hätten, um beurteilen zu können, ob die erteilten Antworten einen Mehrwert aufwiesen. Die Kommission hätte dem Unternehmen das Fehlen eines Mehrwerts der eingeräumten Tatsachen und Umstände entgegenhalten können, wenn erwiesen wäre, dass das Unternehmen Kenntnis von Tatsachen und Umständen gehabt habe, die auf anderem Wege zu den Akten der Kommission gelangt seien. Dies sei jedoch nicht der Fall gewesen, als SLM der Kommission mitgeteilt habe, dass nicht weniger als vier Arten von Zusammenkünften zwischen den Spannstahlherstellern stattgefunden hätten: im Rahmen des Eurostress Information Service (ESIS, europäischer Verband der Spannstahlhersteller), zwischen europäischen Herstellern, ausschließlich zwischen italienischen Herstellern auf Führungs- bzw. auf Vertriebsebene. Sie habe die Teilnehmer hieran, die Orte, den Ursprung der Einladungen hierzu und den Gegenstand der Zusammenkünfte angegeben (Rn. 1128 des angefochtenen Beschlusses). Diese Erklärungen seien in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zur Untermauerung bestimmter Schlüsse verwendet worden (vgl. Rn. 191 und 242 der Mitteilung der Beschwerdepunkte), was nicht erfolgt wäre, wenn diese Erklärungen wertlos gewesen wären.
305 Die Kommission macht geltend, SLM verdiene keine Ermäßigung der Geldbuße, da sie keine Informationen mit erheblichem Mehrwert geliefert habe. Auch wäre eine Ermäßigung der gegen SLM verhängten Geldbuße angesichts ihres berechnenden Verhaltens und der Unbestimmtheit der übermittelten Informationen unangemessen gewesen.
Würdigung durch das Gericht
306 Am 9. Januar 2002 hat das Bundeskartellamt der Kommission Unterlagen übermittelt, in denen eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV in Verbindung mit Spannstahl geschildert wird.
307 Außerdem hat die Kommission DWK am 19. Juli 2002, mithin noch vor Durchführung der Nachprüfungen vom 19. und 20. September 2002, auf einen entsprechenden Antrag den bedingten Erlass der Geldbuße gewährt. Im Anschluss an diese Nachprüfungen haben mehrere Unternehmen Anträge auf Gewährung von Rechtsvorteilen durch die Kommission als Gegenleistung für die Zusammenarbeit mit ihr gestellt, u. a. ITC am 21. September 2002, aber auch Redaelli am 21. Oktober 2002 und Nedri am 23. Oktober 2002.
308 Die Kommission hat im angefochtenen Beschluss festgestellt, dass ITC als dem ersten Unternehmen, das die Anforderungen von Ziff. 21 der Kronzeugenregelung von 2002 erfüllt habe, eine Ermäßigung der Geldbuße um 50 % gewährt werde. ITC habe insbesondere wichtige Angaben zum Club Italia und zu den Absprachen auf europäischer Ebene geliefert. Weiterhin hat die Kommission festgestellt, dass Nedri als dem zweiten Unternehmen, das die genannten Anforderungen erfüllt habe, eine Ermäßigung der Geldbuße um 25 % gewährt werde. Anderen Unternehmen, nämlich ArcelorMittal Wire France, ArcelorMittal, ArcelorMittal Fontaine, ArcelorMittal Verderio, ArcelorMittal España, Emesa/Galycas und WDI, wurden Ermäßigungen um 20 % bzw. 5 % gewährt. Die Anträge von Tycsa, Redaelli und SLM wurden zurückgewiesen.
309 SLM hat am 25. Oktober 2002, gleichzeitig mit der Erwiderung auf das bei der Nachprüfung übergebene Auskunftsverlangen, einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt, der am 30. Oktober 2002 in das Register der Kommission eingetragen worden ist. Im Anschluss hat SLM in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte der Kommission weitere Beweismittel geliefert.
310 Die Nützlichkeit der von SLM mitgeteilten Angaben für die Kommission ist jedoch zu relativieren, da diese im Anschluss an die Nachprüfungen oder insbesondere aufgrund der Zusammenarbeit von ITC über zahlreiche Angaben zum Nachweis der verschiedenen Teile der Zuwiderhandlung, zu denen von SLM Informationen vorgelegt worden sind, verfügt hat. So stammen die Informationen zur Erweiterung des Club Europa von September 2000 bis September 2002 im Wesentlichen von anderen Unternehmen als SLM, oder es werden, soweit SLM angeführt wird, zahlreiche andere Unternehmen angeführt, deren Beitrag vor dem Beitrag von SLM erfolgt ist (Rn. 265 ff. des angefochtenen Beschlusses).
311 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Rügen von SLM zur Notwendigkeit, ihr zur Belohnung ihrer Zusammenarbeit beim Nachweis der Zuwiderhandlung eine Ermäßigung der Geldbuße zu gewähren, zurückzuweisen sind.
5. Zur Berücksichtigung der besonderen Situation von SLM
312 SLM und Ori Martin haben im Rahmen ihres Vortrags mehrmals geltend gemacht, dass die Kommission der besonderen Situation von SLM nicht hinreichend Rechnung getragen habe. Die Klägerinnen sind der Ansicht, bei der Beteiligung dieses Unternehmens habe es sich nicht nur um eine späte, sondern auch um eine beschränkte Beteiligung gehandelt, was von der Kommission in einem der Stadien der Festsetzung der Geldbuße hätte berücksichtigt werden müssen. Da die für die Festsetzung der Geldbuße verwendete Formel dieselbe gewesen sei wie die für die Ahndung der Unternehmen, die – wie Redaelli – an allen Aspekten der Zuwiderhandlung und während ihrer gesamten Dauer teilgenommen hätten, verwendete, habe die Kommission jedoch keine solche individuelle Festlegung der Sanktion vorgenommen.
313 Das Gericht hat im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die Kommission bei der Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 19,8 Mio. Euro (vor Anwendung der gesetzlichen Obergrenze von 10 %) gegen SLM, bei deren Berechnung u. a. sämtliche von SLM im EWR mit Spannstahl erzielten Umsätze, die objektive Schwere der Zuwiderhandlung als solche, die Dauer der Beteiligung von SLM am Club Italia ab einer Zusammenkunft, bei der SLM nicht vertreten war, berücksichtigt wurden und ohne dass dabei ein mildernder Umstand anerkannt wurde (siehe oben, Rn. 134), die Umstände des vorliegenden Falles angemessen gewürdigt hat.
314 Nach der Rechtsprechung und nach dem Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, zu dem die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der individuellen Zumessung von Strafen als Bestandteile hinzugehören (siehe oben, Rn. 138 bis 142), sind bei der Festsetzung der Geldbuße nämlich nicht nur Faktoren zu berücksichtigen, die die Zuwiderhandlung als solche betreffen, sondern auch Faktoren bezüglich der tatsächlichen Beteiligung des mit der Sanktion belegten Unternehmens an dieser Zuwiderhandlung. Die Kommission oder aber das Gericht haben daher darauf zu achten, dass sie die Strafe individuell, unter Berücksichtigung der besonderen Situation von SLM bei der von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss festgestellten einheitlichen Zuwiderhandlung, festlegen.
Modalitäten der Beteiligung am Club Italia
315 Hinsichtlich der Beteiligung am Club Italia ist in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen zu den von der Kommission bei der Festsetzung der Geldbuße berücksichtigten Faktoren für die Beurteilung der gegen SLM zu verhängenden Sanktion dreierlei festzustellen.
316 Erstens haben die im Club Italia getroffenen Vereinbarungen, wie die Kommission geltend macht, eine über Italien hinausgehende räumliche Reichweite. Abgesehen von seiner italienischen Dimension ermöglichte dieser Club es auch einer Reihe von Unternehmen, nämlich dem harten Kern, bestehend aus Redaelli, CB, ITC und Itas (in Italien präsent) und Tréfileurope (in Italien und im übrigen Europa präsent), aber auch SLM, die Exportbemühungen der italienischen Hersteller zu koordinieren und parallel dazu eine gemeinsame Politik als Reaktion auf die Versuche der Hersteller der übrigen europäischen Länder (wie Tycsa, Nedri und DWK, die hin und wieder im Club Italia erschienen) festzulegen, diese Bemühungen durch das Angebot einer Ausfuhrquote der italienischen Hersteller für das übrige Europa einzuschränken.
317 Während des ganzen Zeitraums, während dessen SLM nur an diesem Tatkomplex der Zuwiderhandlung beteiligt war (nach Auffassung der Kommission vom 10. Februar 1997 bis zum 10. September 2000), bezogen sich die in ihrer Anwesenheit geführten Gespräche nicht auf Österreich, und sofern Gespräche im Hinblick auf Deutschland und Frankreich geführt wurden, geschah dies zu Zeitpunkten, zu denen SLM keinen bzw. noch keinen Spannstahl in diesen Staaten verkaufte. Diese Besonderheiten sind bei der Beurteilung der Höhe der gegen SLM zu verhängenden Sanktion zu berücksichtigen.
318 Zweitens kann hinsichtlich der Dauer der Beteiligung von SLM am Club Italia nicht davon ausgegangen werden, dass der Beginn dieser Beteiligung, wie von der Kommission angenommen, am 10. Februar 1997 war, sondern er muss auf den 15. April 1997 verschoben werden, um das für die Feststellung der Beteiligung an einer Zuwiderhandlung erforderliche Beweismaß zu erfüllen. Auch dies ist bei der Festsetzung der Geldbuße zu berücksichtigen.
319 Drittens hat die Kommission im Hinblick auf den Umfang der Beteiligung von SLM am Club Italia im angefochtenen Beschluss festgestellt, SLM habe seit dem 29. November 1999 gewusst oder hätte wissen müssen, dass sie über die Beteiligung am Club Italia in einen mehrere Ebenen beinhaltenden umfassenderen Plan eingebunden gewesen sei, dessen Ziel es gewesen sei, den Spannstahlmarkt auf europäischer Ebene zu stabilisieren, um einem Preisverfall entgegenzuwirken (Rn. 650 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 129). SLM hat demzufolge erst zu einem späteren Stadium als die anderen Unternehmen von der einheitlichen Zuwiderhandlung, die ihr von der Kommission zur Last gelegt wird, Kenntnis erlangt.
320 Diese in dem angefochtenen Beschluss erwähnte Besonderheit ist auch im Stadium der Festsetzung der Geldbuße zu berücksichtigen, da sie die Situation von SLM von der Situation der anderen, im vorliegenden Fall mit einer Sanktion belegten Unternehmen – wie Redaelli –, die von Beginn an am Club Italia beteiligt waren oder von allen Aspekten der einheitlichen Zuwiderhandlung Kenntnis hatten, unterscheidet. Allerdings unterscheidet sich die Situation von SLM auch wesentlich von der Situation der drei Unternehmen, bei denen die Kommission der späten Kenntniserlangung von der europäischen Dimension der Zuwiderhandlung Rechnung getragen hat. Socitrel, Proderac und Fapricela, die im Club España tätig waren, haben vorliegend erst im Mai 2001 Kenntnis vom Gesamtplan erlangt und nicht, wie SLM, im November 1999. Ferner hat SLM von der europäischen Situation der Zuwiderhandlung nicht nur Kenntnis erlangt, sondern im Anschluss auch in vollem Umfang daran teilgenommen.
Modalitäten der Beteiligung am Club Europa und an anderen Absprachen
321 Es ist unstreitig, dass SLM nicht an der Vereinbarung für Südeuropa, am Club España, an der Abstimmung in Bezug auf den Kunden Addtek oder am Züricher Club, dem Vorgänger des Club Europa, beteiligt war.
322 Im Hinblick auf den Club Europa ist darauf hinzuweisen, dass die Beteiligung von SLM an diesem Aspekt der einheitlichen Zuwiderhandlung nur für den Zeitraum vom 11. September 2000 bis zum 19. September 2002 angenommen wurde, was dem Zeitraum entspricht, in dem SLM begann, über die Zulassungen für den Vertrieb von Spannstahl in bestimmten Staaten zu verfügen, die Gegenstand des Club Europa waren und für die Gespräche mit dem Club Italia über den Umfang der Quoten, die den italienischen Exporteuren eingeräumt werden könnten, geführt wurden.
323 Aus dem Vorstehenden folgt, dass es sich bei der Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung nicht um eine einheitliche, sondern um eine schrittweise Beteiligung handelte. SLM war zunächst, von April 1997 bis Ende November 1999, ausschließlich am Club Italia beteiligt, hat ab Dezember 1999 von der europäischen Dimension der einheitlichen Zuwiderhandlung Kenntnis erlangt und sich anschließend von September 2000 bis September 2002 am Club Europa beteiligt.
324 Bei dieser Feststellung handelt es sich um einen Umstand, den die Kommission bei der Beurteilung der gegen SLM zu verhängenden Sanktion hätte berücksichtigen müssen.
325 Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass eine derartige Feststellung nicht bedeutet, dass die Beteiligung so beschränkt gewesen wäre wie von den Klägerinnen behauptet. Aus den Akten ergibt sich nämlich, dass die Rolle von SLM innerhalb des Club Italia, insbesondere im Hinblick auf die Gespräche mit dem Club Europa zur Festlegung einer Ausfuhrquote, mit der Rolle der Hauptakteure des Club Italia, nämlich Redaelli, Itas, CB, ITC und Tréfileurope, vergleichbar ist.
6. Ergebnis
326 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die gegen SLM ‐ und zum Teil gegen Ori Martin ‐ verhängte Sanktion, insbesondere im Sinne ihrer nicht hinreichend individuellen Festlegung, unverhältnismäßig ist, weil die Kommission bestimmte Besonderheiten der Situation dieses Unternehmens außer Acht gelassen hat, als sie eine Geldbuße in Höhe von 19,8 Mio. Euro vor Anwendung der gesetzlichen Obergrenze von 10 % gegen es verhängte.
327 Insbesondere trägt die von der Kommission verhängte Sanktion nicht der Tatsache Rechnung, dass sich SLM nur spät und schrittweise an der einheitlichen Zuwiderhandlung beteiligt hat, indem sie sich zunächst im Wesentlichen auf die im Club Italia getroffenen Absprachen für den italienischen Markt beschränkt hat. Die Kommission hätte im vorliegenden Fall bei der Berechnung der Geldbuße berücksichtigen müssen, dass SLM vor einem bestimmten Zeitpunkt keine Zulassungen für den Verkauf in bestimmten Mitgliedstaaten hatte und dass nichts vorliegt, was darauf schließen ließe, dass sich SLM noch vor ihrer Teilnahme an Zusammenkünften des Club Italia an dem Kartell beteiligt haben könnte.
328 Art. 2 Nr. 16 des angefochtenen Beschlusses wird demnach für nichtig erklärt, weil darin eine unverhältnismäßige Sanktion gegen die Klägerinnen verhängt wird.
329 Die daraus zu ziehenden Konsequenzen werden nachfolgend im Rahmen der Befugnis des Gerichts zu unbeschränkter Nachprüfung geprüft, deren Ausübung im vorliegenden Fall begehrt wird.
330 Unter diesen Umständen ist das Vorbringen der Parteien zur Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung oder zu den Rügen einer Verletzung bestimmter Vorschriften der Leitlinien von 2006 nicht mehr zu prüfen, da es im vorliegenden Fall das Ergebnis der vorstehenden Beurteilung nicht in Frage stellen oder ändern kann.
D – Zur ungewöhnlichen Länge des Verwaltungsverfahrens
1. Vorbringen der Parteien
331 SLM macht geltend, die Dauer des Verwaltungsverfahrens sei übermäßig lang gewesen. Das Verwaltungsverfahren habe im vorliegenden Fall mehr als acht Jahre gedauert, und zwischen den am 19. September 2002 durchgeführten Nachprüfungen und der Versendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte am 30. September 2008 seien sechs Jahre verstrichen. Die Kommission habe ab 2002 Kenntnis von einer äußerst großen Zahl von Tatsachen gehabt, auf die sie im Anschluss den angefochtenen Beschluss gestützt habe, und zahlreiche Unternehmen hätten rasch zusammengearbeitet. SLM ist der Auffassung, das Verfahren sei aufgrund der großen Zahl der nacheinander mit der Angelegenheit befassten Beamten spät abgeschlossen worden. Deshalb habe sie das Gericht ersucht, der Kommission aufzugeben, eine Liste mit der Zahl der Beamten, die von 2002 bis 2010 mit der Angelegenheit befasst gewesen seien, vorzulegen. Nach Ablauf von mehr als zehn Jahren sei es schwierig für SLM, sich zu Tatsachen zu äußern, die ihr, oftmals indirekt, auf der Grundlage handschriftlich verfasster Unterlagen anderer zur Last gelegt worden seien. Auch habe die Kommission sechs Jahre benötigt, um zu entscheiden, ob ihrem – am 30. Oktober 2002 gestellten und am 19. September 2008 abgelehnten – Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung stattzugeben sei oder nicht, wodurch ihr Recht auf rechtzeitige Vorbereitung einer Verteidigungslinie zur Gewährleistung des bestmöglichen Schutzes ihrer Interessen beeinträchtigt worden sei. Durch die Langsamkeit des Verwaltungsablaufs sei SLM daran gehindert worden, für die ersten ihr zur Last gelegten Jahre der Beteiligung am Kartell (1997 und 1998) eine angemessene Verteidigung vorzubereiten.
332 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Im Hinblick auf den Antrag auf Beweiserhebung weist sie insbesondere darauf hin, dass die Zahl der nacheinander mit der Angelegenheit befassten Beamten angesichts der Komplexität des Verfahrens irrelevant sei.
2. Würdigung durch das Gericht
333 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass SLM einräumt, ab 1999 an der Zuwiderhandlung beteiligt gewesen zu sein. Diesem Umstand ist bei der Beurteilung der Folgen eines etwaigen Verstoßes gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer Rechnung zu tragen.
334 Die Einhaltung einer angemessenen Dauer bei der Durchführung von Verwaltungsverfahren im Bereich der Wettbewerbspolitik stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, dessen Wahrung die Unionsgerichte zu sichern haben (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, C‑452/11 P, EU:C:2012:829, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
335 Der Grundsatz der angemessenen Dauer eines Verwaltungsverfahrens ist in Art. 41 Abs. 1 der Grundrechtecharta bestätigt worden, wonach „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Angelegenheiten von den Organen und Einrichtungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“ (Urteil vom 5. Juni 2012, Imperial Chemical Industries/Kommission, T‑214/06, Slg, EU:T:2012:275, Rn. 284).
336 Die Angemessenheit der Verfahrensdauer beurteilt sich nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere nach dessen Kontext, dem Verhalten der Beteiligten im Laufe des Verfahrens, der Bedeutung der Angelegenheit für die verschiedenen betroffenen Unternehmen und der Komplexität der Sache (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 1999, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, T‑305/94 bis T‑307/94, T‑313/94 bis T‑316/94, T‑318/94, T‑325/94, T‑328/94, T‑329/94 und T‑335/94, Slg, EU:T:1999:80, Rn. 126) sowie gegebenenfalls nach Informationen oder Rechtfertigungen, die die Kommission zu den im Verlauf des Verwaltungsverfahrens vorgenommenen Untersuchungsmaßnahmen beibringen kann.
337 Der Gerichtshof hat entschieden, dass im Verwaltungsverfahren zwei aufeinanderfolgende Abschnitte unterschieden werden können, von denen jeder einer eigenen inneren Logik folgt. Der erste Abschnitt, der sich bis zur Mitteilung der Beschwerdepunkte erstreckt, beginnt dann, wenn die Kommission in Ausübung der ihr durch den Unionsgesetzgeber verliehenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf verbunden sind, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben; er soll es ihr ermöglichen, zum weiteren Verlauf des Verfahrens Stellung zu nehmen. Der zweite Abschnitt erstreckt sich von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung. Er soll es der Kommission ermöglichen, sich abschließend zu der gerügten Zuwiderhandlung zu äußern (Urteil vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, C‑105/04 P, Slg, EU:C:2006:592, Rn. 38).
338 Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zwei Arten möglicher Folgen nach sich ziehen kann.
339 Zum einen kann die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer dann, wenn sie Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens hat, zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2006, Technische Unie/Kommission, C‑113/04 P, Slg, EU:C:2006:593, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
340 Was die Anwendung der Wettbewerbsregeln angeht, kann die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer einen Grund für die Nichtigerklärung nur im Fall von Beschlüssen darstellen, mit denen die Zuwiderhandlungen festgestellt werden, und soweit erwiesen ist, dass der Verstoß gegen diesen Grundsatz die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen beeinträchtigt hat, einen Grund für eine Nichtigerklärung darstellen. Außerhalb dieser besonderen Fallgestaltung wirkt sich die Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 aus (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2003, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied und Technische Unie/Kommission, T‑5/00 und T‑6/00, Slg, EU:T:2003:342, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung, im Rechtsmittelverfahren insoweit bestätigt durch das Urteil Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, oben in Rn. 337 angeführt, EU:C:2006:592, Rn. 42 und 43).
341 Da jedoch der Beachtung der Verteidigungsrechte als einem Grundsatz, dessen fundamentaler Charakter in der Rechtsprechung des Gerichtshofs mehrfach hervorgehoben wurde (Urteil vom 9. November 1983, Nederlandsche Banden-Industrie-Michelin/Kommission, 322/81, Slg, EU:C:1983:313, Rn. 7), in Verfahren wie dem vorliegenden größte Bedeutung zukommt, muss verhindert werden, dass diese Rechte aufgrund der übermäßigen Dauer der Ermittlungsphase in nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt werden und dass die Verfahrensdauer der Erbringung von Beweisen dafür entgegensteht, dass keine Verhaltensweisen vorlagen, die die Verantwortung der betroffenen Unternehmen auslösen könnten. Aus diesem Grund darf sich die Prüfung einer etwaigen Beeinträchtigung der Ausübung der Verteidigungsrechte nicht auf den Abschnitt beschränken, in dem diese Rechte ihre volle Wirkung entfalten, nämlich den zweiten Abschnitt des Verwaltungsverfahrens. Die Beurteilung der Quelle einer etwaigen Schwächung der Wirksamkeit der Verteidigungsrechte muss sich auf das gesamte Verwaltungsverfahren erstrecken und es in voller Länge einbeziehen (Urteil Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, oben in Rn. 337 angeführt, EU:C:2006:592, Rn. 50).
342 Zum anderen kann die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer dann, wenn sie keine Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens hat, das Gericht dazu veranlassen, den auf der Überschreitung der angemessenen Dauer des Verwaltungsverfahrens beruhenden Verstoß in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung in angemessener Weise wiedergutzumachen, indem es gegebenenfalls die auferlegte Geldbuße herabsetzt (vgl. in diesem Sinne Urteile Technische Unie/Kommission, oben in Rn. 339 angeführt, EU:C:2006:593, Rn. 202 bis 204, und vom 16. Juni 2011, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, T‑240/07, Slg, EU:T:2011:284, Rn. 429 und 434, zu diesem Punkt im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch das Urteil Heineken Nederland und Heineken/Kommission, oben in Rn. 334 angeführt, EU:C:2012:829, Rn. 100).
343 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Dauer eines lang andauernden Verwaltungsverfahrens, um als eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer eingestuft werden zu können, als übermäßig qualifiziert werden muss.
344 Im vorliegenden Fall bestand das Verwaltungsverfahren aus vier aufeinanderfolgenden Abschnitten, wobei der erste vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte lag und die drei folgenden nach dieser Mitteilung.
345 Der erste Abschnitt begann am 9. Januar 2002 mit der Übermittlung der oben in Rn. 23 genannten Dokumente durch das Bundeskartellamt und endete am 30. September 2008 mit dem Erlass der Mitteilung der Beschwerdepunkte.
346 Dann wurde der zweite Abschnitt eröffnet (siehe oben, Rn. 33 bis 39) und mit dem Erlass des ursprünglichen Beschlusses am 30. Juni 2010 beendet.
347 Nach der Erhebung einer ersten Reihe von Klagen (siehe oben, Rn. 10) erließ die Kommission am 30. September 2010 einen ersten Änderungsbeschluss (siehe oben, Rn. 4), um verschiedene Fehler zu korrigieren, die sie in dem ursprünglichen Beschluss festgestellt hatte; hierdurch wurde der dritte Abschnitt des Verwaltungsverfahrens beendet.
348 Schließlich wurde am 4. April 2011 der vierte Abschnitt des Verwaltungsverfahrens mit dem Erlass des zweiten Änderungsbeschlusses durch die Kommission abgeschlossen, mit dem sie eine Ermäßigung der zum einen gegen ArcelorMittal, ArcelorMittal Verderio, ArcelorMittal Fontaine und ArcelorMittal Wire France sowie zum anderen gegen SLM und Ori Martin verhängten Geldbuße gewährte (siehe oben, Rn. 6).
349 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich der vorliegende Klagegrund nur auf die ersten beiden Abschnitte des Verwaltungsverfahrens bezieht.
350 Das Gericht hat am 17. Dezember 2013 im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 eine schriftliche Frage an die Kommission gerichtet, um eine detaillierte Beschreibung der von ihr im Anschluss an die Nachprüfungen vom 19. und 20. September 2002 und bis zum Erlass des ursprünglichen Beschlusses getroffenen Maßnahmen zu erhalten.
351 Die Kommission ist dem mit am 28. Februar 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichtem Schriftsatz nachgekommen.
352 Eine Kopie des Antwortschreibens der Kommission ist den Klägerinnen von der Kanzlei des Gerichts übermittelt worden.
353 Die Kommission legt in ihrer Antwort in detaillierter und überzeugender Weise die von ihr im Verlauf des Verwaltungsverfahrens durchgeführten Maßnahmen und die Gründe dafür dar, dass das Verfahren von 2002 bis 2010 dauerte.
354 Die Dauer des Verwaltungsverfahrens ist im vorliegenden Fall auf mehrere Faktoren zurückzuführen.
355 Zu berücksichtigen sind hierbei die Dauer des Kartells (mehr als 18 Jahre), sein räumlich besonders ausgedehnter Umfang (das Kartell betraf die Mehrzahl der Mitgliedstaaten), die Organisation des Kartells in räumlicher und zeitlicher Hinsicht (die verschiedenen Clubs), die Zahl der Zusammenkünfte, die im Rahmen der verschiedenen Clubs abgehalten wurden (mehr als 500), die Zahl der beteiligten Unternehmen (17), die Zahl der Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung und die besonders hohe Zahl in unterschiedlichen Sprachen abgefasster Dokumente, die im Rahmen der Nachprüfungen zur Verfügung gestellt oder in deren Verlauf sichergestellt wurden und die von der Kommission zu prüfen waren, die verschiedenen ergänzenden Auskunftsverlangen, die die Kommission nach und nach mit zunehmendem Verständnis des Kartells an die verschiedenen betroffenen Gesellschaften richtete, die Zahl der Empfänger der Mitteilung der Beschwerdepunkte (mehr als 40), die Zahl der Verfahrenssprachen (8) sowie die verschiedenen Anträge betreffend die Leistungsfähigkeit (14).
356 Darüber hinaus ist auch festzustellen, dass SLM nicht dargelegt hat, inwiefern ihre Verteidigungsrechte durch die Verfahrensdauer verletzt würden. Die diesbezüglich gemachten Angaben sind nicht stichhaltig. So kann die Behauptung von SLM, sie sei für die ersten ihr zur Last gelegten Jahre der Beteiligung an dem Kartell (1997 und 1998) daran gehindert worden, eine angemessene Verteidigung vorzubereiten, nur ihr selbst zugerechnet werden, da sie ab Herbst 2002 von der von der Kommission durchgeführten Nachprüfung in Bezug auf das Kartell, hinsichtlich dessen ihr zur Last gelegt wird, sich daran beteiligt zu haben, in Kenntnis gesetzt worden war. Im Hinblick auf den Umstand der verspäteten Antwort der Kommission auf den Antrag von SLM auf Anwendung der Kronzeugenregelung hätte sie die von der Kommission für ihre Antwort benötigte Zeit veranlassen müssen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und so bald wie möglich nach Beginn der Nachprüfung im Herbst 2002 ihre Verteidigungslinie aufzubauen. Bei der angeblichen Schwierigkeit, sich wegen des Zeitablaufs zu den ihr zur Last gelegten Tatsachen zu äußern, handelt es sich um einen Umstand, der für sie Anlass hätte sein müssen, rasch zu handeln anstatt zu warten, bis die Beweise und Personen sich zerstreuen.
357 Auf der Grundlage der von der Kommission übermittelten Informationen, die die besondere Komplexität der Angelegenheit verdeutlichen, ist mithin festzustellen, dass die Dauer des Verfahrens trotz seiner Länge nicht als übermäßig qualifiziert werden kann. Die Kommission hat demzufolge nicht gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verstoßen, so dass dieser Klagegrund zurückzuweisen ist.
E – Zur Zurechnung der Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung an die Muttergesellschaft
358 Ori Martin macht geltend, die Kommission habe ihr zur Unrecht die gesamtschuldnerische Haftung für einen Teil der Zuwiderhandlung auferlegt, wobei sich diese Haftung gemäß den Ausführungen in den Rn. 862 bis 875 des angefochtenen Beschlusses aus der Vermutung eines bestimmenden Einflusses aufgrund des Umstands, dass sie zwischen dem 1. Januar 1999 und dem 19. September 2002 nahezu das gesamte Kapital von SLM gehalten habe, ergebe (siehe oben, Rn. 132).
1. Vorbringen der Parteien
359 Ori Martin macht erstens geltend, die Kommission habe, indem sie die Auffassung vertreten habe, dass die zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses vorgetragenen Gesichtspunkte nicht stichhaltig seien, eine einfache Vermutung zu einer unwiderleglichen Vermutung erhoben. Dies verstoße gegen Art. 101 AEUV, gegen den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit, gegen den Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen sowie gegen den dem Gesellschaftsrecht zugrunde liegenden Grundsatz der beschränkten Haftung. Für die Widerlegung der Vermutung dürfe nicht der Nachweis gefordert werden, dass es für die Muttergesellschaft unmöglich sei, einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft auszuüben, sondern nur der Nachweis, dass dieser Einfluss nicht ausgeübt worden sei.
360 Die Tatsache, dass Ori Martin aufgrund ihrer finanziellen Beteiligung ein Interesse an SLM gehabt und eine entsprechende Rolle gespielt habe (Rn. 874 des angefochtenen Beschlusses), reiche nicht aus, um ihr das wettbewerbswidrige Verhalten von SLM zuzurechnen. Ein solches Interesse sei nur die normale Folge einer Beteiligung am Kapital einer Gesellschaft, wobei es sich im Übrigen nicht notwendigerweise um das gesamte Gesellschaftskapital oder um eine Mehrheitsbeteiligung handeln müsse. Grundsätzlich könne eine Zuwiderhandlung nicht einer Person, die sie nicht begangen habe, zugerechnet werden, bzw. sie könne ihr jedenfalls nicht zugerechnet werden, ohne dass dies ausdrücklich und vorab rechtlich vorgesehen sei. Die Kommission müsse beweisen, dass Ori Martin durch ihr eigenes Verhalten zur Erreichung der von allen Beteiligten verfolgten gemeinsamen Ziele habe beitragen wollen und von dem von anderen Unternehmen in Verfolgung dieser Ziele beabsichtigten oder an den Tag gelegten tatsächlichen Verhalten gewusst habe oder dieses vernünftigerweise habe vorhersehen können und bereit gewesen sei, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen.
361 Zweitens macht Ori Martin geltend, die im vorliegenden Fall zur Widerlegung der Vermutung vorgetragenen Gesichtspunkte seien stichhaltig. Sie habe stets als Holding gehandelt, und ihre Beteiligung an SLM sei nur finanzieller Art. Ori Martin sei nie selbst im Spannstahlsektor tätig gewesen. Sie habe mithin mit dem wettbewerbswidrigen Verhalten von SLM nichts zu tun. Sie sei sich des wettbewerbswidrigen Verhaltens von SLM nicht bewusst gewesen bzw. habe sich dessen nicht bewusst sein können. Insbesondere habe sie nie in die strategischen und in die Investitionsentscheidungen von SLM eingegriffen. Sie habe weder eine operationelle Struktur noch Angestellte. Ihre drei Verwaltungsratsmitglieder hätten keinerlei Kenntnisse vom Stahlsektor. Die fehlende Einflussnahme von Ori Martin auf SLM ergebe sich aus den Protokollen der Sitzungen des Verwaltungsrats und der Hauptversammlung der Aktionäre. SLM habe sich nur gelegentlich, für den Ankauf von Walzdraht (2 % der Ankäufe für den Zeitraum 1995 bis 2001), an die Ori‑Martin-Gruppe gerichtet. Ferner beruft sich Ori Martin auch auf das Fehlen eines „Informationsflusses“ zwischen ihr und SLM. Im Übrigen habe die natürliche Person, die für SLM an dem Kartell beteiligt gewesen sei, aus eigenem Antrieb und völlig selbständig gehandelt. Bei Ori Martin habe sie zu keinem Zeitpunkt die geringste Rolle gespielt.
362 Drittens macht Ori Martin geltend, die Kommission habe im angefochtenen Beschluss nicht erläutert, aus welchen Gründen die Tatsache, dass SLM nicht verpflichtet gewesen sei, Ori Martin Bericht zu erstatten, keinen Anhaltspunkt für die Eigenständigkeit ihres Verhaltens darstellen solle. In Anbetracht der während des Verwaltungsverfahrens übermittelten Informationen hätte die Kommission zu dem Schluss kommen müssen, dass Ori Martin das Verhalten von SLM nicht zurückgerechnet werden könne, da jeder Einfluss ihrerseits auf die Tochtergesellschaft ausgeschlossen sei. Diese Beweismittel seien vorliegend ohne Vornahme einer Gesamtbewertung geprüft oder ausgeschlossen bzw. mit derart allgemeinen Erwägungen zurückgewiesen worden, dass ihre Zurückweisung nicht nachvollziehbar sei.
363 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Keiner der von Ori Martin vorgebrachten Gesichtspunkte könne die Vermutung eines bestimmenden Einflusses widerlegen. Was das Profil der Verwaltungsratsmitglieder und den Inhalt der Sitzungsprotokolle des Verwaltungsrats und der Hauptversammlungen anbelangt, macht die Kommission geltend, Ori Martin könne sich zur Beanstandung der im angefochtenen Beschluss vorgenommenen Beurteilung nicht auf diese Umstände berufen, da sie nicht in der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte, sondern nur in der Klageschrift geltend gemacht worden seien.
2. Würdigung durch das Gericht
364 Aus den Akten ergibt sich, dass Ori Martin zwischen dem 1. Januar 1999 und dem 31. Oktober 2001 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft gehalten hat. Weiter ergibt sich aus den Akten, dass Ori Martin zwischen dem 1. November 2001 und dem 19. September 2002 98 % an dieser Tochtergesellschaft unmittelbar und 2 % mittelbar über die Ori Martin Lux SA gehalten hat (Rn. 867 des angefochtenen Beschlusses).
365 Außerdem ergibt sich aus dem angefochtenen Beschluss, dass die Kommission davon ausgegangen ist, dass Ori Martin in Anbetracht des Umstands, dass sie vom 1. Januar 1999 bis zum 19. September 2002 das gesamte oder nahezu gesamte Kapital von SLM gehalten habe, während dieses Zeitraums einen bestimmenden Einfluss auf SLM ausgeübt habe (Rn. 868 des angefochtenen Beschlusses).
366 In der vorliegenden Rechtssache wird zwar nicht die Beziehung zwischen Ori Martin, der Muttergesellschaft, und SLM, der Tochtergesellschaft, bestritten; jedoch wird die von der Kommission daraus gezogene Konsequenz beanstandet. Ori Martin beantragt nämlich die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses, soweit dieser ihr die Verantwortlichkeit für das wettbewerbswidrige Verhalten von SLM für den vorgenannten Zeitraum zurechnet. Diese Zurechnung sei aus den nachstehenden Gründen fehlerhaft.
367 In grundsätzlicher Hinsicht macht Ori Martin geltend, die Kommission habe die Art und die Tragweite der in der Rechtsprechung niedergelegten Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses verfälscht, indem sie davon ausgegangen sei, dass die Annahme einer auf das nahezu ausschließliche Eigentum der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft gestützten Beziehung dafür ausreiche, dass kein Nachweis der tatsächlichen Ausübung eines solchen Einflusses erforderlich sei. Die Kommission könne sich nicht mit der bloßen Eigenschaft als Anteilseigner begnügen, um der Muttergesellschaft das Verhalten der Tochtergesellschaft zuzurechnen. Sie habe nachzuweisen, dass auch Ori Martin in irgendeiner Weise verantwortlich sei, da sie durch ihr eigenes Verhalten zur Zuwiderhandlung habe beitragen wollen oder da sie von der Zuwiderhandlung gewusst haben müsse.
368 Insoweit beruft sich Ori Martin zum einen auf einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV, den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit und den Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen, wonach eine Handlung einer Person, die sie nicht begangen habe, nicht zugerechnet werden könne, und zum anderen auf einen Verstoß gegen die in der Union im Gesellschaftsrecht anerkannten Grundsätze der Rechtspersönlichkeit und der beschränkten Haftung, womit die Haftung auf die Gesellschaft, die die haftungsbegründende Handlung begangen habe, und nicht auf die Gruppe, der sie angehöre, beschränkt werden solle.
369 In tatsächlicher Hinsicht macht Ori Martin geltend, die Kommission habe die verschiedenen im Verwaltungsverfahren angeführten Beweismittel nicht zutreffend gewürdigt. Wären diese angemessen gewürdigt worden, hätte sich daraus ergeben, dass sie keinen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten von SLM habe ausüben können. Diese Beweisführung werde im Übrigen durch die vor Gericht diesbezüglich geltend gemachten ergänzenden Gesichtspunkte untermauert.
370 Ori Martin beruft sich in diesem Rahmen auf eine fehlerhafte Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts durch die Kommission sowie auf einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, den Geleichbehandlungsgrundsatz und den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung.
a) Zur Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses
371 Mit ihrem Vorbringen, die Kommission hätte zum Nachweis des Bestehens eines Unternehmens im Sinne des Unionsrechts den Beweis erbringen müssen, dass die Muttergesellschaft den bestimmenden Einfluss, den Ori Martin aufgrund der Höhe ihrer Beteiligung an ihrer Tochtergesellschaft haben könne, tatsächlich ausgeübt habe und dass es für die Widerlegung dieser Vermutung ausreichend sei, dass Ori Martin beweise, dass dieser Einfluss nicht ausgeübt worden sei, ohne dass der Nachweis erforderlich wäre, dass ihr die Ausübung eines solchen Einflusses unmöglich gewesen sei (siehe oben, Rn. 359), verkennt Ori Martin die Art und die Tragweite der in der Rechtsprechung in einer solchen Fallkonstellation niedergelegten Vermutung.
372 Nach ständiger Rechtsprechung bezeichnet nämlich der Begriff „Unternehmen“ jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Hierzu hat der Gerichtshof zum einen klargestellt, dass in diesem Zusammenhang unter dem Begriff „Unternehmen“ eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen ist, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet wird, und zum anderen, dass eine solche wirtschaftliche Einheit, wenn sie gegen die Wettbewerbsregeln verstößt, nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortung für diese Zuwiderhandlung einzustehen hat (vgl. Urteile vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, Slg, EU:C:2009:536, Rn. 54 bis 56 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, Slg, EU:C:2011:620, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. Juli 2013, Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, C‑440/11 P, Slg, EU:C:2013:514, Rn. 36 und 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
373 Zur Frage, unter welchen Umständen einer juristischen Person, die nicht Urheberin der Zuwiderhandlung ist, dennoch Sanktionen auferlegt werden können, ergibt sich weiter aus ständiger Rechtsprechung, dass einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden kann, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die die beiden Rechtssubjekte verbinden (Urteile Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2009:536, Rn. 58, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 54, sowie Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2013:514, Rn. 38.)
374 Da in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV bilden, kann die Kommission eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre (Urteile Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2009:536, Rn. 59, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 55, sowie Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2013:514, Rn. 39).
375 Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt, dass in dem besonderen Fall, in dem eine Muttergesellschaft das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, eine widerlegbare Vermutung besteht, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausübt (im Folgenden: Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses) (Urteile Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2009:536, Rn. 60, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 56, sowie Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2013:514, Rn. 40).
376 Unter diesen Umständen kann die Kommission schon dann von der Vermutung ausgehen, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaft ausübt, wenn sie nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält. Die Kommission kann in der Folge die Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße heranziehen, sofern die Muttergesellschaft, der es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, keine ausreichenden Beweise dafür erbringt, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt (Urteile Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2009:536, Rn. 61, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 57, sowie Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2013:514, Rn. 41).
377 Mit der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses soll u. a. ein Gleichgewicht zwischen der Bedeutung des Ziels, Verhaltensweisen, die gegen die Wettbewerbsregeln, insbesondere gegen Art. 101 AEUV, verstoßen, zu unterbinden und ihre Wiederholung zu verhindern, einerseits und den Anforderungen bestimmter allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts wie etwa des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, der individuellen Zumessung von Strafen und der Rechtssicherheit sowie der Verteidigungsrechte einschließlich des Grundsatzes der Waffengleichheit andererseits hergestellt werden. Insbesondere aus diesem Grund ist die Vermutung widerlegbar (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 59).
378 Im Übrigen beruht diese Vermutung auf der Feststellung, dass – von wirklich außergewöhnlichen Umständen abgesehen – eine Gesellschaft, die die Gesamtheit des Kapitals einer Tochtergesellschaft hält, allein aufgrund dieser Beteiligung einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben kann und dass es zum anderen normalerweise am zweckmäßigsten ist, in der Sphäre der Einheiten, denen gegenüber diese Vermutung eingreift, zu ermitteln, ob diese Befugnis zur Einflussnahme tatsächlich nicht ausgeübt wurde (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 60).
379 Könnte daher ein Betroffener die genannte Vermutung durch bloße, nicht belegte Behauptungen widerlegen, wäre sie weitgehend nutzlos (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 61).
380 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass sich eine Vermutung – selbst wenn sie schwer zu widerlegen ist – innerhalb akzeptabler Grenzen hält, wenn sie im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel angemessen ist, wenn die Möglichkeit besteht, den Beweis des Gegenteils zu erbringen, und wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind (vgl. Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
381 Aus der Rechtsprechung ergibt sich auch, dass bei der Prüfung der Frage, ob eine Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten autonom bestimmt, sämtliche im Zusammenhang mit ihren wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbindungen zur Muttergesellschaft relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, die von Fall zu Fall variieren und daher nicht abschließend aufgezählt werden können (Urteile Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2009:536, Rn. 74, Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 58, sowie Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2013:514, Rn. 60).
382 Wie oben ausgeführt, besteht somit in dem besonderen Fall, in dem – wie vorliegend – eine Muttergesellschaft das gesamte oder nahezu das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält, von der angenommen wird, dass sie gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, eine widerlegbare Vermutung, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausübt.
383 Wenn eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft zu einem einzigen Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV gehören, ergibt sich daher ‐ entgegen dem Vorbringen von Ori Martin (siehe oben, Rn. 360) ‐ die Befugnis der Kommission, die Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft zu richten, nicht erst aus einer Anstiftung zur Zuwiderhandlung im Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft und schon gar nicht aus einer Beteiligung der Muttergesellschaft an dieser Zuwiderhandlung, sondern aus dem Umstand, dass die betroffenen Gesellschaften ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 88, siehe ebenfalls oben, Rn. 374).
384 Auch muss die Kommission, um in einem konkreten Fall die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu vermuten, neben den Indizien für die Anwendbarkeit und das Eingreifen dieser Vermutung keine zusätzlichen Indizien beibringen (vgl. Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 372 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
385 Da Ori Martin vom 1. Januar 1999 bis zum 19. September 2002 das gesamte bzw. nahezu das gesamte Kapital von SLM gehalten hat, ist in Anbetracht der angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass sich die Kommission zu Recht auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses berufen hat, ohne diesbezüglich weitere Umstände geltend machen zu müssen.
386 Außerdem führt diese Vermutung in Anbetracht ihrer Widerlegbarkeit nicht zu einer automatischen Zuweisung der Verantwortlichkeit an die Muttergesellschaft, die das gesamte Gesellschaftskapital ihrer Tochtergesellschaft hält, was gegen den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit verstieße, auf dem das Wettbewerbsrecht der Union beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2011, General Química u. a./Kommission, C‑90/09 P, Slg, EU:C:2011:21, Rn. 51 und 52).
387 Im Übrigen kann Ori Martin auch nicht geltend machen, dass der Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen in der vorliegenden Rechtssache verletzt worden sei. Nach diesem Grundsatz, der für jedes Verwaltungsverfahren gilt, das zur Verhängung von Sanktionen nach den Wettbewerbsregeln der Union führen kann, darf ein Unternehmen nur für die Handlungen bestraft werden, die ihm individuell zur Last gelegt worden sind. Dieser Grundsatz muss jedoch mit dem Unternehmensbegriff in Einklang gebracht werden. Denn – wie oben in Rn. 383 ausgeführt – nicht ein zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft in Bezug auf die Zuwiderhandlung bestehendes Anstiftungsverhältnis und schon gar nicht eine Beteiligung Ersterer an dieser Zuwiderhandlung, sondern der Umstand, dass sie ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV bilden, verleiht der Kommission die Befugnis, eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft zu richten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2011, General Technic-Otis u. a./Kommission, T‑141/07, T‑142/07, T‑145/07 und T‑146/07, Slg, EU:T:2011:363, Rn. 70 ff., im Rechtsmittelverfahren bestätigt).
388 Auch ist das Vorbringen von Ori Martin zurückzuweisen, die Kommission habe dadurch, dass sie von ihrer gesamtschuldnerischen Haftung ausgegangen sei, gegen den Grundsatz der beschränkten Haftung verstoßen, der sich aus dem innerhalb der Union geltenden Gesellschaftsrecht ergebe. Die beschränkte Haftung von Gesellschaften ist nämlich in erster Linie darauf gerichtet, eine Obergrenze für deren finanzielle Haftung festzusetzen, und soll nicht verhindern, dass ein Unternehmen, das gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen hat, über die juristischen Personen, aus denen es besteht, und insbesondere über die Gesellschaft, die die Zuwiderhandlung begangen hat, und deren Muttergesellschaft, mit einer Sanktion belegt wird, insbesondere dann, wenn diese nahezu das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält und die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf ihre Tochtergesellschaft nicht widerlegen kann.
389 Die von Ori Martin zu diesem Punkt vorgebrachten Rügen sind somit zurückzuweisen.
390 Da Ori Martin vorliegend das gesamte bzw. nahezu das gesamte Kapital von SLM gehalten hat, hat sie somit, um die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu widerlegen, Beweise vorzulegen, die für den Nachweis ausreichen, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftrat. Somit ist zu prüfen, ob die von Ori Martin zur Untermauerung ihrer Beweisführung vorgebrachten Gesichtspunkte geeignet sind, diese Vermutung zu widerlegen.
b) Zu den zur Widerlegung der Vermutung angeführten Beweismitteln
391 Nach dem insbesondere in der Grundrechtecharta, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV den Verträgen rechtlich gleichrangig ist, verankerten Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz hat das Gericht dafür Sorge zu tragen, dass die verschiedenen Gesichtspunkte, die von einer mit einer Sanktion belegten Person zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses geltend gemacht werden, angemessen geprüft werden.
392 Hierzu ist in Erwiderung auf die Ansicht der Kommission, wonach sich Ori Martin zur Beanstandung der im angefochtenen Beschluss erfolgten Zurechnung der Verantwortlichkeit nicht auf die Angaben zum Profil ihrer Verwaltungsratsmitglieder sowie den Inhalt der Sitzungsprotokolle des Verwaltungsrats und der Hauptversammlungen von Ori Martin berufen könne, da diese nicht in der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte, sondern nur in der Klageschrift geltend gemacht worden seien (siehe oben, Rn. 363), darauf hinzuweisen, dass es keine unionsrechtliche Vorschrift gibt, die den Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte zwingt, die verschiedenen in dieser Mitteilung angeführten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte im Verwaltungsverfahren anzugreifen, um das Recht, dies später im Stadium des Gerichtsverfahrens zu tun, nicht zu verwirken (Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, Slg, EU:C:2010:389, Rn. 89).
393 Das ausdrückliche oder stillschweigende Eingeständnis tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte durch ein Unternehmen während des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission kann zwar ein ergänzendes Beweismittel bei der Beurteilung der Begründetheit einer Klage darstellen, kann aber nicht die Ausübung des Rechts natürlicher und juristischer Personen aus Art. 263 Abs. 4 AEUV, beim Gericht Klage zu erheben, an sich einschränken (Urteil Knauf Gips/Kommission, oben in Rn. 392 angeführt, EU:C:2010:389, Rn. 90).
394 Vor diesem Hintergrund sind die verschiedenen von Ori Martin zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses vorgetragenen Gesichtspunkte zu prüfen.
395 Erstens macht Ori Martin geltend, sie habe stets wie eine Holding gehandelt, und ihre Beteiligung an SLM sei nur finanzieller Art. Dies genügt jedoch nicht, um die durch den Umstand, dass sie das gesamte bzw. nahezu das gesamte Kapital von SLM gehalten hat, begründete Vermutung zu widerlegen.
396 Denn im Zusammenhang eines Konzerns hat eine Holdinggesellschaft, die die wirtschaftlichen Investitionen innerhalb des Konzerns koordiniert, die Aufgabe, die Beteiligungen an verschiedenen Gesellschaften zu bündeln und eine einheitliche Leitung sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Oktober 2008, Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, T‑69/04, Slg, EU:T:2008:415, Rn. 63, vom 13. Juli 2011, Shell Petroleum u. a./Kommission, T‑38/07, Slg, EU:T:2011:355, Rn. 70, und vom 29. Juni 2012, E.ON Ruhrgas und E.ON/Kommission, T‑360/09, Slg, EU:T:2012:332, Rn. 283).
397 Im vorliegenden Fall ergibt sich erstens aus dem Auszug aus dem Handels- und Gesellschaftsregister von Luxemburg und aus der Gründungsurkunde der Gesellschaft, die von Ori Martin zur Stützung ihrer Behauptungen übermittelt worden sind, dass diese eine am 4. Dezember 1998 gegründete Aktiengesellschaft luxemburgischen Rechts mit einem Grundkapital von 44 Mio. Euro ist, wobei es sich um einen erheblichen Betrag handelt (das Mindestkapital einer Aktiengesellschaft in Luxemburg beträgt 31000 Euro). Dieses Kapital entspricht dem den Sacheinlagen, die von den drei Aktionären bei der Gründung erbracht wurden, nämlich Anteilen in Höhe von 90 % des Kapitals von Ori Martin und in Höhe von 100 % des Kapitals von Finoger SpA (die beiden Anteilsinhaber von SLM), zugewiesenen Wert.
398 Selbst wenn Ori Martin, wie sie behauptet, weder eine operationelle Struktur noch Angestellte hätte – sie besaß jedoch ein Vertretungsbüro in Lugano (Schweiz) (vgl. Anlage 6, S. 674) –, handelt es sich dennoch nicht um eine Phantomgesellschaft und bloße Mantelgesellschaft, sondern um eine Gesellschaft, die dazu bestimmt war, innerhalb der Ori‑Martin-Gruppe als Beteiligungsgesellschaft luxemburgischen Rechts eine ganz bestimmte Rolle zu spielen.
399 Außerdem ergibt sich aus Art. 2 der Gründungsurkunde, dass der Gesellschaftsgegenstand von Ori Martin Folgendes umfasst: „Gegenstand der Gesellschaft ist die Zeichnung, der Erwerb, die Finanzierung und das Halten – gleich in welcher Form – von Beteiligungen an luxemburgischen oder ausländischen Gesellschaften, Beteiligungsgesellschaften, Konsortien oder Konzernen sowie die Verwaltung der ihr zur Verfügung gestellten Mittel und die Kontrolle, Verwaltung und Verwertung ihrer Beteiligungen.“
400 In ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte und in ihrer Klageschrift beruft sich Ori Martin auf diese Satzungsbestimmung, um geltend zu machen, sie sei nur „eine einfache Beteiligungsgesellschaft“. Ihr Gesellschaftsgegenstand umfasst jedoch sowohl den Erwerb von Beteiligungen als auch die Verwaltung zur Verfügung gestellter Mittel, aber auch „die Kontrolle, Verwaltung und Verwertung ihrer Beteiligungen“. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass es sich bei einer Beteiligung von Ori Martin an einer Gesellschaft nicht um eine ruhende Beteiligung handelt, um die sich der Aktionär nicht mehr weiter kümmert. Nach der Satzung war Ori Martin vielmehr zur Kontrolle, Verwaltung und Verwertung ihrer Beteiligungen verpflichtet, was ein aktives und nicht passives Verhalten bei der Überwachung dieser Beteiligungen impliziert.
401 Ferner macht Ori Martin geltend, dem Profil ihrer drei Verwaltungsratsmitglieder könne entnommen werden, dass deren Bestellung im Hinblick auf eine reine finanzielle Verwaltung der Gesellschaft erfolgt sei, ohne dass ein Eingreifen in das Management der Tochtergesellschaften vorgesehen gewesen sei. Diese Verwaltungsratsmitglieder hätten ferner keine Kenntnis vom Stahlsektor, die ihnen gestattet hätte, in effizienter Art und Weise einzugreifen. Dies werde durch die Prüfung der Sitzungsprotokolle des Verwaltungsrats und der Hauptversammlungen der Aktionäre bestätigt.
402 Aus den Beschlüssen der Gründungsversammlung von Ori Martin (Anlage 4 zur Klageschrift, S. 608) ergibt sich jedoch, dass die Zahl der Verwaltungsratsmitglieder auf drei festgesetzt wurde und es sich ursprünglich um „Herrn [A], Geschäftsführer, wohnhaft [in] Italien, Herrn [E], Lizenziat in Wirtschafts- und Finanzwissenschaften, wohnhaft [in Luxemburg], Frau [L], Angestellte, wohnhaft [in Luxemburg]“ handelte. Herr E. wurde am 21. Dezember 1998 zum Vorsitzenden des Verwaltungsrats bestellt.
403 Nach dem Auszug aus dem Handels- und Gesellschaftsregister von Luxemburg (Anlage 1 zur Klageschrift) waren Verwaltungsratsmitglieder am 3. August 2010 Herr N., wohnhaft in Luxemburg, Herr W., wohnhaft in Luxemburg, und Herr A., zugleich auch Vorsitzender des Verwaltungsrats, wohnhaft in Italien.
404 Herr A. wird in der Satzung als Geschäftsführer ausgewiesen, was den Schluss zulässt, dass er über die erforderlichen Kompetenzen zur Führung einer Gesellschaft, insbesondere unter Berücksichtigung ihres Gesellschaftsgegenstands, verfügt.
405 Aus der Prüfung der Protokolle der Verwaltungsratssitzungen von Ori Martin ergibt sich ferner, dass der Verwaltungsrat Herrn A. mehrfach eine umfassende Vollmacht zur Vertretung der Gesellschaft erteilt oder von diesem Verwaltungsratsmitglied getroffene Entscheidungen genehmigt hat. So ergibt sich beispielsweise aus dem Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 15. September 1999, dass der Verwaltungsrat Herrn A. eine umfassende Vollmacht zur „Vertretung der Gesellschaft bei der Unterzeichnung der Sitzungsprotokolle sämtlicher Hauptversammlung[en] von Tochtergesellschaften in 1999“ erteilt hat (Anlage 6 zur Klageschrift, S. 661). Weiter ergibt sich aus dem Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 3. Mai 2000, dass der Verwaltungsrat Herrn A. eine umfassende Vollmacht zur „Vertretung der Gesellschaft bei den ordentlichen und außerordentlichen Hauptversammlungen der folgenden Gesellschaften: …SLM …“ erteilt hat (Anlage 6 zur Klageschrift, S. 670).
406 Im Übrigen ergibt sich aus der Prüfung der Sitzungsprotokolle der Hauptversammlungen der Aktionäre von Ori Martin, dass im Geschäftsbericht des Verwaltungsrats für die satzungsmäßige Hauptversammlung der Aktionäre vom 6. Juni 2002 in der Rubrik „wichtige Ereignisse im Berichtsjahr“ darauf hingewiesen wurde, dass „die Gesellschaft … die Umorganisation ihrer Tochtergesellschaften nach Geschäftsbereichen fortgesetzt [hat]“ (Anlage 6 zur Klageschrift, S. 692).
407 Diese Beweismittel lassen den Schluss zu, dass zumindest Herr A., der die wichtigen Entscheidungen im Hinblick auf die Tätigkeiten von Ori Martin traf, mehrmals ausdrücklich beauftragt worden war, die Tätigkeiten der verschiedenen Tochtergesellschaften dieser Gesellschaft zu verfolgen. Auch ist Ori Martin innerhalb der Gruppe tätig geworden, um diese umzuorganisieren, was – entgegen ihrer Darstellung – notwendigerweise voraussetzt, dass sie Kenntnis von deren Tätigkeiten hatte.
408 Zweitens beruft sich Ori Martin auf das Fehlen eines „Informationsflusses“ zwischen ihr und SLM und auf den Umstand, dass sie über keine Kenntnis von dem wettbewerbswidrigen Verhalten von SLM verfügt habe bzw. habe verfügen können.
409 Zu diesem letztgenannten Punkt ist bereits festgestellt worden, dass ein solcher Umstand nicht erforderlich ist, um der Muttergesellschaft die Zuwiderhandlung zuzurechnen. Der bereits in der Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgebrachte Hinweis auf das Fehlen eines„Informationsflusses“ wird nicht näher ausgeführt. Ein solcher Hinweis ist jedoch irrelevant, da aus dem Vorstehenden folgt, dass Herr A. aufgrund seiner Kompetenzen, aufgrund seines satzungsgemäßen Auftrags als Verwaltungsratsmitglied und aufgrund des Umstands, dass seine Entscheidungen vom Verwaltungsrat gebilligt wurden, in der Lage war, SLM zu kontrollieren.
410 Drittens bedarf es, um einem Unternehmen eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV zurechnen zu können, keiner Handlung und nicht einmal einer Kenntnis der Inhaber oder Geschäftsführer des betreffenden Unternehmens von der Zuwiderhandlung, sondern es genügt die Handlung einer Person, die berechtigt ist, für das Unternehmen tätig zu werden (Urteile vom 7. Juni 1983, Musique Diffusion française u. a./Kommission, 100/80 bis 103/80, Slg, EU:C:1983:158, Rn. 97, und vom 20. März 2002, Brugg Rohrsysteme/Kommission, T‑15/99, Slg, EU:T:2002:71, Rn. 58).
411 Ori Martin bestreitet nicht, dass die innerhalb des Kartells tätigen Vertreter von SLM von dieser wirksam zur Verpflichtung des Unternehmens ermächtigt worden sind. Der Umstand, dass diese keinerlei Funktion innerhalb der Muttergesellschaft ausübten, ist unerheblich, da sie zur Verpflichtung der an der Zuwiderhandlung beteiligten Tochtergesellschaft befugt waren. Das Vorbringen, diese Personen hätten selbständig gehandelt, ist demzufolge ‐ abgesehen davon, dass es nicht belegt ist ‐ nicht geeignet, SLM und folglich Ori Martin von ihrer Haftung zu entbinden.
412 Infolgedessen ist keines der von Ori Martin vorgebrachten Beweismittel, weder für sich genommen noch in Verbindung mit den übrigen Beweismitteln, geeignet, die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses durch Ori Martin auf SLM zu widerlegen.
413 Was die Rüge einer mangelhaften Begründung anbelangt, ist festzustellen, dass die Begründungspflicht von der Frage der sachlichen Richtigkeit der Begründung zu unterscheiden ist.
414 Nach ständiger Rechtsprechung muss die nach Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Unionsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Anforderungen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere braucht die Kommission nicht auf alle Argumente einzugehen, die die Betroffenen vor ihr geltend gemacht haben, sondern es reicht aus, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführt, denen nach dem Aufbau der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukommt (vgl. Urteil vom 4. März 2009, Associazione italiana del risparmio gestito und Fineco Asset Management/Kommission, T‑445/05, Slg, EU:T:2009:50, Rn. 66 und 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
415 Aus den Rn. 862 bis 875 des angefochtenen Beschlusses ergibt sich jedoch rechtlich hinreichend, dass die Kommission die Gründe, aus denen sie der Ansicht war, dass die von Ori Martin vorgebrachten Argumente nicht geeignet seien, die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu widerlegen, dargelegt hat. Der angefochtene Beschluss enthält eine hinreichende Begründung zu diesem Punkt, und die auf einen Begründungsmangel gestützte Rüge ist demnach zurückzuweisen.
416 Im Übrigen kann auch der auf die Verletzung des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung gestützte Klagegrund, soweit es sich dabei um eine von der Verletzung der Begründungspflicht zu unterscheidende Rüge handelt, nicht durchgreifen.
417 Nach ständiger Rechtsprechung gehört nämlich zu den Garantien, die durch die Rechtsordnung der Union in Verwaltungsverfahren gewährt werden, u. a. der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, der die Verpflichtung des zuständigen Organs umfasst, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen (Urteile vom 21. November 1991, Technische Universität München, C‑269/90, Slg, EU:C:1991:438, Rn. 14, und vom 29. März 2012, Kommission/Estland, C‑505/09 P, Slg, EU:C:2012:179, Rn. 95).
418 Aus dem angefochtenen Beschluss geht hervor, dass die Kommission die von Ori Martin im Verwaltungsverfahren zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses vorgebrachten Argumente sorgfältig und unparteiisch untersucht hat und dass die Tatsache, dass sie diese zurückgewiesen hat, nicht mit einer Verletzung des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung gleichgesetzt werden kann.
419 Auch kann der Kommission nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie sich weder im Einzelnen noch global zu Beweismitteln geäußert hat, die ihr im Verwaltungsverfahren nicht vorgelegt worden sind.
420 Zu der auf die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gestützten Rüge ist darauf hinzuweisen, dass Ori Martin hierzu ausführt, die Kommission habe für andere an dem Kartell beteiligte Gesellschaften das „Bestehen von Berichtslinien“ und die „Verpflichtung der Tochtergesellschaft zur Berichterstattung gegenüber der Muttergesellschaft“ berücksichtigt, was in ihrer Situation nicht der Fall gewesen sei. Zwar hat Ori Martin in ihrer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte (Anlage 5 zur Klageschrift, Rn. 62) das Fehlen von „Berichtspflichten“ von SLM ihr gegenüber geltend gemacht. Die Berücksichtigung dieses Vortrags, selbst wenn man ihn als erwiesen unterstellte, ist jedoch nicht geeignet, die vorstehende Argumentation in Frage zu stellen, die zur Schlussfolgerung führt, dass Ori Martin einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausgeübt hat, insbesondere um ihre Beteiligung zu verwalten, zu kontrollieren und zu verwerten, wie es sich aus ihrem Gesellschaftsgegenstand und aus den Tätigkeiten ihrer Verwaltungsratsmitglieder ergibt.
421 Die verschiedenen, zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses geltend gemachten Rügen sind demnach zurückzuweisen.
422 Folglich ist der Klagegrund betreffend die Zurechnung der Verantwortlichkeit für die von SLM begangene Zuwiderhandlung an Ori Martin insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
423 Die Kommission hat zum einen Ori Martin und SLM zu Recht ab dem 1. Januar 1999 und bis zum 19. September 2002 auf der Grundlage der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses aufgrund dessen, dass Ori Martin nahezu das gesamte Kapital von SLM gehalten hat, gesamtschuldnerisch haftbar gemacht und ist zum anderen ebenfalls zu Recht davon ausgegangen, dass Ori Martin diese Vermutung nicht widerlegt hat.
424 Hierzu ergibt sich aus der Untersuchung der dem Gericht vorgelegten Beweismittel, dass tatsächlich festgestellt werden kann, dass Ori Martin einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausgeübt hat, insbesondere um ihre Beteiligung zu verwalten, zu kontrollieren und zu verwerten, wie es sich aus ihrem Gesellschaftsgegenstand und aus den Tätigkeiten ihrer Verwaltungsratsmitglieder ergibt.
F – Zum Antrag von SLM auf Verzinsung des überschießenden Teils der bereits gezahlten Geldbuße
425 In der Erwiderung nimmt SLM zum zweiten Änderungsbeschluss Stellung und beantragt, der Kommission aufzugeben, ihr die aufgelaufenen Zinsen auf den bereits gezahlten und von der Kommission im Anschluss an die durch den zweiten Änderungsbeschluss vorgenommenen Änderungen zurückgezahlten Betrag zu zahlen.
426 In der Gegenerwiderung weist die Kommission diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass er unangemessen sei, dass die Ermäßigung der Geldbuße im zweiten Änderungsbeschluss, die erfolgt sei, um zu gewährleisten, dass diese im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Größe und das Umsatzvolumen des mit der Sanktion belegten Unternehmens nicht unverhältnismäßig sei, zur Ausübung des der Kommission zustehenden Ermessens gehöre und dass die Zahlung von Zinsen zu einer weiteren Ermäßigung der Geldbuße führen würde, die den Adressaten des zweiten Änderungsbeschlusses einen doppelten Vorteil verschaffen würde.
427 Wie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, ist keines der von der Kommission vorgetragenen Argumente geeignet, darzutun, dass sich SLM im konkreten Fall ungerechtfertigt bereichert hätte.
428 Dagegen ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass der zweite Änderungsbeschluss, mit dem die SLM auferlegte Geldbuße ermäßigt wurde, keine Rückzahlung des überschießenden Betrags mit Zinsen auf Antrag des Betroffenen vorgesehen hat.
429 Darüber hinaus geht aus dem vorliegenden Verfahren weder hervor, dass SLM einen entsprechenden Antrag bei der Kommission gestellt, noch dass diese zu einem solchen Antrag in einer sie beschwerenden und demzufolge vor dem Gericht anfechtbaren Rechtshandlung Stellung genommen hätte
430 In Ermangelung jeder Stellungnahme der Kommission zu einem solchen Antrag von SLM auf Zahlung von Zinsen auf den überschießenden Teil der Geldbuße, den sie im Anschluss an den ersten Änderungsbeschluss gezahlt hatte und der ihr aufgrund des zweiten Änderungsbeschlusses zurückgezahlt worden war, ist das Gericht mithin nicht dafür zuständig, über den von SLM in ihrer Stellungnahme zum zweiten Änderungsbeschluss gestellten Antrag auf Erteilung einer Anordnung zu befinden, da sich eine solche Zuständigkeit insbesondere nicht aus Art. 263 AEUV oder Art. 261 AEUV in Verbindung mit Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 ergibt.
431 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Antrag von SLM auf Verzinsung des überschießenden Teils der bereits gezahlten Geldbuße zurückzuweisen ist.
G – Zu den Anträgen betreffend die für die Beteiligung an der Zuwiderhandlung auferlegte Sanktion, die Ausübung der Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung durch das Gericht und die Festsetzung der Geldbuße
432 Die in Anwendung von Art. 261 AEUV dem Gericht durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 erteilte Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ermächtigt dieses, über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Sanktion hinaus, die nur die Abweisung der Nichtigkeitsklage oder die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts ermöglicht, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß den angefochtenen Rechtsakt, auch ohne ihn für nichtig zu erklären, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände abzuändern und, wenn ihm die Frage nach der Höhe der Geldbuße zur Beurteilung vorgelegt worden ist, u. a. ihre Höhe anders festzusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, C‑3/06 P, Slg, EU:C:2007:88, Rn. 61 und 62, sowie vom 3. September 2009, Prym und Prym Consumer/Kommission, C‑534/07 P, Slg, EU:C:2009:505, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).
433 Die Klägerinnen beantragen u. a., die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären, die gesamtschuldnerisch mit Ori Martin gegen SLM verhängte Geldbuße neu festzusetzen und die gegen Ori Martin festgesetzte Geldbuße aufzuheben oder neu festzusetzen.
434 Aus dem Vorstehenden ergibt sich bereits, dass Art. 1 Nr. 16 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären ist, soweit er SLM die Beteiligung an einer fortdauernden Vereinbarung und/oder abgestimmten Verhaltensweise im Spannstahlsektor des Binnenmarkts sowie des EWR vom 10. Februar 1997 bis zum 14. April 1997 zurechnet. Ferner ist Art. 2 Nr. 16 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, weil darin gegen die Klägerinnen eine unverhältnismäßige Geldbuße zur Ahndung der Beteiligung von SLM an der einheitlichen Zuwiderhandlung vom 15. April 1997 bis zum 19. September 2002 verhängt wird, da diese Geldbuße unter Berücksichtigung der Beteiligung von SLM an der in Art. 1 des angefochtenen Beschlusses genannten Zuwiderhandlung festgesetzt wurde.
435 Darüber hinaus hat das Gericht die gegen SLM und – aufgrund der Beteiligung von SLM an der einheitlichen Zuwiderhandlung zum Teil gesamtschuldnerisch – gegen Ori Martin zu verhängende Geldbuße festzusetzen.
436 Dazu ist festzustellen, dass die Festsetzung einer Geldbuße durch das Gericht dem Wesen nach kein streng mathematischer Vorgang ist. Im Übrigen ist das Gericht weder an die Berechnungen der Kommission noch an deren Leitlinien gebunden, wenn es aufgrund seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung entscheidet, sondern es hat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine eigene Beurteilung vorzunehmen (vgl. Urteil vom 5. Oktober 2011, Romana Tabacchi/Kommission, T‑11/06, Slg, EU:T:2011:560, Rn. 266 und die dort angeführte Rechtsprechung).
437 Im vorliegenden Fall ergibt sich für die Festsetzung der Geldbuße zur Ahndung der Beteiligung von SLM an der einheitlichen Zuwiderhandlung aus Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003, dass sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen ist, und aus dem Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen folgt, dass der Situation jedes Zuwiderhandelnden im Hinblick auf die Zuwiderhandlung Rechnung zu tragen ist. Dies hat insbesondere dann zu erfolgen, wenn es sich um eine komplexe Zuwiderhandlung von langer Dauer der von der Kommission im angefochtenen Beschluss beschriebenen Art handelt, die durch die Heterogenität der Beteiligten gekennzeichnet ist.
438 Das Gericht hält es vorliegend für angemessen, die folgenden Umstände zu berücksichtigen.
439 Zum einen geht aus den Akten mit hinreichender Beweiskraft hervor, dass SLM an mehreren Zusammenkünften des Club Italia teilgenommen hat, in denen es um die Zuteilung von Quoten und die Preisfestsetzung für den italienischen Markt ging. Solche Vereinbarungen gehören ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Wettbewerbsbeschränkungen.
440 Die Beteiligung von SLM an den Zusammenkünften des Club Italia ist ein wesentlicher Faktor bei der Beurteilung der Sanktion, und dieser Faktor ist angesichts des wettbewerbswidrigen Zwecks der in diesem Club geführten Gespräche bereits für sich genommen besonders aussagekräftig, unabhängig davon, ob es sich für SLM um Gespräche zum Innenaspekt der Absprache oder, im Anschluss, um Gespräche zu deren Außenaspekt handelte.
441 Insoweit ist das Gericht der Auffassung, dass die Umsätze, die in Staaten erzielt wurden, die nicht von dem Kartell betroffen waren, an dem SLM tatsächlich und konkret vom 15. April 1997 bis zum 10. September 2000 beteiligt war, nicht bei der Festsetzung der Geldbuße zu berücksichtigen sind.
442 Da die Informationen, die den handschriftlichen Notizen von ITC zur Zusammenkunft vom 10. Februar 1997 entnommen werden können, um SLM die Zuwiderhandlung zuzurechnen, nicht durch weitere Beweismittel untermauert werden, kann dieses Datum auch nicht als Beginn der Beteiligung von SLM am Club Italia zugrunde gelegt werden. Eine solche Beteiligung geht jedoch rechtlich hinreichend aus den Beweismitteln hinsichtlich der Zusammenkunft vom 15. April 1997 hervor und ist ebenso ohne Unterbrechung bis zum 19. September 2002 belegt.
443 Zum anderen kann zu Recht davon ausgegangen werden, dass SLM ab dem 29. November 1999 wusste oder hätte wissen müssen, dass sie über die Beteiligung am Club Italia in einen mehrere Ebenen beinhaltenden umfassenderen Plan eingebunden war, dessen Ziel es war, den Spannstahlmarkt auf europäischer Ebene zu stabilisieren, um einem Preisverfall entgegenzuwirken (Rn. 650 des angefochtenen Beschlusses und oben, Rn. 129).
444 Ebenso kann zu Recht davon ausgegangen werden, dass SLM im Zeitraum vom 11. September 2000 bis zum 19. September 2002 am Club Europa teilgenommen hat, was dem Zeitraum entspricht, in dem SLM begann, über die Zulassungen für den Vertrieb von Spannstahl in bestimmten Staaten zu verfügen, die Gegenstand des Club Europa waren und für die Gespräche mit dem Club Italia über den Umfang der Quoten, die den italienischen Exporteuren eingeräumt werden könnten, geführt wurden.
445 SLM hat demnach erst in einem späteren Stadium als andere Unternehmen von der ihr von der Kommission zur Last gelegten einheitlichen Zuwiderhandlung Kenntnis erlangt und an einem anderen Aspekt dieser Zuwiderhandlung als dem Club Italia teilgenommen. Aus den oben in Rn. 320 ausgeführten Gründen kann diese relativ späte Kenntniserlangung jedoch keine wesentlichen Auswirkungen auf die Festsetzung der Geldbuße haben.
446 Zugleich ist festzustellen, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass SLM an der Vereinbarung für Südeuropa, am Club España oder an der Abstimmung in Bezug auf den Kunden Addtek, die wesentliche Aspekte der einheitlichen Zuwiderhandlung darstellen, teilgenommen hätte.
447 In Anbetracht dieser Umstände hält das Gericht eine Geldbuße in Höhe von 19 Mio. Euro für angebracht, um das rechtswidrige Verhalten von SLM wirksam und in nicht unerheblicher und hinreichend abschreckender Weise zu ahnden. Jede höhere Geldbuße stünde bei einer Beurteilung anhand sämtlicher die Beteiligung von SLM an der einheitlichen Zuwiderhandlung kennzeichnender Umstände außer Verhältnis zu der den Klägerinnen zur Last gelegten Zuwiderhandlung.
448 Diese Geldbuße trägt der Tatsache Rechnung, dass SLM für einen Teil der Zuwiderhandlung nicht am Außenaspekt des Club Italia teilgenommen hat, und nimmt den 15. April 1997 als Ausgangspunkt. Das Gericht ist der Ansicht, dass es damit der schrittweisen Beteiligung von SLM an der Zuwiderhandlung hinreichend Rechnung getragen hat, wobei darauf hingewiesen wird, dass sich SLM von Anfang an an einem nicht unwesentlichen Aspekt der einheitlichen Zuwiderhandlung beteiligt hat und sich im Anschluss in vollem Umfang, in einer der Beteiligung der Hauptakteure des Club Italia vergleichbaren Art und Weise am Kartell beteiligt hat.
449 Zum diesbezüglichen Vorbringen von Ori Martin ist aus den vorgenannten Gründen festzustellen, dass Ori Martin gesamtschuldnerisch für die Zahlung eines Teils dieser Geldbuße haftet. In Anbetracht der Dauer des Zeitraums, für den vermutet wird, dass Ori Martin einen bestimmenden Einfluss auf SLM ausüben konnte, ist festzustellen, dass Ori Martin für den Zeitraum vom 1. Januar 1999 bis zum 19. September 2002 in Höhe von 13,3 Mio. Euro gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Geldbuße haftet.
450 Diese Geldbuße trägt dem Umstand Rechnung, dass Ori Martin, wie von der Kommission im angefochtenen Beschluss festgestellt, nicht als für die gesamte gegen SLM verhängte Geldbuße verantwortlich angesehen werden kann.
451 Im Übrigen kann der Endbetrag der gegen SLM individuell verhängten Geldbuße wegen der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen gesetzlichen Obergrenze von 10 % des Gesamtumsatzes nicht über 1,956 Mio. Euro hinausgehen.
452 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die gegen SLM verhängte Geldbuße von 19,8 Mio. Euro auf 19 Mio. Euro (Zeitraum 15. April 1997 bis 19. September 2002) herabzusetzen und zu entscheiden ist, dass Ori Martin in Höhe von 13,3 Mio. Euro gesamtschuldnerisch für die Zahlung dieser Geldbuße haftet (Zeitraum 1. Januar 1999 bis 19. September 2002). Im Übrigen wird wegen der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen gesetzlichen Obergrenze von 10 % des Gesamtumsatzes der Endbetrag der gegen SLM individuell verhängten Geldbuße auf 1,956 Mio. Euro (Zeitraum 15. April 1997 bis 31. Dezember 1998) festgesetzt.
453 Im Übrigen gibt es für das Gericht keine Veranlassung, den Beweisanträgen (Zeugenvernehmung der Vertreter von Redaelli und ITC, Liste der mit der Angelegenheit befassten Beamten) von SLM stattzugeben, da diese für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erforderlich erscheinen.
454 Da das Gericht außerdem unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände den angefochtenen Rechtsakt im Wege der unbeschränkten Nachprüfung der Höhe der ihm zur Beurteilung vorgelegten Geldbuße abgeändert hat, ist über den von SLM im Anschluss an den zweiten Änderungsbeschluss geltend gemachten Klagegrund, in dessen Rahmen sie vorgetragen hat, die in dem ursprünglichen Beschluss vorgenommene Unterteilung der Geldbuße sei in Anbetracht der von der Kommission in den Leitlinien von 2006 dargelegten Methode fehlerhaft gewesen, nicht mehr zu entscheiden.
455 Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
Kosten
456 Nach Art. 134 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten. Das Gericht kann jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint.
457 Unter den Umständen des vorliegenden Falls ist in Anbetracht der Ermäßigung der von der Kommission gegen die Klägerinnen verhängten Geldbuße und der Tatsache, dass die ursprüngliche Klageschrift von SLM einen auf den Verstoß gegen die gesetzliche Obergrenze von 10 % gestützten Klagegrund enthielt, auf den im Anschluss an den Erlass des zweiten Änderungsbeschlusses verzichtet wurde, zu entscheiden, dass die Kommission ihre eigenen Kosten sowie zwei Drittel der Kosten von SLM und ein Drittel der Kosten von Ori Martin trägt, die somit den Rest ihrer eigenen Kosten tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Rechtssachen T‑389/10 und T‑419/10 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
2. Art. 1 Nr. 16 des Beschlusses K(2010) 4387 endg. der Kommission vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 EWR-Abkommen (COMP/38.344 – Spannstahl) in der durch den Beschluss K(2010) 6676 endg. der Kommission vom 30. September 2010 und durch den Beschluss C(2011) 2269 final der Kommission vom 4. April 2011 geänderten Fassung wird für nichtig erklärt, soweit der Siderurgica Latina Martin SpA (SLM) die Beteiligung an einer fortdauernden Vereinbarung und/oder abgestimmten Verhaltensweise im Spannstahlsektor des Binnenmarkts und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) vom 10. Februar 1997 bis 14. April 1997 zugerechnet wird.
3. Art. 2 Nr. 16 des Beschlusses K(2010) 4387 endg. in der durch den Beschluss K(2010) 6676 endg. und durch den Beschluss C(2011) 2269 final geänderten Fassung wird für nichtig erklärt.
4. Die gegen SLM verhängte Geldbuße wird von 19,8 Mio. Euro auf 19 Mio. Euro ermäßigt, wobei die Ori Martin SA für 13,3 Mio. Euro gesamtschuldnerisch haftet; wegen der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 vorgesehenen Obergrenze von 10 % des Gesamtumsatzes wird der Endbetrag der gegen SLM verhängten Geldbuße auf 1,956 Mio. Euro festgesetzt, für die sie individuell haftet.
5. Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
6. Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten, zwei Drittel der Kosten von SLM und ein Drittel der Kosten von Ori Martin.
7. SLM trägt ein Drittel ihrer eigenen Kosten.
8. Ori Martin trägt zwei Drittel ihrer eigenen Kosten.
Frimodt Nielsen
Dehousse
Collins
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 9. Dezember 2014.#Riva Fire SpA gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Markt für Bewehrungsrundstahl in Form von Stäben oder Ringen – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 KS nach Auslaufen des EGKS-Vertrags auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 festgestellt wird – Festsetzung von Preisen und Zahlungsfristen – Beschränkung oder Kontrolle der Produktion oder des Absatzes – Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften – Zuständigkeit der Kommission – Rechtsgrundlage – Konsultation des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen – Verteidigungsrechte – Definition des räumlichen Marktes – Anwendung des Grundsatzes der lex mitior – Verstoß gegen Art. 65 KS – Geldbußen – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Verhältnismäßigkeit – Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996.#Rechtssache T‑83/10.
|
62010TJ0083
|
ECLI:EU:T:2014:1034
| 2014-12-09T00:00:00 |
Gericht
|
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Urteil des Gerichts (Vierte erweiterte Kammer) vom 6. März 2024.#AAT Byelorussian Steel Works - management company of "Byelorussian Metallurgical Company" holding (BSW - management company of "BMC" holding) gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus – Verbote in Bezug auf die Einfuhr, den Erwerb, die Beförderung und die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen auf dem Sektor der Eisen- und Stahlerzeugnisse aus Belarus – Begründungspflicht – Gleichbehandlung – Missbrauch von Befugnissen – Verhältnismäßigkeit – Eigentumsrecht – Unternehmerische Freiheit.#Rechtssache T-258/22.
|
62022TJ0258
|
ECLI:EU:T:2024:150
| 2024-03-06T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0258 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 28. April 2021.#Ammar Sharif gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Syrien – Einfrieren von Geldern – Beurteilungsfehler – Verhältnismäßigkeit – Eigentumsrecht – Recht auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit.#Rechtssache T-540/19.
|
62019TJ0540
|
ECLI:EU:T:2021:220
| 2021-04-28T00:00:00 |
Gericht
|
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 5. Oktober 2017.#Sirine Bent Zine El Abidine Ben Haj Hamda Ben Ali gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in Tunesien – Einfrieren von Geldern – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Rechtsgrundlage – Auf einen neuen Grund gestützte Wiederaufnahme des Namens der Klägerin – Begründungspflicht – Tatsachengrundlage – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-149/15.
|
62015TJ0149
|
ECLI:EU:T:2017:693
| 2017-10-05T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TJ0149 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 26. Oktober 2016.#Aiman Jaber gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Syrien – Einfrieren von Geldern – Nichtigerklärung der früheren Rechtsakte durch ein Urteil des Gerichts – Neue Rechtsakte, mit denen der Name des Klägers in die Listen aufgenommen wird – Nichtigkeitsklage – Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung – Inhalt der Klageschrift – Zulässigkeit – Begründungspflicht – Beweislast – Eigentumsrecht – Unternehmerische Freiheit.#Rechtssache T-154/15.
|
62015TJ0154
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ECLI:EU:T:2016:629
| 2016-10-26T00:00:00 |
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 26. Oktober 2016.#Khaled Kaddour gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Syrien – Einfrieren von Geldern – Nichtigerklärung der früheren Rechtsakte durch ein Urteil des Gerichts – Neue Rechtsakte, mit denen der Name des Klägers in die Listen aufgenommen wird – Nichtigkeitsklage – Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung – Inhalt der Klageschrift – Zulässigkeit – Begründungspflicht – Beweislast – Eigentumsrecht – Unternehmerische Freiheit.#Rechtssache T-155/15.
|
62015TJ0155
|
ECLI:EU:T:2016:628
| 2016-10-26T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TJ0155 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 26. Oktober 2016.#Mohamad Hamcho und Hamcho International gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen‑ und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Syrien – Einfrieren von Geldern – Nichtigerklärung der früheren Rechtsakte durch ein Urteil des Gerichts – Neue Rechtsakte, mit denen die Namen der Kläger in die Listen aufgenommen werden – Nichtigkeitsklage – Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung – Inhalt der Klageschrift – Zulässigkeit – Begründungspflicht – Beweislast – Eigentumsrecht – Unternehmerische Freiheit.#Rechtssache T-153/15.
|
62015TJ0153
|
ECLI:EU:T:2016:630
| 2016-10-26T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62015TJ0153
URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)
26. Oktober 2016 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen gegen Syrien — Einfrieren von Geldern — Nichtigerklärung der früheren Rechtsakte durch ein Urteil des Gerichts — Neue Rechtsakte, mit denen die Namen der Kläger in die Listen aufgenommen werden — Nichtigkeitsklage — Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung — Inhalt der Klageschrift — Zulässigkeit — Begründungspflicht — Beweislast — Eigentumsrecht — Unternehmerische Freiheit“
In der Rechtssache T‑153/15
Mohamad Hamcho, wohnhaft in Damaskus (Syrien),
und
Hamcho International mit Sitz in Damaskus,
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte A. Boesch, D. Amaudruz und M. Ponsard,
Kläger,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch G. Étienne und S. Kyriakopoulou als Bevollmächtigte,
Beklagter,
betreffend eine auf Art. 263 AEUV gestützte Klage auf Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses (GASP) 2015/117 des Rates vom 26. Januar 2015 zur Durchführung des Beschlusses 2013/255/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Syrien (ABl. 2015, L 20, S. 85) und der Durchführungsverordnung (EU) 2015/108 des Rates vom 26. Januar 2015 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 36/2012 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien (ABl. 2015, L 20, S. 2), soweit der Name der Kläger in die Liste der Personen und Organisationen aufgenommen wurde, auf die die restriktiven Maßnahmen Anwendung finden,
erlässt
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten M. van der Woude sowie des Richters I. Ulloa Rubio (Berichterstatter) und der Richterin A. Marcoulli,
Kanzler: E. Coulon,
folgendes
Urteil
Sachverhalt
1 Herr Mohamad Hamcho, ein Geschäftsmann mit syrischer Staatsangehörigkeit, ist Vorsitzender der Hamcho International (im Folgenden zusammen: Kläger), einer syrischen Gesellschaft, die auf die Bereiche Telekommunikation, Tourismus, Fahrzeugvermietung und Vertretung ausländischer, insbesondere europäischer Unternehmen spezialisiert ist.
2 Nach schärfster Verurteilung der gewaltsamen Unterdrückung friedlicher Proteste an verschiedenen Orten in Syrien und der an die syrischen Sicherheitskräfte gerichteten Aufforderung, Zurückhaltung zu wahren, statt Gewalt auszuüben, erließ der Rat der Europäischen Union am 9. Mai 2011 den Beschluss 2011/273/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Syrien (ABl. 2011, L 121, S. 11). In Anbetracht der ernsten Lage veranlasste der Rat ein Waffenembargo, ein Verbot der Ausfuhr von Ausrüstung, die zur internen Repression verwendet werden kann, Beschränkungen für die Einreise in die Europäische Union sowie das Einfrieren der Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen bestimmter Personen und Organisationen, die für das gewaltsame Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung in Syrien verantwortlich sind.
3 Die Namen der Personen, die für die gewaltsame Repression gegen die Zivilbevölkerung in Syrien verantwortlich sind, sowie die Namen der natürlichen oder juristischen Personen und Organisationen, die mit ihnen in Verbindung stehen, sind im Anhang des Beschlusses 2011/273 aufgeführt. Gemäß Art. 5 Abs. 1 dieses Beschlusses kann der Rat diesen Anhang auf Vorschlag eines Mitgliedstaats oder des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ändern. Der Name der Kläger war in dieser Liste nicht aufgeführt.
4 Da bestimmte der gegen die Arabische Republik Syrien ergriffenen restriktiven Maßnahmen in den Anwendungsbereich des AEU-Vertrags fallen, erließ der Rat die Verordnung (EU) Nr. 442/2011 vom 9. Mai 2011 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien (ABl. 2011, L 121, S. 1). Diese Verordnung ist im Wesentlichen mit dem Beschluss 2011/273 identisch, sieht aber Möglichkeiten der Freigabe der eingefrorenen Gelder vor. Die im Anhang II dieser Verordnung enthaltene Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, die entweder als verantwortlich für die in Rede stehende Unterdrückung oder als mit diesen Verantwortlichen in Verbindung stehend eingestuft werden, stimmt mit derjenigen im Anhang des Beschlusses 2011/273 überein. Der Name der Kläger war in dieser Liste somit nicht aufgeführt. Nach Art. 14 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 442/2011 ändert der Rat den Anhang II entsprechend, wenn er beschließt, die genannten restriktiven Maßnahmen auf eine natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung anzuwenden, und überprüft im Übrigen die darin enthaltene Liste in regelmäßigen Abständen und mindestens alle zwölf Monate.
1. Früheres Verfahren bezüglich der Kläger
5 Mit dem Durchführungsbeschluss 2011/302/GASP des Rates vom 23. Mai 2011 zur Durchführung des Beschlusses 2011/273 (ABl. 2011, L 136, S. 9) änderte der Rat den Beschluss 2011/273, um u. a. die fraglichen restriktiven Maßnahmen auf weitere Personen und Organisationen anzuwenden. Der Name von Herrn Hamcho wurde in die Liste im Anhang des letztgenannten Beschlusses aufgenommen, und zwar in Zeile 19 der diesen Anhang bildenden Tabelle. Diese Zeile enthielt verschiedene Angaben, darunter das Datum der Eintragung seines Namens in die fragliche Liste, nämlich den 23. Mai 2011, sein Geburtsdatum und seine Passnummer sowie die folgenden Gründe:
„Schwager von Mahir Al-Assad; Geschäftsmann und lokaler Vertreter mehrerer ausländischer Gesellschaften; finanziert das Regime, wodurch die Repression gegen Demonstranten ermöglicht wird.“
6 Am selben Tag erließ der Rat auf der Grundlage des Art. 215 Abs. 2 AEUV und des Beschlusses 2011/273 die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 504/2011 zur Durchführung der Verordnung Nr. 442/2011 (ABl. 2011, L 136, S. 45). Der Name von Herrn Hamcho wurde in die Liste in Anhang II der letztgenannten Verordnung mit den gleichen Angaben und Gründen wie im Anhang des Durchführungsbeschlusses 2011/302 eingefügt.
7 Mit dem Durchführungsbeschluss 2011/367/GASP vom 23. Juni 2011 zur Durchführung des Beschlusses 2011/273 (ABl. 2011, L 164, S. 14) wandte der Rat die fraglichen restriktiven Maßnahmen auf weitere Personen und Organisationen an, deren Namen in die Liste im Anhang des letztgenannten Beschlusses eingefügt wurden. Der Name des Unternehmens Hamcho International wurde in diese Liste in Zeile 3 der Tabelle B dieses Anhangs eingefügt, die verschiedene Angaben enthielt, darunter das Datum der Eintragung seines Namens in die fragliche Liste, nämlich den 23. Juni 2011, und seine Anschrift sowie die folgenden Gründe:
„Kontrolliert von Mohamed Hamcho bzw. Hamsho; finanziert das Regime.“
8 Am selben Tag erließ der Rat die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 611/2011 zur Durchführung der Verordnung Nr. 442/2011 (ABl. 2011, L 164, S. 1). Der Name des Unternehmens Hamcho International wurde in die Liste in Anhang II der letztgenannten Verordnung mit den gleichen Angaben und Gründen wie im Anhang des Durchführungsbeschlusses 2011/367 eingefügt.
9 Im Beschluss 2011/782/GASP vom 1. Dezember 2011 über restriktive Maßnahmen gegen Syrien und zur Aufhebung des Beschlusses 2011/273 (ABl. 2011, L 319, S. 56) hielt es der Rat angesichts der sehr ernsten Lage in Syrien für erforderlich, dass zusätzliche restriktive Maßnahmen verhängt werden. Der Klarheit halber wurden die durch den Beschluss 2011/273 verhängten Maßnahmen und die ergänzenden Maßnahmen in einem einzigen Rechtsinstrument zusammengefasst. Der genannte Beschluss stellt fest, dass die angeführten restriktiven Maßnahmen auch auf „Personen [Anwendung finden], … die von dem Regime profitieren oder dieses unterstützen“. Die Namen der Kläger waren in der Liste des Anhangs I des Beschlusses 2011/782 – in Zeile 19 der Tabelle A bezüglich Herrn Hamcho und in Zeile 3 der Tabelle B bezüglich Hamcho International – mit den gleichen Informationen und Gründen wie im Anhang des Beschlusses 2011/273, durchgeführt durch die Durchführungsbeschlüsse 2011/302 und 2011/367, aufgeführt.
10 Die Verordnung Nr. 442/2011 wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 36/2012 des Rates vom 18. Januar 2012 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 442/2011 (ABl. 2012, L 16, S. 1) ersetzt. Die Namen der Kläger waren in der Liste des Anhangs II der Verordnung Nr. 36/2012 mit den gleichen Informationen und Gründen wie im Anhang II der Verordnung Nr. 442/2011, durchgeführt durch die Durchführungsverordnungen Nr. 504/2011 und Nr. 611/2011, aufgeführt.
11 Am 30. Januar 2012 erhoben die Kläger vor dem Gericht Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/273, des Beschlusses 2011/782, der Verordnung Nr. 442/2011 und der Verordnung Nr. 36/2012 in den jeweils bis zum Tag der Einreichung der Klage durchgeführten oder geänderten Fassungen, soweit diese Rechtsakte sie betrafen. Diese Klage wurde unter dem Aktenzeichen T‑43/12 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen.
12 Mit dem Durchführungsbeschluss 2012/172/GASP des Rates vom 23. März 2012 zur Durchführung des Beschlusses 2011/782 (ABl. 2012, L 87, S. 103) und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 266/2012 des Rates vom 23. März 2012 zur Durchführung des Artikels 32 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/2012 (ABl. 2012, L 87, S. 45) wurden die Gründe in Bezug auf Herrn Hamcho, die in Anhang II des Beschlusses 2011/782 und der Verordnung Nr. 36/2012 aufgeführt waren, durch die folgenden Gründe ersetzt:
„Syrischer Geschäftsmann und lokaler Vertreter mehrerer ausländischer Gesellschaften; zählt zum engeren Kreis um Maher Al-Assad, verwaltet zum Teil dessen finanzielle und wirtschaftliche Interessen und finanziert damit das Regime.“
13 Mit dem Beschluss 2012/739/GASP des Rates vom 29. November 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Syrien und zur Aufhebung des Beschlusses 2011/782 (ABl. 2012, L 330, S. 21) wurden die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen in einem einzigen Rechtsinstrument zusammengefasst. Die Namen der Kläger waren in der Liste des Anhangs I des Beschlusses 2012/739 – in Zeile 18 der Tabelle A bezüglich Herrn Hamcho und in Zeile 3 der Tabelle B bezüglich Hamcho International – mit den gleichen Informationen und Gründen wie im Beschluss 2011/782, durchgeführt durch den Durchführungsbeschluss 2012/172, aufgeführt.
14 Der Rat erließ am 31. Mai 2013 den Beschluss 2013/255/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Syrien (ABl. 2013, L 147, S. 14). Die Namen der Kläger waren in der Liste des Anhangs I dieses Beschlusses – in Zeile 18 der Tabelle A bezüglich Herrn Hamcho und in Zeile 3 der Tabelle B bezüglich Hamcho International – mit den gleichen Informationen und Gründen wie im Anhang des Beschlusses 2012/739 aufgeführt.
15 Mit Schriftsätzen zur Anpassung der Anträge, die am 22. Juni 2012, 7. Januar und 24. Juni 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, beantragten die Kläger zudem die Nichtigerklärung insbesondere des Durchführungsbeschlusses 2012/172, der Durchführungsverordnung Nr. 266/2012, des Beschlusses 2012/739, des Durchführungsbeschlusses 2013/185/GASP des Rates vom 22. April 2013 zur Durchführung des Beschlusses 2012/739 (ABl. 2013, L 111, S. 77), der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 363/2013 des Rates vom 22. April 2013 zur Durchführung der Verordnung Nr. 36/2012 (ABl. 2013, L 111, S. 1) und des Beschlusses 2013/255.
16 Mit Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International/Rat (T‑43/12, nicht veröffentlicht, im Folgenden: Urteil Hamcho und Hamcho International I, EU:T:2014:946), gab das Gericht der von den Klägern erhobenen Nichtigkeitsklage teilweise statt und erklärte die Verordnung Nr. 36/2012, die Durchführungsverordnung Nr. 266/2012, die Durchführungsverordnung Nr. 363/2013 und den Beschluss 2013/255 mit Wirkung vom 23. Januar 2015 für nichtig, soweit diese Rechtsakte die Kläger betrafen.
17 Der Rat legte gegen das Urteil Hamcho und Hamcho International I kein Rechtsmittel ein.
2. Verfahren der Wiederaufnahme des Namens der Kläger in die streitigen Listen
18 Mit Schreiben vom 19. Dezember 2014 setzte der Rat die Anwälte der Kläger davon in Kenntnis, dass er beabsichtige, die Namen der Kläger erneut in die Listen der von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen und Organisationen in Anhang I des Beschlusses 2013/255 und Anhang I der Verordnung Nr. 36/2012 (im Folgenden: streitige Listen) aufzunehmen. Er nannte die Gründe, die er für die Wiederaufnahme anzuführen beabsichtigte, und übermittelte eine Kopie der Dokumente und des Informationsmaterials (mit den Referenznummern RELEX MD 342/14 und RELEX MD 343/14), auf die er sich stützen wollte, um den Vorschlag der Wiederaufnahme zu begründen. Der Rat setzte den Klägern eine Frist zur eventuellen Stellungnahme.
19 Mit Schreiben vom 15. Januar 2015 verlangten die Anwälte der Kläger vom Rat, von der erneuten Aufnahme der Namen der Kläger in die streitigen Listen abzusehen. Sie erhoben Einwände gegen alle Informationen und Dokumente, die nach Auffassung des Rates diese erneute Aufnahme stützten.
20 Am 26. Januar 2015 erließ der Rat den Durchführungsbeschluss 2015/117/GASP zur Durchführung des Beschlusses 2013/255 (ABl. 2015, L 20, S. 85). Am selben Tag erließ er die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2015/108 zur Durchführung der Verordnung Nr. 36/2012 (ABl. 2015, L 20, S. 2). Durch diese Rechtsakte wurde der Name der Kläger erneut in die streitigen Listen aufgenommen.
21 Der Name von Herrn Hamcho wurde in Zeile 18 der Tabelle, die die fraglichen Listen enthielt, unter der Überschrift „A. Personen“ wiederaufgenommen, wobei die Wiederaufnahme auf folgenden Gründe gestützt wurde:
„Bekannter syrischer Geschäftsmann, Eigentümer von Hamcho International, der Schlüsselpersonen des syrischen Regimes, einschließlich Präsident Bashar al-Assad und Maher al-Assad, nahesteht. Infolge seiner Ernennung durch Wirtschaftsminister Khodr Orfali bekleidet er seit März 2014 das Amt des Vorsitzenden für China in den Bilateralen Wirtschaftsräten. Mohammed Hamcho ist selbst Unterstützer und Nutznießer des syrischen Regimes und steht in Verbindung mit Personen, die Nutznießer und Unterstützer des Regimes sind.“
22 Der Name von Hamcho International wurde in Zeile 3 der Tabelle, die die fraglichen Listen enthielt, unter der Überschrift „B. Organisationen“ wiederaufgenommen, wobei die Wiederaufnahme auf folgenden Gründe gestützt wurde:
„Hamcho International Ist eine große syrische Holdinggesellschaft im Eigentum von Mohammed Hamcho. Hamcho International Ist selbst Unterstützer und Nutznießer des Regimes und steht in Verbindung mit einer Person, die Nutznießer und Unterstützer des Regimes ist.“
23 Mit Schreiben vom 27. Januar 2015, das an die Kläger sowie an die Anwälte der Kläger gerichtet war, erwiderte der Rat auf deren Schreiben vom 15. Januar 2015 und übermittelte ihnen eine Kopie des Durchführungsbeschlusses 2015/117 und der Durchführungsverordnung 2015/108 (im Folgenden: angefochtene Rechtsakte) sowie neues Informationsmaterial zur Untermauerung der genannten Rechtsakte (mit der Referenznummer RELEX MD 66/15).
Verfahren und Anträge der Parteien
24 Die Kläger haben mit Klageschrift, die am 27. März 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte erhoben.
25 Mit besonderem Schriftsatz, der am 27. März 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Kläger einen Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren nach Art. 76a § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 gestellt.
26 Die Kläger haben mit besonderem Schriftsatz, der am 15. Mai 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, mit der der Vollzug der angefochtenen Rechtsakte, soweit diese sie betreffen, bis zur Entscheidung des Gerichts zur Hauptsache ausgesetzt wird.
27 Mit Beschluss vom 20. Mai 2015, Hamcho und Hamcho International/Rat (T‑153/15 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:298), hat der Präsident des Gerichts diesen Antrag als unzulässig zurückgewiesen.
28 Mit Entscheidung vom 3. Juni 2015 hat das Gericht den Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren zurückgewiesen.
29 Das Gericht (Siebte Kammer) hat gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
30 Die Kläger beantragen,
—
die Beiziehung der Akten des Verfahrens T‑43/12 anzuordnen;
—
den Klägern das Recht auf eine Erwiderung und darauf, bei dieser Gelegenheit neue Schriftstücke vorzulegen und Zeugen zu benennen, vorzubehalten;
—
die angefochtenen Rechtsakte für nichtig zu erklären;
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
31 Der Rat beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
den Klägern die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
1. Zum ersten Klageantrag
32 Mit dem ersten Klageantrag beantragen die Kläger die „Beiziehung der Akten des Verfahrens T‑43/12“. Im Wesentlichen wollen sie erreichen, dass das Gericht im vorliegenden Verfahren die Beiziehung der Akten der Rechtssache anordnet, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist.
33 Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass für jede beim Gericht eingereichte Rechtssache eine eigene Akte angelegt wird, die insbesondere die von den Parteien in der betreffenden Rechtssache vorgelegten Schrift- und Verfahrensstücke umfasst, und dass jede dieser Akten daher völlig eigenständig ist. Dies findet seinen Niederschlag in den Praktischen Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung (ABl. 2015, L 152, S. 1), wonach „Verfahrensschriftstücke nebst Anlagen, die in einer Rechtssache eingereicht und zu den Akten dieser Rechtssache genommen worden sind, … nicht bei der Vorbereitung der Entscheidung in einer anderen Rechtssache berücksichtigt werden [können]“ (Beschluss vom 15. Oktober 2009, Hangzhou Duralamp Electronics/Rat, T‑459/07, EU:T:2009:403, Rn. 12).
34 Zum anderen entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass gemäß den Bestimmungen über das Verfahren in Rechtssachen vor dem Gericht die Parteien Schutz gegen unangemessene Verwendung von Verfahrensstücken genießen, so dass die an einer Rechtssache als Partei Beteiligten von den Verfahrensakten der anderen Beteiligten, zu denen sie Zugang erhalten haben, nur für die Vertretung ihrer eigenen Interessen im Rahmen dieser Rechtssache Gebrauch machen dürfen (vgl. Beschluss vom 15. Oktober 2009, Hangzhou Duralamp Electronics/Rat, T‑459/07, Slg, EU:T:2009:403, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Ferner steht es nach ständiger Rechtsprechung den Parteien eines Verfahrens, abgesehen von Ausnahmefällen, in denen die Verbreitung eines Schriftstücks die ordnungsgemäße Rechtspflege beeinträchtigen könnte, grundsätzlich frei, ihre eigenen Schriftsätze Dritten zugänglich zu machen. In diesem Sinne könnte eine an einem Verfahren beteiligte Partei unter dem gleichen Vorbehalt der Verwendung eines von ihr im Rahmen dieses Verfahrens eingereichten Schriftsatzes durch einen anderen Beteiligten im Rahmen eines anderen Verfahrens zustimmen (vgl. Beschluss vom 15. Oktober 2009, Hangzhou Duralamp Electronics/Rat, T‑459/07, EU:T:2009:403, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Nur wenn das Gericht den Inhalt der Akten der Rechtssache, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist, als der Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits dienlich ansehen sollte, könnte es schließlich ihre Vorlegung im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme nach Art. 89 der Verfahrensordnung anordnen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 15. Oktober 2009, Hangzhou Duralamp Electronics/Rat, T‑459/07, EU:T:2009:403, Rn. 15).
37 Im vorliegenden Fall haben die Kläger der Klageschrift, die am 27. März 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, als Anlage die wesentlichen Schriftsätze aus den Akten der Rechtssache, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist, bereits beigefügt, nämlich zum einen die Klageschrift und die Erwiderung der Kläger (Anlagen A.1 und A.3) und zum anderen die Klagebeantwortung und die Gegenerwiderung des Rates (Anlagen A.2 und A.4).
38 Aufgrund der vorstehend in den Rn. 34 und 35 angeführten Rechtsprechung hat der Kanzler der Gerichts mit Schreiben vom 9. April 2015 die Kläger gefragt, ob sie vom Rat die Genehmigung erhalten hätten, die Klagebeantwortung und die Gegenerwiderung des Rates in der Rechtssache, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist, als Anlagen A.2 und A.4 zu ihrer Klageschrift vorzulegen. Da die Kläger diese Frage verneint haben, sind die genannten Anlagen aufgrund des Beschlusses des Präsidenten der Siebten Kammer des Gerichts vom 4. Mai 2015 aus den vorliegenden Akten entfernt worden.
39 Das mit dem ersten Klageantrag gestellte Begehren der Kläger ist somit dahin zu verstehen, dass es sich auf sämtliche Dokumente der Akten der Rechtssache bezieht, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist, mit Ausnahme der Klageschrift und der Erwiderung, die bereits Teil der Akten der vorliegenden Rechtssache sind.
40 Auch wenn sowohl die Rechtssache, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist, als auch die vorliegende Rechtssache die Aufnahme der Namen derselben Kläger in die Listen der restriktiven Maßnahmen betreffen, die der Rat gegen die Arabische Republik Syrien ergriffen hat, ist festzustellen, dass sich die beiden Rechtssachen auf verschiedene Rechtsakte beziehen und die vom Rat jeweils vorgebrachte Begründung und die zur Stützung der genannten Aufnahmen beigebrachten Beweise für jede dieser Rechtssachen spezifisch sind. Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass die Kläger die konkreten Aktenstücke, die ihnen die Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte ermöglichen sollen, nicht näher bezeichnet haben. Es ist somit davon auszugehen, dass die Heranziehung der Akten der Rechtssache, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist, wie sie die Kläger begehren, nicht geeignet ist, zusätzliche Informationen von Bedeutung für die Beurteilung der Begründetheit der in der vorliegenden Rechtssache angefochtenen Rechtsakte zu liefern. Eine prozessleitende Maßnahme ist somit unter Berücksichtigung der vorstehend in Rn. 36 angeführten Rechtsprechung nicht gerechtfertigt.
41 Nach alledem ist nicht anzuordnen, dass in dem vorliegenden Verfahren die Akten der Rechtssache beigezogen werden, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist.
42 Der erste Klageantrag ist somit zurückzuweisen.
2. Zum zweiten Klageantrag
43 Mit dem zweiten Klageantrag beantragen die Kläger, ihnen „das Recht auf eine Erwiderung und darauf, bei dieser Gelegenheit neue Schriftstücke vorzulegen und Zeugen zu benennen, vorzubehalten“.
44 Was erstens den Antrag betrifft, in der vorliegenden Rechtssache eine Erwiderung einreichen zu können, ist daran zu erinnern, dass die Kläger vom Gericht gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung aufgefordert worden sind, bis zum 10. September 2015 eine Erwiderung einzureichen. Sie haben sodann eine Verlängerung der Frist für die Einreichung des genannten Schriftsatzes beantragt, die ihnen vom Gericht am 26. August 2015 gewährt worden ist. Die Kläger haben die Erwiderung am 9. Oktober 2015 eingereicht. Hieraus folgt, dass der Teil des zweiten Klageantrags, der sich auf die Einreichung einer Erwiderung bezieht, gegenstandslos geworden ist.
45 Was zweitens den Antrag betrifft, bei Einreichung der Erwiderung neue Schriftstücke vorlegen zu können, sieht Art. 85 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung vor, dass ein Kläger ausnahmsweise das Recht erhalten kann, nach dem ersten Austausch von Schriftsätzen Beweise oder Beweisangebote vorzulegen, sofern die Verspätung der Vorlage gerechtfertigt ist.
46 Im vorliegenden Fall kann die Vorlage neuer Schriftstücke nicht zugelassen werden, da ihr zum einen ein rein spekulativer Antrag zugrunde liegt und sie zukünftige und hypothetische Beweise betrifft, die die Kläger noch nicht beigebracht haben. Zum anderen haben die Kläger entgegen den Erfordernissen des Art. 85 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung nicht begründet, weshalb die verspätete Einreichung von Schriftstücken zur Ergänzung der Klageschrift gerechtfertigt sein soll.
47 Was drittens den Teil des Antrags betrifft, der sich auf die Benennung von Zeugen bezieht, ist daran zu erinnern, dass nach Art. 88 Abs. 2 der Verfahrensordnung die antragstellende Partei, wenn der Antrag nach dem ersten Schriftsatzwechsel gestellt wird, die Gründe darzulegen hat, aus denen ihr eine frühere Antragstellung unmöglich war.
48 Im vorliegenden Fall ist erneut darauf hinzuweisen, dass die Kläger keine Gründe für die eventuelle Verzögerung bei der Nennung eines Zeugen genannt haben, so dass auch dieses Begehren und damit der zweite Klageantrag insgesamt zurückzuweisen ist.
3. Zum dritten Klageantrag
49 Mit ihrem dritten Klageantrag beantragen die Kläger die Nichtigerklärung der angefochtenen Rechtsakte.
Zur Zulässigkeit
50 Ohne eine förmliche Einrede gemäß Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu erheben, äußert der Rat Zweifel an der Zulässigkeit des Antrags der Kläger auf Nichtigerklärung wegen eines Verstoßes gegen Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung. Der Rat macht insbesondere geltend, dass die Klageschrift ungenau und nicht ausreichend detailliert sei, und beanstandet, dass sich die Kläger darauf beschränkten, systematisch auf die Anlagen zu ihrer Klageschrift und auf die Rechtssache zu verweisen, in der das Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), ergangen ist. Der Rat ist der Auffassung, diese Verweise könnten nicht die formalen und wesentlichen Mängel der Klageschrift heilen.
51 Die Kläger tragen zu dem Vorbringen des Rates zur Unzulässigkeit nichts vor.
52 Nach Art. 76 Abs. 1 Buchst. d der Verfahrensordnung muss die Klageschrift den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen hinreichend klar und deutlich sein, um dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht gegebenenfalls ohne weitere Informationen die Entscheidung über die Klage zu ermöglichen. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sich die Klage stützt, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben (Beschluss vom 11. Januar 2013, Charron Inox und Almet/Kommission und Rat, T‑445/11 und T‑88/12 , nicht veröffentlicht, EU:T:2013:4, Rn. 57).
53 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass sich die vorgebrachten Klagegründe hinreichend verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben. Zum einen nämlich machen die Kläger geltend, dass die Begründung und die vom Rat in der vorliegenden Rechtssache beigebrachten Schriftstücke identisch seien mit denen, die in der vorhergehenden Rechtssache vorgelegt worden seien, und dass die Dokumente zur Stützung der angefochtenen Rechtsakte ebenso wie ihre Informationsquellen unbestimmt und abstrakt seien. Zum anderen tragen die Kläger vor, ihre Eigentumsrechte und ihre Rechte auf wirtschaftliche Freiheit seien bereits dadurch verletzt, dass ihre Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden seien. Außerdem ist die Tatsache, dass der Beklagte seine Verteidigung vorbereiten konnte, eine Bestätigung dafür, dass die Angaben in der Klageschrift hinreichend klar und deutlich sind, um dem Gericht die Entscheidung über die Klage zu ermöglichen.
54 Demzufolge ist die vorliegende Klage zulässig, so dass ihre Begründetheit zu prüfen ist.
Zur Begründetheit
55 Die Kläger machen im Wesentlichen drei Klagegründe geltend. Mit dem ersten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt. Mit dem zweiten Klagegrund werden eine Verletzung der Beweisregeln und ein Fehler bei der Beurteilung der Stichhaltigkeit der Gründe für die Aufnahme ihres Namens in die streitigen Listen gerügt. Mit dem dritten Klagegrund wird ein Verstoß gegen ihre Eigentumsrechte und Rechte auf wirtschaftliche Freiheit gerügt.
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht
56 Im Rahmen des ersten Klagegrundes machen die Kläger geltend, die Begründung des Rates und die von ihm vorgelegten Schriftstücke unterschieden sich inhaltlich nicht von der Begründung und den Schriftstücken, die das Gericht bereits im Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), berücksichtigt habe, und seien im Verhältnis zu diesen nicht neu.
57 Nach ständiger Rechtsprechung dient die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, die aus dem Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte folgt, dem Zweck, zum einen den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsrichter zulässt, und zum anderen dem Unionsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die durch Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Was die im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erlassenen restriktiven Maßnahmen angeht, ist zu betonen, dass der Erfüllung der Begründungspflicht, da dem Betroffenen vor dem Erlass eines Ausgangsbeschlusses über das Einfrieren von Geldern kein Anhörungsrecht zusteht, eine umso größere Bedeutung zukommt, als sie die einzige Gewähr dafür bietet, dass der Betroffene zumindest nach dem Erlass eines solchen Beschlusses die ihm zur Überprüfung von dessen Rechtmäßigkeit zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe sachgerecht in Anspruch nehmen kann (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Daher muss die Begründung eines Rechtsakts des Rates, mit dem eine Maßnahme des Einfrierens von Geldern verhängt wird, die besonderen und konkreten Gründe nennen, aus denen der Rat in Ausübung seines Ermessens annimmt, dass der Betroffene einer solchen Maßnahme zu unterwerfen sei (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Das Begründungserfordernis ist jedoch nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten an Erläuterungen haben können (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Insbesondere ist ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihn in die Lage versetzt, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Im vorliegenden Fall begründete der Rat zum einen die Wiederaufnahme des Namens von Herrn Hamcho in die streitigen Listen wie folgt:
„Bekannter syrischer Geschäftsmann, Eigentümer von Hamcho International, der Schlüsselpersonen des syrischen Regimes, einschließlich Präsident Bashar al-Assad und Maher al-Assad, nahesteht. Infolge seiner Ernennung durch Wirtschaftsminister Khodr Orfali bekleidet er seit März 2014 das Amt des Vorsitzenden für China in den Bilateralen Wirtschaftsräten. Mohammed Hamcho ist selbst Unterstützer und Nutznießer des syrischen Regimes und steht in Verbindung mit Personen, die Nutznießer und Unterstützer des Regimes sind.“
65 Zum anderen begründete der Rat die Wiederaufnahme von Hamcho International In die streitigen Listen wie folgt:
„Hamcho International Ist eine große syrische Holdinggesellschaft im Eigentum von Mohammed Hamcho. Hamcho International Ist selbst Unterstützer und Nutznießer des Regimes und steht in Verbindung mit einer Person, die Nutznießer und Unterstützer des Regimes ist.“
66 Was erstens das Vorbringen der Kläger betrifft, die Begründung, die der Rat zur Rechtfertigung der Aufnahme ihres Namens in die streitigen Rechtsakte benutzte, sei dieselbe wie die, die den mit dem Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International/Rat (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), für nichtig erklärten angefochtenen Rechtsakten zugrunde liege, ist festzustellen, dass dieses Vorbringen als nicht stichhaltig zurückzuweisen ist. Aus Rn. 108 des Urteils vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International/Rat (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), geht nämlich hervor, dass der Rat im Rahmen einer erneuten Prüfung die Möglichkeit hat, den Namen der Kläger auf der Grundlage von rechtlich ausreichend gestützten Gründen wieder in die Listen der restriktiven Maßnahmen aufzunehmen. Infolgedessen kann ein Beschluss über die Wiederaufnahme, der aus denselben Gründen erlassen wurde wie denen, die bei der ersten Aufnahme berücksichtigt worden waren, als Rechtfertigung für die genannte Aufnahme genügen, sofern die vom Rat beigebrachten Beweismittel die Gründe rechtlich hinreichend stützen.
67 Außerdem unterscheidet sich entgegen den Ausführungen der Kläger die Begründung, die sich aus den streitigen Listen in der vorliegenden Rechtssache ergibt, ohnehin von der Begründung, die der Rat im Rahmen der mit dem Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International/Rat (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), für nichtig erklärten angefochtenen Rechtsakte benutzte. Der Name der Kläger war ursprünglich wegen ihrer finanziellen Unterstützung des Regimes in die Listen im Anhang des Beschlusses 2011/273 und der Verordnung Nr. 442/2011 aufgenommen worden. Dagegen stützt sich die neue Begründung zum einen darauf, dass Herr Hamcho ein bekannter syrischer Geschäftsmann ist, zum anderen auf seine Nähe zu den Schlüsselpersonen des Regimes und schließlich darauf, dass er das Amt des Vorsitzenden für China in den Bilateralen Wirtschaftsräten in Vertretung der Arabischen Republik Syrien bekleidet. Hieraus folgt, dass die Kläger Unterstützer und Nutznießer des Regimes sind, indem sie in Verbindung mit Personen stehen, die Nutznießer und Unterstützer des Regimes sind.
68 Zweitens ist davon auszugehen, dass die Begründung des Rates in den Rechtsakten, die in der vorliegenden Rechtssache angefochten werden, den oben in den Rn. 57 bis 63 wiedergegebenen Regeln entspricht. Insbesondere ist nicht zu bestreiten, dass diese Begründung den Klägern die Möglichkeit gibt, zu verstehen, weshalb ihr Name angesichts ihrer bedeutenden Rolle in der syrischen Wirtschaft erneut in die streitigen Listen aufgenommen wurde, zumal sie durch die erste Aufnahme bereits Kenntnis von dem Zusammenhang und der Tragweite der gegen sie ergriffenen Maßnahmen hatten.
69 Wie sich ferner aus ihrem Vorbringen ergibt, reichte die Begründung des Rates ganz offensichtlich aus, um ihnen die Erhebung der vorliegenden Klage und dem Unionsrichter die Ausübung seiner Rechtmäßigkeitskontrolle zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 72).
70 Im vorliegenden Fall bestreiten die Kläger, dass die zur Stützung der Begründung der angefochtenen Rechtsakte im Rahmen der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Dokumente neu seien. Sie stellen auch deren Beweiskraft in Frage und sind der Auffassung, dass sie die angefochtenen Rechtsakte rechtlich nicht hinreichend stützten.
71 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Stichhaltigkeit der Gründe zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Die Begründung eines Rechtsakts soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen dieser Rechtsakt beruht. Weisen die Gründe Fehler auf, so beeinträchtigen diese die materielle Rechtmäßigkeit des genannten Rechtsakts, nicht aber dessen Begründung, die, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält, zureichend sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, EU:C:2012:718, Rn. 60).
72 Nach alledem ist der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht geltend gemacht wird, zurückzuweisen. Was die Stichhaltigkeit der Gründe angeht, die der Rat in Bezug auf die Kläger berücksichtigt hat, sind die insoweit vorgebrachten Ausführungen im Rahmen eines gesonderten Klagegrundes zu prüfen.
Zum zweiten Klagegrund: Verletzung der Beweisregeln und offensichtlicher Fehler bei der Beurteilung der Stichhaltigkeit der in den angefochtenen Rechtsakten angeführten Gründe
73 Dieser Klagegrund besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen. Als Erstes tragen die Kläger vor, der Rat habe kein Schriftstück vorgelegt, das sich von den Schriftstücken, die das Gericht bereits im Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International/Rat (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), berücksichtigt habe, inhaltlich unterscheide oder im Verhältnis zu diesen neu sei. Für ihre Ausführungen beziehen sie sich auf ihr Schreiben vom 15. Januar 2015 (vgl. Anhang A.10 zur Klageschrift). Auch werfen sie dem Rat vor, dass die Dokumente, die zur Begründung der Wiederaufnahme ihres Namens in die angefochtenen Rechtsakte vorgelegt worden seien, unbestimmt und abstrakt seien und jeder Beweiskraft entbehrten. Als Zweites machen die Kläger geltend, die Wiederaufnahme sei offensichtlich missbräuchlich und auf den Willen des Rates zurückzuführen, ihren Namen in den streitigen Listen zu belassen.
74 Der Rat tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
75 Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete Effektivität der gerichtlichen Kontrolle u. a., dass sich der Unionsrichter, wenn er die Rechtmäßigkeit der Begründung einer Entscheidung prüft, den Namen einer bestimmten Person in die Liste der von den Sanktionen betroffenen Personen aufzunehmen oder auf dieser Liste zu belassen, vergewissert, dass diese Entscheidung auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der tatsächlichen Umstände voraus, die in der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Begründung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um diese Entscheidung zu stützen – belegt sind (Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 119).
76 Im Streitfall ist es Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person vorliegenden Gründe nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person, den negativen Nachweis zu erbringen, dass diese Gründe nicht stichhaltig sind. Die vorgelegten Informationen oder Beweise müssen die Gründe stützen, die gegen die betroffene Person vorliegen. Lässt sich die Stichhaltigkeit eines Grundes anhand dieser Angaben nicht feststellen, schließt der Unionsrichter ihn als Grundlage der fraglichen Entscheidung über die Aufnahme in die Liste oder die Belassung auf ihr aus (Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 121 bis 123).
77 Im vorliegenden Fall ist zunächst zu prüfen, ob der Rat der ihm gemäß Art. 47 der Charta der Grundrechte obliegenden Beweislast nachgekommen ist, insbesondere unter Berücksichtigung des Vorbringens der Kläger in den Rn. 50 und 51 ihrer Klageschrift.
– Zum ersten Teil: Verletzung der Beweisregeln
78 Als Erstes ist, soweit die Kläger in Rn. 49 der Klageschrift für ihre Darlegung, dass der Rat die Schriftstücke neu vorgelegt habe, insgesamt auf ihr Schreiben vom 15. Januar 2015 verweisen, dieser Verweis als unzulässig zurückzuweisen. Der Text der Klageschrift kann nämlich zwar zu speziellen Punkten durch Bezugnahmen auf bestimmte Abschnitte beigefügter Schriftstücke untermauert und ergänzt werden, doch kann eine pauschale Bezugnahme auf andere Schriftstücke, auch wenn sie der Klageschrift als Anlagen beigefügt sind, nicht das Fehlen der wesentlichen Bestandteile in der Klageschrift ausgleichen. Es ist nicht Sache des Gerichts, die Klagegründe und Argumente, auf die sich die Klage möglicherweise stützen lässt, in den Anlagen zu suchen und zu bestimmen, denn die Anlagen haben eine bloße Beweis‑ und Hilfsfunktion (vgl. Beschluss vom 19. Mai 2008, TF1/Kommission, T‑144/04, EU:T:2008:155, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung, Urteil vom 25. Oktober 2012, Arbos/Kommission, T‑161/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:573, Rn. 23).
79 Als Zweites ist bezüglich des in den Rn. 50 und 51 der Klageschrift geltend gemachten Vorwurfs erstens festzustellen, dass die Kläger die fehlende Relevanz der Schriftstücke rügen, auf die der Rat weiter seine Behauptung stütze, Herr Hamcho sei der Schwager von Herrn Maher al-Assad. Die Kläger tragen vor, dieser Aspekt sei bereits vom Gericht zurückgewiesen worden.
80 Auch wenn es sicherlich zutrifft, dass der Rat den Klägern einen Presseartikel übermittelte, aus dem hervorgeht, dass Herr Hamcho der Schwager von Herrn Maher al-Assad ist, diesen Grund allerdings nicht weiter als Rechtfertigung für die Wiederaufnahme von dessen Namen verwendet, so enthält diese Dokumentation gleichwohl weiteres Informationsmaterial, das zur Stützung der in Bezug auf die Kläger gegebenen neuen Begründung ebenfalls zweckdienlich ist, nämlich dass Herr Hamcho ein bekannter syrischer Geschäftsmann ist, der Schlüsselpersonen des Regimes wie Maher al-Assad nahesteht, und dass er Eigentümer von Hamcho International Ist, einer großen syrischen Holdinggesellschaft, die in mehreren Bereichen der syrischen Wirtschaft tätig ist. Der Rat weist in Rn. 12 seiner Klagebeantwortung im Übrigen darauf hin, dass er sich zur Untermauerung der in den angefochtenen Rechtsakten gegebenen Begründung nicht auf die Information gestützt habe, dass Herr Hamcho der Schwager von Herrn Maher al-Assad sei.
81 Somit ist davon auszugehen, dass der genannte Artikel entgegen den Ausführungen der Kläger für die Untermauerung der Gründe für die Wiederaufnahme ihres Namens in die streitigen Listen relevant ist.
82 Zweitens beanstanden sie, dass die vorgelegten neuen Schriftstücke unbestimmt und abstrakt seien, und stellen ihre Beweiskraft in Frage, weil die primäre Quelle der in ihnen enthaltenen Informationen nicht benannt werde.
83 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Rat den Klägern die Dokumente vom 17. Dezember 2014 bzw. 23. Januar 2015 mit den Referenznummern RELEX MD 342/14, RELEX MD 343/14 und RELEX MD 66/15 vorlegte (vgl. Anlagen A.9 und A.11 zur Klageschrift), um die Wiederaufnahme der Kläger in die streitigen Listen zu rechtfertigen. Es handelte sich um drei Dokumente mit öffentlich zugänglichem Informationsmaterial, die nach Auffassung des Rates den die Kläger betreffenden allgemeinen und persönlichen Kontext erläutern sollten. Im Einzelnen enthält das Dokument mit der Referenznummer RELEX MD 342/14 eine Zusammenfassung der gegen die Kläger herangezogenen Gründe sowie Informationsmaterial, das zur Untermauerung dieser Begründung zur Verfügung gestellt wurde. Das Informationsmaterial umfasst u. a. Links und Auszüge aus Presseartikeln auf den Websites „Worldcrunch“, „The Washington Institute“, „The Middle East Research and Information Project (MERIP)“, „The Syria Report, Syriandays“, „Le Commerce du Levant“ und „Al Arabiya“. Das genannte Dokument enthält darüber hinaus auch Auszüge aus zwei Büchern, die 2006 und 2014 erschienen sind, sowie Informationen, die von der Website von Hamcho International stammen. Das Dokument mit der Referenznummer RELEX MD 343/14 enthält einen Artikel, der in der Zeitschrift Le Commerce du Levant unter dem Titel „La guerre a transformé la communauté syrienne des affaires“ veröffentlicht wurde und die Entwicklung der syrischen Wirtschaftselite und ihre Verbindung zum derzeitigen Regime beschreibt. Das Dokument mit der Referenznummer RELEX MD 66/15 schließlich enthält einen Artikel, der am 12. Januar 2015 auf der Website „The Syria Report“ veröffentlicht wurde und wonach Herr Hamcho vom Wirtschaftsminister der Arabischen Republik Syrien zum Generalsekretär der Handelskammer von Damaskus (Syrien) ernannt wurde.
84 Im vorliegenden Fall lässt sich anhand der vom Rat vorgelegten, insbesondere in den Dokumenten mit den Referenznummern RELEX MD 342/14 und RELEX MD 66/15 enthaltenen Auszüge feststellen, dass das in ihnen angeführte Informationsmaterial nicht unbestimmt und abstrakt ist, wie die Kläger meinen, sondern im Gegenteil konkret und bestimmt. Das genannte Material enthält nämlich konkrete Angaben, die für die Beschreibung von Herrn Hamcho als einem bekannten Geschäftsmann mit Verbindungen zu den Schlüsselpersonen des syrischen Regimes, unter ihnen Maher al-Assad, von Nutzen sind. Die genannten Informationen verdeutlichen auch die Ämter, die er im Bereich der Wirtschaft und der Repräsentation ausübt und die ihn an das Regime binden, nämlich das Amt des Vorsitzenden für China in den syrischen Bilateralen Wirtschaftsräten, das Amt des Generalsekretärs der Handelskammer von Damaskus und das des Vorsitzenden von Hamcho International, einer großen syrischen Holdinggesellschaft, die in den meisten Bereichen der syrischen Wirtschaft tätig ist.
85 Im Einzelnen ist Folgendes festzustellen:
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Mehrere Artikel unterschiedlichen Datums und unterschiedlicher Herkunft beschreiben klar und konkret die Verbindung des Klägers mit dem Regime. Als Erstes beschreibt das 2006 erschienene Buch mit dem Titel Governance in the Middle East and North Africa Herrn Hamcho im Zusammenhang mit der Schließung des privaten Fernsehsenders „the Cham Satellite channel“ als „enge[n] Freund des Präsidenten, der im Begriff war, einen eigenen Fernsehsender zu starten“. Als Zweites bestätigen die beiden Artikel, die im Februar 2012 auf der Website „The Middle East Research and Information Project (MERIP)“ veröffentlicht wurden, zum einen, dass „Herr Hamcho ein Geschäftsmann ist, der Herrn Maher al-Assad nahesteht“, und zum anderen, dass „die Familien, die irgendwie mit dem Regime in Verbindung stehen, letzten Endes doch den privaten Sektor beherrschen und darüber hinaus erheblichen Einfluss auf die öffentlichen Wirtschaftsgüter haben und dass zu diesen Clans die Familie Hamcho gehört“. Als Drittes bestätigt der Artikel, der im November 2013 in der Zeitschrift Le Commerce du Levant veröffentlicht wurde, dass „die Interessen der mächtigsten Geschäftsleute, zu denen Herr Mohammad Hamcho zählt, in einem Maße von der Macht abhängig sind, dass sie als Bestandteil des derzeitigen Systems anzusehen sind“, und dass „diese Geschäftsleute, auch wenn es nur wenige sind, über eine breite Kapitalbasis verfügen“.
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Der Artikel, der am 30. Juni 2014 auf der Website „Worldcrunch“ veröffentlicht wurde, erörtert ebenfalls die Geschäftstätigkeiten des Klägers: „Herr Hamcho, ein Diener des syrischen Oligarchen Maher al-Assad, beherrscht den äußerst einträglichen Markt für VoIP-Telefonate (Voice over Internet Protocol) nach Syrien und erhält vom Tourismusminister des Landes demnächst eine Genehmigung für die Entwicklung des Projekts einer künstlichen Insel in der Nähe von Tartus.“
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In den beiden Artikeln, die am 3. und 30. März 2014 auf den Websites „The Syria Report“ und „Syriandays“ veröffentlicht wurden, wird die Ernennung des Klägers zum Vorsitzenden für China in den syrischen Bilateralen Wirtschaftsräten durch Wirtschaftsminister Khodr Orfali sowie seine Teilnahme gemeinsam mit dem Premierminister, Herrn Wael al-Halqi, und dem Wirtschaftsminister u. a. an der ersten Generalversammlung der Bilateralen Wirtschaftsräte am 29. März 2014 beschrieben.
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In dem Artikel, der am 12. Januar 2015 auf der Internetsite „The Syria Report“ veröffentlicht wurde, heißt es schließlich, dass der Kläger Anfang Dezember 2014 vom Wirtschaftsminister zum Generalsekretär der Handelskammer von Damaskus ernannt worden sei und dass er Herrn Maher al-Assad nahestehe, dem Hauptaktionär von Hamcho International, einem Konzern, der auf dem Sektor der Informatik tätig sei. Der Artikel bestätigt, dass der Grund für die radikale Veränderung im Verwaltungsrat der Handelskammer die Folge mehrerer Faktoren sei, zu denen die politische Haltung bestimmter Geschäftsleute gegenüber dem Regime gehöre.
86 Hieraus ergibt sich, dass dem Vorbringen der Kläger, die Angaben des Rates enthielten nur unbestimmte und abstrakte Behauptungen, nicht gefolgt werden kann.
87 Was überdies die fehlende Bezeichnung der primären Quellen der Informationen in den vom Rat vorgelegten Presseartikeln betrifft, denen aus diesem Grund, wie die Kläger meinen, keine Beweiskraft zukomme, gilt nach ständiger Rechtsprechung für den Gerichtshof und das Gericht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung und ist für die Würdigung der vorgelegten Beweise allein ihre Glaubhaftigkeit maßgeblich. Darüber hinaus ist zur Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments die Wahrscheinlichkeit der darin enthaltenen Information zu untersuchen, wobei insbesondere die Herkunft des Dokuments, die Umstände seiner Erstellung und sein Adressat zu berücksichtigen sind und die Frage zu beantworten ist, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheint (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, Shell Petroleum u. a./Kommission, T‑343/06, EU:T:2012:478, Rn. 161 und die dort angeführte Rechtsprechung).
88 Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die Angaben, deren Beweiskraft die Kläger in Frage stellen, aus verschiedenen digitalen Informationsquellen und wissenschaftlichen Studien stammen und somit unterschiedlicher geografischer Herkunft sind, und zwar nicht nur lokaler, wie „The Syria Report“ und „Syriandays“, sondern auch ausländischer, wie „The Washington Institute“, „Worldcrunch“, „The Middle East Research and Information Project (MERIP)“, „Le Commerce du Levant“ und „Al Arabiya“. Sodann ist, dem Rat folgend, darauf hinzuweisen, dass die angeführten Presseartikel zu unterschiedlichen, auch bereits vor dem Ausbruch der Krise in Syrien liegenden Zeitpunkten veröffentlicht wurden und dass auch sie schon die Kläger mit dem Regime in Verbindung brachten. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass aus den Informationsquellen jeweils unterschiedliche Informationen hervorgehen, alle diese Quellen jedoch im Wesentlichen darin übereinstimmen, dass Herr Hamcho als ein Geschäftsmann beschrieben wird, der angesichts seiner Geschäftstätigkeiten und seiner repräsentativen Ämter und des Umstands, dass die Kläger Nutznießer des syrischen Systems sind, insbesondere im Kontext des gegenwärtigen Krieges mit dem Regime in Verbindung steht.
89 Nach Auffassung des Gerichts kann daher das vom Rat vorgelegte Informationsmaterial insgesamt als glaubhaft im Sinne der oben in Rn. 87 angeführten Rechtsprechung angesehen werden. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in diesem Material zwar die primäre Informationsquelle nicht ausdrücklich genannt wird, dass es aber aufgrund der Kriegssituation in Syrien schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, Zeugenaussagen von Personen zu erhalten, die mit der Nennung ihres Namens einverstanden sind. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten bei der Informationsbeschaffung und die Gefahr, der sich diejenigen aussetzen, die Informationen liefern, stehen dem entgegen, dass genaue Quellen für der Unterstützung des Regimes dienendes persönliches Verhalten angegeben werden (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Anbouba/Rat, C‑605/13 P, EU:C:2015:2, Nr. 204). Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Kläger in ihrer Klageschrift pauschal die Beweiskraft der vom Rat beigebrachten Auszüge bestreiten, aber nicht den geringsten Hinweis liefern, der deren Glaubwürdigkeit in Frage stellen könnte.
90 Hieraus folgt, dass das Vorbringen der Kläger zur fehlenden Beweiskraft des vom Rat beigebrachten Beweismaterials, das auf die fehlende Angabe der primären Informationsquellen gestützt wird, zurückzuweisen ist.
91 Drittens beziehen sich die Kläger auf den Artikel, den der Rat im Rahmen des Dokuments mit der Referenznummer RELEX MD 343/14 vorgelegt hat und der im November 2013 in der Zeitschrift Le Commerce du Levant veröffentlicht wurde. Ihrer Ansicht nach „entkräftet“ dieser Artikel die Annahme des Rates, dass der geschäftliche Erfolg der Kläger nur durch die Nähe zum syrischen Regime und durch ihre Unterstützung für dieses Regime zu erklären sei.
92 Insoweit ist zum einen festzustellen, dass die Kläger wiederum nicht in der Lage sind, zu erklären, wie der genannte Artikel die beanstandete Annahme „entkräften“ könnte. Zum anderen ist ohnehin, dem Rat folgend, davon auszugehen, dass der in dem Dokument mit der Referenznummer RELEX MD 343/14 veröffentlichte Artikel nicht nur die genannte Annahme nicht in Frage stellt, sondern geeignet ist, sie zu stützen, da dort neben anderen Aspekten hervorgehoben wird, dass die mächtigsten syrischen Geschäftsleute, zu denen Herr Hamcho zählt, „in einem Maße von der Macht abhängig sind, dass sie als Bestandteil des derzeitigen Systems anzusehen sind“ (vgl. insoweit S. 227 a. E.). Das Vorbringen der Kläger ist somit zurückzuweisen.
93 Nach alledem sind die in den Rn. 50 und 51 der Klageschrift vorgebrachten Argumente der Kläger und somit auch der erste Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
– Zum zweiten Teil: Fehler bei der Beurteilung der Begründetheit der Aufnahme des Namens der Kläger in die streitigen Listen
94 Die Kläger machen in Rn. 52 der Klageschrift geltend, die Wiederaufnahme ihres Namens sei „offensichtlich missbräuchlich“ und auf den Willen des Rates zurückzuführen, ihren Namen in den streitigen Listen „zumindest während der Dauer des Klageverfahrens zu belassen“.
95 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie bereits oben in Rn. 66 ausgeführt, aus dem Urteil vom 13. November 2014, Hamcho und Hamcho International I (T‑43/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:946), hervorgeht, dass der Rat im Rahmen einer erneuten Prüfung die Möglichkeit hat, den Namen der Kläger auf der Grundlage von rechtlich ausreichend gestützten Gründen wieder in die Listen der restriktiven Maßnahmen aufzunehmen. In diesem Kontext kann der Umstand, dass der Rat den Namen der Kläger in die streitigen Listen wiederaufnahm, als solcher keine missbräuchliche oder rechtswidrige Absicht des Rates in Bezug auf die Kläger belegen.
96 Falls zweitens davon auszugehen wäre, dass die Kläger mit ihrem Vorbringen in Wirklichkeit bestreiten wollen, dass die Wiederaufnahme ihres Namens in die streitigen Listen nicht hinreichend belegt und begründet ist, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Beurteilung der Begründetheit einer Aufnahme in eine Liste die Beweise nicht isoliert, sondern in dem Zusammenhang zu prüfen sind, in dem sie stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 102, und vom 28. November 2013, Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 70).
97 Angesichts der Situation in Syrien kommt der Rat der ihm obliegenden Beweislast nach, wenn er vor dem Unionsrichter auf ein Bündel hinreichend konkreter, genauer und übereinstimmender Indizien Bezug nimmt, die die Feststellung einer hinreichenden Verbindung zwischen der Person, die einer Maßnahme des Einfrierens ihrer Gelder unterworfen ist, und dem bekämpften Regime ermöglichen (Urteil vom 21. April 2015, Anbouba/Rat, C‑630/13 P, EU:C:2015:247, Rn. 53).
98 Wie dem Schreiben vom 19. Dezember 2014 zu entnehmen ist, beschloss im vorliegenden Fall der Rat, den Namen der Kläger, ausgehend von dem Kriterium, das auf die Verbindung zum syrischen Regime abstellt, die sich insbesondere aus der wirtschaftlichen und politischen Beziehung zu den Führungskräften des derzeitigen Regimes und dem Nutzen ergibt, den sie aus dieser Nähe ziehen können, wieder in die streitigen Listen aufzunehmen. Dieses Kriterium ergibt sich aus Art. 28 Abs. 1 des Beschlusses 2013/255 und Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 36/2012. Die Begründung des Rates enthält im Übrigen zum einen in Bezug auf Herrn Hamcho drei Gesichtspunkte: Erstens sei Herr Hamcho ein bekannter syrischer Geschäftsmann und Eigentümer von Hamcho International, zweitens stehe er Schlüsselpersonen des syrischen Regimes nahe, zu denen der Präsident, Herr Baschar al‑Assad, und Herr Maher al-Assad zählten, und drittens bekleide er das Amt des Vorsitzenden für China in den Bilateralen Wirtschaftsräten. Er sei daher selbst Unterstützer und Nutznießer des syrischen Regimes und stehe auch in Verbindung mit Personen, die Nutznießer und Unterstützer des Regimes seien. Zum anderen nahm der Rat den Namen von Hamcho International In die Listen auf, weil Hamcho International eine große syrische Holdinggesellschaft im Eigentum von Herrn Hamcho sei und dadurch Unterstützer und Nutznießer des Regimes sei und in Verbindung mit einer Person stehe, die Nutznießer und Unterstützer des Regimes sei.
99 Es ist zunächst zu prüfen, ob die einzelnen Gründe für die Wiederaufnahme des Namens von Herrn Hamcho belegt sind.
100 Was den dritten Grund angeht, der das von Herrn Hamcho bekleidete Amt des Vorsitzenden für China in den Bilateralen Wirtschaftsräten betrifft, so ist eingangs darauf hinzuweisen, dass die Kläger gegenüber dieser Behauptung des Rates nur ein Argument vortragen. Sie tragen in ihrer Erwiderung nämlich lediglich vor, dass „diese Einrichtung … schnell aufgelöst [wurde], sofern sie überhaupt ihr Tätigkeit konkret aufgenommen hatte“, und dass „es … sich nur um Handelskammern [handelt]“. Sie tragen jedoch kein sachliches Argument vor, mit dem die Begründung des Rates grundsätzlich in Frage gestellt werden sollte.
101 Nach der Rechtsprechung zu einer Entscheidung, mit der restriktive Maßnahmen erlassen werden, kann, wenn der Unionsrichter zu der Auffassung gelangt, dass zumindest einer der angeführten Gründe hinreichend präzise und konkret ist, dass er belegt ist und dass er für sich genommen eine hinreichende Grundlage für diese Entscheidung darstellt, in Anbetracht des präventiven Charakters der genannten Maßnahmen der Umstand, dass dies auf andere von ihnen nicht zutrifft, die Nichtigerklärung der Entscheidung nicht rechtfertigen (Urteil vom 28. November 2013, Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
102 Das Gericht ist jedenfalls der Ansicht, dass der Rat angesichts der Informationen, die sich aus den oben in den Rn. 83 bis 88 geprüften Dokumenten ergeben, und angesichts des in Syrien bestehenden besonderen politischen und wirtschaftlichen Kontexts zu Recht davon ausgehen konnte, dass Herr Hamcho einer der wichtigsten Geschäftsleute Syriens war und dass er aufgrund seiner wirtschaftlichen und repräsentativen Ämter nicht erfolgreich hätte sein können, wenn er nicht die Verbindungen zu dem Regime gehabt hätte.
103 Wie sich aus der vom Rat vorgelegten Dokumentation, insbesondere aber aus den beiden am 3. und 30. März 2014 auf den Websites „The Syria Report“ und „Syriandays“ veröffentlichten Artikeln ergibt, wurde der Kläger nämlich im März 2014 vom Wirtschaftsminister, Herrn Khodr Orfali, zum Vorsitzenden für China in den syrischen Bilateralen Wirtschaftsräten ernannt. Aus dem am 12. Januar 2015 auf der Website „The Syria Report“ veröffentlichten Artikel ergibt sich zudem, dass er im Dezember 2014 vom Wirtschaftsminister darüber hinaus zum Generalsekretär der Handelskammer von Damaskus ernannt wurde. Zwar können diese Artikel allein kein Nachweis für eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Kläger und dem Wirtschaftsminister oder dem derzeitigen Regime sein. Sie stellen jedoch hinreichend konkrete, genaue und übereinstimmende Indizien dar, die zusammen mit der bedeutenden Stellung des Klägers im syrischen Wirtschaftsleben, insbesondere wegen seines Eigentums an der Gesellschaft Hamcho International und seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten, zu sehen sind.
104 Außerdem ist das Amt des Klägers in Wirtschaftsräten wie den syrischen Bilateralen Wirtschaftsräten für China, deren Aufgabe es ist, die syrische Wirtschaft und den Ausbau von Unternehmen, Geschäftstätigkeiten und Investitionen zu fördern, nur durch eine gewisse Nähe zum derzeitigen Regime zu erklären und stellt eine nicht bestrittene Tatsache dar, die zeigt, dass das Bestehen einer Verbindung des Klägers zu dem Regime von Herrn Baschar al-Assad gewiss ist. Diese Verbindung wird dadurch bestätigt, dass der Kläger im Dezember 2014 vom Wirtschaftsminister zum Generalsekretär der Handelskammer von Damaskus ernannt wurde. In dem am 12. Januar 2015 auf der Internetsite „The Syria Report“ veröffentlichten Aufsatz heißt es insoweit, dass der Grund für die radikale Veränderung im Verwaltungsrat der Handelskammer von Damaskus die Folge mehrerer Faktoren sei, zu denen die politische Haltung bestimmter Geschäftsleute gegenüber dem Regime gehöre.
105 Zudem muss der Unionsrichter, wenn er eine realistische Kontrolle der restriktiven Maßnahmen durchführen möchte, die der Rat gegenüber dem Kläger erlassen hat, zwingend den Kontext der Arabischen Republik Syrien berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Anbouba/Rat, C‑605/13 P, EU:C:2015:2, Nr. 205).
106 Im vorliegenden Fall legte der Rat den Klägern in Form des Dokuments mit der Referenznummer RELEX MD 343/14 den in der Zeitschrift Le Commerce du Levant veröffentlichten Artikel vor. Dieser Artikel beschreibt den allgemeinen Kontext, in dem die wichtigen syrischen Geschäftsleute stehen, unter ihnen Herr Hamcho. Dem Artikel zufolge sind die Interessen der mächtigsten Geschäftsleute von der Staatsmacht in Syrien in einem Maße abhängig, dass sie als Bestandteil des derzeitigen Systems anzusehen sind. Dieser Aspekt kommt, wie der Rat in seinem Schreiben an die Kläger vom 19. Dezember 2014 ausführte, auch in dem autoritären Charakter des syrischen Regimes zum Ausdruck, das die syrische Wirtschaft und ihre Akteure streng kontrolliert.
107 Die syrischen Unternehmen waren Gegenstand zahlreicher weiterer Presseartikel unterschiedlicher Herkunft, die der Rat als Anlage zu seiner Klagebeantwortung vorgelegt hat. Diese Artikel bestätigen, dass die syrische Wirtschaftselite weitgehend aus Unternehmern bestand, die Herr Baschar al-Assad und seine Großfamilie ausgesucht hatten, und dass diese Elite florierte, weil sie Vergünstigungen des Regimes genoss. Im vorliegenden Fall ist, dem Rat folgend und entgegen den Ausführungen der Kläger, festzustellen, dass diese Dokumentation zulässig ist, da sie nicht darauf abzielt, die streitigen Rechtsakte nachträglich zu begründen, sondern zeigen soll, dass ihre Begründung angesichts des Kontexts ihres Erlasses ausreichend war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11, EU:C:2012:718, Rn. 62).
108 Schließlich ist festzustellen, dass der Rat in seiner Klagebeantwortung nicht nur genau die Merkmale der Zugehörigkeit der Kläger zur wirtschaftlichen Führungsschicht in Syrien darlegt, sondern auch, dass sich dessen Verbindungen zum syrischen Regime nicht bestreiten lassen, weil er durch seine repräsentativen Ämter, seine Geschäftstätigkeiten und den Besitz von Hamcho International einen bestimmenden Einfluss auf den gesamten inneren Kreis der Führungsschicht des Regimes ausübt und damit Nutznießer des genannten Regimes ist.
109 Nach alledem nahm der Rat zu Recht an, dass Herr Hamcho einer der wichtigsten Geschäftsleute Syriens war und aufgrund der Ausübung repräsentativer Ämter der Arabischen Republik Syrien Verbindungen zu dem Regime von Herrn Baschar al-Assad unterhielt. Es ist somit festzustellen, dass die Gründe für die Wiederaufnahme des Namens von Herrn Hamcho in die streitigen Listen hinreichend belegt sind.
110 Aus Art. 28 Abs. 1 des Beschlusses 2013/255 ergibt sich ferner, dass sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen einzufrieren sind, die im Besitz oder im Eigentum der Organisationen stehen, die mit den das Regime unterstützenden Personen verbunden sind. Im vorliegenden Fall geht zum einen aus der vorstehenden Rn. 109 hervor, dass Herr Hamcho zu Recht in die streitigen Listen aufgenommen wurde. Zum anderen ist festzustellen, dass Hamcho International eine Holdinggesellschaft ist, die, wie sich aus den Anlagen zu den Schriftsätzen der Parteien ergibt, im Wesentlichen von Herrn Hamcho gehalten wird, was im Übrigen von den Klägern nicht bestritten wird.
111 Ohne dass die vom Rat vorgelegten Beweismittel zu prüfen wären, ist somit festzustellen, dass der Name von Hamcho International – der Holdinggesellschaft, die im Eigentum von Herrn Hamcho steht – zu Recht in die streitigen Listen aufgenommen wurde.
112 Daher ist der zweite Teil des zweiten Klagegrundes und damit auch dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: Verletzung der Eigentumsrechte und der Rechte auf wirtschaftliche Freiheit
113 Die Kläger machen geltend, ihre Eigentumsrechte und ihre Rechte auf wirtschaftliche Freiheit seien bereits dadurch verletzt worden, dass in ihre Verteidigungsrechte eingegriffen worden sei.
114 Der Rat tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen.
115 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 41 Abs. 2 der Charta der Grundrechte verankerte Wahrung der Verteidigungsrechte den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht unter Beachtung der berechtigten Interessen an Vertraulichkeit umfasst (vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).
116 Nach ständiger Rechtsprechung auf dem Gebiet der restriktiven Maßnahmen setzt die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle – die sich insbesondere auf die Rechtmäßigkeit der Begründung erstrecken können muss, auf der die Aufnahme des Namens einer Person oder einer Organisation in die Listen mit den Adressaten der genannten Maßnahmen beruht – voraus, dass die fragliche Unionsbehörde diese Begründung der betroffenen Person oder Organisation so weit wie möglich zu dem Zeitpunkt, zu dem ihre Aufnahme in die Liste beschlossen wird, oder wenigstens so bald wie möglich danach mitteilt, um der betreffenden Person oder Organisation die fristgemäße Wahrnehmung ihres Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 336).
117 Die Erfüllung dieser Verpflichtung zur Mitteilung der Begründung ist nämlich erforderlich, um es den Adressaten der Sanktionen zu gestatten, ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und insbesondere in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für sie von Nutzen ist, den Unionsrichter anzurufen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 1987, Heylens u. a., 222/86, EU:C:1987:442, Rn. 15, und vom 4. Februar 2014, Syrian Lebanese Commercial Bank/Rat, T‑174/12 und T‑80/13, EU:T:2014:52, Rn. 132).
118 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass, wie sich aus den Rn. 18, 19 und 23 des vorliegenden Urteils ergibt, der Rat den Klägern mit Schreiben vom 19. Dezember 2014 die Begründung und die Beweismittel für die Wiederaufnahme ihres Namens in die streitigen Listen vorab mitteilte und für die eventuelle Stellungnahme eine Frist setzte. Die Kläger traten dieser Wiederaufnahme am 15. Januar 2015 entgegen. In der Folge beschloss der Rat die Wiederaufnahme ihres Namens in die streitigen Listen und setzte sie mit Schreiben vom 27. Januar 2015 von seinem Beschluss, den angefochtenen Rechtsakten und weiteren sie betreffenden Informationen in Kenntnis. Dem Rat kann daher eine Verletzung der Verteidigungsrechte der Kläger nicht zur Last gelegt werden.
119 Sodann ist zu beachten, dass das Eigentumsrecht zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört und in Art. 17 der Grundrechtecharta verankert ist (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11.
EU:T:2013:431, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).
120 Nach ständiger Rechtsprechung genießt dieses Recht im Unionsrecht jedoch keinen absoluten Schutz, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich kann die Ausübung dieses Rechts Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antasten würde (vgl. Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
121 Daraus folgt, dass die von den Klägern angeführten Beschränkungen des Eigentumsrechts angesichts der entscheidenden Bedeutung des Schutzes des Zivilbevölkerung in Syrien und der in den angefochtenen Rechtsakten vorgesehenen Ausnahmeregelungen nicht unverhältnismäßig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 106), zumal die angefochtenen Rechtsakte bestimmte Ausnahmen vorsehen, damit die von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen und Organisationen die wichtigsten Ausgaben bestreiten können.
122 Nach den angefochtenen Rechtsakten ist es nämlich möglich, die Verwendung eingefrorener Gelder zur Deckung von Grundbedürfnissen oder zur Erfüllung bestimmter Verpflichtungen zu genehmigen, spezifische Genehmigungen zu erteilen, um eingefrorene Gelder, sonstige Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen freizugeben, und die Zusammensetzung der Listen regelmäßig zu überprüfen, damit die Personen und Organisationen, die nicht mehr die Kriterien für ihre Führung auf der streitigen Liste erfüllen, von dieser gestrichen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat, T‑383/11, EU:T:2013:431, Rn. 102 und 105).
123 Was schließlich die beanstandeten Beschränkungen der in Art. 16 der Grundrechtecharta verankerten wirtschaftlichen Freiheit der Kläger angeht, so können diese aus denselben Gründen, wie sie oben in den Rn. 119 und 120 in Bezug auf das Eigentumsrecht dargelegt worden sind, nicht als unverhältnismäßig angesehen werden.
124 Hieraus folgt, dass der Rat das Eigentumsrecht und die wirtschaftliche Freiheit der Kläger nicht verletzt hat.
125 Folglich ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Kosten
126 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kläger unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag des Rates die Kosten des vorliegenden Verfahrens und die Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Herr Mohamad Hamcho und die Hamcho International tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten, die dem Rat der Europäischen Union im Rahmen des vorliegenden Rechtszugs und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entstanden sind.
Van der Woude
Ulloa Rubio
Marcoulli
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Oktober 2016.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 18. September 2015.#Petro Suisse Intertrade Co. SA gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation – Einfrieren von Geldern – Nichtigkeitsklage – Unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelte Einrichtung – Klagebefugnis und Rechtsschutzinteresse – Zulässigkeit – Anspruch auf rechtliches Gehör – Zustellungspflicht – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Eigentumsrecht.#Verbundene Rechtssachen T-156/13 und T-373/14.
|
62013TJ0156
|
ECLI:EU:T:2015:646
| 2015-09-18T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0156 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 9. September 2015.#Toshiba Corp. gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Weltmarkt für Bildröhren für Fernsehgeräte und Computerbildschirme – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird – Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen bezüglich der Festsetzung von Preisen, der Aufteilung der Märkte und der Produktionskapazitäten – Beweis für die Beteiligung am Kartell – Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung – Gemeinsame Kontrolle – Geldbußen – Unbeschränkte Nachprüfung.#Rechtssache T-104/13.
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62013TJ0104
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ECLI:EU:T:2015:610
| 2015-09-09T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013TJ0104
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
9. September 2015 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Weltmarkt für Bildröhren für Fernsehgeräte und Computerbildschirme — Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird — Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen bezüglich der Festsetzung von Preisen, der Aufteilung der Märkte und der Produktionskapazitäten — Beweis für die Beteiligung am Kartell — Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung — Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung — Gemeinsame Kontrolle — Geldbußen — Unbeschränkte Nachprüfung“
In der Rechtssache T‑104/13
Toshiba Corp. mit Sitz in Tokio (Japan), Prozessbevollmächtigte: J. MacLennan, Solicitor, und Rechtsanwälte J. Jourdan, A. Schulz und P. Berghe,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch A. Biolan, V. Bottka und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses C (2012) 8839 final der Kommission vom 5. Dezember 2012 in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache COMP/39.437 – Bildröhren für Fernsehgeräte und Computerbildschirme), soweit er die Klägerin betrifft, sowie, hilfsweise, Aufhebung oder Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas (Berichterstatter) sowie der Richter N. J. Forwood und E. Bieliūnas,
Kanzler: J. Weychert, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. November 2014
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Klägerin und betroffenes Erzeugnis
1 Die Klägerin, die Toshiba Corp., ist ein weltweit tätiges Unternehmen, das elektronische und elektrische Erzeugnisse herstellt, u. a. Bildröhren (Kathodenstrahlröhren [cathode ray tubes], im Folgenden: CRT).
2 CRT sind luftleere Glaskolben, die eine Elektronenkanone und eine Fluoreszenz-Anzeige (fluoreszierender Bildschirm) enthalten und üblicherweise eine innere oder äußere Vorrichtung zur Beschleunigung und Ablenkung der Elektronen aufweisen. Wenn die von der Elektronenkanone ausgesendeten Elektronen auf den fluoreszierenden Bildschirm treffen, erzeugen sie Licht und lassen das Bild auf dem Bildschirm sichtbar werden. Im entscheidungserheblichen Zeitraum gab es zwei Arten von CRT, nämlich Farbbildröhren für Computerbildschirme (colour display tubes, im Folgenden: CDT) und Farbbildröhren für Fernseher (colour picture tubes, im Folgenden: CPT). Bei den CDT und den CPT handelt es sich um Einzelkomponenten, die mit einem Chassis und weiteren zur Herstellung eines Computerbildschirms oder eines Farbfernsehgeräts erforderlichen Bauteilen verbunden werden. Sie sind in einer Reihe unterschiedlicher Größen erhältlich (klein, mittelgroß, groß und sehr groß), die in Zoll angegeben werden.
3 Die Klägerin war an der Herstellung und dem Vertrieb von CRT sowohl unmittelbar als auch mittelbar über ihre Tochtergesellschaften beteiligt, namentlich [vertraulich (1 )], [vertraulich] und [vertraulich], die in Europa, Asien und Nordamerika ansässig waren. [vertraulich] mit Sitz in [vertraulich], die sich im Alleinbesitz von [vertraulich] befand, war von 1995 bis zum 31. März 2003 der für elektronische Bauelemente verantwortliche europäische Zweig der Klägerin und zugleich ihre Alleinvertriebshändlerin von CDT und CPT im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR).
4 Am 31. März 2003 übertrug die Klägerin ihren gesamten CRT‑Geschäftsbereich auf ein zusammen mit der Matsushita Electric Industrial Co. Ltd (im Folgenden: MEI) errichtetes Gemeinschaftsunternehmen, die Matsushita Toshiba Picture Display Co. Ltd (im Folgenden: MTPD). Bis zum 31. März 2007 hielten MEI 64,5 % und die Klägerin 35,5 % der Anteile an MTPD. An diesem Tag übertrug die Klägerin ihre Beteiligung an MEI, so dass MTPD eine hundertprozentige Tochtergesellschaft von MEI wurde und sich in MT Picture Display Co. Ltd umbenannte. Am 1. Oktober 2008 benannte sich MEI ihrerseits in Panasonic Corp. um.
Verwaltungsverfahren
5 Das vorliegende Verfahren wurde durch einen Antrag auf Geldbußenerlass im Sinne der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2006, C 298, S. 17) hin eingeleitet, der am 23. März 2007 von der Chunghwa Picture Tubes Co. Ltd eingereicht worden war.
6 Die Samsung SDI Co. Ltd, die Samsung SDI Germany GmbH, die Samsung SDI (Malaysia) Berhad (im Folgenden zusammen: Samsung SDI), MEI, die Koninklijke Philips Electronics NV (im Folgenden: Philips) und die Thomson SA reichten Anträge auf Geldbußenermäßigung auf der Grundlage der oben in Rn. 5 genannten Mitteilung ein.
7 Am 23. November 2009 erließ die Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die sie an die Klägerin sowie an die Chunghwa Picture Tubes Co. Ltd, die Chunghwa Picture Tubes (Malaysia) Sdn. Bhd, die CPTF Optronics Co. Ltd (im Folgenden zusammen: Chunghwa), die Samsung SDI, Philips, die LG Electronics, Inc. (im Folgenden: LGE), die PT LG Electronics Indonesia Ltd, die LG Electronics European Holding BV, Thomson, Panasonic, [vertraulich], [vertraulich] und MTPD richtete, und führte am 26. und 27. Mai 2010 eine Anhörung sämtlicher Adressaten dieser Mitteilung (im Folgenden: Anhörung) durch.
8 Mit Schreiben vom 2. Juli 2010 reichten Panasonic und die Klägerin ergänzende Stellungnahmen ein und legten Beweise zur Frage eines von ihnen ausgeübten bestimmenden Einflusses auf das Marktverhalten von MTPD vor.
9 Mit Schreiben vom 14. Dezember 2010 wiederholte die Klägerin den in ihrer Stellungnahme vom 2. Juli 2010 gestellten Antrag auf Zugang zu den Stellungnahmen, die Panasonic im Rahmen der Anhörung eingereicht hatte, sowie zu allen seit der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu den Akten gereichten neuen Beweismitteln.
10 Mit Sachverhaltsschreiben vom 22. Dezember 2010 teilte die Kommission Panasonic und der Klägerin mit, auf welche zusätzlichen Beweismittel sie gegebenenfalls ihre Auffassung zu stützen beabsichtige, beide hafteten als Gesamtschuldner für eine gegen MTPD wegen deren Beteiligung am Gesamtkartell möglicherweise zu verhängende Geldbuße.
11 Mit Schreiben des Anhörungsbeauftragten vom 19. Januar 2011 wies die Kommission die Anträge der Klägerin vom 14. und 23. Dezember 2010 auf Zugang zu den Antworten der anderen Unternehmen auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zurück.
12 Mit Schreiben vom 4. Februar 2011 antwortete die Klägerin auf das Sachverhaltsschreiben der Kommission.
13 Mit Schreiben vom 4. März 2011 richtete die Kommission u. a. an die Klägerin ein Auskunftsverlangen gemäß Art. 18 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1), mit dem sie die Klägerin aufforderte, Informationen über ihre Verkäufe und ihren Gesamtumsatz zu erteilen.
Angefochtener Beschluss
14 Mit Beschluss C (2012) 8839 final vom 5. Dezember 2012 betreffend ein Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache COMP/39.437 – Bildröhren für Fernsehgeräte und Computerbildschirme) (im Folgenden: angefochtener Beschluss) stellte die Kommission fest, dass die weltweit wichtigsten Hersteller von CRT durch ihre Teilnahme an zwei getrennten Zuwiderhandlungen, von denen jede jeweils eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung darstelle, gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens verstoßen hätten. Diese Zuwiderhandlungen hätten zum einen den Markt für CDT (im Folgenden: CDT‑Kartell) und zum anderen den Markt für CPT (im Folgenden: CPT‑Kartell) betroffen. Diese Kartelle hätten vom 24. Oktober 1996 bis zum 14. März 2006 bzw. vom 3. Dezember 1997 bis zum 15. November 2006 existiert und in Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen zwischen den Herstellern von CRT bestanden, deren Ziel es gewesen sei, Preise festzulegen, Märkte und Kunden durch Zuweisung von Absatzmengen, Kunden und Marktanteilen unter sich aufzuteilen, die Produktion zu beschränken, sensible Geschäftsinformationen auszutauschen und die Umsetzung der Kartellvereinbarungen zu kontrollieren.
15 Bezüglich des CPT‑Kartells, das allein Gegenstand der vorliegenden Klage ist, war die Kommission der Ansicht, die Teilnehmer hätten Preisziele oder Mindestpreise für verschiedene CPT‑Größen vereinbart, sich bemüht, ein Preisgefälle zwischen in Europa und in Asien vermarkteten identischen Produkten aufrechtzuerhalten, und die Vereinbarungen über die Preisgestaltung minutiös überwacht. Sie hätten auch Vereinbarungen getroffen, die festlegten, welcher Hersteller welchem Kunden welche Preiserhöhung mitteilen solle. Ferner hätten sich die CPT‑Hersteller über ihre jeweiligen Marktanteile geeinigt und koordinierte Produktionseinschränkungen vereinbart, um den Angebotsüberhang zu reduzieren und die Preise anzuheben oder aufrechtzuerhalten. Außerdem hätten sie sensible Geschäftsinformationen über vorgesehene Produktionszahlen und Kapazitäten, getätigte und geplante Verkäufe, Schätzungen der künftigen Nachfrage, Preisgestaltung und ‑strategie, allgemeine Geschäftsbedingungen sowie Kunden und die mit ihnen geführten Verhandlungen über Preise und Mengen ausgetauscht.
16 In den Erwägungsgründen 123 und 124 des angefochtenen Beschlusses wurde festgestellt, dass nach einer einleitenden Phase, in der die CPT bei denselben Treffen zur Diskussion gestanden hätten wie die CDT, ab Herbst 1998 regelmäßige multilaterale Treffen – sogenannte „CPT‑Glastreffen“ – stattgefunden hätten, und zwar zunächst monatlich oder vierteljährlich in Asien (im Folgenden: asiatische Glastreffen) zwischen den asiatischen Unternehmen, die den Kern des Kartells gebildet hätten, nämlich zwischen Chunghwa, Samsung SDI, [vertraulich], [vertraulich] und LGE, und dass es zusätzlich zu diesen Treffen bilaterale Kontakte und einen häufigen Informationsaustausch zwischen Herstellern auf weltweiter Ebene gegeben habe. Ab 1999 hätten sich die asiatischen Hersteller bemüht, den Kreis der Mitglieder des Kartells zu erweitern, um alle wichtigen asiatischen Hersteller sowie die europäischen Hersteller einzubeziehen. So hätten sich [vertraulich], MEI, Philips, Thomson und die Klägerin dem Kartell angeschlossen. Die Teilnahme der europäischen Unternehmen Philips und Thomson sei nachgewiesen worden, nachdem im Frühjahr 1999 in Europa ein Antidumpingverfahren im Zusammenhang mit der Einfuhr asiatischer 14-Zoll-CPT eingeleitet worden sei. Auch sei erwiesen, dass seitdem Glastreffen in Europa (im Folgenden: europäische Glastreffen) stattgefunden hätten. Ferner hätten die asiatischen Glastreffen in den Jahren 2002 und 2003 eine andere Form angenommen und seien seitdem in Gestalt zweier für die in Asien ansässigen Hersteller bestimmter Plattformen organisiert worden, nämlich erstens als Treffen zwischen Samsung SDI, MTPD und der Gruppe LG Philips Displays (im Folgenden: LPD-Gruppe, die an die Stelle von LGE und Philips getreten sei und der diese ihre CPT‑Geschäftsbereiche übertragen hätten) – die sogenannten „SML-Treffen“, die überwiegend mittelgroße und sehr große CPT betroffen hätten – und zweitens als südostasiatische Treffen zwischen Samsung SDI, der LPD-Gruppe, MTPD, Chunghwa und [vertraulich] – den sogenannten „ASEAN-Treffen“ –, die überwiegend kleine und mittelgroße CPT betroffen hätten.
17 Die Kommission wies darauf hin, dass, obwohl die europäischen Glastreffen angeblich getrennt von den in Asien stattfindenden Treffen organisiert und durchgeführt worden seien, die Tochtergesellschaften derselben Unternehmen und gelegentlich auch dieselben Mitarbeiter an Zusammenkünften mit Wettbewerbern sowohl in Europa als auch in Asien teilgenommen hätten. Die Kommission war daher der Ansicht, die europäischen und die asiatischen Glastreffen seien miteinander vernetzt gewesen, da dort die gleichen Themen besprochen und die gleiche Art von Informationen ausgetauscht worden seien, auch wenn aus den Dokumenten der Akte nicht hervorgehe, dass eine gemeinsame zentrale Organisation bestanden habe. Insoweit hätten die europäischen Glastreffen nach dem Wortlaut des angefochtenen Beschlusses eine Erweiterung der asiatischen Glastreffen dargestellt und sich insbesondere auf die Marktbedingungen und die Preise in Europa konzentriert, während die Kontakte im Rahmen des asiatischen Kartells weltweiten Charakter gehabt und somit auch Europa betroffen hätten. Im Übrigen seien die den europäischen Markt betreffenden Vereinbarungen sowohl im Rahmen von Zusammenkünften in Europa als auch im Rahmen von Zusammenkünften in Asien getroffen worden, und die praktizierten Preise seien Gegenstand regelmäßiger Überprüfungen gewesen, wobei die asiatischen Preise bei der Untersuchung des Preisniveaus in Europa als Referenzpreise herangezogen worden seien.
18 Was schließlich die Beteiligung der Klägerin am CPT‑Kartell betrifft, stellte die Kommission erstens fest, die Klägerin sei daran unmittelbar beteiligt gewesen, indem sie zwischen dem 16. Mai 2000 und dem 11. April 2002 zu den meisten der Unternehmen, die den Kern dieses Kartells gebildet hätten, bilaterale Kontakte unterhalten habe, in deren Rahmen die gleiche Art von Diskussionen wie bei bestimmten Glastreffen geführt worden seien, und indem sie seit dem 12. April 2002 an einigen dieser Glastreffen teilgenommen habe. Zweitens führte die Kommission aus, seit dem 1. April 2003 habe MTPD, auf die MEI und die Klägerin einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hätten, ihre Teilnahme am CPT‑Kartell ununterbrochen fortgesetzt, indem sie im Rahmen ihrer bilateralen Kontakte zu den Unternehmen, die an den europäischen Glastreffen teilgenommen hätten, sie selbst betreffende sensible Geschäftsinformationen ausgetauscht und an den weltumspannenden SML- und ASEAN-Treffen in Asien teilgenommen habe. Die Kommission zog daraus den Schluss, dass die Klägerin erstens für die vor der Gründung von MTPD unmittelbar von ihr begangene Zuwiderhandlung und zweitens gesamtschuldnerisch mit Panasonic für die von MTPD seit deren Gründung begangene Zuwiderhandlung verantwortlich sei.
19 Hinsichtlich der Berechnung der Höhe der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße stützte die Kommission sich auf die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 2006).
20 Um zunächst den Grundbetrag der Geldbuße zu bestimmen, hielt die Kommission es für angebracht, zur Bestimmung des Wertes der verkauften Waren, die mit dem Verstoß in Zusammenhang standen, im Sinne von Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 den Durchschnitt der „tatsächlichen“ jährlichen Umsätze während der gesamten Dauer des CPT‑Kartells zugrunde zu legen, die sich zum einen aus den Direktverkäufen von CPT an im EWR ansässige Abnehmer durch einen der Adressaten des angefochtenen Beschlusses (im Folgenden: EWR-Direktverkäufe) und zum anderen aus den Verkäufen von CPT, die innerhalb ein und desselben Konzerns in ein Endprodukt integriert und anschließend von einem der Adressaten des angefochtenen Beschlusses an im EWR ansässige Abnehmer verkauft wurden (im Folgenden: EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse), zusammensetzten. Nach den Erwägungsgründen 1021, 1026 und 1029 dieses Beschlusses handelte es sich bei dem ersten „tatsächlichen“ Verkauf von CPT – die als solche oder als Bestandteil eines Verarbeitungsprodukts verkauft wurden – um den Verkauf, den einer der Adressaten des angefochtenen Beschlusses während des bestehenden CPT‑Kartells im EWR an einen externen Abnehmer durchgeführt habe. Hingegen hat die Kommission die „mittelbaren Verkäufe“ – den Wert der von einem der Adressaten des angefochtenen Beschlusses an außerhalb des EWR ansässige Abnehmer verkauften CPT, die diese Abnehmer sodann in Verarbeitungsprodukte integrierten und ihrerseits im EWR verkauften – nicht berücksichtigt.
21 Die Kommission wies ferner darauf hin, dass Panasonic und die Klägerin vor der Gründung von MTPD am CPT‑Kartell teilgenommen und nach deren Gründung diesem Kartell über MTPD weiterhin angehört hätten. Sie war daher der Ansicht, dass trotz der ununterbrochenen Teilnahme der Klägerin am CPT‑Kartell zur Berechnung der gegen sie zu verhängenden Geldbußen zwischen zwei Zeiträumen zu unterscheiden sei, nämlich erstens dem Zeitraum vor Gründung von MTPD, hinsichtlich dessen Panasonic und die Klägerin wegen ihrer unmittelbaren Teilnahme am CPT‑Kartell individuell verantwortlich zu machen seien, und dem Zeitraum nach Gründung von MTPD, hinsichtlich dessen Panasonic und die Klägerin gesamtschuldnerisch mit MTPD hafteten. In Bezug auf den Zeitraum vor Gründung von MTPD legte die Kommission den Durchschnittswert der „tatsächlichen“ individuellen Umsätze der Muttergesellschaften zugrunde, während sie für die Zeit nach der Gründung von MTPD deren Umsätze zugrunde legte, um die wirtschaftliche Bedeutung dieses Unternehmens widerzuspiegeln. Diese zuletzt genannten Umsätze umfassten sowohl von MTPD getätigte EWR-Direktverkäufe als auch EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse, die zwischen MTPD einerseits und Panasonic und der Klägerin andererseits stattfanden.
22 Die Umsätze, anhand deren die Kommission den gegen jede der Muttergesellschaften von MTPD verhängten Zusatzbetrag zum Grundbetrag errechnete, wurden nicht nur auf der Grundlage des durchschnittlichen Jahreswerts der von jeder Muttergesellschaft vor der Gründung von MTPD einzeln erzielten CPT‑Umsätze festgesetzt, sondern umfassten auch einen Bruchteil der von MTPD erzielten CPT‑Umsätze, der dem jeweiligen Kapitalanteil entsprach, den jede Muttergesellschaft an MTPD hielt.
23 Insoweit vertrat die Kommission die Auffassung, angesichts der Schwere der Zuwiderhandlung belaufe sich der Umsatzanteil, der für die Bestimmung des Grundbetrags zu berücksichtigen sei, für alle betroffenen Unternehmen auf 18 % hinsichtlich des CPT‑Kartells und auf 19 % hinsichtlich des CDT‑Kartells, multipliziert mit der anteiligen und auf volle Monate abgerundeten Dauer ihrer jeweiligen Teilnahme an der Zuwiderhandlung. Im Übrigen hat die Kommission unabhängig von der Dauer der Teilnahme der Unternehmen am CPT‑Kartell – und um sie von horizontalen Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen und zur Aufteilung von Märkten abzuschrecken – dem Grundbetrag der gegen Panasonic und die Klägerin zu verhängenden Geldbußen den zusätzlichen Betrag hinzugefügt, der sich aus der Anwendung des Koeffizienten von 18 % auf die das CPT‑Kartell betreffenden Umsätze ergibt.
24 Ferner war die Kommission der Ansicht, dass in Bezug auf die Klägerin keine erschwerenden oder mildernden Umstände vorlägen, die eine Anpassung des Grundbetrags rechtfertigen würden.
25 Schließlich hat die Kommission mit Rücksicht darauf, dass der von der Klägerin über die mit der Zuwiderhandlung im Zusammenhang stehenden Waren hinaus erzielte Umsatz als besonders hoch zu beurteilen sei, einen Abschreckungsmultiplikator von 10 % auf die gegen sie zu verhängende Geldbuße angewandt.
26 Die Art. 1 und 2 des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses lauten:
„Artikel 1
…
2. Die folgenden Unternehmen haben in den angegebenen Zeiträumen durch ihre Beteiligung an einem einzigen und fortgesetzten Komplex von Vereinbarungen und untereinander abgestimmten Verhaltensweisen im Bereich der [CPT] gegen Artikel 101 … AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens verstoßen:
…
c)
Panasonic … vom 15. Juli 1999 bis zum 12. Juni 2006;
d)
Toshiba … vom 16. Mai 2000 bis zum 12. Juni 2006;
e)
[MTPD] vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006;
…
Artikel 2
…
2. Wegen der in Art. 1 [Abs.] 2 angeführten Verstöße werden folgende Geldbußen verhängt:
…
f)
Panasonic …: 157478000 [Euro];
g)
Toshiba …: 28048000 [Euro];
h)
Panasonic …, Toshiba … und [MTPD] gesamtschuldnerisch: 86738000 [Euro];
i)
Panasonic … und [MTPD] gesamtschuldnerisch: 7885000 [Euro];
…“
Verfahren und Anträge der Beteiligten
27 Mit Klageschrift, die am 20. Februar 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
28 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Dritten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.
29 Das Gericht (Dritte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen und im Wege prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 seiner Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 den Parteien einige Fragen zu stellen. Diese sind fristgerecht beantwortet worden.
30 In der Sitzung vom 11. November 2014 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. In dieser Sitzung wurde entschieden, die Parteien aufzufordern, zu dem Urteil des Gerichtshofs vom 12. November 2014, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission (C‑580/12 P), innerhalb von zehn Tagen nach dessen Verkündung Stellung zu nehmen; diese Frist ist für die Kommission auf deren Antrag bis zum 28. November 2014 verlängert worden.
31 Mit Schriftsätzen, die am 21. bzw. 28. November 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, sind die Klägerin und die Kommission dieser Aufforderung nachgekommen.
32 Das mündliche Verfahren ist am 5. Dezember 2014 abgeschlossen worden.
33 Mit Beschluss vom 26. Mai 2015 hat das Gericht gemäß Art. 62 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung angeordnet.
34 Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 hat das Gericht die Parteien aufgefordert, zu den Schlussanträgen des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache InnoLux/Kommission (C‑231/14 P) Stellung zu nehmen. Dieser Aufforderung ist innerhalb der gesetzten Frist entsprochen worden. Die Parteien haben sodann zu den im Rahmen dieser prozessleitenden Maßnahme eingereichten Antworten und insbesondere zur Berechnung und Höhe der Geldbußen Stellung genommen.
35 Das mündliche Verfahren ist am 10. Juli 2015 geschlossen worden.
36 Die Klägerin beantragt,
—
Art. 1 Abs. 2 Buchst. d des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
—
Art. 1 Abs. 2 Buchst. e des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
—
Art. 2 Abs. 2 Buchst. g des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären oder, hilfsweise, die Geldbuße nach dem Ermessen des Gerichts herabzusetzen;
—
Art. 2 Abs. 2 Buchst. h des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären oder, hilfsweise, diese Bestimmung für nichtig zu erklären, soweit sie die gesamtschuldnerische Haftung der Klägerin anordnet, oder, hilfsweise, die Geldbuße nach dem Ermessen des Gerichts herabzusetzen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
37 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
38 Mit dem ersten und dem zweiten Antrag begehrt die Klägerin in erster Linie die Teilnichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses, während ihr dritter und ihr vierter Antrag hilfsweise auf die Aufhebung oder Herabsetzung der mit diesem Beschluss gegen sie festgesetzten Geldbuße gerichtet sind.
39 Zuerst sind der erste und der zweite Antrag zu prüfen, die auf die Teilnichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses gerichtet sind.
Zu den Hauptanträgen auf Teilnichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses
40 Die Klägerin stützt diese Anträge auf fünf Klagegründe. Mit dem ersten, dem zweiten und dem dritten Klagegrund macht sie geltend, der angefochtene Beschluss sei fehlerhaft, soweit darin festgestellt werde, die Klägerin sei für die in der Zeit vom 16. Mai 2000 bis zum 11. April 2002, vom 12. April 2002 bis zum 31. März 2003 und vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangene Zuwiderhandlung verantwortlich. Mit ihrem vierten Klagegrund macht sie geltend, der angefochtene Beschluss sei fehlerhaft, soweit darin festgestellt werde, die Klägerin hafte gesamtschuldnerisch für die Beteiligung von MTPD an der vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangenen Zuwiderhandlung. Mit ihrem fünften, hilfsweise geltend gemachten Klagegrund trägt sie vor, der angefochtene Beschluss sei fehlerhaft, soweit darin festgestellt werde, MTPD sei dafür verantwortlich, an der vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangenen Zuwiderhandlung teilgenommen zu haben.
41 Zunächst ist der erste, dann der zweite, der vierte und der dritte und schließlich der fünfte Klagegrund zu prüfen.
Erster Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei für die in der Zeit vom 16. Mai 2000 bis zum 11. April 2002 begangene Zuwiderhandlung verantwortlich
42 Dieser Klagegrund besteht aus vier Teilen. Mit dem ersten Teil macht die Klägerin geltend, ihre Verteidigungsrechte seien verletzt worden, weil sie in Bezug auf den Zeitpunkt, in dem sie der gerügten Zuwiderhandlung nach den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses beigetreten sei, nicht gehört worden sei. Der zweite und der dritte Teil stützen sich auf Beurteilungsfehler im Zusammenhang mit der Einstufung bestimmter bilateraler Zusammenkünfte als Teile einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung. Der vierte Teil stützt sich auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, weil die Kommission unterschiedliche Beweismaßstäbe zugrunde gelegt habe, um die Beteiligung eines anderen Unternehmens, [vertraulich], an dem CPT‑Kartell zu verneinen, obwohl dieses Unternehmen im selben Zeitraum wie die Klägerin an bestimmten bilateralen Zusammenkünften sowie an europäischen Glastreffen teilgenommen habe.
43 Zunächst sind der zweite und der dritte Teil zusammen zu untersuchen.
44 Mit dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Zusammenkunft zwischen ihr und Philips am 16. Mai 2000 sei selbst dann, wenn sie nach Auffassung des Gerichts einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt habe, kein Bestandteil der in dem angefochtenen Beschluss festgestellten einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gewesen.
45 Mit dem dritten Teil trägt die Klägerin vor, keiner der anderen von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss angeführten bilateralen Kontakte – die sporadisch gewesen seien und keinen Zusammenhang miteinander gehabt hätten – weise die Merkmale der Glastreffen auf, die angeblich im gleichen Zeitraum stattgefunden hätten, oder habe zum Austausch von Informationen über bei den Zusammenkünften des Kartells getroffene Vereinbarungen geführt.
46 Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Klägerin weder an den asiatischen Glastreffen (von 1997 bis 2002) noch an den europäischen Glastreffen (von 1999 bis 2005) teilnahm, aber in der Zeit vom 16. Mai 2000 bis zum 11. April 2002 neun bilaterale Kontakte knüpfte, insbesondere zu drei Teilnehmern der genannten Treffen, nämlich zu Samsung SDI, soweit es um die asiatischen Glastreffen geht, und zu Thomson und Philips, soweit es um die europäischen Glastreffen geht. Die Klägerin macht jedoch geltend, selbst wenn diese Kontakte ein wettbewerbswidriges Verhalten der beteiligten Unternehmen dargestellt hätten, lägen keine Beweise dafür vor, dass sie bei Gelegenheit dieser Kontakte über das Vorliegen der angeblichen einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung unterrichtet gewesen sei und deshalb davon ausgegangen werden könne, sie sei seit dem Frühjahr 2000 an dieser Zuwiderhandlung beteiligt gewesen.
47 Insoweit macht die Klägerin geltend, die Kommission habe sich in den Erwägungsgründen 126, 274, 279, 287, 313, 502 und 686 des angefochtenen Beschlusses auf Beweise gestützt, die aus der Zeit vor dem behaupteten Beitritt der Klägerin zum CPT‑Kartell (16. Mai 2000) gestammt hätten und von denen einige nicht in der Mitteilung der Beschwerdepunkte angeführt worden seien, um festzustellen, dass sie erstens von den Glastreffen gewusst habe und zweitens ihre Strategie darin bestanden habe, sich mittels bilateraler Kontakte daran zu beteiligen. Außerdem seien die Beweise, aus denen die Kommission abgeleitet habe, dass die Klägerin durch einen Wettbewerber – [vertraulich] –, der an den Glastreffen teilgenommen habe, über die Existenz des CPT‑Kartells unterrichtet worden sei, zu indirekt und allgemein, während die angeblichen Versuche ihrer Wettbewerber, sie in dieses Kartell einzubeziehen, vielmehr [vertraulich] betroffen hätten.
48 Ihren Schriftsätzen zufolge streiten die Parteien über den Beweiswert der Beweismittel, auf die die Kommission in dem angefochtenen Beschluss ihre Ansicht stützt, die Klägerin habe zum einen die von den Teilnehmern der asiatischen und europäischen Glastreffen beabsichtigten oder an den Tag gelegten wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen und die von diesen Teilnehmern verfolgten gemeinsamen Ziele gekannt oder diese vernünftigerweise vorhersehen können und sei bereit gewesen, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen, und sie habe zum anderen durch ihr eigenes Verhalten zur Erreichung dieser Ziele beitragen wollen.
49 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung, wie er sich insbesondere aus Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie aus Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, angesichts der Art der fraglichen Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der ihretwegen verhängten Sanktionen insbesondere in Verfahren wegen Verletzung der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln gilt, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können (vgl. Urteil des Gerichts vom 10. Oktober 2014, Soliver/Kommission, T‑68/09, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Daraus ergibt sich zum einen, dass die Kommission die Beweismittel beizubringen hat, die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend beweisen (Urteile des Gerichtshofs vom 17. Dezember 1998, Baustahlgewebe/Kommission, C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 58, sowie vom 8. Juli 1999, Kommission/Anic Partecipazioni, C-49/92 P, Slg. 1999, I-4125, Rn. 86), und zum anderen, dass ein Zweifel des Gerichts dem Unternehmen zugutekommen muss, an das sich die Entscheidung richtet, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird (vgl. Urteil des Gerichts vom 24. März 2011, Kaimer u. a./Kommission, T‑379/06, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dabei obliegt es der Kommission insbesondere, alles nachzuweisen, woraus auf die Mitwirkung eines Unternehmens an einer solchen Zuwiderhandlung und auf seine Verantwortung für die verschiedenen mit dieser verbundenen Einzelakte geschlossen werden kann (Urteil Kommission/Anic Partecipazioni, Rn. 86). Hieraus folgt, dass die Mitwirkung eines Unternehmens an einem Kartell nicht aus einer auf der Grundlage von ungenauen Tatsachen herbeigeführten Spekulation abgeleitet werden darf (vgl. Urteil Soliver/Kommission, oben in Rn. 49 angeführt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Daher ist zu prüfen, ob die von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss herangezogenen Beweismittel hinreichend glaubhaft, aussagekräftig und übereinstimmend sind, um die feste Überzeugung zu begründen, dass die Klägerin sich an dem CPT‑Kartell beteiligt hat.
52 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Vorliegen einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung nicht notwendigerweise bedeutet, dass ein Unternehmen, das an der einen oder anderen ihrer Ausprägungen beteiligt war, für sämtliche dieser Zuwiderhandlungen verantwortlich gemacht werden kann. Zusätzlich ist erforderlich, dass die Kommission nachweist, dass dieses Unternehmen die wettbewerbswidrigen Aktivitäten der anderen Unternehmen auf der europäischen Ebene kannte oder sie vernünftigerweise vorhersehen konnte. Die bloße Tatsache, dass eine Vereinbarung, an der sich ein Unternehmen beteiligt hat, und ein Gesamtkartell den gleichen Gegenstand haben, genügt nicht, um diesem Unternehmen die Beteiligung am Gesamtkartell zur Last zu legen. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist nämlich nur anwendbar, wenn eine Willensübereinstimmung zwischen den betreffenden Parteien vorliegt (vgl. Urteil Soliver/Kommission, oben in Rn. 49 angeführt, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Nur wenn das Unternehmen, als es an einer Vereinbarung teilnahm, wusste oder wissen musste, dass es sich damit in das Gesamtkartell eingliederte, kann seine Teilnahme an der betreffenden Vereinbarung somit Ausdruck seines Beitritts zu diesem Kartell sein (Urteile des Gerichts vom 20. März 2002, Sigma Tecnologie/Kommission, T-28/99, Slg. 2002, II-1845, Rn. 45, vom 16. November 2011, Low & Bonar und Bonar Technical Fabrics/Kommission, T‑59/06, Rn. 61, sowie vom 30. November 2011, Quinn Barlo u. a./Kommission, T-208/06, Slg. 2011, II-7953, Rn. 144). Anders gesagt muss festgestellt werden, dass dieses Unternehmen durch sein Verhalten zur Erreichung der von allen Beteiligten verfolgten gemeinsamen Ziele beitragen wollte und von dem von anderen Unternehmen in Verfolgung dieser Ziele beabsichtigten oder an den Tag gelegten Verhalten wusste oder es vernünftigerweise vorhersehen konnte sowie bereit war, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen (vgl. Urteil Soliver/Kommission, oben in Rn. 49 angeführt, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Das betreffende Unternehmen muss somit die allgemeine Tragweite und die wesentlichen Merkmale des Gesamtkartells kennen (vgl. Urteil Soliver/Kommission, oben in Rn. 49 angeführt, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Daraus folgt, dass die Kommission sich zur Feststellung der Beteiligung der Klägerin an der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit CPT nicht damit begnügen darf, die Wettbewerbswidrigkeit der zwischen der Klägerin und ihren Wettbewerbern in der Zeit vom 16. März 2000 bis zum 11. April 2002 geknüpften Kontakte nachzuweisen, sondern auch zu beweisen hat, dass die Klägerin zum einen von dem Umstand, dass diese Kontakte sich in einen Gesamtplan einfügten und darauf abzielten, zur Verwirklichung der Ziele des Gesamtkartells beizutragen, und zum anderen von dessen allgemeiner Tragweite und seinen wesentlichen Merkmalen Kenntnis hatte oder vernünftigerweise haben musste.
56 Wie die Klägerin geltend macht und oben in Rn. 52 ausgeführt ist, reichen – mangels Indizien für die Kenntnis der Klägerin von der Existenz oder dem Inhalt der bei den Glastreffen getroffenen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen – die bloße Tatsache, dass die Zusammenkünfte, an denen sie teilnahm, und das CPT‑Gesamtkartell den gleichen Gegenstand hatten, sowie der Umstand, dass sie Kontakte zu den an diesem Kartell nachweislich beteiligten Unternehmen hatte, als Beweis für ihre Kenntnis dieses Kartells nicht aus (Urteil des Gerichts vom 15. März 2000, Cimenteries CBR u. a./Kommission, T-25/95, T-26/95, T-30/95 bis T-32/95, T-34/95 bis T-39/95, T-42/95 bis T-46/95, T-48/95, T-50/95 bis T-65/95, T-68/95 bis T-71/95, T-87/95, T-88/95, T-103/95 und T-104/95, Slg. 2000, II-491, Rn. 4112).
57 Folglich ist zu prüfen, ob die von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss angeführten Beweise belegen, dass die Klägerin an dem Tag (16. Mai 2000), an dem sie dem CPT‑Kartell beigetreten sein soll, von dessen Existenz Kenntnis hatte oder tatsächlich von ihren Wettbewerbern über dessen Existenz informiert worden war, und dass sie bereit war, durch ihr eigenes Verhalten zur Erreichung der von allen Mitgliedern dieses Kartells gemeinsam verfolgten Ziele beizutragen.
58 Insoweit geht aus diesem Beschluss hervor, dass sich die Kommission zur Stützung ihrer Feststellung, dass die Klägerin – obwohl sie erst ab April 2002 an den Glastreffen teilgenommen habe – mittelbar durch einige Wettbewerber über das CPT‑Kartell informiert worden sei (Erwägungsgründe 313, 498 bis 500, 502, 511, 546 und 686 des angefochtenen Beschlusses) und diese versucht hätten, sie in dieses Kartell zu verwickeln (Erwägungsgründe 502 und 511 dieses Beschlusses), auf die in den Erwägungsgründen 264 bis 270, 273, 274, 278, 279, 287 und 502 dieses Beschlusses angeführten Beweismittel sowie auf die in ihren Erwägungsgründen 126 (Fn. 176) und 549 bis 552 wiedergegebenen Erklärungen der Kronzeugen beruft.
59 Ohne dass über die Frage entschieden zu werden braucht, ob die Kommission sich zu Recht auf Beweismittel gestützt hat, die aus der Zeit vor dem behaupteten Beitritt der Klägerin zum CPT‑Kartell stammen, um nachzuweisen, dass die Klägerin in diesem Zeitpunkt von der Existenz dieses Kartells oder den von den daran beteiligten Unternehmen beabsichtigten oder an den Tag gelegten wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen wusste oder diese vernünftigerweise hätte vorhersehen können, reicht erstens die Feststellung aus, dass diese Beweise – abgesehen von einer Zusammenkunft am 14. Januar 1998, an der die Klägerin teilgenommen hatte – [vertraulich] betrafen und nicht die Klägerin.
60 Wie nämlich aus den Erwägungsgründen 273 und 279 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht und die Klägerin zutreffend vorträgt, zielten die in den ersten Jahren des CPT‑Kartells (namentlich in den Jahren 1998 und 1999) von den anderen Mitgliedern dieses Kartells, darunter [vertraulich], unternommenen Bemühungen, weitere Unternehmen zur Teilnahme an diesem Kartell zu bewegen, entgegen der Behauptung im 502. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses auf [vertraulich] ab und nicht auf die Klägerin. Mit Ausnahme der in den Erwägungsgründen 69 und 926 des angefochtenen Beschlusses angeführten Umstände, dass zum einen die Klägerin mit einem Kapitalanteil von 20 bis 30 % Minderheitsaktionärin des zusammen mit [vertraulich], [vertraulich] und [vertraulich] gegründeten Gemeinschaftsunternehmens und zum anderen dieses Unternehmen ebenfalls Mitglied des CPT‑Kartells gewesen sei, hat die Kommission in diesem Beschluss keinerlei Verbindung zwischen der Klägerin und [vertraulich] nachgewiesen. Obwohl die Kommission die Mitteilung der Beschwerdepunkte auch an [vertraulich] gerichtet hatte, ist insoweit festzustellen, dass diese nicht Adressatin des angefochtenen Beschlusses war. Wie die Klägerin geltend macht, geht aus diesem Beschluss auch nicht hervor, dass die Kommission ihr das Verhalten von [vertraulich] zugerechnet hätte. In dem angefochtenen Beschluss hat die Kommission nämlich sorgfältig zwischen diesen beiden Unternehmen unterschieden.
61 Daraus folgt, dass dem Argument der Kommission, der Vertreter von [vertraulich] habe bei der Zusammenkunft vom 20. Oktober 1999 im Namen der gesamten Gruppe gehandelt, als er die Absicht der Klägerin bekannt gegeben habe, die „33-Zoll-Produktlinie im Jahr 2001 von ihrem Werk in Japan nach Indonesien zu verlagern“, nicht zu folgen ist. Eine solche Erwägung ist im Übrigen nicht Inhalt des angefochtenen Beschlusses, in dem die Kommission lediglich darauf hinweist, [vertraulich] habe Chunghwa bei dieser Zusammenkunft über den Stand der Preiserhöhungen ihrer 14- und 20-Zoll-CPT für bestimmte Abnehmer informiert.
62 Zweitens ist in den Auszügen aus den Protokollen der Zusammenkünfte vom 10. Mai, 20. Mai und 23. August 1999, die im 279. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angeführt sind, sowie in dem im 287. Erwägungsgrund dieses Beschlusses angeführten Auszug aus dem Protokoll der Zusammenkunft vom 21. September 1999 lediglich erwähnt, dass die Mitglieder des CPT‑Kartells beabsichtigten, Kontakt zu [vertraulich] aufzunehmen, die in regelmäßigem Kontakt mit [vertraulich] gestanden habe. Im Gegensatz zu den Angaben im 280. Erwägungsgrund dieses Beschlusses zielte die Erklärung des Vertreters von [vertraulich] bei der Zusammenkunft vom 23. August 1999, er beabsichtige, ein Treffen mit der Führungsspitze von „Toshiba“ zu organisieren, um sie zu überzeugen, sich der vereinbarten Preiserhöhung anzuschließen, nicht auf die Klägerin ab, sondern auf [vertraulich]. Diese Erklärung wird nämlich in einem Abschnitt des Protokolls dieser Zusammenkunft zitiert, der die Überschrift [vertraulich] trägt und sich mit der verzögerten Umsetzung der Preiserhöhung in Indonesien befasst. Die Tatsache, dass es sich bei dem von dieser Erklärung betroffenen Unternehmen nicht um die Klägerin handelte, steht auch im Einklang mit der [vertraulich] übertragenen Aufgabe, [vertraulich] aktuelle Informationen über den betreffenden Markt zu erteilen.
63 Entgegen der Schlussfolgerung der Kommission in den Erwägungsgründen 280 und 995 des angefochtenen Beschlusses belegen diese Beweismittel somit nicht, dass die Klägerin tatsächlich durch [vertraulich] über das CPT‑Kartell unterrichtet worden wäre.
64 Was die in Fn. 169 des angefochtenen Beschlusses erwähnte und in Fn. 131 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beschriebene Zusammenkunft vom 14. Januar 1998 betrifft, bei der der Vizepräsident der Klägerin vorschlug, dass die an den Treffen des CDT‑Kartells teilnehmenden Unternehmen Vertreter nach Japan, Korea und Taiwan entsenden sollten, um bilaterale Kontakte zu den japanischen Unternehmen zu knüpfen, die an den Glastreffen nicht teilnahmen, ist festzustellen, dass diese Zusammenkunft ausschließlich CDT zum Gegenstand hatte und folglich ein anderes Kartell betraf. In den Erwägungsgründen 649 bis 656 des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission nämlich festgestellt, dass die Vielzahl von Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen, die mit dem CPT‑Kartell und dem CDT‑Kartell im Zusammenhang standen, ungeachtet der zwischen diesen beiden Kartellen bestehenden Verbindungen zwei getrennte, jeweils einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlungen darstellten. Wie die Klägerin in der Erwiderung vorgetragen hat, beziehen sich die Hinweise auf „CPT“ im Protokoll der fraglichen Zusammenkunft im Übrigen auf die „Chunghwa Picture Tubes“, die an dieser Zusammenkunft teilgenommen hatte. Unter diesen Umständen – und ohne dass über das Vorbringen entschieden zu werden braucht, dieses Beweismittel sei unzulässig, weil es in der Mitteilung der Beschwerdepunkte hinsichtlich des CPT‑Kartells nicht benannt worden sei – durfte die Kommission sich nicht auf das genannte Protokoll stützen, um im 502. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Strategie der Klägerin darin bestanden habe, mittels bilateraler Kontakte am CPT‑Kartell teilzunehmen, und dass ihr die Existenz dieses Kartells folglich bekannt gewesen sei.
65 Entgegen dem Vorbringen der Kommission und den Feststellungen in dem angefochtenen Beschluss reicht der Umstand, dass bei bestimmten Glastreffen, nämlich insbesondere denen vom 7. März, 10. und 20. Mai, 23. August, 21. September und 20. Oktober 1999 sowie denen vom 20. März und 20. November 2001 sensible Geschäftsinformationen über Verkaufsmengen, Produktionskapazitäten und Preise der Klägerin besprochen wurden, nicht für die Annahme aus, diese habe von der Existenz des CPT‑Kartells gewusst und zu den von ihm verfolgten Zielen beitragen wollen. Außerdem hat die Kommission nicht nachgewiesen, dass es sich bei den von den Teilnehmern an diesen Zusammenkünften ausgetauschten Daten um solche der Klägerin handelte und dass die in den Protokollen dieser Zusammenkünfte enthaltenen Hinweise auf „TSB“, auf die sich die Kommission zum Nachweis der Teilnahme der Klägerin am CPT‑Kartell gestützt hat, tatsächlich die Klägerin und nicht [vertraulich] betrafen.
66 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die den Namen der verschiedenen Unternehmen entsprechenden Abkürzungen wie „TSB“, [vertraulich] oder [vertraulich] gelegentlich innerhalb derselben Protokolle auftauchen, nicht für die Annahme ausreicht, die Teilnehmer hätten sorgfältig und systematisch zwischen der Klägerin und [vertraulich] unterschieden. Diese Verweise sind nämlich in ihrem Kontext zu lesen. So ist darauf hinzuweisen, dass sich die Protokolle der Zusammenkünfte vom 7. März, 21. September und 10. Mai 1999 auf in Südostasien ansässige Hersteller von Fernsehgeräten bezogen, die Kunden von [vertraulich] waren, was im Einklang mit dem 279. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses steht, dem zufolge die Teilnehmer des asiatischen Glastreffens vom 21. Juni 1999 die Preiserhöhungen ebenfalls in Bezug auf dieses Unternehmen und auf Aiwa, deren wichtigster Lieferant sie war, untersuchten.
67 Außerdem kann die im 330. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnte Erklärung des Vertreters von [vertraulich] anlässlich einer Zusammenkunft mit [vertraulich] am 6. März 2000, „TSB würde sich zweifellos anschließen, falls GSM beschließt, ihre Preise zu erhöhen“, nicht als auf die Klägerin bezogen interpretiert werden, weil es schwer vorstellbar ist, dass die Strategie eines Unternehmens, an dem die Klägerin eine Minderheitsbeteiligung hält, ihre eigene Preispolitik beeinflusst oder gar für sie bindend ist. Im Übrigen ergibt sich aus der Antwort der Klägerin auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte, dass [vertraulich] ihre Preise eigenständig festsetzte und ihre Angestellten keine über ihr eigenes Unternehmen hinausgehende Entscheidungsbefugnis hatten. Außerdem lässt der bloße Umstand, dass [vertraulich] beschloss, sich einer bei den Glastreffen gegebenenfalls ins Auge gefassten abgestimmten Preiserhöhung anzuschließen, nicht darauf schließen, dass sie die Klägerin davon informiert hätte. Schließlich belegt auch die Angabe, der „japanische Sitz“ erwäge eine Verlagerung bestimmter Produktlinien auf seine Werke in Thailand oder Indonesien, nicht, dass die Klägerin über die von den Mitgliedern des CPT‑Kartells, darunter Chunghwa, beabsichtigten oder an den Tag gelegten wettbewerbswidrigen Praktiken und verfolgten Ziele unterrichtet worden wäre.
68 Drittens behauptet die Kommission in dem angefochtenen Beschluss auch nicht, dass [vertraulich] die Klägerin auf welche Weise auch immer über die Existenz des CPT‑Kartells oder die von dessen Mitgliedern verfolgten Ziele informiert habe.
69 Selbst wenn unterstellt wird, die Klägerin sei über die Treffen des CPT‑Kartells informiert gewesen, wie die Kommission im 287. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, ist viertens nicht nachgewiesen, dass sie durch ihr eigenes Verhalten zur Erreichung der von allen Mitgliedern dieses Kartells verfolgten Ziele beitragen wollte.
70 Anders als die Kommission in ihren Schriftsätzen vorträgt, erbringt der Auszug der von einem Angestellten von Chunghwa anlässlich des Glastreffens vom 21. September 1999 gefertigten Aufzeichnungen, in dem über die Äußerungen eines Angestellten von [vertraulich] im Hinblick auf ein Schreiben, mit dem die Klägerin („der japanische Sitz von TSB“) [vertraulich] gebeten habe, nicht an den Glastreffen teilzunehmen, keinen Beweis dafür, dass die Klägerin tatsächlich die eindeutige Wahl getroffen hätte, an diesen Treffen nicht teilzunehmen, und lässt nicht – wie im Urteil des Gerichts vom6. März 2012, UPM-Kymmene/Kommission (T‑53/06) – den Schluss zu, sie habe von der Existenz des CPT‑Kartells gewusst und zur Erreichung der von dessen Mitgliedern verfolgten Ziele beitragen wollen. Wie die Klägerin vorträgt, belegt dieser Auszug eher im Gegenteil, dass sie nicht wollte, dass [vertraulich] an den Glastreffen teilnimmt.
71 Fünftens geht im Gegensatz zu der in den Erwägungsgründen 498, 499 und 995 des angefochtenen Beschlusses vertretenen Auffassung der Kommission aus den mündlichen Erklärungen der drei Kronzeugen, die im 126. Erwägungsgrund dieses Beschlusses als „übereinstimmende Beweise für die Verstrickung der Klägerin [in das CPT‑Kartell] seit dem Frühjahr 2000“ eingestuft wurden und in Fn. 176 zu diesem Erwägungsgrund angeführt sind, auch nicht hervor, dass die Klägerin – obwohl sie nur selten an multilateralen Zusammenkünften teilnahm – über deren Ergebnisse durch [vertraulich] unterrichtet worden wäre.
72 Abgesehen von der allgemeinen Natur dieser Behauptung ist erstens festzustellen, dass sich die mündliche Erklärung von Chunghwa vom 28. November 2007 auf [vertraulich] als Teilnehmerin an den bilateralen Zusammenkünften bezog und nicht auf die Klägerin. Nach dieser Erklärung nahmen bestimmte Unternehmen an bilateralen Zusammenkünften mit Unternehmen teil, die ihrerseits an den Glastreffen teilnahmen und infolgedessen in der Lage waren, sensible Geschäftsinformationen über diejenigen Unternehmen auszutauschen, die an diesen Treffen nicht teilnahmen, und ihre Gespräche über die Preise und die Produktion auf diese Unternehmen auszuweiten. Insoweit erwähnt diese Erklärung drei Zusammenkünfte zwischen den Mitgliedern des CPT‑Kartells, die am 25. November 1996, 23. August 1999 und 27. Oktober 1999 stattgefunden hätten und bei denen beschlossen worden sei, Kontakt zu den nicht teilnehmenden Unternehmen aufzunehmen. Wie oben in Rn. 62 festgestellt, betraf das in den Erwägungsgründen 279 und 280 des angefochtenen Beschlusses erwähnte Protokoll der Zusammenkunft vom 23. August 1999 aber [vertraulich] und nicht die Klägerin. Ebenso untersuchten die Teilnehmer an der Zusammenkunft vom 27. Oktober 1999 nach dem 291. Erwägungsgrund dieses Beschlusses im Detail die aktualisierten Satzungen einiger Unternehmen, zu denen auch [vertraulich] gehörte, während die Klägerin dort nicht erwähnt ist.
73 Zweitens hat Chunghwa in ihrer späteren mündlichen Erklärung vom 16. März 2009 lediglich angegeben, die Klägerin habe an bilateralen und multilateralen Zusammenkünften teilgenommen. Diese Erklärung präzisiert aber nicht, ob mit „Toshiba“ ausschließlich der Sitz der Gesellschaft und somit die Klägerin oder andere Rechtseinheiten wie etwa [vertraulich] gemeint waren. Somit ist die Frage, ob sich die behauptete Beteiligung von „Toshiba“ an den Zusammenkünften „der Gruppe“ und den bilateralen Zusammenkünften auf die Klägerin bezog, nicht eindeutig geklärt.
74 Drittens befasst sich die mündliche Erklärung von Samsung SDI vom 13. Februar 2008, auf die im 550. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen wird, mit einer Zusammenkunft vom 24. November 1998 zwischen Samsung SDI, LGE und [vertraulich], in deren Verlauf das letztgenannte Unternehmen „Tosummit/Toshiba“ eingeladen haben soll, daran teilzunehmen, und erwähnt, Letztere habe wiederholt an Zusammenkünften der gleichen Art teilgenommen. Wie die Kommission im 273. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses einräumt und sich aus dieser Erklärung ergibt, war mit diesem Rechtssubjekt aber [vertraulich] gemeint und nicht die Klägerin.
75 Entgegen der Behauptung der Kommission im 550. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, die sich auf die mündliche Erklärung von Samsung SDI vom 12. März 2009 stützt, stand [vertraulich] im Übrigen [vertraulich] nahe, weil sie mit dieser – und nicht mit der Klägerin – eine Vereinbarung über technische Hilfe geschlossen hatte.
76 Schließlich ist die Behauptung von Samsung SDI in ihrer mündlichen Erklärung vom 20. Juni 2008, die Klägerin sei im Allgemeinen durch [vertraulich] laufend unterrichtet worden, nicht hinreichend belegt. Wegen seiner mittelbaren Natur reicht dieses Beweismittel, das von einem anderen Unternehmen als dem stammt, das die Klägerin informiert haben soll, zudem nicht aus, um feststellen zu können, die Klägerin habe von der Existenz des CPT‑Kartells gewusst.
77 Daraus folgt, dass die fraglichen mündlichen Erklärungen entgegen der Feststellung der Kommission in den Erwägungsgründen 548 und 552 des angefochtenen Beschlusses keine Bestätigung der Beteiligung der Klägerin am CPT‑Kartell darstellen und daher nicht als Untermauerung der aus dem Zeitraum der Zuwiderhandlung stammenden Beweismittel zu diesem Punkt angesehen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts vom 8. Juli 2004, JFE Engineering u. a./Kommission, T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 219, sowie vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, T-38/02, Slg. 2005, II-4407, Rn. 285). Im Übrigen räumt die Kommission in ihren Schriftsätzen ein, dass diesen mündlichen Erklärungen keine Einzelheiten über die bilateralen Zusammenkünfte zu entnehmen sind, in deren Verlauf die Klägerin durch [vertraulich] über die bei den Glastreffen ins Auge gefassten Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen unterrichtet worden sein soll.
78 Nach alledem ist festzustellen, dass die Beweismittel, auf die sich die Kommission gestützt hat, um nachzuweisen, dass die Klägerin vor April 2002 von der Existenz oder dem Inhalt des Kartells gewusst habe, weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit betrachtet einen rechtlich hinreichenden Beweis dafür erbringen, dass die Klägerin Kenntnis von der Existenz des CPT‑Gesamtkartells hatte oder darüber von ihren Wettbewerbern tatsächlich informiert worden war und durch ihr eigenes Verhalten zur Erreichung der von allen Mitgliedern dieses Kartells verfolgten gemeinsamen Ziele beitragen wollte. Unter diesen Umständen brauchen die Fragen, ob die bilateralen Kontakte wettbewerbswidrig waren und ob sie mit dem CPT‑Kartell im Zusammenhang standen, jedenfalls nicht geprüft zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 4. Juli 2013, Kommission/Aalberts Industries u. a., C‑287/11 P, Rn. 62 und 63).
79 Folglich greifen der zweite und der dritte Teil des ersten Klagegrundes durch, so dass dem ersten Klagegrund insgesamt stattzugeben ist, ohne dass über eine Verletzung von Verteidigungsrechten und über einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, auf die sich der erste und der vierte Teil dieses Klagegrundes stützen, entschieden zu werden braucht.
Zweiter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei für die in der Zeit vom 12. April 2002 bis zum 31. März 2003 begangene Zuwiderhandlung verantwortlich
80 Dieser Klagegrund umfasst zwei Teile, deren erster darauf gestützt wird, die Kommission sei nicht befugt gewesen, eine Zuwiderhandlung im Sinne von Art. 101 AEUV festzustellen, und deren zweiter darauf beruht, dass die Feststellung, die Klägerin habe an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung teilgenommen, fehlerhaft sei.
81 Im Rahmen des ersten Teils macht die Klägerin geltend, sie könne für die Zuwiderhandlung nicht wegen ihrer Teilnahme an den SML-Treffen verantwortlich gemacht werden, weil die Kommission weder nachgewiesen habe, dass die bei diesen Zusammenkünften getroffenen oder vorgesehenen Vereinbarungen im EWR umgesetzt worden seien, noch dass diese Vereinbarungen durch die Verkäufe von Verarbeitungsprodukten unmittelbare, wesentliche und vorhersehbare Wirkung auf dem EWR-Markt entfaltet hätten. Außerdem rügt sie eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte, weil sie keine Gelegenheit gehabt habe, zu der letztgenannten Behauptung der Kommission Stellung zu nehmen.
82 Im Rahmen des zweiten Teils macht die Klägerin geltend, die Kommission habe einen Fehler begangen, indem sie sie wegen ihrer Teilnahme an vier SML-Treffen, die am 12. April, 27. Mai und 6. Dezember 2002 sowie am 10. Februar 2003 unter Beteiligung von Samsung SDI und der LPD-Gruppe in Asien stattgefunden hätten, für die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung verantwortlich gemacht habe. Insoweit trägt die Klägerin vor, die Kommission habe die Aktivitäten der vier verschiedenen Gruppen von Zusammenkünften, nämlich der SML-Treffen, der ASEAN-Treffen, der asiatischen Glastreffen und der europäischen Glastreffen, zu Unrecht zu einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung zusammengefasst, obwohl nicht erwiesen sei, dass ein einem einzigen wirtschaftlichen Ziel dienender Gesamtplan vorgelegen habe, und obwohl diese Gruppen von Zusammenkünften einander nicht hinreichend ergänzt und miteinander in Verbindung gestanden hätten. Hilfsweise macht die Klägerin geltend, sie könne nicht für die Gesamtvereinbarung verantwortlich gemacht werden, weil ihr deren Bestehen nicht bekannt gewesen sei und sie nicht die Absicht gehabt habe, durch ihre Teilnahme an den SML-Treffen dazu beizutragen.
83 Zunächst ist der zweite Teil dieses Klagegrundes zu prüfen, insbesondere die Frage, ob die Kommission zu Recht festgestellt hat, die Klägerin habe durch ihre Teilnahme an vier SML-Treffen zwischen dem 12. April 2002 und dem 10. Februar 2003 an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung teilgenommen. Insoweit geht aus dem 313. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Klägerin ab April 2002 dazu übergegangen sei, an den Zusammenkünften regelmäßig selbst teilzunehmen, und dass aus den Beweisstücken, die diese Kontakte beträfen, ersichtlich sei, dass diese aufrechterhalten worden seien, um ihr aktuelle Informationen zu erteilen und sie in die Entwicklungen und zukünftigen Projekte auf dem Gebiet der weltweiten Kapazitäten, Verkäufe und Preise einzubeziehen. Nach dem 502. Erwägungsgrund dieses Beschlusses seien die Teilnehmer der ersten dieser Zusammenkünfte, nämlich der in den Erwägungsgründen 374 und 375 dieses Beschlusses erwähnten Zusammenkunft vom 12. April 2002, übereingekommen, kontinuierlich zusammenzuarbeiten, alle zwei Monate eine Zusammenkunft abzuhalten und die Preise im dritten Quartal des Jahres 2002 beizubehalten oder zu erhöhen, und hätten Leitlinien für die Preise vereinbart. Den Erwägungsgründen 387, 388 und 503 dieses Beschlusses zufolge liegen schließlich auch Beweise dafür vor, dass die Klägerin innerhalb des Kartells eine aktive Rolle gespielt habe.
84 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Kommission – abgesehen von den Beweisen für die Teilnahme der Klägerin an den SML-Treffen und für deren wettbewerbswidrigen Zweck, die beide unstreitig sind – in dem angefochtenen Beschluss nicht präzisiert hat, aufgrund welcher Umstände sie zu der Feststellung gelangt ist, dass die von den Mitgliedern des CPT‑Kartells beabsichtigten oder an den Tag gelegten rechtswidrigen Verhaltensweisen der Klägerin bekannt gewesen seien und diese durch ihr eigenes Verhalten zu den von diesen Mitgliedern verfolgten gemeinsamen Zielen habe beitragen wollen.
85 Insoweit lässt die Analyse der Protokolle der SML-Zusammenkünfte, die die Kommission in den Erwägungsgründen 374, 375, 377, 384 und 387 des angefochtenen Beschlusses vorgenommen hat, jedenfalls nicht den Schluss zu, die Klägerin habe von der Existenz des weltweiten CPT‑Kartells Kenntnis gehabt und zu den von seinen Mitgliedern verfolgten Zielen beitragen wollen. Die Kommission hat nämlich lediglich den Zweck und die weltumspannende Tragweite dieser Zusammenkünfte beschrieben und behauptet, die Teilnehmer an der ersten dieser Zusammenkünfte hätten beschlossen, ihre Zusammenarbeit auf weltweiter Ebene fortzusetzen. Ein solcher Umstand kann aber, selbst wenn er erwiesen wäre, nicht als Beweis für die Kenntnis von der Existenz des CPT‑Kartells im Sinne der oben in den Rn. 52 und 53 angeführten Rechtsprechung angesehen werden.
86 Ohne dass es einer Prüfung bedarf, ob die SML-Treffen Teil einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung waren, folgt daraus, dass die Kommission nicht in rechtlich hinreichender Weise nachgewiesen hat, dass die Klägerin im Sinne der oben in den Rn. 52 bis 54 angeführten Rechtsprechung mittels ihrer Teilnahme an den vier SML-Treffen durch ihr eigenes Verhalten zu allen Zielen hätte beitragen wollen, die die am CPT‑Kartell beteiligten Unternehmen gemeinsam verfolgten, dass sie Kenntnis von den rechtswidrigen Verhaltensweisen gehabt hätte, die diese Kartellmitglieder zur Verfolgung dieser Ziele beabsichtigten oder an den Tag legten, oder sie vernünftigerweise vorhersehen konnte oder dass sie bereit gewesen wäre, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen. Im Übrigen kann die Kenntnis dieser Verhaltensweisen auch nicht im Wege einer Gesamtwürdigung der in dem angefochtenen Beschluss angeführten Beweismittel aus dem Umstand hergeleitet werden, dass die Klägerin zunächst bilaterale Kontakte zu bestimmten Mitgliedern des CPT‑Kartells unterhalten hatte und in der Folge gemeinsam mit einigen von ihnen an vier SML-Treffen teilnahm.
87 Folglich greift der zweite Teil des zweiten Klagegrundes durch, ohne dass an dieser Stelle geprüft werden muss, ob die Kommission zu der Feststellung befugt war, die Teilnahme der Klägerin an den SML-Treffen sei eine Zuwiderhandlung im Sinne von Art. 101 AEUV gewesen.
Vierter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin hafte gesamtschuldnerisch für die Beteiligung von MTPD an der vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangenen Zuwiderhandlung.
88 Dieser Klagegrund umfasst drei Teile. Der erste stützt sich auf einen Begründungsmangel, der zweite auf einen Beurteilungsfehler in Bezug auf die Frage, ob die Klägerin einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten des Gemeinschaftsunternehmens ausgeübt hat, und der dritte auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte, weil die Klägerin keinen Zugang zu den von Panasonic in Beantwortung der Mitteilung der Beschwerdepunkte sowie nach der Anhörung eingereichten Stellungnahmen gehabt habe.
89 Zunächst ist der zweite Teil dieses Klagegrundes zu prüfen.
– Zweiter Teil
90 Die Klägerin weist darauf hin, dass MEI aufgrund ihrer Mehrheitsbeteiligung in Höhe von 64,5 % die alleinige Kontrolle über MTPD innegehabt und die Mehrheit der Mitglieder des Verwaltungsrats ernannt habe, so dass sie die Kontrolle über alle mit einfacher Mehrheit zu fassenden Beschlüsse der Leitungsorgane gehabt, den Präsidenten von MTPD ausgewählt und deren laufende Geschäfte geleitet habe. Sie selbst habe folglich nur eine Minderheitsbeteiligung von 35,5 % gehalten, ohne über Rechte zu verfügen, die über die Rechte hinausgingen, die Minderheitsaktionären üblicherweise gewährt würden. Trotz der Beweise, die diesen Umstand belegten, und im Gegensatz zur Entscheidung des Bundeskartellamts, das die geplante Gründung vom MTPD als Erwerb der alleinigen Kontrolle des Gemeinschaftsunternehmens durch MEI genehmigt habe, habe die Kommission aber zu Unrecht die Auffassung vertreten, die in der Satzung von MTPD und in dem Vertrag zur Gründung von MTPD (Business Integration Agreement, im Folgenden: BIA) vorgesehenen Rechte hätten ihr ein Vetorecht in Bezug auf strategische Maßnahmen gewährt, so dass ihr ein Mitbestimmungsrecht über dieses Unternehmen zugestanden habe. Nach Ansicht der Klägerin versetzten diese Rechte sie jedoch weder in die Lage, Einfluss auf das Tagesgeschäft oder das Marktverhalten von MTPD zu nehmen, noch die Preise, die Vermarktung oder sonstige Aspekte ihrer Geschäftspolitik zu kontrollieren, und räumten ihr keine Geschäftsführungsbefugnisse ein.
91 Die Klägerin macht geltend, sie habe daher entgegen den Schlussfolgerungen des angefochtenen Beschlusses keine wirtschaftliche Einheit mit MTPD gebildet und auf deren Marktverhalten weder einen entscheidenden Einfluss ausüben können noch tatsächlich ausgeübt. Insoweit trägt sie vor, sie habe von ihrem angeblichen Vetorecht noch nie Gebrauch gemacht, und die Kommission habe nicht dargetan, dass ihr die Beteiligung von MTPD am CPT‑Kartell im Zeitraum vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 bekannt gewesen sei.
92 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
93 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Verhalten einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden kann, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die die beiden Rechtssubjekte verbinden (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 26. September 2013, EI du Pont de Nemours/Kommission, C‑172/12 P, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Da nämlich in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV bilden, kann die Kommission eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre (Urteil EI du Pont de Nemours/Kommission, oben in Rn. 93 angeführt, Rn. 42).
95 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, um das Verhalten einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zuzurechnen, sich nicht auf die Feststellung beschränken kann, die Muttergesellschaft sei in der Lage, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft auszuüben, sondern auch prüfen muss, ob sie ihn tatsächlich ausgeübt hat (Urteil EI du Pont de Nemours/Kommission, oben in Rn. 93 angeführt, Rn. 44; vgl. Urteile des Gerichts vom 11. Juli 2014, Sasol u. a./Kommission, T‑541/08, Rn. 43, sowie RWE und RWE Dea/Kommission, T‑543/08, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung). Grundsätzlich hat sie einen solchen bestimmenden Einfluss anhand einer Reihe tatsächlicher Umstände zu beweisen (vgl. Urteil des Gerichts vom 27. September 2006, Avebe/Kommission, T-314/01, Slg. 2006, II-3085, Rn. 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 Im Allgemeinen ist ein Mehrheitsanteil am Gesellschaftskapital der Tochtergesellschaft geeignet, der Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft und insbesondere auf deren Marktverhalten zu ermöglichen. So ist entschieden worden, dass in Fällen, in denen die Kontrolle, die eine Muttergesellschaft über ihre Tochtergesellschaft, an der sie mit 25,001 % des Gesellschaftskapitals beteiligt ist, tatsächlich ausübt, einer von der Mehrheit sehr weit entfernten Minderheitsbeteiligung entspricht, nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft ein und demselben Konzern angehören, in dessen Rahmen sie eine wirtschaftliche Einheit bilden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 12. Juli 2011, Fuji Electric/Kommission, T-132/07, Slg. 2011, II-4091, Rn. 182 und die dort angeführte Rechtsprechung).
97 Dennoch kann eine Minderheitsbeteiligung einer Muttergesellschaft ermöglichen, tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten ihrer Tochtergesellschaft auszuüben, wenn sie über Rechte verfügt, die über die Rechte hinausgehen, die üblicherweise Minderheitsaktionären zum Schutz ihrer finanziellen Interessen gewährt werden, und die bei einer Prüfung nach der Methode des Bündels übereinstimmender Indizien rechtlicher oder wirtschaftlicher Natur geeignet sind, den Nachweis dafür zu erbringen, dass ein bestimmender Einfluss auf das Marktverhalten der Tochtergesellschaft ausgeübt wird. Die Kommission kann daher mit Hilfe eines Indizienbündels den Nachweis für die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses erbringen, selbst wenn jedes einzelne dieser Indizien für sich genommen nicht hinreichend beweiskräftig ist (Urteil Fuji Electric/Kommission, oben in Rn. 96 angeführt, Rn. 183).
98 Da das Gericht nach Art. 263 AEUV nur die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses auf der Grundlage der darin enthaltenen Gründe überprüft, ist die tatsächliche Ausübung einer Leitungsbefugnis der Muttergesellschaft gegenüber ihrer Tochtergesellschaft allein nach den Beweisen zu beurteilen, die von der Kommission in dem Beschluss, der der Muttergesellschaft die Zuwiderhandlung zurechnet, dargelegt werden. Daher kommt es allein darauf an, ob angesichts dieser Beweise die Zuwiderhandlung bewiesen worden ist oder nicht (vgl. Urteil Fuji Electric/Kommission, oben in Rn. 96 angeführt, Rn. 185 und die dort angeführte Rechtsprechung).
99 Sodann ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Ausübung einer gemeinsamen Kontrolle über ihre Tochtergesellschaft durch zwei voneinander unabhängige Muttergesellschaften die Kommission grundsätzlich nicht an der Feststellung hindert, dass zwischen einer dieser beiden Muttergesellschaften und der fraglichen Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit besteht, und dass dies selbst dann gilt, wenn diese Muttergesellschaft einen geringeren Anteil am Kapital der Tochtergesellschaft hält als die andere Muttergesellschaft (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 16. Dezember 2010, AceaElectrabel Produzione/Kommission, C-480/09 P, Slg. 2010, I-13355, Rn. 64).
100 Die tatsächliche Ausübung einer Leitungsbefugnis der Muttergesellschaft(en) gegenüber ihrer Tochtergesellschaft kann sich unmittelbar aus der Durchführung der einschlägigen Rechtsvorschriften oder aus einer von den Muttergesellschaften nach diesen Rechtsvorschriften getroffenen Vereinbarung über die Leitung ihrer gemeinsamen Tochtergesellschaft ergeben. Die Bedeutung der Rolle der Muttergesellschaft bei der Leitung ihrer Tochtergesellschaft kann auch dadurch belegt werden, dass an der Spitze der Tochtergesellschaft zahlreiche Personen stehen, die beim Mutterunternehmen Leitungsfunktionen einnehmen. Derartige Doppelfunktionen versetzen das Mutterunternehmen zwangsläufig in die Lage, auf das Marktverhalten seiner Tochtergesellschaft bestimmenden Einfluss zu nehmen, da sie den Mitgliedern der Führungsebene der Muttergesellschaft ermöglichen, im Rahmen ihrer Leitungsfunktionen bei der Tochtergesellschaft dafür zu sorgen, dass deren Vorgehen auf dem Markt mit den Leitlinien übereinstimmt, die die Leitungsebene der Muttergesellschaft festlegt. Dieses Ziel kann sogar erreicht werden, ohne dass das Mitglied bzw. die Mitglieder der Muttergesellschaft, das bzw. die bei der Tochtergesellschaft Leitungsfunktionen einnimmt bzw. einnehmen, dem Vorstand der Muttergesellschaft angehört bzw. angehören. Schließlich kann sich die Rolle, die von der bzw. den Muttergesellschaft(en) bei der Leitung ihrer Tochtergesellschaft eingenommen wird, auch aus den Geschäftsbeziehungen ergeben, die die Muttergesellschaft(en) mit der Tochtergesellschaft unterhält bzw. unterhalten. So hat ein Mutterunternehmen, das auch Lieferant oder Kunde seiner Tochtergesellschaft ist, ein besonderes Interesse an der Leitung der Produktions- oder Distributionsaktivitäten seiner Tochtergesellschaft, um durch die auf diese Weise vollzogene vertikale Integration in vollem Umfang vom entstehenden Mehrwert zu profitieren (vgl. Urteil Fuji Electric/Kommission, oben in Rn. 96 angeführt, Rn. 184 und die dort angeführte Rechtsprechung).
101 Schließlich kann selbst dann, wenn sich aus diesen Vorschriften ergibt, dass die Muttergesellschaften nur gemeinsam berechtigt waren, für das Gemeinschaftsunternehmen zu handeln und es Dritten gegenüber zu verpflichten, und dass sie für seine Geschäftspolitik gemeinsam verantwortlich waren, die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf das Geschäftsverhalten des Gemeinschaftsunternehmens wie bei der zukunftsbezogenen Kontrolle von Zusammenschlüssen vermutet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Sasol u. a./Kommission, oben in Rn. 95 angeführt, Rn. 49).
102 Da jedoch die Prüfung hinsichtlich der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses nachträglich erfolgt und daher auf konkreten Umständen beruhen kann, können sowohl die Kommission als auch die betroffenen Parteien den Nachweis erbringen, dass die Geschäftsentscheidungen des Gemeinschaftsunternehmens nach anderen Modalitäten gefasst wurden als denen, die sich aus der bloßen abstrakten Prüfung der Vereinbarung über den Betrieb des Gemeinschaftsunternehmens ergaben (vgl. in diesem Sinne Urteile Fuji Electric/Kommission, oben in Rn. 96 angeführt, Rn. 194 und 195, sowie vom 13. Juli 2011, General Technic-Otis u. a./Kommission, T-141/07, T-142/07, T-145/07 und T-146/07, Slg. 2011, II-4977, Rn. 115 bis 117).
103 Im Licht dieser Erwägungen ist die Begründetheit des zweiten Teils des vierten Klagegrundes zu prüfen.
104 Im vorliegenden Fall hat die Kommission in den Erwägungsgründen 931 bis 933 und 956 des angefochtenen Beschlusses zunächst die objektiven Umstände angeführt, die belegen sollen, dass die beiden Muttergesellschaften von MTPD in der Lage gewesen seien, durch die aktive Wahrnehmung einer Aufsichts- und Geschäftsleitungsfunktion einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von MTPD auszuüben. Sodann hat sie in den Erwägungsgründen 934 bis 936 des angefochtenen Beschlusses Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen den beiden Muttergesellschaften von MTPD genannt, die sowohl belegen sollen, dass diese einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von MTPD ausgeübt hätten, als auch, dass für wichtige Entscheidungen in Bezug auf MTPD ihre gemeinsame Zustimmung erforderlich gewesen sei.
105 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit Rücksicht darauf, dass dem ersten und dem zweiten Klagegrund stattzugeben ist, dem Vortrag der Kommission, die Klägerin habe aufgrund ihrer unmittelbaren Beteiligung am CPT‑Kartell von dessen Existenz schon vor der Gründung von MTPD gewusst und somit auch von deren späterer Mitgliedschaft Kenntnis gehabt, nicht gefolgt werden kann. Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass es für die Frage, ob das Verhalten von MTPD der Klägerin zugerechnet werden kann, auf deren Kenntnis der Beteiligung von MTPD an dem genannten Kartell nicht ankommt. Um einer Muttergesellschaft die Handlungen ihrer Tochtergesellschaft zuzurechnen, braucht nämlich keineswegs nachgewiesen zu werden, dass die Muttergesellschaft an dem beanstandeten Verhalten unmittelbar beteiligt war oder von ihm Kenntnis hatte. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nicht ein zwischen Mutter- und Tochterunternehmen in Bezug auf die Zuwiderhandlung bestehendes Anstiftungsverhältnis und erst recht nicht eine Beteiligung Ersterer an dieser Zuwiderhandlung, sondern der Umstand, dass sie ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen, der Kommission die Befugnis gibt, die Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an das Mutterunternehmen eines Konzerns zu richten (vgl. Urteil des Gerichts vom 2. Februar 2012, EI du Pont de Nemours u. a./Kommission, T‑76/08, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
106 Zur Eigentümer‑ und Entscheidungsstruktur der satzungsmäßigen Organe von MTPD ist erstens anzumerken, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 932 und 956 des angefochtenen Beschlusses zutreffend ausgeführt hat, dass die beiden Muttergesellschaften nach den Bestimmungen des BIA in Bezug auf strategisch wichtige Fragen, die für die Geschäftstätigkeit von MTPD von grundlegender Bedeutung seien, über ein Vetorecht verfügt hätten, was die Ausübung einer gemeinsamen Kontrolle über MTPD beweise.
107 Insoweit kann die Klägerin sich nicht mit Erfolg darauf berufen, sämtliche Bereiche, die den in Art. 21 Abs. 2 des BIA genannten Beschlüssen – die der Zustimmung beider Muttergesellschaften bedurft hätten – oder den in Art. 23 Abs. 2 des BIA genannten Beschlüssen – die der Zustimmung mindestens je eines von jeder Muttergesellschaft benannten Direktors bedurft hätten – vorbehalten gewesen seien, hätten im Sinne von Nr. 66 der konsolidierten Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2008, C 95, S. 1, im Folgenden: konsolidierte Mitteilung) zu den üblichen Rechten gehört, die Minderheitsgesellschaftern eingeräumt würden, um ihre finanziellen Interessen als Kapitalgeber des Gemeinschaftsunternehmens zu schützen. Aus Nr. 67 dieser Mitteilung, deren Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall die Parteien nicht in Frage stellen, geht nämlich hervor, dass Vetorechte, die eine gemeinsame Kontrolle begründen, in der Regel Entscheidungen über Budget, Geschäftsplan, größere Investitionen und die Besetzung der Unternehmensleitung betreffen. Im Übrigen ergibt sich aus den Nrn. 68 bis 70 der konsolidierten Mitteilung, dass unter Umständen schon allein ein Vetorecht gegen den Geschäftsplan des Unternehmens ausreicht, um zugunsten des Minderheitsgesellschafters eine gemeinsame Kontrolle über das Gemeinschaftsunternehmen zu begründen, selbst wenn es sonst keine anderen Vetorechte gibt, während Vetorechte, die die Ernennung oder Entlassung von Mitgliedern der Unternehmensleitung und die Genehmigung der Finanzplanung betreffen, als „von besonders großer Bedeutung“ gelten. Schließlich besagt Nr. 71 dieser Mitteilung, dass die Bedeutung, die ein Vetorecht im Fall von Investitionen hat, davon abhängt, ab welcher Höhe Investitionen der Genehmigung durch die Muttergesellschaften bedürfen und inwieweit Investitionen auf dem Markt, auf dem das Gemeinschaftsunternehmen tätig ist, von Bedeutung sind.
108 Art. 23 Abs. 2 des BIA gewährte Toshiba Vetorechte sowohl in Bezug auf umfängliche Investitionen (Nr. 12 dieser Bestimmung) als auch in Bezug auf die Errichtung, den Erwerb oder die Beteiligung an einem Unternehmen oder einer anderen Art von Tätigkeit, sofern dies mit Ausgaben von mindestens 1 Mrd. Yen verbunden ist (Nr. 8 dieser Bestimmung), sowie in Bezug auf die Gewährung von Darlehen an die Tochtergesellschaften oder andere Rechtspersonen in Höhe von mindestens 1 Mrd. Yen (Nr. 9 dieser Bestimmung). Wie die Kommission geltend macht, erscheinen diese Beträge angesichts der ursprünglichen Investition der Klägerin in MTPD, die sich auf 26,5 Mrd. Yen belief, nicht außergewöhnlich hoch, so dass ein derartiges Vetorecht darauf hinweisen könnte, dass die Klägerin in der Lage war, einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von MTPD auszuüben.
109 Ferner hatten MEI und die Klägerin, wie die Kommission in den Erwägungsgründen 933 und 953 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, gemäß Art. 27 Abs. 1 des BIA ein bis zum 31. März 2008 gültiges Dokument unterzeichnet, das MTPD betreffende Informationen über Verkäufe, Produktion, Entwicklung, Personalbestand, Investitionen, Finanzpläne und Kapitalrückzahlung enthielt und Grundlage des Geschäftsplans von MTPD war. Diese Bestimmung sah vor, dass der ursprüngliche Geschäftsplan von MTPD während einer Anlaufphase von zwei Jahren, deren Ende auf den 31. März 2005 festgelegt war, von den Muttergesellschaften beschlossen werden sollte, und dass von diesem Zeitpunkt an gemäß Abs. 2 dieser Bestimmung MTPD die jährlichen Geschäftspläne nach Konsultation ihrer Muttergesellschaften aufstellen sollte. Mit Absichtserklärung vom 7. Dezember 2004, durch die Art. 27 Abs. 2 des BIA geändert wurde, verlängerten die Muttergesellschaften die Anlaufphase bis zum 31. März 2007, so dass sie während des gesamten Bestehens von MTPD Einigkeit über deren Geschäftsplan und seine späteren Änderungen erzielen mussten.
110 Die Kommission ist daher zu Recht davon ausgegangen, dass der BIA und der Geschäftsplan, die die operationellen und finanziellen Hauptziele von MTPD sowie deren wesentliche strategische Planung enthielten, von ihren Muttergesellschaften festgelegt worden waren. Denn selbst wenn die Klägerin, wie sie in ihren Schriftsätzen vorträgt, an der Ausarbeitung der genannten Pläne nicht konkret beteiligt gewesen wäre, hätten diese mit Rücksicht auf Art. 27 Abs. 2 des BIA weiterhin ihrer Zustimmung sowie ihrer vorherigen Konsultation bedurft. Im Übrigen bestreitet die Klägerin nicht, allen jährlichen Geschäftsplänen von MTPD zugestimmt zu haben.
111 Ohne dass den von der Klägerin vorgetragenen Gründen für die Verlängerung der Anlaufphase nachgegangen werden muss, ist somit festzustellen, dass diese Verlängerung dazu führte, dass der Klägerin ein Vetorecht gegen den Geschäftsplan von MTPD zustand, das sich auch auf deren Budget erstreckte, und zwar für die gesamte Dauer des Bestehens von MTPD. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin war das Vetorecht gegen den Geschäftsplan daher nicht praktisch wirkungslos. Darüber hinaus reicht allein der Besitz eines solchen Rechts nach Nr. 70 der konsolidierten Mitteilung für die Annahme aus, dass sie tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Gemeinschaftsunternehmen ausgeübt hat.
112 Aufgrund des Vorstehenden ist davon auszugehen, wie auch die Kommission festgestellt hat, dass einige in Art. 23 Abs. 2 und in Art. 27 des BIA aufgeführte Rechte Bereiche betrafen, die die Klägerin in die Lage versetzten, gemeinsam mit Panasonic einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftsstrategie von MTPD auszuüben. Wie zudem aus dem 956. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, kommt es im vorliegenden Fall für die Beurteilung eines bestimmenden Einflusses der Klägerin auf das Marktverhalten von MTPD nicht darauf an, ob sie von diesen Rechten tatsächlich Gebrauch gemacht hat. Um Beschlüsse zu fassen, die insbesondere die in Art. 23 Abs. 2 des BIA genannten Bereiche betrafen, mussten die beiden Muttergesellschaften nämlich zuvor Übereinstimmung erzielen. Der Besitz der betreffenden Vetorechte hatte daher zwangsläufig, und sei es auch nur mittelbar, Auswirkungen auf die Geschäftsführung von MTPD.
113 Zu diesen Vetorechten kamen im Übrigen die in Art. 21 Abs. 2 des BIA aufgeführten Rechte hinzu, nämlich die Rechte in Bezug auf Fragen, die nach dem Handelsrecht Sonderbeschlüssen der Hauptversammlung vorbehalten waren oder die Ausgabe neuer Aktien oder die Ausschüttung von Dividenden betrafen. Diese Rechte stellten ein zusätzliches Indiz dar, auf das die Kommission ihre Beurteilung stützen durfte, die Klägerin sei in der Lage gewesen, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten von MTPD auszuüben.
114 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass auch weitere von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss angeführte Umstände den Schluss zulassen, dass die Klägerin in der Lage war, einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von MTPD auszuüben.
115 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach den Feststellungen der Kommission im 975. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses eines der vier Mitglieder des zehnköpfigen Verwaltungsrats, die gemäß Art. 22 Abs. 2 des BIA von der Klägerin ernannt wurden, zugleich eine leitende Stellung im Unternehmen der Klägerin innehatte, was diese nicht bestreitet. Auch dieser Umstand stellte ein Indiz dar, aus dem die Kommission – in Verbindung mit anderen Anhaltspunkten – ableiten durfte, dass die Klägerin in der Lage war, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten von MTPD auszuüben.
116 Außerdem hatte die Klägerin gemäß Art. 22 Abs. 3 des BIA eines der beiden zur Vertretung des Gemeinschaftsunternehmens befugten Verwaltungsratsmitglieder, das zugleich dessen Vizepräsident war, zu ernennen. Wie die Kommission in den Erwägungsgründen 940 und 941 des angefochtenen Beschlusses zutreffend festgestellt hat, hatten die beiden Vizepräsidenten von MTPD, die während des Bestehens dieses Unternehmens ernannt worden waren, zuvor hochrangige Funktionen in der Geschäftsleitung der Klägerin wahrgenommen und waren anschließend erneut in deren Dienst getreten. Daraus folgt, dass sie, auch wenn sie keine vertraglichen Beziehungen zur Klägerin mehr hatten und ihr nicht mehr direkt unterstellt waren, notwendigerweise über eingehende Kenntnisse ihrer Politik und Geschäftsziele verfügten und in der Lage waren, die Politik von MTPD mit den Interessen der Klägerin in Übereinstimmung zu bringen. Im Übrigen kann der Vortrag der Klägerin, das Amt des Vizepräsidenten von MTPD habe nur symbolische Bedeutung gehabt, dieses Ergebnis nicht in Frage stellen.
117 Wie die Kommission im 957. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses außerdem festgestellt hat, ist der Umstand, dass der Verwaltungsrat von MTPD sich noch nie gegen die Entscheidungen ihres von Panasonic ernannten Präsidenten gestellt haben soll, nicht als Anhaltspunkt dafür zu verstehen, dass es an einem bestimmenden Einfluss der Klägerin auf das Marktverhalten von MTPD gefehlt hätte, sondern eher als ein Zeichen ihres Einverständnisses mit der Geschäftspolitik von MTPD.
118 Die Tatsache, dass erstens der von Panasonic ernannte Präsident von MTPD mit deren laufender Verwaltung betraut war und den meisten wichtigen Beschlüssen zustimmte, die deren Geschäfte betrafen, und dass zweitens Panasonic nach Art. 20 Abs. 2 des BIA für den Betrieb und die Geschäftsleitung von MTPD verantwortlich war, lässt unter diesen Umständen nicht den Schluss zu, allein Panasonic habe einen bestimmenden Einfluss auf MTPD ausgeübt. Wie im 956. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt wurde, war nämlich für die Geschäftsführung des Gemeinschaftsunternehmens nach dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 des BIA die Mitwirkung der Klägerin erforderlich.
119 Wie die Kommission in den Erwägungsgründen 977 und 978 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, stellt die in Art. 28 Abs. 3 des BIA enthaltene Bestimmung, die vorsah, dass MTPD bevorzugter Lieferant der Muttergesellschaften für die Herstellung von Fernsehgeräten und diese Muttergesellschaften ihrerseits bevorzugte Lieferanten von CRT‑Komponenten für MTPD sein sollten, außerdem ein zusätzliches Indiz für die Teilnahme der Klägerin an der Geschäftsführung von MTPD dar und lässt erkennen, dass zwischen ihnen enge und dauerhafte wirtschaftliche Verbindungen bestanden, die bei der Beurteilung, ob ein bestimmender Einfluss vorgelegen hat, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Fuji Electric/Kommission, oben in Rn. 96 angeführt, Rn. 184). Dieses Ergebnis kann durch den Umstand, dass die Klägerin auch auf andere CPT‑Lieferanten zurückgriff, nicht in Frage gestellt werden. Ferner kann die Klägerin sich nicht mit Erfolg darauf berufen, an der Vermarktung des Endprodukts durch MTPD nicht beteiligt gewesen zu sein, weil MTPD, nachdem die Klägerin ihren Geschäftsbereich CRT auf sie übertragen hatte, [vertraulich], ein im Besitz der Klägerin stehendes Unternehmen (vgl. oben, Rn. 3), als Vertriebskanal für Verkäufe in die Europäische Union benutzte, wie die Kommission – in diesem Punkt unwidersprochen – dargelegt hat. Außerdem hat die Klägerin die Feststellung der Kommission im 977. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, die auf diesem Wege verkauften CPT seien teils in den Werken von MTPD und teils im Unterauftrag im Werk der Klägerin in Himeji (Japan) – das nicht auf MTPD übertragen worden sei – produziert worden, nicht mit Erfolg in Frage gestellt.
120 Drittens ergibt sich aus den Beweismitteln, auf die sich die Kommission in dem angefochtenen Beschluss gestützt hat, dass die Klägerin sich an der Geschäftsführung von MTPD beteiligt hat, indem sie insbesondere der Schließung von zwei Tochterunternehmen von MTPD in Europa und in den Vereinigten Staaten im November 2005 zustimmte. Insoweit ist festzustellen, dass die Klägerin nicht bestreitet, ihre Zustimmung zur Schließung dieser Werke erteilt zu haben, sondern lediglich geltend macht, es habe sich um eine außergewöhnliche Maßnahme gehandelt, die mit der Geschäftspolitik von MTPD nichts zu tun gehabt habe. Daher sei ihre Mitwirkung an dieser Beschlussfassung kein Anhaltspunkt dafür, dass sie einen dauerhaften Einfluss auf das Verhalten vom MTPD gehabt habe. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin stellt jedoch der in den Erwägungsgründen 936 und 964 des angefochtenen Beschlusses angeführte Umstand, dass diese Schließung ohne ihre Zustimmung nicht hätte erfolgen können, wie sich auch aus Art. 23 Abs. 2 des BIA ergibt, einen Anhaltspunkt dafür dar, dass die Klägerin tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik des Gemeinschaftsunternehmens ausgeübt hat. Nach dieser Bestimmung hätte das Gemeinschaftsunternehmen einen solchen Beschluss nicht fassen können, ohne dass einer der von der Klägerin ernannten Direktoren im Verwaltungsrat von MTPD zustimmte (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 2. Februar 2012, Dow Chemical/Kommission, T‑77/08, Rn. 86).
121 Was das Vorbringen der Klägerin betrifft, mit dem sie bestreitet, MTPD wirtschaftliche Weisungen erteilt und sich an der Führung ihrer laufenden Geschäfte beteiligt zu haben, ist darauf hinzuweisen – wie die Kommission im 958. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat und sich aus der Rechtsprechung ergibt –, dass die Möglichkeit, einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik eines Gemeinschaftsunternehmens auszuüben, weder den Nachweis einer Einmischung in die laufende Verwaltung der Tätigkeit dieses Unternehmens noch den Nachweis eines Einflusses auf deren Geschäftspolitik im engeren Sinne wie etwa auf die Vertriebs- oder Preisstrategie voraussetzt, sondern vielmehr eines Einflusses auf die allgemeine Strategie, die die Ausrichtung des Unternehmens festlegt. Insbesondere kann eine Muttergesellschaft auch dann bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaften ausüben, wenn sie sich keiner konkreten Mitspracherechte bedient und sich konkreter Weisungen oder Leitlinien zu einzelnen Elementen der Geschäftspolitik enthält. Derartige Weisungen sind lediglich ein besonders offenkundiges Indiz für das Bestehen von bestimmendem Einfluss der Mutter auf die Geschäftspolitik ihrer Tochter. Ihr Fehlen lässt indes keinen zwingenden Rückschluss auf eine etwaige Autonomie der Tochtergesellschaft zu. So kann eine einheitliche Geschäftspolitik in einem Konzern auch indirekt aus der Gesamtheit der wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen zwischen der Muttergesellschaft und ihren Tochtergesellschaften geschlossen werden. Beispielsweise kann der Einfluss der Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaften in Bezug auf Unternehmensstrategie, Betriebspolitik, Betriebspläne, Investitionen, Kapazitäten, Finanzausstattung, Humanressourcen und Rechtsangelegenheiten mittelbar Auswirkungen auf das Marktverhalten der Tochtergesellschaften und der gesamten Unternehmensgruppe haben. Entscheidend ist letztlich, ob die Muttergesellschaft aufgrund der Intensität ihres Einflusses das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft in einem Maße steuern kann, dass beide als eine wirtschaftliche Einheit anzusehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237, Rn. 73, sowie Urteil Dow Chemical/Kommission, oben in Rn. 120 angeführt, Rn. 77).
122 Nach alledem hat die Kommission angesichts der Gesamtheit der wirtschaftlichen, rechtlichen und organisatorischen Verbindungen zwischen der Klägerin und MTPD keinen Fehler begangen, als sie feststellte, dass die Klägerin als Muttergesellschaft von MTPD gemeinsam mit Panasonic einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten von MTPD auf dem CPT‑Markt ausgeübt habe. Somit hat die Kommission keinen Fehler begangen, als sie die Ansicht vertrat, dass die Klägerin und MTPD Teile ein und desselben Unternehmens im Sinne von Art. 101 AEUV gewesen und deshalb die Klägerin und Panasonic für das Verhalten von MTPD in der Zeit vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 gesamtschuldnerisch haftbar zu machen seien.
123 Somit ist der zweite Teil des vierten Klagegrundes zurückzuweisen.
– Erster Teil
124 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe weder angegeben, welche Rechte Minderheitsaktionären üblicherweise eingeräumt würden, noch die in Art. 23 Abs. 2 des BIA aufgeführten Rechte präzisiert, die über diesen Umfang hinausgegangen seien.
125 Insoweit ist jedoch festzustellen, dass das Gericht über den zweiten Teil des vierten Klagegrundes in der Sache entscheiden konnte und die Klägerin die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen, so dass der angefochtene Beschluss entgegen dem Vorbringen der Klägerin in diesem Punkt hinreichend begründet ist. Die im Rahmen des ersten Teils dieses Klagegrundes erhobene Rüge ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
– Dritter Teil
126 Die Klägerin rügt eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte, weil ihr trotz entsprechender Anträge kein Zugang zu den Stellungnahmen gewährt worden sei, die Panasonic als Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte sowie im Anschluss an die Anhörung zum Geschäftsplan von MTPD eingereicht habe. Insoweit trägt sie vor, obwohl ihre Anträge auf Zugang mit der Begründung zurückgewiesen worden seien, die Kommission beabsichtige nicht, sich ihr gegenüber in dem angefochtenen Beschluss auf diese Dokumente zu berufen, habe die Kommission sich vorbehaltlos auf sie gestützt, um ihre Feststellung eines gemeinsam ausgeübten bestimmenden Einflusses auf das Verhalten von MTPD zu untermauern.
127 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstellt, der auch in einem Verwaltungsverfahren beachtet werden muss (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 2. Oktober 2003, Thyssen Stahl/Kommission, C-194/99 P, Slg. 2003, I-10821, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
128 Die Wahrung der Verteidigungsrechte erfordert es, dem betroffenen Unternehmen im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen und Umstände sowie zu den von ihr zur Stützung ihrer Behauptung, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, herangezogenen Schriftstücken sachgerecht Stellung zu nehmen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 25. Januar 2007, Dalmine/Kommission, C-407/04 P, Slg. 2007, I-829, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
129 Im Übrigen stellt die unterbliebene Übermittlung eines Schriftstücks nach ständiger Rechtsprechung nur dann eine Verletzung der Verteidigungsrechte dar, wenn das betreffende Unternehmen dartut, dass sich die Kommission zur Untermauerung ihres Vorwurfs, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, auf dieses Schriftstück gestützt hat und dass dieser Vorwurf nur durch Heranziehung des fraglichen Schriftstücks belegt werden kann. Gibt es andere Belege, von denen die Parteien im Verwaltungsverfahren Kenntnis hatten und die speziell die Schlussfolgerungen der Kommission stützen, so würde der Wegfall des nicht übermittelten Belegs als Beweismittel die Begründetheit der in der angefochtenen Entscheidung erhobenen Vorwürfe nicht beeinträchtigen. Das betroffene Unternehmen muss daher dartun, dass das Ergebnis, zu dem die Kommission in ihrer Entscheidung gekommen ist, anders ausgefallen wäre, wenn ein nicht übermitteltes Schriftstück, auf das die Kommission ihre Vorwürfe gegen dieses Unternehmen gestützt hat, als belastendes Beweismittel ausgeschlossen werden müsste (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C-407/08 P, Slg. 2010, I-6375, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).
130 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im 933. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass der Geschäftsplan von MTPD von den Muttergesellschaften beschlossen worden sei, und in Fn. 1821 angegeben, dass Panasonic diese Beurteilung in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte bestätigt habe. Ferner hat die Kommission im 934. Erwägungsgrund dieses Beschlusses angegeben, Panasonic habe in ihrer nach der Anhörung eingereichten Stellungnahme bestätigt, dass der Geschäftsplan von MTPD von deren Muttergesellschaften gemeinsam festgelegt worden sei, und insoweit auf die Antwort von Panasonic auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte verwiesen. Im 948. Erwägungsgrund dieses Beschlusses hat die Kommission diese Feststellung schließlich unter Bezugnahme auf die von Panasonic während der Anhörung verteilten Dokumente wiederholt, aus denen sich ergebe, dass MTPD die Klägerin im Jahr 2004 eigens um Zustimmung gebeten habe, ihre mit finanziellen Verlusten verbundene Tätigkeit fortsetzen zu dürfen.
131 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Zustimmung der Klägerin sowie deren vorherige Konsultation – wie im Rahmen des zweiten Teils dieses Klagegrundes festgestellt worden ist (oben, Rn. 109) – angesichts des BIA auch dann erforderlich gewesen wäre, wenn sie sich an der Ausarbeitung der Geschäftspläne von MTPD nicht konkret beteiligt hätte. Denn zum einen ist die Verantwortlichkeit der Klägerin als einer der Muttergesellschaften von MTPD hinreichend nachgewiesen, ohne dass auf die nach der mündlichen Anhörung von Panasonic eingereichten Dokumente zurückgegriffen werden muss, zu denen die Klägerin keinen Zugang gehabt zu haben vorträgt (vgl. oben, Rn. 104 bis 123). Zum anderen behauptet die Klägerin nicht, diese Dokumente enthielten Entlastungsbeweise, auf die sie sich hätte berufen können. Unter diesen Umständen stellt die unterlassene Übermittlung der genannten Dokumente keine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte im Sinne der oben in Rn. 129 angeführten Rechtsprechung dar.
132 Daher sind der dritte Teil sowie der vierte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei für die in der Zeit vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangene Zuwiderhandlung verantwortlich
133 Die Klägerin macht geltend, der angefochtene Beschluss sei fehlerhaft, weil er nicht zwischen ihrer Verantwortlichkeit wegen der ihr vorgeworfenen unmittelbaren Teilnahme an der Zuwiderhandlung und ihrer abgeleiteten Verantwortlichkeit aufgrund der MTPD vorgeworfenen Teilnahme daran unterscheide. Nach ihrer Ansicht hätte die Kommission feststellen müssen, dass jegliche Teilnahme der Klägerin an der Zuwiderhandlung am 31. März 2003, als sie sich aus dem CRT‑Markt zurückgezogen und die Gesamtheit dieses Geschäftsbereichs auf MTPD übertragen habe, beendet gewesen sei. Die Klägerin macht geltend, jegliche Haftung für die Zeit vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 könne sich daher nur aus der Teilnahme von MTPD an der Zuwiderhandlung ergeben, was der verfügende Teil des Beschlusses klar zum Ausdruck hätte bringen müssen.
134 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
135 Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Kommission in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass die Klägerin vom 16. Mai 2000 bis zum 12. Juni 2006 an dem Kartell teilgenommen habe.
136 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wie im Rahmen des vierten Klagegrundes entschieden wurde, das rechtswidrige Verhalten von MTPD vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 der Klägerin und Panasonic zu Recht mit der Begründung zugerechnet hat, sie hätten eine wirtschaftliche Einheit gebildet. Nach ständiger Rechtsprechung übt die Muttergesellschaft nämlich selbst dann, wenn sie nicht unmittelbar an der Zuwiderhandlung beteiligt war, in einem solchen Fall einen bestimmenden Einfluss auf die Tochtergesellschaft(en) aus, die daran beteiligt war(en). In diesem Zusammenhang kann die Haftung der Muttergesellschaft daher nicht als eine verschuldensunabhängige Haftung angesehen werden. In einem solchen Fall wird gegen die Muttergesellschaft selbst wegen einer Zuwiderhandlung vorgegangen, die ihr persönlich zur Last gelegt wird (vgl. Urteil des Gerichts vom 27. Juni 2012, Bolloré/Kommission, T‑372/10, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
137 Jedenfalls hat die Kommission, wie aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses und insbesondere aus dessen Erwägungsgründen 126, 303, 923 bis 927, 993 bis 996, 1000 und 1088 hervorgeht, zwischen zwei Zeiträumen unterschieden, um die Verantwortlichkeit den rechtlichen Einheiten zuzurechnen, die Teil des Konzerns der Klägerin waren oder von ihr beherrscht wurden (vgl. oben, Rn. 3 und 4), nämlich dem Zeitraum vor der Übertragung ihres CRT‑Geschäftsbereichs auf das Gemeinschaftsunternehmen, für den die Klägerin wegen ihrer unmittelbaren Teilnahme am Kartell haftbar gemacht wurde, und dem Zeitraum nach dieser Übertragung, für den sie wegen der Teilnahme von MTPD, auf deren Verhalten sie nach Auffassung der Kommission einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hatte, haftbar gemacht wurde. So heißt es im 1183. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses (Tabelle 12 Buchst. b Nrn. 9 und 10), gegen die Klägerin sei für die Zeit vor der Gründung von MTPD eine Geldbuße von 28048000 Euro zu verhängen sowie für die Zeit des Bestehens des Gemeinschaftsunternehmens eine Geldbuße von 86738000 Euro, für die sie gesamtschuldnerisch mit Panasonic und MTPD hafte. Diese Geldbußen wurden mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. g und h des angefochtenen Beschlusses verhängt.
138 Nach alledem ist festzustellen, dass der Klägerin eine im gesamten in Art. 1 Abs. 2 Buchst. d des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses genannten Zeitraum begangene Zuwiderhandlung zur Last gelegt wurde und dass die Begründung dieses Beschlusses den tragenden Grund für seinen verfügenden Teil darstellt.
139 Daraus folgt, dass die Klägerin nicht mit Erfolg geltend machen kann, der angefochtene Beschluss sei fehlerhaft, weil er nicht zwischen ihrer Verantwortlichkeit wegen der ihr vorgeworfenen unmittelbaren Teilnahme an der Zuwiderhandlung und ihrer abgeleiteten Verantwortlichkeit aufgrund der MTPD vorgeworfenen Teilnahme daran unterscheide, und dass die Rüge, die Kommission hätte feststellen müssen, dass jegliche Teilnahme der Klägerin an der Zuwiderhandlung am 31. März 2003 geendet habe, zurückzuweisen ist.
140 Der dritte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Fünfter, hilfsweise geltend gemachter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, MTPD sei dafür verantwortlich, an der vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangenen Zuwiderhandlung teilgenommen zu haben.
141 Der fünfte Klagegrund umfasst zwei Teile.
142 Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, ihre Haftung für den Zeitraum vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 könne über die von MTPD nicht hinausgehen, weil es sich um eine bloß abgeleitete und dieser gegenüber akzessorische Haftung handele, und beantragt, ihr jede Aufhebung oder Herabsetzung der gegen MTPD verhängten Geldbuße zugutekommen zu lassen, die das Gericht auf die von Panasonic und MTPD gegen den angefochtenen Beschluss erhobenen und unter der Nr. T‑82/13 in das Register eingetragenen Klage beschließen sollte, insbesondere mit der Begründung, MTPD habe an dem in diesem Beschluss festgestellten Kartell nicht teilgenommen.
143 Mit dem zweiten Teil dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, MTPD sei zu Unrecht für eine Teilnahme am CPT‑Kartell mit der Begründung verantwortlich gemacht worden, sie habe an den SML- und ASEAN-Treffen sowie an den behaupteten bilateralen Zusammenkünften teilgenommen. Sie ist der Ansicht, der angefochtene Beschluss sei für nichtig zu erklären, soweit er MTPD für die in diesem Zeitraum begangene Zuwiderhandlung haftbar mache.
144 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
– Erster Teil
145 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss mit Rücksicht darauf, dass dem ersten und dem zweiten Klagegrund stattzugeben ist, insoweit für nichtig erklärt werden muss, als er feststellt, die Klägerin habe vor der Gründung von MTPD unmittelbar am CPT‑Kartell teilgenommen. Hingegen ergibt sich aus der Prüfung des vierten Klagegrundes, dass die Kommission der Klägerin das rechtswidrige Verhalten von MTPD zu Recht zugerechnet hat. Daraus folgt, dass sich die Haftung der Klägerin nur aus ihrer Eigenschaft als Muttergesellschaft, die gemeinsam mit Panasonic einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von MTPD ausgeübt hat, ergeben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 24. März 2011, Tomkins/Kommission, T-382/06, Slg. 2011, II-1157, Rn. 38).
146 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin und MTPD sich unter den Umständen des Sachverhalts aufgrund ihrer gesamtschuldnerischen Verantwortlichkeit für die Zahlung der gegen sie und Panasonic als Gesamtschuldner verhängten Geldbuße in einer besonderen Situation befinden, die sich im Fall der Nichtigerklärung oder Abänderung des angefochtenen Beschlusses auf die Klägerin auswirkt, der das rechtswidrige Verhalten von MTPD zugerechnet wurde. Hätte sich nämlich MTPD nicht rechtswidrig verhalten, hätte dieses Verhalten weder den Muttergesellschaften zugerechnet werden können, noch hätten diese zusammen mit ihrem Gemeinschaftsunternehmen als Gesamtschuldner zur Zahlung der Geldbuße verurteilt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Tomkins/Kommission, oben in Rn. 145 angeführt, Rn. 45).
147 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht mit Urteil vom heutigen Tag in der Rechtssache Panasonic und MT Picture Display/Kommission (T‑82/13) zum einen die von Panasonic und MTPD erhobene Klage abgewiesen hat, soweit sie darauf gerichtet war, den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig zu erklären, und zum anderen dem Antrag dieser Unternehmen auf Änderung dieses Beschlusses teilweise stattgegeben hat, indem es die gegen MTPD und deren Muttergesellschaften als Gesamtschuldner verhängten Geldbußen wegen der Teilnahme von MTPD am CPT‑Kartell vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 herabgesetzt hat.
148 Daraus folgt, dass dem Antrag der Klägerin, ihr jede Aufhebung oder Herabsetzung der gegen MTPD verhängten Geldbuße zugutekommen zu lassen, die im Rahmen der Rechtssache erfolgt, in der das oben in Rn. 147 angeführte Urteil Panasonic und MT Picture Display/Kommission ergangen ist, nur insoweit stattgegeben werden kann, als er die Herabsetzung der gegen MTPD gesamtschuldnerisch mit Panasonic und ihr selbst verhängten Geldbuße im Rahmen der Ausübung der Befugnis des Gerichts zu unbeschränkter Nachprüfung und der Prüfung der Abänderungsanträge zum Ziel hat.
149 Allerdings ist angesichts der von der Klägerin im Rahmen des zweiten Teils dieses Klagegrundes vorgetragenen Argumente zu prüfen, ob die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses in Frage zu stellen ist, soweit er die Teilnahme von MTPD am CPT‑Kartell feststellt.
– Zweiter Teil
150 Die Klägerin trägt erstens vor, dass die Beweise, auf die die Kommission sich in dem angefochtenen Beschluss gestützt habe, nicht die Schlussfolgerung untermauerten, MTPD habe durch ihre Teilnahme an den SML- und ASEAN-Treffen gegen Art. 101 AEUV verstoßen, weil diese Zusammenkünfte nicht den europäischen Markt betroffen hätten, sondern die zum Verkauf an asiatische Kunden bestimmten CPT, und im Rahmen dieser Zusammenkünfte keine Vereinbarungen über Preise, Produktion oder Marktanteile im EWR getroffen worden seien. Sie macht geltend, folglich sei bei diesen Zusammenkünften keine Vereinbarung getroffen worden, die im EWR durchgeführt worden sei oder dort eine unmittelbare, wesentliche und vorhersehbare Wirkung entfaltet habe, und die Kommission habe sich zu Unrecht für befugt gehalten, eine Zuwiderhandlung festzustellen.
151 Zweitens macht die Klägerin geltend, der angefochtene Beschluss sei fehlerhaft, soweit er zu dem Ergebnis gelange, die SML- und ASEAN-Treffen, an denen MTPD teilgenommen habe, seien Bestandteile einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gewesen, und dieser Beschluss enthalte keinen überzeugenden Nachweis dafür, dass sie Kenntnis von den in Europa getroffenen Vereinbarungen gehabt habe.
152 Drittens behauptet die Klägerin, nicht MTPD habe an den ASEAN-Treffen teilgenommen, sondern die Nachfolgerin von [vertraulich], MT Picture Display Indonesia, an deren Kapital MTPD mit 53 % beteiligt gewesen sei, und macht geltend, der angefochtene Beschluss sei für nichtig zu erklären, weil er nicht darlege, aus welchen Gründen MTPD dafür haftbar zu machen sei.
153 Zunächst ist das Vorbringen der Klägerin zurückzuweisen, MTPD habe an den ASEAN-Treffen nicht teilgenommen. Wie die Kommission nämlich in der Klagebeantwortung – in diesem Punkt von der Klägerin in der Erwiderung unwidersprochen – ausgeführt hat, ergibt sich aus der Prüfung der Protokolle dieser Treffen, insbesondere der Treffen vom 16. Februar, 16. März, 18. Mai. 18. Juni und 5. November 2004 sowie vom 6. Dezember 2005, dass erstens außer den Vertretern anderer Tochtergesellschaften von MTPD – wie MTPD Indonesia – auch Angestellte von MTPD tatsächlich an diesen Treffen teilnahmen und zweitens bei allen ASEAN-Treffen, die in diesem Zeitraum stattfanden und die die Kommission in dem angefochtenen Beschluss angeführt hat, stets auf MTPD hingewiesen wurde.
154 Zur Frage der Befugnis der Kommission, die Zuwiderhandlung festzustellen, ist darauf hinzuweisen, dass außerhalb des EWR ansässige Hersteller, deren Produkte jedoch an Dritte im EWR verkauft werden, wenn sie sich über die Preise abstimmen, die sie ihren im EWR ansässigen Kunden bewilligen werden, und diese Abstimmung durchführen, indem sie zu tatsächlich koordinierten Preisen verkaufen, an einer Abstimmung beteiligt sind, die eine Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts im Sinne von Art. 101 AEUV bezweckt oder bewirkt und für deren Verfolgung die Kommission räumlich zuständig ist (vgl. Urteil des Gerichts vom 27. Februar 2014, InnoLux/Kommission, T‑91/11, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
155 Außerdem weist ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV nach der Rechtsprechung zwei Verhaltensmerkmale auf, und zwar die Bildung des Kartells und seine Durchführung. Würde man die Anwendbarkeit der wettbewerbsrechtlichen Verbote vom Ort der Bildung des Kartells abhängig machen, so liefe dies offensichtlich darauf hinaus, dass den Unternehmen ein einfaches Mittel an die Hand gegeben würde, sich diesen Verboten zu entziehen. Entscheidend ist daher der Ort, an dem das Kartell durchgeführt wird. Für die Feststellung, ob dieser Ort im EWR gelegen ist, ist es im Übrigen unerheblich, ob die Kartellmitglieder im EWR ansässige Tochterunternehmen, Agenten, Unteragenten oder Zweigniederlassungen eingeschaltet haben, um Kontakte zu den dort ansässigen Abnehmern zu knüpfen, oder ob sie das nicht getan haben (vgl. Urteil InnoLux/Kommission, oben in Rn. 154 angeführt, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
156 Soweit die Voraussetzung der Durchführung des Kartells erfüllt ist, ist die Zuständigkeit der Kommission für die Anwendung der Wettbewerbsvorschriften der Union auf derartige Verhaltensweisen durch das Territorialitätsprinzip gedeckt, das im Völkerrecht allgemein anerkannt ist (Urteil des Gerichtshofs vom 27. September 1988, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, 89/85, 104/85, 114/85, 116/85, 117/85 und 125/85 bis 129/85, Slg. 1988, 5193, Rn. 18, sowie Urteil InnoLux/Kommission, oben in Rn. 154 angeführt, Rn. 60).
157 Im Übrigen ist das Kriterium der Durchführung eines Kartells als Kriterium für dessen Verknüpfung mit dem Gebiet der Union durch den bloßen Verkauf des kartellbefangenen Produkts in der Union unabhängig von der Lage der Versorgungsquellen oder der Produktionsanlagen erfüllt (vgl. Urteil InnoLux/Kommission, oben in Rn. 154 angeführt, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
158 Im Einklang mit diesen Grundsätzen hat die Kommission sich im vorliegenden Fall zu Recht für befugt gehalten, Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens anzuwenden. Aus den Erwägungsgründen 585 bis 599 des angefochtenen Beschlusses geht nämlich hervor, dass einige der betroffenen Unternehmen im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung zwar außerhalb des Unionsgebiets ansässig waren und keine Tochterunternehmen in der Union hatten, die kollusiven Verhaltensweisen aber innerhalb der Union durchgeführt wurden und dort eine unmittelbare, wesentliche und vorhersehbare Wirkung entfalteten. Insoweit hat die Kommission festgestellt, dass die an diesen Vereinbarungen Beteiligten trotz der Tatsache, dass die Kartellvereinbarungen außerhalb des EWR getroffen wurden und ihr Hauptziel nicht Europa war, gleichwohl durch ihre CPT‑Verkäufe in diesem Gebiet oder durch Maßnahmen, die diese beeinflussten, Wirkung auf die Kunden im EWR ausgeübt haben.
159 Insbesondere hat die Kommission erstens zu Recht angenommen, dass die Zuwiderhandlung sich unmittelbar auf den EWR ausgewirkt habe, weil zum einen die kollusiven Absprachen die Festsetzung der Preise und die Festlegung der Zahl der in den EWR gelieferten CRT unmittelbar beeinflusst hätten, sei es direkt, sei es in Form verarbeiteter Erzeugnisse, und zum anderen sowohl die CDT als auch die CPT von Produktionsanlagen der in anderen Teilen der Welt ansässigen Kartellmitglieder direkt in den EWR geliefert und verschifft worden seien. Zweitens hat sie die Auswirkung der Zuwiderhandlung auf den EWR zu Recht für vorhersehbar gehalten, weil die kartellierten Preise und Liefermengen offensichtliche Auswirkungen auf den freien Wettbewerb sowohl zwischen den CRT‑Herstellern als auch auf den nachgelagerten Markt hatten. Außerdem ist in Übereinstimmung mit der Beurteilung der Kommission festzustellen, dass die Mitglieder des CPT‑Kartells nicht nur die Preise untereinander abgesprochen hatten, sondern auch eine koordinierte Beschränkung der Produktion bewirkt und somit das im EWR zur Verfügung stehende Lieferangebot von Fabriken innerhalb und außerhalb des EWR verringert hatten. Wie die Kommission festgestellt hat, hatte das betreffende Kartell auch im Fall vertikal integrierter Lieferanten wie Philips, LGE, Panasonic und der Klägerin unmittelbare und vorhersehbare Wirkung auf den EWR, u. a. durch Lieferungen der Gemeinschaftsunternehmen an ihre jeweiligen Muttergesellschaften. Drittens hat die Kommission die Wirkung des Kartells aufgrund der Schwere der Zuwiderhandlung, ihrer langen Dauer und der Rolle, die die Mitglieder dieses Kartells auf dem europäischen Markt für CRT und Verarbeitungsprodukte spielten, zu Recht als wesentlich angesehen.
160 Daraus folgt, dass das Argument der Klägerin, die SML- und ASEAN-Treffen hätten sich auf den asiatischen Markt konzentriert und die bei diesen Zusammenkünften getroffenen Vereinbarungen hätten den EWR nicht betroffen, sachlich nicht zutrifft, weil die Teilnehmer dieser Treffen CPT – sowohl direkt als auch in Form verarbeiteter Erzeugnisse – im EWR an unabhängige Dritte verkauften.
161 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in einem Fall, in dem ein vertikal integriertes Unternehmen die Produkte, auf die sich die Zuwiderhandlung bezieht, in seinen Produktionsstätten außerhalb des EWR in die Endprodukte einbaut, der Verkauf dieser Endprodukte im EWR an unabhängige Dritte durch dieses Unternehmen den Wettbewerb auf dem Markt dieser Produkte beeinträchtigen kann und somit bei einer solchen Zuwiderhandlung davon ausgegangen werden kann, dass sie Auswirkungen im EWR hat, auch wenn sich der Markt der betreffenden Endprodukte von dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Markt unterscheidet.
162 Was die Feststellung betrifft, die SML- und ASEAN-Treffen seien Bestandteile der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit CPT gewesen, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Darstellung der Kommission bei diesen Treffen, auch wenn sie sich auf die Verkäufe in Asien konzentrierten, Diskussionen stattfanden, die Ereignisse in anderen Regionen und insbesondere in Europa nicht außer Acht ließen, sondern häufig eine weltumspannende Tragweite hatten. Die Kommission hat daher unter Verweis auf die in den Erwägungsgründen 478 bis 490, 496, 499, 517, 518 und 521 bis 523 des angefochtenen Beschlusses dargelegten Gründe zu Recht festgestellt, dass diese Treffen in vielfältiger Weise mit den europäischen Glastreffen zusammenhingen und dass es gekünstelt wäre, sie von den anderen Kontakten des CPT‑Kartells isoliert zu behandeln, da sie untrennbarer Bestandteil einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gewesen seien, die kollusive Kontakte sowohl in Europa als auch in Asien umfasst habe.
163 So hat die Kommission erstens darauf hingewiesen, dass die drei Reihen von in Asien organisierten Zusammenkünften – in diesem Fall die Glastreffen, die SML- und die ASEAN-Treffen – sowie die in Europa veranstalteten Zusammenkünfte dieselbe Art von Beschränkungen betroffen hätten, nämlich Preisfestsetzungen und Verkaufsplanungen, die einen Austausch sensibler Informationen vorausgesetzt hätten. Zweitens sei die Palette der betroffenen Produkte, nämlich CPT aller Abmessungen, bei einer Gesamtbetrachtung der Zusammenkünfte vergleichbar gewesen. Drittens hätten sich die geografischen Gebiete, die Gegenstand der bei mehreren Zusammenkünften geführten Besprechungen gewesen seien, insoweit überlappt, als die ASEAN- und SML-Treffen eine weltweite Ausrichtung gehabt und damit auch den EWR umfasst oder Bezüge zu Europa gehabt hätten. In gleicher Weise hat die Kommission festgestellt, dass die europäischen Glastreffen auch Bezüge zu Asien aufgewiesen hätten. Viertens hätten die SML- und ASEAN-Treffen, die eine Erweiterung der asiatischen Glastreffen gewesen seien, im selben Zeitraum stattgefunden wie die europäischen Treffen, die von 1999 bis 2005 stattgefunden hätten. Fünftens hätten die verschiedenen Kategorien organisierter Treffen, nämlich die europäischen Glastreffen, die asiatischen Glastreffen sowie die SML- und ASEAN-Treffen, weitgehend dieselben Teilnehmer gehabt. Sechstens hätten die Mitglieder des CPT‑Kartells das Ziel verfolgt, ein deutliches Preisgefälle zwischen im EWR und in Asien vermarkteten identischen Produkten aufrechtzuerhalten und die Preise in Europa zu erhöhen. Folglich hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass die Reichweite des CPT‑Kartells auch den EWR erfasste und dieses Kartell – angesichts der EWR-Direktverkäufe von CPT und der EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse – auf dem Gebiet des EWR durchgeführt worden war.
164 Wie aus dem angefochtenen Beschluss hervorgeht, ist die Kommission zu diesem Ergebnis gelangt, indem sie den Kontext, in dem diese drei Reihen von Treffen in Asien (asiatische Glastreffen, SML- und ASEAN-Treffen) stattfanden, sowie die Protokolle dieser Treffen untersucht und daraus zutreffend geschlossen hat, dass diese Treffen und die europäischen Glastreffen einander ergänzt und sie somit miteinander in Zusammenhang gestanden hätten. Insoweit geht aus den Erwägungsgründen 287 und 288 dieses Beschlusses hervor, dass der ersten multilateralen europäischen Zusammenkunft vom 2. Oktober 1999 in Glasgow eine Aufforderung vorausgegangen war, die Samsung SDI bei einer multilateralen Zusammenkunft vom 21. September 1999 in Taiwan zwischen Chunghwa, Samsung SDI, LGE, [vertraulich] und Philips ausgesprochen hatte, um die Zusammenarbeit mit dem europäischen Markt zu stärken und die am Kartell beteiligten Unternehmen zu veranlassen, regelmäßige Zusammenkünfte zu organisieren, um Marktinformationen auszutauschen und Preise festzusetzen. Es waren nämlich Besorgnisse wegen der in Europa verlangten Preise für 14-Zoll-CPT geäußert worden, die im Verhältnis zu den asiatischen Preisen als zu gering angesehen wurden. Bei einer späteren, in den Erwägungsgründen 251 und 290 des angefochtenen Beschlusses angeführten Zusammenkunft vom 27. Oktober 1999 in Thailand begrüßten die asiatischen Unternehmen den tendenziellen Anstieg der Preise auf dem europäischen und dem amerikanischen Markt infolge einer Produktionsbeschränkung durch die CPT‑Hersteller in Asien.
165 Außerdem geht aus den Protokollen der asiatischen Treffen hervor, dass deren Teilnehmer die Lage der europäischen Märkte und die der asiatischen Märkte verglichen und regelmäßig Absprachen zur Angleichung ihrer Preise und ihrer Kapazitäten trafen. Dem 486. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zufolge vereinbarten die Teilnehmer der asiatischen Treffen Kapazitätsherabsetzungen, die es den Kartellmitgliedern im EWR erleichtern sollten, ihre Preise zu erhöhen, und legten weltweite Zielvorgaben für Marktanteile und Lieferquoten fest. Außerdem wurden die in einer Region verlangten Preise als Maßstab für die Absprache von Preisen in einer anderen Region herangezogen. Somit bestand eine Korrelation zwischen den in Asien und den in Europa verlangten Preisen.
166 Daraus folgt im Gegensatz zum Vorbringen der Klägerin, dass sich der Umfang der Produktion und die Preise in Asien auf die europäischen Preise auswirkten. Wie in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt, verfügten mehrere der asiatischen Mitglieder des CPT‑Kartells zudem während des größten Teils des Zeitraums, in dem die Wettbewerber sich im Rahmen verschiedener Zusammenkünfte trafen, über Produktionsanlagen in Europa. Außerdem geht aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass einige europäische Tochterunternehmen ihren asiatischen Hauptsitz über die Marktsituation in Europa und die im Rahmen des CPT‑Kartells dort geschlossenen Verträge informierten und umgekehrt, was die Klägerin im Übrigen nicht bestreitet.
167 Ferner geht aus den Erwägungsgründen 413 bis 415 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass in der letzten Phase des CPT‑Kartells, die sich von 2004 bis November 2006 erstreckte, außer den SML- und ASEAN-Treffen, die die wichtigsten multilateralen Foren waren, mehrere Ad-hoc-Kontakte im Hinblick auf weltweite Absatz- und Produktionspläne stattfanden, insbesondere in Europa unter Beteiligung von MTPD und Teilnehmern der europäischen Glastreffen wie Samsung SDI, der LPD-Gruppe und Thomson. Insoweit erwähnt Fn. 1074, dass am 6. Dezember 2004, 21. Februar 2005 und 8. Juli 2005 bilaterale Zusammenkünfte zwischen der LPD-Gruppe und MTPD zum Austausch von Informationen stattfanden. Derselben Fußnote zufolge hat MTPD ihrer Antwort auf das Auskunftsverlangen der Kommission Unterlagen beigefügt, aus denen sich ergibt, dass MTPD die von ihren Wettbewerbern stammenden und vom November 2006 datierenden Informationen über die Produktionskapazität der Hersteller von CRT sowie vom April 2005 datierende weltweite Daten und Pläne zu Verkäufen, Angeboten, Produktionsmengen sowie Nachfrageprognosen in Bezug auf CRT für Fernsehgeräte vorgelegt worden waren, was die Klägerin im Übrigen nicht bestreitet.
168 Unter diesen Umständen kann die Klägerin sich nicht mit Erfolg darauf berufen, der angefochtene Beschluss enthalte keinen überzeugenden Nachweis, dass MTPD Kenntnis von der Existenz des CPT‑Kartells gehabt habe. Unerheblich ist schließlich die von der Klägerin vorgetragene und von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss anerkannte Tatsache, dass keine gemeinsame zentrale Organisation bestand, die die europäischen und asiatischen Glastreffen mit den SML- und ASEAN-Treffen verbunden hätte. Aus den vorstehenden Erwägungen, die in dem angefochtenen Beschluss dargelegt sind, ergibt sich nämlich, dass diese Treffen in einem Ergänzungsverhältnis standen und sich in einen Gesamtplan einfügten, so dass die Kommission sie zu Recht als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung einstufen konnte.
169 Wie die Kommission geltend macht und sich aus den entsprechenden Protokollen ergibt, hatten außerdem – entgegen dem Vorbringen der Klägerin – einige der ASEAN-Treffen, an denen MTPD teilnahm, darunter die vom 16. Februar, 16. März und 5. November 2004, abgesehen von Hinweisen auf eine für Europa in Bezug auf bestimmte Kunden getroffene Preisabsprache, deren Umsetzung minutiös überwacht wurde, auch Diskussionen über das künftige Angebot und die künftige Nachfrage sowie über Produktionslinien und Kapazitäten zum Inhalt und betrafen den Weltmarkt einschließlich des EWR. Ein solcher Austausch sensibler Geschäftsinformationen zwischen Wettbewerbern, wie er bei den Zusammenkünften vom 18. Juni 2004 und 6. Dezember 2005 stattgefunden hat, stellt aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen dar, die geeignet sind, die Produktion zu beschränken und Marktanteile zuzuweisen. Insoweit ist das Fehlen formeller Vereinbarungen über diese beiden letzten Aspekte der Zuwiderhandlung für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses ohne Belang, wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, nach der es genügt, dass der Austausch von Informationen den Grad der Ungewissheit über das fragliche Marktgeschehen verringert oder beseitigt und dadurch zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führt (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C-8/08, Slg. 2009, I-4529, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie die Kommission vorträgt, ist die Tatsache, dass ein Teil der Besprechungen Asien betraf, im Übrigen darauf zurückzuführen, dass sich die meisten Produktionsanlagen in dieser Region befanden.
170 Hinsichtlich der SML-Treffen geht aus dem angefochtenen Beschluss und insbesondere aus den Protokollen der Zusammenkünfte vom 28. November 2003, 10. Dezember 2004, 15. März 2005 und 26. Dezember 2005 hervor, dass die anwesenden Unternehmen, darunter MTPD, Europa betreffende Informationen ausgetauscht und die weltweite Situation, einschließlich der in Europa, analysiert haben. Ferner haben die Teilnehmer an diesen Zusammenkünften über die Zweckmäßigkeit diskutiert, die Preise auf dem europäischen Markt, darunter die von kleinen und mittelgroßen CPT, zu überwachen, und es für notwendig befunden, die Produktion zu kontrollieren und die Schließung europäischer Fabriken zu koordinieren. Ferner haben sich zwei dieser Zusammenkünfte, nämlich die vom 28. November 2003 und vom 10. Dezember 2004, ausdrücklich mit der Festsetzung der Preise in Europa befasst.
171 Die Klägerin kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, der angefochtene Beschluss führe keine Beweise dafür an, dass während dieses Zeitraums im Rahmen der SML- und ASEAN-Treffen Marktanteile zugeteilt und die CPT‑Produktion eingeschränkt worden seien, denn aus den Protokollen mehrerer dieser Zusammenkünfte geht hervor, dass die Teilnehmer bei dieser Gelegenheit Angaben über Produktion, Verkäufe, Kapazitäten und ihre Prognosen auf weltweiter Ebene ausgetauscht haben, die verwendet werden konnten, um die Marktanteile der teilnehmenden Unternehmen zu berechnen und die Einhaltung der Vereinbarung zu überwachen, und dass sie Leitlinien für die weltweiten Preise für CPT unterschiedlicher Abmessungen festgelegt haben.
172 Daraus folgt, dass der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen ist.
173 Nach alledem ist dem ersten Klageantrag stattzugeben und Art. 1 Abs. 2 Buchst. d des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, soweit darin festgestellt wird, dass die Klägerin durch ihre Teilnahme am CPT‑Kartell vom 16. Mai 2000 bis zum 31. März 2003 gegen Art. 101 AEUV verstoßen habe. Aufgrund dieser Nichtigerklärung ist auch dem dritten Klageantrag stattzugeben und Art. 2 Abs. 2 Buchst. g des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, mit dem gegen die Klägerin eine Geldbuße von 28048000 Euro wegen ihrer Teilnahme an dem Kartell im Zeitraum vom 16. Mai 2000 bis zum 31. März 2003 verhängt worden ist.
174 Schließlich sind die Anträge auf Nichtigerklärung im Übrigen zurückzuweisen.
Zu den Hilfsanträgen auf Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße
175 Die Klägerin stützt diese Anträge auf einen einzigen Klagegrund, mit dem sie rügt, der angefochtene Beschluss sei mit einem Fehler behaftet, soweit mit dessen Art. 2 Abs. 2 Buchst. g und h eine Geldbuße gegen sie verhängt werde, oder, hilfsweise, mit einem Fehler bei der Berechnung dieser Geldbuße.
176 Wegen der Nichtigerklärung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. g des angefochtenen Beschlusses ist dieser Klagegrund nur insoweit zu prüfen, als damit dargetan werden soll, dass die Kommission in dem angefochtenen Beschluss einen Fehler begangen habe, indem sie mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. h dieses Beschlusses eine Geldbuße gegen die Klägerin verhängt habe, und dass die Berechnung dieser Geldbuße fehlerhaft sei.
177 Dieser Klagegrund, mit dem die Klägerin das Gericht auffordert, von seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung Gebrauch zu machen, umfasst zwei Teile.
178 Im Rahmen des ersten Teils ersucht die Klägerin das Gericht, die Konsequenzen aus den nach ihrer Darstellung von der Kommission begangenen Fehlern zu ziehen, die es im Rahmen seiner Prüfung der auf eine Nichtigerklärung gerichteten Klagegründe feststellen werde. Mit dem zweiten Teil rügt die Klägerin hilfsweise Fehler bei der Berechnung der Geldbuße, die im Wesentlichen zu einem Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte geführt hätten.
179 Da nach der Prüfung der Klagegründe, auf die sich die Anträge auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses stützen, nur dem ersten und dem dritten Klageantrag stattzugeben war (vgl. oben, Rn. 173), braucht der erste Teil dieses Klagegrundes nicht geprüft zu werden.
180 Somit hat das Gericht in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung den zweiten Teil dieses Klagegrundes im Hinblick auf den vierten Klageantrag zu prüfen, mit dem die Klägerin die Herabsetzung der Geldbuße begehrt, die wegen ihrer Teilnahme am Kartell über MTPD gesamtschuldnerisch mit Panasonic gegen sie verhängt worden ist.
181 Die Klägerin stützt ihren Antrag auf Abänderung der gegen sie verhängten Geldbußen auf vier zusätzliche Argumente.
182 Erstens macht die Klägerin geltend, die Argumentation der Kommission hinsichtlich der Festsetzung des anteiligen Umsatzes, anhand dessen sie den Grundbetrag der Geldbuße berechnet habe, sei verworren und lakonisch, und rügt einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insoweit trägt die Klägerin vor, zum einen spiegele die Höhe der Geldbuße nicht die beträchtlichen Unterschiede zwischen dem Umfang des CDT‑Kartells und dem des CPT‑Kartells wider, das weniger vielgestaltig gewesen sei als von der Kommission behauptet, und zweitens sei der zur Bestimmung des Grundbetrags angesichts der Schwere des Kartells festgesetzte Koeffizient von 18 % unverhältnismäßig.
183 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 bei der Bemessung der Geldbuße die Schwere und die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sind.
184 Nach ständiger Rechtsprechung verfügt die Kommission innerhalb der Grenzen der Verordnung Nr. 1/2003 über ein weites Ermessen bei der Ausübung ihrer Befugnis, solche Geldbußen zu verhängen (Urteile des Gerichtshofs vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P, Slg, 2005, I-5425, Rn. 172, sowie vom 24. September 2009, Erste Group Bank u. a./Kommission, C-125/07 P, C-133/07 P, C-135/07 P und C-137/07 P, Slg. 2009, I-8681, Rn. 123). Erlässt die Kommission jedoch Leitlinien, die unter Beachtung des Vertrags die Kriterien präzisieren sollen, die sie bei der Ausübung ihres Ermessens heranzuziehen beabsichtigt, führt dies zu einer Selbstbeschränkung dieses Ermessens, da sie sich an die Leitlinien, die sie für sich selbst festgelegt hat, halten muss (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 8. Oktober 2008, Carbone Lorraine/Kommission, T-73/04, Slg. 2008, II-2661, Rn. 192 und die dort angeführte Rechtsprechung). Sie kann hiervon im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen abweichen, die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sind, nach dem vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2009, Audiolux u. a., C-101/08, Slg. 2009, I-9823, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
185 Im Übrigen heißt es in Ziff. 4 der Leitlinien von 2006:
„Die Befugnis zur Verhängung von Geldbußen … zählt zu den Mitteln, mit denen die Kommission den ihr durch den EG-Vertrag anvertrauten Überwachungsaufgaben nachkommt. Dazu zählt nämlich nicht nur die Pflicht, einzelne Zuwiderhandlungen zu ermitteln und zu ahnden, sondern auch der Auftrag, eine allgemeine Politik mit dem Ziel zu verfolgen, die im Vertrag niedergelegten Grundsätze auf das Wettbewerbsrecht anzuwenden und das Verhalten der Unternehmen in diesem Sinne zu lenken … Dazu muss sie sicherstellen, dass ihre Maßnahmen die notwendige Abschreckungswirkung entfalten … Deswegen kann – wenn die Kommission eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 81 [EG] oder 82 [EG] feststellt – es sich als notwendig erweisen, gegen diejenigen eine Geldbuße zu verhängen, die gegen das geltende Recht verstoßen haben. Diese sollte so hoch festgesetzt werden, dass nicht nur die an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen sanktioniert werden (Spezialprävention), sondern auch andere Unternehmen von der Aufnahme oder Fortsetzung einer Zuwiderhandlung gegen die Artikel 81 [EG] oder 82 [EG] abgehalten werden (Generalprävention).“
186 Wie sich aus Ziff. 5 bis 7 der Leitlinien von 2006 ergibt, berechnet die Kommission die Geldbußen zur Verwirklichung dieser Ziele auf der Grundlage des Wertes der verkauften Waren oder Dienstleistungen, mit denen der Verstoß in Zusammenhang steht, und der Anzahl der Jahre, während der das Unternehmen am Verstoß beteiligt war, und schließt in den Grundbetrag der Geldbuße einen spezifischen Betrag ein, um die Unternehmen von rechtswidrigen Verhaltensweisen abzuschrecken.
187 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Ziff. 19 der Leitlinien von 2006 „[z]ur Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße … ein bestimmter Anteil am Umsatz, der sich nach der Schwere des Verstoßes richtet, mit der Anzahl der Jahre der Zuwiderhandlung multipliziert [wird]“.
188 Hinsichtlich des Koeffizienten für die Schwere der Zuwiderhandlung präzisiert Ziff. 20 der Leitlinien von 2006, dass „[d]ie Schwere der Zuwiderhandlung in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände beurteilt [wird]“.
189 Was die Bestimmung des zu berücksichtigenden Anteils am Umsatz betrifft, sieht Ziff. 21 der Leitlinien von 2006 vor, dass „[g]rundsätzlich … ein Betrag von bis zu 30 % des Umsatzes festgesetzt werden [kann]“. Aus Ziff. 22 der Leitlinien geht hervor, dass die Kommission „[b]ei der Bestimmung der genauen Höhe innerhalb dieser Bandbreite … mehrere Umstände [berücksichtigt], u. a. die Art der Zuwiderhandlung, den kumulierten Marktanteil sämtlicher beteiligten Unternehmen, den Umfang des von der Zuwiderhandlung betroffenen räumlichen Marktes und die etwaige Umsetzung der Zuwiderhandlung in der Praxis“. Schließlich enthält Ziff. 23 dieser Leitlinien insoweit den Hinweis:
„Horizontale, üblicherweise geheime Vereinbarungen … zur Festsetzung von Preisen, Aufteilung der Märkte oder Einschränkung der Erzeugung gehören ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Verstößen und müssen unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten streng geahndet werden. Für solche Zuwiderhandlungen ist daher grundsätzlich ein Betrag am oberen Ende dieser Bandbreite anzusetzen.“
190 Im vorliegenden Fall hat die Kommission, wie sich aus dem 1059. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, bei der Ermittlung der Schwere der Zuwiderhandlung insbesondere den Umstand berücksichtigt, dass sowohl das CPT‑Kartell als auch das CDT‑Kartell vielgestaltig waren, weil sie horizontale Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen (Ziel- oder Mindestpreisen), zur Aufteilung von Märkten, zur Einschränkung der Erzeugung sowie im Fall des CDT‑Kartells zur Aufteilung der Kunden umfassten. Sie hat festgestellt, dass diese Zuwiderhandlungen ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Verstößen gegen die Bestimmungen des Art. 101 AEUV gehörten, für die Ziff. 23 der Leitlinien von 2006 die Berücksichtigung eines am oberen Ende der Bandbreite anzusetzenden Anteils am Umsatz vorsehe. Sie hat ferner darauf hingewiesen, dass den an diesen Zuwiderhandlungen beteiligten Unternehmen die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens bewusst gewesen sei oder hätte bewusst sein müssen, was sich aus der Tatsache ergebe, dass sie Maßnahmen ergriffen hätten, um die Existenz des Kartells zu verschleiern. Außerdem hat die Kommission festgestellt, dass sich der räumliche Umfang sowohl des CDT‑ als auch des CPT‑Kartells auf den gesamten EWR erstreckt habe und dass auf die Adressaten des angefochtenen Beschlusses, hinsichtlich deren die Zuwiderhandlungen festgestellt worden seien, ein kumulierter Marktanteil innerhalb des EWR von weniger als 80 % entfalle. Schließlich stellte sie fest, dass die Kartelle hoch strukturiert gewesen und strikt umgesetzt und überwacht worden seien. Im 1070. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ist sie zu dem Ergebnis gelangt, dass in Anbetracht der Art der Zuwiderhandlung ein Prozentsatz von 18 % der von der Zuwiderhandlung betroffenen Umsätze anzusetzen sei.
191 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist diese Beurteilung hinreichend begründet, weil die Kommission die in Ziff. 22 der Leitlinien von 2006 aufgeführten Gesichtspunkte (vgl. oben, Rn. 189) berücksichtigt hat, nämlich neben der Art der Zuwiderhandlung auch den kumulierten Marktanteil der beteiligten Unternehmen auf dem Gesamtmarkt, die den gesamten EWR umfassende räumliche Erstreckung und die Tatsache, dass das Kartell umgesetzt wurde.
192 Außerdem steht fest, dass die mit CPT verbundene Zuwiderhandlung unter die in Ziff. 23 der Leitlinien von 2006 genannte Kategorie fällt, weil sie insbesondere horizontale geheime Vereinbarungen zur Festsetzung von Preisen umfasste. Da die Leitlinien von 2006 einen Höchstsatz von 30 % vorsehen, hat die Kommission sich folglich mit der Festsetzung des berücksichtigten Anteils am Umsatz auf 18 % – und damit auf wenig mehr als die Hälfte der vorgesehenen Bandbreite – an die Regeln gehalten, die sie sich in diesen Leitlinien selbst auferlegt hat. Eine solche offensichtliche Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht wiegt nämlich ihrer Natur nach besonders schwer und läuft den grundlegenden Zielsetzungen der Union zuwider (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 29. Juni 2012, GDF Suez/Kommission, T‑370/09, Rn. 420 und die dort angeführte Rechtsprechung).
193 Keiner der von der Klägerin vorgetragenen Gesichtspunkte vermag diese Beurteilung in Frage zu stellen.
194 Die Prüfung des vierten und des fünften Klagegrundes, auf die sich die auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses gerichteten Anträge stützen, hat nämlich keinen Anlass gegeben, die Teilnahme der betroffenen Unternehmen an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV in Frage zu stellen, die eine Beschränkung des Wettbewerbs auf dem EWR-Markt bewirkte und insbesondere eine Preisfestsetzung, deren Umsetzung minutiös überwacht wurde, sowie eine Einschränkung der Produktion und einen Austausch vertraulicher Informationen über die CPT zur Folge hatte. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist zum einen festzustellen, dass es angesichts der den Wettbewerb auf dem EWR-Markt einschränkenden Wirkungen der beiden Kartelle unerheblich ist, wie ausgefeilt oder komplex das CDT‑Kartell im Vergleich zum CPT‑Kartell war. Wie sich zum anderen aus dem 1059. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, berücksichtigt der für das CDT‑Kartell angesetzte höhere Schwerekoeffizient den Umstand, dass dieses Kartell im Gegensatz zum CPT‑Kartell auch eine Kundenaufteilung zum Inhalt hatte. Das Vorbringen, der angefochtene Beschluss enthalte keine ausreichenden Beweise für Einschränkungen der Produktion und eine Aufteilung von Märkten, erweist sich angesichts der im Rahmen des zweiten Teils des fünften Klagegrundes durchgeführten Prüfung als nicht stichhaltig.
195 Was schließlich die Behauptung der Klägerin betrifft, zwei der drei Aspekte der Zuwiderhandlung, nämlich die Einschränkung der Produktion und die Aufteilung von Märkten, hätten nicht während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung angedauert, ist festzustellen, dass diese Behauptung, selbst wenn sie zuträfe, nicht ausreicht, um die von der Kommission vorgenommene Beurteilung des Vorliegens der Zuwiderhandlung, ihrer Schwere im vorliegenden Fall und mithin des zur Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße heranzuziehenden Umsatzanteils in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2012, Versalis und Eni/Kommission, T‑103/08, Rn. 241).
196 Daraus folgt, dass die Kommission dadurch, dass sie den zur Bestimmung des Grundbetrags der gegen die Klägerin zu verhängenden Geldbuße berücksichtigten Umsatzanteil unter Anwendung der Leitlinien von 2006 auf 18 % festsetzte, die Grenzen ihres Ermessens nicht überschritten hat. Das Argument, dieser Prozentsatz sei im Vergleich zu dem für das CDT‑Kartell festgesetzten Prozentsatz von 19 % unverhältnismäßig, ist daher zurückzuweisen.
197 Desgleichen ist das Vorbringen der Klägerin zur Umsetzung und zu den Auswirkungen der Zuwiderhandlung zurückzuweisen, weil die Kommission nach Ziff. 23 der Leitlinien von 2006 einen Betrag allein anhand des Kriteriums der Art der Zuwiderhandlung festsetzen durfte (Urteil GDF Suez/Kommission, oben in Rn. 192 angeführt, Rn. 423).
198 Schließlich ist für das Gericht kein anderer Grund ersichtlich, der es rechtfertigen würde, dass es von seiner Befugnis zur Änderung der Höhe der Geldbuße im Hinblick auf die Schwere der Zuwiderhandlung Gebrauch macht.
199 Daher ist diese Rüge zurückzuweisen.
200 Zweitens macht die Klägerin geltend, die Kommission habe den begrenzten Umfang ihrer Beteiligung und der von MTPD weder bei der Festsetzung des Umsatzanteils zur Berechnung des Grundbetrags der Geldbuße berücksichtigt noch bei der Beurteilung, ob mildernde Umstände vorlagen.
201 Zu beachten ist, dass die Zubilligung einer Verringerung des Grundbetrags der Geldbuße wegen mildernder Umstände nach der Rechtsprechung notwendig an die Umstände des Einzelfalls gebunden ist, die die Kommission veranlassen können, einem Unternehmen, das Partei einer rechtswidrigen Vereinbarung ist, diese Verringerung nicht zu gewähren. Die Zubilligung eines mildernden Umstands in Situationen, in denen ein Unternehmen Partei einer offensichtlich rechtswidrigen Vereinbarung ist, von der es weiß oder wissen muss, dass sie den Tatbestand einer Zuwiderhandlung verwirklicht, würde nämlich der verhängten Geldbuße jede Abschreckungswirkung nehmen und die praktische Wirksamkeit von Art. 101 Abs. 1 AEUV beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 9. Juli 2009, Archer Daniels Midland/Kommission, C-511/06 P, Slg. 2009, I-5843, Rn. 104 und 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).
202 Im Übrigen ergibt sich aus Ziff. 29 der Leitlinien von 2006, dass die Kommission weder verpflichtet ist, jeden der dort angeführten mildernden Umstände immer gesondert zu berücksichtigen, noch automatisch eine zusätzliche Herabsetzung des Grundbetrags der Geldbuße zu gewähren, sobald ein Unternehmen Gesichtspunkte vorträgt, die auf das Vorliegen eines dieser Umstände hinweisen. Denn die Angemessenheit einer etwaigen Herabsetzung der Geldbuße wegen mildernder Umstände ist unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände im Wege einer Gesamtwürdigung zu beurteilen. Da sich aus den Leitlinien von 2006 kein zwingender Anhaltspunkt dafür ergibt, welche mildernden Umstände berücksichtigt werden können, ist davon auszugehen, dass der Kommission ein gewisser Spielraum verblieben ist, um im Weg einer Gesamtwürdigung über die Höhe einer etwaigen Herabsetzung der Geldbußen wegen mildernder Umstände zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 2. Februar 2012, Denki Kagaku Kogyo und Denka Chemicals/Kommission, T‑83/08, Rn. 240 und die dort angeführte Rechtsprechung).
203 Im vorliegenden Fall ist zu dem Vorbringen, die Kommission hätte berücksichtigen müssen, dass MTPD nicht an den europäischen Glastreffen, sondern nur an den SML- und ASEAN-Treffen teilgenommen habe, darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wie sich aus der Prüfung des zweiten Teils des fünften Klagegrundes ergibt, zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass MTPD, mit der die Klägerin und Panasonic eine wirtschaftliche Einheit bildeten, an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens teilgenommen hatte, die sich auf das gesamte Gebiet des EWR erstreckte und in Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen bestand, die darauf gerichtet waren, Absprachen über Preise und Produktion zu treffen sowie sensible Geschäftsinformationen unter Wettbewerbern auszutauschen. Angesichts des Ermessens, über das die Kommission bei der Bemessung der von ihr zu verhängenden Geldbußen verfügt, durfte sie die Zubilligung mildernder Umstände nach alledem für nicht gerechtfertigt halten.
204 Die Klägerin hat auch nicht bewiesen, dass MTPD sich dem CPT‑Kartell in einem solchen Maß widersetzt habe, dass dessen reibungsloses Funktionieren gestört worden sei, was jedoch nach der Rechtsprechung vorausgesetzt wird, um eine fehlende Umsetzung des Kartells anzuerkennen, die eine Herabsetzung der Geldbuße wegen mildernder Umstände rechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil Denki Kagaku Kogyo und Denka Chemicals/Kommission, oben in Rn. 202 angeführt, Rn. 248 und die dort angeführte Rechtsprechung).
205 Folglich hat die Kommission die Grenzen des ihr insoweit zustehenden Ermessens nicht überschritten, indem sie den Umstand – wenn er denn bewiesen wäre –, dass MTPD sich nicht an sämtlichen Bestandteilen des fraglichen Kartells beteiligt hat, nicht als mildernden Umstand berücksichtigt hat, der eine Herabsetzung der Geldbuße rechtfertigt. Was nämlich die Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung als solche betrifft, kann nach der Rechtsprechung die Tatsache, dass ein Unternehmen nicht unmittelbar an allen Bestandteilen eines Gesamtkartells teilgenommen hat, dieses nicht von seiner Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV befreien, wenn wie im vorliegenden Fall nachgewiesen ist, dass es zwangsläufig wissen musste, dass die Absprache, an der es sich beteiligte, Teil eines Gesamtplans war und dass sich dieser Gesamtplan auf sämtliche Bestandteile des Kartells erstreckte (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2011, Chalkor/Kommission, C-386/10 P, Slg. 2011, I-13085, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).
206 Außerdem erläutert die Klägerin nicht, inwiefern die Kommission dadurch, dass sie ihr diesen Umstand nicht als mildernd zugebilligt habe, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen haben soll.
207 Selbst wenn unterstellt wird, die Klägerin habe mit diesem Vorbringen nachweisen wollen, dass sie in dem Kartell eine rein passive Rolle gespielt habe, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass ein solcher Umstand zwar in den Leitlinien von 1998 ausdrücklich als ein möglicher mildernder Umstand aufgeführt war, aber bei den mildernden Umständen, die nach den Leitlinien von 2006 berücksichtigt werden können, nicht mehr erwähnt ist. Darin zeigt sich eine bewusste politische Entscheidung, das passive Verhalten der an einem Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln Beteiligten nicht mehr zu „begünstigen“. Diese Entscheidung ist vom Ermessen der Kommission bei der Festlegung und Durchführung der Wettbewerbspolitik gedeckt.
208 Zum anderen setzt „die ausschließlich passive Mitwirkung oder reines Mitläufertum“ eines Unternehmens bei der Zuwiderhandlung definitionsgemäß voraus, dass sich das betroffene Unternehmen nicht hervorgetan hat, d. h. nicht aktiv an der Ausarbeitung der wettbewerbswidrige(n) Absprache(n) teilgenommen hat (Urteil des Gerichts vom 9. Juli 2003, Cheil Jedang/Kommission, T-220/00, Slg. 2003, II-2473, Rn. 167). Nach der Rechtsprechung kann als Anhaltspunkt für die passive Rolle eines Unternehmens innerhalb eines Kartells berücksichtigt werden, dass es im Vergleich zu den gewöhnlichen Mitgliedern des Kartells deutlich seltener an den Besprechungen teilgenommen hat oder dass ausdrückliche Aussagen über die Rolle dieses Unternehmens innerhalb des Kartells vorliegen, die von Vertretern dritter an der Zuwiderhandlung beteiligter Unternehmen stammen, wobei alle relevanten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil Cheil Jedang/Kommission, Rn. 168 und die dort angeführte Rechtsprechung).
209 Im vorliegenden Fall hat MTPD jedoch an einer nicht unerheblichen Zahl von Zusammenkünften des CPT‑Kartells teilgenommen, deren wettbewerbswidriger Charakter erwiesen ist und bei denen sie ihren Wettbewerbern bestimmte sensible Geschäftsinformationen zur Verfügung gestellt hat. Selbst wenn diese Informationen fehlerhaft oder anderweitig verfügbar gewesen sein sollten, vermittelten sie ihren Wettbewerbern jedenfalls den Eindruck, dass MTPD am Kartell teilnehme, und trugen somit dazu bei, es zu begünstigen. Im Übrigen hat keiner der an dem betreffenden Kartell Beteiligten angegeben, die Klägerin habe sich während des Zeitraums der Zuwiderhandlung „nicht hervorgetan“. Aus diesen Gründen kann ihre Rolle nicht als rein passiv angesehen werden.
210 Folglich hat die Kommission die Grenzen des ihr insoweit zustehenden Ermessens nicht überschritten, indem sie die behauptete rein passive und marginale Rolle von MTPD nicht als mildernden Umstand berücksichtigt hat, der eine Herabsetzung der Geldbuße gerechtfertigt hätte.
211 Drittens macht die Klägerin geltend, die Kommission habe gegen ihre Leitlinien von 2006 verstoßen, indem sie beim maßgeblichen Umsatz nicht nur die CRT‑Verkäufe an im EWR ansässige Kunden, sondern auch die EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse berücksichtigt habe, die mit der Zuwiderhandlung weder mittelbar noch unmittelbar in Zusammenhang gestanden hätten. Insoweit wirft sie der Kommission zum einen vor, sie habe nicht nachgewiesen, dass ein wettbewerbswidriges Verhalten im Hinblick auf die konzerninternen Verkäufe vorgelegen habe, denn diese seien von den Besprechungen bei den SML- und ASEAN-Treffen ausdrücklich ausgenommen worden und stünden daher nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung. Zum anderen macht sie geltend, die Kommission habe sich nicht auf eine Vermutung stützen dürfen, dass die Zuwiderhandlung sich auf den nachgelagerten Markt für Fernsehgeräte im EWR ausgewirkt habe, so dass die EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse nicht in mittelbarem Zusammenhang mit der Zuwiderhandlung gestanden hätten.
212 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorsieht, dass die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen darf.
213 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, muss die Kommission in jedem Einzelfall und in Anbetracht des Zusammenhangs und der Ziele, die mit der Sanktionsregelung der Verordnung Nr. 1/2003 verfolgt werden, die beabsichtigte Wirkung auf das betreffende Unternehmen beurteilen und dabei insbesondere einen Umsatz berücksichtigen, der die tatsächliche wirtschaftliche Situation des Unternehmens in dem Zeitraum wiedergibt, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde (Urteile vom 7. Juni 2007, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, C-76/06 P, Slg. 2007, I-4405, Rn. 25, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 53, sowie vom 23. April 2015, LG Display und LG Display Taiwan/Kommission, C‑227/14 P, Rn. 49).
214 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darf bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße sowohl der Gesamtumsatz des Unternehmens, der – wenn auch nur annähernd und unvollständig – etwas über dessen Größe und Wirtschaftskraft aussagt, als auch der Teil dieses Umsatzes berücksichtigt werden, der mit den Waren erzielt worden ist, hinsichtlich deren die Zuwiderhandlung begangen wurde, und der somit einen Anhaltspunkt für das Ausmaß dieser Zuwiderhandlung liefern kann (Urteile des Gerichtshofs vom 7. Juni 1983, Musique Diffusion française u. a./Kommission, 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, 1825, Rn. 121, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 54, sowie LG Display und LG Display Taiwan/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 50).
215 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs belässt Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 der Kommission zwar ein Ermessen, beschränkt dessen Ausübung jedoch durch die Einführung objektiver Kriterien, an die sie sich halten muss. Infolgedessen hat zum einen die Geldbuße, die einem Unternehmen auferlegt werden kann, eine bezifferbare und absolute Obergrenze, so dass der Höchstbetrag der möglichen Geldbuße für ein konkretes Unternehmen im Voraus bestimmbar ist. Zum anderen ist die Ausübung des Ermessens der Kommission auch durch die Verhaltensregeln begrenzt, die sie sich selbst u. a. in den Leitlinien für die Festsetzung von Geldbußen auferlegt hat (Urteil Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 55, sowie LG Display und LG Display Taiwan/Kommission. oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 51).
216 Nach Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 verwendet die Kommission „[z]ur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße … den Wert der von dem betreffenden Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des EWR verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren … Zusammenhang stehen“. In Ziff. 6 der Leitlinien wird klargestellt, dass „[d]ie Verbindung des Umsatzes auf den vom Verstoß betroffenen Märkten mit der Dauer [des Verstoßes] … eine Formel dar[stellt], die die wirtschaftliche Bedeutung der Zuwiderhandlung und das jeweilige Gewicht des einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens angemessen wiedergibt“.
217 Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 zielt somit darauf ab, bei der Berechnung der gegen ein Unternehmen verhängten Geldbuße einen Betrag als Ausgangspunkt festzulegen, der die wirtschaftliche Bedeutung der Zuwiderhandlung und das jeweilige Gewicht dieses Unternehmens daran wiedergibt (Urteile des Gerichtshofs vom 11. Juli 2013, Team Relocations u. a./Kommission, C‑444/11 P, Rn. 76, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 57, sowie LG Display und LG Display Taiwan/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 53).
218 Folglich umfasst der in dieser Ziff. 13 verwendete Umsatzbegriff die Umsätze, die im EWR auf dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Markt erzielt worden sind, ohne dass bestimmt werden müsste, ob sie tatsächlich von der Zuwiderhandlung betroffen waren, da der Teil des Umsatzes, der aus dem Verkauf der Produkte stammt, auf die sich die Zuwiderhandlung bezog, am besten geeignet ist, die wirtschaftliche Bedeutung der betreffenden Zuwiderhandlung wiederzugeben (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs Team Relocations u. a./Kommission, oben in Rn. 217 angeführt, Rn. 75 bis 78, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 57 bis 59, vom 19. März 2015, Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, Rn. 148 und 149, sowie LG Display und LG Display Taiwan/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 53 bis 58 und 64).
219 Im vorliegenden Fall hatten die Kartellmitglieder – wie MTPD, auf deren Verhalten die Klägerin einen bestimmenden Einfluss ausübte –, bei denen es sich um vertikal integrierte Unternehmen handelte, kartellbefangene CPT außerhalb des EWR in Endprodukte eingebaut, die im EWR verkauft wurden. Wie die Klägerin geltend macht, wurden die zur Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße herangezogenen Umsätze, die auf EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse entfielen, nicht auf dem Markt des Produkts erzielt, auf das sich die Zuwiderhandlung bezog, hier dem Markt der kartellbefangenen CRT, sondern auf einem davon verschiedenen Produktmarkt, nämlich dem nachgelagerten Markt der Endprodukte, in die die kartellbefangenen CRT eingebaut wurden, die in diesen Fällen Gegenstand eines internen Verkaufs außerhalb des EWR zwischen MTPD und ihren vertikal integrierten Tochtergesellschaften waren.
220 Aus den Erwägungsgründen 1026 und 1029 des angefochtenen Beschlusses geht jedoch hervor, dass die Kommission zur Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße nur den Preis berücksichtigt hat, der für die CDT und CPT berechnet wurde, die in Fernsehgeräten oder Computerbildschirmen verbaut wurden, und nicht den Preis dieser Endprodukte. Somit wurden die Umsätze mit Endprodukten, in die kartellbefangene CRT eingebaut waren, nicht in Höhe ihres vollen Wertes, sondern nur mit dem Wertanteil berücksichtigt, der dem Wert der in die Endprodukte eingebauten kartellbefangenen CRT entsprechen konnte, als diese Endprodukte von dem von der Klägerin abhängigen Unternehmen an im EWR ansässige unabhängige Dritte verkauft wurden. Diese Feststellung ist nicht bestritten worden.
221 Folglich hat die Kommission die Verkäufe von Fernsehgeräten und Computerbildschirmen – entgegen dem Vorbringen der Klägerin – zu Recht bei der Berechnung der Höhe der Geldbuße berücksichtigt.
222 Zwar kann der in Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 verwendete Umsatzbegriff nicht so weit ausgedehnt werden, dass er die von dem betreffenden Unternehmen getätigten Verkäufe umfasst, die nicht vom Anwendungsbereich des zur Last gelegten Kartells erfasst werden (vgl. Urteile Team Relocations u. a./Kommission, oben in Rn. 217 angeführt, Rn. 76, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 57, sowie LG Display und LG Display Taiwan/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 53). Es liefe aber dem mit Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verfolgten Ziel zuwider, wenn bei vertikal integrierten Kartellteilnehmern, nur weil sie die Produkte, auf die sich die Zuwiderhandlung bezog, außerhalb des EWR in Endprodukte eingebaut haben, der Anteil am Wert der mit diesen Endprodukten im EWR erzielten Umsätze, der als dem Wert der Produkte, auf die sich die Zuwiderhandlung bezog, entsprechend angesehen werden kann, bei der Berechnung der Geldbuße nicht berücksichtigt würde.
223 Denn wie der Gerichtshof ebenfalls bereits entschieden hat, können vertikal integrierte Unternehmen aus einer unter Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV getroffenen horizontalen Preisabsprache nicht nur bei Verkäufen an unabhängige Dritte auf dem Markt des Produkts, auf das sich die Zuwiderhandlung bezieht, Nutzen ziehen, sondern auch auf dem Markt, der den Verarbeitungserzeugnissen nachgelagert ist, in deren Zusammensetzung die Produkte, auf die sich die Zuwiderhandlung bezieht, eingehen, und zwar auf zwei unterschiedliche Arten. Entweder wälzen diese Unternehmen die Preiserhöhungen der Ausgangsmaterialien, die sich aus dem Gegenstand der Zuwiderhandlung ergeben, auf den Preis der Verarbeitungserzeugnisse ab, oder sie wälzen sie nicht ab, was dann zur Folge hat, dass sie einen Kostenvorteil gegenüber ihren Mitbewerbern erlangen, die sich die gleichen Ausgangsmaterialien auf dem Markt der Produkte beschaffen, die den Gegenstand der Zuwiderhandlung bilden (Urteil Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 60).
224 Unter diesen Umständen hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass die EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse, auch wenn sie nicht auf dem Markt des Produkts, auf das sich die Zuwiderhandlung bezog, erzielt wurden, dennoch unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV den Wettbewerb im EWR insbesondere zum Nachteil der Verbraucher verfälscht haben und dass diese Verkäufe im Zusammenhang mit der im EWR begangenen Zuwiderhandlung im Sinne von Ziff. 13 der Leitlinien von 2006 standen.
225 Folglich kann dem Vorbringen der Klägerin, die Kommission habe sich nicht auf eine Vermutung stützen dürfen, dass die Zuwiderhandlung sich auf den nachgelagerten Markt für Fernsehgeräte im EWR ausgewirkt habe, angesichts der oben in Rn. 223 angeführten Rechtsprechung nicht gefolgt werden. Abgesehen davon wäre ein solches Vorbringen jedenfalls nicht stichhaltig, weil die Kommission, wie oben in Rn. 220 bereits ausgeführt, nicht den Wert des Verarbeitungsprodukts insgesamt, sondern nur den Wert der darin verbauten Bildröhren berücksichtigt hat.
226 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Nichteinbeziehung der EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse bewirken würde, dass die wirtschaftliche Bedeutung der von einem bestimmten Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung künstlich geschmälert würde, da die bloße Tatsache, dass solche Umsätze, die im EWR tatsächlich von dem Kartell betroffen sind, nicht berücksichtigt würden, dazu führen würde, dass letztlich eine Geldbuße verhängt wird, die mit dem Anwendungsbereich des Kartells im EWR in keinem wirklichen Zusammenhang steht (vgl. entsprechend Urteile Team Relocations u. a./Kommission, oben in Rn. 217 angeführt, Rn. 77, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, oben in Rn. 30 angeführt, Rn. 58, sowie LG Display und LG Display Taiwan/Kommission, oben in Rn. 213 angeführt, Rn. 54).
227 Insbesondere würde die Nichtberücksichtigung dieser Umsätze, wie die Kommission im 1022. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Recht ausgeführt hat, entgegen dem Vorbringen der Klägerin vertikal integrierte Unternehmen, die wie MTPD einen erheblichen Teil der Produkte, auf die sich die Zuwiderhandlung bezieht, in ihren Produktionsstätten außerhalb des EWR einbauen, zwangsläufig ungerechtfertigt begünstigen, indem es ihnen ermöglicht würde, sich einer Sanktion zu entziehen, die gemessen an ihrer Bedeutung auf dem Markt für diese Produkte und der Schädlichkeit ihres Verhaltens für den Wettbewerb im EWR verhältnismäßig wäre.
228 Folglich hat die Kommission nicht gegen ihre Leitlinien von 2006 verstoßen, indem sie die EWR-Direktverkäufe in Form verarbeiteter Erzeugnisse bei der Bemessung der gesamtschuldnerisch mit der Klägerin und Panasonic gegen MTPD verhängten Geldbuße berücksichtigt hat.
229 Viertens macht die Klägerin geltend, die Kommission sei ohne eine mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbare objektive Rechtfertigung von Ziff. 25 der Leitlinien von 2006 abgewichen, indem sie zur Berechnung des im Grundbetrag der gegen sie als Muttergesellschaft von MTPD verhängten Geldbuße enthaltenen Zusatzbetrags (vgl. oben, Rn. 22) einen spezifischen Umsatz herangezogen habe.
230 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin mit diesem Vorbringen die Methode in Frage stellt, nach der die Kommission die Geldbuße berechnet hat, die sie gegen die Klägerin wegen ihrer unmittelbaren Teilnahme am Kartell vor der Gründung von MTPD verhängte, soweit sie zur Berechnung des Zusatzbetrags den eigenen Umsätzen der Klägerin einen Anteil des Umsatzes des Gemeinschaftsunternehmens hinzugerechnet hat. Wie die Kommission in Fn. 1972 zum 1055. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erläutert hat, bedeutete dies, dass keine gesamtschuldnerische Haftung der Muttergesellschaften für diese Zusatzbeträge bestand. Außerdem geht aus dem 1076. Erwägungsgrund dieses Beschlusses hervor, dass gegen Panasonic und die Klägerin gesonderte Zusatzbeträge festgesetzt wurden, während gegen MTPD kein Zusatzbetrag festgesetzt wurde.
231 Da Art. 1 Abs. 2 Buchst. d und Art. 2 Abs. 2 Buchst. g des angefochtenen Beschlusses für nichtig erklärt werden, ist das Vorbringen der Klägerin in diesem Punkt als ins Leere gehend zurückzuweisen.
232 Daraus folgt, dass es jedenfalls keiner Entscheidung über die Stichhaltigkeit des Vorbringens bedarf, die Verteidigungsrechte der Klägerin seien dadurch verletzt worden, dass sie keinen Zugang zu den von Panasonic für MTPD vorgelegten Angaben im Hinblick auf die Bemessung des Zusatzbetrags erhalten habe.
233 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass für das Gericht kein mit dem Vorbringen der Klägerin zur Begründung des vorliegenden Teils des Klagegrundes in Zusammenhang stehender Grund ersichtlich ist, die Geldbußen in Anbetracht der Schwere und der Dauer der von der Klägerin begangenen Zuwiderhandlung sowie der Erforderlichkeit, Geldbußen in abschreckender Höhe gegen sie zu verhängen, als unangemessen anzusehen.
234 Für das Gericht ist auch kein von Amts wegen zu berücksichtigender Grund zwingenden Rechts (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2011, KME Germany u. a./Kommission, C-272/09 P, Slg. 2011, I-12789, Rn. 104) ersichtlich, der es rechtfertigen würde, dass es von seiner Änderungsbefugnis zum Zweck der Aufhebung der Geldbuße Gebrauch macht.
235 Folglich ist entsprechend den oben in den Rn. 146 bis 148 dargelegten Ergebnissen dem zweiten Teil des zur Stützung des vierten Klageantrags geltend gemachten Klagegrundes, der auf die Herabsetzung der gegen die Klägerin wegen ihrer Teilnahme an der Zuwiderhandlung über MTPD verhängten Geldbuße gerichtet ist, nur insoweit stattzugeben, als die Klägerin begehrt, ihr die Herabsetzung der gesamtschuldnerisch mit Panasonic und MTPD gegen sie verhängten Geldbuße zugutekommen zu lassen, die in dem oben in Rn. 147 angeführten Urteil Panasonic und MT Picture Display/Kommission ausgesprochen wurde, das die Geldbuße auf 82826000 Euro festgesetzt hat. Im Übrigen ist der Antrag auf Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße zurückzuweisen.
Kosten
236 Nach Art. 134 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten.
237 Da die Anträge der Klägerin im vorliegenden Fall teilweise für begründet erklärt wurden, sind jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Art. 1 Abs. 2 Buchst. d des Beschlusses C (2012) 8839 final der Kommission vom 5. Dezember 2012 in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache COMP/39.437 – Bildröhren für Fernsehgeräte und Computerbildschirme) wird teilweise für nichtig erklärt, soweit darin festgestellt wird, dass die Toshiba Corp. vom 16. Mai 2000 bis zum 31. März 2003 an einem weltweiten Kartell im Markt für Bildröhren für Farbfernsehgeräte teilgenommen hat.
2. Art. 2 Abs. 2 Buchst. g dieses Beschlusses wird für nichtig erklärt, soweit darin gegen Toshiba eine Geldbuße in Höhe von 28048000 Euro wegen ihrer unmittelbaren Beteiligung an einem weltweiten Kartell im Markt für Bildröhren für Farbfernsehgeräte verhängt wird.
3. Der Betrag der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. h des betreffenden Beschlusses gegen Toshiba gesamtschuldnerisch mit der Panasonic Corp. und der MT Picture Display Co. Ltd verhängten Geldbuße wird auf 82826000 Euro festgesetzt.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Papasavvas
Forwood
Bieliūnas
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. September 2015.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Klägerin und betroffenes Erzeugnis
Verwaltungsverfahren
Angefochtener Beschluss
Verfahren und Anträge der Beteiligten
Rechtliche Würdigung
Zu den Hauptanträgen auf Teilnichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses
Erster Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei für die in der Zeit vom 16. Mai 2000 bis zum 11. April 2002 begangene Zuwiderhandlung verantwortlich
Zweiter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei für die in der Zeit vom 12. April 2002 bis zum 31. März 2003 begangene Zuwiderhandlung verantwortlich
Vierter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin hafte gesamtschuldnerisch für die Beteiligung von MTPD an der vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangenen Zuwiderhandlung.
– Zweiter Teil
– Erster Teil
– Dritter Teil
Dritter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei für die in der Zeit vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangene Zuwiderhandlung verantwortlich
Fünfter, hilfsweise geltend gemachter Klagegrund: Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Beschlusses, soweit er zu dem Ergebnis gelangt, MTPD sei dafür verantwortlich, an der vom 1. April 2003 bis zum 12. Juni 2006 begangenen Zuwiderhandlung teilgenommen zu haben.
– Erster Teil
– Zweiter Teil
Zu den Hilfsanträgen auf Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Nicht wiedergegebene vertrauliche Angaben
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 11. Juni 2015.#Colin Boyd McCullough gegen Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung.#Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Dokumente betreffend die Vergabe öffentlicher Aufträge und den Abschluss sich daraus ergebender Verträge – Antrag auf Zurverfügungstellung der Dokumente im Rahmen eines Strafverfahrens – Verweigerung des Zugangs – Ausnahme zum Schutz der Privatsphäre und der Integrität des Einzelnen – Ausnahme zum Schutz des Entscheidungsprozesses.#Rechtssache T-496/13.
|
62013TJ0496
|
ECLI:EU:T:2015:374
| 2015-06-11T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0496 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 8. März 2023.#SE gegen Europäische Kommission.#Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Einstellung – Pilotprogramm der Kommission zur Einstellung von Nachwuchskräften als Verwaltungsräte – Ablehnung einer Bewerbung – Zulassungsvoraussetzungen – Kriterium einer höchstens dreijährigen Berufserfahrung – Gleichbehandlung – Diskriminierung wegen des Alters.#Rechtssache T-763/21.
|
62021TJ0763
|
ECLI:EU:T:2023:113
| 2023-03-08T00:00:00 |
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 19. Oktober 2022.#Sogia Ellas AE gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Tätigkeiten, die mit der Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Agrarerzeugnissen in Zusammenhang stehen – Regelung über die von Griechenland in Form von Zinsvergütungen und Bürgschaften für bestehende und neue Kredite gewährte Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind – Beschluss, mit dem die Beihilferegelung für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und die Rückforderung der gezahlten Beihilfen angeordnet wird – Auf geschädigte geografische Gebiete beschränkte Beihilfe – Vorteil – Selektiver Charakter – Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Wirtschaftsbeteiligten – Grundsatz der guten Verwaltung – Anspruch auf rechtliches Gehör – Dauer des Verfahrens – Berechtigtes Vertrauen – Verjährungsfrist – Art. 17 der Verordnung (EU) 2015/1589.#Rechtssache T-347/20.
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62020TJ0347
|
ECLI:EU:T:2022:639
| 2022-10-19T00:00:00 |
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 21. September 2022.#Republik Portugal gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Freizone Madeira – Von Portugal angewandte Beihilferegelung – Beschluss, mit dem die Unvereinbarkeit der Regelung mit den Beschlüssen C(2007) 3037 final und C(2013) 4043 final festgestellt, diese Regelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und die Rückforderung der nach dieser Regelung gezahlten Beihilfen angeordnet wird – Begriff der staatlichen Beihilfe – Bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i und ii der Verordnung (EU) 2015/1589 – Rückforderung – Berechtigtes Vertrauen – Rechtssicherheit – Grundsatz der guten Verwaltung – Absolute Unmöglichkeit der Durchführung – Verjährung – Art. 17 der Verordnung 2015/1589.#Rechtssache T-95/21.
|
62021TJ0095
|
ECLI:EU:T:2022:567
| 2022-09-21T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
|
62021TJ0095
URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)
21. September 2022 (*1)
„Staatliche Beihilfen – Freizone Madeira – Von Portugal angewandte Beihilferegelung – Beschluss, mit dem die Unvereinbarkeit der Regelung mit den Beschlüssen C(2007) 3037 final und C(2013) 4043 final festgestellt, diese Regelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und die Rückforderung der nach dieser Regelung gezahlten Beihilfen angeordnet wird – Begriff der staatlichen Beihilfe – Bestehende Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i und ii der Verordnung (EU) 2015/1589 – Rückforderung – Berechtigtes Vertrauen – Rechtssicherheit – Grundsatz der guten Verwaltung – Absolute Unmöglichkeit der Durchführung – Verjährung – Art. 17 der Verordnung 2015/1589“
In der Rechtssache T‑95/21,
Portugiesische Republik, vertreten durch P. Barros da Costa, A. Soares de Freitas und L. Borrego als Bevollmächtigte im Beistand der Rechtsanwälte M. Gorjão-Henriques und A. Saavedra,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch I. Barcew und G. Braga da Cruz als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DAS GERICHT (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten J. Svenningsen (Berichterstatter), des Richters C. Mac Eochaidh und der Richterin T. Pynnä,
Kanzler: L. Ramette, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des Beschlusses vom 22. Juni 2021, Portugal/Kommission (T‑95/21 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:383), mit dem der Antrag der Portugiesischen Republik auf vorläufigen Rechtsschutz zurückgewiesen wurde,
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Mai 2022
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Portugiesische Republik, Art. 1 sowie die Art. 4 und 6 des Beschlusses C(2020) 8550 final der Europäischen Kommission vom 4. Dezember 2020 über die von Portugal durchgeführte Beihilferegelung SA.21259 (2018/C) (ex 2018/NN) zugunsten der Freizone Madeira (Zona Franca da Madeira, ZFM) – Regelung III (im Folgenden: angefochtener Beschluss) für nichtig zu erklären.
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die ZFM-Regelung besteht in Form verschiedener Steuervergünstigungen, die im Rahmen des Centro Internacional de Negócios da Madeira (Internationales Geschäftszentrum Madeira, Portugal), des Registo Internacional de Navios da Madeira (Internationales Schiffsregister von Madeira) und der Zona Franca Industrial (industrielle Freizone, im Folgenden: IFTZ) gewährt werden.
3 Diese Regelung wurde erstmals 1987 (im Folgenden: Regelung I) durch die Entscheidung der Kommission vom 27. Mai 1987 in der Sache N 204/86 (SG[87] D/6736) als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbare Regionalbeihilfe genehmigt. Ihre Verlängerung wurde sodann durch die Entscheidung der Kommission vom 27. Januar 1992 in der Sache E 13/91 (SG[92] D/1118) und sodann durch die Entscheidung der Kommission vom 3. Februar 1995 in der Sache E 19/94 (SG[95] D/1287) genehmigt.
4 Die Nachfolgeregelung (im Folgenden: Regelung II) wurde durch eine Entscheidung der Kommission vom 11. Dezember 2002 in der Sache N 222A/01 genehmigt.
5 Auf der Grundlage der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007-2013 (ABl. 2006, C 54, S. 13, im Folgenden: Leitlinien von 2007) wurde eine dritte Nachfolgeregelung (im Folgenden: Regelung III) durch die Entscheidung der Kommission vom 27. Juni 2007 in der Sache N 421/2006 (im Folgenden: Entscheidung von 2007) für den Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis 31. Dezember 2013 genehmigt. Die Kommission genehmigte diese Regelung als mit dem Binnenmarkt vereinbare Betriebsbeihilfe für die Förderung der regionalen Entwicklung und der Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur von Madeira (Portugal) als Gebiet in äußerster Randlage im Sinne von Art. 299 Abs. 2 EG (jetzt Art. 349 AEUV).
6 Bei der Regelung III handelt es sich um eine reduzierte Körperschaftsteuer auf tatsächlich und materiell aus Aktivitäten auf Madeira erwirtschaftete Gewinne (3 % von 2007 bis 2009, 4 % von 2010 bis 2012 und 5 % von 2013 bis 2020), eine Befreiung von kommunalen und lokalen Steuern sowie eine Befreiung von Grunderwerbsteuern für die Gründung eines Unternehmens in der ZFM, wobei die Beihilfehöchstbeträge sich nach Obergrenzen in Bezug auf die jährliche Bemessungsgrundlage des Begünstigten richten. Diese Obergrenzen werden nach Maßgabe der Zahl der Arbeitsplätze festgelegt, die bei dem Begünstigten im jeweiligen Steuerjahr bestehen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann Unternehmen, die in der IFTZ der ZFM registriert sind, eine weitere Senkung der Körperschaftsteuer um 50 % gewährt werden.
7 Der Zugang zur Regelung III beschränkte sich auf Tätigkeiten gemäß einer der Entscheidung von 2007 beigefügten Liste. Außerdem waren von der Anwendung der Regelung III alle Tätigkeiten im Zusammenhang mit Finanzintermediationen, Versicherungs- und Hilfstätigkeiten im Finanz- und Versicherungsbereich sowie „konzerninterne Dienstleistungen“ (Koordinierungs‑, Treasury- und Vertriebszentren) als „Dienstleistungen vorrangig für Unternehmen“ ausgenommen.
8 Eine geänderte Fassung der Regelung III wurde durch den Beschluss der Kommission vom 2. Juli 2013 in der Sache SA.34160 (2011/N) (im Folgenden: Beschluss von 2013) für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 2013 genehmigt. Diese behält dieselben Voraussetzungen wie die in der Regelung III vorgesehenen bei, vorbehaltlich einer Anhebung der Obergrenzen für die Bemessungsgrundlage, auf die eine ermäßigte Körperschaftsteuer angewandt wird, um 36,7 %.
9 In der Folge wurde die Verlängerung der geänderten Regelung III bis zum 30. Juni 2014 durch den Beschluss der Kommission vom 26. November 2013 in der Sache SA.37668 (2013/N) genehmigt. Die Verlängerung dieser Regelung bis Ende 2014 wurde durch den Beschluss der Kommission vom 8. Mai 2014 in der Sache SA.38586 (2014/N) genehmigt.
10 Am 12. März 2015 leitete die Kommission auf der Grundlage von Art. 108 Abs. 1 AEUV und Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV (ABl. 1999, L 83, S. 1) eine Überwachung der Regelung III für die Jahre 2012 und 2013 ein.
11 Mit Schreiben vom 6. Juli 2018 setzte die Kommission die Portugiesische Republik von ihrem Beschluss in Kenntnis, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV in Bezug auf die Regelung III einzuleiten (ABl. 2019, C 101, S. 7, im Folgenden: Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens).
12 Dieses Verfahren wurde aufgrund von Zweifeln der Kommission eingeleitet, die zum einen die Anwendung der Steuerbefreiungen auf Einkünfte, die mit tatsächlich und materiell in der Autonomen Region Madeira (im Folgenden: ARM) ausgeübten Tätigkeiten erwirtschaftet werden, und zum anderen den Zusammenhang zwischen der Höhe der Beihilfe mit der Schaffung und Erhaltung von echten Arbeitsplätzen auf Madeira betrafen.
13 Nach Abschluss dieses Verfahrens erließ die Kommission den angefochtenen Beschluss, dessen verfügender Teil wie folgt lautet:
„Artikel 1
Die Beihilferegelung mit dem Titel ‚Zona Franca da Madeira (ZFM) – Regime III‘ (Zona Franca da Madeira (ZFM) – Regelung III) wurde, soweit sie von Portugal unter Verstoß gegen die Entscheidung [von 2007] und den Beschluss [von 2013] durchgeführt wurde, von Portugal unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 [AEUV] rechtswidrig in Kraft gesetzt und ist mit dem Binnenmarkt unvereinbar.
Artikel 2
Einzelbeihilfen, die auf der Grundlage der in Artikel 1 genannten Regelung gewährt werden, stellen keine Beihilfen dar, sofern sie zum Zeitpunkt ihrer Gewährung die Voraussetzungen erfüllen, die in einer nach Artikel 2 der Verordnung (EU) 2015/1588 erlassenen und zum Zeitpunkt der Gewährung der Beihilfen geltenden Verordnung vorgesehen sind.
Artikel 3
Einzelbeihilfen, die auf der Grundlage der in Artikel 1 genannten Regelung gewährt werden und zum Zeitpunkt ihrer Gewährung die Voraussetzungen der in Artikel 1 genannten Beschlüsse oder die Voraussetzungen, die in einer nach Artikel 1 der Verordnung … 2015/1588 erlassenen Verordnung vorgesehen sind, sind bis zu den für diese Art von Beihilfen geltenden Beihilfehöchstintensitäten mit dem Binnenmarkt vereinbar.
Artikel 4
(1) Portugal fordert die mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfen, die auf der Grundlage der in Artikel 1 genannten Regelung gewährt wurden, von den Begünstigten zurück.
…
(4) Portugal hebt die mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilferegelung in dem in Artikel 1 genannten Umfang auf und stellt mit dem Tag des Erlasses dieses Beschlusses alle Zahlungen für die Beihilfen ein.
Artikel 5
(1) Die Beihilfen, die auf der Grundlage der in Artikel 1 genannten Regelung gewährt wurden, werden sofort in wirksamer Weise zurückgefordert.
(2) Portugal stellt sicher, dass dieser Beschluss innerhalb von acht Monaten nach seiner Bekanntgabe umgesetzt wird.
…“
II. Anträge der Parteien
14 Die Portugiesische Republik beantragt,
–
Art. 1 sowie die Art. 4 bis 6 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
–
der Europäischen Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
15 Die Kommission beantragt,
–
die Klage als unbegründet abzuweisen;
–
der Portugiesischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
III. Rechtliche Würdigung
16 Die Portugiesische Republik stützt ihre Klage auf sieben Klagegründe.
17 Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV, da die Regelung III nicht selektiv sei.
18 Mit ihrem zweiten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV, da die Kommission nicht nachgewiesen habe, dass die Regelung III den Wettbewerb und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtige.
19 Mit ihrem hilfsweise vorgebrachten dritten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, der angefochtene Beschluss verstoße gegen Art. 108 AEUV und die Art. 21 bis 23 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV (ABl. 2015, L 248, S. 9), da die Regelung III als „bestehende Beihilfe“ einzustufen sei.
20 Mit ihrem vierten, ebenfalls hilfsweise vorgebrachten Klagegrund macht die Portugiesische Republik einen Rechtsfehler geltend, da die Regelung III im Einklang mit den Beschlüssen von 2007 und 2013 sowie den Art. 107 und 108 AEUV durchgeführt worden sei.
21 Mit ihrem fünften Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, die Kommission habe einen Tatsachenirrtum begangen oder ihre Begründungspflicht verletzt, da die Anforderungen der Steuerregelung und ihre Überwachung durch die nationalen Behörden geeignet seien, die Regelung III zu kontrollieren.
22 Mit ihrem sechsten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, die Kommission habe einen Tatsachenirrtum begangen oder ihre Begründungspflicht verletzt, soweit sie Kontrollen in Bezug auf die Voraussetzung der Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen durchgeführt habe.
23 Mit ihrem siebten Klagegrund macht die Portugiesische Republik schließlich einen Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, insbesondere diejenigen der Verteidigungsrechte, der Rechtssicherheit, der guten Verwaltung, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit, einen Verstoß der Kommission gegen ihre Begründungspflicht, die Unmöglichkeit, der im angefochtenen Beschluss enthaltenen Rückforderungsverpflichtung nachzukommen, sowie einen Verstoß gegen Art. 17 der Verordnung 2015/1589 geltend.
A. Zur Struktur und zu den Klagegründen
24 Angesichts der oben in den Rn. 16 bis 23 dargelegten Klagegründe der Portugiesischen Republik und ihrer in das Protokoll der Sitzung aufgenommenen Stellungnahme zum Sitzungsbericht ist die vorliegende Klage so zu verstehen, dass sie sich im Wesentlichen aus elf Klagegründen zusammensetzt.
25 Mit dem ersten und dem zweiten Klagegrund rügt sie einen Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV, da die Regelung III in der durchgeführten Form als „staatliche Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft worden sei.
26 Mit dem dritten Klagegrund wird ein Verstoß gegen Art. 108 AEUV und die Art. 21 bis 23 der Verordnung 2015/1589 geltend gemacht, da die Regelung III in der durchgeführten Form als „neue Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c dieser Verordnung und nicht als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i dieser Verordnung eingestuft worden sei.
27 Mit dem vierten bis sechsten Klagegrund rügt sie Rechts- und Tatsachenirrtümer sowie Begründungsmängel, da die Regelung III von der Portugiesischen Republik gemäß den Beschlüssen von 2007 und 2013 sowie den Art. 107 und 108 AEUV durchgeführt worden sei.
28 Mit dem siebten Klagegrund rügt sie eine Verletzung der Verteidigungsrechte, der Grundsätze der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung sowie einen Begründungsmangel, da die Kommission das Schreiben der Portugiesischen Republik vom 6. April 2018 nicht berücksichtigt habe.
29 Mit dem achten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der guten Verwaltung geltend gemacht, soweit mit dem angefochtenen Beschluss der Portugiesischen Republik aufgegeben worden sei, die für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfen zurückzufordern.
30 Mit dem neunten Klagegrund wird geltend gemacht, dass es der Portugiesischen Republik unmöglich gewesen sei, die für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfen zurückzufordern.
31 Mit dem zehnten Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht, der darin liege, dass die Kommission einen restriktiven Ansatz in Bezug auf die Voraussetzungen der „Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Region“ und einer „tatsächlich und materiell in der [ARM] ausgeübten Tätigkeit“ gewählt habe.
32 Mit dem elften Klagegrund wird ein Verstoß gegen Art. 17 der Verordnung 2015/1589 wegen Verjährung bestimmter nach der Regelung III gezahlter Beihilfen gerügt.
B. Zum ersten und zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV, da die Regelung III in der durchgeführten Form als „staatliche Beihilfe“ eingestuft worden sei
33 Mit ihrem ersten und ihrem zweiten Klagegrund, die zusammen zu prüfen sind, wirft die Portugiesische Republik der Kommission vor, dadurch gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV verstoßen zu haben, dass sie die Regelung III in der durchgeführten Form als „staatliche Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft habe. Diese Regelung erfülle drei der Voraussetzungen für eine solche Einstufung nicht.
34 Zum einen sei die Regelung III entgegen der Feststellung in den Erwägungsgründen 135 und 136 des angefochtenen Beschlusses nicht selektiv, da sie eine allgemeine Maßnahme darstelle, die Teil des inneren Aufbaus des portugiesischen Steuersystems sei und die Regelung von Situationen bezwecke, die objektiv eine eigenständige Behandlung verdienten.
35 Insoweit macht die Portugiesische Republik zunächst unter Verweis auf das Urteil vom 9. Dezember 1997, Tiercé Ladbroke/Kommission (C‑353/95 P, EU:C:1997:596), geltend, dass die Natur und der innere Aufbau des Systems eine unterschiedliche Behandlung gegenüber Rechtsvorschriften mit allgemeiner Geltung rechtfertigen könnten, wenn nicht nur auf formale Aspekte wie der Grad der Autonomie der betreffenden Gebietskörperschaft abgestellt werde, sondern auch auf das Vorliegen einer anderen materiellen Situation, die eine Ausnahme von den allgemeinen Regeln rechtfertige.
36 Die Besonderheit des Gebiets der ARM, die sowohl im portugiesischen rechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen als auch von der Kommission im 193. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses anerkannt worden sei, rechtfertige eine andere steuerliche Behandlung als die der anderen portugiesischen Gebiete, um die dauerhaften strukturellen Nachteile zu beseitigen und abzumildern, unter denen Unternehmen litten, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit in dieser Region ausübten.
37 Dass die Maßnahme geografisch auf die ZFM beschränkt sei, verleihe ihr keinen selektiven Charakter. Andernfalls würden die ARM und die ZFM gegenüber anderen Regionen der Union steuerlich benachteiligt, was dem allgemeinen Ziel der Verträge und der Politik der Union zuwiderliefe, die Gebiete in äußerster Randlage zu begünstigen. Das Gericht müsse daher die Anwendung eines Kriteriums vermeiden, mit dem dieses Ziel nicht erreicht werden könne.
38 Schließlich macht die Portugiesische Republik geltend, dass nach den Urteilen vom 11. September 2008, UGT‑Rioja u. a. (C‑428/06 bis C‑434/06, EU:C:2008:488, Rn. 144), und vom 18. Dezember 2008, Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich/Kommission (T‑211/04 und T‑215/04, EU:T:2008:595, Rn. 115), der Bezugsrahmen für die Beurteilung der Selektivität der Regelung III das Gebiet der ARM und nicht das gesamte portugiesische Hoheitsgebiet sein müsse.
39 Dies ergebe sich daraus, dass die ARM verfassungsrechtlich über eine hinreichende institutionelle, prozedurale und wirtschaftliche Autonomie gegenüber den portugiesischen Zentralbehörden verfüge. Diese Autonomie, die es ihr ermögliche, das nationale Steuersystem an die regionalen Besonderheiten anzupassen, ohne dass ihre Entscheidung über die Steuersenkung durch Zuschüsse oder Subventionen aus anderen Regionen oder von der Zentralregierung ausgeglichen werde, rechtfertige es, die Regelung III innerhalb dieser unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Körperschaft als allgemein anwendbar anzusehen.
40 Indem die Kommission im angefochtenen Beschluss nicht bestimmt habe, ob die ARM oder die ZFM über eine hinreichende institutionelle, prozedurale und wirtschaftliche Autonomie verfügt hätten, habe sie nicht nur gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV, sondern auch gegen ihre Begründungspflicht verstoßen.
41 Zum anderen habe die Kommission nicht dargetan, dass die Regelung III in der durchgeführten Form den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtige und den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe.
42 Die Portugiesische Republik macht insoweit geltend, dass die Kommission entgegen ihren Ausführungen im 215. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses nach der Rechtsprechung konkret eine quantitative und aktuelle Analyse der Wirkungen der Regelung III hätte vornehmen müssen. Darüber hinaus hätte sie in Anbetracht der äußersten Randlage und der geringen wirtschaftlichen Größe der ARM, deren Besonderheiten in Art. 349 AEUV anerkannt seien, das Vorliegen spürbarer Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Handel nachweisen müssen.
43 Im Übrigen habe die Kommission gegen ihre Begründungspflicht verstoßen, indem sie sich auf den Hinweis beschränkt habe, dass die in der ZFM registrierten Gesellschaften Tätigkeiten ausübten, die dem internationalen Wettbewerb offen stünden, obwohl Beteiligte im Verwaltungsverfahren das Gegenteil vorgetragen hätten, dieses Verfahren keinen Betroffenen offenbart habe, der sich über die Durchführung der Regelung III beklagt habe, und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) der Ansicht sei, dass die geringe Attraktivität der Gebiete in äußerster Randlage eine Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten ausschließe.
44 Nach Ansicht der Kommission sind der erste und der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
45 Es ist somit zu prüfen, ob die Kommission im 148. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Regelung III in der durchgeführten Form zu Recht als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft hat.
46 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Einstufung einer nationalen Maßnahme als „staatliche Beihilfe“, dass alle nachstehend genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss die Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil verschafft werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, World Duty Free Group und Spanien/Kommission, C‑51/19 P und C‑64/19 P, EU:C:2021:793, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Im vorliegenden Fall beschränkt sich die Portugiesische Republik darauf, zum einen den selektiven Charakter des Vorteils, der den Begünstigten der Regelung III gewährt werde, und zum anderen den Umstand, dass diese Regelung geeignet sei, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen oder zu verfälschen zu drohen, in Frage zu stellen.
48 Was erstens die Voraussetzung des selektiven Charakters des Vorteils betrifft, steht fest, dass einen Steuervorteil verschaffende nationale Maßnahmen, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden sind, die Begünstigten aber finanziell besserstellen als die übrigen Steuerpflichtigen, den Empfängern einen selektiven Vorteil verschaffen können (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, World Duty Free Group und Spanien/Kommission, C‑51/19 P und C‑64/19 P, EU:C:2021:793, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Bei der Beurteilung dieser Voraussetzung bedarf es der Feststellung, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer konkreten rechtlichen Regelung geeignet ist, „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und somit eine unterschiedliche Behandlung erfahren, die der Sache nach als diskriminierend eingestuft werden kann (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, World Duty Free Group und Spanien/Kommission, C‑51/19 P und C‑64/19 P, EU:C:2021:793, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Zu diesem Zweck muss die Kommission in einem ersten Schritt das Bezugssystem, d. h. die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende „normale“ Steuerregelung, ermitteln und in einem zweiten Schritt dartun, dass die in Rede stehende steuerliche Maßnahme insofern von diesem Bezugssystem abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit dem Referenzsystem verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2018, A-Brauerei, C‑374/17, EU:C:2018:1024, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Der Bezugsrahmen muss dabei nicht zwangsläufig in den Grenzen des Staatsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats festgelegt werden, so dass eine Maßnahme, die nur für einen Teil des Staatsgebiets eine Vergünstigung gewährt, nicht schon deshalb selektiv ist. Es ist daher nicht auszuschließen, dass unter bestimmten streng festgelegten Voraussetzungen eine unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelte Einrichtung aufgrund ihrer rechtlichen und tatsächlichen Stellung gegenüber der Zentralregierung eines Mitgliedstaats so autonom ist, dass sie – und nicht die Zentralregierung – durch die von ihr erlassenen Maßnahmen eine grundlegende Rolle bei der Festlegung des politischen und wirtschaftlichen Umfelds spielt, in dem die Unternehmen tätig sind, was impliziert, dass der Bezugsrahmen auf das betreffende geografische Gebiet beschränkt sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2006, Portugal/Kommission, C‑88/03, EU:C:2006:511, Rn. 57 bis 68, und vom 11. September 2008, UGT‑Rioja u. a., C‑428/06 bis C‑434/06, EU:C:2008:488, Rn. 47 bis 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Schließlich kann eine a priori selektive Maßnahme nicht als „staatliche Beihilfe“ eingestuft werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die Unterscheidung zwischen Unternehmen, die sich im Hinblick auf das von der in Rede stehenden rechtlichen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Systems ergibt, in das sich die Maßnahmen einfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, World Duty Free Group und Spanien/Kommission, C‑51/19 P und C‑64/19 P, EU:C:2021:793, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erwägungsgründen 130 bis 136 des angefochtenen Beschlusses sowie aus den Schriftsätzen der Portugiesischen Republik, dass die Regelung III ihre Rechtsgrundlage hauptsächlich im Estatuto dos Benefícios Fiscais (Regelung über Steuervergünstigungen), die durch das Decreto-Lei no 215/89 (Gesetzesdekret Nr. 215/89) vom 1. Juli 1989 (Diário da República I, Serie I, Nr. 149 vom 1. Juli 1989) eingeführt wurde, und im Decreto-Lei no 500/80 que autoriza a criação de uma zona franca na Região Autónoma da Madeira (Gesetzesdekret Nr. 500/80 zur Genehmigung der Schaffung einer Freizone in der Autonomen Region Madeira) vom 20. Oktober 1980 (Diário da República I, Serie I, Nr. 243/1980 vom 20. Oktober 1980) findet.
54 Außerdem heißt es in den von der Portugiesischen Republik nicht bestrittenen Erwägungsgründen 10 bis 17 des angefochtenen Beschlusses, dass die Regelung III einen Vorteil in Form einer ermäßigten Körperschaftsteuer zugunsten der in der ZFM registrierten Gesellschaften vorsehe, die bestimmte abschließend aufgezählte wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben müssten, die in einer Liste im Anhang der Entscheidung von 2007 aufgeführt seien und von denen insbesondere alle Tätigkeiten im Zusammenhang mit Finanzintermediationen, Versicherungs- und Hilfstätigkeiten im Finanz- und Versicherungsbereich sowie „konzerninterne Dienstleistungen“ (Koordinierungs‑, Treasury- und Vertriebszentren) ausgenommen seien.
55 Daraus folgt, dass sich nicht alle Gesellschaften, sondern nur einige von ihnen in der ZFM registrieren lassen können und dass nur diese in der ZFM registrierten Gesellschaften in den Genuss der Steuerermäßigungen nach der Regelung III kommen können, nicht aber diejenigen, die in anderen Teilen der ARM oder des portugiesischen Hoheitsgebiets niedergelassen sind.
56 Daher hat die Kommission in den Erwägungsgründen 134 und 135 des angefochtenen Beschlusses zu Recht die Ansicht vertreten, dass die in der Regelung III vorgesehenen Steuervorteile selektiv seien, da sie im Sinne der oben in Rn. 49 angeführten Rechtsprechung geeignet ist, bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und somit eine unterschiedliche Behandlung erfahren, die der Sache nach als diskriminierend eingestuft werden kann.
57 Insoweit vermag das Vorbringen der Portugiesischen Republik, die Kommission habe bei der Bestimmung des Bezugsrahmens für die Beurteilung der Selektivität der Regelung III einen Fehler begangen, nichts an diesem Ergebnis zu ändern.
58 Selbst wenn man nämlich unterstellt, dass der Bezugsrahmen für die Prüfung der Selektivität dieser Regelung das Gebiet der ARM sein könnte, reicht der von der Kommission angeführte Umstand, dass die im Gebiet der ARM, aber außerhalb der ZFM registrierten Unternehmen diese Regelung nicht in Anspruch nehmen könnten, aus, um den selektiven Charakter dieser Regelung nachzuweisen und der Behauptung der Portugiesischen Republik, dass der angefochtene Beschluss in diesem Punkt unzureichend begründet sei, die Grundlage zu nehmen.
59 Ebenso wenig kann sich die Portugiesische Republik mit Erfolg darauf berufen, dass die Regelung III durch die Natur oder den inneren Aufbau des portugiesischen Steuersystems gerechtfertigt sei, da sie darauf abziele, die dauerhaften Nachteile abzumildern, unter denen die in der ARM tätigen Unternehmen leiden.
60 Insoweit genügen nach ständiger Rechtsprechung die mit staatlichen Maßnahmen verfolgten Ziele nicht, um diese von vornherein von der Einordnung als „Beihilfen“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV auszunehmen, da diese Vorschrift nicht nach den Gründen oder Zielen der staatlichen Maßnahmen unterscheidet, sondern diese nach ihren Wirkungen beschreibt (Urteil vom 2. Juli 1974, Italien/Kommission, 173/73, EU:C:1974:71, Rn. 27; vgl. auch Urteil vom 25. Januar 2022, Kommission/European Food u. a., C‑638/19 P, EU:C:2022:50, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Außerdem berechtigt der bloße Umstand, dass das regionale Steuersystem so angelegt ist, dass es sich aus der geografischen Isolation ergebende Nachteile korrigiert, nicht zu der Annahme, dass jede in diesem Rahmen gewährte steuerliche Vergünstigung durch die Natur und den inneren Aufbau des nationalen Steuersystems gerechtfertigt ist. Dass ein Handeln auf eine Politik der regionalen Entwicklung oder des sozialen Zusammenhalts gestützt ist, reicht für sich allein nicht aus, um eine im Rahmen dieser Politik erlassene Maßnahme als gerechtfertigt anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2006, Portugal/Kommission, C‑88/03, EU:C:2006:511, Rn. 82).
62 Sowohl im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, das zum angefochtenen Beschluss geführt hat, als auch vor dem Gericht im Rahmen der vorliegenden Klage hat sich die Portugiesische Republik auf allgemeines Vorbringen zu den Nachteilen, unter denen die ARM leide, und zur Notwendigkeit, ihren Status als Gebiet in äußerster Randlage gemäß Art. 349 AEUV zu berücksichtigen, beschränkt.
63 Die Portugiesische Republik hat daher nicht dargetan, inwiefern die Regelung III, insbesondere soweit sie nicht den in der ARM ansässigen, aber nicht in der ZFM registrierten Gesellschaften zugutekam, durch die Natur oder den inneren Aufbau des portugiesischen Steuersystems gerechtfertigt war.
64 Im Übrigen genügt für den Fall, dass die Portugiesische Republik mit ihrem Vorbringen das Gericht auffordern sollte, sich nur aus Gründen der Billigkeit über die in Art. 107 Abs. 1 AEUV festgelegten Voraussetzungen hinwegzusetzen, der Hinweis, dass das Gericht im Rahmen der in Art. 263 AEUV vorgesehenen Kontrolle ebenso wie die Kommission nicht von den Normen des Vertrags abweichen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Oktober 2000, Deutschland/Kommission, C‑288/96, EU:C:2000:537, Rn. 62).
65 Folglich hat die Kommission im 136. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Recht festgestellt, dass die Regelung III in der durchgeführten Form den Begünstigten einen selektiven Vorteil verschafft.
66 Was zweitens die Voraussetzungen für das Vorliegen von Auswirkungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten und den Wettbewerb betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass es nicht des Nachweises einer tatsächlichen Auswirkung der fraglichen Beihilfe auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten und einer tatsächlichen Wettbewerbsverzerrung bedarf, wie die Portugiesische Republik vorträgt, sondern nur der Prüfung, ob die Beihilfe geeignet ist, diesen Handel zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen (Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 78), was die Kommission zumindest in der Begründung ihrer Entscheidung anzugeben hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2006, Portugal/Kommission, C‑88/03, EU:C:2006:511, Rn. 88).
67 Insbesondere ist, wenn eine von einem Mitgliedstaat gewährte Beihilfe die Stellung bestimmter Unternehmen gegenüber anderen, konkurrierenden Unternehmen im Handel zwischen den Mitgliedstaaten stärkt, dieser Handel als durch die Beihilfe beeinflusst anzusehen (Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 79).
68 In Bezug auf die Voraussetzung der Wettbewerbsverzerrung ist hervorzuheben, dass Beihilfen, die ein Unternehmen von den Kosten befreien sollen, die es normalerweise im Rahmen seiner laufenden Geschäftsführung oder seiner üblichen Tätigkeiten zu tragen gehabt hätte, zu denen die Betriebsbeihilfen wie die nach der Regelung III gezahlten gehören, grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen verfälschen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juni 2011, Comitato Venezia vuole vivere u. a./Kommission, C‑71/09 P, C‑73/09 P und C‑76/09 P, EU:C:2011:368, Rn. 136, und vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 80).
69 Indem die Kommission im Wesentlichen auf die oben angeführte Rechtsprechung hinwies und im 139. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses feststellte, dass die in der ZFM registrierten Gesellschaften Tätigkeiten ausübten, die dem internationalen Wettbewerb offen stünden, ist sie ihrer Begründungspflicht nachgekommen. Außerdem geht aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, dass die Regelung III in der durchgeführten Form im vorliegenden Fall geeignet war, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen.
70 Die von der Portugiesischen Republik angeführten und oben in Rn. 43 wiedergegebenen Gesichtspunkte können weder diese Schlussfolgerung in Frage stellen noch der Kommission eine verstärkte Begründungspflicht auferlegen.
71 Das Ergebnis, zu dem die Kommission gelangt ist, ist nämlich im Licht insbesondere von Abs. 15 des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, der Erläuterungen, die die Portugiesische Republik selbst in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung gegeben hat, wonach die Regelung III für die Sammlung ausländischer Investitionen und die Entwicklung internationaler Dienstleistungen ausgearbeitet worden sei, oder des Umstands zu verstehen, dass die Regelung III das Internationale Geschäftszentrum Madeira und das Internationale Schiffsregister von Madeira umfasst.
72 Nach alledem sind der erste und der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
C. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 108 AEUV und die Art. 21 bis 23 der Verordnung 2015/1589, da die Regelung III in der durchgeführten Form als „neue Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c dieser Verordnung und nicht als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i dieser Verordnung eingestuft worden sei
73 Mit ihrem hilfsweise vorgebrachten dritten Klagegrund wirft die Portugiesische Republik der Kommission vor, dadurch gegen Art. 108 Abs. 1 AEUV und die Art. 21 bis 23 der Verordnung 2015/1589 verstoßen zu haben, dass sie die Regelung III in der durchgeführten Form als „neue Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c dieser Verordnung eingestuft und daher das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV eingeleitet habe.
74 Nach Ansicht der Portugiesischen Republik hätte die Kommission vielmehr die Regelung III in der durchgeführten Form als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 einstufen müssen, d. h. eine vor ihrem Beitritt eingeführte und noch anwendbare Beihilfe. Daher hätte die Kommission gegebenenfalls das in Art. 108 Abs. 1 AEUV vorgesehene Verfahren zur fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilferegelungen einleiten müssen.
75 Insoweit macht die Portugiesische Republik geltend, dass die ZFM eingerichtet worden sei, bevor sie am 1. Januar 1986 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beigetreten sei, dass die ZFM-Regelung seit diesem Zeitpunkt nicht wesentlich geändert worden sei, dass die Änderungen dazu geführt hätten, die Tragweite der Regelung einzuschränken, und dass sie mit den späteren Fassungen der Leitlinien der Kommission für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung im Einklang stünden. Speziell zum Erfordernis der Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen weist die Portugiesische Republik darauf hin, dass dieses Erfordernis unter dem Druck der Kommission und gegen die Überzeugung ihrer Behörden eingefügt worden sei.
76 Die Verhandlungen über ihren Beitritt hätten zu einer Empfehlung an die Unionsorgane geführt, der Politik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der ARM besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Außerdem enthalte die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassungen der Verträge (ABl. 1985, L 302, S. 23) einen ausdrücklichen Vorbehalt in Bezug auf die ZFM und habe keine konkrete Änderung des Gesetzesdekrets Nr. 500/80 vorgesehen.
77 Nach Ansicht der Kommission ist der dritte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
78 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des mit den Art. 107 und 108 AEUV eingeführten Systems der Kontrolle staatlicher Beihilfen das Verfahren differiert, je nachdem, ob es sich um bestehende oder neue Beihilfen handelt. Während bestehende Beihilfen gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV regelmäßig durchgeführt werden dürfen, solange die Kommission nicht ihre Vertragswidrigkeit festgestellt hat, und dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Verfahren zur fortlaufenden Überprüfung unterliegen, sieht Art. 108 Abs. 3 AEUV vor, dass der Kommission Vorhaben zur Einführung „neuer Beihilfen“ oder zur Umgestaltung „bestehender Beihilfen“ rechtzeitig zu melden sind und dass sie nicht durchgeführt werden dürfen, bevor das Verfahren zu einer abschließenden positiven Entscheidung nach Abschluss des förmlichen Prüfverfahrens gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV geführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).
79 Nach Art. 1 Buchst. c der Verordnung 2015/1589 sind als „neue Beihilfen“„alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen“, anzusehen.
80 Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV (ABl. 2004, L 140, S. 1) stuft für den Zweck von Art. 1 Buchst. c der Verordnung 2015/1589 als Änderung einer bestehenden Beihilfe jede Änderung, außer einer Änderung rein formaler oder verwaltungstechnischer Art, die keinen Einfluss auf die Würdigung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem Binnenmarkt haben kann, ein.
81 Um die Wesentlichkeit der Änderungen der bestehenden Beihilfe zu beurteilen, ist zu untersuchen, ob diese Änderungen die grundlegenden Elemente dieser Regelung wie den Kreis der Begünstigten, das Ziel der finanziellen Unterstützung oder die Quelle dieser Unterstützung und ihren Betrag berührt haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 2018, Rittinger u. a., C‑492/17, EU:C:2018:1019, Rn. 60 bis 63, und vom 14. April 2021, Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe und CarePool Hannover/Kommission, T‑69/18, EU:T:2021:189, Rn. 191 und die dort angeführte Rechtsprechung).
82 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im 144. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass die ursprüngliche ZFM-Regelung Änderungen erfahren habe, die im Rahmen der Regelung II das Erfordernis der Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen, den Ausschluss bestimmter Tätigkeiten vom Anwendungsbereich dieser Regelung, einen progressiven Abbau der Beihilfen sowie die Einführung einer zusätzlichen Vergünstigung für Unternehmen, die in der IFTZ ansässig gewesen seien, betroffen hätten. Außerdem habe die Regelung III eine Anhebung der Obergrenzen für die Steuerbemessungsgrundlage, auf die die Ermäßigung der Steuer Anwendung finde, vorgesehen.
83 Diese Änderungen sind entgegen dem Vorbringen der Portugiesischen Republik wesentlich, da sie sich auf die wesentlichen Bestandteile der ursprünglichen ZFM-Regelung und insbesondere auf den Kreis der Begünstigten sowie auf die betreffenden Beträge beziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. November 2015, Comunidad Autónoma del País Vasco und Itelazpi/Kommission, T‑462/13, EU:T:2015:902, Rn. 149 und 150).
84 Diese Schlussfolgerung kann nicht durch das Vorbringen der Portugiesischen Republik in Frage gestellt werden, diese Änderungen hätten sich darauf beschränkt, die Tragweite der ursprünglichen ZFM-Regelung einzuschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2019, Dilly’s Wellnesshotel, C‑585/17, EU:C:2019:969, Rn. 59). Abgesehen davon, dass dieses Vorbringen durch die nachfolgenden Änderungen der ursprünglichen ZFM-Regelung widerlegt wird, die u. a. zur Einführung von Steuerermäßigungen und zu einer Anhebung der Obergrenzen für die Steuerbemessungsgrundlage geführt haben, ist die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Änderung unabhängig von der Frage, ob diese Änderung dazu führt, dass der Anwendungsbereich der fraglichen Beihilfe erweitert oder eingeschränkt wird. Für diese Beurteilung kommt es allein darauf an, ob die Änderung die ursprüngliche Regelung in ihrem Kern betreffen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2021, Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe und CarePool Hannover/Kommission, T‑69/18, EU:T:2021:189, Rn. 190 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies ist bei den verschiedenen Änderungen der ursprünglichen ZFM-Regelung durch die Regelungen II und III der Fall.
85 Ebenso wenig kann sich die Portugiesische Republik mit Erfolg darauf berufen, dass diese Änderungen mit den späteren Fassungen der Leitlinien der Kommission für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung im Einklang stünden oder unter gebührender Berücksichtigung einer Empfehlung an die Unionsorgane zu beurteilen seien, der Politik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der ARM besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Solche Gesichtspunkte stehen nämlich in keinem Zusammenhang mit der rechtlichen Einstufung der fraglichen Beihilfen als „neue Beihilfe“ oder als „bestehende Beihilfe“.
86 Unerheblich ist auch das Vorbringen der Portugiesischen Republik, dass das Erfordernis der Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen von ihr unter dem Druck der Kommission eingefügt worden sei. Insoweit geht aus der Entscheidung der Kommission vom 11. Dezember 2002 in der Sache N222a/2002 (im Folgenden: Entscheidung von 2002) hervor, dass dieses Erfordernis von der Portugiesischen Republik selbst in den Entwurf der Regelung II aufgenommen wurde, der am 12. März 2002 bei der Kommission angemeldet wurde.
87 Daher ist, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob die ZFM-Regelung tatsächlich vor dem Beitritt der Portugiesischen Republik zur EWG durchgeführt wurde oder in den Genuss eines ausdrücklichen Vorbehalts in der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassungen der Verträge gekommen ist, jedenfalls festzustellen, dass die nach dem 1. Januar 1986 durch die Regelungen II und III vorgenommenen Änderungen die Einstufung als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung 2015/1589 ausschließen, wie die Kommission im 145. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegt hat.
88 Folglich kann die Portugiesische Republik der Kommission nicht vorwerfen, dadurch gegen Art. 108 Abs. 1 AEUV und die Art. 21 bis 23 der Verordnung 2015/1589 verstoßen zu haben, dass sie die Regelung III in der durchgeführten Form als „neue Beihilfe“ und nicht als „bestehende Beihilfe“ eingestuft und gegebenenfalls nicht das Verfahren zur fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilferegelungen eingeleitet habe.
89 Nach alledem ist der dritte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
D. Zum vierten bis sechsten Klagegrund: Rechts- und Tatsachenirrtümer sowie Begründungsmängel, da die Regelung III von der Portugiesischen Republik gemäß den Beschlüssen von 2007 und 2013 sowie den Art. 107 und 108 AEUV durchgeführt worden sei
1. Zum Gegenstand des vierten bis sechsten Klagegrundes
90 Mit ihrem vierten bis sechsten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, die Kommission habe Rechts- und Tatsachenirrtümer begangen und gegen ihre Begründungspflicht verstoßen, da die Regelung III von der Portugiesischen Republik gemäß den Beschlüssen von 2007 und 2013 sowie den Art. 107 und 108 AEUV durchgeführt worden sei.
91 Nach Ansicht der Portugiesischen Republik ist diese Schlussfolgerung der Kommission in dreifacher Hinsicht fehlerhaft.
92 Erstens wirft die Portugiesische Republik der Kommission vor, einen Rechtsfehler begangen zu haben, indem sie die Beschlüsse von 2007 und 2013 dahin ausgelegt habe, dass sie die Zahlung der in der Regelung III vorgesehenen Beihilfen nur in Bezug auf die Gewinne der in der ZFM registrierten Gesellschaften aus „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten Tätigkeiten“ und nicht für ihre gesamten auch außerhalb dieser Region ausgeübten Tätigkeiten zugelassen habe (vierter Klagegrund).
93 Zweitens wirft die Portugiesische Republik der Kommission vor, dadurch einen Tatsachenirrtum und einen Verstoß gegen ihre Begründungspflicht begangen zu haben, dass die Kommission die Ansicht vertreten habe, dass die portugiesischen Behörden keine geeigneten und wirksamen steuerlichen Kontrollen durchgeführt hätten, um zu prüfen, ob die Begünstigten die Voraussetzungen für die Zahlung der Beihilfen nach der Regelung III eingehalten hätten (fünfter Klagegrund).
94 Drittens wirft die Portugiesische Republik der Kommission vor, einen Tatsachenirrtum und einen Verstoß gegen ihre Begründungspflicht begangen zu haben, indem sie die Ansicht vertreten habe, dass die portugiesischen Behörden bei der Durchführung der Regelung III die Voraussetzung der „Erhaltung oder Schaffung von Arbeitsplätzen“ falsch ausgelegt und insoweit unzureichende Kontrollen vorgenommen hätten (sechster Klagegrund).
95 Zum Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 107 AEUV hat die Portugiesische Republik in Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung, mit der sie ersucht wurde, die Punkte in ihren Schriftsätzen zur Stützung dieses Vorbringens anzugeben, darauf hingewiesen, dass diese Bestimmung in Rn. 121 der Klageschrift angegeben sei, in der Art. 1 des verfügenden Teils des angefochtenen Beschlusses wiedergegeben ist, ohne jedoch eine solche Angabe zu enthalten, sowie in der Überschrift ihres vierten Klagegrundes erwähnt werde, ohne weitere Teile ihrer Schriftsätze anzugeben, die diese Behauptung stützen könnten.
96 Im Übrigen ist festzustellen, dass die Portugiesische Republik nichts vorträgt, was die von der Kommission auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 3 AEUV im 206. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses getroffene Feststellung der Unvereinbarkeit der Regelung III in der durchgeführten Form in Frage stellen könnte.
97 Folglich genügt das Vorbringen der Portugiesischen Republik betreffend einen Verstoß gegen Art. 107 AEUV, unter der Annahme, dass es einen Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 AEUV betrifft, nicht den Anforderungen von Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts und ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
98 Daher sind der vierte bis sechste Klagegrund so zu verstehen, dass mit ihnen im Wesentlichen die Feststellung im 180. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angegriffen wird, wonach „die ZFM-Regelung in der von Portugal durchgeführten Form gegen die Kommissionsbeschlüsse von 2007 und 2013 verstößt, mit denen die Regelung III genehmigt wurde, und daher rechtswidrig [im Sinne von Art. 108 Abs. 3 AEUV] ist“.
99 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass unter „neuen Beihilfen“ nach Art. 1 Buchst. c der Verordnung 2015/1589 „alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen“ zu verstehen sind.
100 Daraus folgt, dass, wenn ein Kläger der Auffassung ist, die Kommission sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Modalitäten der Zahlung von Einzelbeihilfen im Rahmen einer zuvor genehmigten Beihilferegelung nicht mit dieser vorherigen Genehmigung vereinbar seien, das Vorbringen dieser Partei dahin zu verstehen ist, dass mit ihm beanstandet wird, dass die Kommission es abgelehnt habe, diese Beihilfen rechtlich als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung 2015/1589 zu beurteilen, also als Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die von der Kommission oder vom Rat der Europäischen Union genehmigt wurden.
101 Daher ist unter gebührender Berücksichtigung der Ausführungen der Portugiesischen Republik zum Sitzungsbericht ihr Vorbringen im Rahmen ihres vierten bis sechsten Klagegrundes dahin zu verstehen, dass mit ihm beanstandet wird, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 150 bis 180 und 228 des angefochtenen Beschlusses die Regelung III in der durchgeführten Form nicht einer „bestehenden Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung 2015/1589 gleichgesetzt habe, deren Vereinbarkeit im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilferegelungen nach Art. 108 Abs. 1 AEUV zu beurteilen gewesen wäre, sondern sie im 180. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses als „rechtswidrige Beihilfe“ und daher als „neue Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung 2015/1589 eingestuft habe, die unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV gezahlt worden sei.
2. Zur Begründetheit des vierten bis sechsten Klagegrundes
102 Wie oben in Rn. 91 ausgeführt, soll die Schlussfolgerung der Kommission, wonach die Portugiesische Republik die Regelung III unter anderen Modalitäten als den von ihr mitgeteilten und mit den Beschlüssen von 2007 und 2013 genehmigten durchgeführt habe, in dreifacher Hinsicht fehlerhaft sein.
a)
Vorbringen der Parteien
103 Erstens hat die Kommission nach Ansicht der Portugiesischen Republik bei der Auslegung der in den Beschlüssen von 2007 und 2013 vorgesehenen Voraussetzung, dass sich die in der Regelung III vorgesehene ermäßigte Körperschaftsteuer nur auf die Gewinne aus „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten“ Tätigkeiten beziehen dürfe, einen Rechtsfehler begangen.
104 Insoweit wendet sich die Portugiesische Republik gegen die Beurteilung der Kommission, dass außerhalb dieser Region von in der ZFM registrierten Gesellschaften ausgeübte Tätigkeiten nicht in den Genuss der ermäßigten Körperschaftsteuer kommen könnten.
105 Zunächst räumt sie zwar ein, dass sich die in der Regelung III vorgesehenen Steuervorteile nach den Beschlüssen von 2007 und 2013 auf „die tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten Tätigkeiten“ bezögen und dass sich die Portugiesische Republik während der Aushandlung dieser Regelung tatsächlich verpflichtet habe, dass die ermäßigte Körperschaftsteuer nur für diese Tätigkeiten gelte, doch habe sie der Kommission nie verheimlicht, dass die Steuerpflichtigen, die ihren Sitz oder ihre tatsächliche Geschäftsleitung in der ARM hätten, dort mit ihren gesamten Einkünften besteuert worden seien. In den Augen der portugiesischen Behörden sei die ZFM-Regelung stets dazu bestimmt gewesen, ausländische Investitionen zu „gewinnen“ und internationale Dienstleistungen zu entwickeln, und nicht dazu, die mit der Lage der ARM verbundenen zusätzlichen Kosten unmittelbar auszugleichen oder Arbeitsplätze zu schaffen. Es sei jedoch nicht möglich, die Auslegung der Beschlüsse von 2007 und 2013 von den Standpunkten zu trennen, die die portugiesischen Behörden in den Verwaltungsverfahren eingenommen hätten, die zu diesen Entscheidungen geführt hätten, anlässlich deren sie vorgeschlagen hätten, die ZFM-Regelung über einen strikten Verhältnismäßigkeitsbezug zu den zusätzlichen Kosten, denen die in der ARM tätigen Unternehmen unterlägen, hinaus auszudehnen.
106 Daher müsse sich die Auslegung der Beschlüsse von 2007 und 2013 an der wirtschaftlichen Substanz der ZFM-Regelung orientieren, die sich im Wesentlichen aus dem Beitrag dieser Regelung zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der ARM und, in geringerem Umfang, zur Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen oder zur Erhebung der Steuereinnahmen ergebe, was der Kommission stets bewusst gewesen sei. Die Steuervergünstigungen der ZFM seien weit niedriger als die zusätzlichen Kosten, die sich aus ihrer äußersten Randlage ergäben.
107 Daher könne das Erfordernis, dass die Tätigkeiten, für die die Regelung III gelte, „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübt“ werden müssten, nicht bedeuten, dass die in Rede stehenden Beschäftigungsverhältnisse und wirtschaftlichen Tätigkeiten notwendigerweise innerhalb der Grenzen dieser Region stattfinden müssten.
108 Sodann ist die Portugiesische Republik der Ansicht, dass die Auslegung des Begriffs der „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten“ Tätigkeiten im Einklang mit den „Regeln“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und insbesondere mit ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung stehen müsse. Keine Verordnung verlange einen endgültigen rechtlichen oder tatsächlichen Zusammenhang zwischen der in der betreffenden Sonderwirtschaftszone ausgeübten tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit und den Gewinnen, für die ein Steuervorteil gewährt werde.
109 Die Portugiesische Republik könne daher davon ausgehen, dass eine Tätigkeit „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübt“ werde, wenn sie dort tatsächlich ausgeübt werde oder wenn das Unternehmen, das sie ausübe, dort entweder über einen Sitz, Führungskräfte sowie eigene und angemessene Mittel oder über ein tatsächliches, effektives Entscheidungszentrum verfüge, ohne dass verlangt werden könne, dass alle Arbeitnehmer ihre Tätigkeit dort dauerhaft ausübten oder dass die Tätigkeit auf sein Gebiet beschränkt sei.
110 Schließlich macht die Portugiesische Republik geltend, dass das Erfordernis, dass die in der ZFM registrierten Gesellschaften nur für ihre Tätigkeit, die sie in der ARM ausübten, in den Genuss von Steuerermäßigungen kommen könnten, die Kommission dazu veranlasst habe, zusätzliche Voraussetzungen ohne hinreichende Grundlage, insbesondere in ihren Leitlinien für Beihilfen mit regionaler Zielsetzung und ihren Mitteilungen für Gebiete in äußerster Randlage, aufzustellen. Dieses Erfordernis erhöhe auch die negativen Auswirkungen der Regelungen II und III und könne sogar dazu führen, dass die ZFM zerstört werde, während die Anwendung von Art. 349 AEUV die Unterstützung dieser Region verstärken müsse.
111 Außerdem laufe dieses Erfordernis der Rechtsprechung und der früheren Entscheidungspraxis der Kommission zuwider, die es erlaubten, den Ausstrahlungseffekt („Spillover-Effekt“) der Beihilfen zu berücksichtigen, d. h. die Tatsache, dass Beihilfen, die Tätigkeiten außerhalb einer Region beträfen, dieser Region erheblich zugutekommen könnten. In diesem Sinne habe die Kommission im Übrigen in der Entscheidung von 2007 erklärt, dass die Regelung III unterschiedslos für in Portugal ansässige und nicht ansässige Unternehmen gelte. Dieses Erfordernis verstoße auch dadurch gegen die Grundsätze der Freizügigkeit, dass die Möglichkeit für einen Arbeitnehmer, der von einem in der ZFM zugelassenen Unternehmen eingestellt werde, seine berufliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittstaat ausüben zu können, sowie die Möglichkeit für die betreffende Gesellschaft, Dienstleistungen außerhalb der ARM zu erbringen, beschränkt würden.
112 Zweitens macht die Portugiesische Republik geltend, der angefochtene Beschluss sei mit einem Tatsachenirrtum und einem Verstoß gegen die Begründungspflicht behaftet, da die Kommission die Ansicht vertreten habe, dass die portugiesischen Behörden keine geeigneten und wirksamen steuerlichen Kontrollen durchgeführt hätten, um zu prüfen, ob die Begünstigten die Voraussetzungen für die Zahlung der Beihilfen nach der Regelung III eingehalten hätten.
113 In diesem Zusammenhang wirft die Portugiesische Republik der Kommission vor, im 178. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Auffassung vertreten zu haben, dass die von den portugiesischen Behörden durchgeführten Kontrollen unwirksam gewesen seien, zum einen „in Bezug auf die genaue Berechnung der Zahl der von jedem … Begünstigten [der Regelung III] erhaltenen Arbeitsplätze und [zum anderen] die Bewertung des Zusammenhangs zwischen den geschaffenen Arbeitsplätzen und den tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten Tätigkeiten“.
114 Zur Stützung dieses Arguments macht die Portugiesische Republik geltend, die portugiesische Steuerregelung sehe vor, dass die Anwendung der Regelung III mit einer getrennten Buchführung für die in der ZFM erzielten Einkünfte, mit steuerlichen Nebenverpflichtungen sowie mit Mechanismen zur wirksamen Überwachung und Kontrolle der in den Beschlüssen von 2007 und 2013 genannten Bedingungen einhergehe.
115 In Bezug auf die in der ZFM registrierten Unternehmen nehme die Steuerbehörde der ARM zahlreiche strenge und systematische Kontrollen vor, indem sie u. a. die im Rahmen der steuerlichen Nebenverpflichtungen erhaltenen Informationen verknüpfe und Berichtigungen um erhebliche Beträge vornehme.
116 Drittens macht die Portugiesische Republik geltend, der angefochtene Beschluss sei mit einem Tatsachenirrtum und einem Verstoß gegen die Begründungspflicht behaftet, da die Kommission die Ansicht vertreten habe, dass die portugiesischen Behörden bei der Durchführung der Regelung III die Voraussetzung der „Erhaltung oder Schaffung von Arbeitsplätzen“ falsch ausgelegt und insoweit unzureichende Kontrollen vorgenommen hätten.
117 Die Portugiesische Republik wirft der Kommission vor, im 178. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses im Wesentlichen die Auffassung vertreten zu haben, dass die portugiesischen Behörden für die genaue Berechnung der Zahl der von jedem Begünstigten der Regelung III geschaffenen oder erhaltenen Arbeitsplätze auf die Methodik der Definition der Arbeitsplätze in „Vollzeitäquivalenten“ (VZÄ) und der „Zahl der jährlichen Arbeitseinheiten“ (JAE) hätten zurückgreifen müssen.
118 Insoweit macht die Portugiesische Republik geltend, dass es mangels eines einheitlichen Begriffs auf Unionsebene Sache jedes Mitgliedstaats sei, anhand seiner Rechtsvorschriften die Tragweite des Begriffs „Arbeitsplatz“ zu bestimmen. Die portugiesischen Behörden könnten daher unbefristete Verträge, Gelegenheitsarbeit, Zeitarbeit, Telearbeit und Teilzeitarbeit berücksichtigen. Außerdem seien zahlreiche angemessene und strenge Kontrollen vorgenommen worden, die zu erheblichen steuerlichen Berichtigungen geführt hätten, um zu überprüfen, ob die von den durch die Regelung III Begünstigten abgegebenen Erklärungen mit dem Begriff „Arbeitsplatz“ im Sinne des portugiesischen Rechts vereinbar seien.
119 Selbst wenn dem Ansatz der Kommission gefolgt werden sollte, hätten die portugiesischen Behörden jedenfalls Kontrollen durchgeführt, in deren Rahmen die Zahl der Arbeitnehmer nach der „JAE“-Methode berechnet worden sei.
120 Nach Ansicht der Kommission sind der vierte bis sechste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
b)
Würdigung durch das Gericht
121 Es ist daran zu erinnern, dass „bestehende Beihilfen“ gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV regelmäßig durchgeführt werden dürfen, solange die Kommission nicht ihre Vertragswidrigkeit festgestellt hat, und dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Verfahren zur fortlaufenden Überprüfung unterliegen. Dagegen sieht Art. 108 Abs. 3 AEUV vor, dass der Kommission Vorhaben zur Einführung „neuer Beihilfen“ oder zur Umgestaltung „bestehender Beihilfen“ rechtzeitig zu melden sind und dass sie nicht durchgeführt werden dürfen, bevor das Verfahren zu einer abschließenden Entscheidung nach Abschluss des Verfahrens gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV geführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).
122 Aus dieser Rechtsprechung in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 794/2004 ergibt sich, dass eine genehmigte, und somit bestehende Beihilferegelung nicht mehr von der Entscheidung erfasst wird, mit der sie genehmigt wurde, und daher eine „neue Beihilfe“ darstellt, wenn der betreffende Mitgliedstaat diese von der Kommission zwar genehmigte Beihilferegelung durchführt, aber nach Modalitäten, die sich wesentlich von denen unterscheiden, die in dem von diesem Mitgliedstaat angemeldeten Entwurf der Beihilferegelung vorgesehen sind, und die sich damit von der von der Kommission für die Feststellung der Vereinbarkeit dieser Regelung berücksichtigten wesentlich unterscheidet.
123 Somit kann eine bestehende Beihilferegelung im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung 2015/1589, wie die durch die Beschlüsse von 2007 und 2013 genehmigte, die erheblich geändert und unter Verstoß gegen die zuvor von der Kommission genehmigten Voraussetzungen für die Zahlung durchgeführt wurde, nicht mehr als genehmigt angesehen werden und verliert damit insgesamt ihre Eigenschaft als bestehende Beihilfe (vgl. entsprechend, betreffend den Verstoß gegen eine ausdrücklich von einem Beschluss der Kommission vorgesehene Bedingung, die die Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gewährleistet, Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Italien, C‑467/15 P, EU:C:2017:799, Rn. 47 und 54).
124 Nach alledem ist zu prüfen, ob die Kommission in den Erwägungsgründen 180, 211 und 228 sowie in Art. 1 des angefochtenen Beschlusses zu Recht zu dem Ergebnis gelangen konnte, dass die Portugiesische Republik die Regelung III unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 durchgeführt hat, und folglich davon ausgehen durfte, dass sich diese Regelung in der durchgeführten Form wesentlich von der durch diese Entscheidungen genehmigten Regelung unterscheidet und daher eine neue Beihilfe darstellt, die von diesem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV eingeführt wurde.
125 Zu diesem Zweck ist nacheinander zu prüfen, ob die Kommission erstens zu Recht davon ausgehen konnte, dass nur die Tätigkeiten, „die tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübt werden“, einen Anspruch auf die mit den Beschlüssen von 2007 und 2013 genehmigten Beihilfen verschafften (Erwägungsgründe 151 bis 167 des angefochtenen Beschlusses), zweitens, ob die von den portugiesischen Behörden verwendete Berechnungsmethode zur Bestimmung der Arbeitsplätze, die von den einzelnen Begünstigten der Regelung III geschaffen oder erhalten wurden, es nicht ermöglichte, die korrekte Durchführung dieser Regelung tatsächlich zu kontrollieren (Erwägungsgründe 168 bis 178 des angefochtenen Beschlusses), und drittens, ob die von den portugiesischen Behörden durchgeführten Steuerkontrollen es nicht ermöglichten, die korrekte Durchführung dieser Regelung tatsächlich zu kontrollieren (Erwägungsgründe 165, 176 und 178 des angefochtenen Beschlusses).
1) Zur Voraussetzung der Herkunft der Gewinne, für die die ermäßigte Körperschaftsteuer gilt
126 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Portugiesische Republik in ihren Schriftsätzen ausdrücklich eingeräumt hat, dass „die Beschlüsse von 2007 und 2013 vors[a]hen, dass die Steuervorteile, die einer ermäßigten Körperschaftsteuer entsprechen, für ‚tatsächlich und materiell aus Tätigkeiten auf Madeira erwirtschaftete Vorteile‘ g[a]lten“.
127 Daraus folgt, dass sich die Portugiesische Republik nur darauf beruft, dass sie trotz des Wortlauts der Regelung III sowie der Beschlüsse von 2007 und 2013, ohne gegen diese Beschlüsse zu verstoßen, die Regelung III auf Gesellschaften habe anwenden können, die zwar in der ZFM registriert gewesen seien, deren Tätigkeit aber außerhalb der ARM ausgeübt worden sei.
128 Nach ständiger Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem üblichen Sinn und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu bestimmen (vgl. Urteil vom 27. Januar 2022, Zinātnes parks, C‑347/20, EU:C:2022:59, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
129 Entgegen dem Vorbringen der Portugiesischen Republik kann die Wendung „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübte Tätigkeiten“ in ihrem üblichen Sinn jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass sie Tätigkeiten erfasst, die außerhalb der ARM ausgeübt werden, selbst wenn sie von in der ZFM registrierten Gesellschaften durchgeführt werden.
130 Dieses Ergebnis wird durch den Kontext des angefochtenen Beschlusses sowie durch die Ziele bestätigt, die mit der Unionsregelung im Bereich der staatlichen Beihilfen verfolgt werden, insbesondere durch das für Regionalbeihilfen geltende Ziel.
131 Zunächst geht aus den Entscheidungen, mit denen die Regelungen II und III genehmigt wurden, hervor, dass die Kommission und die portugiesischen Behörden in den Verwaltungsverfahren, die zu diesen Entscheidungen führten, stets die Auslegung der Wendung „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübte Tätigkeiten“ teilten.
132 Aus der Entscheidung von 2002 geht nämlich hervor, dass die portugiesischen Behörden im Verwaltungsverfahren, das zu dieser Entscheidung führte, angaben, dass „die Steuervorteile auf die tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten Tätigkeiten beschränkt [wären], was es ermöglicht[e], die außerhalb Madeiras ausgeübten Tätigkeiten auszuschließen“.
133 Ebenso hatte die Kommission, wie aus dem von der Portugiesischen Republik nicht bestrittenen 226. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, „die Aufnahme einer ausdrücklichen Bestimmung in den von Portugal am 28. Juni 2006 notifizierten Gesetzesentwurf gefordert …, nach der die Steuerermäßigungen auf die Gewinne aus den auf Madeira ausgeübten Tätigkeiten beschränkt sind. Portugal hat dies jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass eine solche Bestimmung nicht erforderlich sei, da sie sich aus der Rechtsgrundlage der ZFM ergebe“.
134 Sodann ist der Wortlaut der Beschlüsse von 2007 und 2013, selbst wenn er als mehrdeutig angesehen werden könnte, im Einklang mit ihren Rechtsgrundlagen auszulegen, nämlich Art. 87 Abs. 3 Buchst. a EG (jetzt Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV) und Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV sowie den Leitlinien von 2007.
135 Alle Ausnahmen von dem in Art. 107 Abs. 1 AEUV niedergelegten allgemeinen Grundsatz der Unvereinbarkeit staatlicher Beihilfen mit dem Binnenmarkt sind jedoch eng auszulegen (vgl. Urteil vom 29. April 2004, Deutschland/Kommission, C‑277/00, EU:C:2004:238, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
136 Außerdem heißt es in den Leitlinien von 2007, insbesondere ihren Ziff. 6 und 76, wie die Kommission im 153. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zutreffend ausgeführt hat, dass Betriebsbeihilfen ausnahmsweise in Gebieten, die in den Anwendungsbereich von Art. 87 Abs. 3 Buchst. a EG fallen, wie die ARM, deren Status als Gebiet in äußerster Randlage von der Kommission anerkannt wird, gewährt werden können, wenn sie aufgrund ihres Beitrags zur Regionalentwicklung und ihrer Art nach gerechtfertigt sind und ihre Höhe den auszugleichenden Nachteilen angemessen ist.
137 Dies bedeutet, dass solche Betriebsbeihilfen nur für die Tätigkeiten gewährt werden können, die von den Nachteilen und damit den Mehrkosten des jeweiligen Gebiets betroffen sind.
138 Somit können Tätigkeiten, die außerhalb dieser Gebiete ausgeübt werden und daher von diesen Mehrkosten nicht betroffen sind, von den genannten Beihilfen ausgeschlossen werden, selbst wenn sie von in diesen Gebieten ansässigen Unternehmen ausgeübt werden.
139 Schließlich wurde, wie die Kommission im 157. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zutreffend ausgeführt hat, die Beurteilung der Vereinbarkeit der Regelung III in der Entscheidung von 2007 auf der Grundlage der Mehrkosten vorgenommen, die den in der ARM, und nicht außerhalb der ARM, tätigen Unternehmen entstanden sind.
140 Aus den Erwägungsgründen 44 bis 53 der Entscheidung von 2007 geht nämlich hervor, dass sich die Kommission auf eine von den portugiesischen Behörden vorgelegte Studie stützte, in der die „Mehrkosten des Privatsektors in der [ARM]“ ermittelt wurden. Außerdem sind die berücksichtigten Mehrkosten, d. h. insbesondere die Transport‑, Lager‑, Personal‑, Finanzierungs- und Vermarktungskosten, diejenigen, denen die Tätigkeiten unterliegen, die tatsächlich und materiell in der ARM ausgeübt werden, und nicht die Tätigkeiten, die außerhalb der ARM von in diesem Gebiet registrierten Gesellschaften ausgeübt werden. Schließlich wird diese Feststellung dadurch bestätigt, dass die Kommission im 48. Erwägungsgrund der Entscheidung von 2007 die fraglichen Mehrkosten als Prozentsatz der bloßen Bruttowertschöpfung des Privatsektors oder des BIP der ARM angesehen hat.
141 Abgesehen davon, dass sie weder im Wortlaut noch im Kontext der Beschlüsse von 2007 und 2013 eine Grundlage findet, widerspricht die von der Portugiesischen Republik vertretene weite Auslegung der Wendung „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübte Tätigkeiten“ folglich nicht nur den von Art. 87 Abs. 3 Buchst. a EG und Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV, die als Rechtsgrundlage für die Beschlüsse von 2007 bzw. 2013 gedient haben, verfolgten Zielen, sondern auch den Leitlinien von 2007.
142 Insoweit kann der Umstand, dass die von der Kommission gewählte Auslegung, wie die Portugiesische Republik vorträgt, gegen einen Kommentar des OECD-Ausschusses für Steuerfragen, einen Bericht der Gruppe Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) dieser Organisation und Leitlinien eines Forums dieser Organisation sowie gegen die frühere Entscheidungspraxis der Kommission verstoßen könnte, an diesem Ergebnis nichts ändern.
143 Zwar kann die Kommission nämlich Texte berücksichtigen, die im Rahmen der OECD erlassen wurden, doch kann sie durch diese, insbesondere bei der Anwendung der Vorschriften des AEU-Vertrags und insbesondere der Vorschriften über staatliche Beihilfen, in keiner Weise gebunden sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2021, Luxemburg und Amazon/Kommission, T‑816/17 und T‑318/18, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2021:252, Rn. 154, sowie Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache État luxembourgeois [Informationen über eine Gruppe von Steuerpflichtigen], C‑437/19, EU:C:2021:450, Nr. 67).
144 Ebenso ist nur im Rahmen von Art. 107 AEUV zu prüfen, ob eine Entscheidung der Kommission rechtmäßig ist, nicht aber im Hinblick auf eine angebliche frühere Entscheidungspraxis der Kommission (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 10. Oktober 2017, Greenpeace Energy/Kommission, C‑640/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:752, Rn. 27, und Urteil vom 26. März 2020, Larko/Kommission, C‑244/18 P, EU:C:2020:238, Rn. 114).
145 Unerheblich ist auch der Umstand, dass die portugiesischen Behörden der Kommission nie verheimlicht hätten, dass die Gesellschaften, die ihren Sitz oder ihre tatsächliche Geschäftsleitung in der ZFM hätten, dort mit ihren gesamten Einkünften besteuert worden seien.
146 Der Umstand, dass diese Gesellschaften mit ihren gesamten Einkünften von den Steuerbehörden der ARM besteuert werden, bedeutet nämlich keineswegs, dass die Betriebsbeihilfen, die diesen Gesellschaften von dieser Region gewährt werden, zwangsläufig allen ihren Tätigkeiten zugutekommen müssen und nicht einem bestimmten Teil dieser Tätigkeiten vorbehalten werden können.
147 Außerdem ist es im Rahmen der Kontrolle der Vereinbarkeit staatlicher Beihilfen nach Art. 108 AEUV und gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV Sache des anmeldenden Staates und der Kommission, redlich zusammenzuwirken, um der Kommission die Überwindung von Schwierigkeiten zu ermöglichen, die sich ihr bei der Prüfung eines angemeldeten Beihilfevorhabens im Rahmen des Verfahrens von Art. 108 Abs. 3 AEUV stellen können (vgl. Urteil vom 15. März 2001, Prayon-Rupel/Kommission, T‑73/98, EU:T:2001:94, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).
148 Dies bedeutet insbesondere, dass der betreffende Mitgliedstaat der Kommission alle zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen erforderlichen Informationen bereitstellt, insbesondere um die Vereinbarkeit der Beihilfen mit dem Binnenmarkt zu beurteilen, wie aus den Erwägungsgründen 6 und 16 der Verordnung Nr. 659/1999 (jetzt Erwägungsgründe 6 und 16 der Verordnung 2015/1589) hervorging.
149 Die Portugiesische Republik weist jedoch nicht nach, dass sie im Lauf des Verwaltungsverfahrens, das zu den Entscheidungen von 2002, 2007 oder 2013 führte, die Kommission ausdrücklich und eindeutig darüber informierte, dass ungeachtet des Wortlauts der Voraussetzungen für die Regelung II oder die Regelung III diese für alle in der ZFM registrierten Gesellschaften und für ihre gesamten Tätigkeiten einschließlich der Tätigkeiten außerhalb der ARM gelten sollten.
150 Vielmehr geht aus den vorstehenden Rn. 132 und 133 hervor, dass die portugiesischen Behörden die Kommission mehrfach darauf hinwiesen, dass sich die ermäßigte Körperschaftsteuer auf „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübte Tätigkeiten“ beschränke, was die außerhalb dieses Gebiets ausgeübten Tätigkeiten ausschloss.
151 Die Kommission konnte daher im 167. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses rechtsfehlerfrei und ohne zusätzliche Voraussetzungen zu ihren Beschlüssen von 2007 und 2013 hinzuzufügen, zu dem Schluss gelangen, dass die Regelung III in der durchgeführten Form in Bezug auf die Voraussetzung der Herkunft der Gewinne, auf die die ermäßigte Körperschaftsteuer angewandt wurde, gegen diese Entscheidungen verstieß.
152 Diese Schlussfolgerung kann nicht durch das Vorbringen der Portugiesischen Republik in Frage gestellt werden, wonach die Kommission, indem sie die Wendung „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübte Tätigkeiten“ dahin ausgelegt habe, dass sie nicht die Tätigkeiten erfasse, die außerhalb dieser Region von in der ZFM registrierten Gesellschaften ausgeübt würden, die negativen Auswirkungen der Regelungen II und III auf die ARM sowie den Ausstrahlungseffekt der Regelung III in der durchgeführten Form nicht ausreichend berücksichtigt habe oder gegen die Grundsätze der Freizügigkeit verstoßen habe.
153 Was erstens das Vorbringen betrifft, die negativen Auswirkungen der Regelungen II und III auf die ARM sowie der Ausstrahlungseffekt der Regelung III in der durchgeführten Form seien unzureichend berücksichtigt worden, ist festzustellen, dass die Portugiesische Republik damit nicht die Beurteilung, die die Kommission in Bezug auf die Unvereinbarkeit der Regelung III in der durchgeführten Form mit den Beschlüssen von 2007 und 2013 vorgenommen hat und damit die rechtliche Beurteilung dieser Regelung als „neue Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Verordnung 2015/1589, die unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV gewährt wurde, in Frage stellen will.
154 Die Portugiesische Republik stellt vielmehr die Beurteilung der Vereinbarkeit der Regelung III anlässlich der Beschlüsse von 2007 und 2013 in Frage, die bestandskräftig geworden sind und daher im Rahmen der vorliegenden Klage nicht angefochten werden können.
155 Zudem kann sich ein Mitgliedstaat in einem Verfahren, das wegen neuer Beihilfen eingeleitet wurde, die unter Verstoß gegen eine vorherige Entscheidung über die Genehmigung einer Beihilferegelung ausgezahlt wurden, nicht auf die Rechtswidrigkeit der Entscheidung berufen, mit der diese Regelung für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird. Das in Art. 108 Abs. 1 AEUV vorgesehene Verfahren zur fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilfen soll es nämlich der Kommission und den Mitgliedstaaten gerade ermöglichen, die Zweckmäßigkeit einer erneuten Beurteilung der Vereinbarkeit bestehender Beihilfen zu erörtern. Im Übrigen können die Mitgliedstaaten bei der Kommission jederzeit ein neues Beihilfevorhaben gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV, auch aus Gründen der Rechtssicherheit, anmelden, was die Portugiesische Republik nicht getan hat.
156 Zweitens zielt die Rüge eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Niederlassungsfreiheit, der Freizügigkeit, des freien Dienstleistungsverkehrs und des freien Kapitalverkehrs auch darauf ab, die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse von 2007 und 2013 in Frage zu stellen, und ist zudem nur auf die Behauptung gestützt, dass der angefochtene Beschluss die Möglichkeit für einen Arbeitnehmer, der von einer in der ZFM registrierten Gesellschaft eingestellt werde, seine berufliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittstaat ausüben zu können, sowie die Möglichkeit für die betreffenden Gesellschaften, Dienstleistungen außerhalb der ARM zu erbringen, verhindere oder beschränke.
157 Dieses Vorbringen, das sich darauf beschränkt, die Bestimmungen des AEU-Vertrags zu paraphrasieren und durch kein zusätzliches Argument untermauert wird, ist nach Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung als unzulässig zurückzuweisen.
158 Nach alledem hat die Kommission bei der Auslegung der in den Beschlüssen von 2007 und 2013 vorgesehenen Voraussetzung, dass sich die in der Regelung III vorgesehene ermäßigte Körperschaftsteuer nur auf die Gewinne aus „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten“ Tätigkeiten beziehen dürfte, keinen Rechtsfehler begangen.
2) Zur Voraussetzung in Bezug auf die Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM
159 Im 178. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses vertrat die Kommission die Auffassung, dass die Durchführung der Regelung III durch die Portugiesische Republik hinsichtlich der Voraussetzung der Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 verstoße.
160 Zur Stützung dieses Ergebnisses führte die Kommission in den Erwägungsgründen 168 bis 174 des angefochtenen Beschlusses im Wesentlichen aus, dass diese Voraussetzung eine Bedingung für den Zugang zu der Regelung III gewesen sei und dass sie als Parameter für die Berechnung des Beihilfebetrags auf objektiven und nachprüfbaren Methoden wie den VZÄ und JAE beruhen müsse, die in den Leitlinien von 2007 und in den aufeinanderfolgenden Gruppenfreistellungsverordnungen angewandt würden.
161 In den Erwägungsgründen 175 und 176 des angefochtenen Beschlusses stellte die Kommission sodann fest, dass die portugiesischen Behörden für die Zwecke der Durchführung der Regelung III jede Art von Beschäftigung, gleich welcher rechtlichen Art, die von den Begünstigten in ihren Steuererklärungen angegeben worden sei, unabhängig von der Anzahl der Stunden, Tage oder Monate aktiver Arbeit pro Jahr, als „Arbeitsplätze“ anerkannt hätten, ohne dass diese Behörden hätten überprüfen können, wie viel Zeit der Stelleninhaber tatsächlich für die einzelnen Begünstigten aufgewendet habe, und diese Zeit sei auch nicht in VZÄ umgerechnet worden.
162 Mit dieser Begründung hat die Kommission ihre Überlegungen so klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass die Betroffenen ihr die Gründe für das Ergebnis, zu dem sie gelangt war, entnehmen können und das Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.
163 Was die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung betrifft, wirft die Portugiesische Republik der Kommission im Wesentlichen vor, sie habe ihr zu Unrecht aufgegeben, bei der Prüfung, ob die Voraussetzung der Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM erfüllt sei, auf die VZÄ- und die JAE‑Methode unter Ausschluss des Begriffs „Arbeitsplatz“ im Sinne des portugiesischen Rechts zurückzugreifen.
164 Diese Argumentation beruht jedoch auf einem falschen Verständnis des angefochtenen Beschlusses.
165 Zwar konnte die Kommission im 173. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses feststellen, dass die VZÄ- und die JAE‑Methode geeignete Methoden zur Berechnung der Zahl der Arbeitsplätze darstellten, doch schrieb sie den portugiesischen Behörden keineswegs den Rückgriff auf solche Methoden vor, was sie in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, sondern beschränkte sich darauf, diesen Behörden im 176. Erwägungsgrund dieses Beschlusses vorzuwerfen, keine Methode angewandt zu haben, die es ermöglicht hätte, die Richtigkeit und Dauerhaftigkeit der von den Begünstigten der Regelung III in der durchgeführten Form gemeldeten Arbeitsplätze zu überprüfen.
166 Dieser Vorwurf wird in rechtlich hinreichender Weise durch die Erwägungsgründe 28 und 175 des angefochtenen Beschlusses untermauert, wonach gemäß der von den portugiesischen Behörden angewandten Methode für die Zwecke der Durchführung der Regelung III jede Art von Beschäftigung, gleich welcher rechtlichen Art, die von den Begünstigten in ihren Steuererklärungen angegeben worden sei, unabhängig von der Anzahl der Stunden, Tage oder Monate aktiver Arbeit pro Jahr, einschließlich der Teilzeitbeschäftigungen oder der Beschäftigung von Mitgliedern von Leitungsorganen, die ihre Tätigkeit in mehr als einem von der Regelung III begünstigten Unternehmen ausübten, einen Arbeitsplatz darstelle.
167 Nach alledem hat die Kommission somit nicht gegen Art. 296 Abs. 2 AEUV verstoßen und keinen Beurteilungsfehler begangen, als sie im 179. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Auffassung vertreten hat, dass die Regelung III in der durchgeführten Form gegen die Voraussetzung der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM verstoße.
3) Zur Wirksamkeit der durchgeführten Steuerkontrollen zur Überprüfung der ordnungsgemäßen Anwendung der Voraussetzungen in Bezug auf die Herkunft der Gewinne, für die die ermäßigte Körperschaftsteuer gilt, und die Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM
168 Im 178. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses vertrat die Kommission die Auffassung, dass die von den portugiesischen Behörden bei den Begünstigten der Regelung III in der durchgeführten Form vorgenommenen Steuerprüfungen sowie die im Rahmen dieser Kontrollen gesammelten Daten es nicht ermöglichten, die Voraussetzungen dieser Regelung in Bezug auf die Herkunft der Gewinne, für die die ermäßigte Körperschaftsteuer gelte, und die Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM wirksam zu kontrollieren.
169 Zur Stützung dieses Ergebnisses führte die Kommission im 165. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses im Wesentlichen aus, dass die von den portugiesischen Behörden durchgeführten steuerlichen Prüfungen gemäß der weiten Auslegung der Voraussetzung in Bezug auf die Herkunft der Gewinne, für die die von diesen Behörden herangezogene ermäßigte Körperschaftsteuer gegolten habe, erfolgt seien, die von der in den Leitlinien von 2007 und in den Beschlüssen von 2007 und 2013 vorgesehenen abweiche.
170 Im 176. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fügte die Kommission hinzu, dass die portugiesischen Behörden auf der Grundlage der von den Begünstigten der Regelung III vorgelegten Erklärungen nicht in der Lage gewesen seien, die Richtigkeit und Dauerhaftigkeit der gemeldeten Arbeitsplätze zu überprüfen, und zwar wegen des Fehlens einer gemeinsamen und objektiven Berechnungsmethode, die für alle Arbeitsverhältnisse gelte.
171 Mit dieser Begründung hat die Kommission ihre Überlegungen so klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass die Betroffenen ihr die Gründe für das Ergebnis, zu dem sie gelangt war, entnehmen können und das Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.
172 Zur Begründetheit dieses Ergebnisses ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wie oben in den Rn. 168 bis 170 ausgeführt, der Ansicht war, dass die von den Steuerbehörden durchgeführten Kontrollen nicht geeignet gewesen seien, die ordnungsgemäße Anwendung der in der Regelung III vorgesehenen Voraussetzungen in Bezug auf die Herkunft der Gewinne, für die die ermäßigte Körperschaftsteuer gelte, und die Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM zu überprüfen. Diese Unangemessenheit ergebe sich im Wesentlichen daraus, dass die portugiesischen Behörden diese Voraussetzungen unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 auslegten oder anwandten.
173 Da das Gericht oben in den Rn. 151 und 167 entschieden hat, dass die Rügen der Kommission betreffend die Auslegung und Umsetzung dieser beiden Voraussetzungen begründet ist, kann der – von der Kommission im Übrigen nicht bestrittene – bloße Umstand, dass die portugiesischen Steuerbehörden eine getrennte Buchführung für die in der ZFM erzielten Einkünfte verlangten, über Instrumente zur Kontrolle im Vorhinein und im Nachhinein der Steuerpflichtigen und insbesondere der durch die Regelung III Begünstigten verfügten oder zahlreiche und systematische Kontrollen vornähmen, die in gewissen Fällen zu Berichtigungen um erhebliche Beträge geführt hätten, jedoch nicht für den Nachweis ausreichen, dass diese steuerlichen Prüfungen diesen Behörden letztlich gestatten, die ordnungsgemäße Anwendung dieser Regelung wirksam sicherzustellen, da diese Behörden diese Regelung unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 auslegen oder anwenden.
174 Dies gilt insbesondere für die Verpflichtung der in der ZFM niedergelassenen Gesellschaften, eine getrennte Buchführung für die in der ZFM erzielten Einkünfte zu führen, da, wie oben in Rn. 151 festgestellt, die in der ZFM erzielten Einkünfte nicht im Einklang mit den Beschlüssen von 2007 und 2013 berechnet wurden.
175 Ebenso wenig kann der Umstand, dass sich die Portugiesische Republik auf das Beispiel einer Steuerprüfung bei einer in der ZFM registrierten Gesellschaft beruft, die zur Anwendung der JAE‑Methode führte, nicht ausreichen, um die Schlussfolgerung in Frage zu stellen, zu der die Kommission gelangt ist, da dies keine ständigen und von den portugiesischen Behörden festgelegten Praktiken und Methoden aufzeigen kann, anhand deren diese kontrollieren konnten, ob die Regelung III im Allgemeinen im Einklang mit den Beschlüssen von 2007 und 2013 durchgeführt wird.
176 Daher hat die Kommission nicht gegen Art. 296 Abs. 2 AEUV verstoßen und keinen Beurteilungsfehler begangen, als sie im 178. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, dass die von den portugiesischen Behörden bei den Begünstigten der Regelung III durchgeführten Steuerprüfungen sowie die im Rahmen dieser Kontrollen gesammelten Daten es nicht ermöglichten, die Einhaltung der Voraussetzungen der Regelung III in Bezug auf die Herkunft der Gewinne, für die die ermäßigte Körperschaftsteuer galt, und die Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ARM wirksam zu kontrollieren.
177 Nach alledem hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass die Regelung III in der durchgeführten Form mehrere der in den Beschlüssen von 2007 und 2013 aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllte.
178 Da diese Regelung unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 durchgeführt wurde, so dass sie gegenüber der mit diesen Entscheidungen genehmigten Regelung erheblich geändert wurde, ist die Kommission im 180. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ebenfalls zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass eine neue rechtswidrige Beihilfe vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Italien, C‑467/15 P, EU:C:2017:799, Rn. 48).
179 Folglich sind der vierte bis sechste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
E. Zum siebten Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte, der Grundsätze der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung sowie Begründungsmangel, da die Kommission das Schreiben der Portugiesischen Republik vom 6. April 2018 nicht berücksichtigt habe
180 Mit ihrem siebten Klagegrund macht die Portugiesische Republik eine Verletzung der Verteidigungsrechte, der Grundsätze der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung sowie einen Begründungsmangel geltend. Die Kommission habe nämlich formal und materiell verschiedene Argumente außer Acht gelassen, mit denen die Notwendigkeit der Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens bestritten werden solle und die die Portugiesische Republik in einem Schreiben vom 6. April 2018 an die Kommission im Rahmen des Überwachungsverfahrens geltend gemacht habe, wobei dieses Schreiben im Übrigen im angefochtenen Beschluss nicht erwähnt werde. Ohne diesen Fehler im Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, durch den ihr während dieses Verfahrens eine streitige Erörterung vorenthalten worden sei, hätte der angefochtene Beschluss einen anderen Inhalt haben können.
181 Nach Ansicht der Kommission ist es der Portugiesischen Republik verwehrt, eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte geltend zu machen; jedenfalls sei der siebte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
182 Zur Zulässigkeit des Vorbringens der fehlenden Berücksichtigung des Schreibens vom 6. April 2018, die von der Kommission mit der Begründung bestritten wird, dass es von der Portugiesischen Republik im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nicht geltend gemacht worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass es keine unionsrechtliche Vorschrift gibt, die den Mitgliedstaat, an den ein Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens gerichtet ist, zwingt, die verschiedenen in diesem Beschluss angeführten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte im Verwaltungsverfahren anzugreifen, um das Recht, dies später im Stadium des Gerichtsverfahrens zu tun, nicht zu verwirken (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, EU:C:2010:389, Rn. 89 bis 92).
183 Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass das Schreiben vom 6. April 2018 von der Portugiesischen Republik an die Kommission gerichtet wurde. Die Portugiesische Republik kann sich daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die fehlende Erwähnung des Schreibens im Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens ihre Verteidigungsrechte sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung verletzt habe.
184 Wie sich nämlich aus Art. 6 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 ergibt, leitet die Kommission mit einem Beschluss über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens ein Verfahren ein, das es dem betreffenden Mitgliedstaat und den anderen Beteiligten ermöglichen soll, innerhalb einer bestimmten Frist eine Stellungnahme abzugeben.
185 Die Portugiesische Republik, die Verfasserin des in Rede stehenden Schreibens ist, kann jedoch nicht geltend machen, dass sie dessen Inhalt nicht gekannt habe und dass sie allein deshalb, weil es im Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens nicht erwähnt worden sei, daran gehindert gewesen sei, ihre Argumente im förmlichen Prüfverfahren sachgerecht geltend zu machen.
186 Die Portugiesische Republik kann der Kommission auch nicht vorwerfen, dass der angefochtene Beschluss insoweit unzureichend begründet sei. Die rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die nach Ansicht der Portugiesischen Republik in diesem Schreiben erwähnt wurden, sind nämlich in den Erwägungsgründen 64, 71 bis 73, 81 bis 88 und 220 des angefochtenen Beschlusses als Vorbringen der Portugiesischen Republik im Rahmen des förmlichen Prüfverfahrens angeführt worden.
187 Folglich ist der siebte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
F. Zum achten Klagegrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der guten Verwaltung soweit mit dem angefochtenen Beschluss der Portugiesischen Republik aufgegeben worden sei, die mit dem angefochtenen Beschluss für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfen zurückzufordern
188 Mit ihrem achten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, die Kommission habe gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der guten Verwaltung verstoßen, indem sie ihr aufgegeben habe, die unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 gezahlten Beihilfen zurückzufordern.
189 Diese Verstöße ergäben sich daraus, dass die Regelung III in der durchgeführten Form keine staatliche Beihilfe oder, hilfsweise, dass diese Regelung eine bestehende Beihilfe darstelle; dass die ZFM-Regelung seit 1987 von der Kommission ausdrücklich und sukzessive geprüft und genehmigt worden sei; dass die Voraussetzungen der Regelung III aus der Regelung II hervorgegangen seien; dass diese Voraussetzungen, abgesehen davon, dass sie nicht klar seien, von der Kommission entgegen dem Wortlaut der Beschlüsse von 2007 und 2013 sowie ihrer früheren Entscheidungspraxis ausgelegt würden; dass die Kommission der Durchführung der Regelung III erst sehr spät widersprochen habe; und dass sich die Kommission der Auslegung der Voraussetzungen der Regelungen II und III angeschlossen habe, als sie 2006 nicht in Frage gestellt habe, dass es nicht zweckmäßig sei, in die portugiesische Regelung eine Klarstellung hinsichtlich der Voraussetzung der Herkunft des Gewinns aufzunehmen. Auch die Dauer des förmlichen Prüfverfahrens von 29 Monaten stehe einer Rückforderung der betreffenden Beihilfen entgegen.
190 Die Portugiesische Republik macht ferner geltend, dass die Rechtsprechung, wonach ein Empfänger einer „Einzelbeihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. e der Verordnung 2015/1589 kein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit ihrer Gewährung haben könne, wenn das in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehene Verfahren nicht eingehalten werde, auf den vorliegenden Fall, der eine „Beihilferegelung“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d dieser Verordnung betreffe, die Jahrzehnte nach ihrer Einführung in Frage gestellt werde, nicht anwendbar sei.
191 Die Portugiesische Republik bringt auch vor, dass der Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der guten Verwaltung umso offensichtlicher sei, als sie selbst und die 102 Beteiligten, die am förmlichen Prüfverfahren teilgenommen hätten, sich für die Einstellung des Verfahrens aussprächen, die Kommission für die wirtschaftliche, steuerliche und soziale Bedeutung der ZFM als Gebiet in äußerster Randlage, das günstiger behandelt werden müsse, sensibilisiert gewesen sei und die portugiesischen Behörden nicht nur die Kontrollen in Bezug auf die ZFM verstärkt, sondern auch Änderungen der Regelung III im Hinblick auf die Einstellung des Verfahrens vorgeschlagen hätten.
192 Schließlich macht die Portugiesische Republik geltend, dass die Rückforderung der Beihilfen gegen den Begriff der Rechtsstaatlichkeit verstoße.
193 Nach Ansicht der Kommission ist der achte Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
194 Was die der Portugiesischen Republik mit dem angefochtenen Beschluss auferlegte Verpflichtung betrifft, die nach der Regelung III unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 gezahlten Beihilfen zurückzufordern, ist darauf hinzuweisen, dass die Aufhebung einer rechtswidrigen und unvereinbaren Beihilfe durch Rückforderung die logische Folge der Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Beihilfe ist. Die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, eine von der Kommission als mit dem Binnenmarkt unvereinbar angesehene Beihilfe aufzuheben, dient nämlich der Wiederherstellung der früheren Lage, wodurch der Empfänger den Vorteil verliert, den er auf dem Markt gegenüber seinen Mitbewerbern tatsächlich besessen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Kommission/Spanien [DVB-T in Kastilien-La Mancha], C‑704/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:342, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
195 Außerdem ist die Kommission nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 stets verpflichtet, die Rückforderung einer Beihilfe anzuordnen, die sie für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt, es sei denn, dass eine solche Rückforderung gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstößt (Urteil vom 28. Juli 2011, Mediaset/Kommission, C‑403/10 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:533, Rn. 124).
196 Was den Grundsatz des Vertrauensschutzes angeht, kann sich ein Mitgliedstaat, dessen Behörden, wie im vorliegenden Fall, eine Beihilfe unter Verletzung der Verfahrensbestimmungen von Art. 108 Abs. 3 AEUV gewährt haben, grundsätzlich nicht unter Berufung auf das geschützte Vertrauen der Begünstigten der Verpflichtung entziehen, die erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung einer Entscheidung der Kommission zu ergreifen, die die Rückforderung der Beihilfe anordnet. Andernfalls wären die Art. 107 und 108 AEUV insoweit wirkungslos, als die nationalen Behörden sich auf ihr eigenes rechtswidriges Verhalten stützen könnten, um Entscheidungen der Kommission nach diesen Vertragsbestimmungen ihrer Wirkung zu berauben (vgl. Urteil vom 9. Juni 2011, Diputación Foral de Vizcaya u. a./Kommission, C‑465/09 P bis C‑470/09 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:372, Rn. 150 und die dort angeführte Rechtsprechung).
197 Außerdem kann der Empfänger einer Beihilfe, die ohne vorherige Anmeldung bei der Kommission gewährt wurde, so dass sie gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV rechtswidrig ist, zu diesem Zeitpunkt kein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit ihrer Gewährung haben, wobei diese Feststellung entgegen dem Vorbringen der Portugiesischen Republik insbesondere für die aufgrund einer Beihilferegelung gezahlten Beihilfen gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Dezember 2005, Unicredito Italiano, C‑148/04, EU:C:2005:774, Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung).
198 Im vorliegenden Fall hat die Portugiesische Republik nicht dargetan, dass die Kommission in Bezug auf die unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 gezahlten Beihilfen, die daher unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV gezahlt wurden, ihr oder den Empfängern dieser Beihilfen klare, unbedingte und übereinstimmende Zusicherungen erteilt, die auch den geltenden Vorschriften entsprechen, die geeignet sind, bei ihnen begründete Erwartungen zu wecken, wie dies die Rechtsprechung verlangt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
199 Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Portugiesische Republik habe glauben können, dass die Regelung III in der durchgeführten Form nicht als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV einzustufen sei oder, hilfsweise, als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b der Verordnung 2015/1589 einzustufen sei.
200 Eine solche Überzeugung kann nämlich, selbst wenn sie erwiesen wäre, klaren, unbedingten und übereinstimmenden Zusicherungen der Kommission nicht gleichkommen.
201 Außerdem war die Nichteinstufung dieser Regelung als „staatliche Beihilfe“ angesichts der früheren Entscheidungen der Kommission über die ZFM-Regelungen sehr unwahrscheinlich. Gleiches galt für die Einstufung als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. i oder ii der Verordnung 2015/1589 unter Berücksichtigung der wesentlichen Unterschiede zwischen der Regelung I und der Regelung III sowie der von der Kommission vorgenommenen Auslegung der Voraussetzung der Herkunft der Gewinne, für die die ermäßigte Körperschaftsteuer galt, die sich eindeutig aus dem Austausch zwischen ihr und den portugiesischen Behörden während des Verfahrens ergab, das zu den Entscheidungen von 2002 und 2007 führte, wie dies bereits oben in den Rn. 132 und 133 festgestellt worden ist.
202 Ebenso wenig kann es mit klaren, unbedingten und übereinstimmenden Zusicherungen der Kommission gleichgesetzt werden, dass zum einen die Portugiesische Republik und die sehr zahlreichen Beteiligten, die am förmlichen Prüfverfahren teilnahmen, bei diesem Verfahren nicht dieselbe Auslegung geltend machten wie die letztlich von der Kommission im angefochtenen Beschluss vertretene, oder zum anderen, dass die Kommission den Vorschlägen der portugiesischen Behörden zur Änderung der Regelung III im Hinblick auf die Einstellung des förmlichen Prüfverfahrens nicht folgte.
203 Daher kann kein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes festgestellt werden, selbst wenn die Portugiesische Republik sich auf diesen Grundsatz berufen könnte.
204 Zum Grundsatz der Rechtssicherheit ist festzustellen, dass im Bereich der staatlichen Beihilfen dem Vorbringen, mit dem der Rückforderungspflicht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit entgegengetreten werden soll, nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen gefolgt werden kann.
205 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass eine Reihe von Gesichtspunkten zu prüfen ist, um festzustellen, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit vorliegt, insbesondere die fehlende Klarheit der geltenden rechtlichen Regelung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2010, Nuova Agricast und Cofra/Kommission, C‑67/09 P, EU:C:2010:607, Rn. 77) oder die Untätigkeit der Kommission über einen längeren Zeitraum ohne Rechtfertigung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. November 1987, RSV/Kommission, 223/85, EU:C:1987:502, Rn. 14 und 15, und vom 22. April 2008, Kommission/Salzgitter, C‑408/04 P, EU:C:2008:236, Rn. 106 und 107).
206 Betreffend den letztgenannten Gesichtspunkt muss die Kommission im Rahmen eines Verfahrens zur Prüfung staatlicher Beihilfen binnen angemessener Frist tätig werden und darf einen Zustand der Untätigkeit in der Vorprüfungsphase nicht fortbestehen lassen. Ferner ist die Angemessenheit der Frist für die Durchführung des Verfahrens anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache, etwa der Komplexität des Rechtsstreits und des Verhaltens der Parteien, zu beurteilen (Urteil vom 13. Juni 2013, HGA u. a./Kommission, C‑630/11 P bis C‑633/11 P, EU:C:2013:387, Rn. 81 und 82).
207 Im vorliegenden Fall kann jedoch die Zeit, die zwischen den Beschlüssen von 2007 und 2013 zum einen und der am 12. März 2015 erfolgten Einleitung der Überwachung der Regelung III bzw. dem Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens am 6. Juli 2018 zum anderen verstrichen ist, nicht als unangemessen angesehen werden.
208 Zunächst war die Kommission nämlich gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung 2015/1589 nicht an spezifische Fristen gebunden, wie sie in Kapitel II dieser Verordnung über das Verfahren bei angemeldeten Beihilfen vorgesehen sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 20. Januar 2021, KC/Kommission, T‑580/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:14, Rn. 26).
209 Was sodann Überwachungstätigkeiten in Bezug auf genehmigte Beihilfen oder Beihilferegelungen betrifft, wie im vorliegenden Fall, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kommission besondere Sorgfalt walten lassen musste, da der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.
210 Im Bereich der staatlichen Beihilfen bedeutet dies insbesondere, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen müssen, dass Beihilfen oder Beihilferegelungen unter Verstoß gegen Entscheidungen über eine vorherige Genehmigung nicht durchgeführt werden, insbesondere wenn, wie oben in den Rn. 132 und 133 festgestellt, das Verständnis der Voraussetzungen für die Durchführung dieser Beihilfen oder Beihilferegelungen zunächst von der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat geteilt wird.
211 Schließlich lässt sich angesichts der Beschreibung des dem Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens vorausgehenden Verfahrens in den Erwägungsgründen 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses im vorliegenden Fall keine Untätigkeit der Kommission über einen längeren Zeitraum ohne Rechtfertigung feststellen.
212 Die Dauer des förmlichen Prüfverfahrens von 29 Monaten kann auch nicht als unangemessen angesehen werden, da die Kommission, wie sich aus den Erwägungsgründen 3 bis 9 und 96 des angefochtenen Beschlusses ergibt, den Antrag der portugiesischen Behörden betreffend die Vertraulichkeit des Beschlusses über die Einleitung dieses Verfahrens behandeln, diese Behörden mehrmals um die Übermittlung von fehlenden Informationen bitten sowie die Stellungnahmen der sehr großen Zahl von am Verfahren Beteiligten behandeln musste.
213 In diesem Sinne unterscheidet sich das Verfahren, das zu dem angefochtenen Beschluss geführt hat, deutlich von demjenigen, um das es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 24. November 1987, RSV/Kommission (223/85, EU:C:1987:502), ergangen ist, auf das sich die Portugiesische Republik daher nicht mit Erfolg berufen kann.
214 Daher kann kein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit festgestellt werden.
215 Durch die Feststellungen in Rn. 212 kann auch ein Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung ausgeschlossen werden.
216 Soweit die Portugiesische Republik geltend macht, dass die ihr durch den angefochtenen Beschluss auferlegte Verpflichtung zur Rückforderung der betreffenden Beihilfen gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstoße, genügt der Hinweis, dass dieses Vorbringen nach Art. 76 Buchst. d der Verfahrensordnung unzulässig ist, da es durch kein anderes Vorbringen gestützt wird.
217 Nach alledem ist der achte Klagegrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
G. Zum neunten Klagegrund: Unmöglichkeit für die Portugiesische Republik, die mit dem angefochtenen Beschluss für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfen zurückzufordern
218 Mit ihrem neunten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, es sei ihr unmöglich, dem Beschluss, mit dem die Rückforderung der betreffenden Beihilfen angeordnet werde, nachzukommen, und begründet dies im Wesentlichen damit, dass der angefochtene Beschluss es ihr nicht ermögliche, die zurückzufordernden Beträge „ohne übermäßige Schwierigkeiten“ zu bestimmen.
219 Die portugiesischen Behörden seien in Bezug auf das letzte Jahrzehnt nicht in der Lage, festzustellen, ob die Gesellschaften, denen die Regelung III zugutegekommen sei, tatsächlich die beiden in den Beschlüssen von 2007 und 2013 genannten streitigen Voraussetzungen erfüllt hätten. Diese Schwierigkeit werde durch die Notwendigkeit verstärkt zu prüfen, ob diese Gesellschaften die Voraussetzungen erfüllten, um unter eine De-minimis-Verordnung (Art. 2 des angefochtenen Beschlusses) oder eine Gruppenfreistellungsverordnung (Art. 3 des angefochtenen Beschlusses) zu fallen. In diesem Zusammenhang hätte die Kommission die Auswirkungen der Steuer auf den Betrag der zurückzufordernden Beihilfen berechnen oder zumindest den Bruttobetrag der verlangten Rückforderung angeben müssen. Schließlich führt die Portugiesische Republik aus, dass viele Rückforderungsentscheidungen zu Insolvenzen führten.
220 Nach Ansicht der Kommission ist der neunte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
221 Zur Unmöglichkeit für die Portugiesische Republik, dem angefochtenen Beschluss nachzukommen, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission keine Rückforderungsanordnung erlassen darf, deren Erfüllung schon bei Erlass objektiv und absolut unmöglich wäre; eine solche Anordnung wäre ungültig (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).
222 Daraus folgt, dass sich der betreffende Mitgliedstaat im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen einen Beschluss der Kommission, mit dem die Rückforderung einer rechtswidrigen und mit dem Binnenmarkt unvereinbaren staatlichen Beihilfe angeordnet wird, auf den Grundsatz berufen kann, dass niemand zu etwas Unmöglichem verpflichtet ist, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
223 Allerdings ist in diesem Rahmen die Voraussetzung einer absoluten Unmöglichkeit der Durchführung nicht erfüllt, wenn sich der beklagte Mitgliedstaat darauf beschränkt, Schwierigkeiten rechtlicher, politischer oder praktischer Art, die dem eigenen Vorgehen oder den Unterlassungen der nationalen Behörden zuzuschreiben sind, geltend zu machen, denen er bei der Durchführung des betreffenden Beschlusses gegenüberstehen könnte, ohne der Kommission andere Modalitäten der Durchführung des Beschlusses vorzuschlagen, die es ermöglichen würden, diese Schwierigkeiten, insbesondere durch eine teilweise Rückforderung dieser Beihilfen, zu überwinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 91 und 92 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
224 Zudem können angebliche interne Probleme, die bei der Durchführung des Beschlusses der Kommission auftreten könnten, es nicht rechtfertigen, dass ein Mitgliedstaat seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt. Insbesondere kann aufgrund verwaltungstechnischer und praktischer Schwierigkeiten, die die große Zahl von Begünstigten der Beihilfen mit sich bringt, die Rückforderung nicht als technisch unmöglich angesehen werden (Urteil vom 12. Mai 2021, Kommission/Griechenland [Beihilfen für landwirtschaftliche Erzeuger], C‑11/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:380, Rn. 44).
225 Im vorliegenden Fall beschränkt sich die Portugiesische Republik jedoch darauf, sich auf die Komplexität des Verfahrens zur Rückforderung der betreffenden Beihilfen und auf politische, rechtliche und praktische Schwierigkeiten zu berufen, ohne rechtlich hinreichend nachzuweisen, dass die Rückforderung der Beihilfen schon bei Erlass des angefochtenen Beschlusses objektiv und absolut unmöglich war.
226 Insbesondere weist die Portugiesische Republik weder nach, dass die von ihr geltend gemachten Schwierigkeiten tatsächlich vorliegen, noch, dass andere Wege der Rückforderung fehlen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 96).
227 Außerdem trägt die Portugiesische Republik nichts vor, was belegen könnte, dass die portugiesischen Behörden versucht hätten, redlich mit der Kommission zusammenzuwirken, um diese vorhersehbaren Schwierigkeiten unter voller Beachtung der Bestimmungen des AEU‑Vertrags zu überwinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Kommission/Spanien [DVB-T in Kastilien-La Mancha], C‑704/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:342, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
228 Insoweit kann sich die Portugiesische Republik nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Kommission es ihr nicht ermöglicht habe, die zurückzufordernden Beträge „ohne übermäßige Schwierigkeiten“ zu bestimmen, beispielsweise durch die Berechnung der Auswirkungen der Steuer auf den Betrag der zurückzufordernden Beihilfen oder zumindest durch die Angabe des Bruttobetrags der verlangten Rückforderung.
229 Keine Bestimmung des Unionsrechts verlangt nämlich von der Kommission, bei der Anordnung der Rückzahlung einer für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfe den genauen Betrag der zu erstattenden Beihilfe festzusetzen (vgl. Urteile vom 18. Oktober 2007, Kommission/Frankreich, C‑441/06, EU:C:2007:616, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. März 2013, Rousse Industry/Kommission, T‑489/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:144, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem gehört die Pflicht eines Mitgliedstaats, den genauen Betrag der zurückzufordernden Beihilfen zu berechnen, zu der allgemeineren Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, die die Kommission und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Bestimmungen des Vertrags über staatliche Beihilfen aneinander bindet (vgl. Urteil vom 20. März 2013, Rousse Industry/Kommission, T‑489/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:144, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
230 Es genügt, dass die Entscheidung der Kommission Angaben enthält, die es ihrem Adressaten ermöglichen, diesen Betrag ohne übermäßige Schwierigkeiten selbst zu bestimmen (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2007, Kommission/Frankreich, C‑441/06, EU:C:2007:616, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
231 Im vorliegenden Fall ist jedoch entgegen dem Vorbringen der Portugiesischen Republik festzustellen, dass die Kommission im 213. Erwägungsgrund und in den Art. 1 bis 4 des angefochtenen Beschlusses die erforderlichen, aber auch ausreichenden Angaben gemacht hat, die es den portugiesischen Behörden ermöglichen, ohne übermäßige Schwierigkeiten die zurückzuzahlenden Beträge zu bestimmen.
232 Im Übrigen kann die Portugiesische Republik der Kommission auch nicht vorwerfen, sie habe sie im Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens nicht aufgefordert, berechtigte Erwartungen geltend zu machen, die die Rückforderung der betreffenden Beihilfen hätten verhindern können. Denn auch ohne eine solche Aufforderung wären die portugiesischen Behörden gemäß der Pflicht zur redlichen Zusammenarbeit verpflichtet, diese Schwierigkeiten von sich aus der Kommission zur Kenntnis zu bringen, und sie beweisen nicht, dies getan zu haben.
233 Folglich ist der neunte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
H. Zum zehnten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die Kommission einen restriktiven Ansatz in Bezug auf die Voraussetzungen der „Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Region“ und einer „tatsächlich und materiell in der [ARM] ausgeübten Tätigkeit“ gewählt habe
234 Mit ihrem zehnten Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, die Kommission habe gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem sie in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen dieses Ansatzes auf die ARM und das Fehlen einer entsprechenden vorherigen Entscheidungspraxis einen restriktiven und rückwirkenden Ansatz für die Begriffe „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübte Tätigkeit“ und „Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen“ gewählt habe. Dieser Verstoß gehe mit einem Verstoß gegen ihre Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV und den Grundsatz der guten Verwaltung einher.
235 Nach Ansicht der Kommission ist der zehnte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
236 Der behauptete Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wegen der angeblich restriktiven Auslegung der beiden Voraussetzungen der „tatsächlich und materiell auf Madeira ausgeübten Tätigkeit“ und „Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen“ durch die Kommission stimmt im Wesentlichen mit dem Vorbringen im vierten bis sechsten Klagegrund überein, das bereits oben in Rn. 179 zurückgewiesen worden ist, und ist daher aus denselben Gründen zurückzuweisen.
237 Für den Fall, dass die Portugiesische Republik mit diesem Klagegrund beanstandet, dass der angefochtene Beschluss dadurch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe, dass er die Rückforderung der nach der Regelung III in der durchgeführten Form gewährten Beihilfen angeordnet habe, genügt der Hinweis, dass die Beseitigung einer rechtswidrigen und mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe durch Rückforderung die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit ist, so dass die Rückforderung dieser Beihilfe zwecks Wiederherstellung der früheren Lage grundsätzlich nicht als eine Maßnahme betrachtet werden kann, die außer Verhältnis zu den Zielen der Bestimmungen des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen steht (vgl. Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/Aer Lingus und Ryanair Designated Activity, C‑164/15 P und C‑165/15 P, EU:C:2016:990, Rn. 116 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
238 Kein Gesichtspunkt, auf den sich die Portugiesische Republik beruft, erlaubt jedoch die Feststellung, dass im vorliegenden Fall von diesem Grundsatz der Rückforderung der für unvereinbar erklärten rechtswidrigen Beihilfen abgewichen werden muss.
239 Vielmehr erstreckt sich die Rückforderungspflicht, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, nicht auf sämtliche nach der Regelung III ausgezahlten Einzelbeihilfen, sondern nur auf diejenigen, die unter Verstoß gegen die Beschlüsse von 2007 und 2013 gewährt wurden, und zwar unter dem Vorbehalt, dass deren Empfänger nicht die in einer De-minimis-Verordnung oder einer Gruppenfreistellungsverordnung festgelegten Voraussetzungen erfüllen, wie sich aus den Art. 1 bis 3 des angefochtenen Beschlusses ergibt.
240 Außerdem kann nach ständiger Rechtsprechung der Umstand, dass die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer Beihilfen zur Insolvenz der Gesellschaften führen kann, die diese rechtswidrig erhalten haben, den obligatorischen Charakter dieser Rückforderung nicht berühren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2015, Kommission/Frankreich, C‑37/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:90, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).
241 Soweit die Portugiesische Republik mit demselben Vorbringen einen Verstoß der Kommission gegen ihre Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV und den Grundsatz der guten Verwaltung geltend macht, ist dieses Vorbringen aus denselben Gründen zurückzuweisen.
242 Folglich ist der zehnte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
I. Zum elften Klagegrund: Verstoß gegen Art. 17 der Verordnung 2015/1589 wegen Verjährung bestimmter nach der Regelung III gezahlter Beihilfen
243 Mit ihrem elften Klagegrund macht die Portugiesische Republik geltend, dass in Anbetracht des Zeitpunkts des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, der ihr am 9. Juli 2018 mitgeteilt worden sei, die bis zum 9. Juli 2008 gezahlten Beihilfen nach Art. 17 der Verordnung 2015/1589 verjährt seien.
244 Nach Ansicht der Kommission ist der elfte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
245 Zur Verjährung bestimmter Beihilfen nach der Regelung III ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 17 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2015/1589 im Rahmen einer Beihilferegelung die Verjährungsfrist von zehn Jahren an dem Tag zu laufen beginnt, an dem die rechtswidrige Beihilfe ihrem Empfänger tatsächlich gewährt wird, und nicht am Tag des Erlasses der Beihilferegelung (vgl. Beschluss vom 7. Dezember 2017, Irland/Kommission, C‑369/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:955, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
246 Nach dieser Bestimmung stellt jede Maßnahme, die die Kommission bezüglich der rechtswidrigen Beihilfe ergreift, eine Unterbrechung dieser Frist dar. Dies ist insbesondere der Fall bei Schreiben der Kommission an die Mitgliedstaaten, mit denen sie ihnen mitteilt, dass eine Maßnahme möglicherweise als staatliche Beihilfe einzustufen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2018, ANGED, C‑233/16, EU:C:2018:280, Rn. 83 und 84) oder ihr Ersuchen um Anmeldung einer Maßnahme (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 7. Dezember 2017, Irland/Kommission, C‑369/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:955, Rn. 42) oder ihr Ersuchen um Auskünfte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. April 2003, Département du Loiret/Kommission, T‑369/00, EU:T:2003:114, Rn. 81 und 82).
247 Im vorliegenden Fall geht aus den Erwägungsgründen 1 und 3 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission am 12. März 2015 ein Auskunftsersuchen an die Portugiesische Republik richtete, um festzustellen, ob die Regelung III in der durchgeführten Form die Beschlüsse von 2007 und 2013 beachtete, bevor sie sie am 6. Juli 2018 über ihren Beschluss informierte, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten.
248 In Anbetracht dessen, dass es sich bei den Einzelbeihilfen, deren Rückforderung die Kommission durch die Portugiesische Republik angeordnet hat, um die nach der Regelung III ausgezahlten Beihilfen handelt, die ursprünglich am 28. Juni 2006 angemeldet und am 27. Juni 2007 genehmigt wurden, bevor sie von diesem Mitgliedstaat durchgeführt wurden, konnte die in Art. 17 Abs. 2 der Verordnung 2015/1589 vorgesehene Verjährungsfrist von zehn Jahren nicht vor diesen Zeitpunkten laufen und wurde am 12. März 2015, d. h. weniger als zehn Jahre nach diesen Zeitpunkten, unterbrochen.
249 Folglich macht die Portugiesische Republik zu Unrecht geltend, dass die bis zum 9. Juli 2008 ausgezahlten fraglichen Beihilfen verjährt seien.
250 Jedenfalls kann die bloße Tatsache, dass bestimmte aufgrund einer Beihilferegelung gezahlte Einzelbeihilfen, deren Rechtswidrigkeit und Unvereinbarkeit mit einem Beschluss der Kommission festgestellt wird, verjährt sind, nicht zur Nichtigerklärung dieses Beschlusses führen. Bei Beihilferegelungen ist es nämlich Sache der nationalen Behörden, denen die Pflicht obliegt, diese Beihilfen sofort und tatsächlich zurückzufordern, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Begünstigten einer Beihilferegelung festzustellen, ob jeder Begünstigte die Beihilfe tatsächlich zurückzahlen muss (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Februar 2014, Mediaset, C‑69/13, EU:C:2014:71, Rn. 22).
251 Daher ist der elfte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
252 Folglich ist die vorliegende Klage insgesamt abzuweisen, ohne dass den Anträgen der Portugiesischen Republik auf Erlass prozessleitender Maßnahmen über den bereits bewilligten Umfang hinaus stattzugeben ist.
IV. Kosten
253 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
254 Da die Portugiesische Republik unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten einschließlich der durch das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Portugiesische Republik trägt die Kosten, einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes.
Svenningsen
Mac Eochaidh
Pynnä
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. September 2022.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Portugiesisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 14. Juli 2021.#Maikel José Moreno Pérez gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela – Einfrieren von Geldern – Listen der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen – Belassung des Namens des Klägers auf den Listen – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Grundsatz der guten Verwaltung – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-246/18.
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62018TJ0246
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ECLI:EU:T:2021:448
| 2021-07-14T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62018TJ0246 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 14. Juli 2021.#Tarek William Saab Halabi gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela – Einfrieren von Geldern – Listen der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen – Belassung des Namens des Klägers auf den Listen – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Grundsatz der guten Verwaltung – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-249/18.
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62018TJ0249
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ECLI:EU:T:2021:451
| 2021-07-14T00:00:00 |
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EUR-Lex - CELEX:62018TJ0249 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 14. Juli 2021.#Tibisay Lucena Ramírez gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela – Einfrieren von Geldern – Listen der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen – Belassung des Namens des Klägers auf den Listen – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Grundsatz der guten Verwaltung – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-247/18.
|
62018TJ0247
|
ECLI:EU:T:2021:449
| 2021-07-14T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62018TJ0247 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 3. Februar 2021.#Oleksandr Viktorovych Klymenko gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Beibehaltung des Namens des Klägers auf der Liste – Verpflichtung des Rates, zu prüfen, ob der Beschluss einer Behörde eines Drittstaats unter Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gefasst wurde.#Rechtssache T-258/20.
|
62020TJ0258
|
ECLI:EU:T:2021:52
| 2021-02-03T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62020TJ0258
URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)
3. Februar 2021 (*1)
„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Beibehaltung des Namens des Klägers auf der Liste – Verpflichtung des Rates, zu prüfen, ob die Entscheidung einer Behörde eines Drittstaats unter Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gefasst wurde“
In der Rechtssache T‑258/20,
Oleksandr Viktorovych Klymenko, wohnhaft in Moskau (Russland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin M. Phelippeau,
Kläger,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch A. Vitro und P. Mahnič als Bevollmächtigte,
Beklagter,
betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses (GASP) 2020/373 des Rates vom 5. März 2020 zur Änderung des Beschlusses 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2020, L 71, S. 10) und der Durchführungsverordnung (EU) 2020/370 des Rates vom 5. März 2020 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2020, L 71, S. 1), soweit der Name des Klägers mit diesen Rechtsakten auf der Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, auf die diese restriktiven Maßnahmen Anwendung finden, belassen wurde,
erlässt
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten D. Spielmann, der Richterin O. Spineanu-Matei und des Richters R. Mastroianni (Berichterstatter),
Kanzler: E. Coulon,
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die vorliegende Rechtssache fügt sich in den Rahmen der Streitsachen über die restriktiven Maßnahmen ein, die gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine nach der Unterdrückung der Demonstrationen auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew (Ukraine) im Februar 2014 ergriffen wurden.
2 Der Kläger, Herr Oleksandr Viktorovych Klymenko, hatte das Amt des Ministers für Steuern und Zölle der Ukraine inne.
3 Am 5. März 2014 erließ der Rat der Europäischen Union den Beschluss 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 26). Am selben Tag erließ er die Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 1).
4 In den Erwägungsgründen 1 und 2 des Beschlusses 2014/119 wird ausgeführt:
„(1)
Der Rat hat am 20. Februar 2014 jede Gewaltanwendung in der Ukraine auf das Schärfste verurteilt. Er forderte die sofortige Beendigung der Gewalt in der Ukraine und die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten. Er rief die Regierung der Ukraine zu größter Zurückhaltung auf und appellierte an die Oppositionsführer, sich von denjenigen zu distanzieren, die zu radikalen Handlungen, einschließlich Gewaltanwendung, übergehen.
(2) Der Rat hat am 3. März 2014 beschlossen, im Hinblick auf die Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte in der Ukraine restriktive Maßnahmen für das Einfrieren und die Einziehung von Vermögenswerten auf Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie auf für Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Personen zu konzentrieren.“
5 Art. 1 Abs. 1 und 2 des Beschlusses 2014/119 bestimmt:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
(2) Den im Anhang aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.“
6 Die Modalitäten dieses Einfrierens von Geldern werden in Art. 1 Abs. 3 bis 6 des Beschlusses 2014/119 festgelegt.
7 Dem Beschluss 2014/119 entsprechend schreibt die Verordnung Nr. 208/2014 den Erlass der betreffenden restriktiven Maßnahmen vor und legt deren Modalitäten mit im Wesentlichen demselben Wortlaut wie der Beschluss fest.
8 Die Namen der von dem Beschluss 2014/119 und der Verordnung Nr. 208/2014 betroffenen Personen sind in der Liste im Anhang dieses Beschlusses und in Anhang I dieser Verordnung (im Folgenden: Liste), u. a. mit der Begründung für ihre Aufnahme, verzeichnet. Der Name des Klägers war ursprünglich nicht in der Liste enthalten.
9 Der Beschluss 2014/119 und die Verordnung Nr. 208/2014 wurden mit dem Durchführungsbeschluss 2014/216/GASP des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2014, L 111, S. 91) und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 381/2014 des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2014, L 111, S. 33) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom April 2014) geändert.
10 Mit den Rechtsakten vom April 2014 wurde der Name des Klägers mit den Identifizierungsinformationen „ehemaliger Minister für Steuern und Zölle“ und mit folgender Begründung in die Liste aufgenommen:
„Person ist in der Ukraine Gegenstand von Ermittlungen wegen der Beteiligung an Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland.“
11 Mit am 30. Juni 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift erhob der Kläger eine unter der Rechtssachennummer T‑494/14 in das Register eingetragene Klage u. a. auf Nichtigerklärung der Rechtsakte vom April 2014, soweit sie ihn betrafen.
12 Am 29. Januar 2015 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2015/143 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2015, L 24, S. 16) und die Verordnung (EU) 2015/138 zur Änderung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2015, L 24, S. 1).
13 Mit dem Beschluss 2015/143 wurden ab dem 31. Januar 2015 die Kriterien für die Aufnahme der vom Einfrieren von Geldern betroffenen Personen in die Liste präzisiert. Insbesondere wurde Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/119 durch folgenden Text ersetzt:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
Für die Zwecke dieses Beschlusses zählen zu Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich erklärt wurden, Personen, die Gegenstand von Untersuchungen der ukrainischen Behörden sind
a)
wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine oder wegen Beihilfe hierzu oder
b)
wegen Amtsmissbrauchs als Inhaber eines öffentlichen Amtes, um sich selbst oder einer dritten Partei einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen und wodurch ein Verlust staatlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine verursacht wird, oder wegen Beihilfe hierzu.“
14 Mit der Verordnung 2015/138 wurde die Verordnung Nr. 208/2014 entsprechend dem Beschluss 2015/143 geändert.
15 Am 5. März 2015 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2015/364 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2015, L 62, S. 25) und die Durchführungsverordnung (EU) 2015/357 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2015, L 62, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom März 2015). Mit dem Beschluss 2015/364 wurde zum einen Art. 5 des Beschlusses 2014/119 ersetzt, wobei die Anwendung der restriktiven Maßnahmen, was den Kläger betraf, bis zum 6. März 2016 verlängert wurde, und zum anderen der Anhang des Beschlusses 2014/119 geändert. Mit der Durchführungsverordnung 2015/357 wurde dementsprechend Anhang I der Verordnung Nr. 208/2014 geändert.
16 Mit den Rechtsakten vom März 2015 wurde der Name des Klägers mit den Identifizierungsinformationen „ehemaliger Minister für Steuern und Zölle“ und mit folgender neuer Begründung auf der Liste belassen:
„Person ist Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung seitens der ukrainischen Behörden wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte und wegen Amtsmissbrauchs durch den Inhaber eines öffentlichen Amtes, um sich selbst oder einer dritten Partei einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen und wodurch ein Verlust staatlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine verursacht wird.“
17 Mit am 15. Mai 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift erhob der Kläger eine unter der Rechtssachennummer T‑245/15 in das Register eingetragene Klage u. a. auf Nichtigerklärung der Rechtsakte vom März 2015, soweit sie ihn betrafen.
18 Am 4. März 2016 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2016/318 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2016, L 60, S. 76) und die Durchführungsverordnung (EU) 2016/311 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2016, L 60, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom März 2016).
19 Durch die Rechtsakte vom März 2016 wurde die Anwendung der restriktiven Maßnahmen u. a. in Bezug auf den Kläger bis zum 6. März 2017 verlängert, ohne dass die Begründung für seine Nennung gegenüber jener in den Rechtsakten vom März 2015 geändert worden wäre.
20 Mit Schriftsatz, der am 28. April 2016 bei der Kanzlei des Gerichts einging, passte der Kläger die Klageschrift in der Rechtssache T‑245/15 gemäß Art. 86 der Verfahrensordnung des Gerichts an, um damit auch die Nichtigerklärung der Rechtsakte vom März 2016, soweit sie ihn betrafen, zu beantragen.
21 Mit Beschluss vom 10. Juni 2016, Klymenko/Rat (T‑494/14, EU:T:2016:360), gab das Gericht gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung der oben in Rn. 11 erwähnten Klage statt, indem es diese für offensichtlich begründet und demgemäß die Rechtsakte vom April 2014, soweit sie den Kläger betrafen, für nichtig erklärte.
22 Am 3. März 2017 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2017/381 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2017, L 58, S. 34) und die Durchführungsverordnung (EU) 2017/374 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2017, L 58, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom März 2017).
23 Durch die Rechtsakte vom März 2017 wurde die Anwendung der restriktiven Maßnahmen bis zum 6. März 2018 verlängert, ohne dass die Begründung für die Nennung des Klägers gegenüber jener der Rechtsakte vom März 2015 geändert worden wäre.
24 Mit Schriftsatz, der am 27. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts einging, passte der Kläger die Klageschrift in der Rechtssache T‑245/15 erneut an, um damit auch die Nichtigerklärung der Rechtsakte vom März 2017, soweit sie ihn betrafen, zu beantragen.
25 Mit Urteil vom 8. November 2017, Klymenko/Rat (T‑245/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:792), wies das Gericht sämtliche oben in den Rn. 17, 20 und 24 genannten Anträge des Klägers zurück.
26 Am 5. Januar 2018 legte der Kläger beim Gerichtshof ein unter der Rechtssachennummer C‑11/18 P in das Register eingetragenes Rechtsmittel gegen das Urteil vom 8. November 2017, Klymenko/Rat (T‑245/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:792), ein.
27 Am 5. März 2018 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2018/333 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2018, L 63, S. 48) und die Durchführungsverordnung (EU) 2018/326 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2018, L 63, S. 5) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom März 2018).
28 Durch die Rechtsakte vom März 2018 wurde die Anwendung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen bis zum 6. März 2019 verlängert, ohne dass die Begründung für die Nennung des Klägers gegenüber jener in den Rechtsakten vom März 2015 geändert worden wäre.
29 Mit am 30. April 2018 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift erhob der Kläger eine unter der Rechtssachennummer T‑274/18 in das Register eingetragene Klage auf Nichtigerklärung der Rechtsakte vom März 2018, soweit sie ihn betrafen.
30 Am 4. März 2019 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2019/354 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2019, L 64, S. 7) und die Durchführungsverordnung (EU) 2019/352 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2019, L 64, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom März 2019).
31 Durch die Rechtsakte vom März 2019 wurde die Anwendung der restriktiven Maßnahmen bis zum 6. März 2020 verlängert, und der Name des Klägers wurde auf der Liste belassen, und zwar mit derselben Begründung, wie oben in Rn. 16 angeführt, ergänzt um eine Präzisierung betreffend die Wahrung seiner Verteidigungsrechte und die Achtung seines Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz im Verlauf des Strafverfahrens, auf das der Rat sich gestützt hatte.
32 Mit am 3. Mai 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift erhob der Kläger eine unter der Rechtssachennummer T‑295/19 in das Register eingetragene Klage auf Nichtigerklärung der Rechtsakte vom März 2019, soweit sie ihn betrafen.
33 Mit Urteil vom 11. Juli 2019, Klymenko/Rat (T‑274/18, EU:T:2019:509), erklärte das Gericht die Rechtsakte vom März 2018 für nichtig, soweit sie den Kläger betrafen.
34 Mit Urteil vom 26. September 2019, Klymenko/Rat (C‑11/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:786), hob der Gerichtshof zum einen das Urteil vom 8. November 2017, Klymenko/Rat (T‑245/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:792), (vgl. oben, Rn. 25) auf und erklärte zum anderen die Rechtsakte vom März 2015, vom März 2016 und vom März 2017 für nichtig, soweit sie den Kläger betrafen.
35 In der Zeit von November 2019 bis Januar 2020 gab es einen Schriftwechsel zwischen dem Rat und dem Kläger über die mögliche Verlängerung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen gegen Letzteren. Insbesondere übermittelte der Rat dem Kläger mehrere Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine (im Folgenden: Generalstaatsanwaltschaft), die die Strafverfahren gegen den Kläger betrafen, auf deren Grundlage er die Verlängerung in Betracht zog.
36 Am 5. März 2020 erließ der Rat den Beschluss (GASP) 2020/373 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2020, L 71, S. 10) und die Durchführungsverordnung (EU) 2020/370 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2020, L 71, S. 1) (im Folgenden zusammen: angefochtene Rechtsakte).
37 Mit den angefochtenen Rechtsakten wurde die Geltung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen bis zum 6. März 2021 verlängert und der Name des Klägers auf der Liste belassen, und zwar mit derselben Begründung, wie oben in Rn. 16 angeführt, ergänzt um folgende Präzisierung:
„Das Strafverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte ist noch nicht abgeschlossen.
Aus den Informationen in der Akte des Rates geht hervor, dass die Verteidigungsrechte und das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz von Herrn Klymenko in den Strafverfahren, auf die sich der Rat gestützt hat, gewahrt worden sind. Belege herfür sind insbesondere die Entscheidungen des Untersuchungsrichters vom 1. März 2017 und 5. Oktober 2018, mit denen eine Sonderermittlung in Abwesenheit genehmigt wurde, die Entscheidungen des Untersuchungsrichters vom 8. Februar 2017 und 19. August 2019, mit denen eine Maßregel der Besserung und Sicherung in Form der Ingewahrsamnahme verhängt wurde, und die Tatsache, dass die Verteidigung sich derzeit in die Materialien des Strafverfahrens einarbeitet.“
38 Mit Schreiben vom 6. März 2020 teilte der Rat dem Kläger mit, dass die restriktiven Maßnahmen ihm gegenüber aufrechterhalten würden. Er antwortete auf die in einem Schreiben vom 23. Januar 2020 enthaltene Stellungnahme des Klägers und übermittelte diesem die angefochtenen Rechtsakte. Außerdem wies er den Kläger auf die Frist zur Abgabe einer Stellungnahme hin, bevor die Entscheidung über die eventuelle Belassung seines Namens auf der Liste getroffen werde.
Ereignisse nach Klageerhebung
39 Mit Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat (T‑295/19, EU:T:2020:287), hat das Gericht die Rechtsakte vom März 2019 für nichtig erklärt, soweit sie den Kläger betrafen.
Verfahren und Anträge der Parteien
40 Mit Klageschrift, die am 4. Mai 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.
41 Am 17. Juli 2020 hat der Rat seine Klagebeantwortung eingereicht.
42 Mit Schreiben vom 29. Juli 2020 ist der Kläger nach Art. 83 Abs. 3 der Verfahrensordnung ersucht worden, eine Erwiderung auf das Vorbringen des Rates zum zweiten Klagegrund, in dem insbesondere ein Beurteilungsfehler gerügt wird, unter Berücksichtigung der Beurteilung des Gerichts im Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat (T‑295/19, EU:T:2020:287), vorzulegen.
43 Die Erwiderung ist am 3. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht worden.
44 Die Gegenerwiderung ist am 9. Oktober 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht worden. Am selben Tag wurde das schriftliche Verfahren abgeschlossen.
45 Nach Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht, wenn keine der Parteien innerhalb der Frist von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens einen Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung gestellt hat, beschließen, über die Klage ohne mündliches Verfahren zu entscheiden. Da sich das Gericht im vorliegenden Fall für durch die Aktenstücke hinreichend unterrichtet hält und kein entsprechender Antrag gestellt worden ist, hat es beschlossen, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden.
46 Der Kläger beantragt,
–
die angefochtenen Rechtsakte für nichtig zu erklären, soweit sie ihn betreffen;
–
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
47 Der Rat beantragt,
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die Klage abzuweisen;
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hilfsweise, sofern die angefochtenen Rechtsakte, soweit sie den Kläger betreffen, für nichtig erklärt werden sollten, anzuordnen, dass die Wirkungen des Beschlusses 2020/373 bis zum Wirksamwerden der teilweisen Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2020/370 fortbestehen;
–
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
48 Zur Stützung der Klage macht der Kläger fünf Klagegründe geltend, mit denen er erstens eine Verletzung der Begründungspflicht, zweitens einen offensichtlichen Beurteilungsfehler und Ermessensmissbrauch, drittens im Wesentlichen eine Verletzung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, viertens das Fehlen einer Rechtsgrundlage und fünftens eine Verletzung des Eigentumsrechts rügt.
49 Zunächst sind der zweite und der dritte Klagegrund zusammen zu prüfen, soweit dem Rat damit vorgeworfen wird, er habe die Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz des Klägers durch die ukrainischen Behörden nicht richtig geprüft, woraus sich ein Beurteilungsfehler beim Erlass der angefochtenen Rechtsakte ergebe.
50 Im Rahmen dieser Klagegründe macht der Kläger u. a. geltend, der Rat habe nicht geprüft, ob die ihn betreffenden Strafverfahren mit den Referenznummern 42017000000000113 (im Folgenden: Verfahren 113) und 42014000000000521 (im Folgenden: Verfahren 521), auf die er sich bei der Entscheidung, die restriktiven Maßnahmen ihm gegenüber aufrechtzuerhalten, gestützt habe, unter Wahrung seiner Verteidigungsrechte und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geführt worden seien.
51 Nach Ansicht des Klägers waren die Antworten der Generalstaatsanwaltschaft auf die Fragen des Rates, die die Wahrung seiner Verteidigungsrechte und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, den Stand der ihn betreffenden Strafverfahren sowie die Zuständigkeit der verschiedenen beteiligten Untersuchungsbehörden, deren Verhältnis untereinander und die Übertragung von Untersuchungen von der einen auf die andere betrafen, nicht zufriedenstellend. Folglich wirft er dem Rat im Wesentlichen vor, unzureichend geprüft zu haben und die Beweise, die er ihm zur Rechtswidrigkeit des Verfahrens der ukrainischen Behörden und zu deren fehlender Unabhängigkeit vorgelegt habe, nicht beachtet zu haben.
52 Erstens macht er geltend, dass sein Name am 20. Juni 2019 nicht in der von der Internationalen kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) aufgestellten Liste der international gesuchten Personen (im Folgenden: Liste der von Interpol gesuchten Personen) geführt worden sei, wie sich aus den vom Sekretariat der Kommission für die Kontrolle der Dateien von Interpol ausgestellten Bescheinigungen ergebe.
53 Zweitens wirft der Kläger dem Rat vor, er habe keinerlei Prüfung hinsichtlich seiner Verteidigungsrechte und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick auf die Übertragung der Voruntersuchungen, die bereits abgeschlossen gewesen seien, auf das nationale Büro zur Korruptionsbekämpfung der Ukraine, noch dazu sechs Jahre nach ihrer Einleitung, vorgenommen.
54 Drittens macht er geltend, dass beim Erlass der Entscheidung des Untersuchungsrichters des Bezirksgerichts Petchersk in Kiew (im Folgenden: Gericht Petchersk) vom 5. Oktober 2018 (im Folgenden: Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 5. Oktober 2018), mit der die Einleitung einer Sonderuntersuchung gegen ihn in seiner Abwesenheit erlaubt worden sei, seine Verteidigungsrechte und sein Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht gewahrt worden seien.
55 Viertens ist der Kläger der Ansicht, die Dauer der gegen ihn in der Ukraine geführten Verfahren sei nicht angemessen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und es gehe den ukrainischen Behörden ganz offensichtlich nur darum, die Aufrechterhaltung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen zu rechtfertigen, da sich die Generalstaatsanwaltschaft praktisch jedes Jahr auf ein anderes Verfahren mit einer anderen Nummer beziehe, das aber systematisch dieselben strafbaren Handlungen betreffe. Im Übrigen seien für die übermäßig lange Dauer der Voruntersuchungen nur die damit beauftragten Behörden verantwortlich, die keine Entscheidung getroffen hätten, die Rechtssache an ein Gericht zu verweisen.
56 Schließlich habe der Rat seine Pflichten zur Überprüfung der Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und dessen Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht beachtet, obwohl der Kläger wiederholt ihre Verletzung beanstandet habe.
57 In der Erwiderung trägt der Kläger ferner vor, dass die Berufungskammer des Obersten Antikorruptionsgerichts der Ukraine in ihrem Urteil vom 13. Mai 2020 (im Folgenden: Urteil vom 13. Mai 2020) die Entscheidung des Ermittlungsrichters vom 19. August 2019 über die Genehmigung einer vorbeugenden Ingewahrsamnahme ihm gegenüber (im Folgenden: Entscheidung des Ermittlungsrichters vom 19. August 2019) mit der Begründung aufgehoben habe, dass eine der Voraussetzungen nicht erfüllt sei, die nach der ukrainischen Strafprozessordnung (im Folgenden: Strafprozessordnung) für den Erlass einer solchen Entscheidung erfüllt sein müssten, nämlich dass der Name der betroffenen Person in einer internationalen Fahndungsliste aufgeführt sei.
58 Der Rat trägt vor, dass sich aus dem Schriftverkehr mit dem Kläger ergebe, dass er dessen Ausführungen berücksichtigt habe, dass er ihre Begründetheit auch dadurch überprüft habe, dass er den ukrainischen Behörden detaillierte Fragen gestellt und von ihnen Erläuterungen erhalten habe, und dass er unter Berücksichtigung der Informationen, die er von ihnen erhalten habe, davon ausgegangen sei, dass die Verteidigungsrechte des Klägers und sein Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht verletzt worden seien und dass es ausreichend Gründe dafür gegeben habe, den Namen des Klägers weiterhin auf der Liste zu führen.
59 Außerdem habe zum einen der Kläger sein Recht, in der Ukraine in den Verfahren gegen ihn von einem Rechtsanwalt vertreten zu werden, ausgeübt und von seinen Rechten zweckmäßig Gebrauch gemacht, so dass er mit seinen Rechtsbehelfen teilweise Erfolg gehabt habe. Zum anderen gehe aus den Schreiben des Klägers an den Rat nicht hervor, dass er angesichts bestimmter Verfahrenssituationen wie der Aussetzung der Ermittlungen oder deren nicht fristgemäßem Abschluss von den ihm nach der Strafprozessordnung zur Verfügung stehenden Beschwerde- oder Anfechtungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht hätte.
60 Der Rat weist ferner darauf hin, dass es mehrere Gerichtsentscheidungen in Bezug auf den Kläger gegeben habe. Es handele sich um die Entscheidungen des Untersuchungsrichters vom 1. März 2017 und vom 5. Oktober 2018, mit denen die Einleitung einer Sonderermittlung in Abwesenheit im Rahmen des Verfahrens 113 bzw. des Verfahrens 521 genehmigt worden sei, sowie um die Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 19. August 2019, mit der eine vorläufige Festnahme im Rahmen des Verfahrens 113 genehmigt worden sei. Im Hinblick auf die letztgenannte Entscheidung habe der Untersuchungsrichter festgestellt, dass der Verdacht im Jahr 2014 ordnungsgemäß mitgeteilt worden sei und der Name des Klägers am 10. Juni 2019 in die internationale Fahndungsliste aufgenommen worden sei. Diesbezüglich ist der Rat der Ansicht, dass die vom Kläger vorgelegten Bescheinigungen über die Nichtaufnahme in die Liste der von Interpol gesuchten Personen nicht schlüssig seien, da sie nach dem Zeitpunkt ausgestellt worden seien, für den angegeben worden sei, dass der Name des Klägers nicht auf der Liste gestanden habe (10. Oktober 2018).
61 Schließlich trägt der Rat vor, er habe nachprüfen können, dass eine Reihe von Entscheidungen, die im Rahmen der Durchführung der Strafverfahren in Bezug auf den Kläger getroffen worden seien, unter Beachtung seiner Verteidigungsrechte und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz erlassen worden seien.
62 Zum Vorbringen des Klägers zur überlangen Ermittlungsdauer und zum Fehlen eines Tatvorwurfs ihm gegenüber weist der Rat darauf hin, dass er hierzu von den ukrainischen Behörden Erläuterungen verlangt und erhalten habe, dass die Ermittlungen in Bezug auf das Verfahren 113 und das Verfahren 521 im Jahr 2017 bzw. im Oktober 2018 abgeschlossen worden seien und die Verteidigung gerade dabei sei, sich in die Akte einzuarbeiten, was einen Fortgang des Verfahrens belege.
63 Was schließlich das Urteil vom 13. Mai 2020 betrifft, trägt der Rat vor, es könne für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rechtsakte nicht berücksichtigt werden, da es nach deren Erlass ergangen sei. Außerdem betreffe dieses Urteil zum einen jedenfalls nur das Verfahren 113, und zum anderen bestätige es seinerseits, dass der Kläger seine Rechte habe ausüben können.
64 Nach gefestigter Rechtsprechung müssen die Gerichte der Europäischen Union bei der Kontrolle restriktiver Maßnahmen eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Union im Hinblick auf die Grundrechte als Bestandteil der Unionsrechtsordnung gewährleisten, zu denen u. a. das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und die Verteidigungsrechte gehören, wie sie in den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert sind (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat,T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta garantierten gerichtlichen Kontrolle erfordert, dass sich der Unionsrichter, wenn er die Rechtmäßigkeit der Gründe prüft, die der Entscheidung zugrunde liegen, den Namen einer Person in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen aufzunehmen oder dort zu belassen, vergewissert, dass diese Entscheidung, die eine individuelle Betroffenheit dieser Person begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der Tatsachen voraus, die in der dem entsprechenden Beschluss zugrunde liegenden Begründung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um die fraglichen Handlungen zu stützen – erwiesen sind (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Der Erlass und die Aufrechterhaltung restriktiver Maßnahmen, wie sie im Beschluss 2014/119 und der Verordnung Nr. 208/2014 in ihren geänderten Fassungen vorgesehen sind und die gegen eine Person, die als für die Veruntreuung von Vermögenswerten eines Drittstaats verantwortlich identifiziert wurde, ergangen sind, beruhen im Wesentlichen auf der Entscheidung einer – insoweit zuständigen – Behörde dieses Staates, gegen diese Person ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen einer Straftat der Veruntreuung öffentlicher Gelder einzuleiten und durchzuführen (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Auch wenn der Rat aufgrund des Kriteriums für die Aufnahme in die Liste (im Folgenden: Aufnahmekriterium), wie es oben in Rn. 13 angeführt worden ist, restriktive Maßnahmen auf die Entscheidung eines Drittstaats stützen kann, bedeutet dennoch die diesem Organ obliegende Verpflichtung, die Verteidigungsrechte und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu beachten, dass es sich vergewissern muss, dass die Behörden des Drittstaats, die diese Entscheidung erlassen haben, diese Rechte beachtet haben (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Das Erfordernis einer Überprüfung durch den Rat, dass die Entscheidungen von Drittstaaten, auf die er sich stützen will, unter Wahrung der genannten Rechte getroffen wurden, soll zum Schutz der betroffenen Personen oder Organisationen gewährleisten, dass der Erlass oder die Aufrechterhaltung der Maßnahmen des Einfrierens von Geldern nur auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage erfolgt. Der Rat darf somit erst dann davon ausgehen, dass der Erlass oder die Aufrechterhaltung dieser Maßnahmen auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht, nachdem er selbst überprüft hat, ob die Verteidigungsrechte und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beim Erlass der Entscheidung des betreffenden Drittstaats, auf die er sich stützen möchte, gewahrt wurden (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Wenngleich im Übrigen mit dem Umstand, dass der Drittstaat zu den Staaten gehört, die der EMRK beigetreten sind, verknüpft ist, dass die in dieser Konvention gewährleisteten Grundrechte – die nach Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind – durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) überwacht werden, wird dadurch das vorstehend in Rn. 68 genannte Erfordernis der Überprüfung nicht überflüssig (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Nach der Rechtsprechung ist der Rat verpflichtet, in der Begründung für den Erlass oder die Aufrechterhaltung der gegen eine Person oder eine Organisation gerichteten restriktiven Maßnahmen – zumindest in gedrängter Form – die Gründe darzustellen, aus denen seiner Ansicht nach die Entscheidung des Drittstaats, auf die er sich stützen will, unter Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz getroffen wurde. Um seiner Begründungspflicht zu genügen, muss der Rat daher in dem Beschluss, mit dem restriktive Maßnahmen verhängt werden, erkennen lassen, dass er geprüft hat, ob die Entscheidung des Drittstaats, auf die er diese Maßnahmen stützt, unter Wahrung dieser Rechte ergangen ist (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 Letztlich muss der Rat, wenn er den Erlass oder die Aufrechterhaltung restriktiver Maßnahmen wie derjenigen des vorliegenden Falls auf die Entscheidung eines Drittstaats stützt, ein Strafverfahren wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte durch die betroffene Person einzuleiten und durchzuführen, sich zum einen vergewissern, dass die Behörden des Drittstaats zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Entscheidung die Verteidigungsrechte und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz der Person, gegen die das betreffende Strafverfahren geführt wird, gewahrt haben, und zum anderen in dem Beschluss, mit dem die restriktiven Maßnahmen verhängt werden, die Gründe nennen, die ihn zu der Annahme veranlassen, dass die Entscheidung des Drittstaats unter Beachtung dieser Rechte erlassen wurde (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 66).
72 Diese Rechtsprechungsgrundsätze bilden den Maßstab für die Feststellung, ob der Rat die entsprechenden Verpflichtungen eingehalten hat.
73 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Rat in den angefochtenen Rechtsakten zwar angegeben hat (vgl. oben, Rn. 37), aus welchen Gründen er der Ansicht war, dass die Entscheidung der ukrainischen Behörden, wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte ein Strafverfahren gegen den Kläger einzuleiten und durchzuführen, unter Wahrung seiner Verteidigungsrechte und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz erlassen worden sei, dass aber gleichwohl zu prüfen ist, ob der Rat zu Recht der Ansicht war, dass diese Behörden im Rahmen der Verfahren, auf die die angefochtenen Rechtsakte gestützt werden, die genannten Rechte des Klägers beachtet hätten.
74 Die Prüfung der sachlichen Richtigkeit der Begründung, die zur materiellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rechtsakte gehört und hier darin besteht, zu überprüfen, ob die vom Rat angeführten Punkte erwiesen und für den Nachweis geeignet sind, dass geprüft wurde, ob diese Rechte durch die ukrainischen Behörden gewahrt wurden, ist nämlich von der Frage der Begründung zu unterscheiden, bei der es sich um ein wesentliches Formerfordernis handelt und die nur das Gegenstück zur Pflicht des Rates darstellt, sich im Vorfeld der Wahrung der besagten Rechte zu vergewissern (vgl. Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Gegen den Kläger wurden mit den angefochtenen Rechtsakten neue restriktive Maßnahmen auf der Grundlage des Aufnahmekriteriums erlassen, das in Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/119 in der durch den Beschluss 2015/143 präzisierten Fassung und in Art. 3 der Verordnung Nr. 208/2014 in der durch die Verordnung 2015/138 präzisierten Fassung genannt ist (vgl. oben, Rn. 13 und 14). Nach diesem Kriterium werden die Gelder von Personen eingefroren, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, einschließlich der Personen, die Gegenstand von Untersuchungen der ukrainischen Behörden sind.
76 Der Rat stützte sich bei seiner Entscheidung, den Namen des Klägers auf der Liste zu belassen, auf den Umstand, dass dieser Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung durch die ukrainischen Behörden wegen der mit einem Amtsmissbrauch verbundenen Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte war, die durch die Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft, von denen der Kläger eine Kopie erhalten hatte, belegt gewesen sei (siehe oben, Rn. 35).
77 Die Aufrechterhaltung der gegen den Kläger ergriffenen restriktiven Maßnahmen beruhte somit ebenso wie in den Rechtssachen, in denen die Urteile vom 26. September 2019, Klymenko/Rat (C‑11/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:786), und vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat (T‑295/19, EU:T:2020:287), ergangen sind, auf der Entscheidung der ukrainischen Behörden, strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen einer Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine einzuleiten und durchzuführen.
78 Außerdem hat der Rat, wie er es erstmals mit den Rechtsakten vom März 2019 getan hatte, mit der Änderung des Anhangs des Beschlusses 2014/119 und des Anhangs I der Verordnung Nr. 208/2014 durch die angefochtenen Rechtsakte einen in zwei Teile gegliederten Abschnitt angefügt, der vollständig den Verteidigungsrechten und dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewidmet ist.
79 Im ersten Teil findet sich ein einfacher allgemeiner Hinweis auf die Verteidigungsrechte und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nach der Strafprozessordnung. Insbesondere wird zunächst auf die verschiedenen Verfahrensrechte verwiesen, die jeder Person, die in Strafverfahren verdächtigt oder angeklagt wird, gemäß Art. 42 der Strafprozessordnung zustehen. Sodann wird zum einen geschildert, dass gemäß Art. 306 der Strafprozessordnung Beschwerden gegen Entscheidungen, Maßnahmen oder Unterlassungen des Ermittlers oder des Staatsanwalts vom Untersuchungsrichter eines örtlichen Gerichts im Beisein des Beschwerdeführers oder seines Strafverteidigers oder rechtlichen Vertreters geprüft werden müssen. Zum anderen wird insbesondere hervorgehoben, dass in Art. 309 der Strafprozessordnung die Entscheidungen der Untersuchungsrichter, gegen die Berufung eingelegt werden kann, festgelegt sind. Schließlich wird klargestellt, dass eine Reihe verfahrensrechtlicher Ermittlungsmaßnahmen, wie die Beschlagnahme von Eigentum und Inhaftierungsmaßnahmen, nur nach einer Entscheidung des Untersuchungsrichters oder eines Gerichts möglich ist.
80 Der zweite Teil des Abschnitts betrifft die Anwendung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz bei jeder der in der Liste aufgeführten Personen. Was speziell den Kläger betrifft, heißt es, dass nach den Informationen in der Akte des Rates seine Verteidigungsrechte und sein Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den Strafverfahren, auf die sich der Rat gestützt habe, gewahrt worden seien, was insbesondere durch die Entscheidungen des Untersuchungsrichters zum einen vom 1. März 2017 und 5. Oktober 2018 und zum anderen vom 8. Februar 2017 und 19. August 2019 sowie die Tatsache, dass die Verteidigung sich in die Materialien des Strafverfahrens einarbeite (siehe oben, Rn. 37), belegt werde.
81 Im Schreiben vom 6. März 2020 (vgl. oben, Rn. 38) beschränkte sich der Rat zum einen auf den Hinweis, die Bescheinigungen der Generalstaatsanwaltschaft belegten, dass gegen den Kläger nach wie vor das Verfahren 113 und das Verfahren 521 wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte anhängig seien und dass diese am 19. und 21. November 2019 dem nationalen Büro zur Korruptionsbekämpfung der Ukraine zugewiesen worden seien. Was zum anderen die Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz betrifft, führte der Rat aus, dass die Wahrung dieser Rechte durch die oben in Rn. 80 erwähnten Gerichtsentscheidungen belegt werde. Speziell zur Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 19. August 2019 im Rahmen des Verfahrens 113 führt er aus, man sei davon ausgegangen, dass der Verdacht dem Kläger am 22. Dezember 2014 und am 19. August 2016 mitgeteilt worden sei, dass die Anklage nachvollziehbare Verdachtsmomente nachgewiesen habe, dass der Name des Klägers am 10. Juni 2019 in eine internationale Fahndungsliste aufgenommen worden sei, dass er sich erwiesenermaßen vor den mit der Durchführung des Vorverfahrens betrauten Behörden versteckt habe und dass es ausreichend Gründe für die Annahme gegeben habe, dass er dies weiterhin tun werde.
82 Somit ergibt sich aus einer kombinierten Betrachtung der Gründe, die in den angefochtenen Rechtsakten und in dem genannten Schreiben vom 6. März 2020 angeführt wurden, dass der Rat ausdrücklich bestätigt, dass er die Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den beiden oben in Rn. 81 angeführten Verfahren geprüft hat, auch wenn er nähere Einzelheiten nur zum Verfahren 113 angibt, in dessen Rahmen die Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 19. August 2019 getroffen wurde.
83 Insoweit ist vorab anzumerken, dass der Rat nicht darlegt, inwieweit alle – oben in Rn. 80 angeführten – Entscheidungen des Untersuchungsrichters des Gerichts Petchersk, die reine Verfahrenshandlungen sind, Belege für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den Verfahren 113 und 521 sein sollen. Wie oben in den Rn. 65 bis 67 ausgeführt, war der Rat im vorliegenden Fall nämlich verpflichtet, vor dem Beschluss über die Aufrechterhaltung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen zu prüfen, ob die Entscheidung der ukrainischen Justizverwaltung, gegen den Kläger strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen der Straftaten der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte sowie des Amtsmissbrauchs durch den Inhaber eines öffentlichen Amtes einzuleiten und durchzuführen, unter Wahrung der besagten Rechte des Klägers ergangen war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 78).
84 Unter diesem Blickwinkel können die genannten Gerichtsentscheidungen zumindest in formeller Hinsicht nicht als die Aufrechterhaltung der restriktiven Maßnahmen rechtfertigende Entscheidungen zur Einleitung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens angesehen werden. Gleichwohl kann zugestanden werden, dass diese Entscheidungen in der Sache, da es sich um gerichtliche Entscheidungen handelt, zumindest die Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 19. August 2019, die in zeitlicher Hinsicht maßgeblich ist, vom Rat de facto als tatsächliche Grundlage für die Aufrechterhaltung der fraglichen Maßnahmen berücksichtigt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Conseil, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 79).
85 Daher ist zu prüfen, ob der Rat zu Recht davon ausgehen konnte, dass diese Entscheidungen ebenso wie der Umstand, dass die Verteidigung des Klägers beim Erlass der angefochtenen Rechtsakte gerade dabei war, sich in die Strafakte einzuarbeiten, ein Beleg für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz waren.
86 Was zunächst die Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 19. August 2019 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich daraus entgegen dem Vorbringen des Rates nicht eindeutig ergibt, dass die Verteidigungsrechte des Klägers und sein Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im vorliegenden Fall gewährleistet waren. Zwar konnte, wie der Rat in seinem Schreiben vom 6. März 2020 (siehe oben, Rn. 81) betont, der Untersuchungsrichter des Gerichts Petchersk zu dem Ergebnis kommen, dass im Rahmen des Verfahrens 113, in dem diese Entscheidung ergangen ist, der Kläger eine unter Verdacht stehende Person war, dass er auf einer internationalen Fahndungsliste geführt wurde, dass der Staatsanwalt bewiesen hatte, dass er sich vor den Behörden, die mit den Voruntersuchungen betraut waren, versteckt hielt und dass es ausreichend Gründe für die Annahme gab, dass er dies weiterhin tun werde. Dennoch ergibt sich aus der Akte nicht, dass der Rat die Informationen, die der Kläger ihm in seinem Schreiben vom 23. Januar 2020 sowie zuvor in den Schreiben vom 19. Dezember 2018 und vom 4. Februar 2019 übermittelt hatte, tatsächlich berücksichtigt hat.
87 Der Kläger hatte nämlich unter Vorlage entsprechender Dokumente u. a. geltend gemacht, dass sein Name nicht in der Liste der von Interpol gesuchten Personen geführt worden sei und dass der Untersuchungsrichter deshalb nicht in der Lage gewesen sei, bestimmte Entscheidungen zu treffen, die der Rat als Beleg für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz angesehen habe.
88 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich aus den Akten nicht ergibt, dass der Rat die Informationen überprüft hätte, die der Untersuchungsrichter seiner Ansicht, der Name des Klägers werde auf einer „internationalen Fahndungsliste“ geführt, zugrunde gelegt hat. Im Übrigen hat der Rat keine Gründe dafür genannt, warum er sich insoweit mit einfachen Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft und des Untersuchungsrichters zufriedengegeben hat, obwohl sich aus den Unterlagen ergab, dass der Name des Klägers am 20. Juni 2019 nicht auf der Liste der von Interpol gesuchten Personen stand.
89 Dieser Aspekt ist im Rahmen der Beurteilung der Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick auf Art. 193‑6 der Strafprozessordnung nicht ohne Bedeutung, wonach, wie sich aus der Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 19. August 2019 ergibt, der Eintrag in einer internationalen Fahndungsliste eine der Voraussetzungen ist, die der Staatsanwalt nachzuweisen hat, wenn er die Genehmigung einer vorbeugenden Ingewahrsamnahme beantragt (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 87).
90 In dieser Entscheidung hat sich der Untersuchungsrichter für die Ansicht, dass der Name des Klägers auf einer solchen Liste geführt werde, auf den Beschluss des Staatsanwalts vom 10. Juni 2019 gestützt, ohne jedoch anzugeben, welchen Beweis der Staatsanwalt geliefert hatte. Was die Generalstaatsanwaltschaft betrifft, so ist festzustellen, dass sie in den beiden Tabellen in der Anlage des Schreibens vom 1. November 2019, die die Informationen zum Stand der Verfahren 113 und 521 zusammenfassten und erklären sollten, inwieweit die Verteidigungsrechte des Klägers und sein Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewahrt wurden, nur festgestellt hat, dass der „Verdächtige... auf der Liste der gesuchten Personen aufgeführt“ gewesen sei.
91 Diese Erwägungen können nicht durch das Vorbringen des Rates, dass die vom Sekretariat der Kommission für die Kontrolle der Dateien von Interpol ausgestellten Bescheinigungen nicht schlüssig seien, in Frage gestellt werden. Denn die Informationen der Generalstaatsanwaltschaft zur Aufnahme des Namens des Klägers in eine „Fahndungsliste“ erlaubten es dem Rat jedenfalls nicht, die Einhaltung der Bedingung betreffend eine solche Aufnahme durch den Staatsanwalt und damit die Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz durch den Untersuchungsrichter beim Erlass seiner Entscheidung zu überprüfen (siehe oben, Rn. 89). Unter diesen Umständen konnte der Rat sich nicht mit den entweder lakonischen oder ungenauen Informationen, über die er verfügte, zufriedengeben. Er hätte bei den ukrainischen Behörden zumindest nachfragen müssen.
92 Im Übrigen ist, ohne dass sich dies auf die vorliegende Rechtssache auswirken würde, da das Urteil vom 13. Mai 2020, wie der Rat zu Recht hervorhebt, nach dem Erlass der angefochtenen Rechtsakte ergangen ist, nichtsdestoweniger darauf hinzuweisen, dass aus diesem Urteil zum einen hervorgeht, dass der bloße Umstand, dass die Staatsanwaltschaft eine Verfahrensentscheidung in Form eines Beschlusses zur Aufnahme einer Person in die Liste der von Interpol gesuchten Personen trifft, nicht ausreicht, da alle notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung eines solchen Beschlusses ergriffen worden sein müssen, was der Staatsanwalt in keiner Weise bewiesen hat, und zum anderen, dass Art. 193‑6 der Strafprozessordnung von der Berufungskammer des Obersten Antikorruptionsgerichts in mehreren Gerichtsentscheidungen in der Zeit von September 2019 bis Februar 2020 bereits in dieser Weise ausgelegt wurde.
93 Was sodann die Entscheidungen des Untersuchungsrichters vom 1. März 2017 und vom 5. Oktober 2018 sowie die Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 8. Februar 2017 betrifft, wobei die ersten beiden die Einleitung eines Sonderermittlungsverfahrens in Abwesenheit und die letztgenannte die Genehmigung einer vorläufigen Festnahme betrafen, ist darauf hinzuweisen, dass diese lange vor dem Erlass der angefochtenen Rechtsakte getroffen wurden. Daraus folgt, dass sie nicht ausreichen können, um festzustellen, dass die Entscheidung der ukrainischen Justizverwaltung, auf die der Rat sich stützen will, um die streitigen restriktiven Maßnahmen gegenüber dem Kläger für den Zeitraum von März 2020 bis März 2021 aufrechtzuerhalten, unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz erlassen wurde. Darüber hinaus hatte das Gericht bereits Gelegenheit, sich sowohl zur Entscheidung des Untersuchungsrichters vom 1. März 2017 als auch zu der vom 5. Oktober 2018 zu äußern – und zwar im Rahmen der Rechtssache, in der das Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat (T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 78 bis 88 und 91), ergangen ist, das vom Rat nicht angefochten wurde –, und hat entschieden, dass damit nicht nachgewiesen werden kann, dass die genannten Rechte des Klägers im Rahmen der fraglichen Verfahren beachtet wurden.
94 Jedenfalls ist auch darauf hinzuweisen, dass alle erwähnten Gerichtsentscheidungen im Rahmen von Strafverfahren, die die Aufnahme und die Belassung des Namens des Klägers auf der Liste gerechtfertigt haben, ergangen sind und nur Zwischenentscheidungen im Hinblick auf diese sind, da sie verfahrensrechtlicher Natur sind. Solche Entscheidungen, die allenfalls dazu dienen können, das Bestehen einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage zu belegen, nämlich die Tatsache, dass gegen den Kläger entsprechend dem Aufnahmekriterium Strafverfahren u. a. wegen der Veruntreuung von Geldern oder Vermögenswerten des ukrainischen Staates anhängig waren, können aber wesensmäßig für sich genommen nicht den Nachweis erbringen, dass die Entscheidung der ukrainischen Justizverwaltung, die genannten Strafverfahren einzuleiten und durchzuführen, auf der im Wesentlichen die Aufrechterhaltung der restriktiven Maßnahmen gegen den Kläger beruht, unter Wahrung von dessen Verteidigungsrechten und dessen Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 92).
95 Im Übrigen nennt der Rat kein Schriftstück aus der Akte des Verfahrens, das zum Erlass der angefochtenen Rechtsakte geführt hat, aus dem sich ergäbe, dass er die genannten Gerichtsentscheidungen geprüft hat und daraus schließen konnte, dass die Verfahrensrechte des Klägers in ihrem Wesensgehalt beachtet worden waren.
96 Was schließlich den Vorgang der Einarbeitung der Verteidigung in die Strafakte betrifft, der zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Rechtsakte noch im Gange war, ist zum einen festzustellen, dass die Generalstaatsanwaltschaft insoweit keine Angaben zu Art und Dauer dieses Vorgangs macht, und zum anderen, dass sich aus den einzigen von ihr zur Verfügung gestellten Informationen ergibt, dass ein solcher Vorgang seit dem 21. April 2017, dem Datum, an dem die Voruntersuchung im Verfahren 113 abgeschlossen wurde, und seit dem 3. Dezember 2018, dem Datum, an dem die Voruntersuchung im Verfahren 521 abgeschlossen wurde, im Gange ist.
97 Entgegen seiner Behauptung hat der Rat indessen nicht dargelegt, inwieweit die ihm zur Verfügung stehenden Informationen über die Einarbeitung der Verteidigung in die Verfahren 113 und 521 und die damit zusammenhängenden gerichtlichen Entscheidungen es ihm ermöglicht hätten, zu der Auffassung zu gelangen, dass die Verteidigungsrechte des Klägers und sein Recht auf effektiven Rechtsschutz beachtet wurden, obwohl sich, wie der Kläger geltend gemacht hat, diese Verfahren, die mutmaßlich in der Zeit von 2011 bis 2014 begangene Taten betrafen, noch im Stadium der Voruntersuchung befanden und zudem im November 2019 bereits abgeschlossen an andere Ermittlungsbehörden übergeben wurden, so dass die fraglichen Rechtssachen in der Hauptsache noch nicht einem ukrainischen Gericht vorgelegt worden waren.
98 Art. 47 Abs. 2 der Charta, der den Maßstab darstellt, anhand dessen der Rat die Wahrung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beurteilt, sieht aber vor, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung).
99 Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, wie z. B. den in Art. 6 vorgesehenen, haben sie gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird.
100 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der EGMR bei der Auslegung von Art. 6 EMRK festgestellt hat, dass der Grundsatz einer angemessenen Frist u. a. bezweckt, die beschuldigte Person vor einer überlangen Verfahrensdauer zu schützen und zu verhindern, dass sie zu lange über ihr Schicksal im Ungewissen gelassen wird, sowie Verzögerungen zu vermeiden, die geeignet sind, die Effizienz und die Glaubwürdigkeit der Rechtspflege zu beeinträchtigen (vgl. EGMR, Urteil vom 7. Juli 2015, Rutkowski u. a./Polen, CE:ECHR:2015:0707JUD007228710, Nr. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zudem hat der EGMR geurteilt, dass ein Verstoß gegen diesen Grundsatz insbesondere dann festgestellt werden kann, wenn die Ermittlungsphase eines Strafverfahrens durch eine Reihe von Zeiträumen der Untätigkeit gekennzeichnet ist, die den für die Ermittlungen zuständigen Behörden zuzurechnen sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 6. Januar 2004, Rouille/Frankreich, CE:ECHR:2004:0106JUD005026899, Nrn. 29 bis 31, vom 27. September 2007, Reiner u. a./Rumänien, CE:ECHR:2007:0927JUD000150502, Nrn. 57 bis 59, und vom 12. Januar 2012, Borisenko/Ukraine, CE:ECHR:2012:0112JUD002572502, Nrn. 58 bis 62).
101 Ferner geht aus der Rechtsprechung hervor, dass der Rat, wenn eine Person wegen im Wesentlichen ein und desselben von der Generalstaatsanwaltschaft oder einer anderen Untersuchungsbehörde geführten Ermittlungsverfahrens seit mehreren Jahren restriktiven Maßnahmen unterliegt, verpflichtet ist, sich vertieft mit der Frage zu beschäftigen, ob die ukrainischen Behörden möglicherweise die Grundrechte dieser Person verletzt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2019, Stavytskyi/Rat, T‑290/17, EU:T:2019:37, Rn. 132).
102 Daher hätte der Rat im vorliegenden Fall zumindest angeben müssen, aus welchen Gründen er trotz des oben in Rn. 97 wiedergegebenen Vorbringens des Klägers davon ausgehen konnte, dass dessen Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vor der ukrainischen Justizverwaltung, bei dem es sich ersichtlich um ein Grundrecht handelt, in Bezug auf die Frage, ob seine Sache innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt worden war, gewahrt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 100).
103 In Anbetracht des Akteninhalts kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die dem Rat beim Erlass der angefochtenen Rechtsakte zur Verfügung stehenden Informationen ihm die Prüfung ermöglichten, ob die Entscheidung der ukrainischen Justizverwaltung unter Wahrung der Rechte des Klägers auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und auf Verhandlung seiner Rechtssache innerhalb angemessener Frist erlassen wurde.
104 Im Übrigen ist insoweit auch darauf hinzuweisen, dass die gefestigte Rechtsprechung, wonach der Rat oder der Unionsrichter, wenn es um den Erlass eines Beschlusses über das Einfrieren von Geldern wie desjenigen geht, der den Kläger betrifft, nicht die Begründetheit der Ermittlungen in der Ukraine gegen die von diesen Maßnahmen betroffene Person zu überprüfen hat, sondern nur die Begründetheit des Beschlusses über das Einfrieren der Gelder anhand des oder der Dokumente, auf die dieser Beschluss gestützt worden ist, nicht dahin ausgelegt werden kann, dass der Rat nicht verpflichtet wäre, zu prüfen, ob die Entscheidung des Drittstaats, auf die er den Erlass restriktiver Maßnahmen stützen möchte, unter Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz getroffen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Klymenko/Rat, T‑295/19, EU:T:2020:287, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).
105 Nach alledem ist nicht erwiesen, dass sich der Rat vor dem Erlass der angefochtenen Rechtsakte vergewissert hat, dass die ukrainische Justizverwaltung in den Strafverfahren, auf die er sich gestützt hat, die Verteidigungsrechte des Klägers und dessen Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beachtet hat. Folglich hat der Rat mit der Entscheidung, den Namen des Klägers auf der Liste zu belassen, einen Beurteilungsfehler begangen.
106 Unter diesen Umständen sind die angefochtenen Rechtsakte für nichtig zu erklären, soweit sie den Kläger betreffen, ohne dass die übrigen von ihm geltend gemachten Klagegründe und Argumente geprüft zu werden brauchen.
Zum Fortbestehen der Wirkungen des Beschlusses 2020/373
107 Der Rat beantragt hilfsweise, im Fall der teilweisen Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2020/370, aus Gründen der Rechtssicherheit das Fortbestehen der Wirkungen des Beschlusses 2020/373 bis zum Wirksamwerden der teilweisen Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2020/370 anzuordnen.
108 Gemäß Art. 60 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union haben Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung. Art. 60 Abs. 2 dieser Satzung bestimmt jedoch, dass abweichend von Art. 280 AEUV die Entscheidungen des Gerichts, in denen eine Verordnung für nichtig erklärt wird, erst nach Ablauf der Frist, innerhalb der ein Rechtsmittel eingelegt werden kann, oder, wenn innerhalb dieser Frist ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, nach dessen Zurückweisung wirksam werden.
109 Im vorliegenden Fall hat die Durchführungsverordnung 2020/370 die Rechtsnatur einer Verordnung, da sie vorsieht, dass sie in all ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, was den Wirkungen einer Verordnung entspricht, wie sie in Art. 288 AEUV vorgesehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. April 2016, Rat/Bank Saderat Iran, C‑200/13 P, EU:C:2016:284, Rn. 121).
110 Art. 60 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist daher auf den vorliegenden Fall anwendbar (Urteil vom 21. April 2016, Rat/Bank Saderat Iran, C‑200/13 P, EU:C:2016:284, Rn. 122).
111 Schließlich ist zur zeitlichen Wirkung der Nichtigerklärung des Beschlusses 2020/373 darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV das Gericht, falls es dies für notwendig hält, diejenigen der Wirkungen der für nichtig erklärten Handlung bezeichnen kann, die als fortgeltend zu betrachten sind.
112 Im vorliegenden Fall kann das Bestehen eines Unterschieds zwischen dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2020/370 und demjenigen der Nichtigerklärung des Beschlusses 2020/373 eine ernsthafte Beeinträchtigung der Rechtssicherheit herbeiführen, da mit diesen beiden Rechtsakten gegen den Kläger identische Maßnahmen verhängt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Februar 2018, Klyuyev/Rat, T‑731/15, EU:T:2018:90, Rn. 263). Die Wirkungen des Beschlusses 2020/373 in Bezug auf den Kläger sind daher aufrechtzuerhalten, bis die Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2020/370 wirksam wird.
Kosten
113 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Klägers die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss (GASP) 2020/373 des Rates vom 5. März 2020 zur Änderung des Beschlusses 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine und die Durchführungsverordnung (EU) 2020/370 des Rates vom 5. März 2020 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine werden für nichtig erklärt, soweit der Name von Herrn Oleksandr Viktorovych Klymenko auf der Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, auf die diese restriktiven Maßnahmen Anwendung finden, belassen wurde.
2. Die Wirkungen von Art. 1 des Beschlusses 2020/373 werden gegenüber Herrn Klymenko bis zum Ablauf der in Art. 56 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorgesehenen Rechtsmittelfrist oder, wenn innerhalb dieser Frist ein Rechtsmittel eingelegt wird, bis zur Zurückweisung des Rechtsmittels aufrechterhalten.
3. Der Rat der Europäischen Union trägt die Kosten.
Spielmann
Spineanu-Matei
Mastroianni
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 3. Februar 2021.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 12. Juli 2018.#The Goldman Sachs Group, Inc. gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Stromkabel – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung – Vermutung – Beurteilungsfehler – Unschuldsvermutung – Rechtssicherheit – Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung.#Rechtssache T-419/14.
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62014TJ0419
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ECLI:EU:T:2018:445
| 2018-07-12T00:00:00 |
Gericht
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62014TJ0419
URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)
12. Juli 2018 (*1)
„Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Stromkabel – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung – Vermutung – Beurteilungsfehler – Unschuldsvermutung – Rechtssicherheit – Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“
In der Rechtssache T‑419/14
The Goldman Sachs Group, Inc., mit Sitz in New York, New York (Vereinigte Staaten), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. Deselaers, J. Koponen und A. Mangiaracina,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch C. Giolito, L. Malferrari, H. van Vliet und J. Norris-Usher als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Prysmian SpA mit Sitz in Mailand (Italien),
Prysmian Cavi e Sistemi Srl mit Sitz in Mailand,
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte C. Tesauro, F. Russo und L. Armati,
Streithelferinnen,
wegen eines auf Art. 263 AEUV gestützten Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2014) 2139 final der Kommission vom 2. April 2014 in einem Verfahren nach Artikel [101 AEUV] sowie nach Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache AT.39610 – Stromkabel), soweit er die Klägerin betrifft, und auf Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße
erlässt
DAS GERICHT (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. M. Collins, der Richterin M. Kancheva (Berichterstatterin) und des Richters R. Barents,
Kanzler: L. Grzegorczyk, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. März 2017
folgendes
Urteil
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Klägerin und betroffene Branche
1 Bei der Klägerin, The Goldman Sachs Group, Inc., handelt es sich um eine amerikanische Gesellschaft, die als Geschäfts- und Investmentbank in den weltweit wichtigsten Finanzzentren tätig ist. Vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 war sie über die GS Capital Partners V Funds, LP (im Folgenden: GSCP V) und über andere zwischengeschaltete Gesellschaften die mittelbare Muttergesellschaft von Prysmian SpA sowie von deren 100%iger Tochtergesellschaft Prysmian Cavi e Sistemi Srl (im Folgenden: PrysmianCS), ehemals Pirelli Cavi e Sistemi Energia SpA und dann Prysmian Cavi e Sistemi Energia Srl. Prysmian und PrysmianCS bilden zusammen die Prysmian-Gruppe, die weltweit im Sektor von unter der Erde sowie unter Wasser verlegten Stromkabeln (im Folgenden: Erd- und Unterwasserkabel) tätig ist.
2 Erd- und Unterwasserkabel werden zur unterirdischen bzw. unterseeischen Übertragung und Verteilung von Strom verwendet. Sie werden in drei Kategorien eingeordnet: Niederspannung, Mittelspannung und Hoch- bzw. Höchstspannung. Hoch- und Höchstspannungskabel werden vorwiegend im Rahmen von Projekten verkauft, die sowohl die Lieferung des Stromkabels nebst Zusatzausrüstung als auch die Verlegung und die weiteren erforderlichen Dienstleistungen beinhalten. Die Kabel werden weltweit an große nationale Netzbetreiber und andere Stromversorgungsunternehmen verkauft, meist im Rahmen von Ausschreibungen.
B. Verwaltungsverfahren
3 Mit Schreiben vom 17. Oktober 2008 übermittelte die schwedische Gesellschaft ABB AB der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Reihe von Erklärungen und Unterlagen über wettbewerbsbeschränkende Geschäftspraktiken in der Branche der Herstellung und Lieferung von Erd- und Unterwasserkabeln. Diese Erklärungen und Unterlagen wurden im Rahmen eines Antrags auf Erlass der Geldbußen im Sinne der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2006, C 298, S. 17, im Folgenden: Kronzeugenregelung) eingereicht.
4 Vom 28. Januar bis zum 3. Februar 2009 nahm die Kommission infolge der Erklärungen von ABB Nachprüfungen in den Räumlichkeiten von Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi Energia sowie bei anderen betroffenen europäischen Gesellschaften, nämlich Nexans SA und Nexans France SAS, vor.
5 Am 2. Februar 2009 stellten die japanischen Gesellschaften Sumitomo Electric Industries Ltd, Hitachi Cable Ltd und J‑Power Systems Corp. einen gemeinsamen Antrag auf Erlass der Geldbuße nach Rn. 14 der Kronzeugenregelung, hilfsweise auf Herabsetzung der Geldbuße nach Rn. 27 dieser Regelung. In der Folge gaben sie gegenüber der Kommission weitere mündliche Erklärungen ab und übermittelten ihr weitere Unterlagen.
6 Im Laufe der Untersuchung sandte die Kommission mehrere Auskunftsverlangen nach Art. 18 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und Rn. 12 der Kronzeugenregelung an Unternehmen der Branche der Herstellung und Lieferung von Erd- und Unterwasserkabeln.
7 Am 30. Juni 2011 leitete die Kommission ein Verfahren ein und nahm eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an, die an folgende Rechtssubjekte gerichtet war: Nexans France, Nexans, Pirelli & C. SpA, Prysmian Cavi e Sistemi Energia, Prysmian, Sumitomo Electric Industries, Hitachi Cable, J‑Power Systems, Furukawa Electric Co. Ltd, Fujikura Ltd, Viscas Corp., SWCC Showa Holdings Co. Ltd, Mitsubishi Cable Industries Ltd, Exsym Corp., ABB, ABB Ltd, Brugg Kabel AG, Kabelwerke Brugg AG Holding, nkt cables GmbH, NKT Holding A/S, Silec Cable SAS, Grupo General Cable Sistemas, SA, Safran SA, General Cable Corp., LS Cable & System Ltd, Taihan Electric Wire Co. Ltd und die Klägerin.
8 Vom 11. bis 18. Juni 2012 nahmen alle Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte, mit Ausnahme von Furukawa Electric, an einer Verwaltungsanhörung vor der Kommission teil.
9 Mit Urteilen vom 14. November 2012, Nexans France und Nexans/Kommission (T‑135/09, EU:T:2012:596), und vom 14. November 2012, Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi Energia/Kommission (T‑140/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:597), erklärte das Gericht die zum einen an Nexans und an Nexans France, zum anderen an Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi Energia gerichteten Nachprüfungsentscheidungen teilweise für nichtig, soweit sie andere Stromkabel als Hochspannungsunterwasser- und ‑erdkabel und das zu diesen anderen Kabeln gehörende Material betrafen; im Übrigen wurden die Klagen abgewiesen. Am 24. Januar 2013 legten Nexans und Nexans France ein Rechtsmittel gegen das erstgenannte Urteil ein. Mit Urteil vom 25. Juni 2014, Nexans und Nexans France/Kommission (C‑37/13 P, EU:C:2014:2030), wies der Gerichtshof dieses Rechtsmittel zurück.
10 Am 2. April 2014 erließ die Kommission den Beschluss C(2014) 2139 final in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] sowie nach Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache AT.39610 – Stromkabel) (im Folgenden: angefochtener Beschluss).
C. Angefochtener Beschluss
1. In Rede stehende Zuwiderhandlung
11 Nach Art. 1 des angefochtenen Beschlusses haben sich mehrere Unternehmen in unterschiedlichen Zeiträumen an einer einzigen und fortdauernden Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV „in Bezug auf Erd- und/oder Unterwasserkabel für Hoch- und Höchstspannung“ beteiligt. Im Wesentlichen hat die Kommission festgestellt, die führenden europäischen, japanischen und südkoreanischen Hersteller von Unterwasser- und Erdkabeln hätten sich von Februar 1999 bis Ende Januar 2009 an einem Netz zwei- und mehrseitiger Zusammenkünfte beteiligt und Kontakte hergestellt, die darauf abgezielt hätten, bei Projekten im Zusammenhang mit Hoch- und Höchstspannungserd- und ‑unterwasserkabeln in bestimmten Gebieten den Wettbewerb einzuschränken, indem sie sich auf die Aufteilung von Märkten und Kunden verständigt und damit den normalen Wettbewerbsprozess verfälscht hätten (Erwägungsgründe 10 bis 13 und 66 des angefochtenen Beschlusses).
12 Das Kartell habe aus zwei Hauptkonfigurationen bestanden, die ein Gesamtkartell gebildet hätten. Konkreter habe das Kartell aus zwei Teilen bestanden:
–
der „A/R-Kartellkonfiguration“, zu der die im Allgemeinen als „R‑Mitglieder“ bezeichneten europäischen Unternehmen, die als „A‑Mitglieder“ bezeichneten japanischen Unternehmen und die als „K‑Mitglieder“ bezeichneten südkoreanischen Unternehmen gehört hätten. Diese Konfiguration habe dem Ziel gedient, Gebiete und Kunden unter den europäischen, japanischen und südkoreanischen Herstellern aufzuteilen. Die Aufteilung sei gemäß einer Absprache über das „Heimatgebiet“ erfolgt, nach der die japanischen und die südkoreanischen Hersteller bei Projekten im „Heimatgebiet“ der europäischen Hersteller von Geboten abgesehen hätten, während letztere Hersteller auf den japanischen und den südkoreanischen Markt verzichtet hätten. Hinzugekommen sei die Aufteilung von Projekten in den „Ausfuhrgebieten“ – d. h. der restlichen Welt mit Ausnahme namentlich der Vereinigten Staaten –, für die über einen bestimmten Zeitraum eine „60/40‑Quote“ gegolten habe, was bedeutet habe, dass 60 % der Projekte den europäischen Herstellern und die übrigen 40 % den asiatischen Herstellern vorbehalten worden seien;
–
der „europäischen Kartellkonfiguration“, die die Aufteilung von Gebieten und Kunden durch die europäischen Hersteller bei Projekten im europäischen „Heimatgebiet“ bzw. bei den europäischen Herstellern zugeteilten Projekten vorgesehen habe (vgl. Abschnitt 3.3 des angefochtenen Beschlusses, insbesondere dessen Erwägungsgründe 73 und 74).
13 Die Kartellteilnehmer hätten sich zum Austausch von Informationen verpflichtet, um die Einhaltung der Aufteilungsvereinbarungen überwachen zu können (Erwägungsgründe 94 bis 106 und 111 bis 115 des angefochtenen Beschlusses).
14 Mit Rücksicht auf ihre jeweilige Rolle bei der Verwirklichung des Kartells teilte die Kommission die verschiedenen Kartellteilnehmer in drei Gruppen ein. Zunächst definierte sie die Kerngruppe des Kartells, zu der zum einen die europäischen Unternehmen Nexans France, die nacheinander am Kartell beteiligten Tochterunternehmen von Pirelli & C., vormals Pirelli SpA (im Folgenden: Pirelli), und Prysmian Cavi e Sistemi Energia, zum anderen die japanischen Unternehmen Furukawa Electric Co., Fujikura und ihr Gemeinschaftsunternehmen Viscas sowie Sumitomo Electric Industries, Hitachi Cable und ihr Gemeinschaftsunternehmen J‑Power Systems gehört hätten (Erwägungsgründe 545 bis 561 des angefochtenen Beschlusses). Sodann bezeichnete die Kommission eine Gruppe von Unternehmen, die nicht zur Kerngruppe gehört hätten, aber auch nicht als Randbeteiligte des Kartells angesehen werden könnten; hierzu zählte sie ABB, Exsym, Brugg Kabel und das von der Sagem SA, Safran und Silec Cable gebildete Konsortium (Erwägungsgründe 562 bis 575 des angefochtenen Beschlusses). Schließlich betrachtete die Kommission Mitsubishi Cable Industries, SWCC Showa Holdings, LS Cable & System, Taihan Electric Wire und nkt cables als Randbeteiligte des Kartells (Erwägungsgründe 576 bis 594 des angefochtenen Beschlusses).
2. Verantwortlichkeit der Klägerin
15 Die Klägerin wurde für verantwortlich erachtet, da sie vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 als Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi Energia ausgeübt habe.
16 Insbesondere vermutete die Kommission erstens im Licht der Grundsätze, die in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Union aufgestellt worden seien, dass Prysmian mindestens vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von Prysmian Cavi e Sistemi Energia und dass die Klägerin mindestens vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007 einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi Energia ausgeübt habe (782. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
17 Zweitens schloss die Kommission aus ihrer Analyse der zwischen der Klägerin und ihren Tochtergesellschaften bestehenden wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, dass die Klägerin mindestens vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten von Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi Energia ausgeübt habe (783. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
3. Verhängte Geldbuße
18 In Art. 2 Buchst. f des angefochtenen Beschlusses wird eine Geldbuße von 37303000 Euro gegen die Klägerin sowie „gesamtschuldnerisch“ gegen PrysmianCS und Prysmian wegen ihrer Beteiligung am Kartell für den Zeitraum vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 verhängt.
19 Zur Bemessung der Höhe der Geldbußen wandte die Kommission Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 und die in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß [dieser Vorschrift] (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 2006 für die Festsetzung von Geldbußen) dargelegte Methode an.
20 Was erstens den Grundbetrag der Geldbußen anging, ermittelte die Kommission zunächst nach Ziff. 18 der Leitlinien von 2006 für die Festsetzung von Geldbußen den angemessenen Umsatz (Erwägungsgründe 963 bis 994 des angefochtenen Beschlusses) und setzte dann gemäß den Ziff. 22 und 23 dieser Leitlinien den die Schwere der Zuwiderhandlung widerspiegelnden Anteil an diesem Umsatz fest. Insoweit war sie der Auffassung, dass die Zuwiderhandlung ihrer Art nach zu den schwerwiegendsten Wettbewerbsverstößen gehöre, weshalb für ihre Schwere ein Prozentsatz von 15 % angemessen sei. Zudem erhöhte sie den schwerebezogenen Prozentsatz aufgrund des kumulierten Marktanteils und der fast weltweiten, u. a. den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) umfassenden Ausdehnung des Kartells für alle Adressaten um 2 %. Im Übrigen ging sie davon aus, dass das Verhalten der europäischen Unternehmen für den Wettbewerb schädlicher gewesen sei als dasjenige der anderen Unternehmen, da die europäischen Unternehmen über ihre Beteiligung an der „A/R-Kartellkonfiguration“ hinaus auch im Rahmen der „europäischen Kartellkonfiguration“ Kabelprojekte unter sich aufgeteilt hätten. Daher setzte sie den aufgrund der Schwere der Zuwiderhandlung zu berücksichtigenden Umsatzanteil für die europäischen Unternehmen auf 19 % und für die anderen Unternehmen auf 17 % fest (Erwägungsgründe 997 bis 1010 des angefochtenen Beschlusses).
21 Als Multiplikator für die Dauer der Zuwiderhandlung legte die Kommission in Bezug auf die Klägerin für den Zeitraum vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 die Zahl 3,5 zugrunde. Außerdem rechnete sie zum Grundbetrag der Geldbuße einen zusätzlichen Betrag, die „Eintrittsgebühr“, in Höhe von 19 % des Umsatzes hinzu (Erwägungsgründe 1011 bis 1016 des angefochtenen Beschlusses).
22 Was zweitens die Anpassungen des Grundbetrags der Geldbußen anging, stellte die Kommission außer im Fall von ABB keine erschwerenden Umstände fest, die den Grundbetrag der gegen die Kartellteilnehmer jeweils festgesetzten Geldbuße hätten beeinflussen können. Im Bereich der mildernden Umstände entschied sie hingegen, die jeweilige Rolle der verschiedenen Unternehmen bei der Verwirklichung des Kartells in die Höhe der Geldbußen einfließen zu lassen. So verringerte sie den Grundbetrag der Geldbuße gegen die Randbeteiligten des Kartells um 10 % und den Grundbetrag der Geldbuße gegen die Unternehmen, die sich in mittlerem Ausmaß am Kartell beteiligt hatten, um 5 %. Ferner gewährte sie Mitsubishi Cable Industries und SWCC Showa Holdings – für den Zeitraum vor der Gründung von Exsym – sowie LS Cable & System und Taihan Electric Wire eine zusätzliche Ermäßigung in Höhe von 1 %, da sie von bestimmten Teilen der einzigen und fortdauernden Zuwiderhandlung keine Kenntnis gehabt hätten und dafür nicht verantwortlich seien. Den zur Kerngruppe des Kartells gehörenden Unternehmen, einschließlich der Klägerin, wurde hingegen keinerlei Verringerung des Grundbetrags der Geldbuße gewährt (Erwägungsgründe 1017 bis 1020 und 1033 des angefochtenen Beschlusses). Überdies gewährte die Kommission Mitsubishi Cable Industries in Anwendung der Leitlinien von 2006 für die Festsetzung von Geldbußen eine zusätzliche Ermäßigung in Höhe von 3 % der gegen sie verhängten Geldbuße wegen wirksamer Mitarbeit außerhalb des Anwendungsbereichs der Kronzeugenregelung (1041. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
II. Verfahren und Anträge der Parteien
23 Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 17. Juni 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
24 Mit Schriftsätzen, die am 2. bzw. 11. Oktober 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben Prysmian und PrysmianCS sowie die European Private Equity and Venture Capital Association (Europäische Vereinigung für privates Beteiligungs- und Risikokapital) beantragt, in der vorliegenden Rechtssache als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden.
25 Mit Beschlüssen vom 25. Juni 2015 hat der Präsident der Achten Kammer (frühere Besetzung) des Gerichts Prysmian und PrysmianCS als Streithelferinnen zugelassen und angeordnet, ihnen nicht vertrauliche Fassungen der Schriftsätze der Klägerin und der Kommission zu übermitteln. Den Streithilfeantrag der European Private Equity and Venture Capital Association hat er zurückgewiesen.
26 Die Streithelferinnen haben ihren Streithilfeschriftsatz am 29. Oktober 2015 eingereicht. Die Kommission und die Klägerin haben am 14. Januar bzw. 5. Februar 2016 ihre jeweiligen Stellungnahmen zum Streithilfeschriftsatz eingereicht.
27 Mit Beschluss vom 14. September 2016 hat der Präsident der Achten Kammer (frühere Besetzung) des Gerichts den Anträgen der Klägerin und der Kommission auf vertrauliche Behandlung, soweit die Streithelferinnen sich dagegen ausgesprochen hatten, teilweise stattgegeben.
28 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts gemäß Art. 27 Abs. 5 der Verfahrensordnung ist die Berichterstatterin der Achten Kammer (neue Besetzung) zugeteilt worden, der die vorliegende Rechtssache deshalb zugewiesen worden ist.
29 Das Gericht (Achte Kammer) hat auf Bericht der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. In der Sitzung vom 28. März 2017 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
30 Die Klägerin beantragt,
–
die Art. 1 bis 4 des angefochtenen Beschlusses ganz oder teilweise für nichtig zu erklären, soweit diese sie betreffen;
–
die in Art. 2 dieses Beschlusses gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
31 Die Kommission, unterstützt durch die Streithelferinnen, beantragt,
–
sämtliche Anträge der Klägerin zurückzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
III. Entscheidungsgründe
32 Die Klägerin beantragt sowohl die teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses als auch die Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße.
A. Zum Antrag auf Nichtigerklärung
33 Die Klägerin stützt ihren Nichtigkeitsantrag auf fünf Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund wirft sie der Kommission vor, dadurch gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen sowie einen Rechts- und offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, dass sie der Klägerin die von den Streithelferinnen begangene Zuwiderhandlung zur Last gelegt habe. Mit dem zweiten Klagegrund rügt sie einen Verstoß gegen Art. 2 dieser Verordnung, die Unzulänglichkeit der Beweise und eine Verletzung der in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht. Mit dem dritten Klagegrund beanstandet sie einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung sowie eine Verletzung der Grundsätze der persönlichen Verantwortlichkeit und der Unschuldsvermutung. Mit dem vierten Klagegrund rügt sie einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung sowie einen offensichtlichen Beurteilungsfehler und eine Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der individuellen Zumessung von Strafen. Mit dem fünften Klagegrund macht sie eine Verletzung der Verteidigungsrechte geltend.
1. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie Rechts- und offensichtlicher Beurteilungsfehler
34 Die Klägerin wirft der Kommission vor, sie als Gesamtschuldnerin für die Zahlung der Geldbuße haftbar gemacht zu haben, die wegen der von den Streithelferinnen zwischen dem 29. Juli 2005 und dem 28. Januar 2009 begangenen Zuwiderhandlung verhängt worden sei. Sie wendet sich im Wesentlichen gegen die oben in den Rn. 15 bis 17 dargelegten Feststellungen der Kommission, wonach erstens habe vermutet werden können, dass sie vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007 einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen ausgeübt habe, und zweitens ein solcher Einfluss jedenfalls aus einer Analyse der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen habe hergeleitet werden können, die zwischen ihr und den Streithelferinnen während des ganzen Zeitraums bestanden hätten, in dem sie Beteiligungen an der Prysmian-Gruppe gehalten habe.
35 Der erste Klagegrund zerfällt in drei Teile. Im Rahmen des ersten Teils macht die Klägerin geltend, die Kommission habe einen Rechts- und einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie vermutet habe, dass die Klägerin vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007 einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen tatsächlich ausgeübt habe. Im Rahmen des zweiten Teils rügt sie insoweit einen offensichtlichen Beurteilungsfehler, als die Kommission angenommen habe, dass sie jedenfalls während des gesamten Zeitraum, in dem sie Beteiligungen an den Streithelferinnen gehalten habe, einen bestimmenden Einfluss auf diese ausgeübt habe. Im Rahmen des dritten Teils wirft sie der Kommission vor, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, weil sie im Wesentlichen davon ausgegangen sei, dass sie kein reiner Finanzinvestor gewesen sei.
a)
Zum ersten Teil: Rückgriff auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses während des Zeitraums vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007
36 Die Klägerin trägt zunächst vor, die Kommission habe zu Unrecht einen bestimmenden Einfluss ihrerseits vermutet, denn ihre Beteiligung an Prysmian über die GSCP‑V-Fonds und andere zwischengeschaltete Gesellschaften habe während der überwiegenden Dauer ihrer Investition deutlich unter 100 % gelegen. Abgesehen von 41 Tagen habe ihre Beteiligung an Prysmian bis zum 3. Mai 2007, als die Anteile an Prysmian im Zuge einer Erstemission an der Mailänder Börse notiert worden seien (im Folgenden: Zeitpunkt des Börsengangs), nur zwischen 91,1 % und 84,4 % betragen. Die Kommission habe die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zuvor nie in einem Fall angewandt, in dem die effektive Beteiligung am Kapital unter 93 % gelegen habe.
37 Die Klägerin ist sodann der Ansicht, die Kommission habe die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu Unrecht auf die mit den Prysmian-Aktien verbundenen Stimmrechte gestützt, anstatt auf die Beteiligung am Kapital dieser Gesellschaft abzustellen. Dabei handle es sich um einen in ihrer Beschlusspraxis neuartigen Ansatz, der in der Rechtsprechung der Unionsgerichte keine Stütze finde. Außerdem sei die Verfügung über 100 % der mit den Aktien einer Gesellschaft verbundenen Stimmrechte nicht dasselbe wie der Besitz von 100 % des Kapitals dieser Gesellschaft.
38 Im Übrigen wirft die Klägerin der Kommission vor, nicht genügend berücksichtigt zu haben, dass sie Anteile an Prysmian zum einen an die Apollo Investment Corp. (im Folgenden: Apollo) und zum anderen an das Managementteam von Prysmian übertragen habe. Diese Übertragungen machten im Wesentlichen deutlich, dass sie entgegen der von der Kommission im angefochtenen Beschluss vertretenen Ansicht nicht in der Lage gewesen sei, die mit den Prysmian-Aktien verbundenen Stimmrechte zu 100 % auszuüben.
39 Schließlich meint die Klägerin, selbst wenn unterstellt werde, dass die Kommission sich ihr gegenüber für die Zeit vor dem Börsengang auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses habe stützen können, habe sie doch hinreichende Beweise beigebracht, um diese Vermutung zu widerlegen.
40 Die Kommission und die Streithelferinnen treten diesem Vorbringen entgegen.
41 Mit dem ersten Teil des ersten Klagegrundes bringt die Klägerin im Kern zwei Rügen vor: Zum einen habe sich die Kommission zu Unrecht auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses gestützt, um sie als Gesamtschuldnerin für die Zahlung der Geldbuße haftbar zu machen, die wegen der von ihren Tochtergesellschaften zwischen dem 29. Juli 2005 und dem Zeitpunkt des Börsengangs begangenen Zuwiderhandlung verhängt worden sei; zum anderen habe die Kommission zu Unrecht angenommen, dass es ihr nicht gelungen sei, diese Vermutung zu widerlegen.
1) Zur ersten Rüge: Rückgriff auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses während des Zeitraums vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007
42 Nach ständiger Rechtsprechung kann einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die zwischen beiden Rechtssubjekten bestehen (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Dies liegt darin begründet, dass in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV bilden. Weil eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft ein Unternehmen im Sinne dieser Bestimmung bilden, kann die Kommission demnach eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 In dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, kann nach ständiger Rechtsprechung diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben und besteht eine widerlegliche Vermutung, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Unter diesen Umständen genügt es, dass die Kommission nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, um anzunehmen, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieses Tochterunternehmens ausübt. Die Kommission kann in der Folge dem Mutterunternehmen als Gesamtschuldner die Haftung für die Zahlung der gegen dessen Tochterunternehmen verhängten Geldbuße zuweisen, sofern die vom Mutterunternehmen, dem es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, vorgelegten Beweise nicht für den Nachweis ausreichen, dass sein Tochterunternehmen auf dem Markt eigenständig auftritt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Schließlich besteht in dem besonderen Fall, dass eine Gesellschaft das gesamte Kapital einer Zwischengesellschaft hält, die ihrerseits sämtliche Anteile einer Tochtergesellschaft ihres Konzerns besitzt, die eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Union begangen hat, ebenfalls eine widerlegbare Vermutung, dass diese Gesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten der Zwischengesellschaft und mittelbar durch diese auch auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2013, Eni/Kommission, C‑508/11 P, EU:C:2013:289, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Kommission auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zurückgegriffen hat, obwohl die Klägerin nicht während des gesamten Zeitraums vom 29. Juli 2005 bis zum Zeitpunkt des Börsengangs 100 % des Kapitals von Prysmian gehalten hatte. Es ist nämlich unbestritten, dass ausweislich der Erwägungsgründe 739 bis 747 des angefochtenen Beschlusses die Klägerin an diesem Kapital zwar ursprünglich zu 100 % beteiligt war, dass die Höhe dieser Beteiligung aber kurze Zeit später infolge der Übertragung von Anteilen an Apollo vom 7. September 2005 und an das Managementteam von Prysmian vom 21. Juli 2006 allmählich abnahm. Die Klägerin weist in ihren Schriftsätzen daher zu Recht darauf hin, dass ihre Beteiligung an diesem Kapital vor dem Zeitpunkt des Börsengangs abgesehen von 41 Tagen zwischen 91,1 % und 84,4 % lag.
48 Wie sich aus den Erwägungsgründen 748 bis 754 des angefochtenen Beschlusses ergibt, hat die Kommission den Rückgriff auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses jedoch nicht auf den Umfang der klägerischen Beteiligung am Kapital von Prysmian, sondern darauf gestützt, dass die Klägerin trotz der Veräußerung einiger Anteile die mit den Prysmian-Aktien verbundenen Stimmrechte zu 100 % kontrollierte, was ihr nach Ansicht der Kommission eine Stellung verschaffte, die derjenigen eines alleinigen und ausschließlichen Anteilseigners der Prysmian-Gruppe gleichkam.
49 Was in diesem Zusammenhang erstens die Frage betrifft, ob die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses unter diesen Umständen herangezogen werden konnte, ist zu beachten, dass die Kommission nach ständiger Rechtsprechung auf diese Vermutung zurückgreifen darf, wenn sich die Muttergesellschaft bezüglich ihrer Möglichkeit der bestimmenden Einflussnahme auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft in einer ähnlichen Lage wie der ausschließliche Anteilseigner befindet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2011, Total und Elf Aquitaine/Kommission, T‑206/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:250, Rn. 56, vom 12. Dezember 2014, Repsol Lubricantes y Especialidades u. a./Kommission, T‑562/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:1078, Rn. 42, und vom 15. Juli 2015, Socitrel und Companhia Previdente/Kommission, T‑413/10 und T‑414/10, EU:T:2015:500, Rn. 204).
50 Deshalb ist festzustellen, wie die Kommission im 754. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses im Kern darlegt, dass eine Muttergesellschaft – die über alle Stimmrechte aus den Aktien ihrer Tochtergesellschaft verfügt, vor allem wenn dies wie im vorliegenden Fall mit einer starken Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Tochtergesellschaft verbunden ist – sich in einer ähnlichen Lage wie der ausschließliche Anteilseigner dieser Tochtergesellschaft befindet, so dass die Muttergesellschaft über die Wirtschafts- und Handelsstrategie der Tochtergesellschaft auch dann bestimmen kann, wenn sie nicht deren gesamtes oder nahezu gesamtes Gesellschaftskapital hält.
51 Im Übrigen beruht die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses im Wesentlichen auf der Prämisse, wonach die Kommission aus dem Umstand, dass eine Muttergesellschaft 100 % oder nahezu 100 % am Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält, ohne die Vorlage weiterer Beweise den Schluss ziehen darf, dass diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Tochtergesellschaft ausüben kann und die Interessen anderer Anteilseigner weder bei strategischen Entscheidungen noch im Tagesgeschäft der Tochtergesellschaft zu berücksichtigen braucht, die ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern in Übereinstimmung mit den Wünschen ihrer Muttergesellschaft handelt (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:262, Nr. 73).
52 Diese Erwägungen gelten in vollem Umfang für den Fall, dass eine Muttergesellschaft sämtliche mit den Aktien ihrer Tochtergesellschaft verbundenen Stimmrechte ausüben kann, denn diese Muttergesellschaft ist in der Lage, das Verhalten der Tochtergesellschaft vollständig zu kontrollieren, ohne dass Dritte, insbesondere andere Anteilseigner, sich dem grundsätzlich widersetzen könnten. Zwar ist nicht auszuschließen, dass Minderheitsaktionäre, die über keine Stimmrechte aus den Aktien der Tochtergesellschaft verfügen, dieser gegenüber in gewissen Fällen bestimmte Rechte geltend machen können, aufgrund deren gegebenenfalls auch sie in der Lage sind, das Verhalten der Tochtergesellschaft zu beeinflussen. In diesen Fällen kann die Muttergesellschaft jedoch die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses widerlegen, indem sie Beweismittel beibringt, aus denen sich ergibt, dass sie nicht über die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft auf dem Markt bestimmt.
53 Was zweitens die Frage anbelangt, ob sich die Klägerin in einer derartigen Situation befindet, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 751 bis 754 des angefochtenen Beschlusses darlegt, aus welchen Gründen die zwischen der Klägerin und Prysmian vom 29. Juli 2005 bis zum Zeitpunkt des Börsengangs bestehende Beziehung nach ihrer Ansicht dem Fall einer Muttergesellschaft entsprach, die zu 100 % am Kapital ihrer Tochtergesellschaft beteiligt war. Sie führt im Wesentlichen aus, die beiden von der Klägerin vorgenommenen Veräußerungen von Prysmian-Anteilen an Apollo und an das Prysmian-Managementteam seien unter Bedingungen erfolgt, die gewährleistet hätten, dass die neuen Anteilseigner auf die Funktion rein passiver Anleger beschränkt geblieben seien und von keinen potenziellen Aktionärsrechten Gebrauch gemacht hätten.
54 Die Klägerin macht geltend, die von Apollo und vom Prysmian-Managementteam getätigten Investitionen seien nicht rein passiv gewesen und auch nicht mit einem zu ihren Gunsten erklärten Verzicht auf die Ausübung der Stimmrechte aus den Prysmian-Aktien verbunden gewesen. Außerdem habe die Kommission die beiden von der Klägerin vorgenommenen Anteilsveräußerungen an Apollo und an das Prysmian-Managementteam in ihrer Analyse „vergessen“.
55 Was erstens die von der Klägerin vorgenommene Veräußerung von Prysmian-Anteilen an Apollo betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Veräußerung nach dem 751. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses über die Gründung einer Kommanditgesellschaft, der GS Prysmian Co‑Invest LP, erfolgte, wobei Apollo lediglich Kommanditistin war. Die Klägerin beanstandet diese Feststellung der Kommission im Übrigen nicht. Insbesondere heißt es in dem in Fn. 1115 des angefochtenen Beschlusses wiedergegebenen Abschnitt 5.7 der Kauf- und Verkaufsvereinbarung zwischen den GSCP‑V-Fonds und Apollo vom 7. September 2005:
„[vertraulich] (1 )“ (Hervorhebung im angefochtenen Beschluss).
56 Aus der vorstehenden Rn. 55 ergibt sich, dass Apollo aufgrund der Kauf- und Verkaufsvereinbarung anerkannt hat, [vertraulich].
57 Die Kommission konnte daher zu Recht davon ausgehen, dass die Veräußerung von Prysmian-Anteilen durch die Klägerin an Apollo unter Bedingungen vorgenommen wurde, die gewährleisteten, dass der neue Anteilseigner auf die Funktion eines rein passiven Anlegers beschränkt bleiben würde.
58 Diese Schlussfolgerung kann nicht durch das Vorbringen in Frage gestellt werden, mit dem die Klägerin geltend macht, die Kommission dürfe sich nicht nur auf den formalen Wortlaut der Kauf- und Verkaufsvereinbarung zwischen den GSCP‑V-Fonds und Apollo vom 7. September 2005 stützen, der die nach der Veräußerung von Prysmian-Anteilen durch die Klägerin an Apollo entstandene wahre Situation unberücksichtigt lasse. Wie die Kommission nämlich bemerkt, legt die Klägerin keinen Beweis dafür vor, dass diese Vereinbarung, insbesondere ihr Abschnitt 5.7, nicht der Realität der zwischen diesem Fonds und Apollo bestehenden Beziehungen entsprochen hätte.
59 Zurückzuweisen ist auch das Argument der Klägerin, im Wortlaut der Kauf- und Verkaufsvereinbarung zwischen den GSCP‑V-Fonds und Apollo vom 7. September 2005 sei nur das Risiko zum Ausdruck gekommen, zu dessen Übernahme Apollo im Rahmen ihrer Investition bereit gewesen sei. Insoweit genügt der Hinweis, dass die Gründe, die den Abschluss dieser Vereinbarung veranlasst haben, keine Rolle bei der Prüfung spielen, ob es der Klägerin nach ihrer Veräußerung von Prysmian-Anteilen an Apollo weiterhin möglich war, sämtliche mit diesen Anteilen verbundenen Stimmrechte auszuüben.
60 Schließlich kann die Klägerin auch mit ihrem Vorbringen keinen Erfolg haben, wonach die steigende Zahl der Anteilseigner bei Prysmian als solche bedeute, dass es andere Interessen gebe, die innerhalb des Unternehmens zu berücksichtigen seien. Die Klägerin macht nämlich in Bezug auf die von Apollo getätigten Investitionen keine Angaben zur Art dieser Interessen oder dazu, wie sie in einem Kontext, in dem Apollo keinerlei Stimmrecht zustand, zum Ausdruck kommen könnten.
61 Was zweitens die Veräußerung von Prysmian-Anteilen durch die Klägerin an das Managementteam dieser Gesellschaft betrifft, ergibt sich aus dem 752. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass diese Veräußerung mit mehreren Bedingungen versehen war, die in einem Vertrag über Ko‑Investitionen und in einer Treuhändervereinbarung mit einer Drittbank enthalten waren und die das Managementteam annehmen musste. Mit diesen Verträgen erklärten die Manager vor allem ihre Zustimmung dazu, dass ihre jeweiligen Beteiligungen über diese Bank als Treuhänderin erworben und verwaltet wurden. Weiter geht aus diesen Verträgen im Wesentlichen hervor, dass die Manager die ihnen durch die Veräußerung übertragenen Rechte nur über die Treuhänderin wahrnehmen konnten, die ihrerseits an den Hauptversammlungen von Prysmian erst teilnehmen durfte, nachdem die GSCP‑V-Fonds ihr Anweisungen für ihr Abstimmungsverhalten erteilt hatten.
62 Die Klägerin trägt zu ihrer Veräußerung von Prysmian-Anteilen an das Prysmian-Managementteam vor, bei den betroffenen Personen habe es sich um Mitglieder des Vorstands von Prysmian oder von PrysmianCS gehandelt. Die Manager hätten daher einen Einfluss auf Prysmian ausüben können, und da sie für die Geschäftspolitik der Gruppe verantwortlich gewesen seien, hätten sie nicht als rein passive Anleger behandelt werden dürfen. Zudem sei diese Veräußerung Teil einer als Anreiz für das Managementteam konzipierten Regelung zur Förderung des Unternehmenswachstums gewesen.
63 Durch diese Argumentation können die Feststellungen der Kommission im 752. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses jedoch nicht entkräftet werden. Denn zum einen waren die Vorstandsmitglieder von Prysmian, da sie keine Stimmrechte aus Prysmian-Aktien ausüben durften, entgegen dem Vorbringen der Klägerin keine Anteilseigner, deren Interessen von der Muttergesellschaft berücksichtigt werden mussten. Unter diesen Umständen erbringt die Klägerin nicht den Beweis, dass sich die Stellung eines Vorstandsmitglieds in diesem Fall von derjenigen eines Vorstandsmitglieds einer Tochtergesellschaft unterscheidet, deren Anteile vollständig von der Muttergesellschaft gehalten werden. Zum anderen hing die Steigerung der Motivation dieser Vorstandsmitglieder von Prysmian nicht davon ab, dass sie die Möglichkeit hatten, diese Stimmrechte auszuüben, und wies daher keinen Zusammenhang mit den Bestimmungen des Vertrags über Ko‑Investitionen und der Treuhändervereinbarung auf, die diesem Vorstand ausdrücklich die Ausübung aller einem Anteilseigner formell zustehenden Rechte untersagte.
64 Die Kommission konnte somit zu Recht davon ausgehen, dass die von der Klägerin vorgenommenen Übertragungen von Prysmian-Anteilen an Apollo und das Prysmian-Managementteam eine rein passive Funktion hatten und deshalb mit einem Verzicht auf die Ausübung der Stimmrechte aus den Prysmian-Aktien zugunsten der Klägerin verbunden waren, so dass Letztere weiterhin über 100 % dieser Stimmrechte verfügte.
65 Soweit die Klägerin der Kommission drittens insoweit einen Begründungsmangel vorwirft, als sie die von der Klägerin vollzogenen Anteilsveräußerungen an Apollo und an das Prysmian-Managementteam in ihrer Analyse „vergessen“ habe, genügt der Hinweis, dass die Erklärungen in den Erwägungsgründen 751 bis 754 des angefochtenen Beschlusses ganz offensichtlich eine umfassende Begründung darstellen, die im Sinne der ständigen Rechtsprechung dafür ausreichen, dass die Klägerin die Bedeutung der von der Kommission vorgenommenen Beurteilung erkennen und das Gericht diese Beurteilung kontrollieren kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, EU:C:2011:620, Rn. 147 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Nach alledem war die der Klägerin eröffnete Möglichkeit, einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen auszuüben, weil sie von sämtlichen Stimmrechten aus den Prysmian-Aktien Gebrauch machen konnte, unter den Umständen des vorliegenden Falles mit der Möglichkeit vergleichbar, über die sie als alleiniger und ausschließlicher Anteilseigner verfügt hätte.
67 Es ist folglich nach eingehender Prüfung – und da die Klägerin die Feststellung der Kommission, wonach Prysmian einen bestimmenden Einfluss auf PrysmianCS ausübte, nicht bestreitet – davon auszugehen, dass die Kommission, ohne einen Fehler zu begehen, der Klägerin gegenüber auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses für den Zeitraum vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007 zurückgreifen konnte.
68 Die im Rahmen des ersten Teils vorgebrachte erste Rüge ist somit zurückzuweisen.
2) Zur zweiten Rüge: Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses
69 Die Klägerin meint, sie habe – selbst wenn unterstellt werde, dass die Kommission die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zweckmäßig und angemessen angewendet habe – diese Vermutung jedenfalls im Verwaltungsverfahren widerlegt. Zahlreiche Beweismittel deuteten darauf hin, dass sich die Streithelferinnen ohne Anweisungen seitens der Klägerin auf dem Markt autonom verhalten hätten.
70 Die Klägerin macht erstens geltend, im angefochtenen Beschluss sei nicht dargetan worden, dass die Manager der Principal Investment Area [Hauptinvestitionsbereich] ihrer Abteilung „Merchant Banking“ (im Folgenden: PIA), von denen die GSCP‑V-Fonds kontrolliert worden seien, einen Einfluss auf die Geschäftspolitik der Streithelferinnen ausgeübt hätten. Die Sitzungsprotokolle des Vorstands von Prysmian belegten, dass das Prysmian-Managementteam diese Politik bestimmt habe.
71 Dazu ist mit der Kommission festzustellen, dass die Klägerin ihr Vorbringen im Rahmen dieser Rüge weder auf eine einschlägige E‑Mail noch auf ein spezielles Protokoll stützt. Wie sich aber aus der oben in Rn. 45 zitierten Rechtsprechung ergibt, obliegt es der Klägerin, wenn sie den Rückgriff auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses widerlegen will, Beweise vorzulegen, aus denen sich ergibt, dass die Streithelferinnen ihre Geschäftspolitik in Wahrheit und entgegen der Vermutung der Kommission eigenständig bestimmten. Daher ist das erste Argument der Klägerin zu verwerfen.
72 Die Klägerin beruft sich zweitens auf öffentliche Erklärungen der Vorstandsmitglieder von Prysmian, u. a. auf eine Erklärung anlässlich ihrer Sitzung vom 15. Dezember 2005, in der es heiße, dass Prysmian „nicht der Leitung und Koordinierung eines anderen Unternehmens unterworfen“ gewesen sei. Wenn die Streithelferinnen tatsächlich von ihr kontrolliert worden wären, hätte sie dies nach italienischem Recht öffentlich anzeigen müssen.
73 Es ist jedoch zum einen festzustellen, dass die öffentlichen Erklärungen, die die Vorstandsmitglieder von Prysmian bei ihren Sitzungen möglicherweise abgegeben haben, als solche nicht belegen können, dass sie inhaltlich der Wahrheit entsprechen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin keinen Beweis vorlegt, der die Wahrheit dieser öffentlichen Erklärungen bestätigen würde.
74 Zum anderen kann der Umstand, dass diese Erklärungen, wie die Klägerin behauptet, im Einklang mit dem italienischen Recht abgegeben wurden, kein Beweis dafür sein, dass die Klägerin nicht in Wirklichkeit die Muttergesellschaft war, unter deren Kontrolle die Prysmian-Gruppe stand. Wie die Kommission darlegt, muss die Ausübung eines bestimmenden Einflusses aufgrund konkreter Beweismittel beurteilt werden, so dass sich die Frage, ob eine Tochtergesellschaft über ihr Marktverhalten autonom entscheiden kann oder vielmehr unter dem bestimmenden Einfluss ihrer Muttergesellschaft steht, nicht nur anhand des einschlägigen nationalen Rechts beantworten lässt.
75 Die Klägerin beruft sich drittens auf die Antwort der Streithelferinnen vom 20. Oktober 2009 auf das Auskunftsersuchen der Kommission und insbesondere darauf, dass dieses Dokument keinen Hinweis auf sie enthält. Der bloße Umstand, dass in diesem Dokument kein Hinweis auf die Klägerin zu finden ist, beweist jedoch ebenfalls nicht, dass diese insbesondere vor dem Zeitpunkt des Börsengangs keinen Einfluss auf die Streithelferinnen ausgeübt hätte.
76 Die Klägerin trägt viertens vor, sie habe in geschäftlichen Angelegenheiten der Prysmian-Gruppe weder Anweisungen erteilt noch unmittelbare Kontrollen ausgeübt. In diesem Zusammenhang legt sie eine kurze „Zusammenfassung“ mehrerer Argumente vor, auf die im Rahmen des zweiten Teils des ersten Klagegrundes „im Einzelnen“ näher eingegangen werden soll. Eine solche Verweisung ermöglicht dem Gericht im vorliegenden Fall jedoch nicht, den Inhalt dieser Argumente genau zu erfassen. Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sich die Klägerin stützt, in der Klageschrift angeführt sind, doch muss die Klägerin sie auch kohärent und verständlich darstellen. Insbesondere ist es nicht Aufgabe des Gerichts, sämtliche zur Stützung des zweiten Teils des ersten Klagegrundes vorgebrachten Umstände daraufhin zu prüfen, ob sie auch zur Stützung des vorliegenden Vorbringens verwendet werden könnten (Urteil vom 27. September 2006, Roquette Frères/Kommission, T‑322/01, EU:T:2006:267, Rn. 209). Diese Argumentation ist deshalb unbeschadet ihrer näheren Prüfung im Rahmen des zweiten Teils des ersten Klagegrundes als unzulässig zurückzuweisen.
77 Nach alledem konnte die Klägerin entgegen ihrem Vorbringen die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses nicht mit Beweismitteln widerlegen, durch die ein autonomes Marktverhalten der Streithelferinnen hinreichend belegt würde.
78 Die im Rahmen des ersten Teils vorgebrachte zweite Rüge ist somit ebenso wie dieser Teil insgesamt zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil: Schlussfolgerungen der Kommission in Bezug auf den Zeitraum vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009
79 Die Klägerin macht geltend, die Beweismittel, auf die sich die Kommission im angefochtenen Beschluss stütze, um sie als Gesamtschuldnerin für die Zahlung der Geldbuße haftbar zu machen, die gegen ihre Tochtergesellschaften für den gesamten Zeitraum der Zuwiderhandlung verhängt worden sei, belegten nicht, dass sie in der Lage gewesen wäre, einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen auszuüben, oder dass sie einen solchen tatsächlich ausgeübt hätte. Sie ist im Kern der Ansicht, die Kommission habe rechtlich nicht hinreichend dargetan, dass die Streithelferinnen und sie eine wirtschaftliche Einheit im Sinne der Rechtsprechung gebildet hätten.
80 Die Kommission und die Streithelferinnen treten diesem Vorbringen entgegen.
81 Wie aus der oben in Rn. 42 zitierten Rechtsprechung hervorgeht, kann einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die zwischen beiden Rechtssubjekten bestehen.
82 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Prüfung der Frage, ob eine Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten autonom bestimmt, sämtliche im Zusammenhang mit ihren wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbindungen zur Muttergesellschaft relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die von Fall zu Fall variieren und daher nicht abschließend aufgezählt werden können (vgl. Urteile vom 14. September 2016, Ori Martin und SLM/Kommission, C‑490/15 P und C‑505/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:678, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 9. September 2015, Philips/Kommission, T‑92/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:605, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
83 Wenn eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft zu einem einzigen Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV gehören, ergibt sich die Befugnis der Kommission, den Beschluss, mit dem Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft zu richten, nicht erst aus einer Anstiftung zur Zuwiderhandlung im Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft und schon gar nicht aus einer Beteiligung der Muttergesellschaft an dieser Zuwiderhandlung, sondern aus dem Umstand, dass die betroffenen Gesellschaften ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen (vgl. Urteil vom 14. September 2016, Ori Martin und SLM/Kommission, C‑490/15 P und C‑505/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:678, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, um das Verhalten einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zuzurechnen, sich nicht auf die Feststellung beschränken kann, die Muttergesellschaft sei in der Lage, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft auszuüben, sondern auch prüfen muss, ob sie diesen Einfluss tatsächlich ausgeübt hat (vgl. Urteile vom 26. September 2013, EI du Pont de Nemours/Kommission, C‑172/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:601, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 26. September 2013, The Dow Chemical Company/Kommission, C‑179/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:605, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 9. September 2015, Toshiba/Kommission, T‑104/13, EU:T:2015:610, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 Da das Gericht nach Art. 263 AEUV nur die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses auf der Grundlage der darin enthaltenen Gründe überprüft, ist die tatsächliche Ausübung einer Leitungsbefugnis der Muttergesellschaft gegenüber ihrer Tochtergesellschaft allein nach den Beweisen zu beurteilen, die von der Kommission in dem Beschluss, der der Muttergesellschaft die Zuwiderhandlung zurechnet, dargelegt werden. Daher kommt es allein darauf an, ob angesichts dieser Beweise die Zuwiderhandlung bewiesen worden ist oder nicht (vgl. Urteil vom 9. September 2015, Toshiba/Kommission, T‑104/13, EU:T:2015:610, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Die Kommission stützt ihre Schlussfolgerung, dass die Klägerin einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen ausgeübt habe, im angefochtenen Beschluss auf nach ihrer Ansicht objektive Faktoren im Zusammenhang mit den zwischen der Klägerin und der Prysmian-Gruppe bestehenden wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen. Diese in den Erwägungsgründen 758 bis 781 dieses Beschlusses beschriebenen objektiven Faktoren sind erstens die Befugnis, die Mitglieder der verschiedenen Vorstände von Prysmian zu ernennen, zweitens die Befugnis, die Anteilseigner zu den Hauptversammlungen einzuberufen und die Abberufung einzelner Vorstandsmitglieder oder ganzer Vorstände vorzuschlagen, drittens die tatsächliche Vertretung der Klägerin im Vorstand von Prysmian, viertens die Geschäftsführungsbefugnisse der Vorstandsvertreter der Klägerin, fünftens die wichtige Rolle der Klägerin in den von Prysmian eingerichteten Ausschüssen, sechstens der Erhalt regelmäßiger Aktualisierungen und Monatsberichte, siebtens die Maßnahmen zur Sicherung des Fortbestehens der entscheidenden Kontrolle nach dem Zeitpunkt des Börsengangs und achtens der Beweis für das typische Verhalten eines industriellen Eigentümers.
87 Nach Ansicht der Kommission belegen die in der vorstehenden Rn. 86 genannten ersten sechs objektiven Faktoren, dass die Klägerin einen bestimmenden Einfluss sowohl während des gesamten Zeitraums vor dem Börsengang als auch während des darauffolgenden Zeitraums ausgeübt habe. Dagegen betreffen die beiden letzten Faktoren nur diesen letzteren Zeitraum. Obwohl das Gericht bereits festgestellt hat, dass die Kommission für den Zeitraum vor dem Börsengang zu Recht auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zurückgegriffen hatte und dass die Klägerin diese Vermutung nicht hatte widerlegen können, sind in diesem Zusammenhang alle von der Kommission im angefochtenen Beschluss genannten Faktoren zu prüfen, da diese auch für den Zeitraum nach dem Börsengang gelten.
88 Folglich ist die Begründetheit jedes einzelnen der von der Kommission herangezogenen Faktoren unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens zu prüfen, wobei insbesondere im Einklang mit der oben in den Rn. 81 bis 85 zitierten Rechtsprechung festgestellt werden muss, ob diese Faktoren zusammengenommen sowohl die Fähigkeit der Klägerin zur Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf das Marktverhalten der Streithelferinnen als auch die tatsächliche Ausübung dieses Einflusses belegen können.
1) Zur Befugnis, die Mitglieder der verschiedenen Vorstände von Prysmian zu ernennen, sowie zur Befugnis, die Anteilseigner zu den Hauptversammlungen einzuberufen und die Abberufung einzelner Vorstandsmitglieder oder ganzer Vorstände vorzuschlagen
89 In den Erwägungsgründen 758 bis 760 des angefochtenen Beschlusses legt die Kommission dar, dass die Klägerin über die Befugnis verfügt habe, die Mitglieder des Vorstands von Prysmian zu ernennen und dass sie von dieser Befugnis während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung Gebrauch gemacht habe. Die Klägerin sei auch befugt gewesen, die Anteilseigner zu den Hauptversammlungen einzuberufen und auf diesen Versammlungen die Abberufung einzelner Vorstandsmitglieder oder des ganzen Vorstands vorzuschlagen.
90 Die Klägerin bestreitet nicht die Feststellungen im angefochtenen Beschluss, mit denen ihre Befugnis zur Ernennung der Vorstandsmitglieder von Prysmian sowie ihre Befugnis zur Einberufung der Anteilseigner zu den Hauptversammlungen und zur Abberufung einzelner Vorstandsmitglieder oder des ganzen Vorstands dargetan wird. Wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, bestreitet sie auch nicht die Feststellungen der Kommission zur konkreten Zusammensetzung der verschiedenen Prysmian-Vorstände während des Zeitraums der Zuwiderhandlung. Dagegen macht sie geltend, trotz dieser Befugnisse habe sie weder eine tatsächliche Kontrolle über den Vorstand ausüben noch so die Geschäftspolitik von Prysmian entscheidend beeinflussen können. Die Kommission habe nicht die Ausübung einer solchen tatsächlichen Kontrolle durch die Klägerin bewiesen.
91 Was erstens die Fähigkeit der Klägerin anbelangt, einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen auszuüben, ist festzustellen, dass die Möglichkeit, über die Zusammensetzung des Vorstands einer Gesellschaft zu entscheiden, einen objektiven Faktor darstellt, der als solcher für die Fähigkeit ausschlaggebend ist, die Beschlüsse zu kontrollieren, die von diesem Vorstand und somit von der betreffenden Gesellschaft getroffen werden können. Der Vorstand ist nämlich definitionsgemäß das mit der Verwaltung und Vertretung der Gesellschaft betraute Organ, dessen Aufgaben u. a. darin bestehen, die Geschäftspolitik der fraglichen Gesellschaft zu definieren und zu kontrollieren sowie deren Manager auszuwählen. Was insbesondere Prysmian betrifft, lässt die Feststellung der Kommission, wonach die Klägerin sämtliche Mitglieder der verschiedenen Vorstände dieser Gesellschaft – wenngleich mittelbar über die GSCP‑V-Fonds – ernennen durfte, den Schluss zu, dass die Klägerin über die Fähigkeit verfügte, diese Vorstände sowie die Beschlüsse, die sie in Erfüllung ihrer Aufgaben treffen mussten, zu kontrollieren.
92 Was zweitens die Frage betrifft, ob die Klägerin diese Kontrolle tatsächlich ausgeübt hat, ist im Einklang mit dem 759. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses und mit den bei der Prüfung des ersten Teils dieses Klagegrundes getroffenen Feststellungen darauf hinzuweisen, dass die Klägerin während des Zeitraums vor dem Börsengang die mit den Prysmian-Aktien verbundenen Stimmrechte vollständig kontrollierte und bis November 2007 auch über eine absolute Mehrheit in der Hauptversammlung der Aktionäre verfügte. Die Klägerin ernannte auf diese Weise, wie sie in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, alle Vorstandsmitglieder zunächst der Gesellschaften GSCP Athena Srl und GSCP Athena Energia Srl am 9. und 11. Mai 2005, aus denen im Wesentlichen Prysmian bzw. PrysmianCS wurde, und sodann von Prysmian am 15. Dezember 2005 und am 28. Februar 2007.
93 Wie die Kommission außerdem im 759. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses dargelegt hat, wurde der am 28. Februar 2007, d. h. vor dem Börsengang, berufene Vorstand für einen Zeitraum bis zum 31. Dezember 2009 ernannt und blieb nach dem Zeitpunkt des Börsengangs bis zum Ende der Zuwiderhandlung unverändert bestehen. Obwohl die Klägerin während dieses Zeitraums keine vollständige Kontrolle über die Stimmrechte aus den Prysmian-Aktien mehr innehatte, ist der Umstand, dass die Zusammensetzung dieses Vorstands unverändert blieb, ein Indiz dafür, dass die Klägerin den Vorstand weiterhin kontrollierte.
94 Die vorstehenden Erwägungen werden zudem durch die von der Klägerin nicht bestrittene Feststellung der Kommission untermauert, wonach die Klägerin auch befugt war, die Hauptversammlung der Anteilseigner einzuberufen sowie die Abberufung einzelner Vorstandsmitglieder und sogar des gesamten Vorstands vorzuschlagen. Diese Befugnis unterstreicht die Fähigkeit der Klägerin, eine Kontrolle über die aufeinanderfolgenden Vorstände von Prysmian und über die Beschlüsse auszuüben, die von diesen getroffen werden konnten. Zwar fand, wie die Klägerin bemerkt, die einzige von der Kommission festgestellte Abberufung der Vorstandsmitglieder von Prysmian ausweislich des 760. Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses am 9. April 2009 statt, d. h. nach dem Zeitraum der Zuwiderhandlung. Wie die Kommission ausführt, besteht jedoch kein Grund, warum Ereignisse, die nach der formellen Beendigung einer Zuwiderhandlung eingetreten sind, angesichts ihrer Bedeutung nicht als Indizien für die Beurteilung von Ereignissen aus der Zeit der Zuwiderhandlung berücksichtigt werden sollten. Außerdem standen der Klägerin dieselben Befugnisse während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung zu.
95 Die Kommission konnte sich daher zu Recht auf die Befugnis der Klägerin, die Mitglieder des Prysmian-Vorstands zu ernennen, sowie auf ihre Befugnis, die Abberufung dieser Mitglieder vorzuschlagen, als objektive Faktoren stützen, um darzutun, dass die Klägerin über die Fähigkeit zur Kontrolle dieses Vorstands verfügte und ihn auch tatsächlich kontrollierte.
96 Die Klägerin ist jedoch der Meinung, ihre Befugnisse, die Mitglieder des Prysmian-Vorstands zu ernennen und deren Abberufung vorzuschlagen, seien keine objektiven Faktoren, mit denen dargetan werden könne, dass sie diesen Vorstand tatsächlich kontrolliert habe. Sie macht erstens geltend, die Kommission hätte zusätzlich dartun müssen, wie die Klägerin eine solche Kontrolle über die Mitglieder der Vorstände von Prysmian konkret ausgeübt habe. Sie beruft sich insoweit auf das Urteil vom 6. März 2012, FLS Plast/Kommission (T‑64/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:102).
97 Dazu ist festzustellen, dass das Urteil vom 6. März 2012, FLS Plast/Kommission (T‑64/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:102), mit dem das Gericht die streitige Entscheidung teilweise für nichtig erklärte, eine Muttergesellschaft betraf, die 60 % des Kapitals der Tochtergesellschaft hielt, während die restlichen 40 % von einer Drittgesellschaft gehalten wurden. Das Gericht entschied zum einen, dass die Ausübung einer Kontrolle durch die Muttergesellschaft nicht vermutet werden könne, da auch die Drittgesellschaft mit einem Aktienpaket von 40 % das Verhalten der Tochtergesellschaft beeinflussen könne. Die Kommission musste daher weiterhin nachweisen, dass die fragliche Klägerin einseitig den bestimmenden Einfluss ausübte. Das Gericht entschied zum anderen, die Kommission habe sich nicht zu den Befugnissen der Vertreter der Muttergesellschaft im Vorstand der Tochtergesellschaft geäußert, so dass sie nicht nachgewiesen habe, dass diese Vertreter befugt gewesen wären, für einen Teil des Zeitraums der Zuwiderhandlung eine tatsächliche Kontrolle über den gesamten Vorstand auszuüben (Urteil vom 6. März 2012, FLS Plast/Kommission, T‑64/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:102, Rn. 39 und 43).
98 Der Sachverhalt in der Rechtssache, in der das Urteil vom 6. März 2012, FLS Plast/Kommission (T‑64/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:102), ergangen ist, unterscheidet sich somit vom vorliegenden Fall, in dem die Klägerin alle mit den Prysmian-Aktien verbundenen Stimmrechte in der Zeit vor dem Börsengang ausüben konnte, wobei es auch in der Zeit danach, wie sie in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, keinen anderen Anteilseigner mit einem bedeutenden Beteiligungspaket gab, der das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ebenfalls hätte beeinflussen können. Die Klägerin kann ihr Vorbringen, die Kommission hätte zusätzlich dartun müssen, auf welche Weise sie die Mitglieder der Vorstände von Prysmian konkret einer Kontrolle unterworfen habe, deshalb nicht mit Erfolg auf dieses Urteil stützen.
99 Die Klägerin trägt zweitens vor, die Mitglieder des ersten Prysmian-Vorstands vom 15. Dezember 2005 seien in Wirklichkeit von Herrn B., dem damaligen Geschäftsführer von Pirelli Cavi e Sistemi Energia und späteren Geschäftsführer von Prysmian, ernannt worden.
100 Es ist jedoch festzustellen, dass diese Behauptung, wie sowohl die Kommission als auch die Streithelferinnen hervorheben, durch keinen von der Klägerin vorgelegten Beweis gestützt wird, insbesondere nicht durch die angeführte E‑Mail vom 15. Dezember 2005, und deshalb zurückzuweisen ist. Im Übrigen kann die Klägerin, selbst wenn Herr B. Bewerber für den Vorstand von Prysmian tatsächlich vorgeschlagen haben sollte, nicht behaupten, dass Herr B. und nicht sie selbst diese Bewerber ausgewählt und ernannt hätte. Auch wenn die Klägerin schließlich vorträgt, die Tatsache, dass Herr B. Geschäftsführer von Pirelli Cavi e Sistemi Energia vor deren Erwerb durch die GSCP‑V-Fonds gewesen sei, sei ein Beweis dafür, dass Prysmian sich auf dem Markt nach den Weisungen ihrer Direktion autonom verhalten habe, ist festzustellen, dass es sich bei Herrn B. ausweislich des 781. Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses um das einzige Vorstandsmitglied von Prysmian handelt, das bei Pirelli Cavi e Sistemi Energia vor deren Erwerb durch die GSCP‑V-Fonds tätig gewesen war. Nach der Rechtsprechung ist aber der Umstand, dass eine Gesellschaft beim Erwerb einer anderen Gesellschaft einen Teil von deren Vorstand auswechselt, ein Indiz dafür, dass diese Gesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten der erworbenen Gesellschaft tatsächlich ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. September 2013, CEPSA/Kommission, T‑497/07, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:438, Rn. 176).
101 Die Klägerin macht drittens geltend, der Vorstand von Prysmian habe nur alle drei Monate getagt, wodurch bestätigt werde, dass das Managementteam die Geschäftsführung dieser Gesellschaft kontrolliert habe und nicht deren Vorstand. Eine solche die Regelmäßigkeit oder die Häufigkeit der Vorstandssitzungen betreffende Argumentation kann jedoch nichts daran ändern, dass der Vorstand das Organ ist, das auftragsgemäß über die Zusammensetzung und die Aufgaben des Managements entscheidet. Außerdem hat die Klägerin nichts Konkretes vorgetragen, was belegen könnte, dass das Management, vor allem Herr B. als Geschäftsführer, bei der laufenden Verwaltung der Gesellschaft völlig unabhängig vom Vorstand gewesen wäre, wie die Klägerin behauptet. Das Vorbringen der Klägerin ist somit als unbegründet zurückzuweisen.
102 Daraus folgt, dass die Befugnis zur Ernennung der Vorstandsmitglieder sowie die Befugnis, die Anteilseigner zu den Hauptversammlungen einzuberufen und ihnen die Abberufung der Vorstandsmitglieder vorzuschlagen, objektive Faktoren darstellen, die darauf hinweisen, dass die Klägerin in der Lage war, einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen auszuüben, und dass sie einen solchen Einfluss auch tatsächlich ausgeübt hat.
2) Zur tatsächlichen Vertretung der Klägerin im Vorstand von Prysmian
103 In den Erwägungsgründen 761 und 762 des angefochtenen Beschlusses erklärt die Kommission, die Klägerin habe durch die Ernennung von Vorstandsmitgliedern, die mit ihr verbunden gewesen seien [vertraulich], ihre direkte Vertretung in jedem Prysmian-Vorstand sichergestellt. Diese Vorstandsmitglieder hätten stets mindestens über die Hälfte der Stimmen in den verschiedenen Prysmian-Vorständen verfügt. In einigen Fällen hätten die mit der Klägerin verbundenen Vorstandsmitglieder die ausschlaggebenden Stimmen besessen, was die Klägerin in die Lage versetzt habe, die tatsächliche Kontrolle über die Vorstandsbeschlüsse zu behalten.
104 Die Klägerin bestreitet diese Feststellung unter Hinweis darauf, dass es sich bei den Vorstandsmitgliedern, die die Kommission als ihre Angestellten bezeichnet habe, in Wirklichkeit um Manager der PIA gehandelt habe, die bei einem mit der Klägerin „verbundenen“ Unternehmen, der GS Services Ltd, angestellt gewesen seien. Auch seien die anderen Vorstandsmitglieder unabhängig gewesen, ohne dass die Kommission eine Verletzung ihrer Verpflichtungen zur Unabhängigkeit oder ihrer Treuhänderpflichten nachgewiesen hätte. Schließlich sei sie entgegen den Feststellungen der Kommission im angefochtenen Beschluss niemals durch mindestens die Hälfte der Vorstandsmitglieder von Prysmian vertreten worden.
105 Diese Argumente der Klägerin können jedoch nicht durchdringen. Zum einen ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die Vorstandsmitglieder, die von der Klägerin als bei GS Services angestellte „Manager der PIA“ bezeichnet werden, auch Angestellte der Klägerin waren, denn, wie die Kommission darlegt, [vertraulich].
106 Was zum anderen die Feststellung der Kommission betrifft, wonach die Klägerin während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung Verbindungen zu mindestens der Hälfte der Mitglieder der aufeinanderfolgenden Prysmian-Vorstände aufrechterhalten habe, so waren die Manager der PIA in diesen Vorständen tatsächlich, wie die Klägerin ausführt, vor dem Zeitpunkt des Börsengangs mit höchstens 43 % der Stimmen und nach diesem Zeitpunkt mit höchstens 33 % der Stimmen vertreten. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 761 und 762 des angefochtenen Beschlusses sowie in den jeweiligen dazugehörigen Fußnoten Beweise anführt – die von der Klägerin nicht entkräftet werden konnten –, aus denen sich ergibt, dass Letztere auch zu anderen Mitgliedern der Prysmian-Vorständen Verbindungen unterhielt, insbesondere durch [vertraulich].
107 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass eine wirtschaftliche Einheit zwischen einer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft nicht nur durch förmliche Beziehungen zwischen den beiden, sondern auch informell begründet werden kann, insbesondere aufgrund rein personeller Verflechtungen zwischen den rechtlichen Einheiten, aus denen eine solche wirtschaftliche Einheit besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2013, Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, C‑440/11 P, EU:C:2013:514, Rn. 68).
108 Die Feststellung der Kommission, wonach die Klägerin sicherstellte, dass sie während des gesamten relevanten Zeitraums im Vorstand durch mindestens die Hälfte der Vorstandsmitglieder vertreten war, ist daher begründet, soweit sie auf der Berücksichtigung sowohl der Manager der PIA als auch der Vorstandsmitglieder beruht, zu denen die Klägerin diese anderen Arten an Verbindungen, insbesondere durch [vertraulich], unterhielt. Auch wenn die Klägerin geltend macht, diejenigen Vorstandsmitglieder, zu denen sie diese anderen Arten an Verbindungen unterhalten habe, hätten als unabhängige Vorstandsmitglieder gehandelt, ist weiter festzustellen, dass ein solcher Status, wie sich aus der der Klageschrift beigefügten Antwort der Klägerin auf das Auskunftsersuchen der Kommission vom 13. März 2013 ergibt, allein auf einer Bewertung beruht, die der Vorstand von Prysmian selbst vorgenommen hat. Der bloße Umstand, dass der Vorstand der Ansicht war, einige seiner Mitglieder seien unabhängig, und diese Ansicht sogar in seinen Corporate-Governance-Berichten veröffentlicht hat, worauf die Klägerin hinweist, kann jedoch für sich allein die Feststellung der Kommission nicht erschüttern, wonach diese Vorstandsmitglieder ihre Verbindungen mit der Klägerin tatsächlich nicht beendet haben.
109 Die Kommission konnte sich somit zu Recht auf die tatsächliche Vertretung der Klägerin im Vorstand von Prysmian stützen, um darzutun, dass die Klägerin in der Lage war, einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen auszuüben, und dass sie einen solchen Einfluss auch tatsächlich ausgeübt hat.
3) Zu den Geschäftsführungsbefugnissen der Vertreter der Klägerin im Vorstand
110 Im 763. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erklärt die Kommission, die Klägerin habe auch dafür gesorgt, dass ihre Vertreter im Vorstand mit möglichst umfassenden Geschäftsführungsbefugnissen ausgestattet worden seien. Erstens seien am 15. Dezember 2005 und am 16. Mai 2007 vier Manager der PIA zu „Managing Directors“ von Prysmian ernannt worden, denen Befugnisse zur laufenden Verwaltung von Prysmian, einschließlich der Unterzeichnung von Beschlüssen zur Führung des Tagesgeschäfts, übertragen worden seien. Zweitens seien zwar den Managing Directors am 16. Januar 2007 angesichts des bevorstehenden Börsengangs die Befugnisse entzogen worden, anschließend seien jedoch zwei Manager der PIA in einen aus drei Mitgliedern bestehenden „Strategischen Ausschuss“ berufen worden. Dieser Ausschuss habe zwar kein Stimm- oder Vetorecht besessen, jedoch insoweit eine zentrale Rolle gespielt, als er den Vorstand in strategischen und geschäftlichen Angelegenheiten von Prysmian unterstützt habe. Der Strategische Ausschuss sei schließlich im Mai 2010, unmittelbar nachdem die Klägerin ihre Beteiligung an Prysmian in vollem Umfang veräußert habe, aufgelöst worden.
111 Die Klägerin bestreitet diese Feststellungen der Kommission. Eine unvoreingenommene Prüfung der ihnen zugrunde liegenden Fakten zeige, dass die Managing Directors der PIA vor dem Börsengang überhaupt keine Rolle bei der Geschäftspolitik von Prysmian gespielt hätten. Auch habe der Strategische Ausschuss als ein rein beratendes Organ keine zentrale Rolle bei der Geschäftspolitik von Prysmian gespielt. Im Übrigen gebe es keinen Beweis dafür, dass die Manager der PIA infolge ihrer Zugehörigkeit zu diesem Ausschuss einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik von Prysmian ausgeübt hätten.
112 Was das erste Argument der Klägerin bezüglich des Zeitraums hauptsächlich vor dem Börsengang betrifft, ist zunächst festzustellen, dass die Beweismittel, auf die sich die Kommission im angefochtenen Beschluss, insbesondere in den Fn. 1142 bis 1145, beruft, klar und deutlich zeigen, dass drei der vier zu Managing Directors von Prysmian ernannten Personen Manager der PIA waren.
113 Sodann geht aus den Anlagen zur Klageschrift hervor, dass die Manager der PIA aufgrund der diesen Managing Directors übertragenen Befugnisse im Tagesgeschäft von Prysmian tätig waren. Vor allem entschieden sie u. a. über einen Antrag auf Eröffnung einer Niederlassung in Katar, über Ernennungen zu den Vorständen von Prysmian-Tochtergesellschaften und über Personalfragen bei Prysmian.
114 Unter diesen Umständen ist das Vorbringen der Klägerin, die Manager der PIA hätten vor dem Zeitpunkt des Börsengangs keine Rolle im Geschäftsleben von Prysmian gespielt, zurückzuweisen. Soweit die Klägerin erklärt, dass die fraglichen Entscheidungen zumeist schon vom Prysmian-Vorstand getroffen worden seien, genügt im Übrigen der Hinweis auf die Rechtsprechung, wonach die Tatsache, dass die Muttergesellschaft oder ihre Vertreter entsprechende Vorschläge billigen müssen und somit das Recht haben, dies nicht zu tun und davon abzuweichen, gerade der Beweis für einen bestimmenden Einfluss ist (Urteil vom 13. Dezember 2013, HSE/Kommission, T‑399/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:647, Rn. 84).
115 Was das zweite Argument der Klägerin in Bezug auf den Zeitraum nach dem Börsengang und insbesondere den Strategischen Ausschuss anbelangt, ist zunächst festzustellen, dass die Klägerin nicht bestreitet, dass dieser Ausschuss tatsächlich aus drei Mitgliedern bestand und dass zwei von ihnen Manager der PIA waren. Hinsichtlich der Aufgaben des Ausschusses geht aus den Anlagen zur Klageschrift hervor, dass er förmlich damit betraut war, die Haushaltsplanungen und Investitionsvorhaben von Prysmian zu prüfen sowie deren Finanzierung sicherzustellen und den Vorstand bei seinen Aufgaben zu unterstützen. Speziell aus der Tagesordnung der Ausschusssitzung vom 16. Juli 2008 ergibt sich, dass er Fragen der Geschäftsstrategie, u. a. Investitionen in Brasilien, China, Tunesien, Italien und Russland, erörtert hat.
116 Auch wenn der Strategische Ausschuss keine Entscheidungsbefugnisse besaß, was die Kommission im angefochtenen Beschluss selbst einräumt, kann dies folglich entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht bedeuten, dass er bei der strategischen Entscheidungsfindung innerhalb von Prysmian überhaupt keine Rolle gespielt hätte.
117 Die Klägerin macht gleichwohl geltend, die Manager der PIA hätten im Strategischen Ausschuss mittels kurzer E‑Mails nur begrenzte Ratschläge als Anlageexperten erteilt, und zwar immer auf Initiative und Ersuchen des Vorstands. Diese E‑Mails sind jedoch, wie die Kommission darlegt, der Beweis dafür, dass die Manager der PIA im Zusammenhang mit strategischen Entscheidungen, einschließlich potenzieller Investitionen, planmäßig kontaktiert und in die Entscheidungen über die Geschäftspolitik von Prysmian aktiv einbezogen wurden.
118 Soweit die Klägerin schließlich behauptet, die Zusammensetzung des Strategischen Ausschusses sei von Herrn B. als Geschäftsführer von Prysmian und vom Prysmian-Managementteam festgelegt worden, genügt der Hinweis, dass dieses Vorbringen durch die E‑Mail vom 20. Februar 2007, auf die sie sich beruft, nicht untermauert wird.
119 Die Kommission konnte somit zu Recht davon ausgehen, dass zunächst die Geschäftsführungsbefugnisse der Manager der PIA im Vorstand von Prysmian während des Zeitraums bis zum Börsengang und ihre spätere Rolle im Strategischen Ausschuss nach dem Börsengang zusätzliche objektive Faktoren darstellen, mit denen nachgewiesen werden kann, dass die Klägerin die Fähigkeit hatte, einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten der Streithelferinnen auszuüben, und dass sie einen solchen Einfluss während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung auch tatsächlich ausgeübt hat.
4) Zur Bedeutung der Rolle der Klägerin in den von Prysmian eingerichteten Ausschüssen
120 Im 764. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses führt die Kommission aus, die Manager der PIA hätten auch in anderen am 15. Dezember 2005 eingerichteten Ausschüssen von Prysmian, nämlich dem Vergütungsausschuss und dem internen Kontrollausschuss, eine wichtige Rolle gespielt. Der Erstere habe sich u. a. mit Vergütungsfragen befasst, wobei bis zum 28. Februar 2007 zwei seiner drei Mitglieder Manager der PIA gewesen seien; der Letztere habe Fragen der Konformität u. a. der Buchführung mit den geltenden Rechtsvorschriften behandelt, wobei eines seiner beiden Mitglieder ein Manager der PIA gewesen sei.
121 Die Klägerin räumt ein, dass die Manager der PIA Mitglieder dieser Ausschüsse waren, meint jedoch, dies beweise nicht, dass sie einen bestimmenden Einfluss auf Prysmian ausgeübt habe. Zudem habe vom 28. Februar 2007 an nur ein einziger Manager der PIA an diesen Ausschüssen, insbesondere am Vergütungsausschuss, teilgenommen.
122 Zu dem Vergütungsausschuss ist festzustellen, dass dieser das Entgelt für den Vorstand der Tochtergesellschaft festlegen konnte, weshalb der Umstand, dass die Manager der PIA in diesem Ausschuss während des Zeitraums vor dem Börsengang mehrheitlich vertreten waren, tatsächlich als Nachweis dafür dienen kann, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausgeübt hat. Die Kommission kann diesen Umstand jedoch nicht als Indiz für einen bestimmenden Einfluss auch nach dem Börsengang werten, da in dieser Zeit nur eines der drei Ausschussmitglieder ein Manager der PIA war.
123 In Bezug auf den internen Kontrollausschuss ist die Argumentation der Kommission ebenfalls nicht stichhaltig. Da dieser Ausschuss im vorliegenden Fall nur Aufgaben wie die Kontrolle und Überprüfung der Buchführung und die Hilfe bei der Erstellung der Bilanzen erfüllte, kann nicht festgestellt werden, dass es der Klägerin dadurch ermöglicht worden wäre, die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaft zu kontrollieren. Außerdem war ab dem 28. Februar 2007 ausweislich des 764. Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses kein Manager der PIA mehr in diesem Ausschuss vertreten, so dass von der Ausübung eines bestimmenden Einflusses jedenfalls für den Zeitraum nach dem Börsengang keine Rede sein kann.
124 Die Kommission konnte folglich die Mitgliedschaft der Manager der PIA in dem Vergütungs- und dem internen Kontrollausschuss nicht als objektiven Faktor für den Nachweis werten, dass die Klägerin während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen ausüben konnte und auch tatsächlich ausgeübt hat.
5) Zum Erhalt regelmäßiger Aktualisierungen und monatlicher Berichte
125 Im 765. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses weist die Kommission darauf hin, dass die Manager der PIA während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung regelmäßig auf den neuesten Stand der Geschäftstätigkeit gebracht worden seien und Monatsberichte erhalten hätten.
126 Nach Ansicht der Klägerin sind diese Berichte für die Beurteilung, ob sie einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen ausgeübt hat, irrelevant, da sie nicht speziell für sie verfasst worden seien, sondern dazu bestimmt gewesen seien, die breite Öffentlichkeit über die Unternehmensergebnisse zu unterrichten. Zudem hätten durch diese Berichte die Manager der PIA nur über das Ergebnis der Investition in Prysmian informiert werden sollen, während kein Beitrag ihrerseits erforderlich gewesen sei.
127 Wie die Kommission bemerkt, hat das Gericht in seiner Rechtsprechung bereits entschieden, dass der Aufsichtsrat einer Tochtergesellschaft, der mehrheitlich aus Vertretern der Muttergesellschaft besteht, dafür sorgen kann, dass er durch Berichte regelmäßig über die Entwicklung der Geschäftstätigkeit dieser Tochtergesellschaft informiert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2013, HSE/Kommission, T‑399/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:647, Rn. 93). Das gegenteilige Vorbringen der Klägerin ist somit zurückzuweisen.
128 Im Übrigen wurden die Manager der PIA durch die fraglichen Monatsberichte regelmäßig über die Entwicklung der Geschäftstätigkeit von Prysmian unterrichtet. Wie aus den in Fn. 1157 des angefochtenen Beschlusses erwähnten Beispielen hervorgeht, erhielten sie Informationen über das Kabelgeschäft dieser Gesellschaft in den Bereichen Finanzen, Energie, Telekommunikation, operatives Geschäft, Humanressourcen, Logistik, Einkauf und Produktentwicklung sowie Qualität.
129 Da die Klägerin auch befugt war, die Mitglieder der verschiedenen Prysmian-Vorstände zu ernennen, und den Managern der PIA die in den vorstehenden Rn. 110 bis 119 dargelegten Befugnisse übertragen worden waren, stellt der Erhalt regelmäßiger Aktualisierungen und monatlicher Berichte einen zusätzlichen Faktor dar, der zeigt, dass die Klägerin regelmäßig über die Geschäftsstrategie ihrer Tochtergesellschaft informiert wurde, und somit bestätigt, dass beide eine wirtschaftliche Einheit bildeten.
6) Zu den Maßnahmen zur Sicherung des Fortbestehens der entscheidenden Kontrolle nach dem Zeitpunkt des Börsengangs
130 In den Erwägungsgründen 766 bis 770 des angefochtenen Beschlusses stellt die Kommission fest, die Klägerin habe Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass sie auch nach dem Zeitpunkt des Börsengangs eine entscheidende Kontrolle über Prysmian habe ausüben können. Es handle sich um die vier folgenden Maßnahmen:
–
Zunächst habe die Klägerin in ihrer Eigenschaft als einzige mittelbare Anteilseignerin am 28. Februar 2007 den Vorstand ernannt, der Prysmian bis zum 9. April 2009 geleitet habe. Auf diese Weise habe die Klägerin eine Neubesetzung des Vorstands unmittelbar nach dem Börsengang vom Mai 2007 verhindern können;
–
sodann habe die Klägerin in der Hauptversammlung von Prysmian vom 16. Januar 2007 deren Geschäftsordnung u. a. durch die Einführung eines Systems der Kandidatenlisten für die Auswahl und die Ernennung neuer Vorstände geändert (die Kommission erklärt, mit diesem System habe die Klägerin sicherstellen können, dass sie künftig auch mit einer geringeren Beteiligung am Gesellschaftskapital mindestens fünf der sechs Vorstandsmitglieder habe benennen und so die Kontrolle über Prysmian habe behalten können);
–
im Übrigen seien am 12. November 2007 9,9 % der Prysmian-Anteile an Taihan Electric Wire verkauft worden, und in einem Schreiben vom 6. November 2007 habe Taihan Electric Wire sich gegenüber Prysmian verpflichtet, die eigene Beteiligung auf insgesamt maximal 10 % des Gesellschaftskapitals von Prysmian zu beschränken, in den Hauptversammlungen von Prysmian von den mit einer Beteiligung verbundenen Stimmrechten höchstens im Umfang einer Beteiligung von 10 % (einschließlich etwaiger Beteiligungen über andere Gesellschaften der Taihan-Gruppe) Gebrauch zu machen und keine Kandidaten zur Benennung als Vorstandsmitglied oder als Wirtschaftsprüfer für Prysmian vorzuschlagen (nach Ansicht der Kommission garantierten diese Verpflichtungen, insbesondere die letztere, der Klägerin, dass der zweite Anteilseigner von Prysmian nicht in der Lage sein würde, eine Kandidatenliste vorzulegen oder Vertreter für den Vorstand von Prysmian zu benennen);
–
schließlich gebe es ausdrückliche Bezugnahmen auf die Mehrheitsbeteiligung der Klägerin nach dem Börsengang, und zwar u. a. im Protokoll der Vorstandssitzung vom 19. Dezember 2007.
131 Die Klägerin macht geltend, trotz der Behauptungen im angefochtenen Beschluss sei der Kommission nicht der Nachweis gelungen, dass sie in der Zeit nach dem Börsengang mit den Streithelferinnen eine wirtschaftliche Einheit im Sinne der Rechtsprechung gebildet habe. Zunächst habe die Kommission insoweit einen Rechtsfehler begangen, als sie die Haftung einer Muttergesellschaft bei einer bislang einzigartigen Höhe der Kapitalbeteiligung angenommen habe. Sodann habe die im Februar 2007 erfolgte Berufung des Vorstands von Prysmian der Klägerin keine Kontrolle über diese Gesellschaft verschafft. Weiter sei die Einführung eines Systems der Kandidatenlisten im Hinblick auf den Börsengang beschlossen worden. Im Übrigen dürfe die Investition von Taihan Electric Wire nicht unterschätzt werden.
132 In diesem Zusammenhang ist erstens das Vorbringen der Klägerin zurückzuweisen, wonach die Kommission zu Unrecht ihre gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängten Geldbuße bei einer nach ihrer Meinung bislang einzigartigen Beteiligungshöhe angenommen habe. Es genügt nämlich der Hinweis, dass nach der Rechtsprechung eine Muttergesellschaft durch eine Minderheitsbeteiligung die Möglichkeit erhalten kann, tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten ihrer Tochtergesellschaft auszuüben, wenn sie über Rechte verfügt, die über die Rechte hinausgehen, die Minderheitsaktionären üblicherweise zum Schutz ihrer finanziellen Interessen gewährt werden, und die bei einer Prüfung nach der Methode des Bündels übereinstimmender Indizien rechtlicher oder wirtschaftlicher Natur geeignet sind, den Nachweis dafür zu erbringen, dass ein bestimmender Einfluss auf das Marktverhalten der Tochtergesellschaft ausgeübt wird (Urteile vom 12. Juli 2011, Fuji Electric/Kommission, T‑132/07, EU:T:2011:344, Rn. 183, und vom 9. September 2015, Toshiba/Kommission, T‑104/13, EU:T:2015:610, Rn. 97).
133 Was zweitens das Vorbringen der Klägerin betrifft, die Berufung des Vorstands vom 28. Februar 2007 habe ihr keine Kontrollstellung verschafft, ist an die Feststellung oben in Rn. 93 zu erinnern, wonach der an diesem Tag, d. h. vor dem Börsengang, berufene Vorstand für die Zeit bis zum 31. Dezember 2009 ernannt wurde, wobei er bis nach dem Zeitpunkt des Börsengangs und sogar bis nach dem Ende der Zuwiderhandlung unverändert bestehen blieb. Obwohl die Klägerin während dieses Zeitraums keine vollständige Kontrolle über die Stimmrechte aus den Prysmian-Aktien mehr innehatte, ist der Umstand, dass die Zusammensetzung dieses Vorstands unverändert blieb, ein Indiz dafür, dass die Klägerin den Vorstand nach dem Börsengang weiterhin kontrollierte.
134 Soweit die Klägerin drittens vorträgt, das System der Kandidatenlisten sei im Verhaltenskodex für börsennotierte Unternehmen vorgeschrieben gewesen, ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin die Feststellung der Kommission nicht bestreitet, wonach sie mit diesem System sicherstellen konnte, dass sie auch mit einer geringeren Beteiligung mindestens fünf der sechs Vorstandsmitglieder von Prysmian benennen konnte. Da es keine Rolle spielt, ob dieses System auf einer Initiative der Klägerin oder auf einer Rechtspflicht aufgrund der geltenden Vorschriften beruht, ist die Schlussfolgerung der Kommission zu billigen, wonach die Klägerin mit Hilfe dieses Systems ihre Kontrolle über den Vorstand von Prysmian nach dem Börsengang behalten konnte. Selbst wenn die Klägerin von diesem System während des Zeitraums der Zuwiderhandlung keinen Gebrauch gemacht hat, ist im Übrigen festzustellen, dass dies nicht notwendig war, da der von der Klägerin am 28. Februar 2007 berufene Vorstand, wie bereits erwähnt, bis nach dem Ende der Zuwiderhandlung unverändert bestehen blieb.
135 Was viertens die Behauptung der Klägerin anbelangt, die von Taihan Electric Wire am 12. November 2007 getätigte Investition habe dieses Unternehmen nicht an der Ausübung seiner Rechte gehindert, ist festzustellen, dass die aus der Klausel Nr. 2 in dem der Klageschrift beigefügten Schreiben vom 6. November 2007 resultierende Verpflichtung, keine Bewerber für den Vorstand vorzuschlagen, dieses Unternehmen daran hindern sollte, in die Zusammensetzung des Vorstands einzugreifen. Diese Verpflichtung hing auch entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht davon ab, dass dieses Unternehmen seine Beteiligung an Prysmian auf mehr als 10 % erhöhte. Unter diesen Umständen war die Kommission zu Recht der Auffassung, dass die Klägerin aufgrund dieser Verpflichtung die Kontrolle über den Vorstand von Prysmian behielt, weil der zweitgrößte Anteilseigner der Gesellschaft darauf verzichtete, Einfluss auf dessen Zusammensetzung zu nehmen.
136 Zu der nach Ansicht der Kommission aus dem Protokoll der Vorstandssitzung vom 19. Dezember 2007 resultierenden ausdrücklichen Bezugnahme auf die von der Klägerin ausgeübte Kontrolle genügt fünftens der Hinweis, dass ausweislich dieses Dokuments einer der Manager der PIA im Zusammenhang mit der Bewertung der Veräußerung an Taihan Electric Wire tatsächlich erklärt hat, es sei nicht „[vertraulich]“. Auch wenn die Klägerin den Beweiswert dieses Dokuments in Frage stellt, ist darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um ein förmliches Protokoll handelt, das als solches die Erklärungen wiedergeben soll, deren Aufzeichnung von den Teilnehmern an dieser Vorstandssitzung verlangt wurde, und dass die Klägerin nichts vorgebracht hat, woraus sich das Gegenteil ergeben würde.
137 Die Kommission hat somit zu Recht festgestellt, dass vier Maßnahmen ergriffen worden waren, aus denen sich ergab, dass die Klägerin auch nach dem Zeitpunkt des Börsengangs, d. h. als sie nicht mehr über die Mehrheit der Stimmrechte aus den Prysmian-Aktien verfügte, die Kontrolle über Prysmian behielt.
7) Zum Beweis für das typische Verhalten eines industriellen Eigentümers
138 Im 771. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses legt die Kommission dar, aus den Beweismitteln ergebe sich, dass die Klägerin noch Ende 2007, als sie mittelbar zu 31,69 % an Prysmian beteiligt gewesen sei, ähnlich wie ein industrieller Eigentümer Querverkäufe zwischen Prysmian und anderen Tochtergesellschaften der Klägerin unterstützt habe. In Fn. 1165 dieses Beschlusses verweist sie auf eine E‑Mail-Korrespondenz zwischen Herrn O. und Herrn B. vom 20. Dezember 2007, auf eine E‑Mail von Herrn O. vom 2. Januar 2008 und auf eine E‑Mail von Herrn S. vom 30. Januar 2008.
139 Die Klägerin bestreitet die Feststellungen der Kommission mit dem Argument, Herr O. habe als Managing Director der PIA mit den betreffenden E‑Mails Prysmian nur auf Geschäftsmöglichkeiten hingewiesen und den Namen einer Kontaktperson bei einem norwegischen Unternehmen genannt. Die Kommission behaupte zu Unrecht, dass diese E‑Mails konzerninterne Querverkäufe betroffen hätten, und bleibe den Nachweis schuldig, dass der Schriftwechsel zu späteren Kontakten geführt habe oder darauf hindeute, dass auf Prysmian Druck ausgeübt worden sei, diese Möglichkeiten zu nutzen.
140 Was den Inhalt der fraglichen E‑Mails betrifft, geht aus den Anlagen zur Klagebeantwortung hervor, dass Herr O. Prysmian mitteilte, die Klägerin habe kurz zuvor ein Unternehmen erworben, das TV-Dienstleistungen in Norwegen anbiete, und sich bereit erklärte, Kontakte zu diesem Unternehmen wegen des Verkaufs von Stromkabeln herzustellen. Herr O. schlug vor, hinsichtlich eines Unternehmens, das der Klägerin in den Vereinigten Staaten gehörte, genauso zu verfahren.
141 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin geht aus diesen E‑Mails hervor, dass die auf dem Markt tätigen Unternehmen es für zweckmäßig hielten, wegen des etwaigen Verkaufs von Stromkabeln mit ihr anstatt unmittelbar mit der Prysmian-Gruppe Kontakt aufzunehmen, was ihre Stellung als Ansprechpartnerin für diese Gruppe deutlich macht. Auch wenn diesen E‑Mails, wie die Klägerin betont, weder eine Anweisung der Klägerin zur Herstellung dieser Kontakte noch eine systematische Praxis zu entnehmen ist, hat die Kommission sie zu Recht bei ihrer Analyse als Faktor berücksichtigt, anhand dessen dargetan werden kann, dass die Klägerin in die Geschäftstätigkeit von Prysmian eingebunden war.
142 Die Kommission konnte sich daher zu Recht auf die fragliche E‑Mail-Korrespondenz, insbesondere auf die zwischen Herrn O. und Herrn B. vom 20. Dezember 2007, als Faktor für den Nachweis stützen, dass die Klägerin einen bestimmenden Einfluss auf Prysmian ausübte.
8) Zur Gesamtbewertung der im angefochtenen Beschluss angeführten Umstände
143 Aus den vorstehenden Rn. 89 bis 142 ergibt sich, dass die Kommission ihre Schlussfolgerung zur Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Klägerin auf die Streithelferinnen auf folgende Umstände stützen durfte: erstens ihre Befugnis, die Mitglieder der verschiedenen Vorstände von Prysmian zu ernennen, zweitens ihre Befugnis, die Anteilseigner zu den Hauptversammlungen einzuberufen und die Abberufung einzelner Vorstandsmitglieder oder ganzer Vorstände vorzuschlagen, drittens die den Managern der PIA übertragenen Geschäftsführungsbefugnisse in den Vorständen und die Mitwirkung dieser Manager im Strategischen Ausschuss, viertens den Erhalt regelmäßiger Aktualisierungen und monatlicher Berichte, fünftens die von der Kommission aufgeführten Maßnahmen zur Sicherung des Fortbestehens einer entscheidenden Kontrolle seitens der Klägerin auch nach dem Börsengang und sechstens den Beweis dafür, dass die Klägerin sich wie ein industrieller Eigentümer verhalten hatte. Es ist deshalb nach eingehender Prüfung festzustellen, dass die Kommission, ohne einen Fehler zu begehen, davon ausgehen durfte, dass die Klägerin nicht nur vor dem Zeitpunkt des Börsengangs, sondern auch während des gesamten Zeitraums vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hatte.
144 Der zweite Teil des ersten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
c)
Zum dritten Teil: Schlussfolgerung der Kommission, wonach die Klägerin im Wesentlichen kein reiner Finanzinvestor war
145 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie angenommen habe, dass die Investition der GSCP‑V-Fonds in die Prysmian-Gruppe keine reine Finanzinvestition gewesen sei. Der Erwerb von Prysmian durch diese Fonds sei von professionellen Anlegern vorgenommen worden und nicht von Managern oder strategisch orientierten Anlegern. Daher könne die Klägerin nicht als Muttergesellschaft haftbar gemacht werden.
146 Die Klägerin trägt insbesondere vor, dass die GSCP‑V-Fonds weder die Befugnis noch die Mittel gehabt hätten, um über das Marktverhalten der Prysmian-Gruppe zu bestimmen, dass die Verwaltung von Portfoliogesellschaften nicht zu den Aufgaben der PIA gehöre, die diese Fonds errichtet habe, dass das bestehende Managementteam von Prysmian, das vom vorherigen Eigentümer dieses Unternehmens eingesetzt worden sei, weiterhin dessen Geschäftstätigkeit geleitet habe, dass die Manager der PIA professionelle Anleger gewesen seien, deren Rolle nur darin bestanden habe, die Investition zu überwachen, dass für die Klägerin kein Anreiz zur Kontrolle von Prysmian bestanden habe, wie die Veräußerungen zeigten, die sie kurz nach deren Erwerb vorgenommen habe, und dass die Prysmian-Gruppe von Dritten nicht als Teil des Konzerns wahrgenommen worden sei, dessen Muttergesellschaft die Klägerin sei, und für Rechnungslegungszwecke nicht in diesen Konzern eingegliedert worden sei.
147 Außerdem hätten die Maßnahmen, die die Klägerin in Bezug auf die Prysmian-Gruppe ergriffen habe, entgegen den Feststellungen der Kommission im angefochtenen Beschluss nicht denjenigen einer Holdinggesellschaft eines Industriekonzerns entsprochen.
148 Schließlich habe die Kommission zu Unrecht angenommen, dass der wirtschaftliche Vorteil, den die Klägerin aus ihrer Investition gezogen habe, als Beweis dafür dienen könne, dass sie kein Finanzinvestor gewesen sei.
149 Die Kommission und die Streithelferinnen treten diesem Vorbringen entgegen.
150 Im Rahmen des dritten Teils ihres ersten Klagegrundes wendet sich die Klägerin namentlich gegen die Ausführungen in den Erwägungsgründen 773 bis 781 des angefochtenen Beschlusses, in denen die Kommission zu den Argumenten Stellung nimmt, die die Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgebracht hat, um darzutun, dass ihr Verhalten gegenüber der Prysmian-Gruppe dasjenige eines reinen Finanzinvestors war.
151 Nach der Rechtsprechung gilt die Haftung einer Muttergesellschaft für die von ihrer Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung nicht bei reinen Finanzinvestoren, d. h. in dem Fall, dass ein Investor an einer Gesellschaft beteiligt ist, um einen finanziellen Gewinn zu erzielen, aber von jeder Mitwirkung bei ihrer Geschäftsführung und Kontrolle absieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2012, 1. garantovaná/Kommission, T‑392/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:674, Rn. 50 bis 52). Die Eigenschaft eines „reinen Finanzinvestors“ ist jedoch kein rechtliches Kriterium, sondern vielmehr das Beispiel einer Situation, in der es einer Muttergesellschaft freisteht, die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu widerlegen (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:262, Nr. 75).
152 Soweit die Klägerin zunächst geltend macht, zum einen hätten die GSCP‑V-Fonds weder die Befugnis noch die Mittel gehabt, um über das Marktverhalten der Prysmian-Gruppe zu bestimmen, und zum anderen gehöre die Verwaltung von Portfoliogesellschaften nicht zu den Aufgaben der PIA, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Vorbringen für die Feststellung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses irrelevant ist. Zudem wird es durch die objektiven Faktoren und Indizien widerlegt, deren Stichhaltigkeit oben in Rn. 143 festgestellt worden ist. Hinzu kommt, wie die Kommission bemerkt, dass die Klägerin nach den Feststellungen im angefochtenen Beschluss nicht in die Geschäftsführung von Prysmian eingebunden war, sondern einen bestimmenden Einfluss auf die geschäftlichen Entscheidungen dieser Gesellschaft ausübte. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Beurteilung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses nach ständiger Rechtsprechung nicht allein auf die Faktoren zu beschränken ist, die sich auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft im engen Sinne beziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2015, HIT Groep/Kommission, T‑436/10, EU:T:2015:514, Rn. 127 und die dort angeführte Rechtsprechung).
153 Was sodann das Vorbringen der Klägerin betrifft, die Manager der PIA, die Mitglieder der verschiedenen Vorstände von Prysmian gewesen seien, hätten nicht über die Qualifikationen oder Erfahrungen verfügt, um die Tätigkeiten dieser Gesellschaft zu regeln, ist erneut darauf hinzuweisen, dass dieser Umstand für die Feststellung, dass eine Muttergesellschaft keinen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausübt, bedeutungslos ist. Jedenfalls kann er nichts daran ändern, dass diese Manager insoweit in die Geschäftspolitik von Prysmian involviert waren, als sie, wie oben in den Rn. 105 und 119 festgestellt wurde, den Vorständen sowie dem Strategischen Ausschuss dieser Gesellschaft angehörten und über Geschäftsführungsbefugnisse verfügten.
154 Das Argument der Klägerin, sie sei an einer Kontrolle von Prysmian nicht interessiert gewesen, wird ebenfalls dadurch widerlegt, dass sie während des Zeitraums der Zuwiderhandlung alle Vorstände dieser Gesellschaft berufen hat und nach dem Börsengang in deren Strategischem Ausschuss vertreten war. Diesem Argument steht im Übrigen ganz offensichtlich die oben in Rn. 136 geprüfte Erklärung des Managers der PIA entgegen.
155 Zurückzuweisen ist schließlich auch die Behauptung der Klägerin, die Prysmian-Gruppe sei im Wesentlichen von Dritten nicht als Teil des Konzerns wahrgenommen worden, dessen Muttergesellschaft sie sei, und für Rechnungslegungszwecke nicht in diesen Konzern eingegliedert worden, denn auch damit können die Faktoren und Indizien nicht widerlegt werden, die die Kommission angeführt hat, um das Vorliegen eines bestimmenden Einflusses festzustellen.
156 Nach alledem ist der Klägerin entgegen ihrem Vorbringen nicht der Nachweis gelungen, dass sie mit ihren Beteiligungen an der Prysmian-Gruppe nur den Zweck verfolgte, eine reine Finanzinvestition zu tätigen, und dass sie sich jeglichen Eingriffs in die Geschäftsführung und Kontrolle dieser Gesellschaft enthalten hatte.
157 Folglich ist der dritte Teil des ersten Klagegrundes und damit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
2. Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, Unzulänglichkeit der Beweismittel und Verletzung der in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht
158 Die Klägerin wirft der Kommission vor, dadurch gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 und die in Art. 296 AEUV vorgesehene Begründungspflicht verstoßen zu haben, dass sie die zwischen der Klägerin und den Streithelferinnen bestehende Beziehung bei der Feststellung ihrer gesamtschuldnerischen Haftung für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängten Geldbuße verkannt habe.
159 Der zweite Klagegrund zerfällt in zwei Teile. Im Rahmen des ersten Teils macht die Klägerin geltend, die Beweismittel, auf die die Kommission ihre gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängten Geldbuße gestützt habe, seien mit Mängeln behaftet und beruhten auf grundlosen Erklärungen, die die Streithelferinnen im Verwaltungsverfahren abgegeben hätten. Im Rahmen des zweiten Teils wirft sie der Kommission vor, ihren Beschluss unzureichend begründet zu haben.
a)
Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 und Unzulänglichkeit der Beweismittel
160 Die Klägerin wirft der Kommission vor, ihre Schlussfolgerungen zu ihrer gesamtschuldnerischen Haftung für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängten Geldbuße allein auf die Erklärungen der Streithelferinnen gestützt zu haben, obwohl diese Erklärungen nicht präzise, übereinstimmend oder glaubwürdig seien.
161 Die Klägerin macht insbesondere geltend, dass die Erklärungen der Streithelferinnen durch keinen Beweis untermauert seien und die Kommission sie unkritisch übernommen habe. Die Kommission habe zudem die Beweismittel bewusst ignoriert, die die Klägerin vorgelegt habe, um die Informationen der Streithelferinnen zu widerlegen. Auch ständen die Erklärungen der Streithelferinnen, auf die sich die Kommission stütze, im Widerspruch zu Erklärungen, die sie zuvor abgegeben hätten, sowie zu Beweismitteln, die sie der Kommission vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgelegt hätten. Die Kommission habe somit ihre Pflicht, die von den Streithelferinnen übermittelten Dokumente sorgfältig und unparteiisch zu untersuchen, verletzt.
162 Die Kommission und die Streithelferinnen treten diesem Vorbringen entgegen.
163 Nach Auffassung der Klägerin beruhen die im angefochtenen Beschluss enthaltenen Schlussfolgerungen zu ihrer gesamtschuldnerischen Haftung für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängten Geldbuße nicht auf ausreichenden und verlässlichen Beweisen. In diesem Zusammenhang wiederholt die Klägerin im Kern die meisten der im Rahmen des ersten Klagegrundes vorgebrachten Argumente, die aus denselben Gründen, wie sie im Rahmen dieses Klagegrundes dargelegt wurden, zurückzuweisen sind.
164 Die Klägerin macht erstens geltend, die Kommission habe die Erklärungen der Streithelferinnen zu ihrer Befugnis zur Ernennung des Vorstands von Prysmian, zur Teilnahme der Manager der PIA am Strategischen Ausschuss, zum Verhalten der Klägerin als industrieller Eigentümerin und zu den Geschäftsführungsbefugnissen der Manager der PIA wörtlich und unkritisch übernommen.
165 Hinsichtlich der Befugnis zur Ernennung der Vorstände ist darauf hinzuweisen, dass die Schlussfolgerungen der Kommission nicht nur auf den Erklärungen von Prysmian, sondern – wie sich aus dem 762. Erwägungsgrund und den Fn. 1138 bis 1141 des angefochtenen Beschlusses ergibt – auch auf den Auskünften der Klägerin und auf der Geschäftsordnung der Gesellschaft beruhen. Soweit die Klägerin erneut behauptet, der erste Vorstand sei von Herrn B. als Geschäftsführer von Prysmian ausgewählt worden und nicht von ihr selbst, ist festzustellen, dass diese Behauptung, wie oben in Rn. 100 dargelegt, durch kein Beweismittel seitens der Klägerin untermauert wurde.
166 In Bezug auf die Teilnahme der Klägerin am Strategischen Ausschuss geht aus dem 763. Erwägungsgrund und den Fn. 1148 bis 1153 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission ihre Schlussfolgerungen auf die E‑Mail-Korrespondenz zwischen den Managern der PIA und dem Geschäftsführer von Prysmian sowie auf die Tagesordnung der Ausschusssitzungen und auf die Protokolle der Vorstandssitzungen gestützt hat. Die Kommission hat daher nicht ausschließlich auf die Erklärungen der Streithelferinnen abgestellt, um ihre Schlussfolgerungen zu diesem Ausschuss zu belegen, wie von der Klägerin behauptet wird. Im Übrigen geht, wie oben in Rn. 115 erwähnt, aus der Tagesordnung der Ausschusssitzung vom 16. Juli 2008 hervor, dass dieser Ausschuss Fragen der Geschäftsstrategie, u. a. Investitionen in Brasilien, China, Tunesien, Italien und Russland, erörtert hat, was das Vorbringen der Klägerin widerlegt, er habe im Rahmen der strategischen Entscheidungsfindung von Prysmian keinerlei Rolle gespielt.
167 Die Schlussfolgerung, wonach die Klägerin konzerninterne Querverkäufe unterstützte, beruht, wie im 771. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erklärt wird, auf einer E‑Mail-Korrespondenz zwischen Herrn O. und Herrn B. vom 20. Dezember 2007, auf einer E‑Mail von Herrn O. vom 2. Januar 2008 und auf einer E‑Mail von Herrn S. vom 30. Januar 2008. Die Behauptung, diese Feststellung stütze sich nur auf die Erklärungen der Streithelferinnen, ist daher zurückzuweisen.
168 Was schließlich die Geschäftsführungsbefugnisse der Manager der PIA betrifft, ergibt sich aus den vorstehenden Rn. 112 bis 114, dass das Beweismittel, auf das sich die Kommission im angefochtenen Beschluss, insbesondere in dessen Fn. 1142 bis 1145, beruft, das Protokoll zur Vorstandssitzung von Prysmian vom 15. Dezember 2005 ist. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin hat die Kommission ihre Schlussfolgerungen somit nicht nur auf die Erklärungen der Streithelferinnen gestützt. Im Übrigen werden die Feststellungen der Kommission durch die Anlagen zur Klageschrift bestätigt, aus denen hervorgeht, dass die Manager der PIA aufgrund der den Managing Directors übertragenen Befugnisse im Tagesgeschäft von Prysmian tätig waren. Sie entschieden insbesondere über einen Antrag auf Eröffnung einer Niederlassung in Katar, über Ernennungen zu den Vorständen von Tochtergesellschaften und über Personalfragen.
169 Daher beruhen die Feststellungen der Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht ausschließlich auf den Erklärungen der Streithelferinnen.
170 Soweit die Klägerin zweitens behauptet, dass die Erklärungen der Streithelferinnen widersprüchlich seien und dass die Kommission die von ihr im Verwaltungsverfahren vorgelegten Beweismittel ignoriert habe, genügt der Hinweis, dass sie die betreffenden Erklärungen bzw. Beweismittel nicht substantiiert bezeichnet, so dass ihr dahin gehendes Vorbringen zurückzuweisen ist.
171 Der erste Teil des zweiten Klagegrundes ist deshalb zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil: Verletzung der Begründungspflicht
172 Die Klägerin meint, die Kommission habe ihre Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV verletzt. Insbesondere habe sie die von der Klägerin im Verwaltungsverfahren erteilten detaillierten Auskünfte ignoriert und ihre Schlussfolgerungen u. a. zur Anwendung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses in der Zeit vor dem Börsengang, zur Feststellung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf die Prysmian-Gruppe während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung und zum Argument der Klägerin, wonach diese bei Prysmian die Rolle eines reinen Finanzinvestors gespielt habe, unzureichend begründet.
173 Die Kommission und die Streithelferinnen treten diesem Vorbringen entgegen.
174 Gemäß Art. 296 AEUV sind alle Rechtsakte, einschließlich der Beschlüsse, mit einer Begründung zu versehen.
175 Nach ständiger Rechtsprechung muss die nach Art. 296 AEUV erforderliche Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, EU:C:2011:620, Rn. 147 und die dort angeführte Rechtsprechung).
176 Im Zusammenhang mit Einzelentscheidungen ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass die Pflicht zur Begründung einer solchen Entscheidung neben der Ermöglichung einer gerichtlichen Überprüfung den Zweck hat, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob die Entscheidung eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung ermöglicht. Bei der in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht handelt es sich jedoch um ein wesentliches Formerfordernis, das von der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (vgl. Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, EU:C:2011:620, Rn. 146 und 148 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Rügen und Argumente, die sich gegen die materielle Rechtmäßigkeit dieses Aktes richten, gehen daher im Rahmen eines Klagegrundes, mit dem eine fehlende oder unzureichende Begründung geltend gemacht wird, ins Leere (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2001, Frankreich/Kommission, C‑17/99, EU:C:2001:178, Rn. 35 bis 38, und vom 15. Juni 2005, Corsica Ferries France/Kommission, T‑349/03, EU:T:2005:221, Rn. 52 und 59).
177 Im vorliegenden Fall reicht die Begründung des angefochtenen Beschlusses dafür aus, dass die Klägerin entgegen ihrem Vorbringen erkennen konnte, weshalb sie von der Kommission für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften wegen deren unmittelbarer Beteiligung an dem fraglichen Kartell verhängten Geldbuße als Gesamtschuldnerin haftbar gemacht wurde, und dass das Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.
178 In Bezug auf die Entscheidung, von der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses vor dem Zeitpunkt des Börsengangs Gebrauch zu machen, hat die Kommission ausweislich der Erwägungsgründe 748 bis 754 des angefochtenen Beschlusses erklärt, die mittelbare Kontrolle aller mit den Prysmian-Aktien verbundenen Stimmrechte habe der Klägerin eine Stellung verschafft, die derjenigen eines alleinigen und ausschließlichen Anteilseigners von Prysmian gleichgekommen sei. Außerdem hat die Kommission u. a. in den Erwägungsgründen 751 bis 753 dieses Beschlusses ausgeführt, die von Apollo und vom Prysmian-Management getätigten Investitionen seien rein passiv gewesen und mit einem zugunsten der Klägerin erklärten Verzicht auf die Ausübung der Stimmrechte aus den Prysmian-Aktien verbunden gewesen. Aufgrund dessen war die Kommission mit Rücksicht auf die in den Erwägungsgründen 697 bis 702 dieses Beschlusses angeführten Rechtsprechung der Ansicht, sie könne die Klägerin zu Recht für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängten Geldbuße als Gesamtschuldnerin haftbar machen.
179 Zur Feststellung der Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Klägerin auf die Streithelferinnen während des Zeitraums vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009 hat die Kommission ihre Schlussfolgerung, wonach die Klägerin einen solchen Einfluss ausgeübt habe, erläutert, indem sie sich nach der Rechtsprechung auf objektive Faktoren im Zusammenhang mit den zwischen der Klägerin und den Streithelferinnen bestehenden wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen stützte. Diese Faktoren wurden in den Erwägungsgründen 758 bis 771 des angefochtenen Beschlusses im Einzelnen detailliert beschrieben und in den Erwägungsgründen 772 bis 781 dieses Beschlusses insgesamt gewichtet. Zudem ist die Kommission u. a. in den Erwägungsgründen 773 bis 778 dieses Beschlusses auf die von der Klägerin im Rahmen dieser endgültigen Gewichtung vorgebrachten Hauptargumente eingegangen. Schließlich bezogen sich die Erklärungen der Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht nur auf die Zeit vor dem Börsengang, sondern, wie sich aus den in den Erwägungsgründen 766 bis 770 dieses Beschlusses untersuchten Maßnahmen ergibt, auch auf die Zeit danach.
180 Hinsichtlich der Feststellung, wonach die Klägerin sich gegenüber der Prysmian-Gruppe nicht wie ein reiner Finanzinvestor verhalten habe, liefert die Kommission der Klägerin eine klare Antwort u. a. im 779. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, in dem sie erklärt, die Wahrnehmung von Stimmrechten im Zusammenhang mit für das Geschäftsgebaren einer Tochtergesellschaft relevanten strategischen Entscheidungen, z. B. über die Benennung der Unternehmensleitung und die Genehmigung von Geschäfts- und Managementplänen, sei eindeutig als Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu betrachten und nicht als eine zeitlich begrenzte reine Finanzinvestition.
181 Die Kommission hat somit die ihr nach Art. 296 AEUV obliegende Begründungspflicht erfüllt, und zwar sowohl hinsichtlich des Rückgriffs auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses als auch in Bezug auf die Feststellung, dass die Klägerin während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen ausgeübt hatte. Sie hat auch erklärt, weshalb die Klägerin im Hinblick auf die Prysmian-Gruppe nicht als reiner Finanzinvestor behandelt werden konnte.
182 Folglich ist der zweite Teil des zweiten Klagegrundes und damit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie Verletzung der Grundsätze der persönlichen Verantwortlichkeit und der Unschuldsvermutung
183 Nach Ansicht der Klägerin verletzt der angefochtene Beschluss ihre Grundrechte.
184 Die Klägerin macht insbesondere zum einen geltend, die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses, auf die die Kommission für den Zeitraum vor dem Börsengang zurückgegriffen habe, stehe im Widerspruch zum Grundsatz der Unschuldsvermutung sowie zu Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und zu Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Zudem lasse die Kommission die Beweismittel völlig außer Acht, die sie vorgelegt habe, um die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu widerlegen.
185 Die Klägerin trägt zum anderen vor, sie in ihrer Eigenschaft als Muttergesellschaft für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängten Geldbuße als Gesamtschuldnerin haften zu lassen, verletze den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit, denn weder sie noch ihre Vertreter innerhalb dieser Tochtergesellschaften hätten sich an der Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV beteiligt.
186 Die Kommission und die Streithelferinnen treten diesem Vorbringen entgegen.
187 Was erstens die Grundsätze der persönlichen Verantwortlichkeit und der Unschuldsvermutung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsrichter wiederholt entschieden hat, dass die Kommission diese Grundsätze nicht verletzt, wenn sie die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses vermutet.
188 Nach der Rechtsprechung stellt nämlich die Tatsache, dass die Muttergesellschaft eines Konzerns, die einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaften ausübt, für die von Letzteren begangenen Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, keinesfalls eine Verletzung des Grundsatzes der persönlichen Verantwortlichkeit dar, sondern ist vielmehr Ausdruck dieses Grundsatzes. Denn die Muttergesellschaft und die ihrem bestimmenden Einfluss unterliegenden Tochtergesellschaften bilden zusammen ein einziges Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts der Union, für das sie verantwortlich sind, und wenn dieses Unternehmen vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Wettbewerbsregeln verstößt, haften sämtliche juristische Personen, die Teil der Konzernstruktur sind, persönlich und gesamtschuldnerisch (vgl. Urteile vom 27. September 2012, Nynäs Petroleum und Nynas Belgium/Kommission, T‑347/06, EU:T:2012:480, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. auch in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:262, Nr. 97).
189 Die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses verletzt nach ständiger Rechtsprechung auch nicht die Unschuldsvermutung, da sie keine Vermutung der Schuld einer dieser beiden Gesellschaften begründet (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑625/13 P, EU:C:2017:52, Rn. 149 und die dort angeführte Rechtsprechung) und widerlegbar ist (vgl. Urteil vom 19. Juni 2014, FLS Plast/Kommission, C‑243/12 P, EU:C:2014:2006, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
190 Schließlich bedeutet entgegen dem Vorbringen der Klägerin die Tatsache, dass es schwierig ist, den zur Widerlegung einer Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses erforderlichen Gegenbeweis zu erbringen, als solche nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht, dass die Vermutung tatsächlich unwiderlegbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2016, Evonik Degussa und AlzChem/Kommission, C‑155/14 P, EU:C:2016:446, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
191 Die Klägerin hat daher mit ihrem Vorbringen, die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses sei unvereinbar mit den in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie in der Charta vorgesehenen Grundsätzen der persönlichen Verantwortlichkeit und der Unschuldsvermutung, keinen Erfolg.
192 Zweitens kann die Klägerin mit ihrer Argumentation, weder sie selbst noch ihre Vertreter seien an dem fraglichen Kartell beteiligt gewesen, angesichts der oben in Rn. 188 zitierten Rechtsprechung, nicht durchdringen.
193 Was drittens das Argument der Klägerin betrifft, die Kommission habe nicht ausreichend begründet, weshalb sie den Argumenten der Klägerin zur Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses nicht gefolgt sei, ist festzustellen, dass dieses Argument bereits im Rahmen des zweiten Klagegrundes zurückgewiesen wurde, so dass es aus denselben Gründen auch hier zurückzuweisen ist.
194 Folglich verletzt die der Klägerin in ihrer Eigenschaft als Muttergesellschaft auferlegte gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaften verhängte Geldbuße entgegen dem klägerischen Vorbringen nicht die Grundsätze der persönlichen Verantwortlichkeit und der Unschuldsvermutung in dem Sinne, wie die Klägerin sie im Rahmen dieses Klagegrundes geltend gemacht hat.
195 Der dritte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
4. Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, offensichtlicher Beurteilungsfehler sowie Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der individuellen Zumessung von Strafen
196 Die Klägerin trägt im Kern vor, die Kommission habe dadurch einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und der individuellen Zumessung von Strafen verletzt, dass sie nicht die auf die Mitgesamtschuldner in ihrem Innenverhältnis entfallenden Anteile festgesetzt, sondern sich darauf beschränkt habe, ihre gesamtschuldnerische Haftung anzuordnen. Einer solchen Festsetzung bedürfe es zwar nicht, wenn die Gesellschaften zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses demselben Konzern angehörten. Bestehe jedoch die von diesen Gesellschaften gebildete wirtschaftliche Einheit wie im vorliegenden Fall nicht mehr, sei die Kommission verpflichtet, eine solche Festsetzung in diesem Beschluss vorzunehmen.
197 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
198 Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, da sie mit den Streithelferinnen bei Erlass des angefochtenen Beschlusses keine wirtschaftliche Einheit mehr gebildet habe, hätte die Kommission den von ihnen im Rahmen ihres Innenverhältnisses jeweils zu zahlenden Anteil an der Geldbuße festsetzen müssen.
199 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs betrifft der unionsrechtliche Begriff der gesamtschuldnerischen Haftung für die Zahlung der Geldbuße, der lediglich Ausdruck einer von Rechts wegen eintretenden Wirkung des Unternehmensbegriffs ist, nur das Unternehmen und nicht die Gesellschaften, aus denen es besteht (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑625/13 P, EU:C:2017:52, Rn. 150 und die dort angeführte Rechtsprechung).
200 Aus Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ergibt sich zwar, dass die Kommission gegen mehrere Gesellschaften, soweit sie zu demselben Unternehmen gehörten, gesamtschuldnerisch eine Geldbuße verhängen kann, doch lassen weder der Wortlaut dieser Bestimmung noch der Zweck des Gesamtschuldmechanismus die Annahme zu, dass sich diese Sanktionsbefugnis über die Bestimmung des Außenverhältnisses der Gesamtschuld hinaus auf die Bestimmung der Anteile der Gesamtschuldner im Rahmen ihres Innenverhältnisses erstreckt (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑625/13 P, EU:C:2017:52, Rn. 151 und die dort angeführte Rechtsprechung).
201 Der Mechanismus der Gesamtschuld soll vielmehr ein zusätzliches Rechtsinstrument darstellen, das der Kommission zur Verfügung steht, um ihr Vorgehen bei der Einziehung von Geldbußen, die wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht verhängt wurden, wirksamer zu gestalten, da dieser Mechanismus für die Kommission als Gläubigerin der Schuld, die diese Geldbußen darstellen, die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit verringert, was der Verwirklichung des mit dem Wettbewerbsrecht allgemein verfolgten Ziels der Abschreckung dient (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑625/13 P, EU:C:2017:52, Rn. 152 und die dort angeführte Rechtsprechung).
202 Die Bestimmung der Anteile der Mitgesamtschuldner im Innenverhältnis dient jedoch nicht diesem doppelten Zweck. Es handelt sich nämlich um einen nachgelagerten Streitfall, der für die Kommission grundsätzlich nicht mehr von Interesse ist, sofern ihr von einem oder mehreren der Mitgesamtschuldner die Geldbuße vollständig gezahlt wurde (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑625/13 P, EU:C:2017:52, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung).
203 In Anbetracht der oben in den Rn. 199 bis 202 wiedergegebenen Rechtsprechung genügt im vorliegenden Fall die Feststellung, dass die Kommission nicht die jeweiligen Anteile der Klägerin und der Streithelferinnen im Rahmen ihres Innenverhältnisses zu bestimmen brauchte. Da die Kommission nämlich, wie sich aus der Prüfung im Rahmen des ersten Klagegrundes ergibt, zu Recht angenommen hat, dass die Klägerin und die Streithelferinnen während des gesamten Zeitraums der Zuwiderhandlung ein einziges Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts bildeten, durfte sie sich auf die Festsetzung des von diesen Gesellschaften als Gesamtschuldnerinnen zu zahlenden Betrags der Geldbuße beschränken.
204 Soweit die Klägerin sich darauf beruft, dass die Streithelferinnen bei Erlass des angefochtenen Beschlusses mit ihr keine Einheit mehr gebildet hätten, kann dieses Argument an der oben in Rn. 203 getroffenen Feststellung nichts ändern.
205 Zum einen würde es schon dem Begriff der gesamtschuldnerischen Haftung zuwiderlaufen, wenn diesem Argument gefolgt würde. Der Mechanismus der Gesamtschuld bedeutet nämlich per definitionem, dass die Kommission sich entweder an die Muttergesellschaft oder an die Tochtergesellschaft wenden kann, ohne Anteile in dem von der Klägerin angeführten Sinn vorzusehen. Denn wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, besteht bei der Verhängung einer Geldbuße durch die Kommission gegen die eine oder andere dieser Gesellschaften kein „Vorrang“ (vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Dow Chemical u. a./Kommission, C‑499/11 P, EU:C:2013:482, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
206 Zum anderen könnte es, wenn ein solches Argument durchgreifen würde, dem mit dem Mechanismus der Gesamtschuld verfolgten Ziel schaden, das nach der oben in Rn. 201 zitierten Rechtsprechung darin besteht, der Kommission ein zusätzliches Rechtsinstrument zur Verfügung zu stellen, um sowohl ihr Vorgehen bei der Einziehung verhängter Geldbußen als auch das mit dem Wettbewerbsrecht allgemein verfolgte Ziel der Abschreckung wirksamer zu gestalten.
207 Es ist somit nach eingehender Prüfung festzustellen, dass die Kommission weder einen Fehler begangen noch die Grundsätze der Rechtssicherheit und der individuellen Zumessung von Strafen verletzt hat, indem sie davon absah, die jeweiligen Anteile der Klägerin und der Streithelferinnen im Rahmen ihres Innenverhältnisses festzulegen.
208 Der vierte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
5. Zum fünften Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte und des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung
209 Die Klägerin wirft der Kommission vor, im Verwaltungsverfahren ihre Verteidigungsrechte verletzt zu haben. Dieser fünfte Klagegrund besteht aus drei Teilen: Erstens habe die Kommission ihr keinen Zugang zu für ihre Verteidigung wesentlichen Dokumenten gewährt; zweitens habe die Kommission den Zugang zu anderen Dokumenten widerrechtlich verzögert; drittens habe die überlange Verfahrensdauer ihrer Fähigkeit, sich zu verteidigen, geschadet.
a)
Zum ersten Teil: Die Kommission habe der Klägerin keinen Zugang zu für ihre Verteidigung wesentlichen Dokumenten gewährt
210 Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe ihre Verantwortung für das Kartell im angefochtenen Beschluss auf mehrere belastende Beweise gestützt, obwohl diese ihr nicht übermittelt worden seien. Es handle sich insbesondere um das Dokument, das den Beweis für den Umfang der den Managern der PIA übertragenen Befugnisse enthalte, und um Dokumente, die den Beweis für die Rolle des Vergütungs- und des internen Kontrollausschusses enthielten.
211 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
212 Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Beachtung der Verteidigungsrechte ein Grundrecht des Unionsrechts dar, das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankert ist, der die Beachtung der Verteidigungsrechte in jedem Verfahren verlangt (vgl. Urteil vom 17. Dezember 2014, Pilkington Group u. a./Kommission, T‑72/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:1094, Rn. 232 und die dort angeführte Rechtsprechung).
213 Die Wahrung der Verteidigungsrechte erfordert es, dem betroffenen Unternehmen im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen und Umstände sowie zu den Schriftstücken, auf die sie den Vorwurf einer Zuwiderhandlung gegen den Vertrag stützt, sachgerecht Stellung zu nehmen (Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 66).
214 In diesem Sinne sieht Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 vor, dass die Kommission den Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, gegen die sich das von ihr betriebene Verfahren richtet, Gelegenheit gibt, sich zu den von ihr in Betracht gezogenen Beschwerdepunkten zu äußern, und dass sie ihre Entscheidung nur auf die Beschwerdepunkte stützt, zu denen sich die Parteien äußern konnten.
215 Im Übrigen stellt die unterbliebene Übermittlung eines Schriftstücks nach ständiger Rechtsprechung nur dann eine Verletzung der Verteidigungsrechte dar, wenn das betreffende Unternehmen dartut, dass sich die Kommission zur Untermauerung ihres Vorwurfs, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, auf dieses Schriftstück gestützt hat und dass dieser Vorwurf nur durch Heranziehung des fraglichen Schriftstücks belegt werden kann. Gibt es andere Belege, von denen die Parteien im Verwaltungsverfahren Kenntnis hatten und die speziell die Schlussfolgerungen der Kommission stützen, so würde der Wegfall des nicht übermittelten Belegs als Beweismittel die Begründetheit der in der angefochtenen Entscheidung erhobenen Vorwürfe nicht beeinträchtigen. Das betroffene Unternehmen muss daher dartun, dass das Ergebnis, zu dem die Kommission in ihrer Entscheidung gekommen ist, anders ausgefallen wäre, wenn ein nicht übermitteltes Schriftstück, auf das die Kommission ihre Vorwürfe gegen dieses Unternehmen gestützt hat, als belastendes Beweismittel ausgeschlossen werden müsste (vgl. Urteil vom 9. September 2015, Toshiba/Kommission, T‑104/13, EU:T:2015:610, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung).
216 Im vorliegenden Fall behauptet die Klägerin zwar, sie habe von der Kommission weder das Dokument betreffend den Umfang der den Managern der PIA übertragenen Befugnisse noch die Dokumente bezüglich des Vergütungs- und des internen Kontrollausschusses erhalten; mit der Kommission ist jedoch festzustellen, dass diese Behauptung sachlich unrichtig ist.
217 Das Dokument betreffend den Umfang der den Managern der PIA übertragenen Befugnisse wurde, wie die Kommission ohne Widerspruch seitens der Klägerin darlegt, dieser am 27. März 2012 bekannt gegeben, wobei sie sowohl zu einer vertraulichen als auch zu einer nicht vertraulichen Fassung des Dokuments Zugang hatte.
218 Das den Vergütungsausschuss betreffende Dokument ist die vertrauliche Fassung der Stellungnahme der Streithelferinnen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte. Am 4. Januar und 12. März 2012 sowie am 11. September 2013 hatte die Klägerin Zugang zur nicht vertraulichen Fassung dieser Stellungnahme, aus der sich die Umstände ergeben, die die Kommission im angefochtenen Beschluss bezüglich der Klägerin anführt.
219 Das den internen Kontrollausschuss betreffende Dokument stimmt mit dem Dokument in Anlage 15 zur Antwort der Streithelferinnen auf ein Auskunftsersuchen vom 20. Oktober 2009 überein, zu dem die Klägerin insbesondere am 26. Januar 2012 Zugang hatte.
220 Daraus folgt, dass die Kommission den Zugang zu den von der Klägerin in der Klageschrift erwähnten Dokumenten nicht verweigert und somit die Verpflichtungen erfüllt hat, die ihr nach der oben in Rn. 215 zitierten Rechtsprechung oblagen.
221 Im Übrigen behauptet die Klägerin, sie habe keinen Zugang zu anderen Verfahrensdokumenten gehabt, wie z. B. zu den Dokumenten [vertraulich] und [vertraulich]. Da diese Behauptung vor dem Gericht erstmals im Stadium der Erwiderung vorgebracht wurde und nicht auf Umständen beruht, die erst während des Verfahrens zutage getreten wären, ist sie als unzulässig zurückzuweisen. Jedenfalls ist festzustellen, dass, wie die Kommission bemerkt, das Dokument [vertraulich] der Klägerin am 8. September 2011 übermittelt worden ist und das Dokument [vertraulich], wie aus Fn. 1127 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, nur öffentlich zugängliche Informationen enthält.
222 Der erste Teil des fünften Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
b)
Zum zweiten Teil: Die Kommission habe den Zugang zu anderen für die Verteidigung der Klägerin wesentlichen Dokumenten widerrechtlich verzögert
223 Die Klägerin macht zunächst geltend, für ihre Verteidigung wesentliche Informationen seien von der Kommission erst in einem sehr späten Stadium der Untersuchung, nämlich am 17. Mai 2013, geliefert worden, so dass sie nicht in der Lage gewesen sei, ihre Verteidigungsrechte angemessen wahrzunehmen. Diese sowohl belastenden als auch entlastenden Informationen beträfen erstens Beweismittel, anhand deren die Rolle des Strategischen Ausschusses habe definiert werden können, zweitens Beweismittel bezüglich des Vergütungs- und des internen Kontrollausschusses, drittens Beweismittel zu den bei den monatlichen Sitzungen erörterten Fragen und viertens Beweismittel, aufgrund deren die Kommission angenommen habe, dass die Klägerin sich wie ein industrieller Eigentümer verhalten habe.
224 Die Klägerin meint sodann, die verspätete Übermittlung dieser Informationen habe die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte nicht geheilt, da sie ihr weder bei der Vorbereitung ihrer Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte noch bei der Anhörung vom Juni 2012 zur Verfügung gestanden hätten. Wenn sie in der Lage gewesen wäre, ihre Ansicht zu den Beweismitteln in einem früheren Verfahrensstadium zu äußern, hätte die Kommission diese außerdem besser würdigen können.
225 Die Klägerin hält im Übrigen die Auffassung der Kommission, wonach der späte Zugang zu diesen Informationen gerechtfertigt sei, weil vor einer Übermittlung des Beweismaterials zunächst dessen Stichhaltigkeit habe festgestellt werden müssen, für unbegründet. Sie weist darauf hin, dass die meisten relevanten Beweise der Kommission mehr als ein Jahr zuvor zur Verfügung gestanden hätten.
226 Schließlich beantragt die Klägerin, der Kommission aufzugeben, alle von ihr zwischen dem 1. März 2012 und dem 17. Mai 2013 intern herausgegebenen relevanten Dokumente, insbesondere die Korrespondenz mit dem juristischen Dienst und dem Anhörungsbeauftragten sowie das Protokoll der Sitzungen des mit dem Fall befassten Teams sowie die diesem Team erteilten internen schriftlichen Anweisungen, gemäß Art. 64 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 zur Prüfung unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorzulegen.
227 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
228 Die Klägerin macht im Kern geltend, die Kommission habe ihr zu spät Einblick in für ihre Verteidigung wesentliche Dokumente gewährt.
229 Nach der oben in Rn. 213 zitierten Rechtsprechung bedeutet die Wahrung der Verteidigungsrechte im Wesentlichen, dass dem betroffenen Unternehmen im Verwaltungsverfahren die Gelegenheit gegeben wurde, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der angeführten Tatsachen und Umstände sachgerecht Stellung zu nehmen.
230 Im vorliegenden Fall behauptet die Klägerin im Rahmen dieses zweiten Teils – anders als im Rahmen des ersten Teils – nicht, dass ihr kein Zugang zu Dokumenten gewährt worden wäre, die für die Wahrnehmung ihrer Verteidigung gegen die ihr von der Kommission im angefochtenen Beschluss zur Last gelegten Anschuldigungen wesentlich gewesen seien, sondern wirft der Kommission nur die verspätete Übermittlung dieser Dokumente vor.
231 Es ist jedoch erstens darauf hinzuweisen, dass die von der Klägerin angeführten Dokumente dieser am 17. Mai 2013, d. h. rund zehn Monate vor Erlass des angefochtenen Beschlusses, zugeleitet wurden. Die Klägerin kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, es sei ihr unmöglich gewesen, dazu Stellung zu nehmen, da sie nicht genügend Zeit zu ihrer Prüfung gehabt habe. Weiter ist festzustellen, dass die Klägerin zu diesen Dokumenten insbesondere am 17. Juni 2013, einen Monat nach ihrer Übersendung, tatsächlich Stellung genommen hat, und aus den Schriftsätzen der Klägerin ist entgegen ihrem Vorbringen nicht ersichtlich, dass die Kommission nicht genügend Zeit gehabt hätte, ihre Stellungnahme zu berücksichtigen. Schließlich legt die Klägerin nicht substantiiert dar, welche Argumente sie hätte vorbringen können, wenn sie nicht aus Zeitmangel daran gehindert worden wäre.
232 Zweitens ist festzustellen, dass zwei der Dokumente, deren verspätete Übermittlung von der Klägerin gerügt wird, sich auf die Schlussfolgerungen beziehen, die die Kommission aus ihrer Mitwirkung in dem Vergütungs- und dem internen Kontrollausschuss von Prysmian gezogen hat. Wie sich jedoch aus der Prüfung im Rahmen des ersten Klagegrundes oben in den Rn. 120 bis 124 ergibt, kann die Kommission ihre Schlussfolgerung, wonach die Klägerin einen bestimmenden Einfluss auf die Streithelferinnen ausgeübt hat, nicht auf diese beiden Elemente stützen. Der Vorwurf der Klägerin, diese beiden sich auf die genannten Elemente beziehenden Dokumente seien zu spät übermittelt worden, geht daher ins Leere und ist somit zurückzuweisen. Im Übrigen kann die Klägerin angesichts der relativen Kürze dieser Dokumente – es handelt sich um Sitzungsprotokolle des Vorstands von Prysmian und um Monatsberichte – nicht ernsthaft behaupten, sie habe nicht genügend Zeit gehabt, um sie im Hinblick auf ihre Verteidigung vor der Kommission zu prüfen.
233 Drittens kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die am 17. Mai 2013 übermittelten Dokumente die einzige Grundlage für die Argumentation der Kommission dargestellt hätten. Die Schlussfolgerungen der Kommission im angefochtenen Beschluss beruhen nämlich auf mehreren anderen Dokumenten, die der Klägerin im Wesentlichen im Anschluss an die Annahme der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 30. Juni 2011 zugeleitet worden sind.
234 Selbst wenn die Klägerin keinen Einblick in die betreffenden Dokumente nehmen konnte, um ihre Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vorzubereiten, ist viertens zu beachten, dass es sich bei der Mitteilung der Beschwerdepunkte nach der Rechtsprechung um ein vorbereitendes Schriftstück handelt, dessen tatsächliche und rechtliche Wertungen lediglich vorläufiger Natur sind (Urteil vom 5. Dezember 2013, SNIA/Kommission, C‑448/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:801, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es gibt also keinen Hinderungsgrund dafür, dass Dokumente, die in einer Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgelegt werden, später im endgültigen Beschluss Verwendung finden, vorausgesetzt, der Betroffene wurde wie im vorliegenden Fall in die Lage versetzt, sich dazu zu äußern.
235 Der zweite Teil des fünften Klagegrundes ist somit zum Teil als ins Leere gehend und zum Teil als unbegründet zurückzuweisen. Was im Übrigen die von der Klägerin vorgeschlagene prozessleitende Maßnahme betrifft, genügt die Feststellung, dass die Klägerin nicht darlegt, inwiefern diese Maßnahme ihrer Argumentation förderlich sein könnte. Dem klägerischen Antrag ist deshalb nicht stattzugeben.
c)
Zum dritten Teil: Überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens
236 Die Klägerin wirft der Kommission vor, wegen der überlangen Dauer des Verwaltungsverfahrens den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verletzt zu haben. Die Untersuchung habe mehr als fünf Jahre lang gedauert, nämlich vom 9. Januar 2009 bis zum 2. April 2014. Diese Dauer habe Konsequenzen für ihre Verteidigung gehabt, denn sie habe die Mitteilung der Beschwerdepunkte erst am 30. Juni 2011 erhalten, als die GSCP‑V-Fonds ihre letzte Beteiligung an Prysmian im Jahr 2010 bereits abgestoßen hätten. Für den Fall, dass die überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens eine Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses nicht rechtfertigen sollte, sei das Gericht gleichwohl gehalten, die der Klägerin auferlegte Geldbuße aus Billigkeitsgründen herabzusetzen.
237 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
238 Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Einhaltung einer angemessenen Frist bei der Abwicklung der Verwaltungsverfahren auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, dessen Wahrung die Gerichte der Union zu sichern haben (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, C‑452/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:829, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
239 Der Grundsatz der angemessenen Frist im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ist in Art. 41 Abs. 1 der Charta bestätigt worden, wonach „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“ (vgl. Urteil vom 5. Juni 2012, Imperial Chemical Industries/Kommission, T‑214/06, EU:T:2012:275, Rn. 284 und die dort angeführte Rechtsprechung).
240 Die Angemessenheit der Dauer eines jeden Verfahrensabschnitts beurteilt sich nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere nach dessen Kontext, dem Verhalten der Beteiligten im Lauf des Verfahrens, der Bedeutung der Angelegenheit für die verschiedenen betroffenen Unternehmen und der Komplexität der Sache (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 1999, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, T‑305/94 bis T‑307/94, T‑313/94 bis T‑316/94, T‑318/94, T‑325/94, T‑328/94, T‑329/94 und T‑335/94, EU:T:1999:80, Rn. 126).
241 Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass bei der Prüfung des Verwaltungsverfahrens auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik vor der Kommission zwei aufeinanderfolgende Abschnitte unterschieden werden können, von denen jeder einer eigenen inneren Logik folgt. Der erste Abschnitt, der sich bis zur Mitteilung der Beschwerdepunkte erstreckt, beginnt dann, wenn die Kommission in Ausübung der ihr durch den Unionsgesetzgeber verliehenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf der Begehung einer Zuwiderhandlung verbunden sind; er soll es ihr ermöglichen, zum weiteren Verlauf des Verfahrens Stellung zu nehmen. Der zweite Abschnitt erstreckt sich von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung. Er soll es der Kommission ermöglichen, sich abschließend zu der gerügten Zuwiderhandlung zu äußern (Urteil vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, C‑105/04 P, EU:C:2006:592, Rn. 38).
242 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen kann, wenn diese Verletzung sich auf den Ausgang des Verfahrens ausgewirkt haben konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2006, Technische Unie/Kommission, C‑113/04 P, EU:C:2006:593, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
243 Es ist jedoch klarzustellen, dass die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln einen Grund für die Nichtigerklärung nur im Fall von Beschlüssen darstellen kann, mit denen Zuwiderhandlungen festgestellt werden, und sofern erwiesen ist, dass die Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Frist die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen beeinträchtigt hat. Außerhalb dieser besonderen Fallgestaltung wirkt sich die Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 aus (Urteil vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, C‑105/04 P, EU:C:2006:592, Rn. 42).
244 Da der Beachtung der Verteidigungsrechte als eines Grundsatzes, dessen fundamentaler Charakter in der Rechtsprechung des Gerichtshofs mehrfach hervorgehoben wurde, in Verfahren wie dem vorliegenden größte Bedeutung zukommt, muss schließlich verhindert werden, dass diese Rechte aufgrund der übermäßigen Dauer der Ermittlungsphase in nicht wieder gutzumachender Weise beeinträchtigt werden und dass die Verfahrensdauer der Erbringung von Beweisen dafür entgegensteht, dass keine Verhaltensweisen vorlagen, die die Verantwortung der betroffenen Unternehmen auslösen könnten. Aus diesem Grund darf sich die Prüfung einer etwaigen Beeinträchtigung der Ausübung der Verteidigungsrechte nicht auf den Abschnitt beschränken, in dem diese Rechte ihre volle Wirkung entfalten, nämlich den zweiten Abschnitt des Verwaltungsverfahrens. Die Beurteilung der Quelle einer etwaigen Schwächung der Wirksamkeit der Verteidigungsrechte muss sich auf das gesamte Verwaltungsverfahren erstrecken und es in voller Länge einbeziehen (vgl. Urteil vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, C‑105/04 P, EU:C:2006:592, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
245 Im vorliegenden Fall beträgt die Dauer des ersten Abschnitts des Verwaltungsverfahrens, der sich von der Zustellung der Nachprüfungsentscheidung an die Streithelferinnen im Januar 2009 bis zum Zugang der Mitteilung der Beschwerdepunkte im Juni 2011 erstreckt, 29 Monate. Die Dauer des zweiten Abschnitts des Verwaltungsverfahrens, der sich vom Zugang der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass des angefochtenen Beschlusses im April 2014 erstreckt, beträgt 33 Monate.
246 Dazu ist festzustellen, dass in Anbetracht der Schritte, die die Kommission unternehmen musste, um die Untersuchung abzuschließen und den angefochtenen Beschluss zu erlassen, die Dauer weder des ersten noch des zweiten Abschnitts des Verwaltungsverfahrens übermäßig lang ist.
247 Wie die Kommission nämlich ausführt, hatte die Untersuchung ein weltweit tätiges Kartell mit zahlreichen Mitgliedern und mit mehr als zehnjähriger Dauer zum Gegenstand, wobei die Kommission im Lauf der Untersuchung große Mengen an Beweismitteln in den Verfahrensakten aktualisieren musste, einschließlich all der Beweismittel, die sie bei ihren Nachprüfungen vorgefunden und von den Kronzeugen erhalten hatte. Außerdem richtete die Kommission im Lauf der Untersuchung Auskunftsverlangen gemäß Art. 18 der Verordnung Nr. 1/2003 bzw. Rn. 12 der Kronzeugenregelung an die Teilnehmer der betroffenen Branche.
248 Hinzu kommt, dass die Kommission wegen des Umfangs der Beweismittel einen in seiner englischen Fassung 287 Seiten umfassenden Beschluss erlassen hat, dessen Anlage 1 die vollständigen Verweisungen auf alle während der Ermittlungsphase gesammelten Beweismittel enthält. Auch erscheinen Umfang und Tragweite des Kartells sowie die sprachlichen Schwierigkeiten bemerkenswert: Der angefochtene Beschluss war an 26 Adressaten aus zahlreichen Ländern gerichtet, die zu einem Großteil unter verschiedenen Rechtsformen am Kartell teilgenommen hatten und während oder nach der Dauer des Kartells umstrukturiert worden waren. Überdies musste dieser in englischer Sprache abgefasste Beschluss in voller Länge ins Deutsche, Französische und Italienische übersetzt werden.
249 Schließlich geht aus der oben in den Rn. 3 bis 10 wiedergegebenen Vorgeschichte des Rechtsstreits hervor, dass die Kommission im Rahmen des Verwaltungsverfahrens eine ganze Reihe von Schritten unternommen hat, die die Dauer eines jeden der Verfahrensabschnitte rechtfertigen und hinsichtlich deren die Klägerin nicht im Einzelnen geltend gemacht hat, sie seien für die Untersuchung ungeeignet gewesen.
250 Die Dauer der beiden Abschnitte des Verwaltungsverfahrens war folglich angemessen, um die Kommission in die Lage zu versetzen, die Beweismittel und die Argumente der durch die Untersuchung betroffenen Parteien einer gründlichen Prüfung zu unterziehen.
251 Die Klägerin kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, dass die Dauer des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission übermäßig lang gewesen wäre und dass Letztere den Grundsatz der angemessenen Frist verletzt hätte.
252 Selbst wenn aber festgestellt werden sollte, dass die Dauer des Verwaltungsverfahrens insgesamt zu lang war und der Grundsatz der angemessenen Frist verletzt wurde, würde eine solche Feststellung angesichts der oben in den Rn. 242 bis 244 zitierten Rechtsprechung für sich allein jedenfalls nicht ausreichen, um den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären.
253 In diesem Zusammenhang trägt die Klägerin vor, die überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens habe insbesondere dadurch „Auswirkungen auf ihre Fähigkeit, sich zu verteidigen“, gehabt, dass sie zu dem Zeitpunkt, als sie erfahren habe, dass die Untersuchung auch gegen sie gerichtet sei, d. h. am 30. Juni 2011, dem Tag der Mitteilung der Beschwerdepunkte, bereits ihre letzte Beteiligung an den Streithelferinnen abgestoßen habe, so dass sie nur noch begrenzten Zugang zu den ihre Investition betreffenden Beweismitteln gehabt habe. Dazu genügt der Hinweis, dass die Klägerin nach ständiger Rechtsprechung aufgrund der jedem Unternehmen und jeder Unternehmensvereinigung obliegenden allgemeinen Pflicht zu umsichtigem Handeln dafür sorgen muss, dass in ihren Büchern oder Archiven alle Unterlagen, die es ermöglichen, ihre Tätigkeit nachzuvollziehen, gut aufbewahrt werden, damit sie insbesondere für den Fall gerichtlicher oder verwaltungsbehördlicher Maßnahmen über die nötigen Beweise verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2011, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, T‑240/07, EU:T:2011:284, Rn. 301 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Pflicht gilt nach dem Urteil vom 27. Juni 2012, Bolloré/Kommission (T‑372/10, EU:T:2012:325, Rn. 152), auch im Fall der Veräußerung einer Tochtergesellschaft.
254 Soweit die Klägerin das Gericht ersucht, die gegen sie verhängte Geldbuße nach billigem Ermessen herabzusetzen, falls die Dauer des Verwaltungsverfahrens eine Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses nicht rechtfertige, wird dieses Ersuchen im Rahmen des Antrags auf Herabsetzung der Geldbuße unten in Rn. 261 geprüft werden.
255 Folglich ist der dritte Teil des fünften Klagegrundes und damit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
256 Nach alledem ist festzustellen, dass die Klägerin keine Unregelmäßigkeiten seitens der Kommission nachweisen konnte, die es rechtfertigen würden, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er die Klägerin betrifft.
257 Der Antrag der Klägerin auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses ist somit zurückzuweisen.
B. Zu den Anträgen auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße
258 Die Klägerin ersucht das Gericht, die gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen, um so den von der Kommission bei deren Bemessung begangenen Fehlern Rechnung zu tragen. Außerdem ersucht sie das Gericht, die Geldbuße nach billigem Ermessen herabzusetzen, falls die Dauer des Verwaltungsverfahrens eine Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses nicht rechtfertige. Schließlich beantragt die Klägerin, eine Herabsetzung der Geldbuße, die den Streithelferinnen infolge der gegen diesen Beschluss erhobenen Klage in der Rechtssache T‑475/14, Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi/Kommission, gewährt werde, auch ihr zugutekommen zu lassen.
259 Vor einer Prüfung der verschiedenen Anträge der Klägerin auf Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbuße ist zu beachten, dass die Rechtmäßigkeitskontrolle durch die dem Unionsrichter durch Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 gemäß Art. 261 AEUV eingeräumte Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ergänzt wird. Diese Befugnis ermächtigt den Richter über die reine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme hinaus dazu, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß die verhängte Geldbuße oder das verhängte Zwangsgeld aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung nicht einer Prüfung von Amts wegen entspricht und dass das Verfahren vor den Gerichten der Union ein streitiges Verfahren ist. Mit Ausnahme der Gründe zwingenden Rechts, die der Richter von Amts wegen zu berücksichtigen hat, wie etwa das Fehlen einer Begründung der angefochtenen Entscheidung, ist es Sache des Klägers, gegen die Entscheidung Klagegründe vorzubringen und für diese Beweise beizubringen (Urteil vom 8. Dezember 2011, KME Germany u. a./Kommission, C‑389/10 P, EU:C:2011:816, Rn. 130 und 131).
1. Zum Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße wegen der von der Kommission bei deren Bemessung begangenen Fehler
260 Was erstens den Antrag der Klägerin betrifft, die gegen sie verhängte Geldbuße wegen der von der Kommission bei deren Bemessung begangenen Fehler herabzusetzen, ist darauf hinzuweisen, dass die Klagegründe, auf die die Klägerin ihren Antrag auf Nichtigerklärung gestützt hat, zurückgewiesen worden sind und dass nicht ersichtlich ist, was im vorliegenden Fall eine Herabsetzung der Geldbuße rechtfertigen könnte. Daher ist der vorliegende Antrag in vollem Umfang zurückzuweisen.
2. Zum Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße wegen der überlangen Dauer des Verwaltungsverfahrens
261 Was zweitens den Antrag der Klägerin anbelangt, die gegen sie verhängte Geldbuße wegen der überlangen Dauer des Verwaltungsverfahrens nach billigem Ermessen herabzusetzen, genügt der Hinweis, dass die Verletzung des Grundsatzes der Einhaltung einer angemessenen Frist durch die Kommission zwar die Nichtigerklärung einer am Ende eines auf Art. 101 oder Art. 102 AEUV gestützten Verwaltungsverfahrens ergangenen Entscheidung der Kommission rechtfertigen kann, da sie auch eine Verletzung der Verteidigungsrechte des betroffenen Unternehmens mit sich bringt, dass ein solcher Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Frist – sein Vorliegen unterstellt – jedoch nicht zu einer Herabsetzung der verhängten Geldbuße führen kann (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Villeroy & Boch/Kommission, C‑644/13 P, EU:C:2017:59, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
262 Jedenfalls konnte, wie sich oben aus Rn. 251 ergibt, im vorliegenden Fall eine überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht festgestellt werden. Daraus folgt, dass dieser Antrag zurückzuweisen ist.
3. Zu dem Antrag, die Geldbuße herabzusetzen, um eine Herabsetzung der Geldbuße, die den Streithelferinnen infolge der gegen den angefochtenen Beschluss erhobenen Klage in der Rechtssache T‑475/14 gewährt werden sollte, auch der Klägerin zugutekommen zu lassen
263 Was drittens und letztens den Antrag der Klägerin betrifft, eine Herabsetzung der Geldbuße, die das Gericht den Streithelferinnen infolge der gegen den angefochtenen Beschluss erhobenen Klage in der Rechtssache T‑475/14, Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi/Kommission, gewähre, auch ihr zugutekommen zu lassen, ist daran zu erinnern, dass der Klägerin die Verantwortlichkeit für das fragliche Kartell nicht wegen ihrer unmittelbaren Beteiligung an dessen Tätigkeit zugewiesen wurde. Nach Art. 1 dieses Beschlusses wurde sie für die Zuwiderhandlung nur in ihrer Eigenschaft als Muttergesellschaft der Streithelferinnen zur Verantwortung gezogen.
264 Wenn sich aber die Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft ausschließlich aus der unmittelbaren Beteiligung ihrer Tochtergesellschaft an der Zuwiderhandlung ergibt und wenn diese beiden Gesellschaften parallele Klagen mit gleichem Streitgegenstand eingereicht haben, kann das Gericht, ohne ultra petita zu entscheiden, die hinsichtlich der Tochtergesellschaft in Bezug auf einen bestimmten Zeitraum erfolgte Nichtigerklärung der Feststellung einer Zuwiderhandlung berücksichtigen und die gegen die Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch mit ihrer Tochtergesellschaft verhängte Geldbuße entsprechend herabsetzen.
265 Insoweit ist es zum einen für die Haftungszuweisung an eine wirtschaftliche Einheit erforderlich, den Beweis zu erbringen, dass zumindest ein Teil dieser Einheit den Wettbewerbsregeln der Union zuwidergehandelt hat, und dass dieser Umstand in einer Entscheidung festgestellt wird, die endgültig geworden ist; zum anderen ist es unerheblich, aus welchem Grund festgestellt worden ist, dass ein rechtswidriges Verhalten der Tochtergesellschaft nicht vorliegt.
266 In einem solchen Zusammenhang ist die Haftung der Muttergesellschaft, die diese ausschließlich aufgrund der unmittelbaren Beteiligung einer Tochtergesellschaft an der Zuwiderhandlung trifft, vollständig abgeleitet. In diesem Fall findet die Haftung der Muttergesellschaft ihren Ursprung nämlich in dem rechtswidrigen Verhalten ihrer Tochtergesellschaft, das der Muttergesellschaft in Anbetracht der wirtschaftlichen Einheit, die diese Gesellschaften bilden, zugerechnet wird. Folglich hängt die Haftung der Muttergesellschaft zwangsläufig von den Tatsachen ab, die die von ihrer Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung begründen und mit denen ihre Haftung untrennbar verbunden ist.
267 Aus den gleichen Gründen ist in einem Fall, in dem kein weiterer Faktor das der Muttergesellschaft vorgeworfene Verhalten individuell kennzeichnet, die Herabsetzung der gegen die Tochtergesellschaft gesamtschuldnerisch mit ihrer Muttergesellschaft verhängten Geldbuße grundsätzlich auf die Muttergesellschaft zu erstrecken ist, wenn die vorgeschriebenen Verfahrensvoraussetzungen erfüllt sind.
268 Im vorliegenden Fall haben sowohl die Klägerin als auch die Streithelferinnen eine Klage gegen den angefochtenen Beschluss erhoben, und diese Klagen haben teilweise denselben Streitgegenstand, nämlich die Nichtigerklärung der in Art. 2 Buchst. f dieses Beschlusses gegen sie verhängten Geldbuße, hilfsweise die Herabsetzung dieser ihnen gesamtschuldnerisch auferlegten Geldbuße.
269 Unter diesen Umständen müsste der Klägerin eine etwaige Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses in gleicher Weise zugutekommen wie den Streithelferinnen im Rahmen ihrer Klage in der Rechtssache T‑475/14.
270 Mit Urteil vom heutigen Tag in der Rechtssache T‑475/14, Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi/Kommission, hat das Gericht jedoch die Klage in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, abgewiesen, und zwar sowohl den Antrag der Streithelferinnen auf Nichtigerklärung als auch ihre Anträge auf Herabsetzung der gegen sie verhängten Geldbußen.
271 Aus diesem Grund kann der Antrag der Klägerin, eine Herabsetzung der Geldbuße, die den Streithelferinnen infolge der gegen den angefochtenen Beschluss erhobenen Klage in der Rechtssache T‑475/14, Prysmian und Prysmian Cavi e Sistemi/Kommission, gewährt werden sollte, auf sie zu erstrecken, nicht durchgreifen, so dass die Anträge auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße in vollem Umfang zurückzuweisen sind.
272 Nach alledem ist die vorliegende Klage abzuweisen.
IV. Kosten
273 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
274 Da die Klägerin mit allen ihren Klageanträgen und Klagegründen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission sämtliche Kosten aufzuerlegen.
275 Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht entscheiden, dass ein anderer Streithelfer als die in den Abs. 1 und 2 genannten seine eigenen Kosten trägt. Unter den Umständen des vorliegenden Rechtsstreits ist zu entscheiden, dass Prysmian und PrysmianCS ihre eigenen Kosten tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Achte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. The Goldman Sachs Group, Inc. trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Die Prysmian SpA und die Prysmian Cavi e Sistemi Srl tragen jeweils ihre eigenen Kosten.
Collins
Kancheva
Barents
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. Juli 2018.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Klägerin und betroffene Branche
B. Verwaltungsverfahren
C. Angefochtener Beschluss
1. In Rede stehende Zuwiderhandlung
2. Verantwortlichkeit der Klägerin
3. Verhängte Geldbuße
II. Verfahren und Anträge der Parteien
III. Entscheidungsgründe
A. Zum Antrag auf Nichtigerklärung
1. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie Rechts- und offensichtlicher Beurteilungsfehler
a) Zum ersten Teil: Rückgriff auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses während des Zeitraums vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007
1) Zur ersten Rüge: Rückgriff auf die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses während des Zeitraums vom 29. Juli 2005 bis zum 3. Mai 2007
2) Zur zweiten Rüge: Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses
b) Zum zweiten Teil: Schlussfolgerungen der Kommission in Bezug auf den Zeitraum vom 29. Juli 2005 bis zum 28. Januar 2009
1) Zur Befugnis, die Mitglieder der verschiedenen Vorstände von Prysmian zu ernennen, sowie zur Befugnis, die Anteilseigner zu den Hauptversammlungen einzuberufen und die Abberufung einzelner Vorstandsmitglieder oder ganzer Vorstände vorzuschlagen
2) Zur tatsächlichen Vertretung der Klägerin im Vorstand von Prysmian
3) Zu den Geschäftsführungsbefugnissen der Vertreter der Klägerin im Vorstand
4) Zur Bedeutung der Rolle der Klägerin in den von Prysmian eingerichteten Ausschüssen
5) Zum Erhalt regelmäßiger Aktualisierungen und monatlicher Berichte
6) Zu den Maßnahmen zur Sicherung des Fortbestehens der entscheidenden Kontrolle nach dem Zeitpunkt des Börsengangs
7) Zum Beweis für das typische Verhalten eines industriellen Eigentümers
8) Zur Gesamtbewertung der im angefochtenen Beschluss angeführten Umstände
c) Zum dritten Teil: Schlussfolgerung der Kommission, wonach die Klägerin im Wesentlichen kein reiner Finanzinvestor war
2. Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, Unzulänglichkeit der Beweismittel und Verletzung der in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht
a) Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 und Unzulänglichkeit der Beweismittel
b) Zum zweiten Teil: Verletzung der Begründungspflicht
3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie Verletzung der Grundsätze der persönlichen Verantwortlichkeit und der Unschuldsvermutung
4. Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, offensichtlicher Beurteilungsfehler sowie Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der individuellen Zumessung von Strafen
5. Zum fünften Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte und des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung
a) Zum ersten Teil: Die Kommission habe der Klägerin keinen Zugang zu für ihre Verteidigung wesentlichen Dokumenten gewährt
b) Zum zweiten Teil: Die Kommission habe den Zugang zu anderen für die Verteidigung der Klägerin wesentlichen Dokumenten widerrechtlich verzögert
c) Zum dritten Teil: Überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens
B. Zu den Anträgen auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße
1. Zum Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße wegen der von der Kommission bei deren Bemessung begangenen Fehler
2. Zum Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße wegen der überlangen Dauer des Verwaltungsverfahrens
3. Zu dem Antrag, die Geldbuße herabzusetzen, um eine Herabsetzung der Geldbuße, die den Streithelferinnen infolge der gegen den angefochtenen Beschluss erhobenen Klage in der Rechtssache T‑475/14 gewährt werden sollte, auch der Klägerin zugutekommen zu lassen
IV. Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Nicht wiedergegebene vertrauliche Daten.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 1. März 2016.#National Iranian Oil Company gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtsmittel – Restriktive Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran – Liste der Personen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Durchführungsverordnung (EU) Nr. 945/2012 – Rechtsgrundlage – Kriterium der materiellen, logistischen oder finanziellen Unterstützung der iranischen Regierung.#Rechtssache C-440/14 P.
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62014CJ0440
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ECLI:EU:C:2016:128
| 2016-03-01T00:00:00 |
Gerichtshof, Cruz Villalón
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0440
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
1. März 2016 (*1)
„Rechtsmittel — Restriktive Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran — Liste der Personen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden — Durchführungsverordnung (EU) Nr. 945/2012 — Rechtsgrundlage — Kriterium der materiellen, logistischen oder finanziellen Unterstützung der iranischen Regierung“
In der Rechtssache C‑440/14 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 23. September 2014,
National Iranian Oil Company mit Sitz in Teheran (Iran), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt J.‑M. Thouvenin,
Rechtsmittelführerin,
andere Parteien des Verfahrens:
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bishop und V. Piessevaux als Bevollmächtigte,
Beklagter im ersten Rechtszug,
Europäische Kommission, vertreten durch A. Aresu, D. Gauci und L. Gussetti als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelferin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, D. Šváby, F. Biltgen und C. Lycourgos, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), E. Juhász, J. Malenovský und M. Safjan, der Richterin M. Berger und des Richters S. Rodin,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2015,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. September 2015
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die National Iranian Oil Company (im Folgenden: NIOC) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 16. Juli 2014, National Iranian Oil Company/Rat (T‑578/12, EU:T:2014:678, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2012/635/GASP des Rates vom 15. Oktober 2012 zur Änderung des Beschlusses 2010/413/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 282, S. 58, im Folgenden: streitiger Beschluss) und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 945/2012 des Rates vom 15. Oktober 2012 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 267/2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 282, S. 16, im Folgenden: streitige Verordnung), soweit diese Rechtsakte sie betreffen, abgewiesen hat.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird vom Gericht im angefochtenen Urteil wie folgt dargestellt:
„3
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (im Folgenden: Sicherheitsrat) nahm am 9. Juni 2010 die Resolution 1929 (2010) an, durch die der Geltungsbereich der mit den Resolutionen 1737 (2006), 1747 (2007) und 1803 (2008) des Sicherheitsrats verhängten restriktiven Maßnahmen ausgeweitet wurde und weitere restriktive Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran eingeführt wurden.
4 Am 17. Juni 2010 brachte der Europäische Rat seine wachsende Besorgnis über das iranische Nuklearprogramm zum Ausdruck und begrüßte die Annahme der Resolution 1929 (2010). Unter Hinweis auf seine Erklärung vom 11. Dezember 2009 ersuchte er den Rat der Europäischen Union, Maßnahmen zur Umsetzung der in der Resolution 1929 (2010) vorgesehenen Maßnahmen sowie Begleitmaßnahmen zu erlassen, damit alle noch bestehenden Bedenken in Bezug auf die Entwicklung sensibler Technologien durch die Islamische Republik Iran zur Unterstützung ihrer Nuklear- und Trägerraketenprogramme auf dem Verhandlungsweg ausgeräumt werden können. Diese Maßnahmen sollten sich auf folgende Bereiche konzentrieren: den Handel, den Finanzsektor, den iranischen Verkehrssektor, Schlüsselbranchen der Gas- und Ölindustrie und die zusätzlich benannten Personen und Einrichtungen, insbesondere das Korps der Islamischen Revolutionsgarden.
5 Am 26. Juli 2010 nahm der Rat den Beschluss 2010/413/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP (ABl. L 195, S. 39) an, in dessen Anhang II die Personen und Einrichtungen – neben denen, die vom Sicherheitsrat oder von dem mit der Resolution 1737 (2006) eingesetzten Sanktionsausschuss benannt wurden und in Anhang I erfasst sind – aufgeführt sind, deren Gelder eingefroren werden. Im 22. Erwägungsgrund des Beschlusses wird auf die Resolution 1929 (2010) Bezug genommen. Darin werde Kenntnis genommen von dem potenziellen Zusammenhang zwischen den Einnahmen, die Iran aus seinem Energiesektor beziehe, und der Finanzierung seiner proliferationsrelevanten nuklearen Tätigkeiten.
6 Am 23. Januar 2012 nahm der Rat den Beschluss 2012/35/GASP zur Änderung des Beschlusses 2010/413 (ABl. L 19, S. 22) an. In seinem 13. Erwägungsgrund heißt es, dass die Einreisebeschränkungen und das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen auf weitere Personen und Einrichtungen, die die iranische Regierung unterstützen, indem sie ihr proliferationsrelevante nukleare Tätigkeiten oder die Entwicklung von Trägersystemen für Kernwaffen ermöglichen, insbesondere auf Personen und Einrichtungen, die finanzielle, logistische oder materielle Unterstützung für die iranische Regierung bereitstellen, Anwendung finden sollten.
7 Durch Art. 1 Nr. 7 Buchst. a Ziff. ii des Beschlusses 2012/35 wurde Art. 20 Abs. 1 des Beschlusses 2010/413 folgender Buchstabe angefügt, der vorsieht, dass die Gelder der nachstehenden Personen und Einrichtungen eingefroren werden:
‚c)
weitere, nicht in Anhang I erfasste Personen und Einrichtungen, die die Regierung Irans unterstützen, und mit ihnen verbundene Personen und Einrichtungen gemäß der Auflistung in Anhang II‘.
8 Infolgedessen nahm der Rat im Rahmen des AEU-Vertrags am 23. März 2012 die Verordnung (EU) Nr. 267/2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 (ABl. L 88, S. 1) an. Zur Durchführung von Art. 1 Nr. 7 Buchst. a Ziff. ii des Beschlusses 2012/35 sieht Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung das Einfrieren der Gelder der in ihrem Anhang IX aufgeführten Personen, Organisationen und Einrichtungen vor, in Bezug auf die festgestellt wurde, dass sie
‚d)
sonstige Personen, Organisationen oder Einrichtungen sind, die die iranische Regierung beispielsweise materiell, logistisch oder finanziell unterstützen, oder Organisationen, die in ihrem Eigentum oder unter ihrer Kontrolle stehen, oder Personen, die mit ihnen in Verbindung stehen‘.
9 Am 15. Oktober 2012 nahm der Rat den [streitigen] Beschluss an. Im 16. Erwägungsgrund dieses Beschlusses heißt es, dass weitere Personen und Einrichtungen in die Liste der Personen und Einrichtungen, die gemäß Anhang II des Beschlusses 2010/413 restriktiven Maßnahmen unterliegen, aufgenommen werden sollten, insbesondere Einrichtungen, deren Geschäftstätigkeit im Öl- und Gasbereich liegt und die sich im Eigentum des iranischen Staates befinden, da diese Einrichtungen eine wesentliche Einnahmequelle des iranischen Staates sind.
10 Durch Art. 1 Nr. 8 Buchst. a des [streitigen] Beschlusses wurde Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 geändert. Diese Bestimmung sieht nun vor, dass restriktive Maßnahmen verhängt werden gegen
‚c)
andere Personen und Einrichtungen, die nicht unter Anhang I fallen, die die Regierung des Iran unterstützen, und Einrichtungen, die in deren Eigentum oder unter deren Kontrolle stehen, oder Personen und Einrichtungen, die mit ihnen in Verbindung stehen; diese sind in Anhang II aufgeführt.‘
11 Durch Art. 2 des [streitigen] Beschlusses wurde die Klägerin in Tabelle I im Anhang II des Beschlusses 2010/413 mit der Liste der ‚Personen und Einrichtungen, die an nuklearen Tätigkeiten oder Tätigkeiten im Zusammenhang mit ballistischen Raketen beteiligt sind, und Personen und Einrichtungen, die die Regierung Irans unterstützen‘, aufgenommen.
12 Infolgedessen nahm der Rat am selben Tag die [streitige] Verordnung an. Durch Art. 1 der [streitigen] Verordnung wurde die Klägerin in die Tabelle im Anhang IX der Verordnung Nr. 267/2012 mit der Liste der ‚Personen und Einrichtungen, die an nuklearen Tätigkeiten oder Tätigkeiten im Zusammenhang mit ballistischen Flugkörpern beteiligt sind, sowie [der] Personen und Einrichtungen, die die iranische Regierung unterstützen‘, aufgenommen.
13 Die Aufnahme der Klägerin in die betreffenden Listen durch den [streitigen] Beschluss und die [streitige] Verordnung erfolgte aus folgenden Gründen:
‚Staatliche Einrichtung, die Finanzmittel für die Regierung Irans bereitstellt. Die NIOC wird vom Ölministerium geleitet. Der Minister für Öl ist Vorstandsvorsitzender der NIOC, und der stellvertretende Minister für Öl ist geschäftsführender Direktor der NIOC.‘“
3 Ergänzend zu dieser vom Gericht dargestellten Vorgeschichte des Rechtsstreits sind die Art. 45 und 46 der Verordnung Nr. 267/2012 zu erwähnen, in denen es heißt:
„Artikel 45
Die Kommission ändert
a)
Anhang II auf der Grundlage der vom … Sicherheitsrat oder vom Sanktionsausschuss getroffenen Feststellungen oder auf der Grundlage der von den Mitgliedstaaten übermittelten Informationen;
b)
die Anhänge III, IV, V, VI, VII und X auf der Grundlage der von den Mitgliedstaaten übermittelten Informationen.
Artikel 46
(1) Nimmt der Sicherheitsrat oder der Sanktionsausschuss eine natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung in die Liste auf, so nimmt der Rat diese natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung in Anhang VIII auf.
(2) Beschließt der Rat, die in Artikel 23 Absätze 2 und 3 genannten Maßnahmen auf eine natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung anzuwenden, so ändert er Anhang IX entsprechend.
(3) Der Rat setzt die in Absatz 1 oder 2 genannten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen entweder auf direktem Weg, falls die Anschrift bekannt ist, oder durch Veröffentlichung einer Bekanntmachung von seinem Beschluss und den Gründen für ihre Aufnahme in die Liste in Kenntnis und gibt dabei diesen natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen Gelegenheit zur Stellungnahme.
(4) Wird eine Stellungnahme unterbreitet oder werden stichhaltige neue Beweise vorgelegt, so überprüft der Rat seinen Beschluss und unterrichtet die natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung.
(5) Beschließen die Vereinten Nationen, eine natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung von der Liste zu streichen oder die der Identifizierung dienenden Angaben zu einer in der Liste aufgeführten natürlichen oder juristischen Person, Organisation oder Einrichtung zu ändern, so ändert der Rat Anhang VIII entsprechend.
(6) Die Liste in Anhang IX wird in regelmäßigen Abständen, mindestens aber alle 12 Monate überprüft.“
4 Die Anhänge II bis VII der Verordnung Nr. 267/2012 enthalten Listen der von dieser Verordnung erfassten Güter, Technologien, Ausrüstungen und Metalle. Anhang X der Verordnung enthält Verweise auf Websites mit Informationen über die in verschiedenen Bestimmungen der Verordnung genannten zuständigen Behörden sowie die Anschrift für Notifikationen an die Kommission.
5 Anhang VIII der Verordnung Nr. 267/2012 enthält die Liste der Personen und Einrichtungen gemäß Art. 23 Abs. 1 der Verordnung und Anhang IX die Liste der Personen und Einrichtungen gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung.
6 Am 27. Dezember 2012 erhob die NIOC Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses und der streitigen Verordnung.
Angefochtenes Urteil
7 Zur Stützung ihrer Klage machte die NIOC sechs Klagegründe geltend. Mit dem ersten Klagegrund wurde ein Verstoß gegen Art. 296 AEUV gerügt, der darin bestehen soll, dass in der streitigen Verordnung die Rechtsgrundlage für ihren Erlass nicht angegeben sei. Mit dem zweiten Klagegrund wurde geltend gemacht, es gebe keine geeignete Rechtsgrundlage für die streitige Verordnung. Der dritte Klagegrund betraf die Rechtswidrigkeit von Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012 und von Art. 20 Abs. 2 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 in der durch den streitigen Beschluss geänderten Fassung. Mit dem vierten Klagegrund wurden Rechtsfehler, ein Fehler bei der Tatsachenfeststellung und ein Beurteilungsfehler beanstandet. Der fünfte Klagegrund ging dahin, dass ein Verstoß gegen die Begründungspflicht, eine Verletzung der Verteidigungsrechte, ein Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und eine Verletzung des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz begangen worden seien. Mit dem sechsten Klagegrund wurde die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Eigentumsrechts gerügt.
8 Das Gericht hat alle diese Klagegründe zurückgewiesen und infolgedessen die Klage insgesamt abgewiesen.
Anträge der Parteien
9 Die NIOC beantragt,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben,
—
ihren beim Gericht gestellten Anträgen stattzugeben und
—
dem Rat die Kosten beider Rechtszüge aufzuerlegen.
10 Der Rat beantragt,
—
das Rechtsmittel insgesamt als unbegründet zurückzuweisen und
—
der NIOC die Kosten aufzuerlegen.
11 Die Kommission beantragt,
—
das Rechtsmittel zurückzuweisen und
—
der NIOC die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
12 Die NIOC stützt ihr Rechtsmittel auf sechs Gründe.
Zum ersten Rechtsmittelgrund: Verletzung der Pflicht zur Begründung der streitigen Verordnung
Vorbringen der Parteien
13 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die NIOC geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, als es den Klagegrund zurückgewiesen habe, wonach die streitige Verordnung mangelhaft begründet sei, weil ihre Rechtsgrundlage nicht angegeben werde. Sie wendet sich insoweit gegen Rn. 43 des angefochtenen Urteils, in der das Gericht entschieden hat, dass „Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 … dem Rat also ausdrücklich die Befugnis zur Durchführung von Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung ein[räumt]“ und „[d]ie Rechtsgrundlage für den Erlass restriktiver Maßnahmen gegen eine Person oder Einrichtung, wie sie gegen die Klägerin verhängt wurden, … in den Bezugsvermerken der [streitigen] Verordnung mithin klar angegeben [ist]“.
14 Unter Bezugnahme auf Rn. 39 des Urteils Kommission/Rat (C‑370/07, EU:C:2009:590) bringt die NIOC vor, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehme jede Maßnahme, die rechtliche Wirkungen erzeugen solle, ihre Bindungswirkung einer Bestimmung des Unionsrechts, die ausdrücklich als Rechtsgrundlage bezeichnet sein müsse und die Rechtsform vorschreibe, in der die Maßnahme zu erlassen sei. Die Ausdrücke „[b]eschließt der Rat“ und „so ändert er Anhang IX entsprechend“ in Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 gäben aber nicht die Rechtsform des zu erlassenden Rechtsakts an, so dass diese Bestimmung nicht die Rechtsgrundlage für den Rechtsakt zur Änderung von Anhang IX der Verordnung bilden könne, der die Liste der natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen gemäß Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung enthalte.
15 Der Rat tritt dem Vorbringen der NIOC entgegen.
Würdigung durch den Gerichtshof
16 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund bringt die NIOC vor, das Gericht habe, als es den Klagegrund eines Begründungsmangels der streitigen Verordnung zurückgewiesen habe, insofern einen Rechtsfehler begangen, als es in Rn. 43 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass die Rechtsgrundlage für den Erlass der streitigen Verordnung in deren Bezugsvermerken klar angegeben sei, obwohl die als Rechtsgrundlage genannte Bestimmung nicht die Rechtsform des zu erlassenden Rechtsakts angebe.
17 Insoweit ist zunächst hervorzuheben, dass – wie das Gericht in den Rn. 42 und 43 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat – in den Bezugsvermerken der streitigen Verordnung Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 ausdrücklich als Rechtsgrundlage genannt ist, die den Rat zum Erlass restriktiver Maßnahmen ermächtigt, wie sie gegen die NIOC verhängt wurden.
18 Zur Rechtsform des zu erlassenden Rechtsakts ist festzustellen, dass sie bei der Angabe seiner Rechtsgrundlage nicht unbedingt erforderlich ist. Wie der Rat zutreffend geltend gemacht hat, gibt es zahlreiche als Rechtsgrundlage dienende Vertragsbestimmungen, die nicht die Form der Rechtsakte nennen, die erlassen werden können. Außerdem heißt es in Art. 296 AEUV: „Wird die Art des zu erlassenden Rechtsakts von den Verträgen nicht vorgegeben, so entscheiden die Organe darüber von Fall zu Fall unter Einhaltung der geltenden Verfahren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.“ Damit sieht er ausdrücklich vor, dass die Bestimmungen des AEU-Vertrags die Form der Rechtsakte, die erlassen werden können, nicht vorgeben.
19 Daraus ergibt sich, dass die Rechtsgrundlage für den Erlass restriktiver Maßnahmen gegen eine Person oder Einrichtung durch den Rat, nämlich Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012, in den Bezugsvermerken der streitigen Verordnung klar angegeben wurde, so dass es entgegen der Auffassung der NIOC in dieser Bestimmung keiner Angabe der Rechtsform der Rechtsakte, die der Rat auf ihrer Grundlage erlassen kann, bedurfte, damit die Bezugnahme auf diese Bestimmung eine hinreichende Begründung für die Rechtsgrundlage der streitigen Verordnung darstellt. Demnach hat das Gericht insoweit keinen Rechtsfehler begangen.
20 Folglich ist der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zu den Rechtsmittelgründen 2 bis 5: Fehlen einer Rechtsgrundlage für die streitige Verordnung
Vorbringen der Parteien
21 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund bringt die NIOC im Wesentlichen vor, dass Art. 215 AEUV die Rechtsgrundlage für die streitige Verordnung hätte bilden müssen. Mit ihren Rechtsmittelgründen 3 bis 5 macht sie für den Fall, dass der Rückgriff auf Art. 291 Abs. 2 AEUV für den Erlass individueller restriktiver Maßnahmen als zulässig angesehen werde, hilfsweise geltend, dass die in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen für die Heranziehung von Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 als Rechtsgrundlage der streitigen Verordnung nicht erfüllt gewesen seien.
22 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund wendet sich die NIOC gegen die Rn. 54 und 55 des angefochtenen Urteils sowie gegen die Schlussfolgerung des Gerichts in Rn. 56 dieses Urteils, wonach der Rat im vorliegenden Fall nicht gehalten gewesen sei, beim Erlass individueller Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern das in Art. 215 Abs. 1 AEUV vorgesehene Verfahren anzuwenden, sondern gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV Befugnisse zur Durchführung von Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 267/2012 habe vorsehen dürfen.
23 Mit dem ersten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes macht die NIOC, gestützt auf Rn. 65 des Urteils Parlament/Rat (C‑130/10, EU:C:2012:472), wonach Art. 215 Abs. 2 AEUV die Rechtsgrundlage für restriktive Maßnahmen darstellen könne, geltend, dass diese Bestimmung die einzig mögliche Rechtsgrundlage für den Erlass individueller restriktiver Maßnahmen sei, da sie das Verfahren zum Erlass von Rechtsakten vorsehe, mit denen solche Maßnahmen verhängt würden. Es handele sich um die einzige Rechtsgrundlage, die in dem restriktive Maßnahmen betreffenden Titel IV des Fünften Teils des AEU-Vertrags vorgesehen sei. Art. 291 Abs. 2 AEUV befinde sich hingegen im Sechsten Teil des AEU-Vertrags, der allgemeine Vorschriften enthalte, die nicht von den besonderen Vorschriften in Titel IV des Fünften Teils abweichen sollten.
24 Mit dem zweiten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes bringt die NIOC, gestützt auf Rn. 48 des Urteils Parlament/Rat (C‑130/10, EU:C:2012:472), wonach die in den Art. 75 AEUV und 215 AEUV vorgesehenen Verfahren miteinander unvereinbar seien, vor, dies gelte auch für die in den Art. 215 AEUV und 291 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Verfahren. Art. 291 Abs. 2 AEUV enthalte keine näheren Bestimmungen für das Verfahren zum Erlass der Rechtsakte, so dass er Art. 215 AEUV nicht ersetzen könne. Würden diese beiden Bestimmungen des AEU-Vertrags als austauschbar angesehen, so gäbe es jedenfalls zwei verschiedene Regelungen zum Erlass restriktiver Maßnahmen, was unter Verstoß gegen den in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung zu einer Ungleichheit der von solchen Maßnahmen betroffenen Personen führen würde.
25 Mit dem dritten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes macht die NIOC erstens geltend, dass Art. 291 Abs. 2 AEUV eng ausgelegt werden müsse, weil er eine Ausnahme von der in Art. 291 Abs. 1 AEUV normierten grundsätzlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten vorsehe. Nach Art. 291 Abs. 2 AEUV müssten die betreffenden Rechtsakte der Union erforderlich sein, um einheitliche Bedingungen für die Durchführung verbindlicher Rechtsakte festzulegen, was vorliegend nicht der Fall sei, da Art. 215 Abs. 2 AEUV den Erlass von Durchführungsmaßnahmen gestatte. Zweitens wendet sich die NIOC gegen die Ausführungen des Gerichts in Rn. 55 des angefochtenen Urteils, wonach sich das in Art. 215 Abs. 1 AEUV vorgesehene Verfahren für den Erlass bloßer Durchführungsmaßnahmen als ungeeignet erweisen könne, wo doch Art. 291 Abs. 2 AEUV den Willen der Verfasser des AEU-Vertrags widerspiegele, ein effizienteres, der Art der durchzuführenden Maßnahme und der Handlungsfähigkeit jedes Organs angepasstes Durchführungsverfahren vorzusehen. Die vom Gericht insoweit angestellten subjektiven Erwägungen könnten den Rückgriff auf Art. 291 Abs. 2 AEUV nicht rechtfertigen.
26 Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund beanstandet die NIOC die Rn. 74 bis 83 des angefochtenen Urteils sowie die Schlussfolgerung des Gerichts, wonach der Rat den Rückgriff auf dieses Ausnahmeverfahren entsprechend begründet habe.
27 Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes weist die NIOC auf die beiden in Art. 291 Abs. 2 AEUV genannten Fälle hin; dieser laute: „Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen und in den in den Artikeln 24 und 26 des [EU-]Vertrags … vorgesehenen Fällen, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen.“ Im vorliegenden Fall werde nicht geltend gemacht, dass die Verordnung Nr. 267/2012 von den Art. 24 EUV und 26 EUV betroffen sei, und im Übrigen sei der Beschluss 2012/35 aufgrund von Art. 29 EUV erlassen worden. Die NIOC verweist auf den zweiten dieser Fälle und auf die Notwendigkeit, das Vorliegen eines Sonderfalls entsprechend zu begründen. Sie bestreitet insoweit, dass die vom Gericht in den Rn. 74 bis 76 des angefochtenen Urteils angeführte Rechtsprechung zur Begründung von Rechtsakten anwendbar sei. Das Gericht sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Rückgriff auf Art. 291 Abs. 2 AEUV „entsprechend begründet“ sei, wo doch der Grund für diesen Rückgriff in Rn. 77 des angefochtenen Urteils als nicht ausdrücklich angegeben, in Rn. 80 als in „knapper, aber verständlicher“ Weise formuliert und in Rn. 82 als „hinreichend verständlich“ beschrieben werde.
28 Mit dem zweiten Teil ihres dritten Rechtsmittelgrundes wendet sich die NIOC gegen die Rn. 78 und 79 des angefochtenen Urteils, in denen das Gericht den 28. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 267/2012 und deren Art. 23 Abs. 2 so ausgelegt habe, dass sie es rechtfertigten, die restriktiven Maßnahmen als von den Durchführungsbefugnissen des Rates aufgrund von Art. 291 Abs. 2 AEUV umfasst anzusehen. Diese Bestimmungen legten in keiner Weise eine solche Rechtfertigung nahe.
29 Mit ihrem vierten Rechtsmittelgrund trägt die NIOC vor, dem Gericht sei ein Rechtsfehler unterlaufen, als es in Rn. 86 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 dem Rat die Befugnis vorbehalte, die Bestimmungen in Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung durchzuführen, was ausreiche, um die Begründungspflicht hinsichtlich der Angabe der Rechtsgrundlage für Art. 46 Abs. 2, die durch Art. 291 Abs. 2 AEUV gebildet werde, zu erfüllen. Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 enthalte keinerlei Bezugnahme auf Art. 291 Abs. 2 AEUV, und der Ausdruck „Durchführung“ werde auch nicht erwähnt. Daher verweise diese Verordnungsbestimmung auf einen Beschluss des Rates nach Art. 215 Abs. 2 AEUV.
30 Mit ihrem fünften Rechtsmittelgrund bringt die NIOC vor, das Gericht habe in Rn. 87 des angefochtenen Urteils insofern einen Rechtsfehler begangen, als es in der fehlenden Angabe von Art. 291 Abs. 2 AEUV in den Bezugsvermerken der Verordnung Nr. 267/2012 keine Verletzung der Begründungspflicht seitens des Rates gesehen habe.
31 Der Rat tritt dem Vorbringen der NIOC entgegen.
32 Die Kommission trägt vor, Art. 215 AEUV sei die geeignete Rechtsgrundlage.
Würdigung durch den Gerichtshof
33 Art. 215 Abs. 2 AEUV lautet: „Sieht ein nach Titel V Kapitel 2 des Vertrags über die Europäische Union erlassener Beschluss dies vor, so kann der Rat nach dem Verfahren des Absatzes 1 restriktive Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten erlassen.“ Art. 215 Abs. 1 AEUV sieht ein Verfahren vor, wonach der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf gemeinsamen Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission entscheidet und hierüber das Europäische Parlament unterrichtet.
34 Wie das Gericht in Rn. 54 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, geht bereits aus dem Wortlaut von Art. 215 AEUV hervor, dass diese Bestimmung dem nicht entgegensteht, dass der Kommission oder dem Rat mit einer auf ihrer Grundlage erlassenen Verordnung unter den Voraussetzungen des Art. 291 Abs. 2 AEUV Durchführungsbefugnisse übertragen werden, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bestimmter in dieser Verordnung vorgesehener restriktiver Maßnahmen bedarf. Insbesondere geht aus Art. 215 Abs. 2 AEUV nicht hervor, dass individuelle restriktive Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nicht staatliche Einheiten zwingend nach dem in Art. 215 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Verfahren zu erlassen wären und nicht auf der Grundlage von Art. 291 Abs. 2 AEUV erlassen werden könnten.
35 Außerdem sieht keine Bestimmung des AEU-Vertrags vor, dass sein Sechster Teil („Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften“) nicht im Bereich restriktiver Maßnahmen anwendbar wäre. Der Rückgriff auf Art. 291 Abs. 2 AEUV („Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen und in den in den Artikeln 24 und 26 des Vertrags über die Europäische Union vorgesehenen Fällen, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen.“) war daher nicht ausgeschlossen, sofern die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt waren.
36 Zu Art. 291 Abs. 2 AEUV ist hinzuzufügen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Begriff „Durchführung“ sowohl die Ausarbeitung von Durchführungsvorschriften als auch die Anwendung von Vorschriften auf Einzelfälle durch den Erlass individueller Rechtsakte umfasst (Urteil Kommission/Rat, 16/88, EU:C:1989:397, Rn. 11).
37 Im Licht dieser Angaben ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass die Verordnung Nr. 267/2012, deren Art. 46 Abs. 2 als Grundlage für den Erlass der streitigen Verordnung diente, erlassen wurde, um im Anschluss an den Beschluss 2012/35 zur Änderung des Beschlusses 2010/413 über restriktive Maßnahmen gegen die in dessen Anhängen I und II aufgeführten Personen und Einrichtungen die im Rahmen des AEU-Vertrags erforderlichen Schritte zu ergreifen.
38 Die Verordnung Nr. 267/2012, die einen verbindlichen Rechtsakt im Sinne von Art. 291 Abs. 2 AEUV darstellt, enthält die allgemeinen Kriterien, nach denen sich die Aufnahme von Personen oder Einrichtungen in eine der in den Anhängen VIII und IX der Verordnung enthaltenen Listen von Personen oder Einrichtungen richtet, gegen die – unter Berücksichtigung der durch den Beschluss 2012/35 vorgenommenen Änderungen der allgemeinen Aufnahmekriterien im Beschluss 2010/413, die insbesondere darin bestanden, das Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung hinzuzufügen – restriktive Maßnahmen zu verhängen sind.
39 Da die NIOC durch den streitigen Beschluss in die Liste in Anhang II des Beschlusses 2010/413 aufgenommen worden war, wurde sie durch die streitige Verordnung im Rahmen des AEU-Vertrags in die Liste in Anhang IX der Verordnung Nr. 267/2012 aufgenommen, wobei ihre Aufnahme in die letztgenannte Liste – wie das Gericht in Rn. 132 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt hat, ohne dass die NIOC dagegen in ihrem Rechtsmittel Einwände erhoben hat – bereits auf das oben genannte Kriterium der Unterstützung der iranischen Regierung gestützt werden konnte, unabhängig von der späteren Änderung der in der Verordnung Nr. 267/2012 enthaltenen allgemeinen Aufnahmekriterien im Anschluss an die durch den streitigen Beschluss vorgenommene Änderung der im Beschluss 2010/413 genannten allgemeinen Kriterien.
40 Dergestalt wurde mit der streitigen Verordnung das allgemeine Aufnahmekriterium der Unterstützung der iranischen Regierung konkret auf die NIOC angewandt, was im Rahmen des AEU-Vertrags gewährleisten sollte, dass die NIOC den durch die Lage im Iran ausgelösten restriktiven Maßnahmen in der gesamten Europäischen Union in einheitlicher Weise unterworfen wird.
41 Daher ist das Gericht in Rn. 56 des angefochtenen Urteils zu Recht davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall auf eine Durchführungsbefugnis nach Art. 291 Abs. 2 AEUV zurückgegriffen werden durfte.
42 Der erste und der dritte Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes sind folglich unbegründet.
43 Zu den übrigen von der NIOC im Rahmen des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes ausgeführten Argumenten ist zum einen festzustellen, dass Rn. 48 des Urteils Parlament/Rat (C‑130/10, EU:C:2012:472) im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist, da dieses Urteil den jeweiligen Anwendungsbereich der Art. 75 AEUV und 215 AEUV betrifft und nicht wie vorliegend den der Art. 215 AEUV und 291 Abs. 2 AEUV.
44 Zum anderen ist hinsichtlich des gerügten Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, der sich aus dem Unterschied zwischen den Regelungen zum Erlass restriktiver Maßnahmen in Bezug darauf ergeben soll, ob eine Person durch eine auf Art. 215 Abs. 2 AEUV gestützte Vorschrift oder durch den Erlass einer auf Art. 291 Abs. 2 AEUV gestützten Durchführungsverordnung benannt wird, festzustellen, dass angesichts ihrer beträchtlichen negativen Auswirkung auf die Freiheiten und Grundrechte der betroffenen Person oder Einrichtung (vgl. in diesem Sinne Urteile Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 358, sowie Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 132) jede Aufnahme in eine Liste von Personen oder Einrichtungen, gegen die restriktive Maßnahmen verhängt werden – sei es auf der Grundlage von Art. 215 AEUV oder von Art. 291 Abs. 2 AEUV –, dieser Person oder Einrichtung, sofern sie ihr gegenüber einer Einzelfallentscheidung gleichkommt, den Zugang zum Unionsrichter gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV eröffnet (vgl. in diesem Sinne Urteil Gbagbo u. a./Rat, C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258, Rn. 57), damit insbesondere überprüft wird, ob diese Einzelfallentscheidung mit den im Basisrechtsakt genannten allgemeinen Aufnahmekriterien im Einklang steht.
45 Der Unterschied zwischen den Verfahren nach Art. 215 AEUV und nach Art. 291 Abs. 2 AEUV beruht auf dem Willen, auf der Grundlage objektiver Kriterien eine Unterscheidung zwischen dem Basisrechtsakt und einem Durchführungsrechtsakt im Bereich restriktiver Maßnahmen vorzunehmen. In diesem Zusammenhang stellt das in Art. 215 Abs. 1 AEUV vorgesehene Erfordernis eines gemeinsamen Vorschlags des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission eine Voraussetzung dar, die dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Verfahren innewohnt, und keine Verfahrensgarantie, die allgemein jeder Person oder Einrichtung zuerkannt werden müsste, die – gleichgültig, auf welcher Grundlage – in eine restriktive Maßnahmen betreffende Liste aufgenommen wird. Daher kann die Tatsache, dass im Rahmen der Ausübung einer auf Art. 291 Abs. 2 AEUV gestützten Durchführungsbefugnis der Erlass restriktiver Maßnahmen, anders als im Rahmen des Verfahrens nach Art. 215 Abs. 1 AEUV, nicht an die Unterbreitung eines solchen gemeinsamen Vorschlags gebunden ist, nicht als ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung bei der Aufnahme in eine solche Liste angesehen werden.
46 Folglich ist der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes unbegründet. Dieser Rechtsmittelgrund ist daher insgesamt zurückzuweisen.
47 Im Hinblick auf die Rechtsmittelgründe 3 bis 5 ist zu prüfen, ob der Erlass der streitigen Verordnung einer der Fallkategorien zuzuordnen ist, für die sich der Rat gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV eine Befugnis zur Durchführung eines verbindlichen Rechtsakts vorbehalten kann.
48 Wie aus Rn. 59 des angefochtenen Urteils hervorgeht, stützte sich der Rat zur Rechtfertigung der Durchführungsbefugnis, die er sich in Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 vorbehalten hat, ausschließlich darauf, dass es sich vorliegend um einen „entsprechend begründeten Sonderfall“ handele. Er berief sich nicht auf das Vorliegen eines der in den Art. 24 EUV und 26 EUV vorgesehenen Fälle.
49 Hinsichtlich des in Art. 291 Abs. 2 AEUV genannten Falles, dass sich der Rat „in entsprechend begründeten Sonderfällen“ eine Durchführungsbefugnis vorbehalten kann, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof Art. 145 dritter Gedankenstrich des EWG-Vertrags, der Art. 291 Abs. 2 AEUV entspricht, dahin ausgelegt hat, dass der Rat die Entscheidung, mit der er sich Durchführungsbefugnisse vorbehält, ausführlich zu begründen hat (Urteil Kommission/Rat, 16/88, EU:C:1989:397, Rn. 10).
50 Art. 202 dritter Gedankenstrich EG, der an die Stelle von Art. 145 dritter Gedankenstrich des EG-Vertrags trat, ist in den Urteilen Kommission/Rat (C‑257/01, EU:C:2005:25, Rn. 51) und Parlament/Rat (C‑133/06, EU:C:2008:257, Rn. 47) ebenfalls ausgelegt worden; darin hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Rat nach Maßgabe der Natur und des Inhalts des umzusetzenden oder zu ändernden Basisrechtsakts eine ordnungsgemäße Begründung für eine Ausnahme von der Regel geben muss, dass es im System des Vertrags, wenn auf Gemeinschaftsebene Maßnahmen zur Durchführung eines Basisrechtsakts zu treffen sind, normalerweise Aufgabe der Kommission ist, diese Befugnis auszuüben.
51 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der Rat durch Art. 45 der Verordnung Nr. 267/2012 der Kommission weitreichende Befugnisse übertragen hat, die insbesondere die Änderung der Anhänge II bis VII dieser Verordnung betreffen, in denen die Listen der von den Bestimmungen dieser Verordnung erfassten Güter, Technologien, Ausrüstungen und Metalle enthalten sind. Dagegen hat sich der Rat durch Art. 46 der Verordnung Nr. 267/2012 die Befugnis zur Änderung ihrer Anhänge VIII und IX vorbehalten, d. h. der Listen der natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen, die – im Fall von Anhang VIII der Verordnung – infolge einer Benennung durch den Sicherheitsrat oder – im Fall von Anhang IX der Verordnung – aufgrund einer von der Union eigenständig erlassenen restriktiven Maßnahme aufgenommen werden.
52 Ein Vergleich dieser Maßnahmen ergibt, dass sich der Rat die Befugnis zum Erlass der sensibelsten unter ihnen vorbehalten hat, nämlich die Aufnahme der vom Sicherheitsrat beschlossenen Benennungen in die auf der Grundlage des AEU-Vertrags erlassene Verordnung und die Anwendung der Maßnahmen nach Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 267/2012, da sie besonders große Auswirkung auf die betroffenen natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen haben.
53 Wie bereits in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angesprochen, haben diese Benennungen, die das Einfrieren der Gelder von Personen und Einrichtungen zur Folge haben, nämlich ungeachtet ihres Ziels, auf die Islamische Republik Iran Druck auszuüben, damit sie proliferationsrelevante nukleare Tätigkeiten und die Entwicklung von Trägersystemen für Kernwaffen einstellt, eine beträchtliche negative Auswirkung auf die Freiheiten und Grundrechte dieser Personen und Einrichtungen. Sie ist bei den Personen damit verbunden, dass ihr Berufs- und ihr Familienleben aufgrund der Einschränkungen des Gebrauchs ihres Eigentumsrechts beträchtlich erschüttert wird, und bei den Einrichtungen damit, dass insbesondere ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten gestört werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 358, sowie Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 132).
54 Dass dem Rat diese Durchführungsbefugnis vorbehalten blieb, kann auch damit gerechtfertigt werden, dass er die Beschlüsse im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik annimmt, durch die natürliche und juristische Personen, Organisationen und Einrichtungen in die Liste der Personen und Einrichtungen aufgenommen werden, deren Gelder eingefroren werden sollen. Solche Beschlüsse können in der Union, insbesondere durch die dort niedergelassenen Finanzinstitute, aber nur dann umgesetzt werden, wenn sich an sie der Erlass einer Verordnung im Rahmen des AEU-Vertrags anschließt.
55 Im Übrigen muss, wenn in einem im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angenommenen Beschluss die Gründe für die Aufnahme einer Person geändert werden, um etwaigen Erklärungen und Beweisen Rechnung zu tragen, die diese Person dem Rat übermittelt hat, diese Änderung auch in der im Rahmen des AEU-Vertrags erlassenen Verordnung vorgenommen werden. Geschähe dies nicht, könnte die Beibehaltung der unveränderten Begründung bei der Überprüfung der Aufnahme dazu führen, dass eine Anfechtung der Rechtmäßigkeit dieser Verordnung Erfolg hätte.
56 Daher hat das Gericht in Rn. 69 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei entschieden, dass sich der Rat die Befugnis zur Durchführung von Art. 23 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 267/2012 vorbehalten durfte, um die Kohärenz der Verfahren des Erlasses von Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern und der Feststellungen der zuständigen Behörde im Rahmen des Beschlusses 2010/413 bzw. der Verordnung Nr. 267/2012 sowohl bei der ersten Aufnahme einer Person oder Einrichtung in die betreffenden Listen als auch bei der Überprüfung dieser Aufnahme durch die zuständige Behörde, insbesondere im Hinblick auf die gegebenenfalls vom Betroffenen abgegebene Stellungnahme oder die von ihm gegebenenfalls vorgelegten Beweismittel, zu gewährleisten.
57 Die Koordination der Annahme von Beschlüssen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und des Erlasses von Maßnahmen auf der Grundlage des AEU-Vertrags ist umso notwendiger, als die Verhängung restriktiver Maßnahmen gegen natürliche und juristische Personen, Organisationen und Einrichtungen kurzfristig erfolgen muss, um einer Resolution des Sicherheitsrats nachzukommen oder um sicherzustellen, dass der durch die neuen, im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen eigenständigen Aufnahmen gewünschte Effekt schnellstmöglich eintritt. Hierzu ist festzustellen, dass der im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angenommene Beschluss und die streitige Durchführungsverordnung zur Benennung der NIOC im Einklang mit der Praxis des Rates am selben Tag erlassen wurden.
58 Diese Erfordernisse der Kohärenz, der Koordination und der Schnelligkeit beim Erlass der erforderlichen Rechtsakte rechtfertigen es, dass auf den AEU-Vertrag gestützte Aufnahmen, die gleichzeitig mit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen Aufnahmen erlassen wurden, als Sonderfälle im Sinne von Art. 291 Abs. 2 AEUV eingestuft werden. Dementsprechend hat der Gerichtshof, wie das Gericht in Rn. 72 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, im Urteil Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft (C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 109) einen Klagegrund zurückgewiesen, mit dem geltend gemacht worden war, der Rat sei nicht befugt gewesen, in einer auf Art. 291 Abs. 2 AEUV gestützten Durchführungsverordnung Maßnahmen zum Einfrieren der Gelder der Manufacturing Support & Procurement Kala Naft Co., Tehran, zu erlassen, wie sie u. a. in dem auf Art. 29 EUV gestützten Beschluss 2010/413 vorgesehen waren. Er hat insoweit im Wesentlichen festgestellt, dass die genannte Bestimmung des AEU-Vertrags dem Rat die Zuständigkeit für den Erlass der streitigen Maßnahmen verlieh.
59 Folglich ist das Gericht in Rn. 73 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass der Rat davon ausgehen durfte, dass die in Rede stehenden Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern einen Sonderfall darstellten, der es rechtfertigte, dass er sich in Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 die Durchführungsbefugnis vorbehielt.
60 Hinsichtlich der Voraussetzung, wonach die Übertragung der Durchführungsbefugnis an den Rat gerechtfertigt sein muss, hat das Gericht in den Rn. 74 bis 76 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei auf die Rechtsprechung zur Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV Bezug genommen. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Rat entsprechend der Natur und dem Inhalt des umzusetzenden oder zu ändernden Basisrechtsakts eine ordnungsgemäße Begründung für eine Ausnahme von der Regel geben muss, dass es normalerweise Aufgabe der Kommission ist, die Durchführungsbefugnis auszuüben (Urteile Parlament/Rat, C‑133/06, EU:C:2008:257, Rn. 47, sowie Parlament und Kommission/Rat, C‑124/13 und C‑125/13, EU:C:2015:790, Rn. 53).
61 Hierzu ist festzustellen, dass die Beschlüsse und Verordnungen zu den restriktiven Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran eine Aufeinanderfolge von Rechtsakten bilden, die häufig geändert und regelmäßig ersetzt wurden, um ihre Klarheit und Lesbarkeit zu verbessern. Einige Bestimmungen sind jedoch in all diesen Beschlüssen und Verordnungen ähnlich.
62 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 83 ff. seiner Schlussanträge ausgeführt hat, war die Übertragung der Durchführungsbefugnis an den Rat bereits in Art. 15 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 des Rates vom 19. April 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. L 103, S. 1) und in Art. 36 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 961/2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 (ABl. L 281, S. 1) vorgesehen. Diese beiden Bestimmungen wurden durch den sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 423/2007 bzw. den 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 961/2010 begründet. Im letztgenannten Erwägungsgrund heißt es:
„In Anbetracht der von Iran ausgehenden spezifischen Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit, wie sie in der vom Europäischen Rat auf seiner Tagung am 17. Juni 2010 hervorgehobenen zunehmenden Besorgnis angesichts des iranischen Nuklearprogramms zum Ausdruck kommt, und zur Wahrung der Übereinstimmung mit dem Verfahren zur Änderung und Überprüfung der Anhänge I und II des Beschlusses 2010/413/GASP sollte die Befugnis zur Änderung der Listen in den Anhängen VII und VIII dieser Verordnung vom Rat ausgeübt werden.“
63 Daraus geht hervor, dass die Übertragung der Durchführungsbefugnis an den Rat in den der Verordnung Nr. 267/2012 vorangegangenen Verordnungen mit der erforderlichen Kohärenz zwischen den im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den auf der Grundlage des AEU-Vertrags vorgenommenen Benennungen gerechtfertigt wurde.
64 Im vorliegenden Fall konnte angesichts der Klausel, mit der dem Rat die Durchführungsbefugnis vorbehalten wurde, und ihrer Rechtfertigung in den der Verordnung Nr. 267/2012 vorangegangenen Verordnungen die Existenz dieser Befugnis des Rates als Teil des Kontexts, in dem der in Rede stehende Rechtsakt erlassen wurde, bekannt sein und ist als entsprechend begründet im Sinne von Art. 291 Abs. 2 AEUV anzusehen. Folglich ist der erste Teil des dritten Rechtsmittelgrundes unbegründet.
65 Da diese Rechtfertigung die Begründung des Gerichts in den Rn. 78 und 79 des angefochtenen Urteils stützt, ist auch der zweite Teil des dritten Rechtsmittelgrundes unbegründet.
66 Hinsichtlich der fehlenden Angabe von Art. 291 Abs. 2 AEUV zur Rechtfertigung der Befugnisübertragung in Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 ist darauf hinzuweisen, dass das Versäumnis, auf eine bestimmte Vorschrift des AEU-Vertrags Bezug zu nehmen, dann kein wesentlicher Fehler sein kann, wenn die Rechtsgrundlage eines Aktes anhand anderer Bestandteile dieses Aktes ermittelt werden kann (Urteil Kommission/Rat, C‑370/07, EU:C:2009:590, Rn. 56). Wie das Gericht in den Rn. 85 und 86 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt hat, lässt sich auch ohne die Nennung von Art. 291 Abs. 2 AEUV als Rechtsgrundlage für die Übertragung der Durchführungsbefugnis in Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267/2012 den Bestimmungen dieser Verordnung gleichwohl entnehmen, dass sich der Rat diese Befugnis im Einklang mit den in Art. 291 Abs. 2 AEUV genannten Voraussetzungen vorbehielt. Folglich sind der vierte und der fünfte Rechtsmittelgrund unbegründet.
67 Nach alledem sind die Rechtsmittelgründe 2 bis 5 zurückzuweisen.
Zum sechsten Rechtsmittelgrund: Rechtswidrigkeit des Tatbestandsmerkmals der Unterstützung der iranischen Regierung
Vorbringen der Parteien
68 Mit ihrem sechsten Rechtsmittelgrund wendet sich die NIOC gegen die Rn. 109 ff. des angefochtenen Urteils. In diesen Randnummern hat das Gericht die Einrede der Rechtswidrigkeit des Tatbestandsmerkmals der Unterstützung der iranischen Regierung zurückgewiesen, das in Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 in der durch den Beschluss 2012/635 geänderten Fassung sowie in Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012 enthalten ist (im Folgenden: streitiges Tatbestandsmerkmal) und auf das sich die Aufnahme der NIOC in die in Rede stehenden Listen gründet. Die NIOC macht geltend, dieses Tatbestandsmerkmal sei, da es „sonstige Personen, Organisationen oder Einrichtungen …, die die iranische Regierung beispielsweise materiell, logistisch oder finanziell unterstützen, oder Organisationen, die in ihrem Eigentum oder unter ihrer Kontrolle stehen, oder Personen, die mit ihnen in Verbindung stehen“ erfasse, nicht mit den in Art. 2 EUV verankerten Werten der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit vereinbar, mit denen die im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angenommenen Beschlüsse nach den Art. 21 EUV und 23 EUV im Einklang stehen müssten. Das streitige Tatbestandsmerkmal verleihe dem Rat eine exorbitante und unbeschränkte Befugnis, die es ermögliche, Personen und Einrichtungen mit einer Sanktion zu belegen, die die iranische Regierung – insbesondere finanziell – unterstützten, ohne an dem in Rede stehenden Nuklearprogramm beteiligt zu sein. Zu ihnen könne somit ein iranischer Steuerpflichtiger oder Beamter zählen oder auch ein in einem Mitgliedstaat der Union zugelassener Rechtsanwalt, der bestimmte iranische öffentliche Einrichtungen vor dem Gericht vertrete.
69 Dieser Rechtsmittelgrund besteht aus drei Teilen.
70 Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes macht die NIOC geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, als es in Rn. 115 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass der Bewertungsspielraum, der dem Rat durch das streitige Tatbestandsmerkmal eingeräumt werde, weder willkürlich sei noch dem Rat ein Ermessen verschaffe, und in Rn. 123 des angefochtenen Urteils, dass „[d]as streitige Tatbestandsmerkmal … den Bewertungsspielraum des Rates durch objektive Kriterien [begrenzt] und … das unionsrechtlich gebotene Maß an Vorhersehbarkeit [gewährleistet]“.
71 Die NIOC macht geltend, das Gericht habe das streitige Tatbestandsmerkmal fehlerhaft ausgelegt, als es in Rn. 119 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass dieses Merkmal „nicht jede Form der Unterstützung der iranischen Regierung [erfasst], sondern diejenigen, die aufgrund ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung zur Fortführung der iranischen Nukleartätigkeiten beitragen“. Der Hinweis auf die „quantitative oder qualitative Bedeutung“ sei in der Verordnung Nr. 267/2012 nicht enthalten; mit ihm habe das Gericht die Verordnung „umgeschrieben“, bevor es zu dem Ergebnis gelangt sei, dass das streitige Tatbestandsmerkmal mit den Erfordernissen der Vorhersehbarkeit, der Klarheit und der Eindeutigkeit im Einklang stehe.
72 Die NIOC macht zudem geltend, das Gericht habe den Begriff „beispielsweise“ in den Rn. 118 und 120 des angefochtenen Urteils „ausgeblendet“, obwohl er klar bedeute, dass die Aufzählung der in der Verordnung erwähnten Unterstützungsarten, nämlich finanzielle, logistische oder materielle Unterstützung, rein illustrativen Charakter habe.
73 Die NIOC kommt zu dem Schluss, dass die vom Gericht vorgenommene Auslegung des streitigen Tatbestandsmerkmals fehlerhaft sei und dass es nicht den unionsrechtlichen Voraussetzungen der Vorhersehbarkeit, der hinreichenden Klarheit und der Bestimmtheit entspreche, da es nicht die Ermittlung der Personen ermögliche, gegen die eine restriktive Maßnahme verhängt werden könne.
74 Mit dem zweiten Teil des sechsten Rechtsmittelgrundes bringt die NIOC vor, das Gericht habe, indem es das streitige Tatbestandsmerkmal „umgeschrieben“ habe, ihre Verteidigungsrechte beeinträchtigt, denn sie habe die sie treffende restriktive Maßnahme nicht mit der Begründung anfechten können, dass sie nicht dem „umformulierten“ Kriterium entspreche, das sowohl ihr als auch dem Rat unbekannt gewesen sei.
75 Mit dem dritten Teil dieses Rechtsmittelgrundes macht die NIOC geltend, dass die Rn. 119 und 140 des angefochtenen Urteils widersprüchlich seien. In Rn. 119 führe das Gericht aus, dass das streitige Tatbestandsmerkmal die Formen der Unterstützung erfasse, „die aufgrund ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung zur Fortführung der iranischen Nukleartätigkeiten beitragen“, wohingegen es nach Rn. 140 „jede Unterstützung erfasst, die die nukleare Proliferation, auch wenn sie keinen unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zu ihr aufweist, wegen ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung begünstigen kann, indem der iranischen Regierung Ressourcen oder materielle, finanzielle oder logistische Mittel zur Verfügung gestellt werden, die ihr die Fortführung der proliferationsrelevanten Tätigkeiten ermöglichen“. Eine Unterstützung könne aber die nukleare Proliferation nicht begünstigen, wenn sie nicht einmal einen mittelbaren Bezug zu ihr aufweise. Wegen der Inkohärenz zwischen Rn. 119 und Rn. 140 des angefochtenen Urteils sei es mangelhaft begründet.
76 Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt dem Vorbringen der NIOC entgegen.
Würdigung durch den Gerichtshof
77 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber – wie der Gerichtshof entschieden hat – in Bereichen, in denen er politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen treffen und komplexe Würdigungen vornehmen muss, über ein weites Ermessen verfügt. Folglich ist eine in diesen Bereichen erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist (Urteile Sison/Rat, C‑266/05 P, EU:C:2007:75, Rn. 33, und Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 120).
78 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Verordnung, die restriktive Maßnahmen vorsieht, im Licht nicht nur des im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angenommenen Beschlusses nach Art. 215 Abs. 2 AEUV, sondern auch des historischen Kontexts auszulegen, in dem die von der Union erlassenen Bestimmungen, in die sich diese Verordnung einfügt, stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 75, sowie Beschluss Georgias u. a./Rat und Kommission, C‑545/14 P, EU:C:2015:791, Rn. 33). Dies gilt auch für einen Beschluss im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der unter Berücksichtigung des Kontexts auszulegen ist, in den er sich einfügt.
79 Dementsprechend hat das Gericht in Rn. 118 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt, dass sich das streitige Tatbestandsmerkmal in einen rechtlichen Rahmen einfügt, der durch die Ziele der Regelung über die restriktiven Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran klar abgegrenzt ist, und dass es u. a. im 13. Erwägungsgrund des Beschlusses 2012/35, mit dem das streitige Tatbestandsmerkmal erstmals in Art. 20 Abs. 1 des Beschlusses 2010/413 eingefügt wurde, ausdrücklich heißt, dass das Einfrieren von Geldern auf Personen und Einrichtungen Anwendung finden soll, „die die iranische Regierung unterstützen, indem sie ihr proliferationsrelevante nukleare Tätigkeiten oder die Entwicklung von Trägersystemen für Kernwaffen ermöglichen, insbesondere auf Personen und Einrichtungen, die finanzielle, logistische oder materielle Unterstützung für die iranische Regierung bereitstellen“. Desgleichen hat es zutreffend festgestellt, dass es auch in Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012 heißt, dass diese Unterstützung „materiell, logistisch oder finanziell“ erfolgen kann.
80 Das Gericht hat daraus in den Rn. 119 und 120 des angefochtenen Urteils geschlossen, dass das Ziel der Änderung des streitigen Tatbestandsmerkmals darin bestand, das Kriterium für die Benennung auszuweiten, um konkrete Tätigkeiten der betroffenen Personen und Einrichtungen zu erfassen, die die nukleare Proliferation, auch wenn sie als solche keinen unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zu ihr aufweisen, begünstigen können, indem der iranischen Regierung Ressourcen oder materielle, finanzielle oder logistische Mittel zur Verfügung gestellt werden, die ihr die Fortführung der proliferationsrelevanten Tätigkeiten ermöglichen.
81 Diese Auslegung wird durch die Entwicklung der Regelung, untersucht man sie im Licht der Dokumente des Rates, bestätigt. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Sicherheitsrat im 17. Erwägungsgrund der Resolution 1929 (2010) von „dem potenziellen Zusammenhang zwischen den Einnahmen, die die Islamische Republik Iran aus ihrem Energiesektor bezieht, und der Finanzierung ihrer proliferationsrelevanten nuklearen Tätigkeiten“ Kenntnis genommen hat, wobei dieser Zusammenhang in Rn. 5 des angefochtenen Urteils erwähnt worden ist. Dem wollte der Europäische Rat Rechnung tragen, als er in der Erklärung im Anhang seiner Schlussfolgerungen vom 17. Juni 2010 den Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ aufforderte, auf seiner nächsten Tagung Maßnahmen zur Umsetzung der in der Resolution 1929 (2010) vorgesehenen Maßnahmen anzunehmen. Infolge dieser Aufforderung wurden sowohl mit dem Beschluss 2010/413 als auch der Verordnung Nr. 961/2010 Maßnahmen erlassen, die u. a. die Ölindustrie betrafen.
82 Da sich diese Maßnahmen als unzureichend erwiesen, um das Nuklearprogramm der Islamischen Republik Iran zu stoppen oder zu hemmen, beschloss der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 9. Dezember 2011, den Anwendungsbereich der von der Union beschlossenen restriktiven Maßnahmen auszuweiten; dies wird auch im sechsten Erwägungsgrund des Beschlusses 2012/35 hervorgehoben. In Nr. 3 seiner Schlussfolgerungen zum Iran vom 23. Januar 2012 betonte der Rat, dass die am selben Tag vereinbarten restriktiven Maßnahmen die Finanzierung des iranischen Nuklearprogramms durch die iranische Regierung beeinträchtigen sollten und nicht gegen das iranische Volk gerichtet waren.
83 Dieses Ziel hat das Gericht berücksichtigt, als es in Rn. 119 des angefochtenen Urteils das streitige Tatbestandsmerkmal so verstanden hat, dass es die Formen der Unterstützung der iranischen Regierung erfasst, die aufgrund ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung zur Fortführung der iranischen Nukleartätigkeiten beitragen. Dadurch hat das Gericht das streitige Tatbestandsmerkmal keineswegs „umgeschrieben“, sondern es im Licht der vom Rat verfolgten, aus der Entwicklung der völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Regelungen in Bezug auf die Islamische Republik Iran hervorgehenden Ziele ausgelegt.
84 Außerdem ist festzustellen, dass das Gericht entgegen der Auffassung der NIOC das streitige Tatbestandsmerkmal nicht verfälscht hat, als es bei dessen Nennung in den Rn. 118 und 120 des angefochtenen Urteils den Begriff „beispielsweise“ unerwähnt ließ. Wie der Rat ausgeführt hat, hat das Gericht nämlich in Rn. 118 den im 13. Erwägungsgrund des Beschlusses 2012/35 zu findenden Ausdruck „insbesondere“ verwendet, der dem Begriff „beispielsweise“ entspricht. Desgleichen hat das Gericht im letzten Satz von Rn. 118 darauf hingewiesen, dass die fragliche Unterstützung materiell, logistisch oder finanziell erfolgen „kann“, was bedeutet, dass vom streitigen Tatbestandsmerkmal auch andere Unterstützungsformen erfasst werden können.
85 Entgegen dem Vorbringen der NIOC im dritten Teil des sechsten Rechtsmittelgrundes hat das Gericht sein Urteil auch nicht widersprüchlich begründet, als es in Rn. 119 des angefochtenen Urteils erläutert hat, dass das streitige Tatbestandsmerkmal die Formen der Unterstützung erfasst, „die aufgrund ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung zur Fortführung der iranischen Nukleartätigkeiten beitragen“, während es in Rn. 140 betont hat, dass das streitige Tatbestandsmerkmal „jede Unterstützung erfasst, die die nukleare Proliferation, auch wenn sie keinen unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zu ihr aufweist, wegen ihrer quantitativen oder qualitativen Bedeutung begünstigen kann, indem der iranischen Regierung Ressourcen oder materielle, finanzielle oder logistische Mittel zur Verfügung gestellt werden, die ihr die Fortführung der proliferationsrelevanten Tätigkeiten ermöglichen“.
86 In Rn. 119 des angefochtenen Urteils hat das Gericht nämlich das durch den Beschluss 2012/35 und die Verordnung Nr. 267/2012 eingeführte Merkmal ausgelegt. In Rn. 140 dieses Urteils hat es dagegen erläutert, inwiefern durch die Einführung des streitigen Tatbestandsmerkmals ein Zusammenhang zwischen der Unterstützung der iranischen Regierung und der Fortführung der proliferationsrelevanten Tätigkeiten hergestellt wurde. Insoweit ist Rn. 140 angesichts des Kontexts, in den sie sich einfügt, nicht mit einem Mangel an Klarheit behaftet, der ihrer leichten Verständlichkeit entgegenstünde.
87 Nach alledem hat die NIOC mit ihrem sechsten Rechtsmittelgrund nicht dargetan, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es das streitige Tatbestandsmerkmal in Beantwortung des vor ihm geltend gemachten dritten Klagegrundes ausgelegt hat, mit dem die Rechtswidrigkeit von Art. 20 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses 2010/413 und von Art. 23 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 267/2012 gerügt wurde. Der sechste Rechtsmittelgrund ist folglich als unbegründet zurückzuweisen.
88 Da sämtliche Rechtsmittelgründe zurückgewiesen worden sind, ist das Rechtsmittel zurückzuweisen.
Kosten
89 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist.
90 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
91 Da der Rat die Verurteilung der NIOC beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, hat sie neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates zu tragen.
92 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, trägt die Kommission ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die National Iranian Oil Company trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates der Europäischen Union.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Beschluss des Gerichts (Achte Kammer) vom 16. September 2015.#VSM Geneesmiddelen BV gegen Europäische Kommission.#Untätigkeits- und Nichtigkeitsklage – Verbraucherschutz – Gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel – Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 – Pflanzliche Stoffe – Klagefrist – Fehlendes Rechtsschutzinteresse – Nicht anfechtbare Handlung – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-578/14.
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62014TO0578
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ECLI:EU:T:2015:715
| 2015-09-16T00:00:00 |
Gericht
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 18. September 2015.#Iranian Oil Company UK Ltd (IOC-UK) gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation – Einfrieren von Geldern – Anspruch auf rechtliches Gehör – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Verhältnismäßigkeit – Eigentumsrecht – Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung.#Rechtssache T-428/13.
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62013TJ0428
|
ECLI:EU:T:2015:649
| 2015-09-18T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0428 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 15. Juli 2015 (Auszüge).#HIT Groep BV gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Vorschriften, nach denen wettbewerbswidrige Verhaltensweisen einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zugerechnet werden können – Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses – Angemessene Verfahrensdauer.#Rechtssache T-436/10.
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62010TJ0436
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ECLI:EU:T:2015:514
| 2015-07-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010TJ0436
URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)
15. Juli 2015 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Europäischer Markt für Spannstahl — Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen — Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird — Vorschriften, nach denen wettbewerbswidrige Verhaltensweisen einer Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zugerechnet werden können — Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses — Angemessene Verfahrensdauer“
In der Rechtssache T‑436/10
HIT Groep BV mit Sitz in Haarlem (Niederlande), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte G. van der Wal, G. Oosterhuis und H. Albers, dann G. van der Wal und G. Oosterhuis,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch P. Van Nuffel, S. Noë und V. Bottka als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses K(2010) 4387 endg. der Kommission vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens (Sache COMP/38344 – Spannstahl), geändert durch den Beschluss K(2010) 6676 endg. der Kommission vom 30. September 2010 und den Beschluss C(2011) 2269 final der Kommission vom 4. April 2001,
erlässt
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Frimodt Nielsen (Berichterstatter) sowie der Richter F. Dehousse und A. M. Collins,
Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2014
folgendes
Urteil (1 )
[nicht wiedergegeben]
Verfahren und Vorbringen der Parteien
65 Mit Klageschrift, die am 15. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Hit Groep die vorliegende Klage erhoben.
66 Mit Schriftsatz, der am 24. Dezember 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat [die] Nedri [Spanstaal BV] beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden, was ihr vom Präsidenten der Ersten Kammer des Gerichts mit Beschluss vom 28. Februar 2011 gestattet worden ist. Mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2013 hat Nedri das Gericht jedoch über die Rücknahme ihres Streithilfeantrags informiert. Sie ist daher mit Beschluss des Präsidenten der Sechsten Kammer des Gerichts vom 4. Dezember 2013 als Streithelferin in der Rechtssache T‑436/10 aus dem Register gestrichen worden.
67 Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2011 hat Hit Groep die Zulassung eines neuen Klagegrundes im Hinblick auf Gesichtspunkte beantragt, die erstmals in der Klagebeantwortung vorgebracht worden seien.
68 Mit Beschluss vom 6. Juni 2011 hat das Gericht die Kommission aufgefordert, ihm den zweiten Änderungsbeschluss vorzulegen. Die Kommission ist dieser Aufforderung am 16. Juni 2011 nachgekommen.
69 Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2011 hat Hit Groep bestätigt, dass sie infolge des Erlasses des zweiten Änderungsbeschlusses eine Anpassung ihrer Klagegründe beantrage.
70 Mit Beschluss vom 29. Juli 2011 hat das Gericht diesem Antrag stattgegeben.
71 Das schriftliche Verfahren hat am 20. Oktober 2011 mit der Einreichung der Gegenerwiderung in der Verfahrenssprache durch die Kommission geendet.
72 In der Gegenerwiderung hat die Kommission zu dem von der Klägerin in der Erwiderung gestellten Antrag auf Anpassung der Klagegründe und zu den von ihr infolge des Erlasses des zweiten Änderungsbeschlusses eingereichten Erklärungen Stellung genommen.
73 Im Zusammenhang mit der Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ab dem 23. September 2013 wurde der Berichterstatter der Sechsten Kammer zugeteilt, der die vorliegende Rechtssache daraufhin am 3. Oktober 2013 zugewiesen worden ist.
74 Der Vorbericht nach Art. 52 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 ist der Sechsten Kammer am 8. November 2013 vorgelegt worden.
75 Am 17. Dezember 2013 hat das Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Kommission schriftlich Fragen gestellt. Die Kommission hat hierauf am 6. Februar 2014 geantwortet. Die Klägerin hat mit am 14. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz eine Stellungnahme zur Antwort der Kommission eingereicht.
76 Auf den Bericht des Berichterstatters hat das Gericht am 14. Mai 2014 beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
77 Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 27. Juni 2014 mündlich verhandelt und die schriftlichen und mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet.
78 Hit Groep beantragt,
—
den angefochtenen Beschluss, soweit er sie betrifft, und insbesondere Art. 1 Nr. 9 Buchst. b, Art. 2 Nr. 9 und Art. 4 Nr. 22 aufzuheben;
—
hilfsweise, die gegen sie mit Art. 2 Nr. 9 des angefochtenen Beschlusses verhängte Geldbuße aufzuheben oder in einem vom Gericht für angemessen gehaltenen Umfang herabzusetzen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
79 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
Hit Groep die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
80 Hit Groep macht drei Klagegründe zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses sowie, hilfsweise, zwei Klagegründe zur Stützung ihres Antrags auf Aufhebung oder Herabsetzung der ihr auferlegten Geldbuße geltend.
81 Hit Groep hat ferner im Verlauf des schriftlichen Verfahrens einen sechsten, ergänzenden Klagegrund geltend gemacht.
82 Mit dem ersten Klagegrund werden zum einen ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 EWR-Abkommen sowie zum anderen ein Begründungsmangel gerügt, soweit der Beschluss einen von Hit Groep zu vertretenden Verstoß für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 festgestellt habe.
83 Mit dem zweiten Klagegrund wird gerügt, dass die Verhängung einer Geldbuße gegen Hit Groep, die sich seit dem 1. November 2004 nicht mehr wirtschaftlich betätige, gegen die Ziele von Art. 101 AEUV, die europäische Politik im Bereich der Geldbußen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße, da diese Geldbuße weder angemessen noch notwendig gewesen sei.
84 Mit dem dritten Klagegrund wird gerügt, dass die gesamtschuldnerische Haftung von Hit Groep für den von Nedri begangenen Verstoß zu Unrecht angenommen worden sei.
85 Mit dem vierten Klagegrund wird gerügt, dass der Betrag der Hit Groep auferlegten Geldbuße aus folgenden Gründen unrichtig sei:
—
Die Kommission habe unter Verstoß gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den Umsatz von Hit Groep für das Jahr 2003 zugrunde gelegt (erster Teil);
—
die Kommission hätte ihr die gleiche Kronzeugenermäßigung zugutekommen lassen müssen, die sie Nedri bewilligt habe, da ihre Haftung die von Nedri nicht übersteigen könne (zweiter Teil);
—
die Kommission habe die ihr auferlegte Geldbuße getrennt berechnet, während sie diese auf einen Anteil der Geldbuße hätte beschränken müssen, die Nedri auferlegt wurde, da sie nur gesamtschuldnerisch für die dieser auferlegte Geldbuße hafte (dritter Teil);
—
die Kommission habe dadurch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, dass sie nach Anwendung der Obergrenze von 10 % die begrenzte Dauer, für die die Klägerin für die von Nedri begangene Zuwiderhandlung haftbar gemacht werde, nicht berücksichtigt habe (vierter Teil).
86 Mit dem fünften, hilfsweise vorgebrachten Klagegrund wird eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer durch die Kommission gerügt.
87 Mit dem sechsten Klagegrund wird gerügt, dass der Grundbetrag der Geldbuße für einen Tätigkeitszeitraum von Nedri berechnet worden sei, der den Zeitraum übersteige, in dem Hit Groep gesamtschuldnerisch mit ihrer Tochtergesellschaft in Haftung genommen werde.
88 In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin schließlich einen siebten Klagegrund geltend gemacht, mit dem eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer durch das Gericht gerügt wird.
Zu den ersten drei Klagegründen
Zusammenfassung des angefochtenen Beschlusses
89 Dem angefochtenen Beschluss zufolge hielt die Klägerin vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 100 % der Anteile an Nedri, so dass die Ausübung eines bestimmenden Einflusses vermutet werden könne; diese Vermutung habe die Klägerin nicht widerlegen können (Erwägungsgründe 804 bis 812 des angefochtenen Beschlusses).
90 Die Kommission befand daher, dass Nedri für die Zuwiderhandlung vom 1. Januar 1984 bis zum 19. September 2002 haftbar zu machen sei, und stellte eine gesamtschuldnerische Haftung der Klägerin mit Nedri für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 fest (813. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
91 In Art. 1 des angefochtenen Beschlusses heißt es:
„Die folgenden Unternehmen haben gegen Artikel 101 AEUV und – seit dem 1. Januar 1994 – gegen Art. 53 EWR-Abkommen verstoßen, indem sie sich in den angegebenen Zeiträumen an einer fortdauernden Vereinbarung und/oder abgestimmten Verhaltensweisen im Spannstahlsektor des Binnenmarkts sowie – seit dem 1. Januar 1994 – des EWR beteiligt haben.
…
9. Unternehmen der Nedri-Gruppe:
a)
Nedri Spanstaal BV vom 1.1.1984 bis zum 19.9.2002 und
b)
Hit Groep BV vom 1.1.1998 bis zum 17.1.2002.“
92 In Art. 2 des angefochtenen Beschlusses verhängt die Kommission zum einen eine Geldbuße von 5056500 Euro gesamtschuldnerisch gegen Nedri und Hit Groep und zum anderen eine Geldbuße von 1877500 Euro gegen Hit Groep.
Vorbringen der Parteien
– Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 EWR-Abkommen, soweit mit dem angefochtenen Beschluss die Begehung einer Hit Groep zuzurechnenden Zuwiderhandlung für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 festgestellt wird, und Vorliegen eines Begründungsmangels
93 Hit Groep macht im Wesentlichen geltend, die Kommission habe ihre gesamtschuldnerische Haftung sowohl in der Mitteilung der Beschwerdepunkte als auch in dem angefochtenen Beschluss allein wegen ihrer Eigenschaft als Anteilsinhaberin festgestellt, die Nedri kontrolliert und einen bestimmenden Einfluss auf sie ausgeübt habe.
94 Gleichzeitig habe die Kommission aber festgestellt, dass die Klägerin selbst gegen Art. 101 AEUV verstoßen habe, ohne hierfür Gründe zu nennen oder ihre Entscheidung insoweit zu begründen.
95 Hit Groep trägt vor, auch wenn ihr die Zuwiderhandlung gegebenenfalls zugerechnet werden könne, bedeute das nicht, dass sie diese tatsächlich begangen habe. Sie sei nämlich weder Urheber noch Mittäter der Zuwiderhandlung, sondern trage lediglich eine Verantwortung für das Verhalten von Nedri.
96 Eine solche Verantwortlichkeit habe jedoch nicht die gleiche Intensität wie die eines Unternehmens, das die Zuwiderhandlung tatsächlich begehe, was sich auf die Höhe der Geldbuße auswirken müsse.
97 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
– Zum zweiten Klagegrund: Die Verhängung einer Geldbuße gegen Hit Groep, die seit dem 1. November 2004 nicht mehr wirtschaftlich tätig sei, laufe den Zielen von Art. 101 AEUV, der europäischen Politik im Bereich der Geldbußen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zuwider, da die Geldbuße in diesem Fall weder angemessen noch notwendig gewesen sei
98 Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 11. Dezember 2007, ETI u. a. (C‑280/06, Slg, EU:C:2007:775), und die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in dieser Rechtssache (EU:C:2007:404) macht Hit Groep im Wesentlichen geltend, dass, auch wenn weder sie noch Nedri weder vom Markt verschwunden noch an eine dritte juristische Person oder ein drittes Unternehmen übertragen worden seien, sie selbst seit dem 1. November 2004 (d. h. seit mehr als fünf Jahren vor der Verhängung der Sanktion gegen sie durch die Kommission) nicht mehr auf dem Markt tätig sei, dass die Sanktion gegen sie lediglich in ihrer Eigenschaft als Muttergesellschaft von Nedri, die die Zuwiderhandlung allein begangen habe, verhängt worden sei und dass die Geldbuße daher auf sie bezogen keinerlei Abschreckungseffekt habe.
99 Diese Sanktion sei daher nicht mit den Zielen der Wettbewerbspolitik vereinbar und nicht verhältnismäßig, da sie für die Erreichung des Ziels von Art. 101 AEUV weder zweckmäßig noch notwendig sei.
100 Die Klägerin ist der Auffassung, dass unter diesen Umständen der Grundsatz der wirtschaftlichen Kontinuität nur zur Verhängung einer Sanktion gegen die juristische Person hätte führen dürfen, die die Zuwiderhandlung begangen habe, d. h. Nedri, da sie selbst – als bloße Holding – nur noch eine leere Hülle sei.
101 Wenn eine Holding, wie sie selbst, eine Tochtergesellschaft, die eine Zuwiderhandlung begangen habe, veräußere und danach nicht mehr wirtschaftlich tätig sei, liege die wirtschaftliche Kontinuität des ehemaligen Konzerns nämlich bei der Einheit, die die Zuwiderhandlung begangen habe, und gegen diese Einheit und nicht gegen die wirtschaftlich inaktive Holding sei auch die Geldbuße zu verhängen.
102 Hit Groep macht weiter geltend, dass die der Kommission nach der Rechtsprechung zustehende Wahl, eine Sanktion gegen die Muttergesellschaft oder gegen die Tochtergesellschaft zu verhängen, im Interesse der Wirksamkeit dazu hätte führen müssen, eine solche nur gegen Nedri zu verhängen.
103 Ferner könne die Kommission nach ständiger Rechtsprechung die Höhe der einer Tochtergesellschaft auferlegten Geldbuße nicht auf der Grundlage des Umsatzes der ehemaligen Muttergesellschaft festlegen, wenn zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses eine Unternehmensspaltung vorgelegen habe, da der Umsatz der ehemaligen Muttergesellschaft dann nicht mehr die tatsächliche Wirtschaftskraft dieses Unternehmens widerspiegele. Die Kommission hätte daher die Geldbuße so bestimmen müssen, dass sie ihrer tatsächlichen Wirtschaftskraft entsprochen hätte, die aufgrund ihres begrenzten Umsatzes und des Fehlens einer wirtschaftlichen Tätigkeit bei null gelegen habe (und immer noch liege). Dies hätte dazu führen müssen, eine Sanktion nur gegen Nedri zu verhängen.
104 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
– Zum dritten Klagegrund: fehlerhafte Annahme einer gesamtschuldnerischen Haftung von Hit Groep für die von Nedri begangene Zuwiderhandlung
105 Die gesamtschuldnerische Haftung von Hit Groep für die von Nedri begangene Zuwiderhandlung wurde für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 festgestellt.
106 Hit Groep unterstreicht jedoch, dass die Kommission sich nicht zu dem Zeitraum vom 1. Mai 1987 bis zum 1. Mai 1994 geäußert habe, in dem sie ebenfalls zu 100 % das Kapital ihrer Tochtergesellschaft gehalten habe. Für den Zeitraum vom 1. Mai 1994 bis zum 31. Dezember 1997 habe sie angenommen, nicht über einen Beweis der Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf Nedri zu verfügen.
107 Hit Groep meint jedoch, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens beweisgestützt die Vermutung widerlegt zu haben, nach der eine Muttergesellschaft, die 100 % des Kapitals der Tochtergesellschaft halte, die die Zuwiderhandlung begangen habe, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübe.
108 Sie weist darauf hin, dass sie im Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 eine Finanzholding (Beteiligungsgesellschaft) gewesen sei.
109 Aus dem Wesen einer solchen Holding, ihrer Funktionsweise und dem Umfang ihrer Beteiligungen folge, dass – soweit die Kommission nicht den Beweis des Gegenteils erbringe – nicht angenommen werden könne, dass eine solche juristische Person einen bestimmenden Einfluss auf eine Tochtergesellschaft ausübe, selbst wenn sie über eine Beteiligung von 100 % an dieser verfüge.
110 Hit Groep trägt hierzu erstens vor, dass die Kommission sich auf eine Anweisung (directie-instructie) vom Mai 1994 stütze. Diese Anweisung liege jedoch vier Jahre vor dem Zeitraum, für den die Kommission die Ausübung eines bestimmenden Einflusses als nachgewiesen angesehen habe. Diese Anweisung beziehe sich zudem weder auf das Tagesgeschäft noch auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft und gehe nicht über die bloße Ausübung der Rechte hinaus, die einer Holding als Anteilseignerin durch das Gesetz und die Satzung verliehen würden. Schließlich hätten sowohl Nedri als auch sie selbst geltend gemacht, dass der Status dieser Anweisung nicht klar sei, und Nedri habe, entgegen ihrem Vortrag hierzu, dieser Anweisung nicht die Tragweite beigemessen, die ihr die Kommission gebe.
111 Zweitens trägt sie vor, dass sich die Kommission auf das Bestehen einer Lenkungsgruppe stütze, die ungefähr fünfmal pro Jahr getagt habe. Die Klägerin bestreitet, eingeräumt zu haben, dass in dieser Gruppe die allgemeine Geschäftsentwicklung und andere wichtige Fragen erörtert worden seien. Sie habe nur über zwei Angestellte verfügt, obwohl sich die Anzahl ihrer Beteiligungen 1994 auf elf belaufen habe und 2001 bis zu 26 betragen habe. Die Kommission hätte sich unter solchen Umständen nicht ohne genauere Angaben hierzu auf den Hinweis beschränken dürfen, sie habe einen bestimmenden Einfluss ausgeübt, auch wenn sie tatsächlich von Nedri verlangt habe, über die allgemeine Geschäftsentwicklung und über andere, für sie wichtige Themen informiert zu werden. Die Kommission habe weder eine Begründung noch einen Beweis für das Ausmaß der Abstimmung innerhalb der Lenkungsgruppe geliefert.
112 Drittens trägt sie vor, dass sich die Kommission auf eine belastende Erklärung von Nedri stütze, die vorgetragen habe, dass während der Sitzungen des Lenkungsausschusses alle geschäftlichen Aspekte erörtert worden seien. Sie habe zu diesem Punkt bereits im Rahmen des Verwaltungsverfahrens Stellung genommen, und diese Erklärungen seien nicht mehr als die Erklärungen einer an der Zuwiderhandlung beteiligten Partei, die nicht durch schriftliche Beweise oder Erklärungen von Dritten gestützt würden.
113 Hit Groep ist vielmehr der Auffassung, der Geschäftsentwicklung lasse sich entnehmen, dass sie keinen Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausgeübt habe. Sie meint im Wesentlichen, dass Nedri 1984 begonnen habe, sich an dem Kartell zu beteiligen, mithin 14 Jahre bevor ihr ein bestimmender Einfluss auf diese zugeschrieben worden sei, und dass Nedri ihre Beteiligung bis in den Herbst 2002 fortgesetzt habe, also bis nach ihrer Veräußerung durch die Klägerin. Damit sei die Eigenständigkeit des Verhaltens von Nedri nachgewiesen.
114 Schließlich hält die Klägerin den Vortrag der Kommission, sie sei ebenfalls in der Spannstahlbranche tätig gewesen und die wirtschaftlichen Tätigkeiten von Nedri stünden daher in Verbindung zu ihrem eigenen Betätigungsfeld, für unbegründet. Die Kommission habe nie vorgetragen, dass die Klägerin über die von Nedri begangene Zuwiderhandlung informiert gewesen sei, und sie selbst habe immer bestritten, von dieser Zuwiderhandlung gewusst zu haben, was dem Vortrag der Kommission, sie sei Tätigkeiten im Stahlsektor nachgegangen, jede Relevanz nehme, zumal diese Tätigkeiten ohnehin nicht den Spannstahlbereich betroffen hätten
115 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
Würdigung durch das Gericht
116 Es sind nacheinander der dritte, der erste und der zweite Klagegrund zu prüfen.
– Darlegung der Grundsätze
117 Nach ständiger Rechtsprechung bezeichnet der Begriff „Unternehmen“ jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Hierzu hat der Gerichtshof zum einen klargestellt, dass in diesem Zusammenhang unter dem Begriff „Unternehmen“ eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen ist, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet wird, und zum anderen, dass eine solche wirtschaftliche Einheit, wenn sie gegen die Wettbewerbsregeln verstößt, nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortung für diese Zuwiderhandlung einzustehen hat (vgl. Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C‑521/09 P, Slg, EU:C:2011:620, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
118 Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung kann einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen den beiden Rechtssubjekten (vgl. Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
119 Da nämlich in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV bilden, kann die Kommission eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre (vgl. Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). Mit anderen Worten ergibt sich die Befugnis der Kommission, den Beschluss, mit dem Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft zu richten, nicht erst aus einer Anstiftung zur Zuwiderhandlung im Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft und schon gar nicht aus einer Beteiligung der Muttergesellschaft an dieser Zuwiderhandlung, sondern aus dem Umstand, dass die betroffenen Gesellschaften ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 88).
120 Der Gerichtshof hat ebenfalls entschieden, dass in dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln der Union verstoßen hat, zum einen diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben kann und zum anderen eine widerlegbare Vermutung besteht, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen solchen Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt (im Folgenden: Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses) (vgl. Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
121 Mit der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses soll u. a. ein Gleichgewicht zwischen der Bedeutung des Ziels, Verhaltensweisen, die gegen die Wettbewerbsregeln, insbesondere gegen Art. 101 AEUV, verstoßen, zu unterbinden und ihre Wiederholung zu verhindern, einerseits und den Anforderungen bestimmter allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts wie etwa der Grundsätze der Unschuldsvermutung, der individuellen Zumessung von Strafen und der Rechtssicherheit sowie der Verteidigungsrechte einschließlich des Grundsatzes der Waffengleichheit andererseits hergestellt werden. Insbesondere aus diesem Grund ist die Vermutung widerlegbar (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 59). Daher steht eine solche Vermutung in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel (Urteil vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, Slg, EU:C:2013:522, Rn. 108).
122 Für die Vermutung, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieser Tochtergesellschaft ausübt, genügt es, dass die Kommission nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält. Die Kommission kann in der Folge die Muttergesellschaft als Gesamtschuldnerin für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße in Anspruch nehmen, sofern die Muttergesellschaft, der es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, keine ausreichenden Beweise dafür erbringt, dass ihre Tochtergesellschaft auf dem Markt eigenständig auftritt (vgl. Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
123 Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zwar neben der 100%igen Kapitalbeteiligung an der Tochtergesellschaft weitere Umstände, wie das Nichtbestreiten der von der Muttergesellschaft auf die Geschäftspolitik ihres Tochterunternehmens ausgeübten Einflusses und die gemeinsame Vertretung der beiden Unternehmen im Verwaltungsverfahren, angeführt, doch wurden diese Umstände vom Gerichtshof nicht erwähnt, um die Geltung der genannten Vermutung von der Beibringung zusätzlicher Indizien für die tatsächliche Einflussnahme durch die Muttergesellschaft abhängig zu machen. Die Kommission muss mit anderen Worten, um in einem konkreten Fall die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu vermuten, neben den Indizien für die Anwendbarkeit und das Eingreifen dieser Vermutung keine zusätzlichen Indizien beibringen (vgl. in diesem Sinne Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
124 Ferner beruht die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf der Feststellung, dass – von ganz außergewöhnlichen Umständen abgesehen – eine Gesellschaft, die die Gesamtheit des Kapitals einer Tochtergesellschaft hält, allein aufgrund dieser Beteiligung einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben kann und es normalerweise am zweckmäßigsten ist, in der Sphäre der Einheiten, denen gegenüber diese Vermutung eingreift, zu ermitteln, ob es an der tatsächlichen Ausübung dieser Befugnis zur Einflussnahme fehlt. Könnte daher ein Betroffener die genannte Vermutung durch bloße, nicht belegte Behauptungen widerlegen, wäre sie weitgehend nutzlos (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 60 und 61).
125 Nach ständiger Rechtsprechung genügt der Umstand, dass es sich bei der Muttergesellschaft um eine Holding handelt, allein nicht, um auszuschließen, dass sie einen bestimmenden Einfluss auf diese Tochtergesellschaft ausgeübt hat. Im Rahmen einer Unternehmensgruppe ist eine Holding, die insbesondere die finanziellen Investitionen innerhalb des Konzerns koordiniert, eine Gesellschaft, die die Beteiligungen an mehreren Gesellschaften bündeln und insbesondere durch die Budgetkontrolle als deren Leitungsinstanz fungieren soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Oktober 2008, Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, T‑69/04, Slg, EU:T:2008:415, Rn. 63, vom 13. Juli 2011, Shell Petroleum u. a./Kommission, T‑38/07, Slg, EU:T:2011:355, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. Juni 2012, E.ON Ruhrgas und E.ON/Kommission, T‑360/09, Slg, EU:T:2012:332, Rn. 283).
126 Bei der Prüfung der Frage, ob eine Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten autonom bestimmt, sind alle im Zusammenhang mit ihren wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen an die Muttergesellschaft relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die von Fall zu Fall variieren und daher nicht abschließend aufgezählt werden können (Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, Slg, EU:C:2009:536, Rn. 74).
127 Diese Beurteilung ist jedoch nicht nur auf die Faktoren zu beschränken, die sich auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft im engen Sinne, wie die Vertriebs- oder Preisstrategie, beziehen. Insbesondere kann die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses nicht allein dadurch widerlegt werden, dass dargetan wird, dass die Tochtergesellschaft diese spezifischen Aspekte ihrer Geschäftspolitik selbst in der Hand hat, ohne insoweit Weisungen zu erhalten (vgl. Urteil vom 16. Juni 2011, FMC/Kommission, T‑197/06, Slg, EU:T:2011:282, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).
128 Da sich die Autonomie der Tochtergesellschaft nicht nur unter dem Gesichtspunkt der operativen Führung des Unternehmens allein beurteilt, kann der Umstand, dass die Tochtergesellschaft zu keinem Zeitpunkt zugunsten der Muttergesellschaft eine spezifische Informationspolitik auf dem fraglichen Markt betrieben hat, nicht zum Nachweis ihrer Autonomie ausreichen (Urteil FMC/Kommission, oben in Rn. 127 angeführt, EU:T:2011:282, Rn. 145).
129 Ferner beweist der Umstand, dass aus den Akten nicht hervorgeht, dass die Muttergesellschaft ihrer Tochtergesellschaft Anweisungen erteilt hätte, nicht, dass solche Anweisungen tatsächlich nicht erteilt worden sind (vgl. Urteil vom 7. Juni 2011, Arkema France u. a./Kommission, T‑217/06, Slg, EU:T:2011:251, Rn. 118 und die dort angeführte Rechtsprechung).
130 Des Weiteren erfordert die Zurechnung der Zuwiderhandlung einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft nicht den Beweis, dass die Muttergesellschaft die Politik ihrer Tochtergesellschaft in dem konkreten Bereich beeinflusst, der Gegenstand der Zuwiderhandlung war (Urteile Shell Petroleum u. a./Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2011:355, Rn. 70, und vom 13. Juli 2011, Eni/Kommission, T‑39/07, Slg, EU:T:2011:356, Rn. 97).
131 Außerdem kann einer Muttergesellschaft eine von einer Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung auch dann zugerechnet werden, wenn in einem Konzern eine Vielzahl operativer Gesellschaften existiert (Urteile vom 20. April 1999, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, T‑305/94 bis T‑307/94, T‑313/94 bis T‑316/94, T‑318/94, T‑325/94, T‑328/94, T‑329/94 und T‑335/94, Slg, EU:T:1999:80, Rn. 989, und vom 27. September 2012, Shell Petroleum u. a./Kommission, T‑343/06, Slg, EU:T:2012:478, Rn. 52).
132 Nach ständiger Rechtsprechung muss im Übrigen die durch Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen von Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteile vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, Slg, EU:C:1998:154, Rn. 63, vom 30. September 2003, Deutschland/Kommission, C‑301/96, Slg, EU:C:2003:509, Rn. 87, und vom 22. Juni 2004, Portugal/Kommission, C‑42/01, Slg, EU:C:2004:379, Rn. 66).
133 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. Urteil vom 17. Oktober 2013, Schaible, C‑101/12, Slg, EU:C:2013:661, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
– Zur Begründetheit des dritten Klagegrundes
134 Hit Groep, die nicht bestreitet, 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft Nedri gehalten zu haben, trägt im Wesentlichen vor, dass, da sie selbst eine Holding sei, das Halten von 100 % des Kapitals einer Tochtergesellschaft der Kommission nicht die Annahme erlaubt habe, sie habe einen bestimmenden Einfluss auf diese Tochtergesellschaft ausgeübt.
135 Es obliege nämlich der Kommission, den Beweis eines solchen Einflusses zu erbringen, was ihr nicht gelungen sei, da die zusätzlichen Gesichtspunkte, auf die sie sich gestützt habe, es nicht erlaubten, eine solche Schlussfolgerung zu ziehen.
136 Die Klägerin macht vielmehr geltend, sie habe ihrerseits die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses widerlegt.
137 Diese Argumentation ist jedoch zurückzuweisen.
138 Da Hit Groep 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft während des zu deren Lasten festgestellten Zeitraums der Zuwiderhandlung besaß, durfte die Kommission die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses vermuten und war nicht verpflichtet, hierzu andere Beweismittel vorzulegen (vgl. Urteil Elf Aquitaine/Kommission, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2011:620, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
139 Daraus folgt, dass die Unerheblichkeit der von der Kommission angeführten zusätzlichen Beweismittel (d. h. die Anweisung von Mai 1994, das Bestehen und der Einfluss der Lenkungsgruppe und die Erklärungen von Nedri), angenommen, sie wäre erwiesen, jedenfalls ohne Einfluss auf die Verantwortlichkeit der Klägerin wäre, da die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses genügt, um die Haftung von Hit Groep nach sich zu ziehen, es sei denn, diese wäre in der Lage, diese Vermutung zu widerlegen, was ihr jedoch nicht gelungen ist.
140 Die Tatsache, dass Hit Groep eine – und sei es nicht operationelle – Holding ist, reicht nicht aus, um die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu entkräften (vgl. in diesem Sinne Urteile Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2008:415, Rn. 63, Shell Petroleum u. a./Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2011:355, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung, und E.ON Ruhrgas und E.ON/Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2012:332, Rn. 283), und bringt keinerlei Umkehr der Beweislast mit sich, wie Hit Groep unzutreffend geltend macht.
141 In dieser Hinsicht ist die Tatsache, dass die Muttergesellschaft sich in Anbetracht ihres Gesellschaftscharakters und ihres Gesellschaftszwecks darauf beschränkt hat, ihre Beteiligungen zu verwalten, irrelevant (vgl. in diesem Sinne Urteile Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2008:415, Rn. 70, und FMC/Kommission, oben in Rn. 127 angeführt, EU:T:2011:282, Rn. 130). Im Übrigen erfordert die Zurechnung der Zuwiderhandlung von Nedri an ihre Muttergesellschaft nicht den Beweis, dass Hit Groep die Politik ihrer Tochtergesellschaft in dem konkreten Bereich beeinflusst hat, der Gegenstand der Zuwiderhandlung war (vgl. in diesem Sinne Urteile Shell Petroleum u. a./Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2011:355, Rn. 70, und Eni/Kommission, oben in Rn. 130 angeführt, EU:T:2011:356, Rn. 97).
142 Daraus folgt, dass die Tatsache, dass die Muttergesellschaft selbst nicht im Spannstahlsektor tätig war, nicht ausreicht, um die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses zu widerlegen, so dass die Argumentation von Hit Groep hierzu zu verwerfen ist.
143 Zurückzuweisen ist ferner auch die Argumentation von Hit Groep, aus der Geschäftsentwicklung gehe hervor, dass sie keinen Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft gehabt habe.
144 Die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses kann nämlich nicht schon durch den Nachweis entkräftet werden, dass Nedri ihre Geschäftspolitik im engeren Sinne, wie die Vertriebs- oder Preisstrategie, bestimmt hat, ohne Weisungen von Hit Groep hierzu erhalten zu haben. Daraus folgt, dass die Autonomie der Tochtergesellschaft auch nicht durch den einfachen Nachweis dargetan werden kann, dass sie spezifische Aspekte ihrer Vertriebspolitik bezüglich der von der Zuwiderhandlung betroffenen Erzeugnisse eigenständig gehandhabt hat.
145 Da sich die Autonomie von Nedri nicht unter dem Gesichtspunkt der operativen Führung allein beurteilt, kann der Umstand, dass die Tochtergesellschaft zu keinem Zeitpunkt zugunsten der Muttergesellschaft eine spezifische Informationspolitik auf dem fraglichen Markt betrieben hat, ebenso nicht zum Nachweis ihrer Autonomie ausreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil FMC/Kommission, oben in Rn. 127 angeführt, EU:T:2011:282, Rn. 105 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
146 Daher kann keiner der von Hit Groep vorgebrachten Gesichtspunkte zu einer Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses führen, so dass der dritte Klagegrund zurückzuweisen ist.
– Zur Begründetheit des ersten und des zweiten Klagegrundes
147 Da nach der oben in Rn. 119 angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs die Feststellung einer persönlichen Beteiligung der Muttergesellschaft an der Zuwiderhandlung nicht erforderlich ist, um einen Beschluss an sie zu richten, mit dem ihr eine Geldbuße wegen der Begehung dieser Zuwiderhandlung auferlegt wird, kann die Argumentation von Hit Groep, ihr könne die Zuwiderhandlung nicht zugerechnet werden, da sie weder deren Urheber noch Mittäter sei, nicht durchgreifen.
148 Insoweit musste die Kommission auch den angefochtenen Beschluss nicht besonders im Hinblick auf die Zurechnung der Zuwiderhandlung an Hit Groep in ihrer Eigenschaft als Muttergesellschaft von Nedri begründen.
149 Der erste Klagegrund ist folglich insgesamt zurückzuweisen.
150 Zum zweiten Klagegrund ist darauf hinzuweisen, dass es im Sinne der effektiven Durchsetzung der Wettbewerbsregeln erforderlich sein kann, ein Kartellvergehen ausnahmsweise nicht dem ursprünglichen, sondern dem neuen Betreiber des am Kartell beteiligten Unternehmen zuzurechnen, sofern dieser tatsächlich als Nachfolger des ursprünglichen Betreibers angesehen werden kann, wenn er also das am Kartell beteiligte Unternehmen weiterbetreibt (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache ETI u. a., oben in Rn. 98 angeführt, EU:C:2007:404, Rn. 75 und 76). Ohne irgendeine Möglichkeit, die Sanktion einer anderen Einheit als derjenigen, die die Zuwiderhandlung begangen hat, aufzuerlegen, könnten nämlich Unternehmen Sanktionen einfach dadurch entgehen, dass durch Umstrukturierungen, Übertragungen oder sonstige Änderungen rechtlicher oder organisatorischer Art ihre Identität geändert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil ETI u. a., oben in Rn. 98 angeführt, EU:C:2007:775, Rn. 41).
151 So kommt nach Auffassung des Gerichtshofs das Kriterium der wirtschaftlichen Kontinuität nur dann zum Zug, wenn die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche juristische Person nach der Begehung der Zuwiderhandlung aufgehört hat, rechtlich zu existieren (Urteile vom 8. Juli 1999, Kommission/Anic Partecipazioni, C‑49/92 P, Slg, EU:C:1999:356, Rn. 145, und vom 20. März 2002, HFB u. a./Kommission, T‑9/99, Slg, EU:T:2002:70, Rn. 104), oder im Fall interner Umstrukturierungen eines Unternehmens, wenn der ursprüngliche Betreiber nicht notwendigerweise aufhört, rechtlich zu existieren, aber auf dem betroffenen Markt keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr ausübt, und zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Betreiber des Unternehmens eine strukturelle Verbindung besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg, EU:C:2004:6, Rn. 359, und ETI u. a., oben in Rn. 98 angeführt, EU:C:2007:775, Rn. 41).
152 Es ist jedoch festzustellen, dass sich Hit Groep, wie die Kommission anmerkt, in keiner der beiden vom Gerichtshof in Betracht gezogenen Situationen befindet.
153 Weder Nedri noch Hit Groep haben nämlich aufgehört zu existieren – auch wenn sie nicht mehr Teil desselben Konzerns sind –, und es hat keine interne Umstrukturierung gegeben, in deren Rahmen eine strukturelle Verbindung von Hit Groep zum Erwerber bestünde.
154 Daraus folgt, dass das Kriterium der wirtschaftlichen Kontinuität, das es rechtfertigen würde, die Zuwiderhandlung allein der Tochtergesellschaft zuzurechnen, im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist und dass Hit Groep sich nicht auf diese Rechtsprechung berufen kann, um sich dagegen zu wenden, dass ihr eine gesamtschuldnerische Haftung für die von Nedri begangene Zuwiderhandlung auferlegt wird, während sie diese zu 100 % kontrollierte.
155 Die Kommission weist ferner zu Recht darauf hin, dass die Sanktion von Wettbewerbsrechtsverstößen und die daran geknüpfte Geldbuße sowohl eine abschreckende als auch eine repressive Wirkung haben und dass die Sanktion weiterhin der Muttergesellschaft aufzuerlegen ist, auch wenn diese im vorliegenden Fall zwar ihre wirtschaftliche Tätigkeit beschränkt, aber eine rechtliche Existenz behalten hat, die die Verhängung einer Sanktion gegen sie weiter zulässt.
156 Die Argumentation von Hit Groep zur fehlenden Wirksamkeit der ausgesprochenen Sanktion ihr gegenüber kann daher nicht durchgreifen. Die Verhängung einer Sanktion gegen Hit Groep ist in keiner Weise als solche unverhältnismäßig und läuft auch nicht dem Zweck des Art. 101 AEUV zuwider.
157 Schließlich geht nach Auffassung der Klägerin aus dem Urteil vom 24. März 2011, Pegler/Kommission (T‑386/06, Slg, EU:T:2011:115), hervor, dass die Kommission den Betrag der gegen eine Tochtergesellschaft verhängten Geldbuße nicht auf der Grundlage der Umsätze ihrer ehemaligen Muttergesellschaft festsetzen könne, wenn das Unternehmen zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses gespalten worden sei, da der Umsatz der ehemaligen Muttergesellschaft nicht mehr die tatsächliche Wirtschaftskraft dieses Unternehmens widerspiegle.
158 Daraus folgt nach Auffassung von Hit Groep, dass die Kommission den Betrag der Geldbuße entsprechend der tatsächlichen Wirtschaftskraft der Klägerin hätte festlegen müssen, die in Anbetracht ihres begrenzten Umsatzes und der fehlenden wirtschaftlichen Tätigkeit zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses bei null gelegen habe, was die Kommission dazu hätte bringen müssen, nur Nedri eine Sanktion aufzuerlegen.
159 Dieser Argumentation – zu der darauf hinzuweisen ist, dass sie als solche erstmals im Stadium der Erwiderung (Punkt 2.14) entwickelt worden ist – kann jedoch nicht gefolgt werden.
160 Zum einen betrifft Rn. 133 des Urteils Pegler/Kommission, oben in Rn. 157 angeführt (EU:T:2011:115), auf die sich die Klägerin bezieht, eine unterschiedliche Sach- und Rechtslage als die von Nedri und von Hit Groep. Sie bezieht sich nämlich auf die Anwendung von Nr. 1.A Abs. 4 und 5 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden (ABl. 1998, C 9, S. 3); diese Bestimmungen der Leitlinien betreffen die Erhöhung der Geldbuße zu Abschreckungszwecken.
161 Zum anderen kann nach der Rechtsprechung zwar die Obergrenze erst dann, wenn sich herausstellt, dass mehrere Adressaten das Unternehmen im Sinne der für die geahndete Zuwiderhandlung verantwortlichen wirtschaftlichen Einheit darstellen und dies auch noch zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses gilt, anhand des Gesamtumsatzes dieses Unternehmens, d. h. aller seiner Bestandteile, berechnet werden. Wurde diese wirtschaftliche Einheit dagegen in der Zwischenzeit aufgelöst, so hat jeder Adressat des Beschlusses Anspruch auf individuelle Anwendung der fraglichen Obergrenze (Urteil vom 15. Juni 2005, Tokai Carbon u. a./Kommission, T‑71/03, T‑74/03, T‑87/03 und T‑91/03, EU:T:2005:220, Rn. 390).
162 Die Kommission hat die Obergrenze von 10 % jedoch allein auf der Grundlage des Umsatzes von Hit Groep berechnet, da diese und Nedri zum Zeitpunkt, als der angefochtene Beschluss erlassen wurde, kein Unternehmen mehr bildeten.
163 Soweit die Klägerin das von der Kommission berücksichtigte Referenzjahr mit ihrer Argumentation beanstanden will, ist festzustellen, dass sich diese mit dem ersten Teil des vierten Klagegrundes überschneidet, der sich auf eben diese Frage bezieht und auf den zu verweisen ist.
164 Daher ist diese Rüge als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass über ihre Zulässigkeit zu befinden wäre.
165 Der zweite Klagegrund ist daher in vollem Umfang zurückzuweisen.
Zum vierten Klagegrund: verschiedene Fehler bei den zur Festsetzung der Hit Groep auferlegten Geldbuße berücksichtigten Faktoren
Zum ersten Teil: Die Kommission habe gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen, indem sie fehlerhaft den Umsatz von Hit Groep im Jahr 2003 berücksichtigt habe
– Vorbringen der Parteien
166 Hit Groep trägt vor, die Kommission habe sich zu Unrecht auf das Urteil vom 7. Juni 2007, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission (C‑76/06 P, Slg, EU:C:2007:326), gestützt, das sich auf eine Situation beziehe, in der das Unternehmen keinerlei Tätigkeit ausgeübt und im Geschäftsjahr vor Erlass des angefochtenen Beschlusses keinen Umsatz erwirtschaftet habe, um in ihrem Fall den Umsatz des Jahres 2003 zu berücksichtigen, der sich für dieses Geschäftsjahr auf 69345000 Euro belaufen habe, und nicht den Umsatz, den sie 2009 erwirtschaftet habe, nämlich 152257 Euro.
167 In dieser Hinsicht sei zu berücksichtigen, dass sie eine Holding sei, deren gewöhnliche Tätigkeit darin bestehe, Anteile zu erwerben, diese zu halten, Dividenden einzunehmen und diese Anteile zu veräußern. Ihre Situation unterscheide sich von der, die in der mit dem Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 166 angeführt (EU:C:2007:326), entschiedenen Rechtssache vorgelegen habe, in der das Unternehmen keine Holding, sondern ein operativ tätiges Unternehmen gewesen sei.
168 Der Umsatz einer Holding entwickle sich nämlich parallel zu ihrer finanziellen Tätigkeit, und die Aufrechterhaltung einer relativ begrenzten finanziellen Reserve sowie ein minimaler Umsatz während einer Reihe von Jahren seien als normale Ausübung der Tätigkeiten einer Holding anzusehen.
169 Ihre Situation unterscheide sich auch insofern von derjenigen in der Rechtssache, in der das Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 166 angeführt (EU:C:2007:326), ergangen sei, als es sich in ihrem Fall – anders als in jener Rechtssache – um einen Zeitraum von sieben Jahren handle, in dem sie eine zwar eingeschränkte, aber dennoch als ihre normale Tätigkeit anzusehende Tätigkeit ausgeübt habe.
170 Daher sei die Kommission zu Unrecht von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 abgewichen.
171 Ferner ergebe sich aus dem Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 166 angeführt (EU:C:2007:326), dass durch die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Obergrenze von 10 % verhindert werden solle, dass die Geldbuße außer Verhältnis zur Größe des Unternehmens stehe, und dass sie die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch das betroffene Unternehmen zu dem Zeitpunkt voraussetze, zu dem die Geldbuße gegen es verhängt werde.
172 Daraus folge, dass die Kommission eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Geldbuße hätte vornehmen müssen, was sie jedoch, obwohl sie über alle hierzu notwendigen Beweismittel verfügt habe, unter Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der ordnungsgemäßen Verwaltung unterlassen habe.
173 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
– Würdigung durch das Gericht
174 Gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 kann die Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV verstoßen. Die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung darf 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.
175 Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass durch die auf den Umsatz bezogene Obergrenze in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verhindert werden soll, dass die von der Kommission verhängten Geldbußen außer Verhältnis zur Größe des betroffenen Unternehmens stehen (Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 166 angeführt, EU:C:2007:326, Rn. 24).
176 Es handelt sich somit um eine Obergrenze, die einheitlich für alle Unternehmen gilt, von deren jeweiliger Größe abhängt und einem gegenüber dem Zweck der Kriterien der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung gesonderten und eigenständigen Zweck dient. Ihre einzige mögliche Folge ist, dass die anhand dieser Kriterien berechnete Geldbuße auf den zulässigen Höchstbetrag gesenkt wird. Ihre Anwendung führt dazu, dass das betreffende Unternehmen nicht die Geldbuße zahlt, die an sich bei einer auf diese Kriterien gestützten Beurteilung verhängt werden müsste (Urteil vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg, EU:C:2005:408, Rn. 281 bis 283).
177 Mit anderen Worten besteht das mit der Festsetzung einer Obergrenze von 10 % des Umsatzes jedes an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens in Art. 23 Abs. 2 verfolgte Ziel darin, zu vermeiden, dass die Festsetzung einer über dieser Obergrenze liegenden Geldbuße die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens zu dem Zeitpunkt überschreitet, zu dem es für die Zuwiderhandlung haftbar gemacht wird und zu dem ihm von der Kommission eine finanzielle Sanktion auferlegt wird (Urteil vom 4. September 2014, YKK u. a./Kommission, C‑408/12 P, Slg, EU:C:2014:2153, Rn. 63).
178 Mit dem „vorausgegangenen Geschäftsjahr“ im Sinne von Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ist grundsätzlich das letzte abgeschlossene Tätigkeitsjahr des betroffenen Unternehmens zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses gemeint (Urteil vom 28. April 2010, Gütermann und Zwicky/Kommission, T‑456/05 und T‑457/05, Slg, EU:T:2010:168, Rn. 80; vgl. in diesem Sinne auch Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 166 angeführt, EU:C:2007:326, Rn. 32).
179 Sowohl aus den Zielen der Regelung, zu der Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 gehört, als auch aus der vorstehend in Rn. 166 angeführten Rechtsprechung ergibt sich, dass die Anwendung der Obergrenze von 10 % somit zum einen voraussetzt, dass der Kommission die Umsatzzahlen für das letzte Geschäftsjahr vor dem Erlass der Entscheidung vorliegen, und zum anderen, dass diese Zahlen einem abgeschlossenen Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit entsprechen, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckt (Urteile vom 29. November 2005, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, T‑33/02, Slg, EU:T:2005:428, Rn. 38, und Gütermann und Zwicky/Kommission, oben in Rn. 178 angeführt, EU:T:2010:168, Rn. 95).
180 Aus dem Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 166 angeführt (EU:C:2007:326, Rn. 32), geht zwar hervor, dass die Kommission zur Berechnung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Obergrenze der Geldbuße grundsätzlich den Umsatz der betreffenden Gesellschaft in dem zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wird, letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr heranziehen muss, doch ergibt sich aus dem Zusammenhang und den Zielen, die mit der Regelung, zu der diese Bestimmung gehört, verfolgt werden, dass der Umsatz des Geschäftsjahrs, das dem Erlass der Entscheidung der Kommission vorausgeht, bei der Bestimmung der Obergrenze der Geldbuße nicht herangezogen werden kann, wenn dieser Umsatz keinem abgeschlossenen Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit entspricht, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckt, und daher kein geeigneter Anhaltspunkt für die tatsächliche wirtschaftliche Situation des betreffenden Unternehmens und für die angemessene Höhe der ihm aufzuerlegenden Geldbuße ist. In diesem Fall, der nur unter außergewöhnlichen Umständen vorliegen wird, ist die Kommission verpflichtet, bei der Berechnung der Obergrenze der Geldbuße auf das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr abzustellen, das einem abgeschlossenen Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit entspricht (Urteil vom 12. Dezember 2012, 1. garantovaná/Kommission, T‑392/09, EU:T:2012:674, Rn. 86, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Urteil vom 15. Mai 2014, 1. garantovaná/Kommission, C‑90/13 P, EU:C:2014:326).
181 Im vorliegenden Fall hat Hit Groep der Kommission unstreitig im September 2009 in Beantwortung einer von dieser gestellten Frage angezeigt, dass sie Nedri am 17. Januar 2002 und all ihre übrigen Beteiligungen am 1. November 2004 veräußert habe und dass sie damit sämtliche operativen Tätigkeiten mit Wirkung vom zuletzt genannten Datum eingestellt habe (Anhang A 13 der Klageschrift, S. 223 und 224). Hit Groep hat ihr des Weiteren ihren Umsatz für die Jahre 2003 und 2004 genannt.
182 In Anbetracht der oben in den Rn. 179 und 168 angeführten Rechtsprechung ist daher festzustellen, dass die Kommission fehlerfrei angenommen hat, dass, da der Umsatz des Geschäftsjahrs 2009 keinen geeigneten Anhaltspunkt für die tatsächliche wirtschaftliche Situation des betroffenen Unternehmens bot, für die Berechnung der in Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Obergrenze von 10 % der Umsatz des Jahres 2003 zugrunde zu legen war, in dem das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit des Unternehmens lag, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckte.
183 Zurückzuweisen ist darüber hinaus das Vorbringen der Klägerin zu ihrem Status als Holding und dem Umstand, dass die Aufrechterhaltung einer relativ begrenzten finanziellen Reserve sowie ein minimaler Umsatz während mehrerer Jahre (von 2005 bis 2009) als normale Ausübung der Tätigkeiten einer Holding zu werten seien, was es rechtfertige, den Umsatz des Jahres 2009 zugrunde zu legen.
184 Dieser Vortrag widerspricht nämlich den eigenen Erklärungen der Klägerin zur Einstellung ihrer operativen Tätigkeiten im Jahr 2004, die in Wirklichkeit bestätigen, dass das „letzte abgeschlossene Geschäftsjahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit“ des Unternehmens, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckte, im Jahr 2003 und nicht 2009 lag.
185 Ferner weist die Klägerin darauf hin, dass die normale Tätigkeit einer Holding darin bestehe, Anteile zu erwerben, diese zu halten, Dividenden einzunehmen und diese Anteile zu veräußern. Es ist jedoch festzustellen, dass sie die Gesamtheit ihrer Anteile im Jahr 2004 verkauft hatte und dass sie sich nach diesem Zeitpunkt nach ihren eigenen Worten darauf beschränkt hat, eine begrenzte finanzielle Reserve und einen minimalen Umsatz aufrechtzuerhalten, was nicht ausreichen kann, um einen entscheidenden Beweis für das Vorliegen einer normalen wirtschaftlichen Tätigkeit dieser Gesellschaft zu liefern (vgl. in diesem Sinne Urteile Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 179 angeführt, EU:T:2005:428, Rn. 48 ff., und Gütermann und Zwicky/Kommission, oben in Rn. 178 angeführt, EU:T:2010:168, Rn. 102).
186 Daher hat die Kommission nicht gegen Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof verstoßen.
187 Daraus folgt, dass die Kommission, indem sie sich für die Berechnung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten Obergrenze von 10 % auf das Geschäftsjahr 2003 bezogen hat, weder gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gegen den der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen hat, da sie pflichtgemäß das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit der Klägerin, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckte, berücksichtigt hat.
188 Der erste Teil des vierten Klagegrundes ist dementsprechend zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil: Hit Groep hätte die Nedri gewährte Kronzeugenermäßigung zugestanden werden müssen
– Vorbringen der Parteien
189 Hit Groep ist der Ansicht, dass sie, da sie ausschließlich gesamtschuldnerisch für die gegen ihre ehemalige Tochtergesellschaft wegen deren Teilnahme an der Zuwiderhandlung verhängte Geldbuße haftbar gemacht werde, automatisch von der Nedri bewilligten Kronzeugenermäßigung hätte profitieren müssen, was ihr die Kommission zu Unrecht verweigert habe. Der zwischenzeitlich erfolgte Verkauf von Nedri könne in dieser Hinsicht keine Auswirkungen haben, wie im Übrigen dieser Verkauf auch keine Auswirkungen auf ihre gesamtschuldnerische Haftung habe.
190 Wenn sich die Feststellung der Haftung für eine Zuwiderhandlung auf den Begriff des Unternehmens stütze und sie aufgrund ihrer 100%igen Beteiligung an Nedri gesamtschuldnerisch hafte, müssten die Folgen der sich aus dieser Haftung ergebenden Konsequenzen bei der Festsetzung der Geldbuße in gleicher Weise bestimmt werden. Sie widerspricht in dieser Hinsicht der Argumentation der Kommission, dass ein solcher Ansatz mit der Logik der Kronzeugenregelung unvereinbar sei, und macht geltend, dass sie entgegen dem Vortrag der Kommission hinsichtlich der Festsetzung der Geldbuße kein „anderes Unternehmen“ sei.
191 Die Kommission könne sich auch nicht auf das Urteil vom 30. September 2009, Hoechst/Kommission (T‑161/05, Slg, EU:T:2009:366), berufen, das keinen mit ihrem vergleichbaren Fall betreffe.
192 Die Zuwiderhandlung sei nämlich im vorliegenden Fall nicht nacheinander von ihr selbst und von Nedri begangen worden, sondern ausschließlich von Nedri im Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002.
193 Hit Groep ist im Übrigen der Ansicht, dass ihr nicht vorgeworfen werden könne, keinen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt zu haben, da sie von nichts gewusst und daher auch über keinerlei relevante Informationen verfügt habe.
194 Die Tatsache, dass sie infolge der Auskunftsverlangen der Kommission über das fragliche Verfahren in den Jahren 2003 und 2004 hätte informiert sein können, sei in dieser Hinsicht unerheblich, da sie selbst Nedri im Jahr 2002 verkauft habe und zu diesem Zeitpunkt keinen Zugang mehr zu irgendwelchen Informationen gehabt habe.
195 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
– Würdigung durch das Gericht
196 Nach ständiger Rechtsprechung kann nur einem Unternehmen, das mit der Kommission auf der Grundlage der Kronzeugenregelung zusammengearbeitet hat, nach dieser Regelung eine niedrigere Festsetzung der Geldbuße gewährt werden, die ohne diese Zusammenarbeit verhängt worden wäre. Diese Herabsetzung kann nicht auf eine Gesellschaft erstreckt werden, die zwar während eines Teils der Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung zu der von einem Unternehmen gebildeten wirtschaftlichen Einheit gehörte, aber nicht mehr zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit dieses Unternehmens mit der Kommission. Angesichts des Ziels der Kronzeugenregelung, die Aufdeckung von gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßenden Verhaltensweisen zu fördern, und zur Gewährleistung einer wirksamen Anwendung dieses Rechts ist es nämlich durch nichts gerechtfertigt, die einem Unternehmen wegen seiner Zusammenarbeit mit der Kommission gewährte Herabsetzung einer Geldbuße auf ein Unternehmen zu erstrecken, das zwar in der Vergangenheit den Tätigkeitsbereich kontrolliert hat, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde, das aber zu deren Aufdeckung selbst nichts beigetragen hat (Urteile vom 30. April 2014, FLSmidth/Kommission, C‑238/12 P, Slg, EU:C:2014:284, Rn. 83 und 85, und Hoechst/Kommission, oben in Rn. 191 angeführt, EU:T:2009:366, Rn. 76).
197 Im vorliegenden Fall kontrollierte Hit Groep zu dem Zeitpunkt, als Nedri um Anwendung der Kronzeugenregelung gebeten hatte, diese nicht mehr, und sie hat auch nicht zur Aufdeckung der Zuwiderhandlung beigetragen. Die Klägerin stellt nämlich selbst klar, dass sie von nichts gewusst habe und daher auch über keinerlei relevante Informationen verfügt habe, die sie der Kommission hätte offenlegen können.
198 Folglich kann ihr die Nedri gewährte Ermäßigung der Geldbuße nicht zugestanden werden.
199 Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass Hit Groep zu Recht (siehe oben, Rn. 119 und 147) von der Kommission aufgrund des bestimmenden Einflusses, den sie, wie sich aus Art. 1 Nr. 9 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses ergibt, auf ihre Tochtergesellschaft ausübte, für die Begehung der Zuwiderhandlung zwischen dem 1. Januar 1998 und dem 17. Januar 2002 haftbar gemacht wurde. Da die beiden Gesellschaften ein und dasselbe Unternehmen im wettbewerbsrechtlichen Sinne bildeten, hafteten sie folglich für einen Teil der gegen sie verhängten Geldbuße gesamtschuldnerisch.
200 Die Argumentation von Hit Groep, allein Nedri habe die Zuwiderhandlung begangen und sie selbst werde nur gesamtschuldnerisch in Haftung genommen, beruht daher auf einem fehlerhaften Verständnis des angefochtenen Beschlusses.
201 Folglich ist der zweite Teil des vierten Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum dritten Teil des vierten Klagegrundes, wonach zum einen Hit Groep als Gesamtschuldnerin für die gegen Nedri verhängte Geldbuße Haftende nur pro rata temporis auf Zahlung eines Teils der Geldbuße, zu der Nedri verurteilt worden sei, habe in Anspruch genommen werden können und zum anderen die Kommission zu Unrecht eine unterschiedliche Berechnung der gegen Hit Groep verhängten Geldbuße vorgenommen habe, sowie zum vierten Teil des vierten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung geltend gemacht wird
– Vorbringen der Parteien
202 Hit Groep trägt vor, dass ihre Haftung nur festgestellt worden sei, weil sie die Muttergesellschaft von Nedri war, und nicht auf der Grundlage eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV, den sie selbst begangen hätte. Aus dem angefochtenen Beschluss ergebe sich nämlich, dass die Kommission sich darauf beschränkt habe, sie für die Zahlung der gegen Nedri verhängten Geldbuße für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 haftbar zu machen.
203 Dieser Beurteilung widerspreche es, dass gegen sie eine höhere Geldbuße verhängt worden sei, als sie Nedri auferlegt worden sei, denn ihre Haftung könne nach dem Urteil vom 24. März 2011, Tomkins/Kommission (T‑382/06, Slg, EU:T:2011:112), die von Nedri nicht übersteigen.
204 Nach Auffassung der Klägerin hätten ihr nämlich als Gesamtschuldnerin pro rata temporis 48/224 der gegen verhängten Nedri Geldbuße auferlegt werden müssen. Eine solche Berechnung stehe auch im Einklang mit der Rechtsprechung (Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission, oben in Rn. 126 angeführt, EU:C:2009:536). Die gegen sie verhängte Geldbuße sei daher unverhältnismäßig.
205 Die Klägerin führt aus, dass sich die Kommission für ihren Standpunkt zwar auf verschiedene Urteile des Gerichtshofs und des Gerichts stütze (Urteile vom 16. November 2000, Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission, C‑286/98 P, Slg, EU:C:2000:630, Cascades/Kommission, C‑279/98 P, Slg, EU:C:2000:626, vom 17. Dezember 1991, Enichem Anic/Kommission, T‑6/89, Slg, EU:T:1991:74, und HFB u. a./Kommission, oben in Rn. 151 angeführt, EU:T:2002:70), hält diese Rechtsprechung allerdings nicht für einschlägig, da die Muttergesellschaft in diesen Rechtssachen im Unterschied zu ihrer eigenen Situation Mittäter der Zuwiderhandlung gewesen sei.
206 Im Übrigen macht Hit Groep im Wesentlichen geltend, dass die Anwendung der Obergrenze von 10 % des Umsatzes nicht ausreiche, um den Betrag der Geldbuße im vorliegenden Fall verhältnismäßig erscheinen zu lassen, und dass nach Anwendung dieser Obergrenze die Dauer ihrer persönlichen Haftung hätte berücksichtigt werden müssen. In dieser Hinsicht bestätige das Urteil vom 3. März 2011, Siemens und VA Tech Transmission & Distribution/Kommission (T‑122/07 bis T‑124/07, Slg, EU:T:2011:70), dass die Berechnung der Geldbuße nicht mit der Anwendung der Obergrenze von 10 % beendet sei und dass die Kommission in diesem Stadium noch verpflichtet sei, den endgültigen Betrag der verhängten Geldbußen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen.
207 Hit Groep trägt vor, dass die ihr auferlegte Geldbuße, die sich auf eine Zuwiderhandlung beziehe, die vier Jahre gedauert habe, tatsächlich um 27 % höher sei als diejenige, die gegen Nedri verhängt worden sei, für die ein Zeitraum der Zuwiderhandlung von 18 Jahren und acht Monaten angenommen wurde.
208 Die bloße Anwendung der Obergrenze von 10 % reiche jedoch nicht aus, um ihre Diskriminierung gegenüber Nedri auszugleichen oder zu beseitigen.
209 Diese Korrektur hätte die Kommission im Rahmen der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Hit Groep anwenden können, aber auch abgesehen von dieser Möglichkeit hätte Kommission dem Problem durch Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Gleichbehandlung abhelfen können.
210 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
– Würdigung durch das Gericht
211 Erstens wurde Hit Groep wegen des bestimmenden Einflusses, den sie auf ihre Tochtergesellschaft ausübte, wie sich aus Art. 1 Nr. 9 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses ergibt, zu Recht für die Begehung der Zuwiderhandlung zwischen dem 1. Januar 1998 und dem 17. Januar 2002 in Haftung genommen. Die beiden Gesellschaften, die ein und dasselbe Unternehmen im wettbewerbsrechtlichen Sinne bildeten, wurden sodann gesamtschuldnerisch für eine Geldbuße von 5056500 Euro haftbar gemacht, wobei gegen Hit Groep ferner eine Geldbuße von 1877500 Euro verhängt wurde.
212 Aus den oben in den Rn. 146 und 187 ausgeführten Gründen ist die Argumentation von Hit Groep zurückzuweisen, nach der allein Nedri die Zuwiderhandlung begangen habe und sie selbst nur gesamtschuldnerisch in Haftung genommen werde, da diese Argumentation auf einem fehlerhaften Verständnis des angefochtenen Beschlusses beruht.
213 Zweitens ist zwar entschieden worden, dass die Haftung der Muttergesellschaft, wenn diese nicht tatsächlich am Kartell beteiligt war und ihre Haftung lediglich auf der Teilnahme ihrer Tochtergesellschaft an dem Kartell beruht, sich als bloß abgeleitet und akzessorisch darstellt und von derjenigen ihrer Tochtergesellschaft abhängt und daher nicht über deren Haftung hinausgehen kann (Urteil Tomkins/Kommission, oben in Rn. 203 angeführt, EU:T:2011:112, Rn. 38, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Urteil vom 22. Januar 2013, Kommission/Tomkins, C‑286/11 P, Slg, EU:C:2013:29, Rn. 39).
214 Diese Rechtsprechung gilt allerdings, wenn zwei verschiedene juristische Personen wie eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, mit der gegen sie eine Geldbuße verhängt wird, kein Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV mehr bilden, unbeschadet dessen, dass bei der Berechnung der Geldbuße Elemente, die jeder dieser Gesellschaften eigen sind, berücksichtigt werden.
215 Wenn zwei verschiedene juristische Personen, wie eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft, zum Zeitpunkt des Erlasses einer Entscheidung, mit der gegen sie eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängt wird, kein Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV mehr bilden, hat somit jede von ihnen Anspruch auf individuelle Anwendung der Obergrenze von 10 % des Umsatzes (Urteil vom 26. November 2013, Kendrion/Kommission, C‑50/12 P, Slg, EU:C:2013:771, Rn. 57).
216 Gleiches gilt für die eventuelle Anwendung der Kronzeugenregelung, die nicht von einer Gesellschaft beansprucht werden kann, die während eines Teils der Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung, aber nicht mehr zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit dieses Unternehmens mit der Kommission zu der von einem Unternehmen gebildeten wirtschaftlichen Einheit gehörte (vgl. die oben in Rn. 196 angeführte Rechtsprechung).
217 Drittens ist festzustellen, dass die Kommission im vorliegenden Fall zunächst den Grundbetrag der Geldbuße festgelegt hat (Abschnitt 19.1 des angefochtenen Beschlusses). Im Rahmen dieser Prüfung hat sie befunden, dass ein unterschiedlicher Zeitraum der Zuwiderhandlung für Nedri (18 Jahre und acht Monate) und für Hit Groep (vier Jahre) zu berücksichtigen sei (956. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
218 Auf dieser Grundlage hat sie die gegen Nedri zu verhängende Geldbuße auf 113000000 Euro und die gegen Hit Groep zu verhängende Geldbuße auf 29000000 festgesetzt (963. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung in der Fassung des ersten Änderungsbeschlusses).
219 Da keine erschwerenden oder mildernden Umstände vorlagen, beließ sie folglich den Betrag der zu verhängenden Geldbußen bei 113000000 Euro für Nedri und 29000000 Euro für Hit Groep (1057. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung in der Fassung des ersten Änderungsbeschlusses).
220 Danach hat sie die Obergrenze von 10 % des Umsatzes für jedes der beiden Unternehmen zutreffend angewandt (1060. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung; vgl. auch die oben in Rn. 215 angeführte Rechtsprechung).
221 Auf diese Weise gelangte sie für die gegen Nedri zu verhängende Geldbuße auf 6742000 Euro (d. h. 10 % des Umsatzes von Nedri im Jahr 2009) und für die gegen Hit Groep zu verhängende Geldbuße auf 6934000 Euro, d. h. 10 % des Umsatzes von Hit Groep im Jahr 2003 (1071. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung in der Fassung des ersten Änderungsbeschlusses).
222 Danach hat sie die Geldbuße von Nedri wegen deren Zusammenarbeit zutreffend um 25 % ermäßigt, während diese Ermäßigung der Klägerin nicht gewährt werden konnte (1087. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung; vgl. auch die oben in Rn. 196 angeführte Rechtsprechung).
223 Auf dieser Grundlage befand sie, dass die Geldbuße gegen Nedri auf 5056000 Euro und die gegen Hit Groep auf 6934000 Euro festzusetzen sei (1057. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung), wobei Hit Groep und Nedri für die Zahlung der erstgenannten Geldbuße von 5056000 Euro gesamtschuldnerisch hafteten (Art. 2 des angefochtenen Beschlusses).
224 Hit Groep ist der Auffassung, dass der Betrag der gegen sie verhängten Geldbuße, der über dem liege, der Nedri auferlegt worden sei, die Dauer der ihnen jeweils zur Last gelegten Zuwiderhandlung, d. h. 18 Jahre und acht Monate für Nedri und lediglich vier Jahre für Hit Groep, nicht zutreffend widerspiegle.
225 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der endgültige Betrag der gegen diese beiden Gesellschaften verhängten Geldbußen zum einen auf der Kappung durch die Anwendung der Obergrenze von 10 % ihres Umsatzes (Urteil Kendrion/Kommission, oben in Rn. 215 angeführt, EU:C:2013:771, Rn. 57 und 58) und zum anderen auf der Nedri nach der Kronzeugenregelung gewährten Ermäßigung beruht.
226 Vor der Anwendung dieser Obergrenze trug die gegen jede dieser beiden Gesellschaften zu verhängende Geldbuße nämlich ordnungsgemäß der jeweiligen Dauer ihrer Verantwortlichkeit und zu Recht unterschiedlichen Referenzjahren bezogen auf den für die Anwendung der Obergrenze von 10 % zugrunde zu legenden Umsatz Rechnung.
227 Die Kommission hat folglich den Grundsatz der Gleichbehandlung beachtet, da die zwischen der jeweiligen Situation der beiden Gesellschaften bestehenden Unterschiede ordnungsgemäß berücksichtigt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, oben in Rn. 176 angeführt, EU:C:2005:408, Rn. 321 bis 323).
228 Zum Vorwurf eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass abgesehen davon, dass die Kommission die jeweilige Dauer des Zeitraums der Zuwiderhandlung jeder der Gesellschaften berücksichtigt hat, um die Verhältnismäßigkeit der von ihr gegen diese Gesellschaften verhängten Sanktion sicherzustellen, sich ein solcher Verstoß nicht aus der bloßen Behauptung eines Unterschieds im Endbetrag der gegen die beiden Gesellschaften verhängten Geldbuße ergeben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2006, Hoek Loos/Kommission, T‑304/02, Slg, EU:T:2006:184, Rn. 85 und 86).
229 Daher sind der dritte und der vierte Teil des vierten Klagegrundes und somit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum fünften, hilfsweise vorgebrachten Klagegrund: Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer durch die Kommission
Vorbringen der Parteien
230 Hit Groep macht geltend, dass die Beachtung einer angemessenen Verfahrensdauer in den Verwaltungsverfahren im Wettbewerbsbereich einen allgemeinen Rechtsgrundsatz darstelle.
231 Zudem könne die Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer die Nichtigerklärung der abschließenden Entscheidung nach sich ziehen, und die Geldbuße könne, wenn die Nichtigerklärung ausgeschlossen sei, aus Gründen der Billigkeit oder zur Erreichung eines gerechten Ausgleichs herabgesetzt werden.
232 Hit Groep weist darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen sei, u. a. in Anbetracht des Kontexts, des Verhaltens der Parteien während des Verfahrens, der Komplexität der Sache und ihrer Bedeutung für die betroffenen Parteien. Beginn des Verfahrens sei der Zeitpunkt der ersten Untersuchungsmaßnahme der Kommission, die eine erhebliche Auswirkung auf die Situation der betroffenen Unternehmen habe. Zu berücksichtigen sei auch die durchschnittliche Verfahrensdauer in ähnlichen Rechtssachen.
233 Im vorliegenden Fall seien aber 94 Monate zwischen den Untersuchungen im September 2002 und dem Erlass des endgültigen Beschlusses im Juni 2010 vergangen. Hit Groep hält diese Verfahrensdauer für umso unangemessener, als die Sache auf Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung beruhe, die der Kommission den Beweis der Zuwiderhandlung ermöglicht hätten. Des Weiteren sei die Haltung von Hit Groep in keiner Weise Ursprung einer Verfahrensverzögerung. Die Kommission habe jedoch keine Herabsetzung der Geldbuße wegen der Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer gewährt. Hit Groep ersucht daher das Gericht, ihr eine solche Herabsetzung in dem Umfang zu gewähren, den es für angemessen hält.
234 Schließlich vertritt Hit Groep die Ansicht, dass es ihr nicht obliege, eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte nachzuweisen, da dieses Erfordernis nur für die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses gelte; sie habe jedoch lediglich eine Herabsetzung der Geldbuße wegen Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer beantragt.
235 Ebenso ist sie der Auffassung, dass ihr nicht die Geltendmachung besonderer Umstände obliege, die eine Herabsetzung des Betrags der Geldbuße – eventuell bis auf null – rechtfertigten, da die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer als solche einen Verstoß gegen Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darstelle. Es handle sich nicht um eine zusätzliche Herabsetzung im Verhältnis zu der von der Kommission gewährten. Daher obliege der Kommission der Nachweis, dass besondere Umstände vorlägen, die im vorliegenden Fall eine Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer rechtfertigen könnten.
236 Schließlich weist Hit Groep darauf hin, dass eine vergleichbare Dauer des Verwaltungsverfahrens in früheren Rechtssachen dazu geführt habe, dass die Kommission die Geldbuße von sich aus herabgesetzt habe.
237 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
Würdigung durch das Gericht
– Darlegung der Grundsätze
238 Erstens stellt die Beachtung einer angemessenen Verfahrensdauer bei der Durchführung von Verwaltungsverfahren im Bereich der Wettbewerbspolitik einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, dessen Wahrung die Gerichte der Union zu sichern haben (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, C‑452/11 P, EU:C:2012:829, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
239 Der Grundsatz der angemessenen Dauer eines Verwaltungsverfahrens wurde in Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte bestätigt, nach dem „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Angelegenheiten von den Organen und Einrichtungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“ (Urteil vom 5. Juni 2012, Imperial Chemical Industries/Kommission, T‑214/06, Slg, EU:T:2012:275, Rn. 284).
240 Zweitens beurteilt sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere nach dessen Kontext, dem Verhalten der Beteiligten im Laufe des Verfahrens, der Bedeutung der Angelegenheit für die verschiedenen betroffenen Unternehmen und der Komplexität der Sache (vgl. in diesem Sinne Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, oben in Rn. 131 angeführt, EU:T:1999:80, Rn. 126) sowie gegebenenfalls nach Informationen oder Rechtfertigungen, die die Kommission zu den im Verlauf des Verwaltungsverfahrens vorgenommenen Untersuchungsmaßnahmen beibringen kann.
241 Drittens hat der Gerichtshof entschieden, dass bei der Prüfung im Verwaltungsverfahren zwei aufeinanderfolgende Abschnitte unterschieden werden können, von denen jeder einer eigenen inneren Logik folgt. Der erste Abschnitt, der sich bis zur Mitteilung der Beschwerdepunkte erstreckt, beginnt dann, wenn die Kommission in Ausübung der ihr durch den Unionsgesetzgeber verliehenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf der Begehung einer Zuwiderhandlung verbunden sind; er soll es ihr ermöglichen, zum weiteren Verlauf des Verfahrens Stellung zu nehmen. Der zweite Abschnitt erstreckt sich von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung. Er soll es der Kommission ermöglichen, sich abschließend zu der gerügten Zuwiderhandlung zu äußern (Urteil vom 21. September 2006, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, C‑105/04 P, Slg, EU:C:2006:592, Rn. 38).
242 Viertens ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zwei Arten von Konsequenzen nach sich ziehen kann.
243 Zum einen kann eine Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer, wenn sie sich auf den Ausgang des Verfahrens ausgewirkt hat, zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2006, Technische Unie/Kommission, C‑113/04 P, Slg, EU:C:2006:593, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
244 Was die Anwendung der Wettbewerbsregeln angeht, kann die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer einen Grund für die Nichtigerklärung nur im Fall von Beschlüssen darstellen, mit denen die Zuwiderhandlungen festgestellt werden, und soweit erwiesen ist, dass der Verstoß gegen diesen Grundsatz die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen beeinträchtigt hat. Außerhalb dieser besonderen Fallgestaltung wirkt sich die Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 aus (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2003, Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, T‑5/00 und T‑6/00, Slg,EU:T:2003:342, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung, im Rechtsmittelverfahren insoweit bestätigt durch Urteil Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, oben in Rn. 241 angeführt, EU:C:2006:592, Rn. 42 und 43).
245 Da allerdings der Beachtung der Verteidigungsrechte als einem Grundsatz, dessen fundamentalen Charakter der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung mehrfach hervorgehoben hat (Urteil vom 9. November 1983, Nederlandsche Banden-Industrie-Michelin/Kommission, 322/81, Slg, EU:C:1983:313, Rn. 7), in Verfahren wie dem vorliegenden größte Bedeutung zukommt, muss verhindert werden, dass diese Rechte aufgrund der überlangen Dauer der Ermittlungsphase in nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt werden und dass diese Verfahrensdauer der Erbringung von Beweisen dafür entgegensteht, dass keine Verhaltensweisen vorlagen, die die Verantwortung der betroffenen Unternehmen auslösen können. Aus diesem Grund darf sich die Prüfung einer etwaigen Beeinträchtigung der Ausübung der Verteidigungsrechte nicht auf den Abschnitt beschränken, in dem diese Rechte ihre volle Wirkung entfalten, nämlich den zweiten Abschnitt des Verwaltungsverfahrens. Die Beurteilung der Quelle einer etwaigen Schwächung der Wirksamkeit der Verteidigungsrechte muss sich auf das gesamte Verwaltungsverfahren in seiner vollen Länge erstrecken (Urteil Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, oben in Rn. 241 angeführt, EU:C:2006:592, Rn. 50).
246 Zum anderen kann die Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer, wenn sie keine Auswirkung auf den Ausgang des Verfahrens gehabt hat, das Gericht im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung dazu veranlassen, den auf der Überschreitung der angemessenen Dauer des Verwaltungsverfahrens beruhenden Verstoß in angemessener Weise wiedergutzumachen und gegebenenfalls den Betrag der verhängten Geldbuße herabzusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil Technische Unie/Kommission, oben in Rn. 243 angeführt, EU:C:2006:593, Rn. 202 bis 204, und Urteil vom 16. Juni 2011, Heineken Nederland und Heineken/Kommission, T‑240/07, Slg, EU:T:2011:284, Rn. 429 und 434, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch Urteil Heineken Nederland und Heineken/Kommission, oben in Rn. 238 angeführt, EU:C:2012:829, Rn. 100).
– Würdigung im vorliegenden Fall
247 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass ein langes Verwaltungsverfahren nur dann zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses oder zu einer Herabsetzung der Geldbuße führen kann, wenn die Dauer dieses Verwaltungsverfahrens als übermäßig lang eingestuft wird.
248 Im vorliegenden Fall umfasste das Verwaltungsverfahren vier aufeinanderfolgende Abschnitte.
249 Der erste Abschnitt begann am 9. Januar 2002 mit der Übersendung der oben in Rn. 26 erwähnten Unterlagen durch das Bundeskartellamt an die Kommission und endete am 30. September 2008 mit dem Erlass der Mitteilung der Beschwerdepunkte.
250 Danach wurde der zweite Abschnitt eröffnet (siehe oben, Rn. 37 bis 42) und mit dem Erlass des ursprünglichen Beschlusses am 30. Juni 2010 abgeschlossen.
251 Nach Erhebung einer ersten Serie von Klagen (oben in Rn. 10 angeführt) erließ die Kommission am 30. September 2010 einen ersten Änderungsbeschluss (siehe oben, Rn. 4), um verschiedene Fehler zu berichtigen, die sie im ursprünglichen Beschluss festgestellt hatte, womit der dritte Abschnitt des Verwaltungsverfahrens abgeschlossen wurde.
252 Schließlich wurde am 4. April 2011 der vierte Abschnitt des Verwaltungsverfahrens mit dem Erlass des zweiten Änderungsbeschlusses durch die Kommission abgeschlossen, mit dem sie einer Herabsetzung der zum einen gegen ArcelorMittal, ArcelorMittal Verderio, ArcelorMittal Fontaine und ArcelorMittal Wire France und zum anderen gegen SLM und Ori Martin verhängten Geldbuße zustimmte (siehe oben, Rn. 6).
253 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich der von der Klägerin geltend gemachte Klagegrund lediglich auf die beiden ersten Abschnitte des Verwaltungsverfahrens bezieht.
254 Im Rahmen der in Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 vorgesehenen prozessleitenden Maßnahmen hat das Gericht der Kommission am 17. Dezember 2013 eine schriftliche Frage übermittelt, um eine detaillierte Beschreibung der von ihr im Anschluss an die Nachprüfungen vom 19. und 20. September 2002 bis zum Erlass des ursprünglichen Beschlusses getroffenen Maßnahmen zu erhalten.
255 Die Kommission ist dieser Aufforderung mit am 6. Februar 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichtem Schriftsatz nachgekommen.
256 Eine Abschrift der Antwort der Kommission ist der Klägerin am 7. Februar 2014 durch die Kanzlei des Gerichts übermittelt worden.
257 Die Kommission legt in ihrer Antwort in detaillierter und überzeugender Weise die von ihr im Verlauf des Verwaltungsverfahrens durchgeführten Maßnahmen und die Gründe dafür dar, dass das Verfahren von 2002 bis 2010 dauerte.
258 Im vorliegenden Fall erklären mehrere Faktoren die Dauer des Verwaltungsverfahrens.
259 Zu berücksichtigen sind hierbei die Dauer des Kartells (mehr als 18 Jahre), sein räumlich besonders ausgedehnter Umfang (das Kartell betraf die Mehrheit der Mitgliedstaaten), die Organisation des Kartells in räumlicher und zeitlicher Hinsicht (die unterschiedlichen, in den Rn. 46 bis 58 beschriebenen Clubs), die Zahl der Zusammenkünfte, die im Rahmen der verschiedenen Clubs abgehalten wurden (mehr als 500), die Zahl der beteiligten Unternehmen (17), die Zahl der Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung (siehe oben, Rn. 27 und 32 ff.) und die besonders hohe Zahl in unterschiedlichen Sprachen abgefasster Dokumente, die im Rahmen der Nachprüfungen zur Verfügung gestellt oder in deren Verlauf sichergestellt wurden und die von der Kommission zu prüfen waren, die verschiedenen ergänzenden Auskunftsverlangen, die die Kommission nach und nach mit zunehmendem Verständnis des Kartells an die verschiedenen betroffenen Gesellschaften richtete (siehe oben, Rn. 29 ff. und Rn. 42 ff.), die Zahl der Empfänger der Mitteilung der Beschwerdepunkte (mehr als 40), die Zahl der Verfahrenssprachen (acht) sowie die verschiedenen Anträge betreffend die Leistungsfähigkeit (14).
260 Auf der Grundlage der von der Kommission gelieferten Informationen, die von der besonderen Komplexität der Rechtssache zeugen, ist das Gericht der Ansicht, dass das Verfahren trotz der besonderen Länge der ersten beiden Verfahrensabschnitte nicht als übermäßig lang einzustufen ist. Folglich hat die Kommission den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer nicht verletzt, und der fünfte Klagegrund ist somit zurückzuweisen.
Zum sechsten, von Hit Groep im Rahmen ihrer Gegenerwiderung geltend gemachten Klagegrund: Die Kommission habe sich für die Berechnung der Geldbuße auf einen falschen Zeitraum gestützt
Vorbringen der Parteien
261 Hit Groep macht geltend, die Kommission habe erstmals im Rahmen ihrer Klagebeantwortung in umfassender und detaillierter Weise geschildert, wie sie die gegen sie verhängte Geldbuße berechnet habe.
262 Ihrer Ansicht nach ergibt sich diese Berechnungsmethode weder aus der Mitteilung der Beschwerdepunkte noch aus dem angefochtenen Beschluss.
263 Sie trägt vor, der Grundbetrag, auf den sich die Kommission zur Berechnung der gegen sie verhängten Geldbuße gestützt habe, sei 30584561 Euro. Aus der Fußnote in Rn. 25 der Klagebeantwortung ergebe sich, dass dieser Betrag die Warenumsatzwerte im Zeitraum vom 9. Januar 1996 bis zum 19. September 2002 darstelle.
264 Diese Fußnote lautet:
„Es handelt sich um die Warenumsatzwerte für den Zeitraum vom 9.1.1996 bis zum 19.9.2002. Für jeden der fünf Zeiträume des Kartells (1.1.1984 bis 31.12.1985; 1.1.1986 bis 14.12.1992; 15.12.1992 bis 31.12.1993; 1.1.94 bis 8.1.1996; 9.1.1996 bis 19.9.2002) hat die Kommission den Wert der Verkäufe bestimmt und ihn dann mit dem entsprechenden Faktor für die Dauer multipliziert. Der Klarheit halber gibt der Änderungsbeschluss diese Werte der Verkäufe in einer dem 935. Erwägungsgrund des Beschlusses beigefügten Tabelle wieder.“
265 Hit Groep fügt hinzu, dass dem 935. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses mit dem ersten Änderungsbeschluss eine Tabelle hinzugefügt worden sei, in der ihr Name allerdings nicht enthalten sei.
266 Sie macht geltend, dass diese Klarstellungen damit erstmals in der Klagebeantwortung aufgetaucht seien.
267 Sie weist darauf hin, dass sie für die von Nedri vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 begangene Zuwiderhandlung gesamtschuldnerisch in Haftung genommen werde, die Kommission sich aber für die Ermittlung des Werts der Verkäufe von Nedri auf den Zeitraum vom 9. Januar 1996 bis zum 19. September 2002 gestützt habe.
268 Gegen sie sei daher eine Geldbuße auf der Grundlage eines Zeitraums verhängt worden, der deutlich länger sei als derjenige, für den sie haftbar gemacht werde.
269 Bei der Berechnung der Geldbuße müsse aber die Zahl der Jahre, für die das Unternehmen haftbar gemacht werde, berücksichtigt werden.
270 Hit Groep fügt schließlich hinzu, obwohl aus dem fünften Erwägungsgrund des zweiten Änderungsbeschlusses hervorgehe, dass die Kommission die Muttergesellschaften lediglich „für den Teil der Geldbuße, der dem Zeitraum entspricht, während dem die Muttergesellschaft mit den fraglichen Tochtergesellschaften ein Unternehmen bildete“, gesamtschuldnerisch haftbar mache, sei die ihr auferlegte Geldbuße höher als die gegen Nedri verhängte.
271 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen.
Würdigung durch das Gericht
272 Mit Schriftsätzen vom 6. Mai und vom 26. Juli 2011 hat Hit Groep das Gericht darum ersucht, ihre Klagegründe vervollständigen zu können, nachdem sie von den Informationen zur Methode der Berechnung der Geldbuße Kenntnis erhalten habe, die erstmals in der Klagebeantwortung der Kommission enthalten gewesen seien.
273 Der Schriftsatz vom 6. Mai 2011 ist innerhalb der ihr für die Einreichung der Erwiderung eingeräumten Frist eingegangen, die am 17. Mai 2011 endete.
274 Die Kommission trägt vor, dass die fraglichen Informationen sowohl bereits in dem ursprünglichen Beschluss (Erwägungsgründe 927 ff.) als auch im ersten Änderungsbeschluss (Erwägungsgründe 930 und 932 sowie die Tabelle im Anhang) verfügbar gewesen seien und dass dieser Klagegrund neu und daher unzulässig sei.
275 Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass es in den Erwägungsgründen 930, 932 und 933 des angefochtenen Beschlusses wie folgt heißt:
„(930)
Angesichts der Feststellungen bezüglich der Dauer der Beteiligung an der Zuwiderhandlung (siehe Kapitel VI und VII) wird als letztes vollständiges Geschäftsjahr der Beteiligung an der Zuwiderhandlung für DWK das Jahr 2000 und für alle anderen Unternehmen, an die dieser Beschluss gerichtet ist, das Jahr 2001 angenommen.
…
(932) Der räumlich relevante Markt hat sich im Laufe der Zeit entwickelt. Von 1984 bis 1995 (Zeitraum des Züricher Clubs) bestand er aus Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Spanien und Österreich. 1992 kam Portugal hinzu (im Rahmen der Absprachen im Club España). Von 1996 bis 2002 (dem Zeitraum der Krise des Züricher Clubs, dem Zeitraum, in dem die Quotenvereinbarung des Club Europa vorbereitet wurde, dem Zeitraum des Club Europa und der Phase der Erweiterung des Club Europa) beinhaltete der räumlich relevante Markt dieselben Länder wie in der Phase des Züricher Clubs, einschließlich Portugals, sowie Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen (siehe Abschnitte 9.1.1 bis 9.1.5). Dies wird bei der Berechnung der Höhe der Umsätze berücksichtigt, indem die Umsätze in Portugal vor dem 15.12.1992 und die Umsätze in Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen vor dem 9.1.1996 ausgeklammert werden.
(933) Die Kommission weist ferner darauf hin, dass die Umsätze in Spanien, Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen nicht für den gesamten Zeitraum der Zuwiderhandlung berücksichtigt werden können, weil Spanien der Union erst am 1.1.1986 beigetreten ist und das EWR-Abkommen erst am 1.1.1994 in Kraft getreten ist. Daher werden die Umsätze in diesen Ländern vor dem 1.1.1986 bzw. vor dem 1.1.1994 bei der Berechnung der Umsätze nicht einbezogen. Dies wird in Abschnitt 19.1.6 berücksichtigt.“
276 Im Übrigen hat die Kommission in dem ersten Änderungsbeschluss Folgendes ausgeführt:
„(5)
Um die dem Beschluss zugrunde liegende Berechnung der Umsatzwerte für die in Abschnitt 19.1.2 genannten verschiedenen Zeiträume zu verdeutlichen, hätte das Ende von Randnummer 935 folgenden Wortlaut haben müssen:
…
—
9. Nedri (Antwort vom 30. Juni 2009):
—
01.01.1984 – 31.12.1985: 30157611 [Euro]
—
01.01.1986 – 14.12.1992: 30389997 [Euro]
—
15.12.1992 – 31.12.1993: 30389997 [Euro]
—
01.01.1994 – 08.01.1996: 30389997 [Euro]
—
09.01.1996 – 19.09.2002: 30584561 [Euro]“
277 Ferner geht aus Art. 3 Nr. 22 des ersten Änderungsbeschlusses hervor, dass dieser an Hit Groep gerichtet war.
278 Die Kommission macht somit zu Recht geltend, dass die fraglichen Informationen Hit Groep nicht erstmals in der Klagebeantwortung zur Kenntnis gebracht wurden.
279 Gewiss hätte Hit Groep eine Anpassung ihrer Anträge infolge des ersten Änderungsbeschlusses beantragen können, allerdings innerhalb der Klagefrist von zwei Monaten.
280 Ein Antrag auf Anpassung der Klageanträge ist nämlich nur dann zulässig, wenn er innerhalb der in Art. 263 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Klagefrist eingereicht wird (Urteile vom 16. Dezember 2011, Enviro Tech Europe und Enviro Tech International/Kommission, T‑291/04, Slg, EU:T:2011:760, Rn. 96, und vom 6. September 2013, Bank Melli Iran/Rat, T‑35/10 und T‑7/11, Slg, EU:T:2013:397, Rn. 55).
281 Im vorliegenden Fall war die Klagefrist gegen den ersten Änderungsbeschluss jedoch längst abgelaufen, als die Klägerin mit Schriftsatz vom 6. Mai 2011 ihren Antrag gestellt hat.
282 Folglich ist dieser Klagegrund unzulässig.
283 Ferner ist er jedenfalls unbegründet, da die Kommission fehlerfrei für die Berechnung der gegen Hit Groep verhängten Geldbuße davon ausgegangen ist, dass der Warenumsatz 30584561 Euro betrug, und sodann diesen Betrag mit einem Koeffizienten 4 multipliziert hat, um die Dauer der Hit Groep zurechenbaren Zuwiderhandlung zu berücksichtigen. Entgegen ihrem Vortrag wurde die Klägerin nicht für einen längeren Zeitraum mit einer Sanktion belegt als denjenigen, für den sie haftbar gemacht wurde (siehe oben, Rn. 217 und 226).
284 Dieser Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum siebten Klagegrund: Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer durch das Gericht
285 In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin vorgetragen, dass das Gericht den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zur Behandlung ihrer Klage verletzt habe und dass daraus die Konsequenzen für den Betrag der von ihr zu tragenden Geldbuße zu ziehen seien.
286 Es ist festzustellen, dass eine solche Rüge, wenn sie im Rahmen derselben Klage wie derjenigen vorgebracht wird, für deren Verfahren eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer vorgebracht wird, unzulässig ist.
287 Der über die Klage entscheidende Spruchkörper würde nämlich, wenn er diese Rüge untersuchen würde, dazu veranlasst, über die Pflichtwidrigkeit oder Rechtswidrigkeit seines eigenen Verhaltens zu befinden, was beim Kläger berechtigte Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit dieses Spruchkörpers wecken könnte (vgl. Urteil vom 16. September 2013, CEPSA/Kommission, T‑497/07, EU:T:2013:438, mit Rechtsmittel angefochten, Rn. 268 und die dort angeführte Rechtsprechung).
288 Folglich ist der Verstoß eines Unionsgerichts gegen seine Pflicht nach Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte, in den bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, mit einer Schadensersatzklage vor dem Gericht zu ahnden (Urteile Kendrion/Kommission, oben in Rn. 215 angeführt, EU:C:2013:771, Rn. 94, und vom 26. November 2013, Groupe Gascogne/Kommission, C‑58/12 P, Slg, EU:C:2013:770, Rn. 83).
289 Nach alledem ist der siebte Klagegrund zurückzuweisen.
290 Aus der Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen folgt, dass keiner der von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe Erfolg haben kann. Die Nichtigkeitsklage ist daher insgesamt abzuweisen, ohne dass unter den Umständen des vorliegenden Falles im Rahmen der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung die gegen die Klägerin verhängte Geldbuße abzuändern wäre.
Kosten
291 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die HIT Groep BV trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.
Frimodt Nielsen
Dehousse
Collins
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 18. Juni 2015.#Vadzim Ipatau gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtsmittel – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen die Republik Belarus – Zulässigkeit – Klagefrist – Prozesskostenhilfe – Aufschiebende Wirkung – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz – Verteidigungsrechte – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-535/14 P.
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62014CJ0535
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ECLI:EU:C:2015:407
| 2015-06-18T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0535
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
18. Juni 2015 (*1)
„Rechtsmittel — Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen gegen die Republik Belarus — Zulässigkeit — Klagefrist — Prozesskostenhilfe — Aufschiebende Wirkung — Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz — Verteidigungsrechte — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑535/14 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 24. November 2014,
Vadzim Ipatau, wohnhaft in Minsk (Belarus), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt M. Michalauskas,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
Rat der Europäischen Union, vertreten durch F. Naert und B. Driessen als Bevollmächtigte,
Beklagter im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter C. Vajda, A. Rosas (Berichterstatter), E. Juhász und D. Šváby,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt Herr Ipatau die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 23. September 2014, Ipatau/Rat (T‑646/11, EU:T:2014:800, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht seine Klage abgewiesen hat, die darauf gerichtet war,
—
den Beschluss 2011/666/GASP des Rates vom 10. Oktober 2011 zur Änderung des Beschlusses 2010/639/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 265, S. 17),
—
die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1000/2011 des Rates vom 10. Oktober 2011 zur Durchführung des Artikels 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 265, S. 8),
—
das Schreiben des Rates vom 14. November 2011, mit dem er den Antrag des Rechtsmittelführers ablehnte, seinen Namen aus dem Beschluss 2011/69/GASP des Rates vom 31. Januar 2011 zur Änderung des Beschlusses 2010/639/GASP des Rates über restriktive Maßnahmen gegen einzelne belarussische Amtsträger (ABl. L 28, S. 40) zu streichen (im Folgenden: Schreiben vom 14. November 2011),
—
die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 84/2011 des Rates vom 31. Januar 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Präsident Lukaschenko und verschiedene belarussische Amtsträger (ABl. L 28, S. 17),
—
den Beschluss 2012/642/GASP des Rates vom 15. Oktober 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 285, S. 1) sowie
—
die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1017/2012 des Rates vom 6. November 2012 zur Durchführung von Artikel 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 307, S. 7)
für nichtig zu erklären, soweit sie den Rechtsmittelführer betreffen.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Das Gericht stellt die Vorgeschichte des Rechtsstreits wie folgt dar:
„1
Der Kläger, Herr Vadzim Ipatau, ist belarussischer Staatsangehöriger und stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission (im Folgenden: ZWK).
2 Aus dem Gemeinsamen Standpunkt 2006/276/GASP des Rates vom 10. April 2006 über restriktive Maßnahmen gegen einzelne belarussische Amtsträger und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2004/661/GASP (ABl. L 101, S. 5) ergibt sich, dass infolge des Verschwindens von Persönlichkeiten in Belarus, von Fälschungen bei den Wahlen und bei einem Referendum sowie schwerer Menschenrechtsverletzungen beim Vorgehen gegen friedliche Demonstranten im Anschluss an die Wahlen und das Referendum entschieden wurde, restriktive Maßnahmen gegenüber verschiedenen Personen aus Belarus zu ergreifen, die die Einreise in oder die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Europäischen Union sowie das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen betreffen.
3 Die Durchführungsbestimmungen der Union wurden in der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 des Rates vom 18. Mai 2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 134, S. 1) festgelegt. Diese Bestimmungen waren mehreren aufeinanderfolgenden Änderungen unterworfen, und Art. 8a Abs. 1 dieser Verordnung in geänderter Fassung sieht vor, dass der Rat der Europäischen Union, wenn er beschließt, eine natürliche oder juristische Person, Organisation oder Einrichtung den in Art. 2 Abs. 1 genannten Maßnahmen zu unterwerfen, den Anhang mit der Liste, in der diese Person aufgeführt ist, entsprechend ändert.
4 Die im Gemeinsamen Standpunkt 2006/276 vorgesehenen restriktiven Maßnahmen wurden durch den Gemeinsamen Standpunkt 2009/314/GASP des Rates vom 6. April 2009 zur Änderung des Gemeinsamen Standpunkts 2006/276 und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2008/844/GASP (ABl. L 93, S. 21) bis zum 15. März 2010 verlängert. Die gegen bestimmte belarussische Amtsträger verhängten Aufenthaltsverbote wurden jedoch, mit Ausnahme der Aufenthaltsverbote für Amtsträger, die in das Verschwinden mehrerer Persönlichkeiten in den Jahren 1999 und 2000 verwickelt waren, und die Vorsitzende der ZWK, bis 15. Dezember 1999 ausgesetzt.
5 Am 15. Dezember 2009 nahm der Rat den Beschluss 2009/969/GASP zur Verlängerung der im Gemeinsamen Standpunkt 2006/276 festgelegten restriktiven Maßnahmen gegen einzelne belarussische Amtsträger und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunkts 2009/314 (ABl. L 332, S. 76) an. Er verlängerte sowohl die im Gemeinsamen Standpunkt 2006/276 vorgesehenen restriktiven Maßnahmen als auch die Aussetzung der Aufenthaltsverbote für bestimmte belarussische Amtsträger bis zum 31. Oktober 2010.
6 Nach einer Überprüfung des Gemeinsamen Standpunkts 2006/276 verlängerte der Rat durch den Beschluss 2010/639/GASP vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 280, S. 18) sowohl die im Gemeinsamen Standpunkt 2006/276 vorgesehenen restriktiven Maßnahmen als auch die Aussetzung der Aufenthaltsverbote für bestimmte belarussische Amtsträger bis zum 31. Oktober 2011.
7 Mit dem Beschluss 2011/69/GASP … beschloss er, in Anbetracht der Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 in Belarus und des gewaltsamen Vorgehens gegen die politische Opposition, die Zivilgesellschaft und die Vertreter von unabhängigen Massenmedien in Belarus, die Aussetzung der Aufenthaltsverbote zu beenden und weitere restriktive Maßnahmen zu treffen. Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2010/639 wurde wie folgt ergänzt:
‚d)
für die Verletzung internationaler Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 in Belarus und das harte Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich sind und den mit ihnen in Verbindung stehenden Personen (Anhang IIIA)‘.
8 Art. 2 des Beschlusses 2010/639 erhielt durch den Beschluss 2011/69 folgende Fassung:
‚Artikel 2
(1) Es werden sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen eingefroren, die sich im Besitz, im Eigentum, in der Verfügungsgewalt oder unter der Kontrolle folgender Personen, Organisationen oder Einrichtungen befinden:
…
b)
der für die Verletzung internationaler Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 in Belarus und das harte Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die in Anhang IIIA aufgeführt sind.
…‘
9 Der Name des Klägers wurde in Anhang V des Beschlusses 2011/69 aufgenommen, mit dem dem Beschluss 2010/639 der Anhang IIIA hinzugefügt wurde (Anhang IIIA, Verzeichnis der Personen nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe d und Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b). Der unter Nr. 10 aufgeführte Name des Klägers wird durch folgende Angabe ergänzt: ‚Stellvertretender Vorsitzender der [ZWK]‘.
10 Durch die Durchführungsverordnung Nr. 84/2011 erhielt Art. 2 der Verordnung Nr. 765/2006 folgende Fassung:
‚Artikel 2
(1) Es werden alle Finanzmittel und wirtschaftlichen Ressourcen eingefroren, die sich im Besitz, im Eigentum, in der Verfügungsgewalt oder unter der Kontrolle der in Anhang I bzw. Anhang IA aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen befinden.
(2) Es wird sichergestellt, dass weder Gelder noch wirtschaftliche Ressourcen den in Anhang I bzw. Anhang IA aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen direkt oder indirekt zur Verfügung gestellt werden oder ihnen zugutekommen.
…
(5) Anhang IA enthält eine Liste der natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen, die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses 2010/639 … in der geänderten Fassung genannt sind.‘
11 Durch Anhang II der Durchführungsverordnung Nr. 84/2011 (Anhang IA der Verordnung Nr. 765/2006, Liste der natürlichen und juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen nach Artikel 2 Absätze 1, 2 und 5) wurde der Name des Klägers mit der vorstehend in Rn. 9 genannten Angabe eingefügt.
12 Am 2. Februar 2011 wurde im Amtsblatt der Europäischen Union eine Mitteilung für die Personen veröffentlicht, auf die Maßnahmen nach dem Beschluss 2011/69 und der Durchführungsverordnung Nr. 84/2011 Anwendung finden (ABl. C 33, S. 17).
13 Mit Schreiben vom 2. September 2011 beantragte der Kläger beim Rat, eine Überprüfung der Aufnahme seines Namens in die betreffenden Listen durchzuführen.
14 Mit Schreiben vom 14. November 2011 lehnte der Rat diesen Antrag auf Überprüfung ab …, weil er die restriktiven Maßnahmen gegen den Kläger als gerechtfertigt ansah. Er fügte diesem Schreiben einen neuen Beschluss und eine neue Durchführungsverordnung bei.
15 Insoweit fügte der Rat den Beschluss [2011/666] bei, mit dem er die den Kläger betreffende Angabe, die vorstehend in Rn. 9 wiedergegeben wird, durch folgende Angabe ersetzte:
‚Stellvertretender Vorsitzender der [ZWK]. Als Mitglied der [ZWK] ist er für die Verletzung internationaler Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 mitverantwortlich.‘
16 Der Rat fügte ferner die Durchführungsverordnung [Nr. 1000/2011] bei, mit der die vorstehend in Rn. 9 wiedergegebene Angabe ebenfalls durch die im Beschluss 2011/666 enthaltene und vorstehend in Rn. 15 wiedergegebene Angabe ersetzt wurde.
17 Eine Mitteilung für die Personen, auf die restriktive Maßnahmen nach dem Beschluss 2010/639, geändert durch den Beschluss 2011/666, und nach der Verordnung Nr. 765/2006, durchgeführt durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 999/2011 des Rates über restriktive Maßnahmen gegen Belarus, Anwendung finden, wurde am 11. Oktober 2011 im [Amtsblatt der Europäischen Union] veröffentlicht (ABl. C 299, S. 4).
18 Mit dem Beschluss [2012/642] verlängerte der Rat die geltenden restriktiven Maßnahmen bis zum 31. Oktober 2013 und fasste die durch den Beschluss 2010/639 verhängten Maßnahmen in einem einzigen Rechtsinstrument zusammen. Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2012/642 lautet:
‚Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um folgenden im Anhang aufgeführten Personen die Einreise in oder die Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet zu verweigern:
a)
Personen, die für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen oder die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich sind oder deren Aktivitäten die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit in Belarus auf andere Weise ernsthaft untergraben, sowie allen mit ihnen in Verbindung stehenden Personen,
b)
Personen, die von dem Lukaschenko-Regime profitieren oder es unterstützen.‘
19 Art. 4 Abs. 1 des Beschlusses 2012/642 bestimmt:
‚Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum folgender im Anhang aufgeführter Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren:
a)
Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen oder die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich sind oder deren Aktivitäten die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit in Belarus auf andere Weise ernsthaft untergraben, oder mit ihnen in Verbindung stehende natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen sowie die in ihrem Eigentum stehenden und von ihnen kontrollierten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen,
b)
natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die von dem Lukaschenko-Regime profitieren oder es unterstützen, sowie die in ihrem Eigentum stehenden oder von ihnen kontrollierten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen.‘
20 In den Anhang des Beschlusses 2012/642 (Liste der Personen gemäß Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1) wurde der Name des Klägers unter Nr. 66 mit folgender Angabe aufgenommen:
‚Stellvertretender Vorsitzender der [ZWK]. Als Mitglied der [ZWK] war er für die Verletzung internationaler Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 verantwortlich.‘
21 Durch die Verordnung (EU) Nr. 1014/2012 vom 6. November 2012 (ABl. L 307, S. 1) änderte der Rat die Verordnung Nr. 765/2006. Art. 2 dieser Verordnung wurde durch folgenden Text ersetzt:
‚(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die Eigentum oder Besitz der in Anhang I aufgeführten natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen sind oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
(2) Den in Anhang I aufgeführten natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.
(3) Es ist verboten, sich wissentlich und vorsätzlich an Tätigkeiten zu beteiligen, mit denen unmittelbar oder mittelbar die Umgehung der in den Absätzen 1 und 2 genannten Maßnahmen bezweckt oder bewirkt wird.
(4) Anhang I enthält eine Liste der natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen, die vom Rat nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses [2012/642] … als Personen, Organisationen oder Einrichtungen ermittelt wurden, die für schwere Menschenrechtsverletzungen oder Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich sind oder deren Aktivitäten die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit in Belarus auf andere Weise ernsthaft untergraben, und der mit ihnen in Verbindung stehenden natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen sowie der in ihrem Eigentum stehenden oder von ihnen kontrollierten juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen.
(5) Anhang I enthält auch eine Liste der natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen, die vom Rat nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b des Beschlusses [2012/642] des Rates als natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen ermittelt wurden, die Nutznießer des Lukaschenko-Regimes sind oder es unterstützen, sowie der in ihrem Eigentum stehenden oder von ihnen kontrollierten juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen.‘
22 Im Übrigen wurden durch die Verordnung Nr. 1014/2012 die Bezugnahmen auf die ‚Anhänge I, IA und IB‘ und die Bezugnahmen auf ‚Anhang I bzw. IA‘ in der geänderten Verordnung Nr. 765/2006 durch Bezugnahmen auf ‚Anhang I‘ ersetzt.
23 Durch die Durchführungsverordnung [Nr. 1017/2012] ersetzte der Rat den Text der Anhänge I, IA und IB der Verordnung Nr. 765/2006 durch einen einzigen Anhang. Darin findet sich unter Nr. 66 der Name des Klägers, gefolgt von der vorstehend in Rn. 20 wiedergegebenen Angabe.
24 Am 7. November 2012 wurde eine Mitteilung für die Personen und Organisationen, auf die restriktive Maßnahmen nach dem Beschluss 2012/642, der Verordnung Nr. 1014/2012 und der Durchführungsverordnung Nr. 1017/2012 Anwendung finden, im [Amtsblatt der Europäischen Union] veröffentlicht (ABl. C 339, S. 9).“
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
3 Mit Schriftsatz, der am 11. Dezember 2011 bei der Kanzlei des Gerichts einging, stellte der Rechtsmittelführer im Hinblick auf die Erhebung einer auf die Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/69, des Beschlusses 2011/666, der Durchführungsverordnung Nr. 84/2011 und der Durchführungsverordnung Nr. 1000/2011, soweit diese Rechtsakte ihn betreffen, gerichteten Klage gegen den Rat einen Antrag auf Prozesskostenhilfe nach den Art. 94 und 95 der Verfahrensordnung des Gerichts.
4 Mit Beschluss des Präsidenten der Sechsten Kammer des Gerichts CD/Rat (T‑646/11 AJ, EU:T:2012:279) wurde dem Rechtsmittelführer Prozesskostenhilfe bewilligt.
5 Mit Klageschrift, die am 27. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob der Rechtsmittelführer Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/666, der Durchführungsverordnung Nr. 1000/2011 und des Schreibens vom 14. November 2011. Im Anschluss erweiterte er seine Klageanträge auf die Nichtigerklärung auch des Beschlusses 2012/642 und der Durchführungsverordnung Nr. 1017/2012.
6 Das Gericht hat zunächst in Bezug auf alle Rechtsakte, deren Nichtigerklärung beantragt wurde, die Einhaltung der Klagefristen geprüft. Nachdem es festgestellt hatte, dass die Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/666 und der Durchführungsverordnung Nr. 1000/2011 fristgerecht eingereicht worden war, hat es über die Zulässigkeit der gegen das Schreiben vom 14. November 2011 gerichteten Klage entschieden. Nach Prüfung des Antrags auf Prozesskostenhilfe hat es in Rn. 58 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Rechtsmittelführer das Schreiben vom 14. November 2011 in seinem Antrag auf Prozesskostenhilfe eindeutig als Rechtsakt genannt habe, der von der zu erhebenden Klage erfasst werden solle.
7 Die Frist für die Erhebung einer Klage gegen das Schreiben vom 14. November 2011 sei daher nicht nach Art. 96 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts durch die Einreichung des Antrags auf Prozesskostenhilfe gehemmt worden. Die am 27. Juni 2012, also mehr als sieben Monate nach der Übermittlung dieses Schreiben eingegangene Klage sei daher nach Ablauf der in Art. 263 AEUV und in Art. 102 §§ 1 und 2 der Verfahrensordnung vorgesehenen Fristen erhoben worden.
8 Herr Ipatau hatte zur Stützung seiner Klage fünf Klagegründe geltend gemacht, mit denen er erstens eine unzureichende Begründung und eine Verletzung der Verteidigungsrechte, zweitens den kollektiven Charakter der Haftung und der restriktiven Maßnahme, drittens ein „Fehlen rechtlicher Gesichtspunkte“, viertens einen Ermessensfehler und fünftens die Nichtbeachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit rügte. Das Gericht hat keinen dieser Klagegründe für begründet erachtet und daher die Klage abgewiesen.
Anträge der Parteien
9 Mit seinem Rechtsmittel beantragt Herr Ipatau,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben,
—
den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden oder die Sache an das Gericht zur Entscheidung zurückzuverweisen und
—
dem Rat die Kosten, einschließlich der vor dem Gericht entstandenen Kosten, aufzuerlegen.
10 Der Rat beantragt,
—
das Rechtsmittel zurückzuweisen und
—
dem Rechtsmittelführer die Kosten des Rates aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
Erster Rechtsmittelgrund: Verletzung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
Vorbringen der Parteien
11 Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund macht Herr Ipatau geltend, das Gericht habe, indem es die gegen das Schreiben vom 14. November 2011 gerichtete Klage für unzulässig erklärt habe, das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzt.
12 Herr Ipatau wendet sich gegen die Rn. 58 bis 60 des angefochtenen Urteils. Er trägt erstens vor, die Rechtsakte seien so auszulegen, dass ihrer praktischen Wirksamkeit Geltung verschafft werde, und infolgedessen sei der Antrag auf Prozesskostenhilfe vom 11. Dezember 2011 so auszulegen, dass er zwangsläufig auf die Nichtigerklärung des Schreibens vom 14. November 2011 abziele. Zweitens macht er geltend, er sei bei der Abfassung des Antrags auf Prozesskostenhilfe nicht von einem Rechtsbeistand unterstützt worden.
13 Der Rat ist der Ansicht, dass das Gericht keinen Rechtsfehler begangen habe, als es das genannte Schreiben vom Gegenstand des Antrags des Rechtsmittelführers auf Prozesskostenhilfe ausgeschlossen habe. Er trägt vor, dass Herr Ipatau selbst den Antrag auf Prozesskostenhilfe verfasst habe, könne an den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage nichts ändern. Er nimmt Bezug auf den Wortlaut des Antrags auf Prozesskostenhilfe und weist darauf hin, dass der Rechtsmittelführer als Direktor des nationalen Zentrums für Gesetzgebung und rechtliche Forschung der Republik Belarus eine gewisse Kenntnis der Rechtsvorschriften habe, wie sich daraus ergebe, dass die rechtlichen Argumente in diesem Antrag besonders ausgefeilt seien.
Würdigung durch den Gerichtshof
14 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass weder das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz noch der Anspruch auf rechtliches Gehör von der strengen Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften über die Verfahrensfristen berührt wird, die nach ständiger Rechtsprechung dem Erfordernis der Rechtssicherheit entsprechen und der Notwendigkeit, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Gewährung von Rechtsschutz zu vermeiden (vgl. Beschluss Page Protective Services/SEAE, C‑501/13 P, EU:C:2014:2259, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
15 Art. 96 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts sieht vor, dass abweichend von den Vorschriften über die Verfahrensfristen die Einreichung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe den Lauf der Klagefrist bis zu dem Zeitpunkt hemmt, zu dem der Beschluss zugestellt wird, mit dem über diesen Antrag entschieden wird, oder, wenn der Antragsteller nicht selbst einen Anwalt vorgeschlagen hat oder es untunlich ist, seinem Vorschlag zu folgen, der Beschluss, in dem der mit der Vertretung des Antragstellers beauftragte Anwalt bestimmt wird.
16 Bei der Prüfung der Zulässigkeit der gegen das Schreiben vom 14. November 2011 gerichteten Nichtigkeitsklage musste das Gericht den von Herrn Ipatau am 11. Dezember 2011 gestellten Antrag auf Prozesskostenhilfe auslegen, um zu prüfen, ob dieses Schreiben Gegenstand der beabsichtigten Klage war.
17 In Rn. 55 des angefochtenen Urteils hat das Gericht die Passage des Antrags auf Prozesskostenhilfe wiedergegeben, in der das Schreiben vom 14. November 2011 erwähnt wird. In Rn. 56 dieses Urteils hat es auch den Gegenstand des Antrags auf Prozesskostenhilfe wiedergegeben und dargelegt, dass er auf die Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/69, der Durchführungsverordnung Nr. 84/2011, des Beschlusses 2011/666 und der Durchführungsverordnung Nr. 1000/2011 abgezielt habe. In Rn. 57 des Urteils hat das Gericht eine Analyse der Erwähnung des Schreibens vom 14. November 2011 im Kontext des Antrags auf Prozesskostenhilfe und dieses Antrags vorgenommen. Insoweit hat es festgestellt, dass der Rechtsmittelführer das Schreiben nur in seinen Ausführungen zu den Klagegründen und wesentlichen Argumenten im Abschnitt „Gegenstand der Klage“ erwähnt habe, und zwar nur in der Mitte der Darlegung des ersten Klagegrundes, während es im Rahmen der anderen beiden Klagegründe nicht behandelt worden sei. Das Gericht hat auch hervorgehoben, dass die drei Klagegründe ganz explizit die genannten Beschlüsse und Durchführungsverordnungen beträfen, während dies bei dem Schreiben vom 14. November 2011 nicht der Fall sei.
18 In Anbetracht dieser Feststellungen hat das Gericht keinen Rechtsfehler begangen, als es in Rn. 58 des angefochtenen Urteils zu dem Ergebnis kam, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Rechtsmittelführer in seinem Antrag auf Prozesskostenhilfe das Schreiben vom 14. November 2011 als Rechtsakt genannt habe, der von der zu erhebenden Klage erfasst werden solle.
19 Zu dem Argument, der Antrag auf Prozesskostenhilfe vom 11. Dezember 2011 sei so auszulegen, dass er zwangsläufig auf die Nichtigerklärung des Schreibens vom 14. November 2011 abziele, ist darauf hinzuweisen, dass der Rat mit diesem Schreiben den Antrag auf Überprüfung der Aufnahme von Herrn Ipatau in die Listen der Personen abgelehnt hat, gegen die mit dem Beschluss 2011/69 und der Durchführungsverordnung Nr. 84/2011 restriktive Maßnahmen verhängt wurden. Dieses Schreiben enthielt auch den Beschluss 2011/666 und die Durchführungsverordnung Nr. 1000/2011.
20 Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wurde vom Rechtsmittelführer jedoch zum Zweck der Erhebung seiner Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/69, der Durchführungsverordnung Nr. 84/2011, des Beschlusses 2011/666 und der Durchführungsverordnung Nr. 1000/2011 gestellt. In Anbetracht dessen, dass der Antrag auf Prozesskostenhilfe klar, präzise und rechtlich fundiert abgefasst war, gab es keinen Gesichtspunkt, der dem Gericht die Annahme ermöglichte, dass dieser Antrag zwangsläufig zudem auf die Nichtigerklärung des Schreibens vom 14. November 2011 abzielen sollte.
21 Zu dem Argument, Herr Ipatau sei bei der Abfassung seines Antrags auf Prozesskostenhilfe nicht von einem Rechtsbeistand unterstützt worden, ist festzustellen, dass der von Herrn Ipatau verfasste Antrag auf Prozesskostenhilfe klar, genau und rechtlich fundiert war, was dessen Befähigung in juristischer Hinsicht belegt.
22 Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zweiter Rechtsmittelgrund: Verletzung der Verteidigungsrechte in Bezug auf den Beschluss 2012/642 und die Durchführungsverordnung Nr. 1017/2012
Vorbringen der Parteien
23 Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund macht Herr Ipatau geltend, das Gericht habe die Verteidigungsrechte verletzt, indem es entschieden habe, dass der Rat den Beschluss 2012/642 und die Durchführungsverordnung Nr. 1017/2012 habe erlassen dürfen, ohne ihn zuvor anzuhören. Er wendet sich dabei gegen die Rn. 80 und 81 des angefochtenen Urteils; diese lauten:
„80
Die Begründung hat sich in Bezug auf den Kläger im Jahr 2012 nicht wesentlich geändert, da er nach wie vor als stellvertretender Vorsitzender und Mitglied der ZWK für die Verletzung der Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 verantwortlich gemacht wurde.
81 Daher sind die insoweit vom Kläger geltend gemachten Rügen, ohne dass ihre Zulässigkeit geprüft zu werden braucht, unbegründet, da der Rat nicht verpflichtet war, dem Kläger die ihm zur Last gelegten Umstände mitzuteilen und ihm vor dem Erlass des Beschlusses 2012/642 und der Durchführungsverordnung Nr. 1017/2012 Gelegenheit zur Anhörung zu geben.“
24 Er macht geltend, die Tatsache, dass sich die Begründung der fraglichen Rechtsakte nicht geändert habe, könne den Rat nicht seiner Pflicht entheben, die Stellungnahme des Betroffenen einzuholen und ihm damit die Möglichkeit zu geben, die Angaben zu seiner Situation und die ihn betreffenden Informationen zu aktualisieren. Im achten Erwägungsgrund des Beschlusses 2012/642 heiße es, dass auch die Parlamentswahlen vom 23. September 2012„nicht den internationalen Standards entsprochen haben“, während die Gründe, aus denen er in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterworfenen Personen aufgenommen worden sei, mit der „Verletzung der Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010“ zusammenhingen.
25 Nach Ansicht des Rates ist dieser Rechtsmittelgrund unbegründet.
Würdigung durch den Gerichtshof
26 In den Rn. 75 und 76 des angefochtenen Urteils hat das Gericht rechtsfehlerfrei auf die Rechtsprechung hingewiesen, wonach der Rat, wenn er beschließt, den Namen einer Person oder Einrichtung auf einer Liste von Personen oder Einrichtungen, für die restriktive Maßnahmen gelten, zu belassen, das Recht der betreffenden Person oder Einrichtung auf vorherige Anhörung wahren muss, wenn er in dem Beschluss, ihren Namen auf der Liste zu belassen, ihr gegenüber neue Umstände anführt, d. h. solche, die im ursprünglichen Beschluss über ihre Aufnahme in diese Liste nicht enthalten waren (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran, C‑27/09 P, EU:C:2011:853, Rn. 62 und 63).
27 Wie das Gericht in Rn. 80 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt hat, haben sich die Gründe für die Belassung des Rechtsmittelführers auf der Liste der von den fraglichen restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen im Lauf des Jahres 2012 nicht wesentlich geändert. Aus der Gesamtheit der Rechtsakte, deren Nichtigerklärung der Rechtsmittelführer vor dem Gericht beantragt hat, ergibt sich nämlich, dass er stets als stellvertretender Vorsitzender und Mitglied der ZWK für die Verletzung der Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 verantwortlich gemacht wurde.
28 In jedem Fall hatte der Rechtsmittelführer – wie der Rat geltend gemacht hat – bereits gegenüber dem Rat Stellung genommen und wusste daher, dass er dauerhaft über dieses Recht verfügte, zumal bei den regelmäßigen Überprüfungen der gegen die Republik Belarus erlassenen restriktiven Maßnahmen im Hinblick auf deren mögliche Verlängerung.
29 Nach alledem ist der zweite Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
Dritter Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler hinsichtlich der Hinlänglichkeit der in den Rechtsakten, deren Nichtigerklärung begehrt wird, vorgesehenen Gründe
Vorbringen der Parteien
30 Mit seinem dritten Rechtsmittelgrund trägt Herr Ipatau vor, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es entschieden habe, dass der Rat keinen Ermessensfehler begangen habe, als er die Gründe für seine Aufnahme in die Liste der den restriktiven Maßnahmen unterworfenen Personen als stichhaltig eingestuft habe. Er wendet sich damit gegen die Rn. 143 und 144 des angefochtenen Urteils. Die Rn. 138 bis 140 und 142 bis 144 des angefochtenen Urteils lauten:
„138
Der Kläger bestreitet nicht, dass er der stellvertretende Vorsitzende der ZWK ist, sondern im Wesentlichen seine Rolle und seinen Einfluss sowie allgemeiner die Rolle und den Einfluss der ZWK bei der Durchführung der Präsidentschaftswahlen.
139 Der Kläger rügt hingegen die Aufnahme seines Namens in die Liste der von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen und begründet dies damit, dass der Rat aus dem fraglichen Bericht der [Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)] falsche Schlussfolgerungen gezogen habe.
140 Zwar hat sich der Rat offenbar auf den fraglichen Bericht der OSZE gestützt, doch wird den Schlussfolgerungen dieses Berichts, wie der Rat hervorhebt, von Einrichtungen wie denen des Europarats nicht widersprochen. Insoweit geht aus der Entschließung 1790(2011) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 27. Januar 2011 und der Resolution 17/24 des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen vom 15. Juni 2011 hervor, dass die Präsidentschaftswahlen vom Dezember 2010 in Belarus nicht ordnungsgemäß abgelaufen sind, da Wahlbewerber verhaftet wurden und es in dem auf die Wahlen folgenden Monat zu Repressionen kam. Dass die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) die Präsidentschaftswahlen von 2010 in Belarus für gültig erklärt hat, reicht nicht aus, um den Inhalt dieses Berichts insoweit in Abrede zu stellen.
…
142 Auch wenn die ZWK nicht allein für die Anwendung des Wahlrechts verantwortlich ist, bedeutet dies ferner nicht, dass sie keine Verantwortung für die Durchführung der Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 trägt. Wie sich aus dem fraglichen Bericht der OSZE ergibt und von den Parteien nicht bestritten wird, ist die ZWK die oberste für Wahlen zuständige Verwaltungsinstanz. Sie spielt insbesondere bei der Erstellung der Liste der Bewerber für die Präsidentschaftswahlen, bei der Aufsicht über nachgeordnete Stellen der Verwaltung, die für Wahlen zuständig sind, bei der Kontrolle der Durchführung der Wahlkampagne, bei der Bearbeitung von Beschwerden und Rechtsbehelfen gegen die von den verschiedenen nachgeordneten Wahlkommissionen sowie von den örtlichen Verwaltungen getroffenen Entscheidungen und bei den allgemeineren Rechtsbehelfen der verschiedenen Wahlbewerber eine wichtige Rolle.
143 Im fraglichen Bericht der OSZE werden jedoch die ,fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bei der Durchführung der Wahl, ungleiche Bedingungen und ein die Aktionsfreiheit der Medien einschränkendes Umfeld sowie ein anhaltender Mangel an Transparenz während der wichtigsten Phasen des Wahlprozesses‘ hervorgehoben. Aus diesem Bericht geht auch hervor, dass es offensichtlich keine hinreichende Aufsicht und Kontrolle über die Wahlen gab. Der ZWK habe es an Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Kollegialität gefehlt, und sie habe die offiziellen, die Wahl von Präsident Lukaschenko proklamierenden Ergebnisse bekannt gegeben, ohne in irgendeiner Form detaillierte Ergebnisse zu veröffentlichen.
144 Schließlich ist unstreitig, dass der Kläger als stellvertretender Vorsitzender der ZWK persönlich an deren Aktivitäten beteiligt war. Es hat nicht den Anschein, dass er sich zu irgendeinem Zeitpunkt von der Arbeit der ZWK distanzierte oder auch nur die geringsten Proteste, Vorbehalte oder Bedenken hinsichtlich der Arbeit dieser Kommission in Bezug auf die Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 äußerte, obwohl die ZWK den Ablauf dieser Wahlen in vollem Umfang guthieß.“
31 Der Rechtsmittelführer verweist auf das Urteil Kommission u. a./Kadi (C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 119 und 121), wonach es Sache des Rates sei, die Stichhaltigkeit der Gründe nachzuweisen, die der Entscheidung zugrunde lägen, eine Person in die Liste der von den Sanktionen betroffenen Personen aufzunehmen oder auf dieser Liste zu belassen, und auf das Urteil Tay Za/Rat (C‑376/10 P, EU:C:2012:138, Rn. 71), in dem der Gerichtshof beanstandet habe, dass eine Person allein aufgrund ihrer Verbindungen zu anderen Personen zum Gegenstand von Vermutungen gemacht oder in eine solche Liste aufgenommen werde. Er trägt vor, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es entschieden habe, dass die in den streitigen Rechtsakten angeführten Gründe ausreichten, um seine Verantwortung für die Verletzung internationaler Wahlstandards bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 zu belegen. Insoweit macht er erstens geltend, er habe keinen Grund gehabt, sich von der Arbeit der ZWK zu distanzieren.
32 Zweitens könne der ZWK nicht angelastet werden, zur Fälschung der Ergebnisse der Wahl vom 19. Dezember 2010 beigetragen zu haben, denn bei ihr sei nur eine Wahlanfechtung eingegangen, über die zudem das Oberste Gericht in letzter Instanz zu entscheiden habe und nicht die ZWK. Im Übrigen könne der ZWK nicht vorgeworfen werden, die von 90 % der Bewerber akzeptierten Ergebnissen einer Wahl für gültig erklärt zu haben.
33 Drittens seien die von der OSZE in ihrem Bericht angeführten und in Rn. 143 des angefochtenen Urteils dargestellten Beschwerdepunkte zurückzuweisen, da das Gericht die Entscheidungen der ZWK nicht habe prüfen können.
34 Der Rat weist auf die Rechtsprechung zur Begründung von Rechtsakten der Organe hin und macht geltend, dass das Gericht in den Rn. 97 bis 103 des angefochtenen Urteils bei seiner Prüfung des auf einen Verstoß gegen die Begründungspflicht gestützten Klagegrundes keinen Rechtsfehler begangen habe.
35 Der Rat prüft auch die Frage der Begründetheit der gegen Herrn Ipatau erlassenen Maßnahmen und die Beweise für die diesen Maßnahmen zugrunde liegenden Tatsachen. Er habe in seinen im ersten Rechtszug eingereichten Schriftsätzen eine Reihe von Handlungen der ZWK dargelegt, die die internationalen Wahlstandards verletzten, und die Rolle des Rechtsmittelführers in diesem Zusammenhang. Überdies habe zwar nur ein Bewerber die Wahlergebnisse angefochten, doch seien am Ende der Wahlen sieben weitere Bewerber vom belarussischen Sicherheitsdienst inhaftiert worden und hätten daher die Wahlergebnisse nicht anfechten können.
36 Der Rat hebt hervor, dass das belarussische Wahlsystem nur dank der loyalen Zusammenarbeit hoher nationaler Beamter wie des Rechtsmittelführers funktionieren könne. Als hoher Beamter des Regimes sei der Rechtsmittelführer in dem vom Gerichtshof im Urteil Tay Za/Rat (C‑376/10 P, EU:C:2012:138) zugrunde gelegten Sinne mit der belarussischen Regierung verbunden. Infolgedessen habe sich der Rat darauf beschränken können, in der Begründung der von ihm erlassenen Entscheidungen diese Verbindung zwischen dem Rechtsmittelführer und der Regierung darzulegen.
Würdigung durch den Gerichtshof
37 Bei der in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht handelt es sich um ein wesentliches Formerfordernis, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, EU:C:1998:154, Rn. 67). Die Begründung einer Entscheidung soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen sie beruht. Weisen die Gründe Fehler auf, so beeinträchtigen diese die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung, nicht aber deren Begründung, die, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält, zureichend sein kann (vgl. Urteil Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, C‑413/06 P, EU:C:2008:392, Rn. 181). Daraus folgt, dass die Rügen und Argumente, die die Begründetheit eines Rechtsakts in Frage stellen sollen, im Rahmen eines Rechtsmittelgrundes, mit dem eine fehlende oder unzureichende Begründung gerügt wird, unerheblich sind.
38 Wenngleich der Kläger angibt, seinen Rechtsmittelgrund auf „Rechtsfehler hinsichtlich der Hinlänglichkeit der in den streitigen Rechtsakten vorgesehenen Gründe“ zu stützen, ist festzustellen, dass er die Begründetheit der Rn. 143 und 144 des angefochtenen Urteils beanstandet, in denen das Gericht auf den Klagegrund des Ermessensfehlers eingegangen ist. In Anbetracht der genauen Bezeichnung der beanstandeten Punkte der Begründung im Einklang mit Art. 178 Abs. 3 der Verfahrensordnung ist der Rechtsmittelgrund gleichwohl zu prüfen.
39 Im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der Aufnahme von Herrn Ipatau in die Listen der Personen, die Gegenstand restriktiver Maßnahmen sind, sind als Erstes die allgemeinen Kriterien für die Aufnahme in die Listen zu prüfen, als Zweites die Begründung für die Aufnahme von Herrn Ipatau in eine solche Liste und als Drittes der Beweis für die Begründetheit seiner Aufnahme (Urteile Anbouba/Rat, C‑605/13 P, EU:C:2015:247, Rn. 40, und Anbouba/Rat, C‑630/13 P, EU:C:2015:248, Rn. 41).
40 Es ist daran zu erinnern, dass der Rat bei der Festlegung der für die Anwendung restriktiver Maßnahmen herangezogenen allgemeinen Kriterien über ein weites Ermessen verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteile Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung, Anbouba/Rat, C‑605/13 P, EU:C:2015:247, Rn. 41, und Anbouba/Rat, C‑630/13 P, EU:C:2015:248, Rn. 42).
41 Herr Ipatau rügt in diesem Zusammenhang keinen Rechtsfehler.
42 Hinsichtlich des Beweises für die Begründetheit der Aufnahme von Herrn Ipatau in die Listen ist darauf hinzuweisen, dass die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Effektivität der gerichtlichen Kontrolle es erfordert, dass sich der Unionsrichter, wenn er die Rechtmäßigkeit der Begründung prüft, die der Entscheidung zugrunde liegt, den Namen einer Person in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen aufzunehmen, vergewissert, dass diese Entscheidung, die eine individuelle Betroffenheit dieser Person begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt im vorliegenden Fall eine Überprüfung der Tatsachen voraus, die in der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Begründung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um diese Entscheidung zu stützen – erwiesen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 119, Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 73, Anbouba/Rat, C‑605/13 P, EU:C:2015:247, Rn. 45, und Anbouba/Rat, C‑630/13 P, EU:C:2015:248, Rn. 46).
43 Erstens bestreitet Herr Ipatau, dass die ZWK dazu beigetragen haben könne, die Ergebnisse der Wahl vom 19. Dezember 2010 zu verfälschen, da bei ihr nur eine Wahlanfechtung eingegangen sei. Dieses Argument kann jedoch die Tatsachenfeststellungen des Gerichts in den Rn. 142 und 143 des angefochtenen Urteils nicht in Frage stellen.
44 In diesen Randnummern hat das Gericht nämlich zum einen festgestellt, dass die ZWK in ihrer Stellung als oberste für Wahlen zuständige Verwaltungsinstanz andere Befugnisse als die Bearbeitung von Beschwerden habe, so etwa „bei der Erstellung der Liste der Bewerber für die Präsidentschaftswahlen, bei der Aufsicht über nachgeordnete Stellen der Verwaltung, die für Wahlen zuständig sind, bei der Kontrolle der Durchführung der Wahlkampagne [und] bei der Bearbeitung von Beschwerden und Rechtsbehelfen gegen die von den verschiedenen nachgeordneten Wahlkommissionen sowie von den örtlichen Verwaltungen getroffenen Entscheidungen … eine wichtige Rolle“ spiele. Zum anderen habe es „offensichtlich keine hinreichende Aufsicht und Kontrolle über die Wahlen“ gegeben, und der ZWK habe es „an Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Kollegialität gefehlt, und sie habe die offiziellen, die Wahl von Präsident Lukaschenko proklamierenden Ergebnisse bekannt gegeben, ohne in irgendeiner Form detaillierte Ergebnisse zu veröffentlichen“.
45 Zweitens bestreitet Herr Ipatau, einen Grund gehabt zu haben, sich von der Arbeit der ZWK zu distanzieren. Da er nicht angibt, welchen Rechtsfehler das Gericht in Bezug auf die Verantwortung der ZWK für die Verletzung der internationalen Wahlstandards im Rahmen der Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 begangen haben soll, kann dem Gericht nicht vorgeworfen werden, aus seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender der ZWK sowie daraus, dass er sich nicht von deren Arbeit distanzierte, auf seine persönliche Verantwortung für diese Verletzung der Wahlstandards geschlossen zu haben.
46 Diese vom Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels nicht zu überprüfenden Tatsachenfeststellungen haben es dem Gericht erlaubt, im Wesentlichen zu dem Schluss zu kommen, dass die ZWK eine Verantwortung für die Verletzung internationaler Wahlstandards im Rahmen der Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember 2010 trage und dass dies auch Herrn Ipatau als dem stellvertretenden Vorsitzenden dieses Organs persönlich angelastet werden könne. Entgegen dem Vorbringen von Herrn Ipatau hat das Gericht, was die allein aufgrund seiner Verbindungen zu anderen Personen erfolgte Aufnahme seines Namens in die Liste der Personen, die Gegenstand restriktiver Maßnahmen sind, anbelangt, ihm gegenüber keine Vermutung angestellt und daher nicht in Widerspruch zum Urteil Tay Za/Rat (C‑376/10 P, EU:C:2012:138) gehandelt.
47 Drittens wirft Herr Ipatau dem Gericht vor, die von der OSZE an die ZWK gerichteten, die Qualität ihrer Entscheidungen betreffenden Beschwerdepunkte übernommen zu haben, ohne diese Entscheidungen geprüft zu haben. Mit diesem Vorbringen wendet sich Herr Ipatau aber in Wirklichkeit gegen die Würdigung der Beweise durch das Gericht und den ihnen vom Gericht zugeschriebenen Stellenwert.
48 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsrichter in bestimmten Situationen Berichte internationaler Nichtregierungsorganisationen berücksichtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 90 und 91). Umso mehr kann er einen Bericht einer internationalen Organisation wie der OSZE berücksichtigen.
49 In Rn. 140 des angefochtenen Urteils hat das Gericht den Grad der Zuverlässigkeit des Berichts der OSZE geprüft, indem es die Schlussfolgerungen dieses Berichts mit denen von Organen wie dem Europarat verglichen hat.
50 In Anbetracht aller Tatsachenwürdigungen des Gerichts, die der Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels nicht zu überprüfen hat, hat es den Klagegrund eines Ermessensfehlers des Rates in Rn. 145 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei als unbegründet zurückgewiesen.
51 Dabei hat das Gericht die Grundsätze beachtet, die sich aus der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Gründe ergeben, auf denen Rechtsakte wie die streitigen beruhen.
52 Somit ist der dritte Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
Vierter Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Vorbringen der Parteien
53 Mit seinem vierten Rechtsmittelgrund macht Herr Ipatau geltend, dass das Gericht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe, indem es die im Lauf der Jahre 2011 und 2012 gegen ihn ergriffenen Maßnahmen für gültig erklärt habe, obwohl im Bericht der OSZE keine restriktive Maßnahme gegen Mitglieder der ZWK gefordert worden sei. Die allgemeinen Empfehlungen der OSZE hinsichtlich der ZWK beträfen nur die Zusammensetzung dieser Kommission und die Qualität der von ihr an die örtlichen Kommissionen gerichteten Weisungen. Die kollektive Sanktion für die Mitglieder der ZWK erscheine offensichtlich unverhältnismäßig und ineffizient, da sie die Mitglieder der ZWK daran hindere, die europäischen Erfahrungen und bewährten Praktiken kennenzulernen.
54 Außerdem sei es unerlässlich, dass die Akteure des Wahlsystems, insbesondere die Mitglieder der ZWK, verstärkt für internationale Wahlstandards sensibilisiert würden, um die Verbesserung des belarussischen Wahlsystems zu fördern, das nicht über alte Traditionen verfüge. Dazu könnten ihnen von den Mitgliedstaaten der Union Fortbildungen angeboten und bei den Wahlen in den Staaten der Union Beobachtungsbesuche organisiert werden. Das Verbot, sich im Unionsgebiet zu bewegen, laufe den Zielen des Berichts der OSZE offensichtlich zuwider.
55 Der Rat hebt zunächst hervor, dass der Bericht der OSZE nicht die einzige Grundlage für restriktive Maßnahmen gegen den Rechtsmittelführer darstelle. Er macht sodann geltend, dass es keinen Widerspruch zwischen dem Bericht der OSZE und den Politiken des Rates und der Union gebe. Im Gegenteil solle mit diesen Politiken, einschließlich derjenigen, die restriktive Maßnahmen umfassten, auf das belarussische Regime und diejenigen, die mit ihm in Verbindung stünden, Druck ausgeübt werden, damit die schweren Menschenrechtsverletzungen sowie die Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beendet und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, einschließlich internationaler Wahlstandards, in Belarus respektiert würden. Im Übrigen stünden die restriktiven Maßnahmen des Rates einer in Belarus stattfindenden Fortbildung der für die Durchführung der Wahlen zuständigen Personen im Bereich der internationalen Wahlstandards nicht entgegen. Zudem sehe Art. 3 Abs. 6 des Beschlusses 2012/642 Möglichkeiten für Ausnahmen vom Verbot, sich im Gebiet der Union zu bewegen, vor.
Würdigung durch den Gerichtshof
56 Nach Art. 169 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs müssen die im Rahmen eines Rechtsmittels geltend gemachten Rechtsgründe und ‑argumente die beanstandeten Punkte der Begründung der Entscheidung des Gerichts genau bezeichnen (vgl. Beschluss Thesing und Bloomberg Finance/EZB, C‑28/13 P, EU:C:2014:230, Rn. 25, und Urteil Klein/Kommission, C‑120/14 P, EU:C:2015:252, Rn. 85).
57 Ein Rechtsmittel, das sich darauf beschränkt, die bereits vor dem Gericht dargelegten Klagegründe und Argumente wiederzugeben, ohne den Rechtsfehler speziell zu bezeichnen, mit dem das Urteil, das Gegenstand des Rechtsmittels ist, behaftet sein soll, genügt daher nicht diesem Erfordernis. Ein solches Rechtsmittel zielt nämlich in Wirklichkeit nur auf eine erneute Prüfung der beim Gericht eingereichten Klage ab, was nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt (vgl. Urteil Klein/Kommission, C‑120/14 P, EU:C:2015:252, Rn. 86).
58 Herr Ipatau hat sich aber auf die Behauptung beschränkt, das Gericht habe zu Unrecht entschieden, dass die in Rede stehenden Maßnahmen des Rates nicht unverhältnismäßig gewesen seien, ohne die von ihm beanstandeten Punkte der Ausführungen zum fünften Klagegrund im angefochtenen Urteil genau zu bezeichnen, und damit den Anforderungen von Art. 169 Abs. 2 der Verfahrensordnung nicht genügt. Außerdem richten sich die im Rahmen des vierten Rechtsmittelgrundes vorgebrachten Argumente nicht gegen das angefochtene Urteil, sondern gegen die genannten Maßnahmen des Rates und wiederholen im Wesentlichen die bereits vor dem Gericht vorgebrachten Argumente.
59 Da der vierte Rechtsmittelgrund somit in Wirklichkeit nur auf eine erneute Prüfung der von Herrn Ipatau eingereichten Klage abzielt, ist er als unzulässig zurückzuweisen.
60 Da die vier Rechtsmittelgründe von Herrn Ipatau zurückgewiesen worden sind, ist das Rechtsmittel zurückzuweisen.
Kosten
61 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist.
62 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach ihrem Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
63 Da der Rat die Verurteilung von Herrn Ipatau beantragt hat und dieser mit seinem Vorbringen unterlegen ist, hat er neben seinen eigenen Kosten die Kosten des Rates zu tragen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Herr Vadzim Ipatau trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten des Rates der Europäischen Union.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 21. Januar 2015. # Miriam Schwerdt gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM). # Gemeinschaftsmarke - Widerspruchsverfahren - Anmeldung der Gemeinschaftsbildmarke cat & clean - Ältere spanische Wortmarke CLEAN CAT - Relatives Eintragungshindernis - Verwechslungsgefahr - Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 - Behinderung des freien Warenverkehrs - Art. 34 AEUV - Art. 16 der Charta der Grundrechte. # Rechtssache T-587/13.
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62013TJ0587
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ECLI:EU:T:2015:37
| 2015-01-21T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0587 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 9. Dezember 2014.#Sport-pari ZAO gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren von Geldern – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Anhörungsrecht – Beurteilungsfehler.#Rechtssache T‑439/11.
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62011TJ0439
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ECLI:EU:T:2014:1043
| 2014-12-09T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62011TJ0439 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 10. Juli 2014. # Moallem Insurance Co. gegen Rat der Europäischen Union. # Rechtssache T-182/13.
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62013TJ0182
|
ECLI:EU:T:2014:624
| 2014-07-10T00:00:00 |
Gericht
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 8. April 2014.#ABN Amro Group NV gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Finanzsektor – Beihilfe zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats – Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV – Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Voraussetzungen für die Genehmigung der Beihilfe – Verbot des Erwerbs von Beteiligungen – Vereinbarkeit mit den Mitteilungen der Kommission betreffend die Beihilfen für den Finanzsektor im Kontext der Finanzkrise – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Begründungspflicht – Eigentumsrecht.#Rechtssache T‑319/11.
|
62011TJ0319
|
ECLI:EU:T:2014:186
| 2014-04-08T00:00:00 |
Gericht
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62011TJ0319
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
8. April 2014 (*1)
„Staatliche Beihilfen — Finanzsektor — Beihilfe zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats — Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV — Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird — Voraussetzungen für die Genehmigung der Beihilfe — Verbot des Erwerbs von Beteiligungen — Vereinbarkeit mit den Mitteilungen der Kommission betreffend die Beihilfen für den Finanzsektor im Kontext der Finanzkrise — Verhältnismäßigkeit — Gleichbehandlung — Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung — Begründungspflicht — Eigentumsrecht“
In der Rechtssache T‑319/11
ABN Amro Group NV mit Sitz in Amsterdam (Niederlande), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. Knibbeler und P. van den Berg,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch L. Flynn und S. Noë als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen teilweiser Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/823/EU der Kommission vom 5. April 2011 über die Maßnahmen C 11/09 (ex NN 53b/08, NN 2/10 und N 19/10), die die Niederlande zugunsten der ABN AMRO Group NV (durch den Zusammenschluss von Fortis Bank Nederland mit ABN AMRO N entstanden) durchgeführt haben (ABl. L 333, S. 1),
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten O. Czúcz (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Labucka und des Richters D. Gratsias,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2013
folgendes
Urteil
Sachverhalt
1 Am 5. April 2011 erließ die Europäische Kommission den Beschluss 2011/823/EU über die Maßnahmen C 11/09 (ex NN 53b/08, NN 2/10 und N 19/10), die die Niederlande zugunsten der ABN AMRO Group NV (durch den Zusammenschluss von Fortis Bank Nederland mit ABN AMRO N entstanden) durchgeführt haben (ABl. L 333, S. 1, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
2 Im Kontext der Finanzkrise gab die Kommission angesichts der Kreditklemme auf dem Interbankenmarkt im September 2008 in einer Reihe von Mitteilungen Orientierungshilfen dazu, wie staatliche Beihilfen für Finanzinstitute zu gestalten und durchzuführen sind. In diesen Mitteilungen erkannte die Kommission an, dass die Schwere der Krise die Gewährung von Beihilfen gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV rechtfertigte, da diese Vorschrift staatliche Beihilfen für zulässig erklärt, wenn sie zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats notwendig sind.
3 Am 25. Oktober 2008 wurde die Mitteilung der Kommission – Die Anwendung der Vorschriften für staatliche Beihilfen auf Maßnahmen zur Stützung von Finanzinstituten im Kontext der derzeitigen globalen Finanzkrise (ABl. C 270, S. 8) veröffentlicht.
4 Nachdem sich eine wachsende Zahl von Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Herbst 2008 aufgrund der Marktentwicklungen veranlasst sahen, „präventive“ Rekapitalisierungsmaßnahmen zugunsten der Banken zu ergreifen, um es ihnen zu ermöglichen, ihre Eigenkapitalquoten zu erhöhen und die Kreditvergabe an die Realwirtschaft sicherzustellen, wurde die Mitteilung der Kommission – Die Rekapitalisierung von Finanzinstituten in der derzeitigen Finanzkrise: Beschränkung der Hilfen auf das erforderliche Minimum und Vorkehrungen gegen unverhältnismäßige Wettbewerbsverzerrungen (ABl. 2009, C 10, S. 2, im Folgenden: Rekapitalisierungsmitteilung) veröffentlicht.
5 Ferner ergingen in der Zeit vor Erlass des angefochtenen Beschlusses die Mitteilung der Kommission über die Behandlung wertgeminderter Aktiva im Bankensektor der Gemeinschaft (ABl. 2009, C 72, S. 1) und die Mitteilung der Kommission über die Wiederherstellung der Rentabilität und die Bewertung von Umstrukturierungsmaßnahmen im Finanzsektor im Rahmen der derzeitigen Krise gemäß den Beihilfevorschriften (ABl. 2009, C 195, S. 9, im Folgenden: Umstrukturierungsmitteilung). Diese letztere Mitteilung enthält die Kriterien, die die Kommission auf die Beihilfemaßnahmen zur Umstrukturierung von Banken im Rahmen der Krise anzuwenden gedachte. In Rn. 5 heißt es, dass die Pläne zur Umstrukturierung der fraglichen Banken auf den drei in den anderen Mitteilungen genannten Pfeilern beruhen müssten: Sicherstellung der langfristigen Rentabilität des Begünstigten ohne staatliche Unterstützung, Garantie einer angemessenen Lastenverteilung und Nachweis des Erlasses geeigneter Maßnahmen zur Begrenzung von Wettbewerbsverzerrungen.
6 Die in den Rn. 3 bis 5 genannten Mitteilungen werden im vorliegenden Urteil zusammen als „die Mitteilungen“ bezeichnet.
7 Die ABN Amro Group NV (im Folgenden: Klägerin oder ABN Amro) ist ein Finanzinstitut mit Sitz in Amsterdam (Niederlande), das Privatpersonen, Unternehmen und institutionellen Kunden in 28 Ländern Bankdienstleistungen erbringt. Die Klägerin hält 100 % der Anteile der ABN Amro Bank NV, die in zwei Geschäftsbereiche aufgeteilt ist: Privatkundengeschäft und Vermögensverwaltung sowie Commercial & Merchant Banking.
8 Die derzeitige Struktur von ABN Amro geht auf eine 2007 getroffene Vereinbarung zwischen den Unternehmen Fortis SA/NV, Royal Bank of Scotland und Banco de Santander über den Erwerb und die Aufspaltung der früheren Muttergesellschaft ABN Amro Holding zurück. Im Kontext der Finanzkrise und angesichts der Ungewissheit bezüglich der dauerhaften Rentabilität von Fortis erwarb der niederländische Staat im Herbst 2008 Fortis Bank Nederland (FBN), die niederländische Tochtergesellschaft von Fortis, sowie Geschäftseinheiten von ABN Amro Holding (darunter ABN Amro N). Der niederländische Staat beschloss, FBN und ABN Amro N zusammenzulegen, um gemäß dem 2007 von Fortis gefassten Plan eine neue juristische Person, ABN Amro, zu gründen. Vor Durchführung dieses Zusammenschlusses musste der niederländische Staat die Veräußerung eines Teils der Hollandsche Bank-Unie und der IFN Finance BV sicherstellen, und zwar aufgrund der Entscheidung der Kommission vom 3. Oktober 2007 zur Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt (Sache COMP/M.4844 – FORTIS/ABN AMRO assets) gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates (ABl. C 265, S. 2) (Erwägungsgründe 44 und 45 des angefochtenen Beschlusses).
9 Die in der vorigen Randnummer genannten Erwerbungen und die Kapitalaufstockungsmaßnahmen des niederländischen Staates zugunsten der Klägerin liegen dem Prüfverfahren C 11/2009 zugrunde. Hinsichtlich der verschiedenen Etappen, die zu diesem Verfahren geführt haben, seines Verlaufs und der Empfänger der Beihilfe, die für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits nicht entscheidend sind, wird auf die detaillierte Beschreibung in den Erwägungsgründen 1 bis 157 des angefochtenen Beschlusses verwiesen. Dort werden außer den Zwischenentscheidungen und den vorläufigen Entscheidungen der Kommission über die genannten Erwerbungen und Transaktionen die der Kommission vom niederländischen Staat am 4. Dezember 2009 vorgelegte erste Fassung eines Umstrukturierungsplans für die Klägerin (im Folgenden: Umstrukturierungsplan von Dezember 2009) und die am 8. November 2010 eingereichte aktualisierte Fassung dieses Planes (im Folgenden Umstrukturierungsplan von November 2010) beschrieben.
10 Im Rahmen des Prüfverfahrens kam es in den Jahren 2010 und 2011 wiederholt zu einem Meinungsaustausch sowie zu Treffen zwischen dem niederländischen Staat, der Klägerin und der Kommission betreffend die Reichweite und die Dauer eines Verbots des Erwerbs von Beteiligungen, bei dem es sich um eine Verhaltensmaßregel handelt, die die Kommission als notwendig ansah, um die der Klägerin gewährte Beihilfe als mit dem Binnenmarkt vereinbar ansehen zu können.
11 Da es der Kommission nicht gelang, eine Zustimmung insbesondere zu den Modalitäten eines solchen Verbots zu erhalten, erließ sie den angefochtenen Beschluss in Form einer mit Bedingungen und Auflagen verbundenen Entscheidung gemäß Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. [108 AEUV] (ABl. L 83, S. 1). Sie führte dort aus, dass die Klägerin eine staatliche Beihilfe in Form von Rekapitalisierungsbeihilfen in einer Größenordnung zwischen 4,2 Mrd. EUR und 5,45 Mrd. EUR (dieser Betrag entspreche einem Anteil von 2,75 % bis 3,5 % der risikogewichteten Aktiva) und einer Liquiditätsbeihilfe von 71,7 Mrd. EUR erhalten habe (Erwägungsgründe 279 und 280 sowie Art. 1 des angefochtenen Beschlusses). Sie wies darauf hin, dass der Umstrukturierungsplan von Dezember 2009 und der aktualisierte Umstrukturierungsplan von November 2010 hinreichend belegten, dass die Rentabilität von ABN Amro langfristig wiederhergestellt sei, eine Lastenverteilung in ausreichendem Umfang vorgesehen sei und angemessene Maßnahmen zur Begrenzung unverhältnismäßiger Wettbewerbsverzerrungen getroffen worden seien. Daher erklärte die Kommission mit Vorbehalt, dass der Umstrukturierungsplan von Dezember 2009 und der aktualisierte Umstrukturierungsplan von November 2010 mit der Umstrukturierungsmitteilung in Einklang stünden (331. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
12 Die Bedingungen, unter denen die Beihilfe in Art. 1 des angefochtenen Beschlusses als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen wird, sind in den Art. 3 bis 9 des Beschlusses aufgeführt.
13 Das in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses – der einzigen Bestimmung, deren Gültigkeit im vorliegenden Verfahren streitig ist – ausgesprochene Verbot, Beteiligungen zu erwerben, lautet wie folgt:
„1. [ABN Amro] erwirbt keine Beteiligungen an Unternehmen, die einen Anteil von 5 % übersteigen.
2. In Abweichung von Absatz 1 kann [ABN Amro] Beteiligungen erwerben, wenn der von [ABN Amro] für die Gesamtheit der Übernahmen während eines Zeitraums von drei Jahren ab dem Datum [des angefochtenen] Beschlusses gezahlte kumulative Gesamtpreis brutto (ohne Übernahme oder Übertragung von Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit diesen Beteiligungen) weniger als [vertraulich] (1 ) Mio. EUR beträgt.
Das in Absatz 1 verfügte Verbot gilt nicht für Private-Equity-Investitionen von [ABN Amro], sofern diese bereits im Geschäftsplan und im geplanten Budget ihres Geschäftsbereichs ‚Private Equity‘ enthalten waren, die der Kommission am 5. Oktober 2010 vorgelegt wurden.
Das in Absatz 1 verfügte Verbot gilt nicht für die [vertraulich] Kapitalbeteiligungen, die der Geschäftsbereich ‚Energie, Rohstoffe und Verkehr‘ von [ABN Amro] im Rahmen seines gewöhnlichen Finanzierungsgeschäfts erworben hat, sofern diese bereits im Geschäftsplan [von ABN Amro] und im geplanten Budget dieses Geschäftsbereichs enthalten waren, die der Kommission am 10. Januar 2010 vorgelegt wurden.
…
3. Das in Absatz 1 verfügte Verbot gilt für mindestens drei Jahre ab dem Datum [des angefochtenen] Beschlusses bzw. bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Beteiligung des niederländischen Staates an [ABN Amro] unter 50 % zurückgeht, je nachdem, welcher Zeitpunkt später eintritt. Das Verbot erlischt spätestens fünf Jahre nach dem Datum [des angefochtenen] Beschlusses.
Für den Fall, dass das in Absatz 1 verfügte Verbot länger als drei Jahre ab dem Datum [des angefochtenen] Beschlusses gilt, erhöht sich der gemäß Absatz 2 Unterabsatz 1 geltende kumulative Bruttogesamtpreis um [vertraulich] Mio. EUR pro Jahr.“
Verfahren und Anträge
14 ABN Amro hat mit Klageschrift vom 14. Juni 2011 die vorliegende Klage erhoben.
15 Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und den Beteiligten im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gemäß Art. 64 der Verfahrensordnung schriftliche Fragen gestellt, die sie fristgemäß beantwortet haben.
16 Die Parteien haben in der Sitzung vom 4. Juni 2013 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
17 Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung aufgefordert, ihren Antrag auf vertrauliche Behandlung bestimmter in den Akten enthaltener Angaben gegenüber der Öffentlichkeit zu präzisieren, was diese fristgemäß getan hat. Es hat die Kommission aufgefordert, zu diesem Antrag Stellung zu nehmen, was diese ebenfalls fristgemäß getan hat.
18 Die mündliche Verhandlung ist am 16. Juli 2013 geschlossen worden.
19 Die Klägerin beantragt,
—
Art. 5 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
20 Die Kommission beantragt,
—
die Klage teilweise als unzulässig und jedenfalls als unbegründet abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
21 Die Klägerin stützt ihre Klage auf zwei Gründe. Erstens beanstandet sie den Umfang des ihr auferlegten Beteiligungsverbots. Zweitens wendet sie sich gegen die Dauer dieses Verbots.
Zum ersten Klagegrund betreffend den Umfang des Beteiligungsverbots
22 Die Klägerin trägt vor, die ihr gewährte Beihilfe bewirke keine Wettbewerbsverzerrung, da sie nicht wegen einer übermäßigen Risikobereitschaft notwendig geworden sei. Deshalb sei der Umfang des ihr auferlegten Verbots, durch das ihr Beteiligungen an Unternehmen, die einen Anteil von 5 % überstiegen, untersagt würden und nur eng gefasste Ausnahmen vorgesehen seien, viel zu weit und stehe im Widerspruch zu den insbesondere in der Umstrukturierungsmitteilung genannten Erfordernissen. Im Übrigen sei das Beteiligungsverbot weiter gefasst als in anderen in derselben Zeit erlassenen Entscheidungen über staatliche Beihilfen für den Finanzsektor. Zudem habe die Kommission durch die besonderen Umstände des vorliegenden Falles gerechtfertigte alternative Formulierungen dieses Verbots, die der niederländische Staat und die Klägerin im Prüfverfahren vorgeschlagen hätten, nicht rechtlich hinreichend berücksichtigt.
23 Diese Beanstandungen gliedern sich in vier Teile: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und unrichtige Anwendung der Mitteilungen, Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung sowie Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV.
Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und unrichtige Anwendung der Mitteilungen
24 Dieser Teil gliedert sich in zwei Rügen, mit denen zum einen ein Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und zum anderen die unrichtige Anwendung der Mitteilungen geltend gemacht wird. Zu beginnen ist mit der Prüfung der zweiten Rüge.
– Zur zweiten Rüge: unrichtige Anwendung der Mitteilungen
25 Vorab ist der Rahmen der Untersuchung dieser Rüge zu klären.
26 Erstens gehört das Verbot, Beteiligungen zu erwerben, zu den Bedingungen, die die Kommission in den Art. 3 bis 9 des angefochtenen Beschlusses aufgestellt hat, um die ABN Amro vom niederländischen Staat gewährte Beihilfe für mit Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 vereinbar erklären zu können, der es der Kommission gestattet, das förmliche Prüfverfahren durch eine Positiventscheidung abzuschließen, die mit Bedingungen und Auflagen versehen ist, die es ihr ermöglichen, die fragliche Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären. Die streitige Bedingung fügt sich somit in die von der Kommission vorgenommene Prüfung der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme anhand des Art. 107 Abs. 3 AEUV ein.
27 Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass sie bei der Anwendung des Art. 107 Abs. 3 AEUV über ein weites Ermessen verfügt, das sie nach Maßgabe komplexer wirtschaftlicher und sozialer Wertungen ausübt, die auf die Union als Ganzes zu beziehen sind (Urteile des Gerichts vom 6. April 2006, Schmitz-Gotha Fahrzeugwerke/Kommission, T-17/03, Slg. 2006, II-1139, Rn. 41, und vom 12. Mai 2011, Région Nord-Pas-de-Calais und Communauté d’agglomération du Douaisis/Kommission, T-267/08 und T-279/08, Slg. 2011, II-1999, Rn. 129 und 132).
28 Sie kann sich zur Ausübung dieses Ermessens durch Rechtsakte wie die Mitteilungen Orientierungsregeln geben, soweit diese nicht von den Bestimmungen des Vertrags abweichen (vgl. Urteil Région Nord-Pas-de-Calais und Communauté d’agglomération du Douaisis/Kommission, oben in Rn. 27 angeführt, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Die Kommission hat, wie die Klägerin bemerkt, dadurch, dass sie Verhaltensnormen erlassen und durch ihre Veröffentlichung angekündigt hat, dass sie diese von nun an auf die von ihnen erfassten Fälle anwenden werde, die Ausübung ihres Ermessens beschränkt und kann nicht von diesen Normen abweichen, ohne dass dies wegen eines Verstoßes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die der Gleichbehandlung oder des Vertrauensschutzes geahndet würde (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 11. September 2008, Deutschland u. a./Kronofrance, C-75/05 P und C-80/05 P, Slg. 2008, I-6619, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). So ist die Kommission speziell für den Bereich der staatlichen Beihilfen durch die von ihr erlassenen Rahmen und Mitteilungen gebunden, soweit sie nicht von den Vorschriften des Vertrags abweichen und soweit sie von den Mitgliedstaaten akzeptiert werden (vgl. Urteil Deutschland u. a./Kronofrance, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist somit Sache des Gerichts, zu prüfen, ob die Kommission die Regeln beachtet hat, die sie sich selbst gegeben hat (vgl. Urteil Région Nord-Pas-de-Calais und Communauté d’agglomération du Douaisis/Kommission, oben in Rn. 27 angeführt, Rn. 131 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Zweitens geht es bei der vorliegenden Rüge nicht um die Kontrolle der Prüfung der Vereinbarkeit der Beihilfe, sondern um die Frage, ob die Kommission die Mitteilungen beachtet hat, an die sie nach den in Rn. 29 genannten Urteilen gebunden ist, als sie die Bejahung der Vereinbarkeit an die Bedingung des Verbots geknüpft hat, Beteiligungen der in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses bezeichneten Art zu erwerben.
31 In den Mitteilungen, deren Rechtmäßigkeit und Anwendbarkeit die Klägerin nicht bestreitet, wird auf das Ermessen hingewiesen, über das die Kommission hinsichtlich der Bedingungen verfügt, die vorliegen müssen, damit sie eine Beihilfemaßnahme, die eine beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats behebt, für mit Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV vereinbar erklären kann, insbesondere wenn diese in strukturellen Maßnahmen oder Verhaltensmaßregeln besteht. Dieses Ermessen, das Ausdruck des Spielraums ist, über den die Kommission bei der Beurteilung der Vereinbarkeit einer Beihilfemaßnahme verfügt, muss bei der Untersuchung der auf einen Verstoß gegen die Mitteilungen gestützten Rügen berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil des Gerichts vom 9. Juli 2008, Alitalia/Kommission, T-301/01, Slg. 2008, II-1753, Rn. 527).
32 Drittens kann die Rechtmäßigkeit des Beteiligungsverbots nicht unter Außerachtlassung seines Kontexts beurteilt werden, soweit es um die Ziele der Umstrukturierungen der Banken geht, die im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit der Beihilfe auf der Grundlage der Mitteilungen unter Berücksichtigung des Risikoprofils der begünstigten Bank angeordnet wurden. Da die strukturellen Maßnahmen und Verhaltensmaßregeln den Umstrukturierungsplan ergänzen, den der Mitgliedstaat der Kommission vorgeschlagen hatte, um es dieser zu ermöglichen, eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären, berücksichtigte die Kommission ferner bei ihrer Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe die Gesamtheit der angeordneten Maßnahmen. Die Klägerin bestreitet nicht die Auffassung der Kommission, dass das Beteiligungsverbot nicht isoliert beurteilt werden könne.
33 Viertens sind sich die Parteien über das dreifache Ziel der Umstrukturierungsmaßnahmen einig, die den durch die staatlichen Beihilfen begünstigten Banken im Rahmen der Mitteilungen vorgeschrieben wurden, insbesondere der Umstrukturierungsmitteilung, auf die der angefochtene Beschluss zur Rechtfertigung des in Rede stehenden Beteiligungsverbots ausdrücklich Bezug nimmt, nämlich die langfristige Rentabilität des begünstigten Unternehmens, die Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum und die Begrenzung unverhältnismäßiger Wettbewerbsverzerrungen.
34 Anhand dieser Grundsätze sind die beiden Argumente der Klägerin zu prüfen, die zum einen die Rechtfertigung des Beteiligungsverbots und zum anderen den Umstand betreffen, dass der angefochtene Beschluss keine Bestimmung enthält, die es ermöglicht, um die Genehmigung bestimmter Geschäfte zu ersuchen.
35 Was zunächst die Rechtfertigung des Beteiligungsverbots angeht, ist dieses Verbot nach Auffassung der Klägerin gegenüber den in den Mitteilungen enthaltenen Grundsätzen zu streng, da es zum einen für alle Arten von Unternehmen und nicht nur für konkurrierende Unternehmen oder für Finanzinstitute gelte und zum anderen auf den Erwerb einer Minderheitsbeteiligung von mehr als 5 % anwendbar sei.
36 Die Kommission begründete das Übernahmeverbot namentlich in den Erwägungsgründen 309 bis 313 des angefochtenen Beschlusses, wo es heißt:
„(309)
Ein Umstrukturierungsplan sollte klar belegen, dass die Beihilfe auf das erforderliche Minimum beschränkt wurde. Die Kosten im Zusammenhang mit der Umstrukturierung sollten nicht ausschließlich vom Staat, sondern so weit wie möglich von denen getragen werden, die in die Bank investiert haben. Mit anderen Worten: Die Bank und ihre Eigner sollten aus eigenen Mitteln einen möglichst hohen Beitrag zu der Umstrukturierung leisten. Die Umstrukturierungsbeihilfe sollte auf die Deckung der Kosten beschränkt werden, die für die Wiederherstellung der Rentabilität erforderlich sind. Demnach sollten einem Unternehmen keine öffentlichen Mittel bereitgestellt werden, die zur Finanzierung von marktverzerrenden Tätigkeiten verwendet werden können, die nicht mit dem Umstrukturierungsprozess zusammenhängen, wie z. B. Übernahmen …
(310) Nach der Umstrukturierungsmitteilung ist ein Übernahmeverbot erforderlich, damit die Beihilfe auf das erforderliche Minimum beschränkt bleibt. Unter Randnummer (23) der [Umstrukturierungs]mitteilung heißt es ausdrücklich, dass ‚einem Unternehmen keine öffentlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden (dürfen), die es zur Finanzierung marktverzerrender, nicht mit dem Umstrukturierungsprozess in Zusammenhang stehender Tätigkeiten verwenden könnte. So sollten staatliche Beihilfen beispielsweise nur dann für den Erwerb von Unternehmensanteilen oder für neue Investitionen verwendet werden, wenn dies für die Wiederherstellung der Rentabilität des Unternehmens von wesentlicher Bedeutung ist‘.
(311) Ferner wird in der Umstrukturierungsmitteilung ein Zusammenhang zwischen einem Übernahmeverbot und Wettbewerbsverzerrungen hergestellt. Unter den Randnummern (39) und (40) stellt die Kommission Folgendes klar: ‚Staatliche Beihilfen dürfen nicht zum Nachteil von Wettbewerbern verwendet werden, die keine vergleichbare staatliche Unterstützung erhalten‘ und ‚Banken sollten staatliche Beihilfen nicht zum Erwerb konkurrierender Unternehmen verwenden. Diese Bedingung sollte mindestens für drei Jahre gelten und ggf. je nach Reichweite, Höhe und Laufzeit der Beihilfe bis zum Ende des Umstrukturierungszeitraums aufrechterhalten werden‘.
(312) Nach Maßgabe von Randnummer (40) der Umstrukturierungsmitteilung kann die Beihilfe nur unter der Bedingung als mit der Umstrukturierungsmitteilung vereinbar erklärt werden, dass sich [ABN Amro] während einer Dauer von drei Jahren ab dem Datum dieses Beschlusses an ein striktes Übernahmeverbot … hält. Dieses Übernahmeverbot sollte verlängert werden, wenn der niederländische Staat nach Ablauf dieser drei Jahre weiterhin über 50 % an [ABN Amro] hält. Allerdings sollten dabei fünf Jahre nicht überschritten werden. Zwar ist ein Teil der Beihilfe bereits zurückgezahlt worden, doch können bestimmte Maßnahmen … aufgrund der Form, in der sie gewährt wurden (d. h. nicht in Form hybrider Schuldtitel) nicht von der Bank amortisiert werden. Das Ende der staatlichen Beteiligung ist eine Ersatzgröße für die Schätzung des Zeitpunkts, zu dem der aus der Beihilfe gezogene Vorteil abläuft.
(313) Die Kommission stellt fest, dass der Umstrukturierungsplan von Dezember 2009 (am 23. März 2010 um finanzielle Hochrechnungen für das Worst-Case-Szenario ergänzt) bereits darauf hindeutete, dass sich [ABN Amro] zu einem rentablen Unternehmen entwickelt hat, das eine annehmbare Ertragsrate des Eigenkapitals und selbst unter schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen angemessene Gewinne erzielen dürfte. Der … Umstrukturierungsplan von November 2010 bestätigt diese Analyse. Diese Rückkehr zur Rentabilität hängt nicht von Übernahmen ab. Ein Übernahmeverbot steht daher der Wiederherstellung der Rentabilität nicht entgegen.“
37 Erstens dürfen nach Auffassung der Klägerin im Gegensatz zu dem in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses gegen sie verfügten weitgehenden Verbot nur die Beteiligungen verboten werden, die Auswirkungen auf den Wettbewerb haben. Die Klägerin verweist insoweit namentlich auf die Rn. 39 und 40 sowie auf Rn. 23 Satz 2 der Umstrukturierungsmitteilung. Dies ergebe sich auch aus der Mitteilung der Kommission über die Behandlung wertgeminderter Aktiva im Bankensektor der Gemeinschaft, die Vorkehrungen zur Verhinderung der Finanzierung einer Wachstumsstrategie begünstigter Banken zum Nachteil ihrer Konkurrenten vorsehe.
38 Die Klägerin fügt hinzu, der 312. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, in dem auf den allgemeinen Charakter des gegen sie verfügten Verbots hingewiesen werde, beruhe auf einer falschen Auslegung der Rn. 40 der Umstrukturierungsmitteilung, da sich diese nur auf den Erwerb konkurrierender Unternehmen beziehe.
39 Dieses Vorbringen der Klägerin beruht auf einem falschen Verständnis des angefochtenen Beschlusses und der Umstrukturierungsmitteilung, die, wie sich aus den oben in Rn. 36 zitierten Erwägungsgründen 309 bis 312 ergibt, die Grundlage für das Beteiligungsverbot bilden.
40 Hauptsächliche Grundlage des im vorliegenden Fall angeordneten Beteiligungsverbots ist Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung, wie sich eindeutig aus den Erwägungsgründen 309 und 310 des angefochtenen Beschlusses ergibt, die zu Abschnitt 6.3.2 („Lastenverteilung/Erforderliches Minimum“) gehören.
41 Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung gehört zu deren Abschnitt 3 („Eigenbeitrag des Begünstigten [Lastenverteilung])“ und bestimmt unter der Überschrift „Begrenzung der Umstrukturierungskosten“:
„Umstrukturierungsbeihilfen sollten auf die Deckung der für die Wiederherstellung der Rentabilität notwendigen Kosten beschränkt sein. Einem Unternehmen dürfen keine öffentlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die es zur Finanzierung marktverzerrender, nicht mit dem Umstrukturierungsprozess im Zusammenhang stehender Tätigkeiten verwenden könnte. So sollten staatliche Beihilfen beispielsweise nur dann für den Erwerb von Unternehmensanteilen oder für neue Investitionen verwendet werden, wenn dies für die Wiederherstellung der Rentabilität des Unternehmens von wesentlicher Bedeutung ist …“
42 In der Fußnote zu Rn. 23 wird auf die Rechtsprechung zu den Leitlinien für die Beurteilung von Staatlichen Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten (ABl. 1994, C 368, S. 12) verwiesen, wonach die Umstrukturierungsbeihilfe für die Wiederherstellung der Lebensfähigkeit des begünstigten Unternehmens unbedingt erforderlich sein muss, das heißt, sie muss nicht nur dem Ziel der Umstrukturierung des betroffenen Unternehmens entsprechen, sondern diesem Ziel auch angemessen sein, so dass jede Beihilfe, die nicht streng auf die Wiederherstellung der Lebensfähigkeit des begünstigten Unternehmens beschränkt ist, grundsätzlich nach den Leitlinien nicht genehmigungsfähig ist (Urteil Schmitz-Gotha Fahrzeugwerke/Kommission, oben in Rn. 27 angeführt, Rn. 47).
43 Der Grundsatz der Beschränkung der Beihilfe auf das erforderliche Minimum hängt eng mit dem anderen Grundsatz zusammen, dass der Begünstigte einen angemessenen Eigenbeitrag zu den Umstrukturierungskosten leisten muss. Rn. 22 der Umstrukturierungsmitteilung bestimmt insoweit, dass sich die Bank und ihre Kapitaleigner soweit wie möglich mit eigenen Mitteln an der Umstrukturierung beteiligen sollten; dies sei erforderlich, „um sicherzustellen, dass gerettete Banken in angemessenem Umfang Verantwortung für die Folgen ihres früheren Verhaltens tragen, und um geeignete Anreize für ihr künftiges Verhalten zu schaffen“.
44 Angesichts dieser Grundsätze geht die Klägerin mit ihrem Vorbringen, dass sich das in der Umstrukturierungsmitteilung angeordnete Beteiligungsverbot nur auf konkurrierende Unternehmen beziehen dürfe, von einer falschen Voraussetzung aus. Im letzten Satz der Rn. 23 dieser Mitteilung wird nämlich nicht nach dem Tätigkeitsbereich der betroffenen Unternehmen unterschieden. Außerdem heißt es am Anfang dieser Randnummer, dass der Erwerb der Beteiligungen die Sicherstellung der Rentabilität des begünstigten Unternehmens zum Ziel haben muss, was bedeutet, dass jeder mit Hilfe einer staatlichen Beihilfe finanzierte Erwerb von Beteiligungen, der nicht unbedingt für die Wiederherstellung der Rentabilität des begünstigten Unternehmens erforderlich ist, gegen den Grundsatz der Begrenzung der Beihilfe auf das strikte Minimum verstößt.
45 In Rn. 23 Satz 2 der Umstrukturierungsmitteilung, der die Finanzierung „marktverzerrender“ Tätigkeiten verbietet, wird, wie die Kommission bemerkt, darauf hingewiesen, dass Beteiligungen, die nicht mit dem Umstrukturierungsprozess in Zusammenhang stehen, als solche geeignet sind, zu Marktverzerrungen zu führen. In der Tat ist die tatsächliche oder drohende Wettbewerbsverzerrung ein Merkmal der Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 2. September 2010, Kommission/Deutsche Post, C-399/08 P, Slg. 2010, I-7831, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Klägerin bestreitet nicht, im vorliegenden Fall eine staatliche Beihilfe erhalten zu haben.
46 Aus diesen Gründen betraf das in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses angeordnete Beteiligungsverbot nicht nur Beteiligungen an Unternehmen, die im Finanzsektor oder in den Niederlanden tätig waren, sondern potenziell jede Beteiligung, da es bewirken sollte, dass das Geld der von der Beihilfe begünstigten Bank zu deren Rückzahlung verwendet wurde, bevor sie Beteiligungen erwarb.
47 Wie die Kommission vorträgt, ist insoweit auch der in den Erwägungsgründen 304 bis 308 und 313 des angefochtenen Beschlusses genannte Umstand von Bedeutung, dass ABN Amro ein rentables Unternehmen war, eine Tatsache, auf die in den Umstrukturierungsplänen von Dezember 2009 und November 2010 hingewiesen wurde, die, wie sich aus dem 83. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, für 2012 und 2013 von einer Ertragsrate des Eigenkapitals von ungefähr [vertraulich] % ausgingen. Die Klägerin bezeichnet sich übrigens selbst als finanziell gesundes Unternehmen. Wie im 313. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausgeführt wird, hing die Rückkehr zur Rentabilität im Fall der Klägerin somit nicht vom Erwerb von Beteiligungen ab.
48 Sonach entspricht ein Verbot des Erwerbs von Beteiligungen an Unternehmen aller Wirtschaftszweige den Grundsätzen, die in den Mitteilungen, insbesondere in der Umstrukturierungsmitteilung, aufgestellt wurden.
49 Dem steht nicht entgegen, dass die Rn. 39 und 40 der Umstrukturierungsmitteilung, die zu deren Abschnitt 4 („Begrenzung von Wettbewerbsbeschränkungen und Gewährleistung eines wettbewerbsbestimmten Bankensektors“) gehören, in den Erwägungsgründen 311 und 312 des angefochtenen Beschlusses herangezogen werden, um einerseits daran zu erinnern, dass die Umstrukturierungsmitteilung Beteiligungsverbote auch vorsieht, um zu verhindern, dass eine staatliche Beihilfe zum Nachteil von Wettbewerbern verwendet wird, und andererseits, um die Dauer des Verbots festzulegen. Im Übrigen wird auch im 321. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, der zu Abschnitt 6.3.3. („Maßnahmen zur Begrenzung von Wettbewerbsbeschränkungen“) gehört, knapp darauf hingewiesen, dass es sicherzustellen gilt, dass ABN Amro die staatlichen Beihilfen nicht verwendet, um auf Kosten von Wettbewerbern zu expandieren, indem sie beispielsweise andere Finanzinstitute übernimmt.
50 Dieses zweite Ziel hindert nicht, dass das Bemühen um eine Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum eindeutig der hauptsächliche Grund für das hier angeordnete Beteiligungsverbot ist. Auch können Rn. 39 der Umstrukturierungsmitteilung, wonach Beihilfen nicht zum Nachteil von Wettbewerbern verwendet werden dürfen, die keine vergleichbare staatliche Unterstützung erhalten, und Rn. 40 dieser Mitteilung, der die Bedingung betrifft, dass Banken staatliche Beihilfen nicht zum Erwerb konkurrierender Unternehmen verwenden sollten, ohnehin nicht abstrakt gesehen werden, sondern müssen in Verbindung mit dem Grundsatz der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum ausgelegt werden. Rn. 40 der Umstrukturierungsmitteilung enthält nämlich eine Fußnote, in der unter Hinweis auf die bereits untersuchte Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung daran erinnert wird, dass die Umstrukturierungskosten auf das zur Wiederherstellung der Rentabilität des begünstigten Unternehmens erforderliche Minimum beschränkt werden müssen.
51 Zweitens trägt die Klägerin vor, der Umstand, dass das Verbot Beteiligungen von mehr als 5 % des Kapitals betreffe und nicht solche, die dem Erwerber eine Kontrolle im Sinne des Kartellrechts der Union verliehen, beschränke ihre Fähigkeit, sich an Joint Ventures zu beteiligen, die im Finanzsektor häufig für die Entwicklung neuer Normen, die Sicherstellung der Erbringung der Finanzdienstleistungen oder die Gewährleistung der Zahlungsdienste von Nutzen seien.
52 In diesem Zusammenhang rügt die Klägerin weiter, dass das Verbot nicht auf den Erwerb von Aktien beschränkt sei und dass im angefochtenen Beschluss nicht definiert werde, was unter „Beteiligungen an Unternehmen, die einen Anteil von 5 % übersteigen“ zu verstehen sei, so dass sich das Verbot z. B. auch auf vertragliche Ansprüche beziehen könnte.
53 Auch diesem Vorbringen ist kein Verstoß gegen die Umstrukturierungsmitteilung zu entnehmen.
54 Wie die Kommission ausführt, verweist Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung auf das weit gefasste Verbot, Beihilfen „für den Erwerb von Unternehmensanteilen oder für neue Investitionen“ zu verwenden, und beschränkt sich somit nicht auf Kontrollbeteiligungen. Eine andere Auslegung würde im Übrigen nicht dem in Rn. 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Zweck des Grundsatzes der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum gerecht werden. Daher war es nicht erforderlich, die Art und Weise des Erwerbs und den in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses verwendeten Begriff „Unternehmen“ zu präzisieren oder die Wendung „Beteiligungen …, die einen Anteil von 5 % übersteigen“ zu definieren.
55 Drittens ist keinem der übrigen von der Klägerin vorgebrachten Argumente ein Verstoß gegen die Umstrukturierungsmitteilung zu entnehmen.
56 Zurückzuweisen ist zunächst ihr Vorbringen, es müsse ihr freistehen, Beteiligungen zu erwerben, da ihre Umstrukturierung abgeschlossen sei und sie als finanziell gesundes Unternehmen den beabsichtigten Erwerb zusätzlicher Beteiligungen nicht durch eine staatliche Beihilfe zu finanzieren gedenke, so dass Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung nicht auf sie anwendbar sei. Da die Klägerin ihre Umstrukturierung dank staatlicher Mittel abschließen konnte, müssen später erzielte Gewinne, wie die Kommission geltend macht, dazu dienen, dem niederländischen Staat die Beihilfe zurückzuzahlen, wie dies in der der Kommission vorgelegten Ausstiegsstrategie vorgesehen ist, namentlich im Umstrukturierungsplan von Dezember 2009, in dem der niederländische Staat die Verpflichtung übernahm, dass jeder Kapitalüberschuss zur Ausschüttung von Dividenden verwendet werde.
57 Was das Vorbringen der Klägerin betrifft, der Erwerb von Beteiligungen könne in ihrem Fall nicht zu einer verzögerten Rückzahlung der Beihilfe führen, da der niederländische Staat Eigentümer der Bank sei und die in Form von Kapital gewährte Beihilfe nicht zurückgezahlt werden könne, ist die Erwägung der Kommission, dass Art. 5 des angefochtenen Beschlusses sicherstellen wolle, dass ein eventueller Kapitalüberschuss nicht zur Erzielung eines höheren als des im Umstrukturierungsplan vorgesehenen externen Wachstums benutzt werde, nicht offensichtlich fehlerhaft, denn ein solcher Überschuss kann z. B. dazu dienen, eine außerordentliche Dividende an den Staat auszuschütten.
58 Die Klägerin räumt im Rahmen ihres Vorbringens, ihre Dividendenpolitik, nach der sie verpflichtet sei, 40 % ihres erklärten jährlichen Gewinns an den niederländischen Staat abzuführen, hindere sie daran, Kapital zu bilden, das zum Erwerb von Beteiligungen dienen könnte, selbst ein, dass eine solche Politik der normalen Art und Weise der Vergütung der Aktionäre entspreche. Abgesehen von dem Umstand, auf den die Kommission von der Klägerin unwidersprochen hingewiesen hat, dass es sich um ein nicht zwingendes Ziel handelt, verhindert die Ausschüttung eines Teils des jährlichen Gewinns an die Aktionäre keineswegs, dass die Bank ausreichende Mittel für den Erwerb von Beteiligungen besitzt.
59 Die Klägerin hat weiter vorgetragen, wenn über die angestrebte Aktienstreuung hinausgehende Vorkehrungen notwendig gewesen wären, hätte die Kommission den von ihr vorgeschlagenen Aufrechnungsmechanismus akzeptieren sollen, wonach sie Beteiligungen nur mit Einkünften aus Veräußerungen hätte erwerben können. Dazu meint die Kommission zu Recht, ein solcher Mechanismus entspreche nicht dem Grundsatz der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum, der, wie oben in den Rn. 44 bis 46 ausgeführt worden ist, bewirken soll, dass die begünstigte Bank das Geld zur Rückzahlung der Beihilfe verwendet, bevor sie Beteiligungen erwirbt, mit Ausnahme von solchen, die notwendig sind, um ihre Rentabilität sicherzustellen. Tatsächlich beweist der Umstand, dass die Klägerin in den Jahren nach ihrer Kapitalisierung durch den Staat über Mittel zum Erwerb von Beteiligungen verfügte, dass die Beihilfe nicht auf das zur Wiederherstellung ihrer Rentabilität Notwendige beschränkt war.
60 Zum Argument der Klägerin, das gegen sie verfügte Verbot, ihr Portefeuille durch begrenzte Veräußerungen und Übernahmen auszugleichen, führe – vor allem deshalb, weil die von ihr übernommenen Aktiva weit verstreut seien – zu einer verminderten Leistungsfähigkeit, ist darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss Verkäufe nicht verbietet und eine Ausnahme für den Erwerb geringfügiger Beteiligungen und bestimmter anderer Beteiligungen vorsieht (siehe auch die nachfolgende Prüfung des zweiten Teils); dies bedeutet jedoch nicht, dass die Einkünfte aus derartigen Veräußerungen von der Verpflichtung, die Beihilfe auf das notwendige Minimum zu beschränken, ausgenommen sein können. Zudem handelt es sich bei diesem Vorbringen der Klägerin um eine bloße allgemeine Behauptung, für die sie keinen konkreten Beweis anbietet. Was ferner das ebenfalls in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument der Klägerin betrifft, die Kommission dürfe ihr insbesondere nicht solche Geschäfte untersagen, die verstreute Aktiva von Fortis außerhalb der Niederlande beträfen und die notwendig gewesen seien, um ihren Tätigkeiten im Privatbanksektor in den Niederlanden ein Mindestmaß an Effizienz zu verleihen, genügt die Feststellung, dass die Umstrukturierungsmitteilung die Effizienz der Tätigkeiten der begünstigten Bank nicht als Kriterium für den Erlass von Abhilfemaßnahmen ansieht, wohl aber ihre Rentabilität. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin während des Verwaltungsverfahrens möglicherweise praktische Schwierigkeiten hatte, bestimmte Geschäfte anzugeben, da die Integration zwischen FBN und ABN Amro N noch nicht abgeschlossen war.
61 Die Klägerin hat ferner die Frage aufgeworfen, ob es denn logisch sei, ein Beteiligungsverbot anzuordnen, ohne eine Begrenzung des internen Wachstums der begünstigten Bank vorzusehen, zum Beispiel in Form einer Beschränkung des Bilanzwachstums. Eine Beschränkung, die ausschließlich den Erwerb von Beteiligungen betreffe, sei Ausdruck einer willkürlichen Entscheidung gegen das äußere Wachstum. Dazu hat die Kommission vorgetragen, der Grundsatz der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum gestatte es ihr, eine Beschränkung des internen Wachstums einer begünstigten Bank vorzusehen, wenn sich aus dem Umstrukturierungsplan ergebe, dass das erhoffte Wachstum offensichtlich in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Wachstum stehe, das notwendig sei, um die langfristige Rentabilität der Bank sicherzustellen, was hier nicht der Fall gewesen sei. Dazu genügt der Hinweis darauf, dass die Klägerin der Behauptung der Kommission, der niederländische Staat habe während des Prüfverfahrens garantiert, dass das interne Wachstum von ABN Amro nicht anomal sei, nicht widersprochen hat. Angesichts dieser Situation kann es nicht als offensichtlicher Fehler der Kommission angesehen werden, dass sie sich auf den Erwerb von Beteiligungen konzentriert hat.
62 Nicht stichhaltig ist schließlich der Vorwurf der Klägerin, das Vorbringen der Kommission laufe auf die Auffassung hinaus, dass der Erwerb von Beteiligungen durch einen Begünstigten per definitionem den Beweis dafür erbringe, dass die Beihilfe nicht auf das notwendige Minimum beschränkt gewesen sei, und die Kommission habe dadurch die nach der Umstrukturierungsmitteilung erforderliche Kausalität zwischen der staatlichen Beihilfe und der Art und Weise der Finanzierung einer Beteiligung außer Acht gelassen. Wie die Kommission zu Recht ausführt, steht, da Geld fungibel ist, die Quelle der Finanzierung des Erwerbs einer Beteiligung in keinem unmittelbaren und notwendigen Zusammenhang mit einem bestimmten Aktivum einer Bank. Die Verwendung von möglicherweise nicht aus staatlichen Quellen stammenden Mitteln für den Erwerb von Beteiligungen kann ein Indiz dafür sein, dass der Beihilfebedarf überschätzt wurde.
63 Nach alledem hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass die Kommission dadurch gegen die Umstrukturierungsmitteilung verstoßen hat, dass sie davon ausging, dass der Grundsatz der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum es ihr gestattete, ein so weitgehendes Beteiligungsverbot anzuordnen. Dies gilt umso mehr angesichts des Ermessens, über das die Kommission der Umstrukturierungsmitteilung zufolge für den Erlass von strukturellen Maßnahmen und Verhaltensmaßregeln gegenüber einem Begünstigten verfügt, und angesichts des Umstands, dass der Klägerin selbst bei Gewährung einer sehr bedeutenden finanziellen Beihilfe keine strukturelle Maßnahme auferlegt wurde, was im Rahmen der übrigen Teile des ersten Klagegrundes weiter untersucht werden wird.
64 Was zweitens den Umstand betrifft, dass der angefochtene Beschluss keine Bestimmung enthält, die es ermöglicht, die Genehmigung zu bestimmten Geschäften einzuholen, hat die Kommission nach Auffassung der Klägerin dadurch gegen die Umstrukturierungsmitteilung verstoßen, dass sie es trotz eines entsprechenden Ersuchens während des Prüfverfahrens ablehnte, eine solche Bestimmung in den angefochtenen Beschluss aufzunehmen.
65 Dazu ist zu bemerken, dass die Genehmigung des Erwerbs von Beteiligungen in Ausnahmefällen in Rn. 41 der Umstrukturierungsmitteilung geregelt ist, der zu Abschnitt 4 („Begrenzung von Wettbewerbsbeschränkungen und Gewährleistung eines wettbewerbsbestimmten Bankensektors“) gehört und auf Rn. 40 folgt, die den Erwerb konkurrierender Unternehmen verbietet. Rn. 41 lautet:
„In Ausnahmefällen können angemeldete Übernahmen von der Kommission genehmigt werden, wenn sie Teil eines Konsolidierungsprozesses sind, der zur Wiederherstellung der Finanzstabilität oder zur Gewährleistung eines wirksamen Wettbewerbs erforderlich ist. Beim Kaufprozess sollte Chancengleichheit für alle Kaufinteressenten und im Ergebnis ein wirksamer Wettbewerb auf den relevanten Märkten gewährleistet sein.“
66 Dieser Bestimmung ist zu entnehmen, dass sich – wie die Kommission geltend macht – ihre Befugnis, nach Erlass einer Entscheidung über die Gewährung einer Beihilfe, die ein Beteiligungsverbot enthält, den Erwerb von Beteiligungen zu genehmigen, nicht aus einer dahin gehenden Bestimmung des angefochtenen Beschlusses ergibt, sondern aus ihren allgemeinen Kompetenzen als Verwaltungsbehörde, die als Verfasserin des angefochtenen Beschlusses befugt ist, diesen aufzuheben oder abzuändern. Dass der angefochtene Beschluss diese Befugnis nicht ausdrücklich erwähnt, bildet somit keinen Verstoß gegen die Umstrukturierungsmitteilung. Die Rüge greift deshalb nicht durch.
67 Folglich ist die Rüge eines Verstoßes gegen die Umstrukturierungsmitteilung zurückzuweisen.
– Zur ersten Rüge: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV
68 Die Kommission führt aus, diese Rüge sei unzulässig, da in der Klageschrift nichts für einen angeblichen Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV vorgetragen werde.
69 Insoweit ist klar, dass die Klägerin geltend macht, sie habe, da die Mitteilungen Leitlinien zur Anwendung von Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV enthielten, mit ihrem Vorbringen, dass die Kommission von diesen abgewichen sei, einen Verstoß gegen diese Bestimmung dargetan. Diese Rüge erfüllt entgegen dem Vorbringen der Kommission die Voraussetzungen von Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung, wonach die Klageschrift den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss.
70 Diese Rüge greift in der Sache jedoch nicht durch. Denn da die Rüge eines Verstoßes gegen die Mitteilungen zurückgewiesen worden ist und die Klägerin außer der beanstandeten Nichtbeachtung der Mitteilungen kein weiteres Argument zur Begründung ihrer Rüge eines Verstoßes gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV vorgebracht hat, ist diese aus denselben Gründen zurückzuweisen.
71 Folglich ist der erste Teil dieses Klagegrundes insgesamt zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
72 Nach der Auffassung der Klägerin hat die Kommission dadurch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, dass sie nicht geprüft habe, ob nicht eine weniger belastende Maßnahme gegen sie hätte ergriffen werden können als ein so weitgehendes Beteiligungsverbot wie das, das in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses angeordnet worden sei. Sie erinnert daran, dass sie im Verwaltungsverfahren verschiedene alternative Formulierungen vorgeschlagen habe, die ihre hauptsächlichen Besorgnisse hätten zerstreuen und zugleich den Interessen der Kommission vollauf hätten gerecht werden können. Zu dem Grundsatz, dass die staatliche Beihilfe nicht für den Erwerb von Beteiligungen verwendet werden dürfe, bemerkt die Klägerin ferner, sie habe Garantien dafür gegeben, dass dies nicht geschehen werde. Auch die im angefochtenen Beschluss enthaltene Ausnahme für den Erwerb geringfügiger Beteiligungen berücksichtige nicht ihre Besorgnisse. Schließlich räume die Kommission selbst ein, dass die Situation, in der sie sich befinde, neu sei, und bestätige, dass sich die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen nicht aus den Tätigkeiten von FBN und ABN Amro N ergebe. Da die hier gewährte Beihilfe in geringerem Maß zu Wettbewerbsverzerrungen führe als die Beihilfen, die anderen Finanzinstituten gewährt und genehmigt worden seien, hätte die Kommission die am wenigsten einschneidenden Verhaltensmaßregeln suchen müssen, um die festgestellten Wettbewerbsverzerrungen abzustellen.
73 Die Kommission entgegnet, der im angefochtenen Beschluss festgelegte Umfang des Beteiligungsverbots entspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Sie habe alle vom niederländischen Staat und von der Klägerin vorgeschlagenen Optionen geprüft, jedoch angesichts der strikten Ablehnung des Umfangs des Beteiligungsverbots seitens der Klägerin eine Bedingung aufgestellt, die es ermöglicht habe, die Ziele der Umstrukturierungsmitteilung zu erreichen, und sie zugleich auf die zur Erreichung dieser Ziele am wenigsten einschneidende Form beschränkt.
74 Die Handlungen der Gemeinschaftsorgane dürfen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung verfolgten berechtigten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende anzuwenden ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bildet als allgemeiner Grundsatz der Union ein Kriterium für die Rechtmäßigkeit aller Rechtsakte ihrer Organe einschließlich der Entscheidungen, die die Kommission in ihrer Eigenschaft als Wettbewerbsbehörde trifft (Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2010, Kommission/Alrosa, C-441/07 P, Slg. 2010, I-5949, Rn. 36).
76 Auch in den Mitteilungen wird auf die Verpflichtung der Kommission zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verwiesen. So enthält die Umstrukturierungsmitteilung in ihrem Abschnitt 4 („Begrenzung von Wettbewerbsbeschränkungen und Gewährleistung eines wettbewerbsbestimmten Bankensektors“) einen Unterabschnitt „Anwendung wirksamer und angemessener Maßnahmen zur Begrenzung von Wettbewerbsverzerrungen“, in dem es heißt, dass Maßnahmen zur Begrenzung der Wettbewerbsverzerrungen immer auf die spezifischen Probleme der Märkte zugeschnitten sein sollten, auf denen die begünstigte, nach der Umstrukturierung wieder rentabel arbeitende Bank tätig sei, und gleichzeitig auf politisch kohärenten Prinzipien beruhen sollten. Weiter heißt es dort, Art und Form solcher Maßnahmen richteten sich nach zwei Kriterien: erstens nach der Höhe der Beihilfe sowie den Bedingungen und Umständen, unter denen die Beihilfe gewährt wurde, und zweitens nach den Merkmalen des Marktes bzw. der Märkte, auf dem bzw. denen die begünstigte Bank tätig sein wird.
77 Gleichwohl stellt sich die Frage nach dem Umfang und den genauen Grenzen der Verpflichtungen, die sich aus der Beachtung dieses Grundsatzes für die Kommission ergeben, und nach den Grenzen der gerichtlichen Kontrolle in einem Fall wie dem hier vorliegenden.
78 In diesem Zusammenhang ist der besondere Kontext des angefochtenen Beschlusses und namentlich des hier streitigen Beteiligungsverbots zu berücksichtigen. Wie in Rn. 10 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kam es im Laufe des Prüfverfahrens wiederholt zu einem Meinungsaustausch zwischen dem niederländischen Staat, der Klägerin und der Kommission, bei dem der niederländische Staat, unterstützt von der Klägerin, verschiedene alternative Formulierungsvorschläge bezüglich Umfang und Dauer des Beteiligungsverbots machte. Die Kommission hielt keinen dieser Vorschläge für befriedigend und erließ das Verbot in der in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses gewählten Formulierung gemäß Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 659/1999. Dieses Verbot hat somit zu keinem Zeitpunkt die Zustimmung des niederländischen Staates gefunden, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass es Teil des Umstrukturierungsplans ist oder dass er eine entsprechende Verpflichtung eingegangen ist.
79 In einem Fall wie dem vorliegenden kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass die Pflicht der Kommission, die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Bedingung zu prüfen, durch die Rolle abgeschwächt wurde, die der betroffene Mitgliedstaat gespielt hat, denn dieser hat die genannte Verpflichtung nicht vorgeschlagen und ist sie auch nicht eingegangen.
80 Das Beteiligungsverbot ist jedoch, wie im Rahmen des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes (oben in Rn. 32) ausgeführt worden ist, keine isolierte Maßnahme, sondern muss notwendigerweise im Rahmen der vom niederländischen Staat vorgelegten Umstrukturierungspläne beurteilt werden. Auch wenn das Verbot nicht formal Teil dieses Plans ist, wurde die Entscheidung der Kommission, die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären, durch die Gesamtheit dieser Maßnahmen ermöglicht.
81 Im Übrigen ist im Rahmen der Prüfung des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes (oben in Rn. 31) daran erinnert worden, dass die Kommission angesichts der Art der Vereinbarkeitsprüfung bei der Untersuchung, ob eine Gesamtheit von Maßnahmen es ihr ermöglichte, die Beihilfe als mit dem Binnenmarkt vereinbar anzusehen, über ein weites Ermessen verfügte, so dass die diesbezügliche gerichtliche Kontrolle notwendigerweise begrenzt ist.
82 Ob das Gericht angesichts dieser begrenzten Nachprüfungsbefugnis kontrollieren kann, ob die Kommission die Verhältnismäßigkeit der einzelnen Maßnahmen untersucht hat, braucht im vorliegenden Fall jedoch nicht entschieden zu werden, da die Kommission den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch die Anordnung des Beteiligungsverbots in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses jedenfalls nicht verletzt hat.
83 Zunächst ist an die Ziele des Beteiligungsverbots zu erinnern. Wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verfolgen die gemäß der Umstrukturierungsmitteilung angeordneten Umstrukturierungsmaßnahmen das dreifache Ziel der langfristigen Rentabilität des begünstigten Unternehmens, der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum und der Begrenzung unverhältnismäßiger Wettbewerbsverzerrungen. Wie sich aus den in Rn. 36 des vorliegenden Urteils zitierten Erwägungsgründen 309 bis 313 des angefochtenen Beschlusses ergibt, ordnete die Kommission das Beteiligungsverbot gemäß der Umstrukturierungsmitteilung an, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, vor allem aber, um die Beihilfe auf das notwendige Minimum zu beschränken.
84 Aus der oben dargelegten Prüfung der im ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes enthaltenen zweiten Rüge ergibt sich, dass das in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses angeordnete Beteiligungsverbot zur Erreichung dieser Ziele offensichtlich geeignet ist. Es ist weit gefasst und betrifft den Erwerb von Beteiligungen von mehr als 5 % an Unternehmen aller Art (Abs. 1) und enthält zugleich Ausnahmen für geringfügige Beteiligungen und für Beteiligungen besonderer Art (Abs. 2). Dadurch wurde sichergestellt, dass die Klägerin, die erhebliche zum Teil nicht rückzahlbare staatliche Mittel erhalten hat, diese nicht zur Finanzierung marktverzerrender oder nicht mit dem Umstrukturierungsprozess in Zusammenhang stehender Tätigkeiten verwenden konnte.
85 Nicht stichhaltig ist ferner das Vorbringen der Klägerin, das streitige Beteiligungsverbot verstoße deshalb gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil die Kommission engere Formulierungen dieses Verbots abgelehnt habe, die der niederländische Staat und sie selbst vorgeschlagen hätten und mit denen dieselben Ziele erreicht worden wären sowie zugleich dem Umstand Rechnung getragen worden wäre, dass die Kommission dem Grundsatz der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum zu Recht große Bedeutung beimesse.
86 Wie im Rahmen des ersten Teils (oben in Rn. 58) dargelegt worden ist, gibt die Dividendenpolitik der Klägerin keine Garantien für die Verwendung des überschüssigen Kapitals. Ebenso entsprechen die Option, das Verbot auf den Erwerb von Beteiligungen von mehr als 5 % an anderen Unternehmen zu beschränken, oder die Lösung einer Aufrechnung von Veräußerungen mit dem potenziellen Erwerb von Beteiligungen nicht dem Kriterium der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum, wonach mit Hilfe einer staatlichen Beihilfe finanzierte Beteiligungen, die für die Wiederherstellung der Rentabilität des begünstigten Unternehmens nicht unbedingt erforderlich sind, ausgeschlossen sind (vgl. u. a. Rn. 47, 54 und 59 des vorliegenden Urteils). Im Übrigen wäre der von der Klägerin vorgeschlagene Aufrechnungsmechanismus, der im Wesentlichen dahin geht, dass die Kommission Neuerwerbungen akzeptieren würde, sofern ihr Wert demjenigen einer Veräußerung durch die Bank entspricht, schwieriger in die Praxis umzusetzen und leichter zu umgehen. Somit steht nicht fest, dass es sich um geeignete alternative Lösungen im Sinne der oben in Rn. 74 genannten Rechtsprechung handelt.
87 Bezüglich der vom niederländische Staat und von der Klägerin vorgeschlagenen alternativen Formulierung des Beteiligungsverbots, durch die der Erwerb von Beteiligungen „an Management-, Dienstleistungs- oder IT‑Gesellschaften mit dem Ziel, die Effizienz der derzeitigen Tätigkeiten zu steigern“ ausgeschlossen werden sollte, ist daran zu erinnern, dass Art. 5 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses auf Ersuchen der Klägerin nicht nur eine Ausnahme für den Erwerb geringfügiger Beteiligungen vorsieht, sondern auch den Ausschluss von privaten Beteiligungen, die im Geschäftsplan und im Budget ihres Geschäftsbereichs „Private Equity“ enthalten waren, sowie von bestimmten Kapitalbeteiligungen, die der Geschäftsbereich „Energie, Rohstoffe und Verkehr“ von ABN Amro im Rahmen seines gewöhnlichen Finanzierungsgeschäfts erworben hatte, sofern diese bereits im Geschäftsplan und im geplanten Budget dieses Geschäftsbereichs enthalten waren.
88 Zwar schlugen der niederländische Staat und die Klägerin im Verwaltungsverfahren die in Rn. 87 wiedergegebene Formulierung der Ausnahme vor. Die Kommission antwortete auf diesen Vorschlag, dass sie bereit sei, weitere Ausnahmen vom Beteiligungsverbot zu prüfen, wenn dargetan würde, dass diese Beteiligungen notwendig seien, um die Rentabilität des Unternehmens sicherzustellen. Die Klägerin entgegnete, dass sie keine bestimmten Geschäfte angeben könne, da dies von der Verfügbarkeit von attraktiven Objekten abhänge, die mit ihrem Portfolio im Private-Banking-Sektor vereinbar seien, und dass sie gerade eine strategische Prüfung ihres Portfolios vornehme. Da jedoch im Rahmen des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes festgestellt worden ist, dass die Kommission durch ihre Forderung, dass ein Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, Beteiligungen zu erwerben, und der Sicherstellung der Rentabilität der Bank bestehen müsse, nicht gegen die Mitteilungen verstoßen und auch keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, stellt dieses Vorgehen der Kommission keine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar, denn die vorgeschlagene Ausnahme ermöglichte es ihr offensichtlich nicht, sicherzugehen, dass die Beihilfe auf das notwendige Minimum beschränkt war.
89 Allgemein gesprochen liegt ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch nicht darin, dass die Ausnahmen von dem Verbot so, wie sie in dem angefochtenen Beschluss formuliert sind, nach Auffassung der Klägerin nicht den Ausgleich ihres Aktivfolios ermöglichen und somit eine befriedigende Arbeitsweise verhindern, während mehrere von ihr vorgeschlagene Formulierungen diesen Ausgleich ermöglicht hätten, denn die Effizienz des begünstigten Unternehmens ist, wie oben in Rn. 60 dargelegt, kein in der Umstrukturierungsmitteilung enthaltenes Kriterium.
90 Zu der Frage, ob die Kommission eine Beschränkung des Bilanzwachstums der Klägerin hätte ins Auge fassen können, statt in dem angefochtenen Beschluss ein Beteiligungsverbot anzuordnen, hat die Klägerin eine schriftliche Frage des Gerichts dahin beantwortet, dass diese Maßnahme im Verwaltungsverfahren nicht als alternative Lösung vorgeschlagen worden sei.
91 Zurückzuweisen ist schließlich das Vorbringen der Klägerin, die Kommission habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass die ihr gewährte staatliche Beihilfe ein geringeres Risiko für den Wettbewerb dargestellt habe als die anderen Banken gewährten Beihilfen, da sich der Beihilfebedarf in ihrem Fall unstreitig nicht aus den früheren Tätigkeiten von FBN und ABN Amro N ergeben habe. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieses Vorbringen die Verpflichtung der Kommission zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betrifft und somit rechtswirksam der Geeignetheit des Beteiligungsverbots entgegengehalten werden kann.
92 Zwar räumt die Kommission namentlich im 320. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ein, dass FBN und ABN Amro N die ihnen gewährte Beihilfe nicht deshalb benötigt hätten, weil sie fehlerhafte Managemententscheidungen getroffen hätten, und dass die ihnen gewährte Beihilfe somit zu wesentlich geringeren Wettbewerbsverzerrungen geführt habe als Beihilfen, die Finanzinstituten gewährt worden seien, die übermäßige Risiken angehäuft hätten. Sie weist jedoch zu Recht darauf hin, dass der Umstand, dass die Beihilfe kein moralisches Risiko begründe, noch nicht bedeute, dass sie den Wettbewerb nicht verfälsche oder zu verfälschen drohe, wie bereits in Rn. 45 ausgeführt worden ist.
93 Ferner ergibt sich aus den Mitteilungen, dass, auch wenn das Risikoprofil der begünstigten Bank ein wichtiges Kriterium für die Prüfung der Notwendigkeit von Verhaltensmaßregeln ist, auch anderen Faktoren Rechnung getragen werden muss, wie z. B. dem Vorhandensein von strukturellen Maßnahmen. Die Klägerin bestreitet dies nicht.
94 Rn. 38 der Rekapitalisierungsmitteilung, auf die sich die Klägerin selbst beruft, bestimmt dazu eindeutig:
„Der Umfang von Verhaltensmaßregeln wird auf der Grundlage einer Verhältnismäßigkeitsprüfung festgelegt, bei der alle relevanten Faktoren und insbesondere das Risikoprofil der begünstigten Bank berücksichtigt werden.“
95 Folglich ist bei der Prüfung der Zweckmäßigkeit des Erlasses von Verhaltensmaßregeln nicht nur dem Risikoprofil der Bank, sondern auch anderen Faktoren wie z. B. dem Vorhandensein von strukturellen Maßnahmen Rechnung zu tragen.
96 Ferner enthält der Anhang der Rekapitalisierungsmitteilung eine Liste der Indikatoren für die Bewertung des Risikoprofils einer Bank. Wie die Kommission vorträgt, ist das Kriterium des Umfangs der erforderlichen Rekapitalisierung von 2 % oder mehr der risikogewichteten Aktiva der Bank ein wichtiger Indikator.
97 Hinsichtlich der der Klägerin gewährten Beihilfe ergibt sich jedoch aus den Erwägungsgründen 279 und 280 des angefochtenen Beschlusses, dass sie eine Rekapitalisierungsbeihilfe in einer Höhe erhielt, die weit über der Schwelle von 2 % ihrer risikogewichteten Aktiva lag; außerdem erhielt sie eine Liquiditätsbeihilfe von 71,7 Mrd. Euro.
98 Ferner ergab sich der Beihilfebedarf dem 320. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zufolge nach Meinung der Kommission, wie diese mehrfach hervorgehoben hat, nicht „in erster Linie“ aus früheren fehlerhaften Managemententscheidungen. Deshalb war die Kommission der Auffassung, dass die Beihilfe den Markt weniger stören könne als Beihilfen zugunsten von Banken, die übermäßige Risiken angehäuft hatten. Sie hielt daher Veräußerungen von Geschäftsbereichen mit Ausnahme der Veräußerung der Hollandsche Bank-Unie und von IFN Finance, die im Rahmen der Genehmigung des Zusammenschlusses von Amro N und FBN erfolgt waren (siehe oben, Rn. 8), nicht für erforderlich.
99 Außerdem wird im 316. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses bezüglich der anderen Veräußerungen von Geschäftsbereichen, die die Klägerin vor Erlass des angefochtenen Beschlusses vorgenommen hat, auf den Verkauf der Gesellschaften Prime Fund Solutions (PFS) und Intertrust hingewiesen. Diese werden auch im 330. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnt, der zu Abschnitt 6.3.3 betreffend Maßnahmen zur Begrenzung von Wettbewerbsbeschränkungen gehört. Die Kommission macht zu Recht geltend, dass die Veräußerung von PFS als Maßnahme angesehen werden kann, die die Klägerin ergriff, um ihre Rentabilität sicherzustellen. Dies ergibt sich aus dem 308. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, wo es heißt, dass diese Geschäftseinheit aufgrund ihres erheblichen Verlusts im Jahr 2008 infolge des Madoff‑Betrugsfalls eine Gefahr für die Rentabilität darstellte, was die Klägerin auch nicht bestreitet. Was Intertrust angeht, handelte es sich um eine Initiative der Klägerin, die, auch wenn die Kommission ihre Auswirkungen als günstig für den Wettbewerb ansah, nur einen kleineren Geschäftsbereich betraf (72. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Auf das Vorbringen der Klägerin in der Klageschrift, mit dem sie auf die Bedeutung der Veräußerung von Intertrust wegen des Umfangs ihrer Treuhand- und Geschäftsführungsaktivitäten hingewiesen hat, hat die Kommission entgegnet, dass Intertrust einen zweifelhaften Ruf gehabt habe und dass andere Banken ihre Tätigkeiten in demselben Bereich aufgegeben hätten. Auch dies bestreitet die Klägerin nicht. Somit ist offensichtlich nicht nachgewiesen, dass es sich bei der Veräußerung dieser Geschäftsbereiche um strukturelle Abhilfemaßnahmen handelte, durch die die Strenge oder sogar die Notwendigkeit des von der Kommission angeordneten Beteiligungsverbots in Frage gestellt würde.
100 Sonach greift das Vorbringen der Klägerin nicht durch, dass bei Berücksichtigung der Umstände des vorliegendes Falles, namentlich ihres Risikoprofils und des für den Wettbewerb unschädlichen Charakters der Beihilfe, eine weniger strenge Verhaltensmaßregel als das in Rede stehende Beteiligungsverbot gegen sie hätte verfügt werden müssen und dass die Kommission diesen Besonderheiten nicht ausreichend Rechnung getragen habe.
101 Demzufolge hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass die Kommission dadurch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat, dass sie den Umfang des Beteiligungsverbots, wie in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses geschehen, festgelegt hat. Deshalb ist auch der zweite Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum dritten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
102 Die Klägerin führt aus, die Kommission habe dadurch gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, dass sie im vorliegenden Fall ein viel strikteres Beteiligungsverbot angeordnet habe als in anderen Entscheidungen.
103 Zum einen untersagten die allermeisten in derselben Zeit erlassenen einschlägigen Beschlüsse lediglich den Erwerb von Beteiligungen an Finanzinstituten oder konkurrierenden Unternehmen, oder sie beschränkten Beteiligungen, die nicht dem Geschäftsmodell der betroffenen Bank entsprochen hätten. Es handele sich namentlich um folgende Beschlüsse der Kommission: den Beschluss C (2009) 3708 endg. vom 5. Mai 2009 betreffend die staatliche Beihilfe N 244/09 zugunsten der Commerzbank (im Folgenden: Beschluss Commerzbank), den Beschluss C (2009) 9087 endg. vom 18. November 2009 betreffend die staatliche Beihilfe N 428/09 des Vereinigten Königreichs zugunsten der Lloyds Banking Group (im Folgenden: Beschluss Lloyds), den Beschluss C (2009) 8980 endg. vom 18. November 2009 über die staatliche Beihilfe C 18/09 (ex N 360/09), die Belgien der KBC gewährt hat (im Folgenden: Beschluss KBC), den Beschluss C (2009) 2585 endg. korr. vom 31. März 2009 betreffend die Beihilfe C 10/09 (ex N 138/09) der Niederlande zugunsten von ING (im Folgenden: Beschluss ING), den Beschluss C (2009) 1012 endg. vom 14. Dezember 2009 betreffend die staatlichen Beihilfen N 422/09 und N 621/09 des Vereinigten Königreichs zugunsten der Royal Bank of Scotland (im Folgenden: Beschluss RBS), den Beschluss C (2009) 5260 endg. vom 30. Juni 2009 betreffend die staatliche Beihilfe C 17/09 (ex N 265/09) Deutschlands zugunsten von LBBW (im Folgenden: Beschluss LBBW), den Beschluss C (2008) 7388 endg. vom 19. November 2008 betreffend die staatliche Beihilfe C 9/09 (ex NN 49/08, NN 50/08 und NN 45/08) zugunsten von Dexia (im Folgenden: Beschluss Dexia), und den Beschluss C (2009) 8558 endg. vom 4. November 2009 betreffend die staatliche Beihilfe C 32/09 (ex NN 50/09) Deutschlands zugunsten der Sparkasse Köln/Bonn (im Folgenden: Beschluss Sparkasse Köln/Bonn.
104 Zum anderen werde in den meisten einschlägigen Beschlüssen, namentlich in den Beschlüssen Lloyds, ING, RBS und LBBW nur die Übernahme ganzer Unternehmen oder der Erwerb einer Kontrollbeteiligung untersagt. In anderen Beschlüssen, namentlich in dem Beschluss C (2010) 5740 endg. der Kommission vom 17. August 2010 betreffend die Umstrukturierungsbeihilfe N 372/09 des niederländischen Staates zugunsten von Aegon (im Folgenden: Beschluss Aegon) und im Beschluss Sparkasse Köln/Bonn würden nur Beteiligungen von deutlich mehr als 5 % verboten. Kein einschlägiger Beschluss verbiete den Erwerb von mehr als 5 % eines beliebigen Unternehmens, obgleich fast alle anderen betroffenen Finanzinstitute eine erheblich höhere Beihilfe erhalten hätten.
105 Die von dem streitigen Verbot vorgesehenen Ausnahmen änderten nichts an der Feststellung eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, denn Beschlüsse, in denen ein weniger weitgehendes Verbot ausgesprochen werde, enthielten ähnliche Ausnahmen, während in anderen Beschlüssen zusätzliche Ausnahmen vorgesehen seien, darunter solche, die die Kommission trotz des ausdrücklichen Ersuchens der Klägerin abgelehnt habe.
106 Die Anordnung eines so strikten Verbots gegen sie sei umso erstaunlicher, als fast alle anderen Finanzinstitute, gegen die ein ähnliches, aber weniger striktes Verbot verfügt worden sei, sowohl absolut als auch relativ gesehen eine wesentlich höhere Beihilfe erhalten hätten.
107 Ferner wendet sich die Klägerin gegen das Vorbringen der Kommission, dass ihre Situation nicht mit der anderer Banken vergleichbar sei, die ebenfalls gezwungen gewesen seien, strukturelle Maßnahmen zu ergreifen. Ihrer Meinung nach sind diese anderen Banken aus Gründen der langfristigen Rentabilität zum Erlass dieser strukturellen Maßnahmen verpflichtet worden. Im Übrigen weist sie darauf hin, dass auch sie bestimmte Aktiva veräußert habe.
108 Schließlich trägt die Klägerin vor, die Möglichkeit, einen begründeten Antrag auf Genehmigung eines bestimmten Geschäfts zu stellen, sei in vielen anderen Entscheidungen vorgesehen gewesen, die Kommission habe es jedoch trotz ihres ausdrücklichen Ersuchens abgelehnt, diese Möglichkeit in den angefochtenen Beschluss aufzunehmen.
109 Die Kommission trägt vor, dieser Teil des vorliegenden Klagegrundes sei offensichtlich nicht stichhaltig, da jeder Fall einer staatlichen Beihilfe gesondert beurteilt werden müsse und eine Beihilfe wie die, um die es hier gehe, nur dann gewährt werden könne, wenn die drei wesentlichen in der Umstrukturierungsmitteilung aufgeführten Voraussetzungen erfüllt seien, was eine Prüfung anhand des Umstrukturierungsplans und der jeweiligen Verpflichtungen und Bedingungen erfordere, so dass eine einzige Maßnahme nicht isoliert beurteilt werden könne.
110 Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz, bei dem es sich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts handelt, besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
111 Ferner heißt es in Rn. 38 der Umstrukturierungsmitteilung, dass die Kommission, wenn sie im Einzelfall prüft, in welchem Umfang „strukturelle Maßnahmen“ erforderlich sind, um etwaige Wettbewerbsbeschränkungen zu begrenzen, im Sinne des Grundsatzes der Gleichbehandlung alle Maßnahmen berücksichtigen wird, die in Fällen vorgesehen werden, die sich zur gleichen Zeit auf dieselben Märkte bzw. Marktsegmente beziehen. Zwar haben „strukturelle Maßnahmen“ im Allgemeinen weiter gehende Konsequenzen für den Wettbewerb in einer Branche als andere Arten von Maßnahmen. Es gibt aber keinen Grund dafür, die in Rn. 38 der Umstrukturierungsmitteilung vorgeschriebene Prüfung nicht auch auf den Fall zu erstrecken, dass die Kommission Verhaltensmaßregeln mit potenziell erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen wie etwa Beteiligungsverbote anordnet. Insbesondere aufgrund dieser in der Umstrukturierungsmitteilung enthaltenen Erwägungen kann die Rüge des Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht von vornherein als gegenstandslos zurückgewiesen werden.
112 Die Schwierigkeit liegt jedoch in der Frage, ob Entscheidungen, durch die staatliche Beihilfen im Bankensektor aufgrund eines Umstrukturierungsplans unter verschiedenen Bedingungen genehmigt werden, im Sinne der in Rn. 110 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung vergleichbar sind.
113 Denn wie die Kommission zu Recht geltend macht, kann eine Beihilfe wie die, um die es hier geht, nur genehmigt werden, wenn die in der Umstrukturierungsmitteilung genannten grundlegenden Voraussetzungen erfüllt sind. Dies erfordert eine umfassende Prüfung der Entscheidungen der Kommission anhand des Umstrukturierungsplans und der jeweiligen Verpflichtungen und Bedingungen, so dass der Vergleich zwischen in verschiedenen Entscheidungen angeordneten Einzelmaßnahmen besonders riskant ist. Wenn sich auch nicht ausschließen lässt, dass man die in verschiedenen Entscheidungen enthaltenen konkreten Umstrukturierungsmaßnahmen und Bedingungen abstrakt miteinander vergleichen kann, müssen die Umstrukturierung eines Unternehmens und die Bedingungen, unter denen die Beihilfe gewährt wird, auf dessen interne Probleme ausgerichtet sein, und die Erfahrungen, die andere Unternehmen in anderem Zusammenhang gemacht haben, müssen nicht unbedingt relevant sein (vgl. in diesem Sinne und entsprechend das oben in Rn. 31 angeführte Urteil Alitalia/Kommission, Rn. 478 und die dort angeführte Rechtsprechung).
114 Für den Fall, dass das Gericht zu prüfen hat, ob die Sachverhalte, die den anderen von der Klägerin angeführten Beschlüssen der Kommission zugrunde lagen, mit ihrer eigenen Situation vergleichbar sind, obliegt die Beweislast ohnehin der Klägerin.
115 Was die von der Klägerin angeführten Beschlüsse angeht, handelt es sich erstens um diejenigen, in denen sich das Verbot des Erwerbs von Beteiligungen nur auf Unternehmen derselben Branche bezieht, namentlich um die Beschlüsse Commerzbank, Lloyds, KBC, ING, RBS, LBBW, Dexia und Sparkasse Köln/Bonn.
116 Dazu ist zunächst festzustellen, dass alle diese Banken auch dann, wenn sie in derselben Branche tätig sind wie die Klägerin, doch besondere Merkmale aufweisen und in einem bestimmten Umfeld arbeiten. Sie alle legten der Kommission einen Umstrukturierungsplan vor, von dem nicht feststeht, dass er dieselben Merkmale aufwies wie der Plan der Klägerin. Dies schließt die Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen aus.
117 Zudem wurden alle diese Banken, wie die Kommission vorträgt, zu Bilanzreduzierungen und die meisten von ihnen zur Veräußerung bestimmter Geschäftsbereiche verpflichtet. Dieser Umstand kann offensichtlich einen Einfluss auf die Strenge der akzeptierten Verhaltensmaßregeln haben, was ebenfalls ihre Vergleichbarkeit mit dem vorliegenden Sachverhalt in Frage stellt.
118 Zwar wurden, wie die Klägerin vorgetragen hat, einige dieser strukturellen Maßnahmen diesen anderen Banken auferlegt, um ihre Rentabilität sicherzustellen. Gleichwohl wurden ihnen die Veräußerungen in einigen Fällen offensichtlich auch in dem Bemühen um Ausgleich oder Begrenzung der Wettbewerbsbeschränkungen vorgeschrieben. Unter diesem Gesichtspunkt bilden die Beschlüsse Commerzbank, Lloyds, KBC, ING, RBS, LBBW, Dexia, Sparkasse Köln/Bonn und Aegon Beispiele für Entscheidungen, in denen anders als im Fall der Klägerin strukturelle Maßnahmen insbesondere zur Begrenzung der Gefahren einer Wettbewerbsverzerrung vorgeschrieben wurden.
119 Im Übrigen ist der für diese anderen Banken akzeptierte Umfang der Verbote nicht immer so begrenzt wie die Klägerin behauptet. Für bestimmte Banken beschränkt sich das Verbot auf den Erwerb von Beteiligungen an Gesellschaften, die in derselben Branche tätig sind. Gleichwohl dürfen die begünstigten Banken nach den von der Klägerin angeführten Beschlüssen Lloyds und RBS keine Beteiligungen an Finanzinstituten oder über ihr Geschäftsmodell hinausgehende Beteiligungen erwerben. Desgleichen bezieht sich das im Beschluss Aegon enthaltene Verbot auf „business entities“ (Geschäftseinheiten), ein Begriff, der auch Unternehmen außerhalb des Finanzsektors bezeichnet.
120 Ferner verweist die Kommission in Beantwortung des Vorbringens der Klägerin auf ihren Beschluss C (2010) 202 endg. korr. vom 15. September 2010 über die staatliche Beihilfe C 26/09 (ex N 289/09) Lettlands zugunsten der AS Parex banka und auf ihren Beschluss C (2011) 2262 endg. vom 31. März 2011 betreffend die staatliche Beihilfe SA.32745 (2011/NN) Österreichs zugunsten der Kommunalkredit Austria AG, die andere Beispiele von Beteiligungsverboten enthielten, die sich auf Unternehmen außerhalb des Finanzsektors bezögen.
121 Was den Umstand angeht, dass die Beschlüsse Lloyds, KBC, ING, RBS und LBBW nur den Erwerb von ganzen Unternehmen oder eine Beteiligung von deutlich mehr als 5 % beträfen, bezogen sich die in diesen Beschlüssen enthaltenen Verbote zwar auf den Erwerb ganzer Unternehmen und nicht nur eines Teils ihres Kapitals. Dies trifft auch auf den Beschluss Commerzbank zu. Im Übrigen bezieht sich der Beschluss Aegon auf den Erwerb von Beteiligungen von 20 % oder mehr an anderen Geschäftseinheiten. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sich das in den Beschlüssen C (2010) 6202 endg. korr. und C (2011) 2262 endg. ausgesprochene Verbot auf alle Beteiligungen erstreckt. Somit wird das Vorbringen der Klägerin, dass gegen keine andere Bank ein so striktes Verbot ausgesprochen worden sei, zumindest durch zwei der von ihr angeführten Beschlüsse in Frage gestellt.
122 Was zweitens die Beschlüsse betrifft, die weiter gehende Ausnahmen enthalten als die, die der Klägerin zugestanden wurden, beruft sich diese insbesondere auf den Beschluss Aegon. Dieser Beschluss enthält eine Ausnahme von dem Verbot für den Erwerb „von Beteiligungen an Management-, Dienstleistungs- und IT‑Gesellschaften zur Erhöhung der Effizienz der derzeitigen Tätigkeiten“, um die die Klägerin ersucht hatte, die die Kommission ihr aber unter Hinweis auf das Erfordernis, sicherzustellen, dass die Beteiligungen für die Gewährleistung der Rentabilität des Unternehmens notwendig waren, verweigert hatte. Zum Umfang der Ausnahme im Fall Aegon verweist die Kommission darauf, dass dieses Unternehmen eine Bilanzreduzierung von ungefähr 6 % erlitten habe und bestimmte Tätigkeitsbereiche habe aufgeben müssen. Auf die Frage des Gerichts, ob Aegon die Ausnahme für den Erwerb „von Beteiligungen an Management-, Dienstleistungs- und IT‑Gesellschaften“ gegen Vorlage des Nachweises ihrer Notwendigkeit für die Rentabilität dieses Unternehmens gewährt wurde, hat die Kommission erklärt, dass dessen Umstrukturierungsplan einen Hinweis auf die Erhöhung der Effizienz der bestehenden Tätigkeiten enthalten habe und dass ihre Dienststellen die bezeichnete Ausnahme in diesem Zusammenhang gesehen hätten, wie sich aus dem 119. Erwägungsgrund des Beschlusses Aegon ergebe. Auch sei anders als in Art. 5 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses keine allgemeine Ausnahme für geringfügige Übernahmen zugunsten von Aegon vorgesehen gewesen. Diese Tatsachen genügen, um eine Vergleichbarkeit des Falles Aegon mit der Situation der Klägerin zu verneinen.
123 Was schließlich den Umstand angeht, dass der angefochtene Beschluss die Möglichkeit, die Kommission um Genehmigung des Erwerbs bestimmter Beteiligungen zu ersuchen, nicht ausdrücklich vorsieht, ist auf die in den Rn. 64 bis 67 des vorliegenden Urteils vorgenommene Prüfung des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes zu verweisen, die ergeben hat, dass diese Rüge nicht durchgreift.
124 Demzufolge ist der dritte Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum vierten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV
125 Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, die Kommission habe den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und die Verpflichtung, den angefochtenen Beschluss rechtlich hinreichend zu begründen, dadurch verletzt, dass sie sich in diesem Beschluss darauf beschränkt habe, bei der Prüfung der Notwendigkeit eines Beteiligungsverbots auf die in der Umstrukturierungsmitteilung genannten Grundsätze zu verweisen.
126 Erstens könne eine Verweisung auf die Umstrukturierungsmitteilung, die nur solche Beteiligungsverbote betreffe, die möglicherweise zu Wettbewerbsverzerrungen führten, nicht das ihr auferlegte strikte Verbot rechtfertigen. Zweitens hätte die Kommission prüfen und erklären müssen, warum ein so striktes Verbot nötig gewesen sei und warum keine weniger strikten alternativen Lösungen ins Auge gefasst worden seien. Drittens habe die Kommission bei der Anwendung der Mitteilungen, insbesondere der Umstrukturierungsmitteilung, eine verstärkte Begründungspflicht, weil diese Mitteilungen zur Formulierung einer neuen Politik geführt hätten. Viertens habe die Kommission der besonderen Situation der Klägerin nicht Rechnung getragen. Fünftens sei die Begründung der Notwendigkeit des Verbots des Erwerbs von Beteiligungen nicht angemessen und gebe die Gründe für die Notwendigkeit dieser Maßnahme nicht klar und eindeutig an. Sechstens hätte die Kommission eine Marktanalyse und eine Untersuchung der Wettbewerbsprobleme vornehmen müssen, um das Beteiligungsverbot zu rechtfertigen.
127 Die Kommission trägt vor, sie habe den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung berücksichtigt, und der angefochtene Beschluss sei rechtlich hinreichend begründet.
128 Zu dem in erster Linie gerügten Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung ist darauf hinzuweisen, dass zu den Garantien, die durch die Rechtsordnung der Union in Verwaltungsverfahren gewährt werden, u. a. der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung gehört, der die Verpflichtung des zuständigen Organs umfasst, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 21. November 1991, Technische Universität München, C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14).
129 Aus dem umfangreichen in den Akten ausführlich dokumentierten Meinungsaustausch zwischen der Kommission, dem niederländischen Staat und der Klägerin über das Beteiligungsverbot ergibt sich eindeutig, dass die Kommission alle relevanten Gesichtspunkte des vorliegenden Falles sorgfältig und unparteiisch untersucht hat.
130 Zwar sah die Kommission auf Ersuchen des niederländischen Staates und der Klägerin Ausnahmen vom Beteiligungsverbot vor, sie ging jedoch nicht von ihrem Standpunkt ab, dass sich dieses Verbot auf alle Arten von Unternehmen und auf den Erwerb von Beteiligungen an Gesellschaften von 5 % oder mehr beziehen müsse. Dieser Standpunkt beruht jedoch, wie sich namentlich aus der Prüfung des ersten Teils des vorliegenden Klagegrundes ergibt, auf ihrer Überzeugung, dass der Grundsatz der Beschränkung der staatlichen Beihilfe auf das strikte Minimum es ihr nicht ermögliche, eine flexiblere Haltung einzunehmen und insbesondere die von der Klägerin vorgeschlagenen Formulierungen der Ausnahmen zu akzeptieren. Hinzuzufügen ist, dass die Kommission der Klägerin vorschlug, genauer darzulegen, welche Arten von Beteiligungen sie als für die Sicherstellung ihrer Rentabilität notwendig ansah, wozu die Klägerin, wie sich aus dem Akteninhalt ergibt, jedoch nicht in der Lage war.
131 Zu der in zweiter Linie geltend gemachten Verletzung der Begründungspflicht ist darauf hinzuweisen, dass der Umfang der in Art. 296 AEUV geregelten Begründungspflicht nach ständiger Rechtsprechung von der Natur des fraglichen Rechtsakts und dem Kontext seines Erlasses abhängt. Die Begründung muss die Überlegungen des Organs, das den Akt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass zum einen der Unionsrichter die ihm obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle wahrnehmen kann und es zum anderen den Betroffenen möglich ist, die Gründe für die getroffene Maßnahme zu erkennen, damit sie ihre Rechte verteidigen und prüfen können, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen von Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C-367/95 P, Slg. 1998, I-1719, Rn. 63, und Urteil des Gerichts vom 30. November 2011, Sniace/Kommission, T‑238/09, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 37).
132 Insbesondere braucht die Kommission nicht auf alle Argumente einzugehen, die die Betroffenen vor ihr geltend gemacht haben. Es reicht aus, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführt, denen in der Systematik der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukommt (Urteil des Gerichtshofs vom 1. Juli 2008, Chronopost und La Poste/UFEX u. a., C-341/06 P und C-342/06 P, Slg. 2008, I-4777, Randnr. 96, und Urteil des Gerichts vom 3. März 2010, Freistaat Sachsen u. a./Kommission, T-102/07 und T-120/07, Slg. 2010, II-585, Randnr. 180).
133 Zur Natur des Rechtsakts, um den es hier geht, und zum Kontext, in dem er erlassen wurde, ist bereits im Rahmen des ersten bis dritten Teils des vorliegenden Klagegrundes festgestellt worden, dass eine Verhaltensmaßregel nicht isoliert untersucht werden kann, da nur die Gesamtheit der der Bank auferlegten Bedingungen und der Umstrukturierungsplan der Kommission die Feststellung ermöglichen, dass die Beihilfe die in den Mitteilungen aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, den Erfordernissen von Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV genügt und folglich mit dem Binnenmarkt vereinbar ist.
134 Der Frage, welche konkreten Konsequenzen sich aus diesem Kontext für die Verpflichtung der Kommission ergeben, im Einzelnen zu begründen, warum sie bestimmte Maßnahmen oder Bedingungen vorschreibt, braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden. Festzustellen ist, dass die Kommission die Notwendigkeit des Beteiligungsverbots in den oben in Rn. 36 wiedergegebenen Erwägungsgründen 309 bis 314 des angefochtenen Beschlusses rechtlich hinreichend begründet hat.
135 Zwar ist diese Begründung, wie die Klägerin geltend macht, relativ knapp und besteht zum großen Teil in einer Wiederholung der in der Umstrukturierungsmitteilung enthaltenen Grundsätze. Sie bringt jedoch entgegen dem Vorbringen der Klägerin im Einklang mit der oben in Rn. 131 angeführten Rechtsprechung die Überlegungen der Kommission klar und eindeutig zum Ausdruck, namentlich, weil diese einen in dieser Mitteilung aufgeführten Grundsatz angewandt hat.
136 Zwar wurden die von der Klägerin vorgeschlagenen Alternativmaßnahmen in dem angefochtenen Beschluss nicht geprüft. Aus dessen Begründung ergibt sich jedoch, dass eine strikte Anwendung der genannten Grundsätze notwendig war, wodurch flexiblere alternative Lösungen ausgeschlossen waren. Abgesehen davon, dass die Kommission nach der oben in Rn. 132 angeführten Rechtsprechung ohnehin nicht auf alle Argumente einzugehen braucht, ist der Meinungsaustausch zwischen ihr, dem niederländischen Staat und der Klägerin zu berücksichtigen, in dem die Kommission klar zum Ausdruck brachte, weshalb bestimmte vorgeschlagene Lösungen für sie nicht in Frage kamen.
137 So kann beispielshalber auf die Antwort der für diese Angelegenheit zuständigen Mitarbeiter der Kommission auf die Formulierung der von der Klägerin vorgeschlagenen Maßnahmen in der Fassung vom 6. September 2010 verwiesen werden. Dort wird zum einen erklärt, dass eine Beschränkung des Verbots auf den Erwerb einer Kontrollbeteiligung an anderen Unternehmen zwar wünschenswerte Beteiligungen ermöglichen würde, dass die Kommission jedoch nur solche Beteiligungen akzeptieren könne, die für die Sicherstellung der Rentabilität des Unternehmens notwendig seien, und zum anderen, dass das System der Aufrechnung zwischen den Einkünften aus den Veräußerungen von Aktiva und dem Erwerb von Beteiligungen nicht akzeptabel sei, weil die mit den Verkäufen erzielten Mittel dazu verwendet werden müssten, den Betrag der Beihilfe so weit wie möglich zu verringern. Ebenso geht aus bestimmten zu den Akten genommenen E-Mails hervor, dass die Kommission die Vorschläge der Klägerin zurückwies, die im Wesentlichen dahin gingen, das Verbot unter bestimmten Bedingungen auf den Erwerb von Beteiligungen von mehr als 20 % zu beschränken, sofern sie Kreditinstitute außerhalb der Niederlande beträfen, und Beteiligungen an Management-, Dienstleistungs- und IT‑Gesellschaften in der Absicht, die Effizienz der derzeitigen Tätigkeiten zu erhöhen, von dem Verbot auszuschließen. Dabei wiederholte die Kommission, dass sie nur solche Beteiligungen akzeptieren könne, die nachweislich zur Sicherstellung der Rentabilität des Unternehmens notwendig seien, und dass sie entsprechende Nachweise erwarte bzw. nicht erhalten habe.
138 Bei entsprechender Anwendung der Rechtsprechung, nach der ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet ist, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihn in die Lage versetzte, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann somit im vorliegenden Fall nicht gesagt werden, dass der angefochtene Beschluss nicht rechtlich hinreichend begründet ist, weil die von der Klägerin im Prüfverfahren vorgeschlagenen und von der Kommission abgelehnten Alternativmaßnahmen dort nicht erörtert wurden.
139 Hinsichtlich der Frage, ob die Kommission eine verstärkte Begründungspflicht hatte, weil die Mitteilungen zu der Formulierung einer neuen Politik geführt hätten, nimmt die Klägerin offenbar auf die Rechtsprechung Bezug, wonach eine Entscheidung der Kommission, die sich in eine ständige Entscheidungspraxis einfügt, summarisch, insbesondere unter Bezugnahme auf diese Praxis, begründet werden kann, die Kommission jedoch bei Entscheidungen, die über die früheren Entscheidungen merklich hinausgehen, ihre Erwägungen explizit darzulegen hat (Urteile des Gerichtshofs vom 26. November 1975, Groupement des fabricants de papiers peints de Belgique u. a./Kommission, 73/74, Slg. 1975, 1491, Rn. 31, vom 11. Dezember 2008, Kommission/Département du Loiret, C-295/07 P, Slg. 2008, I-9363, Rn. 44, und vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission, C-521/09 P, Slg. 2011, I-8947, Rn. 155). Diese Rechtsprechung ist jedoch auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sich die Kommission hier keineswegs von einer ständigen Praxis entfernt, sondern ausdrücklich die in den Mitteilungen enthaltenen Grundsätze strikt angewandt hat.
140 Soweit die Klägerin geltend macht, dass das angeordnete Verbot nicht durch eine bloße Verweisung auf die Umstrukturierungsmitteilung begründet werden könne, da diese nur den Erwerb solcher Beteiligungen betreffe, die den Wettbewerb zu beeinträchtigen drohten, handelt es sich um ein Bestreiten der Rechtmäßigkeit der Begründung in der Sache. Dieser Punkt ist im Rahmen des ersten Teils geprüft worden.
141 Zudem findet das Fehlen einer gründlichen Untersuchung der Auswirkungen der Umstrukturierung auf den Bankenmarkt seine Erklärung darin, dass die Kommission das Beteiligungsverbot vor allem damit rechtfertigte, dass diese Maßnahme aufgrund des Grundsatzes der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum erforderlich gewesen sei. Insoweit geht es einmal mehr um den Vergleich zwischen dem angefochtenen Beschluss und dem Beschluss Lloyds, der, wie die Klägerin vorträgt, viel ausführlicher und im Einklang mit den Mitteilungen begründet sei. Abgesehen davon, dass die Ausführungen der Kommission im Beschluss Lloyd nicht wesentlich gründlicher sind als im angefochtenen Beschluss, ist der Umfang der Begründung einer anderen Entscheidung für die gerichtliche Beurteilung der Frage, ob der angefochtene Beschluss rechtlich hinreichend begründet ist, weitgehend unerheblich.
142 Daher sind der vierte Teil des ersten Klagegrundes und damit der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund betreffend die Dauer des Verbots des Erwerbs von Beteiligungen
143 Dieser Klagegrund betrifft Art. 5 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses (oben in Rn. 13). Danach gilt das Verbot des Erwerbs von Beteiligungen für mindestens drei Jahre ab dem Datum des angefochtenen Beschlusses bzw. bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Beteiligung des niederländischen Staates unter 50 % zurückgeht. Das Verbot erlischt jedoch spätestens fünf Jahre nach dem Datum des angefochtenen Beschlusses.
144 Dieser Klagegrund besteht aus fünf Teilen: Erstens verstoße der angefochtene Beschluss dadurch gegen Art. 345 AEUV, dass die Dauer des Beteiligungsverbots an die vom Staat gehaltene Beteiligung geknüpft werde. Zweitens liege ein Verstoß gegen. Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und eine unrichtige Anwendung der Mitteilungen vor. Drittens verstoße der angefochtene Beschluss gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Viertens verstoße er gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, und fünftens verletze er den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV.
Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 345 AEUV dadurch, dass die Dauer des Beteiligungsverbots an die vom Staat gehaltene Beteiligung geknüpft wurde
145 Die Klägerin macht geltend, der angefochtene Beschluss verstoße dadurch gegen Art. 345 AEUV, dass er in Art. 5 die staatliche Beteiligung in Höhe von mindestens 50 % ihrer Aktien mit der Anwendbarkeit des Beteiligungsverbots während höchstens zwei Jahren nach dem ursprünglichen Zeitraum von drei Jahren verknüpfe. Art. 345 AEUV verbiete es der Kommission namentlich, bei ihren Entscheidungen danach zu unterscheiden, ob ein Unternehmen in öffentlichem oder privatem Eigentum stehe. Die Klägerin ist der Meinung, dass das staatliche Eigentum als solches keine staatliche Beihilfe darstelle, und führt aus, die Auffassung, dass das staatliche Eigentum automatisch einen Vorteil begründe, der einer staatlichen Beihilfe gleichkomme, sei nach Art. 345 AEUV rechtlich nicht haltbar.
146 Die Kommission wendet gegen dieses Vorbringen ein, Art. 345 AEUV fordere Neutralität im Hinblick auf das öffentliche oder private Eigentum an einem Unternehmen, verbiete aber nicht jede Ungleichbehandlung.
147 Art. 345 AEUV bestimmt, dass die Verträge die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt lassen.
148 Der Rechtsprechung zufolge führt Art. 345 AEUV nicht dazu, dass die in den Mitgliedstaaten bestehende Eigentumsordnung den Grundprinzipien des Vertrags entzogen ist (Urteil des Gerichtshofs vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, C-503/04, Slg. 2007, I-6153, Rn. 37). Im Übrigen sind die Wettbewerbsregeln des Vertrags als Grundsatzbestimmungen unterschiedslos auf öffentliche und private Unternehmen anwendbar; mithin schränkt diese Bestimmung den Beihilfebegriff im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV nicht ein (vgl. Urteil des Gerichts vom 6. März 2003, Westdeutsche Landesbank Girozentrale und Land Nordrhein-Westfalen/Kommission, T-228/99 und T-233/99, Slg. 2003, II-435, Rn. 193 und 194 und die dort angeführte Rechtsprechung).
149 Nach Auffassung der Klägerin verstößt es gegen diese Bestimmung, die Beendigung des Beteiligungsverbots von dem vermutlichen Zeitpunkt ihrer (teilweisen) Privatisierung abhängig zu machen, denn die Kommission ziehe auf diese Weise Konsequenzen aus der bloßen Tatsache, dass ABN Amro mehrheitlich im Eigentum des Staates stehe. Sie macht nicht geltend, dass die Bestimmungen über die staatlichen Beihilfen unterschiedlich angewandt werden müssten, weil sie im Eigentum des Staates stehe, wohl aber, dass sie deshalb nicht benachteiligt werden dürfe.
150 Dieses Vorbringen greift nicht durch.
151 Wie sich aus dem 312. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses (siehe oben, Rn. 36) ergibt, ist die Kommission nicht der Auffassung, dass der Umstand, dass das Unternehmen weiterhin in staatlichem Eigentum steht, eine staatliche Beihilfe darstellt. Dort heißt es nämlich, dass das Ende der staatlichen Beteiligung eine Ersatzgröße für die Schätzung des Zeitpunkts ist, zu dem der aus der Beihilfe gezogene Vorteil abläuft. Die Kommission glaubte also, die sich aus der Beihilfe, die der niederländische Staat der Klägerin durch die Nationalisierung von FBN und durch die späteren Rekapitalisierungsmaßnahmen gewährt hatte, ergebenden Wirkungen, die ihrer Meinung nach spürbar blieben, solange der Staat eine Mehrheitsbeteiligung an ABN Amro hielt, abmildern zu müssen.
152 Im Übrigen sollte das Beteiligungsverbot nach fünf Jahren enden, selbst wenn der niederländische Staat dann seine Beteiligung nicht auf weniger als 50 % gesenkt hätte.
153 Wie die Kommission jedoch zu Recht geltend macht, besagt Art. 345 AEUV nicht, dass sie an die mehrheitliche Beteiligung des Staates am Kapital eines Unternehmens keine Konsequenzen knüpfen darf, wenn es ihrer Meinung nach objektive Gründe dafür gibt. Von diesen Überlegungen hat sie sich im vorliegenden Fall leiten lassen. Deren sachliche Richtigkeit ist im Rahmen der übrigen Teile des zweiten Klagegrundes im Einzelnen zu untersuchen.
154 Sonach hat die Kommission im angefochtenen Beschluss das Eigentum des Staates nicht mit einer staatlichen Beihilfe gleichgestellt, sondern einen objektiven Grund dafür angegeben, dass die Mehrheitsbeteiligung des Staates an der Bank in diesem Zusammenhang als Bezugspunkt benutzt wird. Von einer Diskriminierung des staatlichen Eigentums kann deshalb keine Rede sein.
155 Der erste Teil des zweiten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und unrichtige Anwendung der Mitteilungen
156 In diesem Teil wird zweierlei gerügt: ein Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und die unrichtige Anwendung der Mitteilungen. Zu beginnen ist mit der Prüfung der zweiten Rüge.
– Zur zweiten Rüge: unrichtige Anwendung der Mitteilungen
157 Die Klägerin führt aus, da der Beihilfebedarf im vorliegenden Fall nicht auf eine Anhäufung übermäßiger Risiken zurückzuführen sei und unter Berücksichtigung ihres sehr niedrigen Risikoprofils seien hier nur begrenzte Verhaltensmaßregeln gerechtfertigt gewesen. Da Rn. 40 der Umstrukturierungsmitteilung eine Verlängerung des Beteiligungsverbots bis zum Ende des Restrukturierungszeitraums vorsehe, sei in ihrem Fall ein länger als drei Jahre dauerndes Verbot nicht hinnehmbar, denn sie sei immer rentabel gewesen und werde im angefochtenen Beschluss als überlebensfähiges Unternehmen anerkannt. Im Übrigen befinde sie sich nach Ablauf dieses Zeitraums nicht in der Umstrukturierung, denn ihre Umstrukturierung sei zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses abgeschlossen gewesen, und der Umstrukturierungsplan von 2009 gelte nur bis 2013. Im Übrigen enthalte das Vorbringen der Kommission, das Beteiligungsverbot müsse so lange gelten, wie die Mehrheitsbeteiligung des Staates eine beruhigende Wirkung auf die Gläubiger und die Einleger ausüben könne, keine Rechtfertigung, die mit der Umstrukturierungsmitteilung in Einklang stehe.
158 Auch bestimme Rn. 40 der Umstrukturierungsmitteilung, dass eine Verhaltensmaßregel nach Reichweite, Höhe und Laufzeit der Beihilfe bis zum Ende des Umstrukturierungszeitraums aufrechterhalten werden könne. In keinem anderen Fall habe das Beteiligungsverbot fünf Jahre gedauert, während sie doch eine wesentlich geringere als die in diesen anderen Fällen gewährte Beihilfe erhalten habe.
159 Außerdem habe die Kommission in Rn. 14 der Umstrukturierungsmitteilung selbst eingeräumt, dass der AEU-Vertrag hinsichtlich des öffentlichen oder privaten Eigentums neutral sei; deshalb verstoße es gegen den Vertrag, Rechtsfolgen daran zu knüpfen, dass das Kapital einer Bank weiterhin von der öffentlichen Hand gehalten werde.
160 Schließlich führt die Klägerin aus, die von der Kommission vorgebrachte Einrede der Unzulässigkeit sei unbegründet.
161 Die Kommission entgegnet wie schon im Rahmen des ersten Klagegrundes, dass der Teil des Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV gerügt wird, nicht substantiiert und deshalb unzulässig sei. Im Übrigen sei das Vorbringen der Klägerin in der Sache selbst unbegründet, denn die Dauer der Verhaltensmaßregeln müsse auch anhand des Grundsatzes beurteilt werden, dass die Beihilfe auf das notwendige Minimum zu beschränken sei.
162 Vorab ist zu bemerken, dass einige Argumente der Klägerin bereits geprüft wurden und zurückzuweisen sind. Dies gilt für das Vorbringen, dass ihr aufgrund ihres Risikoprofils nur solche Verhaltensmaßregeln vorgeschrieben werden dürften, die sowohl hinsichtlich ihrer Tragweite als auch hinsichtlich ihrer Dauer wenig einschränkend seien. Dieses Vorbringen ist bereits oben in den Rn. 91 bis 100 geprüft worden, wo ausgeführt worden ist, dass die Auffassung der Klägerin nuanciert werden muss. Insbesondere ist nicht erwiesen, dass die Kommission die Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht berücksichtigt hat, denn die Klägerin erhielt eine sehr hohe Beihilfe, ohne dass eine strukturelle Maßnahme angeordnet wurde. Im Übrigen wird der Vergleich mit Beteiligungsverboten, die in derselben Zeit in anderen Fällen angeordnet wurden, im Rahmen des dritten Teils untersucht werden.
163 Zum Vorbringen der Klägerin betreffend die Berücksichtigung der Rn. 14 der Umstrukturierungsmitteilung, wonach die Beihilfevorschriften in Anbetracht der eigentumsrechtlichen Neutralität des Vertrags unabhängig davon gelten, ob eine Bank in privatem oder öffentlichem Eigentum steht, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung lediglich den Grundsatz von Art. 345 AEUV wiederholt, so dass dieses Vorbringen aus denselben Gründen zurückzuweisen ist wie der erste Teil des zweiten Klagegrundes.
164 Die hauptsächliche Rüge der Klägerin betrifft konkret die Nichtbeachtung der Mitteilungen; dazu ist oben in Rn. 31 auf das Ermessen hingewiesen worden, über das die Kommission den Mitteilungen zufolge hinsichtlich der Bedingungen verfügt, die vorliegen müssen, damit sie eine Beihilfemaßnahme, die eine beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats behebt, für mit Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV vereinbar erklären kann, insbesondere wenn diese in strukturellen Maßnahmen oder Verhaltensmaßregeln besteht. Das Vorliegen eines solchen Ermessens, das Ausdruck des Spielraums ist, über den die Kommission bei der Beurteilung der Vereinbarkeit einer Beihilfemaßnahme verfügt, muss bei der Untersuchung der auf einen Verstoß gegen die Mitteilungen gestützten Rügen berücksichtigt werden, da die Kommission die Vereinbarkeit einer Beihilfe aufgrund einer Gesamtheit von Maßnahmen und Bedingungen unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls beurteilen muss.
165 Bezüglich der Dauer des Beteiligungsverbots wird im 311. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses (siehe oben, Rn. 36) auf Rn. 40 der Umstrukturierungsmitteilung verwiesen.
166 Danach sollte ein Beteiligungsverbot, das angeordnet wird, um Wettbewerbsverzerrungen zu begrenzen, mindestens drei Jahre gelten und gegebenenfalls je nach Reichweite, Höhe und Laufzeit der Beihilfe bis zum Ende des Umstrukturierungszeitraums aufrechterhalten werden.
167 Im 312. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses (siehe oben, Rn. 36) fügte die Kommission allerdings hinzu, dass die Verlängerung des Verbots über drei Jahre hinaus dadurch gerechtfertigt sei, dass, auch wenn ein Teil der Beihilfe bereits zurückgezahlt worden sei, bestimmte Beihilfemaßnahmen aufgrund der Form, in der sie gewährt worden seien, nicht von ABN Amro zurückgezahlt werden könnten. Wie im Rahmen des ersten Teils ausgeführt worden ist, weist die Kommission ferner darauf hin, dass das Ende der Mehrheitsbeteiligung des Staates eine Ersatzgröße für die Schätzung des Zeitpunkts sei, zu dem der aus der Beihilfe gezogene Vorteil ende; das Verbot werde jedoch keinesfalls länger als fünf Jahre gelten.
168 Die Klägerin stellt keineswegs in Abrede, dass ein Beteiligungsverbot nach dieser Bestimmung für einen Zeitraum von drei Jahren angeordnet werden kann, meint jedoch, dass dies die Höchstdauer des Verbots hätte sein müssen, insbesondere deshalb, weil sie sich über diesen Zeitpunkt hinaus nicht in der Umstrukturierung befunden habe.
169 Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, sieht die Umstrukturierungsmitteilung keine genaue Befristung für die Beteiligungsverbote vor, die mit dem Ziel der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum angeordnet werden. Daraus, dass sich Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung auf die Umstrukturierung des Begünstigten bezieht, lässt sich allerdings herleiten, dass diese Maßnahme so lange berechtigt ist, wie dieser Kontext gegeben ist. Die in Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung aufgestellte Regel entspricht somit der, die in Rn. 40 (siehe oben, Rn. 166) enthalten ist, auf die in den Erwägungsgründen 311 und 312 des angefochtenen Beschlusses verwiesen wurde. Dort heißt es, dass bestimmte Beteiligungsverbote „nach Reichweite, Höhe und Laufzeit der Beihilfe bis zum Ende des Umstrukturierungszeitraums aufrechterhalten werden“ können. Deshalb ist zu prüfen, ob die Dauer des in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses angeordneten Verbots der in Rn. 23 der Umstrukturierungsmitteilung enthaltenen Regel in der soeben gegebenen Auslegung entspricht.
170 Diesbezüglich beschreibt die Kommission in den Erwägungsgründen 76 bis 92 des angefochtenen Beschlusses den Inhalt des Umstrukturierungsplans von Dezember 2009 und der aktualisierten Fassung dieses Plans von November 2010. Die Klägerin hat also Recht mit ihrer Feststellung, dass die finanziellen Hochrechnungen dieses Umstrukturierungsplans nicht über 2013 hinausgehen.
171 Aus dem 312. Erwägungsgrund und Art. 5 des angefochtenen Beschlusses ergibt sich jedoch, dass das Ende der Anwendung der streitigen Maßnahme hier nicht so sehr durch den in den verschiedenen Umstrukturierungsplänen festgelegten Zeitraum der Umstrukturierung der Bank gekennzeichnet ist als vielmehr durch die Senkung der Beteiligung des niederländischen Staates unter eine Schwelle von 50 % der Aktien.
172 In dem angefochtenen Beschluss wird das Ende der Anwendung des fraglichen Verbots auch nicht unmittelbar an das Ende der Gewährung der Beihilfe geknüpft. Vielmehr ergibt sich aus der im 312. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erläuterten Natur der gewährten Beihilfe, bei der es sich um eine Rekapitalisierungsbeihilfe handelt, dass sie teilweise nicht zurückgezahlt werden kann, was die Klägerin nicht bestreitet. Deshalb lässt sich im vorliegenden Fall kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Dauer des Beteiligungsverbots und einem eventuellen Zeitpunkt der Rückzahlung der Beihilfe herstellen, den man als den Endpunkt der Gewährung der Beihilfe ansehen könnte.
173 In diesem Zusammenhang hat die Kommission vor dem Gericht auch auf den 139. Erwägungsgrund des Beschlusses C (2010) 726 endg. vom 5. Februar 2010 verwiesen, der im 23. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnt wird. Dort erstreckte die Kommission das mit Beschluss vom 8. April 2009 eingeleitete förmliche Prüfverfahren auf bestimmte neue Maßnahmen. In diesem Erwägungsgrund, der auf den 138. Erwägungsgrund dieses Beschlusses folgt, wo auf die Notwendigkeit eines Beteiligungsverbots zur Begrenzung der Wettbewerbsverzerrungen hingewiesen wird, heißt es, dass die Öffentlichkeit und namentlich die Einleger aufgrund des wiederholten und massiven Eingreifens des niederländischen Staates zugunsten von FBN und ABN Amro N den Eindruck gewinnen könnten, dass der niederländische Staat beim Auftreten von Schwierigkeiten erneut eingreifen werde. Die Kommission fügt in diesem Erwägungsgrund hinzu, dass die Verbraucher das neue Unternehmen ABN Amro für eine sehr sichere Bank halten könnten, was die Einwerbung von Einlagen für die Gruppe erleichtern könnte.
174 Vergleichbare Erwägungen finden sich in Fn. 89 des angefochtenen Beschlusses, die sich in die Erörterung der Frage nach dem Vorliegen einer staatlichen Beihilfe einfügt. Dort wird auf Marketinginformationen für ausländische Anleger verwiesen, in denen FBN im Jahr 2009 darauf hinwies, dass sie als Bank in staatlichem Eigentum den Vorteil biete, das Vertrauen von Einlegern und Gläubigern zu verdienen.
175 Somit konnte die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerin unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles zu Recht den Augenblick, in dem der niederländische Staat keine Mehrheitsbeteiligung an ABN Amro mehr hielt, als den ungefähren Zeitpunkt ansehen, zu dem der sich aus der Beihilfe ergebende Vorteil endete, der durch den Kontext der Restrukturierung gerechtfertigt war. Unter Berücksichtigung der Ausführungen in Rn. 169 des vorliegenden Urteils war die Kommission somit berechtigt, in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses auf die Mehrheitsbeteiligung des niederländischen Staates am Kapital von ABN Amro abzustellen. Zudem ergibt sich aus dem zu den Akten genommenen Schriftwechsel, dass die Klägerin selbst wiederholt während des Verfahrens den Augenblick der Beendigung der Mehrheitsbeteiligung des Staates als entscheidenden Augenblick für das Ende der Anwendung anderer Verhaltensmaßregeln wie des Werbeverbots oder der Dividendenpolitik ansah.
176 Da die Dauer des Beteiligungsverbots angesichts der Bedeutung der Konsequenzen der staatlichen Beteiligung auf fünf Jahre festgesetzt wurde, war es völlig angemessen, die Strategie des niederländischen Staates für seinen Rückzug aus dem Kapital von ABN Amro zu berücksichtigen. Die Kommission beschrieb diese in den Erwägungsgründen 87 und 88 des angefochtenen Beschlusses. Danach erklärte der niederländische Staat in mehreren Schreiben, dass er die IPO (Initial public offering, erstes Angebot der Anteile eines Unternehmens auf dem Kapitalmarkt) als hauptsächliche Ausstiegstrategie aus dem Kapital von ABN Amro gewählt habe. Die Platzierung einer ersten Tranche ihrer Aktien in einer Spanne von [vertraulich] bis [vertraulich] % könne frühestens [vertraulich] ins Auge gefasst werden, während das Angebot einer zweiten Tranche von [vertraulich] bis [vertraulich] % auf dem Markt im Jahr 2015 folgen könne. Ferner wird präzisiert, dass der niederländische Staat beabsichtige, seinen Anteil vor Ende [vertraulich] auf höchstens [vertraulich] % zu senken, und dass er schließlich ganz aus dem Kapital von ABN Amro ausscheiden wolle. All dies hänge letztlich von den Marktbedingungen und davon ab, ob sich ABN Amro für ein öffentliches Zeichnungsangebot eigne. Die geplante Ausstiegsstrategie bezieht sich also eindeutig auf einen Zeitraum von mindestens vier Jahren seit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses im April 2011.
177 Im Übrigen findet sich die Dauer von fünf Jahren, wie die Kommission zu Recht bemerkt hat, in der Umstrukturierungsmitteilung, die den Rahmen für die Anordnung des Beteiligungsverbots im angefochtenen Beschluss bildet. Dies ergibt sich z. B. aus ihrem Abschnitt 6.3 („Bewertung der Vereinbarkeit der Beihilfe und des Umstrukturierungsplans von Dezember 2009 sowie des aktualisierten Umstrukturierungsplans von November 2010 mit der Umstrukturierungsmitteilung“). So ist namentlich in Rn. 37 dieser Mitteilung von einer Frist von höchstens fünf Jahren die Rede, die Banken in bestimmten Fällen für die Durchführung bestimmter struktureller Maßnahmen der Veräußerung und Verkleinerung von Geschäftsbereichen gewährt werden kann.
178 Ferner findet sich, auch wenn die Klägerin nachdrücklich bestreitet, der Festsetzung einer Höchstdauer von fünf Jahren für das Beteiligungsverbot zugestimmt zu haben, dieselbe Anwendungshöchstdauer an anderen Stellen des angefochtenen Beschlusses. So betrifft Art. 6 das an die Klägerin gerichtete Verbot, damit zu werben, dass sie sich in staatlichem Eigentum befindet, und in ihrem Informationsaustausch mit gegenwärtigen oder potenziellen Kunden darauf hinzuweisen. Dieses Verbot gilt „für einen Zeitraum von drei Jahren ab dem Datum dieses Beschlusses bzw. bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Beteiligung des niederländischen Staates an der ABN AMRO Gruppe unter 50 % zurückgeht, je nachdem, welcher Zeitpunkt später eintritt“. Weiter heißt es: „Das Verbot erlischt spätestens fünf Jahre nach dem Datum dieses Beschlusses.“
179 Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kommission durch die Festsetzung einer Höchstdauer von fünf Jahren für das streitige Beteiligungsverbot gegen die Mitteilungen, namentlich die Umstrukturierungsmitteilung verstoßen hat.
– Zur ersten Rüge: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV
180 Diese Rüge ist aus den in den Rn. 68 bis 70 des vorliegenden Urteils im Rahmen der Prüfung des ersten Teils des ersten Klagegrundes dargelegten Gründen zulässig, aber unbegründet.
181 Aus alledem ergibt sich, dass der zweite Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen ist.
Zum dritten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
182 Die Klägerin führt aus, die Kommission habe dadurch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, dass sie die Dauer des Verbots wie in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses vorgesehen festgesetzt habe. In anderen Beschlüssen der Kommission enthaltene Beteiligungsverbote seien kürzer und betrügen in den meisten Fällen drei Jahre ohne Verlängerungsmöglichkeit. Im Übrigen stehe die außergewöhnlich lange Dauer des ihr auferlegten Beteiligungsverbots im Widerspruch dazu, dass die ihr gewährte Beihilfe wesentlich niedriger sei als die, die den meisten anderen begünstigten Banken gewährt worden sei. In den Beschlüssen Lloyds und RBS, auf die sich die Kommission vor dem Gericht berufen hat, habe die angeordnete Beschränkung nicht nur eine begrenztere Tragweite gehabt, sondern sei an den Abschluss der im Rahmen der Restrukturierung dieser beiden Unternehmen angeordneten Maßnahmen geknüpft gewesen.
183 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und erinnert namentlich daran, dass ihre Situation nicht automatisch mit der anderer Banken verglichen werden könne, die strukturelle Maßnahmen anwenden oder eine höhere Vergütung zahlen müssten oder beides.
184 Wie bereits bei der Prüfung des ersten Klagegrundes ausgeführt, ist es schwierig, bei Entscheidungen, durch die Banken anlässlich der Finanzkrise staatliche Beihilfen gewährt wurden, Situationen auszumachen, die wirklich vergleichbar sind. Deshalb ist der Klägerin darin Recht zu geben, dass ein Vergleich der Dauer des Verbots, Beteiligungen zu erwerben, wenig hergibt, da die Kommission eine umfassende Untersuchung jedes Einzelfalls vornimmt (vgl. u. a. Rn. 113 des vorliegenden Urteils).
185 Im Übrigen ist oben in Rn. 114 darauf hingewiesen worden, dass, sofern das Gericht die in verschiedenen Beschlüssen enthaltenen Bedingungen miteinander vergleichen könnte, jedenfalls die Klägerin den Nachweis dafür zu erbringen hätte, dass die in Rede stehenden Situationen vergleichbar sind oder dass verschiedene Sachverhalte vorliegen, auf die dieselbe Lösung angewandt wurde.
186 Was andere in derselben Zeit ergangene Entscheidungen angeht, ist mit der Kommission festzustellen, dass auch die Beschlüsse Lloyds und RBS ein Beteiligungsverbot enthalten, dessen Geltungsdauer über die in Rn. 40 der Umstrukturierungsmitteilung genannte „normale“ Dauer von drei Jahren hinausgeht. Dieser Umstand widerlegt die Behauptung der Klägerin, dass den anderen Banken ein Verbot von höchstens drei Jahren auferlegt worden sei.
187 In Rn. 108 des Beschlusses RBS wird auf das Ablaufdatum nach drei Jahren bzw. den Zeitpunkt, zu dem der letzte operationelle Tätigkeitsbereich veräußert wird, abgestellt, wobei das spätere Datum gilt. Der Beschluss Lloyds enthält eine ähnliche Formulierung, nur wurde die genaue Beschreibung des entscheidenden Ereignisses, von dem alternativ zu der Mindestdauer von drei Jahren ausgegangen wurde, aus Gründen der Vertraulichkeit unkenntlich gemacht. Aus dem Vorbringen der Kommission wird jedoch ersichtlich, dass es sich auch in diesem Fall um den Zeitpunkt der Durchführung bestimmter struktureller Maßnahmen handelte.
188 Die Klägerin macht insbesondere geltend, der Umstand, dass die Dauer in diesen beiden Beschlüssen an die Durchführung struktureller Maßnahmen geknüpft werde, mache die von ihr erlittene Diskriminierung umso deutlicher, da ihr nur Verhaltensmaßregeln auferlegt worden seien.
189 Wie die Kommission erläutert, waren die beiden Banken, um die es hier geht, jedoch zu Veräußerungen gezwungen, und dies im Rahmen einer Verpflichtung zur Verringerung der Auswirkungen der Beihilfe auf den Wettbewerb und nicht im Sinne von Maßnahmen zur Wiederherstellung ihrer Rentabilität. Dem daraus hergeleiteten Argument der Klägerin, dass sie deshalb hinsichtlich der Formulierung der ihr auferlegten Verhaltensmaßregel günstiger behandelt werden müsse, kann jedoch nicht zugestimmt werden. Vielmehr ist es entgegen ihrem Vorbringen umso wichtiger, über die Wirksamkeit von Verhaltensmaßregeln zu wachen, wenn keine strukturellen Maßnahmen vorgeschrieben wurden.
190 Somit ist nicht dargetan, dass ein Vergleich mit in derselben Zeit ergangenen Entscheidungen über staatliche Beihilfen zur Rechtswidrigkeit von Art. 5 des angefochtenen Beschlusses führt, soweit dieser die Dauer des dort ausgesprochenen Verbots betrifft.
191 Somit ist auch der dritte Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum vierten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
192 Die Klägerin macht geltend, die Dauer des Beteiligungsverbots sei unverhältnismäßig. Die Kommission habe kein überzeugendes Argument zur Rechtfertigung der Verlängerung des Beteiligungsverbots über drei Jahre hinaus vorgebracht und erst recht nicht deren Notwendigkeit dargetan.
193 Da der niederländische Staat beabsichtigt habe, seine Anteile nach und nach zu veräußern, mache das so formulierte Verbot das Angebot dieser Teile nicht attraktiver für Investoren, die weniger geneigt seien zu investieren oder nur geringe Beträge investieren wollten. Es liege jedoch im öffentlichen Interesse, dass der niederländische Staat eine hohe Rendite erziele und dass die Kommission einer schnellen Privatisierung den Vorzug gebe. Aus diesem Grund hätten der niederländische Staat und sie selbst vorgeschlagen, die Dauer des Beteiligungsverbots an den Zeitraum zu knüpfen, währenddessen der niederländische Staat mehr als 80 % der Anteile hielt. Diesen Vorschlag habe die Kommission jedoch nicht zur Kenntnis genommen.
194 Des Weiteren wirft die Klägerin die Frage auf, weshalb das mit dem Verbot verfolgte Ziel nicht auch durch eine Verbotsdauer von weniger als fünf Jahren hätte erreicht werden können.
195 Zudem greife das Vorbringen der Kommission, die Senkung der Beteiligung des Staates auf 50 % hätte einen Rückgang des Vertrauens der Gläubiger und der Einleger auf das Niveau von vor Oktober 2008 bewirkt, nur durch, wenn sie das Eigentum des Staates mit einer staatlichen Beihilfe gleichsetze, was im Widerspruch zu Art. 345 AEUV stehe. Der Gedankengang der Kommission sei in sich falsch, weil das durch das Eigentum des Staates bewirkte Vertrauen sehr wohl jenseits dieser Schwelle weiterbestehen könnte, denn es sei vom Status der Klägerin als für das Gesamtsystem wichtige Bank und von der auf diesem Status beruhenden Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens des niederländischen Staates im Krisenfall abhängig.
196 Schließlich trägt die Klägerin vor, sie verstehe nicht, worauf die Kommission ihre Auffassung stütze, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit sinke, wenn der Staat 50 % seiner Aktien verkaufe. Der Umstand, dass die Kommission nicht in der Lage sei, angemessene Bedingungen für die Beendigung des Verbots aufzustellen, könne die Festsetzung willkürlicher Bedingungen nicht rechtfertigen.
197 Die Kommission macht geltend, dass sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet habe.
198 Zu erinnern ist zunächst an die Merkmale der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme wie der hier vorliegenden im besonderen Kontext einer Entscheidung über die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe in dem Fall, dass der betroffene Mitgliedstaat die Bedingungen nicht zuvor akzeptiert hat. Dazu wird auf die Rn. 74 bis 82 des vorliegenden Urteils verwiesen. Jedenfalls ist es wie gesagt nicht nötig, endgültig zu den dort aufgezeigten Grenzen der gerichtlichen Nachprüfung Stellung zu nehmen, denn es ist der Klägerin nicht gelungen darzutun, dass die Anordnung des Verbots für eine Dauer von mehr als drei Jahren unter den in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses vorgesehenen Bedingungen gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt.
199 Zu dem mit dem Verbot verfolgten Ziel ist daran zu erinnern, dass das Verbot vor allem aufgrund des Prinzips angeordnet wurde, dass die Beihilfe auf das notwendige Minimum beschränkt werden muss, aus dem hergeleitet wird, dass die Mittel, die angeblich für den Erwerb von Beteiligungen zur Verfügung stehen, vielmehr an den Staat überwiesen werden müssen, beispielsweise durch die Ausschüttung zusätzlicher Dividenden.
200 Die Prüfung der im zweiten Teil dieses Klagegrundes enthaltenen zweiten Rüge ergibt, dass das in Rede stehende Beteiligungsverbot diesem Ziel offensichtlich dienen kann, wenn seine Höchstdauer fünf Jahre beträgt, insbesondere weil das Ende dieses Zeitraums eine Ersatzgröße für das Ende der Beihilfe bildet, da über diesen Zeitpunkt hinaus die Idee, dass der Begünstigte zur Begrenzung der Beihilfe auf das notwendige Minimum beitragen soll, jeden Sinn verliert. Dasselbe gilt für das hilfsweise verfolgte Ziel der Begrenzung der Wettbewerbsverzerrungen (vgl. u. a. Rn. 173 bis 175 des vorliegenden Urteils).
201 Zu den konkreten Argumenten der Klägerin ist Folgendes zu bemerken: Unter Berücksichtigung des Ziels der Beschränkung der Beihilfe auf das notwendige Minimum ist erstens ihr Vorbringen zurückzuweisen, dass dem Wertverlust der Bank für potenzielle Investoren, der sich aus dem Beteiligungsverbot ergebe und den niederländischen Staat somit hindere, schnell aus dem Kreis der Aktionäre der ABN Amro auszuscheiden, Rechnung getragen werden müsse. Kein so einschneidendes Beteiligungsverbot anzuordnen, damit der Staat im Rahmen eines öffentlichen Zeichnungsangebots einen höheren Preis erzielen kann, ist eindeutig eine indirektere Maßnahme, die folglich für die Erreichung desselben Ziels weniger wirksam ist.
202 Zweitens bietet die Klägerin keinen konkreten Beweis für ihre Behauptung an, dass die Dauer des Beteiligungsverbots negative Auswirkungen auf den Preis der privaten Investoren zum Kauf angebotenen Anteile habe. Zwar werden diese die Zwänge, denen die Bank unterliegt, in Rechnung stellen, es steht jedoch nicht fest, dass sie nicht in der Lage sind zu verstehen, dass das Verbot im Fall einer teilweisen Privatisierung endet. Dieses Vorbringen überzeugt deshalb nicht.
203 Drittens ergibt sich aus den Akten, dass die Kommission ursprünglich vorgeschlagen hatte, das Ende des Beteiligungsverbots an den Augenblick der vollständigen Privatisierung der Klägerin zu knüpfen. Die Klägerin kann also nicht geltend machen, dass die Überlegungen der Kommission unzusammenhängend seien, wenn sie die Auffassung vertrete, das Vertrauen Dritter werde schon bei Überschreiten einer anderen Schwelle als derjenigen der vollständigen Privatisierung erschüttert, denn die Kommission ist während der Verhandlungen über die Begrenzung des Verbots zu einer für die Klägerin weniger belastenden Lösung gelangt.
204 Zudem haben der niederländische Staat und die Klägerin im Laufe der Verhandlungen akzeptiert oder sogar vorgeschlagen, den Verlust der Kontrolle im Sinne des Fusionsrechts der Union als Bezugspunkt für die Beendigung der Verhaltensmaßregeln anzusehen, wie sich namentlich aus den am 30. Juli und am 6. September 2010 vorgeschlagenen Maßnahmen ergibt. Erst in einem späteren Stadium der Diskussionen war von einer Schwelle von 80 % Aktienbesitz und von der Erklärung die Rede, die mit der für den niederländischen Staat bestehenden Notwendigkeit zusammenhing, bei einem öffentlichen Zeichnungsangebot einen guten Preis zu erzielen. Die Untersuchung des zweiten Teils des vorliegenden Klagegrundes hat jedoch ergeben, dass nicht feststeht, dass die vom Staat vorgenommene Veräußerung von 20 % des Aktienbesitzes an der Bank ein geeigneter Bezugspunkt für das Ende der sich aus der Beihilfe ergebenden Vorteile ist.
205 Was viertens die Frage betrifft, ob die Kommission davon ausgehen konnte, dass das Vertrauen der Gläubiger und der Einleger einen Vorteil darstellte, der sich aus dem Eigentum des Staates infolge der Beihilfe ergab, wird ihr Vorbringen – abgesehen von den Antworten, die bereits bei der Untersuchung des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes gegeben wurden – auch durch die Dokumente der Ratingagenturen, auf die sie sich im vorliegenden Verfahren beruft, bestätigt. Aus diesen Dokumenten ergibt sich, dass nicht nur die Position von ABN Amro als Bank, die eine Bedeutung im Gesamtsystem hat oder „zu groß ist, um in Insolvenz zu gehen“, Vertrauen einflößt, sondern auch der Umstand, dass der niederländische Staat tatsächlich zu ihren Aktionären gehört. Dies erhellt aus der von der Kommission zitierten Stelle in dem Bericht einer Ratingagentur vom 6. Januar 2011, wo diese ausführt, dass sie „das derzeitige, aber befristete Eigentum des niederländischen Staates und die Unterstützung der Eigentümer als wesentliches Atout für die Aufrechterhaltung des Rating von [ABN Amro] ansieht“.
206 Was schließlich den Umstand angeht, dass das Beteiligungsverbot automatisch nach fünf Jahren endet, wenn der niederländische Staat nicht vorher seine Kontrollbeteiligung verliert, wurde bereits im Zusammenhang mit dem zweiten Teil auf die Parallele zu Rn. 37 der Umstrukturierungsmitteilung hingewiesen, der Strukturmaßnahmen betrifft und ebenfalls einen Zeitraum von höchstens fünf Jahren für deren Durchführung vorsieht. Zudem hängt die über die von der Klägerin nicht beanstandete ursprüngliche Dauer von drei Jahren hinausgehende Dauer des Verbots in erster Linie vom Zeitpunkt des Verlusts der Kontrollbeteiligung des niederländischen Staates ab. Die Rechtmäßigkeit dieser Regelung wurde im Rahmen des zweiten Teils des vorliegenden Klagegrundes nicht beanstandet.
207 Im Übrigen ergibt sich aus der vom niederländischen Staat vorgeschlagenen Ausstiegsstrategie (vgl. auch die vorstehende Erörterung des zweiten Teils dieses Klagegrundes), dass dieser die Platzierung einer zweiten Tranche von [vertraulich] bis [vertraulich] % der Aktien erst für das Jahr 2015 vorsah, also vier Jahre nach Erlass des angefochtenen Beschlusses und abhängig von den Marktbedingungen.
208 Unter diesen Umständen ist nicht auszuschließen, dass sich die Höchstdauer von fünf Jahren möglicherweise sogar zugunsten des niederländischen Staates auswirkt, das heißt, dass das Verbot endet, bevor er die Mehrheit seiner Aktien verkaufen kann.
209 Somit ist nicht dargetan, dass die Kommission durch die Festsetzung der Dauer des Beteiligungsverbots in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat. Folglich ist der vierte Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
Zum fünften Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV
210 Die Klägerin trägt vor, die Kommission habe nicht alle im Zusammenhang mit dem Beteiligungsverbot relevanten Tatsachen berücksichtigt; dabei handele es sich namentlich um die Notwendigkeit der Maßnahme, die Möglichkeit, weniger belastende Maßnahmen zu akzeptieren, und die im Prüfverfahren erhobenen Einwände. Deshalb habe die Kommission durch den Erlass von Art. 5 des angefochtenen Beschlusses gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen.
211 Außerdem sei der angefochtene Beschluss unzureichend begründet. Die Erklärung, dass die Beendigung des Eigentums des Staates es ermögliche, zu schätzen, wann der sich aus der Beihilfe ergebende Vorteil ende, sei weder klar noch zutreffend. Die Begründung des angefochtenen Beschlusses sei auch deshalb unzureichend, weil die Kommission nicht erkläre, weshalb eine Schwelle von 50 % der Beteiligung an einer Bank (und nicht z. B. 20 %) ein relevantes Kriterium sei, oder warum eine längere Dauer erforderlich gewesen sei als die Dauer der gegen andere Banken angeordneten Verbote.
212 Die Kommission vertritt die Auffassung, angesichts ihres wiederholten Meinungsaustauschs mit dem niederländischen Staat und der Klägerin über das Verbot, während des Prüfverfahrens Beteiligungen zu erwerben, und der Fortentwicklung ihrer Auffassung in diesem Zeitraum habe sie nicht gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen. Zudem seien die Gründe für die Dauer des Beteiligungsverbots im angefochtenen Beschluss klar angegeben.
213 Insoweit wird auf die in den Rn. 128 und 131 bis 133 des vorliegenden Urteils im Rahmen der Prüfung des vierten Teils des ersten Klagegrundes angeführte einschlägige Rechtsprechung verwiesen.
214 Was zunächst den behaupteten Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung angeht, ist festzustellen, dass die Kommission die relevanten Tatsachen mit der nötigen Sorgfalt geprüft hat. Den Akten zufolge hat sie ihre Auffassung fortentwickelt, indem sie zunächst einen Zusammenhang zwischen dem Ende des Beteiligungsverbots und der vollständigen Privatisierung der Klägerin akzeptiert, dann aber einen Zusammenhang zwischen dem Ende des Verbots und dem Zeitpunkt des Verlusts der staatlichen Mehrheitsbeteiligung an deren Kapital bejaht hat. Zwar lehnte sie Vorschläge des niederländischen Staates und der Klägerin betreffend die Veräußerungen kleinerer Beteiligungen ab; aus einer sachlichen Meinungsverschiedenheit kann jedoch kein Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung hergeleitet werden.
215 Zweitens hat die Kommission die Dauer des Verbots, Beteiligungen zu erwerben, rechtlich hinreichend begründet, ohne dass auf die Frage nach der tatsächlichen Tragweite ihrer Begründungspflicht eingegangen zu werden braucht, wenn es um eine konkrete Maßnahme geht, die zu einer Gesamtheit von Maßnahmen gehört, aufgrund deren sie bei zusätzlicher Berücksichtigung des ihr vorgelegten Umstrukturierungsplans eine einer Bank gewährte Beihilfe als mit dem Binnenmarkt vereinbar ansehen konnte.
216 Zwar enthält der angefochtene Beschluss nur wenige Ausführungen über die Dauer des Beteiligungsverbots und insbesondere keine Erläuterungen bezüglich der im Prüfverfahren genannten alternativen Lösungen und der in anderen Beschlüssen gewählten Lösungen.
217 Darin liegt jedoch kein Begründungsmangel.
218 Im 311. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wird nämlich hinsichtlich des Mindestzeitraums von drei Jahren auf Rn. 40 der Umstrukturierungsmitteilung verwiesen. Im 312. Erwägungsgrund wird der Zusammenhang zwischen dem staatlichen Eigentum und der Dauer des Beteiligungsverbots erläutert, wobei auf die Schwelle von 50 %, auf die Umstände, unter denen die Beihilfe nicht zurückgezahlt werden kann, und darauf, dass diese Schwelle eine Ersatzgröße für die Schätzung des Zeitpunkts bildet, zu dem der aus der Beihilfe gezogene Vorteil endet, Bezug genommen wird.
219 Die darüber hinausgehende alternative Frist von fünf Jahren bis zum Ende der Dauer des Beteiligungsverbots ergibt sich implizit aus dem vom niederländischen Staat für seine Ausstiegsstrategie vorgeschlagenen Zeitplan. Außerdem impliziert die Festsetzung einer Mindestgeltungsdauer des Verbots auch die Festsetzung einer Höchstdauer. Die Höchstdauer von fünf Jahren ist somit unter den Umständen des vorliegenden Falles folgerichtig.
220 Schließlich wendet die Kommission gegen das Vorbringen, sie hätte erklären müssen, weshalb sie der Klägerin ein längeres Beteiligungsverbot auferlegt habe als das, das in anderen Beschlüssen angeordnet worden sei, zu Recht ein, dass sie ihre Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe nur in Bezug auf die in den Mitteilungen enthaltenen Leitlinien für die betreffende Branche zu begründen habe, nicht dagegen im Verhältnis zu irgendeiner anderen Entscheidung.
221 Nach alledem ist der fünfte Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen.
222 Sonach ist die Klage auf jeden Fall insgesamt abzuweisen, ohne dass das Gericht zum Vorbringen der Kommission in der mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen braucht, dass es nicht dem Antrag der Klägerin stattgeben könne, allein Art. 5 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, da dieser untrennbar mit Art. 1 verbunden sei und das Gericht seine Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe nicht an die Stelle des Urteils der Kommission setzen könne.
Kosten
223 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten einschließlich der durch das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die ABN Amro Group NV trägt die Kosten des Verfahrens.
Czúcz
Labucka
Gratsias
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 8. April 2014.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
Verfahren und Anträge
Rechtliche Würdigung
Zum ersten Klagegrund betreffend den Umfang des Beteiligungsverbots
Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und unrichtige Anwendung der Mitteilungen
– Zur zweiten Rüge: unrichtige Anwendung der Mitteilungen
– Zur ersten Rüge: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV
Zum zweiten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Zum dritten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
Zum vierten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV
Zum zweiten Klagegrund betreffend die Dauer des Verbots des Erwerbs von Beteiligungen
Zum ersten Teil: Verstoß gegen Art. 345 AEUV dadurch, dass die Dauer des Beteiligungsverbots an die vom Staat gehaltene Beteiligung geknüpft wurde
Zum zweiten Teil: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV und unrichtige Anwendung der Mitteilungen
– Zur zweiten Rüge: unrichtige Anwendung der Mitteilungen
– Zur ersten Rüge: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 3 Buchst. b AEUV
Zum dritten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
Zum vierten Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Zum fünften Teil: Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Vertrauliche Angaben unkenntlich gemacht.
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Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 26. November 2013. # Gascogne Sack Deutschland GmbH gegen Europäische Kommission. # Rechtsmittel - Wettbewerb - Kartelle - Sektor der Industriesäcke aus Kunststoff - Zurechenbarkeit einer Zuwiderhandlung der Tochtergesellschaft gegenüber der Muttergesellschaft - Überlange Dauer des Verfahrens vor dem Gericht - Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. # Rechtssache C-40/12 P.
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62012CJ0040
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ECLI:EU:C:2013:768
| 2013-11-26T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0040
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
26. November 2013 (*1)
„Rechtsmittel — Wettbewerb — Kartelle — Sektor der Industriesäcke aus Kunststoff — Zurechenbarkeit einer Zuwiderhandlung der Tochtergesellschaft gegenüber der Muttergesellschaft — Überlange Dauer des Verfahrens vor dem Gericht — Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes“
In der Rechtssache C‑40/12 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 27. Januar 2012,
Gascogne Sack Deutschland GmbH, vormals Sachsa Verpackung GmbH, mit Sitz in Wieda (Deutschland), vertreten durch F. Puel und L. François-Martin, avocats,
Rechtsmittelführerin,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre und N. von Lingen als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen und M. Safjan, der Richter J. Malenovský, E. Levits, A. Ó Caoimh, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und D. Šváby sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Februar 2013,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 30. Mai 2013
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Gascogne Sack Deutschland GmbH, vormals Sachsa Verpackung GmbH (im Folgenden für beide: Rechtsmittelführerin), die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 16. November 2011, Sachsa Verpackung/Kommission (T‑79/06, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem ihre Klage auf Teilnichtigerklärung und Abänderung der Entscheidung K(2005) 4634 endg. der Kommission vom 30. November 2005 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] (Sache COMP/F/38.354 – Industrielle Sackverpackungen) (im Folgenden: streitige Entscheidung) abgewiesen worden ist, oder, hilfsweise, die Herabsetzung der mit dieser Entscheidung gegen sie verhängten Geldbuße.
Rechtlicher Rahmen
2 Die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1), die die Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81 EG] und [82 EG] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), ersetzt hat, bestimmt in Art. 23 Abs. 2 und 3, der an die Stelle von Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 getreten ist:
„(2) Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig
a)
gegen Artikel 81 [EG] oder Artikel 82 [EG] verstoßen …
…
Die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung darf 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.
…
(3) Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen.“
3 In den zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung geltenden Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 [KS] festgesetzt werden (ABl. 1998, C 9, S. 3, im Folgenden: Leitlinien von 1998), heißt es in Nr. 1, dass „[d]er Grundbetrag [der Geldbuße] … nach Maßgabe der Schwere und Dauer des Verstoßes als den einzigen Kriterien von Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 errechnet“ wird.
4 Bezüglich der Schwere des Verstoßes sieht Nr. 1 A Abs. 1 dieser Leitlinien vor, dass bei der Ermittlung der Schwere eines Verstoßes seine Art und die konkreten Auswirkungen auf den Markt, sofern diese messbar sind, sowie der Umfang des betreffenden räumlichen Marktes zu berücksichtigen sind.
5 Nach Nr. 1 A Abs. 2 der Leitlinien von 1998 werden die Verstöße in drei Gruppen unterteilt, und zwar in minder schwere, schwere und besonders schwere Verstöße. Bei Letzteren handelt es sich insbesondere um horizontale Beschränkungen wie z. B. Preiskartelle und um Marktaufteilungsquoten.
Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Entscheidung
6 Die Rechtsmittelführerin ist eine Gesellschaft deutschen Rechts. Im Jahr 1994 wurden 90 % ihrer Geschäftsanteile von Gascogne Deutschland GmbH erworben, einer 100%igen Tochtergesellschaft der Groupe Gascogne SA (im Folgenden: Groupe Gascogne), einer Gesellschaft französischen Rechts. Die übrigen 10 % ihrer Geschäftsanteile wurden unmittelbar von Groupe Gascogne erworben. Im Jahr 2008 änderte sie ihren Namen und wurde zur Gascogne Sack Deutschland GmbH.
7 Im Jahr 2001 unterrichtete die British Polythene Industries plc die Kommission von der Existenz eines Kartells im Industriesacksektor.
8 Die Kommission nahm im Juni 2002 Nachprüfungen vor, und im Juli 2002 teilte ihr die Rechtsmittelführerin mit, dass sie zu kooperieren wünsche. Die Kommission leitete am 29. April 2004 das Verwaltungsverfahren ein und erließ gegen mehrere Unternehmen, u. a. gegen die Rechtsmittelführerin, eine Mitteilung der Beschwerdepunkte.
9 Am 30. November 2005 erließ die Kommission die streitige Entscheidung, nach deren Art. 1 Abs. 1 Buchst. k die Rechtsmittelführerin und Groupe Gascogne dadurch gegen Art. 81 EG verstoßen haben, dass sie vom 9. Februar 1988 bis zum 26. Juni 2002, was die Rechtsmittelführerin angeht, und vom 1. Januar 1994 bis zum 26. Juni 2002, was Groupe Gascogne betrifft, an einem System aus Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen im Industriesacksektor in Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden zur Festsetzung von Preisen, Erarbeitung gemeinsamer Preisberechnungsmethoden, Aufteilung von Märkten, Zuweisung von Verkaufskontingenten, Kunden und Aufträgen, Abstimmungen von Angeboten auf Ausschreibungen und zum Austausch sensibler Informationen über einzelne Verkäufe mitgewirkt haben.
10 Die Kommission hat daher in Art. 2 Abs. 1 Buchst. i der streitigen Entscheidung eine Geldbuße von 13,2 Mio. Euro gegen die Rechtsmittelführerin verhängt und festgelegt, dass davon 9,9 Mio. Euro im Rahmen der gesamtschuldnerischen Haftung auf Groupe Gascogne entfallen.
Angefochtenes Urteil
11 Die Rechtsmittelführerin erhob mit am 23. Februar 2006 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift Klage gegen die streitige Entscheidung. Sie beantragte im Wesentlichen, diese Entscheidung, soweit diese sie betrifft, für nichtig zu erklären oder, hilfsweise, die gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen.
12 Die Rechtsmittelführerin machte acht Klagegründe geltend. Mit den ersten drei Klagegründen, die die Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung betrafen, wurde erstens ein offensichtlicher Beurteilungsfehler in Bezug auf den Grad der Verwicklung der Rechtsmittelführerin in das Kartell, zweitens eine mangelhafte Begründung bezüglich ihrer Mitwirkung an der Untergruppe „Deutschland“ und drittens ein Verstoß gegen Art. 81 EG insoweit, als die Kommission Praktiken der Rechtsmittelführerin zu Unrecht deren Muttergesellschaft Groupe Gascogne zugerechnet habe, und gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 geltend gemacht.
13 Die fünf weiteren Klagegründe, die hilfsweise geltend gemacht wurden, zielten auf eine Herabsetzung der verhängten Geldbuße ab. Mit dem vierten Klagegrund wurde ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Schwere der Zuwiderhandlung und mit dem fünften Klagegrund ein Beurteilungsfehler hinsichtlich der Dauer der Zuwiderhandlung gerügt. Der sechste, nachrangig hilfsweise geltend gemachte Klagegrund betraf einen Beurteilungsfehler durch die fehlende Berücksichtigung mildernder Umstände, der siebte Klagegrund einen Beurteilungsfehler hinsichtlich der Zusammenarbeit der Rechtsmittelführerin im Verwaltungsverfahren und der achte, nur letztrangig hilfsweise geltend gemachte Klagegrund einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
14 Mit Schreiben vom 20. Oktober 2010 beantragte die Rechtsmittelführerin die Wiedereröffnung des schriftlichen Verfahrens, weil sich während des Verfahrens ein neuer rechtlicher Grund ergeben habe, nämlich das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, insbesondere des Art. 6 EUV, mit dem die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in den Rang von Primärrecht erhoben worden sei.
15 In der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2011 machte die Rechtsmittelführerin über die in ihrer Klageschrift enthaltenen Klagegründe hinaus eine Verletzung der in Art. 48 der Charta und in Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) niedergelegten Unschuldsvermutung geltend. Hierzu hat das Gericht in den Randnrn. 92 und 93 des angefochtenen Urteils ausgeführt:
„92
… [D]ie Rüge der Klägerin, mit der sie eine Verletzung des in Art. 48 der Charta verbürgten Grundsatzes der Unschuldsvermutung geltend macht, [wird] zusätzlich zu den Argumenten vorgebracht, die im Rahmen der in der Klageschrift enthaltenen Klagegründe angeführt worden sind, und weist mit diesen ursprünglichen Argumenten keinen so engen Zusammenhang auf, dass sie als Bestandteil der üblichen sich in einem streitigen Verfahren entwickelnden Erörterung angesehen werden könnte. Diese Rüge ist daher als neu anzusehen.
93 Folglich ist zu prüfen, ob das Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union am 1. Dezember 2009, insbesondere des Art. 6, wonach die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind, eine neue Tatsache darstellt, die die Erhebung neuer Rügen rechtfertigt. Hierzu ist festzustellen, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung zum Zeitpunkt des Erlasses der [streitigen] Entscheidung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts in Verfahren wegen Verletzung von Wettbewerbsregeln … Bestandteil der Unionsrechtsordnung und durch diese verbürgt war …“
16 Das Gericht hat daraus geschlossen, dass sich die Rechtsmittelführerin nicht auf die mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eingetretenen Änderungen der Unionsrechtsordnung berufen konnte, um in der mündlichen Verhandlung zu rügen, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt worden sei.
17 Die drei in der Klageschrift angeführten Nichtigkeitsgründe hat das Gericht als unbegründet zurückgewiesen. Was insbesondere den ersten Teil des dritten Klagegrundes betrifft, mit dem geltend gemacht wurde, die Kommission habe dadurch gegen Art. 81 EG verstoßen, dass sie Praktiken der Rechtsmittelführerin zu Unrecht deren Muttergesellschaft Groupe Gascogne zugerechnet habe, hat das Gericht zunächst in Randnr. 87 des angefochtenen Urteils auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hingewiesen, nach der in Fällen, in denen eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft halte, die gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen habe, eine widerlegliche Vermutung bestehe, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübe. Das Gericht hat sodann in Randnr. 88 des Urteils ausgeführt, es stehe fest, dass „Groupe Gascogne das gesamte Kapital der Klägerin hält, so dass die Kommission vermuten durfte, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausgeübt hat“. Das Gericht hat weiter ausgeführt, die Kommission habe außerdem festgestellt, dass „Groupe Gascogne monatlich Auskünfte von der Rechtsmittelführerin erhielt, dass diese funktionell in den Zweig ‚Flexible Verpackungen‘ der Gruppe integriert war und dass die Führungskräfte der Gruppe im Beirat, dem Aufsichts- und Geschäftsführungsorgan der Rechtsmittelführerin, saßen“. Nachdem das Gericht in Randnr. 89 seines Urteils das Gegenvorbringen der Rechtsmittelführerin wiedergegeben hatte, gelangte es in Randnr. 90 des angefochtenen Urteils zu dem Ergebnis, dass „jedoch festzustellen [ist], dass dieses Vorbringen nicht geeignet ist, die Vermutung, dass Groupe Gascogne einen bestimmenden Einfluss auf die Rechtsmittelführerin ausübte, zu widerlegen“.
18 Bezüglich des zweiten Teils des dritten Klagegrundes, mit dem geltend gemacht wurde, die Kommission habe dadurch gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen, dass sie bei der Berechnung des Teils der Geldbuße, der für die zwischen dem 9. Februar 1988 und dem 31. Dezember 1993 begangene Zuwiderhandlung verhängt wurde, nicht die Obergrenze von 10 % des Umsatzes des betreffenden Unternehmens eingehalten habe, hat das Gericht in den Randnrn. 108 und 109 des angefochtenen Urteils entschieden:
„108
Demnach folgt … in Fällen, in denen unterschieden wird zwischen einem ersten Zeitabschnitt, für den eine alleinige Einstandspflicht der Tochtergesellschaft für die Zuwiderhandlung festgestellt wird, und einem zweiten Zeitabschnitt, für den eine gesamtschuldnerische Haftung der Muttergesellschaft zusammen mit ihrer Tochtergesellschaft für die Zuwiderhandlung festgestellt wird, aus Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 keine Verpflichtung der Kommission zur Überprüfung der Frage, ob der Teil der Geldbuße, für den keine gesamtschuldnerische Zahlungshaftung der Muttergesellschaft angenommen wird, 10 % des allein von der Tochtergesellschaft erzielten Umsatzes nicht übersteigt. Die in der genannten Bestimmung bezeichnete Obergrenze dient allein dazu, die Festsetzung einer Geldbuße zu verhindern, die unter Berücksichtigung der Gesamtgröße der wirtschaftlichen Einheit zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung überhöht ist. Der Umsatz der Gesellschaft, die nach den Feststellungen zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung oder der Festsetzung der Geldbuße allein für die Zuwiderhandlung einzustehen hat, ist insoweit von begrenzter Bedeutung.
109 Dabei ist unerheblich, dass die Kommission dieser Bestimmung in ihrer früheren Entscheidungspraxis eine andere Auslegung gegeben hat, die sich für die jeweilige Gesellschaft als günstig erwiesen hat. Wie die Kommission vorgetragen hat, genügt insoweit der Hinweis, dass sie nicht an ihre frühere Entscheidungspraxis gebunden ist, da diese jedenfalls keinen rechtlichen Rahmen für die Berechnung des Geldbußenbetrags bildet …“
19 Das Gericht hat auch die fünf weiteren, hilfsweise geltend gemachten Klagegründe zurückgewiesen, die auf eine Herabsetzung der Geldbuße gerichtet waren. Was insbesondere den ersten Teil des vierten Klagegrundes betrifft, mit dem beanstandet wurde, dass die Kommission bei der Berechnung der Geldbuße die konkreten Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt berücksichtigt habe, obwohl diese nicht messbar gewesen seien, hat das Gericht in Randnr. 117 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass „nach dem Wortlaut der Leitlinien [von 1998] die konkreten Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt zum Zweck der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie messbar sind“. In Randnr. 118 dieses Urteils hat das Gericht aus diesem Grund das Vorbringen der Rechtsmittelführerin zurückgewiesen, wonach die von der Kommission festgesetzte Geldbuße dann herabzusetzen sei, wenn die Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt nicht messbar seien. In diesem Zusammenhang hat es die vorliegende Rechtssache von derjenigen unterschieden, in der das von der Rechtsmittelführerin angeführte Urteil vom 5. April 2006, Degussa/Kommission (T-279/02, Slg. 2006, II-897), ergangen war. Insoweit hat es in Randnr. 119 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass „im vorliegenden Fall die Kommission nicht behauptet, zur Messung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt in der Lage zu sein, noch hat die Klägerin Argumente vorgebracht oder Materialien vorgelegt, die für den Nachweis geeignet wären, dass das Kartell tatsächlich keinerlei Wirkungen entfaltete und infolgedessen keinerlei Auswirkungen auf den Markt hatte“.
20 Nachdem das Gericht alle von der Rechtsmittelführerin geltend gemachten Klagegründe geprüft hatte, hat es die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
21 Die Rechtsmittelführerin beantragt,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache an das Gericht zur Entscheidung über die finanziellen Folgen zurückzuverweisen, die sich für sie aus der Überschreitung einer angemessenen Entscheidungsfrist durch das Gericht ergeben haben;
—
hilfsweise, die von der Kommission gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen, um diesen finanziellen Folgen Rechnung zu tragen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
22 Die Kommission beantragt,
—
das Rechtsmittel zurückzuweisen und
—
der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.
23 Mit Schreiben vom 11. September 2012 hat die Rechtsmittelführerin unter Berufung auf Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in der damals geltenden Fassung beantragt, das schriftliche Verfahren wegen des Auftretens eines neuen Gesichtspunkts, nämlich ihrer äußerst schlechten Finanzlage, wiederzueröffnen.
24 Gemäß Art. 24 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 61 seiner Verfahrensordnung hat der Gerichtshof die Parteien, das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union sowie die Mitgliedstaaten zu der Beantwortung von Fragen aufgefordert, die die maßgeblichen Kriterien für die Beurteilung einer angemessenen Verfahrensdauer vor dem Gericht und die Maßnahmen betreffen, die den Folgen einer überlangen Verfahrensdauer abzuhelfen geeignet sind.
Zum Rechtsmittel
Zum ersten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
25 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, dass das Gericht rechtsfehlerhaft nicht die Konsequenzen aus dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009, insbesondere des Art. 6 EUV, wonach die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind, gezogen habe. Das Gericht habe verkannt, dass es sich dabei um einen neu zutage getretenen Grund im Sinne von Art. 48 § 2 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung handele und dass dies die Rechtsmittelführerin dazu ermächtige, sich im Verfahren auf einen neuen Klagegrund zu berufen, der auf die in Art. 48 der Charta verbürgte Unschuldsvermutung gestützt sei. Denn die Vermutung, die es ermögliche, der Muttergesellschaft, die 100 % des Kapitals einer Tochtergesellschaft halte, deren wettbewerbswidriges Verhalten zuzurechnen, stelle eine mit der Charta unvereinbare Schuldvermutung dar.
26 Die Kommission wendet ein, dass dieser Rechtsmittelgrund zu allgemein sei, da nicht erläutert werde, warum das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein neuer rechtlicher Grund sei. Daher sei dieser Rechtsmittelgrund unbegründet.
Würdigung durch den Gerichtshof
27 Vorab ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerin in ihrer Rechtsmittelschrift nicht geltend macht, dass sie in ihrer Klageschrift an irgendeiner Stelle auf die Charta Bezug genommen hätte.
28 Zu der Frage, ob das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, wie die Rechtsmittelführerin vorträgt, als ein Grund anzusehen gewesen wäre, der im Laufe des Verfahrens vor dem Gericht zutage getreten ist, und es deshalb nach Art. 48 § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts gerechtfertigt hätte, dass neue Angriffs- und Verteidigungsmittel vorgebracht werden, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieses Inkrafttreten, mit dem die Charta in das Primärrecht der Union einbezogen wurde, nicht als ein neuer rechtlicher Grund im Sinne von Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 seiner Verfahrensordnung angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass er bereits vor dem Inkrafttreten dieses Vertrags wiederholt festgestellt hatte, dass das Recht auf ein faires Verfahren, wie es sich u. a. aus Art. 6 der EMRK ergibt, ein Grundrecht ist, das die Europäische Union als allgemeinen Grundsatz nach Art. 6 Abs. 2 EU achtet (vgl. u. a. Urteil vom 3. Mai 2012, Legris Industries/Kommission, C‑289/11 P, Randnr. 36).
29 Diese vom Gerichtshof für die Anwendung seiner Verfahrensordnung gegebene Auslegung gilt auch für die Anwendung der entsprechenden Bestimmungen der Verfahrensordnung des Gerichts.
30 Jedenfalls wurde durch die Rechtsprechung seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bestätigt, dass die Vermutung, wonach eine Muttergesellschaft, die das gesamte oder nahezu gesamte Kapital ihrer Tochtergesellschaft hält, tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft ausübt, nicht gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstößt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juli 2012, Alliance One International und Standard Commercial Tobacco/Kommission und Kommission/Alliance One International u. a., C‑628/10 P und C‑14/11 P, Randnrn. 46, 47, 108 und 113, sowie vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, Randnrn. 108 bis 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Der erste Rechtsmittelgrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund
32 Der zweite Rechtsmittelgrund besteht aus zwei Teilen. Mit dem ersten Teil wird gerügt, das Gericht habe gegen seine Pflicht verstoßen, sein Urteil insoweit zu begründen, als es das Vorbringen der Rechtsmittelführerin zu ihrer geschäftlichen Eigenständigkeit zurückgewiesen habe. Mit dem zweiten Teil wird geltend gemacht, das Gericht habe es rechtsfehlerhaft unterlassen, einen Begründungsmangel der streitigen Entscheidung bezüglich der Berechnung der Obergrenze der festgesetzten Geldbuße zu ahnden.
Zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes
– Vorbringen der Parteien
33 Die Rechtsmittelführerin trägt vor, das Gericht beziehe sich in Randnr. 89 des angefochtenen Urteils auf verschiedene Gesichtspunkte, die sie dafür angeführt habe, dass Groupe Gascogne keine tatsächliche Kontrolle über ihre Geschäftspolitik ausübe. In Randnr. 90 dieses Urteils habe sich das Gericht darauf beschränkt, diese Gesichtspunkte lapidar mit der stereotypen Formel „Es ist daher festzustellen …“ zurückzuweisen, ohne sie einzeln zu prüfen und anzugeben, aus welchen Gründen sie nicht hinreichend beweiskräftig gewesen seien. Damit habe das Gericht die ihm nach gefestigter Rechtsprechung obliegende Begründungspflicht verletzt.
34 Die Kommission erwidert, dass die Verpflichtung des Gerichts, seine Entscheidungen zu begründen, nicht bedeute, dass es sich detailliert mit jedem von einer Partei vorgebrachten Argument befassen müsste. Das gelte insbesondere dann nicht, wenn ein Argument nicht hinreichend klar und bestimmt sei, wie es bei den von der Rechtsmittelführerin vor dem Gericht vorgetragenen Erwägungen der Fall gewesen sei.
– Würdigung durch den Gerichtshof
35 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet die dem Gericht gemäß Art. 36 und Art. 53 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs obliegende Pflicht zur Begründung der Urteile nicht, dass das Gericht bei seinen Ausführungen alle von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Argumente nacheinander erschöpfend behandeln müsste. Die Begründung kann daher implizit erfolgen, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe zu erkennen, auf denen das angefochtene Urteil beruht, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben an die Hand gibt, damit er seine Kontrollaufgabe im Rahmen eines Rechtsmittels wahrnehmen kann (vgl. u. a. Urteil Alliance One International und Standard Commercial Tobacco/Kommission und Kommission/Alliance One International u. a., Randnr. 64).
36 Hier hat das Gericht in den Randnrn. 78 bis 82 des angefochtenen Urteils das Vorbringen der Rechtsmittelführerin wiedergegeben, wonach die Kommission die Praktiken einer Tochtergesellschaft nur dann deren Muttergesellschaft zurechnen dürfe, wenn sie – was sie im vorliegenden Fall nicht getan habe – nachweise, dass die Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft auf dem Markt tatsächlich bestimme.
37 Bezüglich dieses Vorbringens hat das Gericht zunächst in Randnr. 87 des angefochtenen Urteils auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen, nach der dann, wenn eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen hat, eine widerlegbare Vermutung besteht, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt.
38 Das Gericht hat sodann festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin eine 100%ige Tochter von Groupe Gascogne sei, was ausreiche, um diese Vermutung gelten zu lassen. Es hat auch auf bestimmte zusätzliche Indizien hingewiesen, die die Kommission in diesem Zusammenhang angeführt hatte.
39 Nachdem das Gericht in Randnr. 89 des angefochtenen Urteils die von der Rechtsmittelführerin für ihre Eigenständigkeit geltend gemachten konkreten Gesichtspunkte aufgeführt hatte, hat es in Randnr. 90 dieses Urteils ausdrücklich festgestellt, dass diese nicht geeignet seien, die Vermutung zu widerlegen, dass Groupe Gascogne einen bestimmenden Einfluss auf die Rechtsmittelführerin ausübe. Es hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass Letztere sich auf bloße Behauptungen beschränkt und keine entsprechenden Beweisangebote gemacht habe.
40 Wie die Generalanwältin in Nr. 63 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, hat das Gericht zwar nicht ausdrücklich auf die der Rechtsmittelführerin obliegende Pflicht zur Widerlegung der in Randnr. 87 des angefochtenen Urteils genannten Vermutung Bezug genommen, doch sind die einzelnen Überlegungen, die das Gericht dazu veranlasst haben, die von der Rechtsmittelführerin vorgetragenen Gesichtspunkte zurückzuweisen, in den Randnrn. 88 bis 90 dieses Urteils klar und unmissverständlich dargestellt.
41 Die in den Randnrn. 87 bis 90 des angefochtenen Urteils enthaltene Begründung des Gerichts reicht daher aus, um es der Rechtsmittelführerin zu ermöglichen, die Gründe zu erkennen, auf denen dieses Urteil beruht, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben an die Hand zu geben, damit er seine Kontrollaufgabe im Rahmen eines Rechtsmittels wahrnehmen kann.
42 Der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes
– Vorbringen der Parteien
43 Die Rechtsmittelführerin weist darauf hin, dass sie vor dem Gericht die von ihr allein zu entrichtende Geldbuße von 3,3 Mio. Euro beanstandet habe, die den Zeitraum vom 9. Februar 1988 bis zum 31. Dezember 1993 betreffe, in dem sie nicht Groupe Gascogne gehört habe. Dieser Betrag liege über der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 genannten Obergrenze von 10 % des von dem betreffenden Unternehmen im vorangegangenen Geschäftsjahr erzielten Umsatzes. Die Rechtsmittelführerin stützt sich insoweit auf die Entscheidung K(2003) 4570 endg. der Kommission vom 10. Dezember 2003 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide), von der eine Zusammenfassung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. April 2005 (ABl. L 110, S. 44, im Folgenden: Entscheidung „Organische Peroxide“) veröffentlicht sei. Nach dieser Entscheidung müsse die Kommission, wenn sie zwischen dem Zeitraum, in dem ein Unternehmen für seine Praktiken allein verantwortlich sei, und demjenigen Zeitraum unterscheide, in dem die Muttergesellschaft, die die Kontrolle über dieses Unternehmen erworben habe, für die Praktiken ihrer Tochtergesellschaft verantwortlich werde, auch die Obergrenze von 10 % des im vorangegangenen Geschäftsjahr erzielten Umsatzes für die beiden Unternehmen getrennt beurteilen.
44 In ihrer Rechtsmittelschrift trägt die Rechtsmittelführerin vor, dass das Gericht in Randnr. 109 des angefochtenen Urteils einfach nur befunden habe, die Kommission sei an ihre frühere Entscheidungspraxis nicht gebunden. Dies sei rechtsfehlerhaft. Vielmehr hätte es das Gericht ahnden müssen, dass die Kommission ihre Praxis geändert habe, ohne diese geänderte Herangehensweise ausführlich und unmissverständlich zu begründen. Hierbei stützt sich die Rechtsmittelführerin auf das Urteil vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission (C-521/09 P, Slg. 2011, I-8947, Randnr. 167).
45 Die Kommission meint, allein darin, dass sie in einer früheren Entscheidung anders habe vorgehen können, liege noch keine „Begründung einer üblichen Praxis“. Die dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegende Situation habe nichts mit derjenigen zu tun, die dem von der Rechtsmittelführerin angeführten Urteil zugrunde liege, in dem sich der Gerichtshof auf außergewöhnliche Umstände gestützt habe (Urteil Elf Aquitaine/Kommission, Randnrn. 165 und 167).
– Würdigung durch den Gerichtshof
46 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil Elf Aquitaine/Kommission, Randnr. 146 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Im vorliegenden Fall hat die Rechtsmittelführerin vor dem Gericht in Abrede gestellt, dass die Kommission in der streitigen Entscheidung die richtige Methode zur Berechnung der von ihr allein zu entrichtenden Geldbuße angewandt hat. Sie hat sich zur Untermauerung ihres Vorbringens auf die Entscheidung „Organische Peroxide“ gestützt, ohne die Angemessenheit der Begründung der streitigen Entscheidung in diesem Punkt in Frage zu stellen.
48 In den Randnrn. 107 und 108 des angefochtenen Urteils hat das Gericht anhand des Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 geprüft, ob die Kommission insoweit die richtige Methode angewandt hat, und das Vorbringen der Rechtsmittelführerin in der Sache zurückgewiesen.
49 Nur ergänzend hat das Gericht in Randnr. 109 des angefochtenen Urteils bemerkt, es sei für die Auslegung von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 unerheblich, dass die Kommission in ihrer früheren Entscheidungspraxis dieser Bestimmung eine andere Auslegung gegeben habe, die sich für die jeweilige Gesellschaft als günstig erwiesen habe.
50 Mit dem zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes wird jedoch nicht die vom Gericht in den Randnrn. 107 und 108 des angefochtenen Urteils vorgenommene rechtliche Würdigung beanstandet, sondern ein Rechtsfehler gerügt, der dem Gericht in Randnr. 109 dieses Urteils dadurch unterlaufen sein soll, dass es die unzulängliche Begründung der streitigen Entscheidung hinsichtlich der Abweichung von der Entscheidung „Organische Peroxide“ nicht geahndet habe.
51 Mit diesem Teil wird somit neues Vorbringen eingeführt, mit dem die Angemessenheit der Begründung der streitigen Entscheidung hinsichtlich der Berechnungsmethode, die die Kommission zur Ermittlung der gesetzlichen Obergrenze von 10 % angewandt hat, in Abrede gestellt wird.
52 Folglich ist dieses Vorbringen für unzulässig zu erklären, da der Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich nur dafür zuständig ist, die rechtliche Entscheidung im ersten Rechtszug über das Parteivorbringen zu beurteilen.
53 Die Rechtsmittelführerin kann auch nicht, wie sie es in der mündlichen Verhandlung getan hat, geltend machen, dass sich der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes auf eine rechtsfehlerhafte Auslegung von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 durch das Gericht beziehe.
54 Mit diesem Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes wird nämlich im Rechtsmittelverfahren ausdrücklich ein „Begründungsmangel“ gerügt. Auch in ihrem Vorbringen bezieht sich die Rechtsmittelführerin nur auf Randnr. 109 des angefochtenen Urteils, in der lediglich darauf hingewiesen wird, dass die Kommission nicht an ihre frühere Entscheidungspraxis gebunden sei, und keine Auslegung des Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgenommen wird.
55 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen kann der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes keinen Erfolg haben. Daher ist dieser Rechtsmittelgrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum dritten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
56 Mit dem ersten Teil ihres dritten Rechtsmittelgrundes trägt die Rechtsmittelführerin vor, das Gericht habe verkannt, dass die Kommission gegen ihre Pflicht verstoßen habe, die streitige Entscheidung hinsichtlich der konkreten Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt zu begründen.
57 Zwar sei die Kommission nach den Leitlinien von 1998 in der Auslegung des Gerichtshofs nicht verpflichtet, konkrete Auswirkungen auf den Markt nachzuweisen, wenn die Zuwiderhandlung wie im vorliegenden Fall als besonders schwer eingestuft sei. Die Berücksichtigung eines solchen zusätzlichen Gesichtspunkts ermögliche es der Kommission jedoch, den Grundbetrag der Geldbuße zu erhöhen.
58 Die Begründung der streitigen Entscheidung sei insoweit nicht eindeutig. Die Kommission habe dadurch, dass sie ausführlich auf die Auswirkungen der Zuwiderhandlung eingegangen sei, obwohl sie dazu nicht verpflichtet gewesen sei, Zweifel daran hervorgerufen, ob dieses Kriterium zur Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße herangezogen worden sei oder nicht. Die Verwirrung sei noch dadurch gesteigert worden, dass die Kommission zum einen festgestellt habe, dass die Auswirkungen auf den Markt nicht messbar seien, und zum anderen, dass diese Auswirkungen zwangsläufig aus der Umsetzung der Kartellvereinbarungen abzuleiten seien. Die Rechtsmittelführerin sei so daran gehindert worden, ihre Verteidigung sachdienlich vorzubereiten. Das Gericht habe die Begründung der streitigen Entscheidung nicht überprüft und seinerseits eine unlogische und unzureichende Begründung gegeben.
59 Mit dem zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes wirft die Rechtsmittelführerin dem Gericht vor, den Rechtsfehler der Kommission nicht geahndet zu haben, den diese dadurch begangen habe, dass sie das Vorliegen konkreter Auswirkungen auf den Markt allein aus der Umsetzung der Kartellvereinbarungen abgeleitet habe, ohne, wie von der Rechtsprechung gefordert, konkrete, glaubhafte und ausreichende Indizien vorzulegen.
60 Die Kommission hält diesen Grund in beiden Teilen für unzulässig, da er nicht im ersten Rechtszug geltend gemacht worden sei. Vor dem Gericht habe die Rechtsmittelführerin lediglich vorgetragen, dass ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung begrenzt und darum auch deren Auswirkung nur gering gewesen sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
61 Um die Zulässigkeit des dritten Rechtsmittelgrundes zu beurteilen, ist an das Vorbringen der Rechtsmittelführerin im ersten Rechtszug zur Frage der Auswirkungen der Zuwiderhandlung auf den Markt zu erinnern.
62 Diese Frage ist vor dem Gericht im Rahmen des vierten Klagegrundes angesprochen worden, mit dem die Herabsetzung der Geldbuße mit der Begründung begehrt wurde, dass die Kommission die Schwere der Zuwiderhandlung falsch beurteilt habe. Wie sich aus den Randnrn. 113 bis 115 des angefochtenen Urteils ergibt, hatte die Rechtsmittelführerin der Kommission erstens vorgeworfen, sie sei unter Verstoß gegen die Leitlinien von 1998 davon ausgegangen, dass die Schwere der Zuwiderhandlung auch dann festgestellt werden könne, wenn deren Auswirkungen auf den Markt nicht messbar seien. Zweitens hatte sie vorgetragen, die Kommission habe dennoch versucht, konkrete Auswirkungen des Kartells nachzuweisen, indem sie auf einige Praktiken – an denen die Rechtsmittelführerin nicht beteiligt gewesen sei – hingewiesen habe, die ihrer Ansicht nach bei der Beurteilung der Schwere der der Rechtsmittelführerin zuzurechnenden Zuwiderhandlung zu berücksichtigen seien. Drittens hatte die Rechtsmittelführerin geltend gemacht, die Kommission habe selbst eingeräumt, dass sich die konkreten Auswirkungen der Zuwiderhandlung nicht genau messen ließen, was nach Ansicht der Rechtsmittelführerin eine Herabsetzung der Geldbuße rechtfertigte.
63 Es zeigt sich somit, dass das Vorbringen der Rechtsmittelführerin im Rahmen des ersten Teils ihres dritten Rechtsmittelgrundes, mit dem ein Begründungsmangel der streitigen Entscheidung gerügt wird, neu ist, da die Rechtsmittelführerin im ersten Rechtszug keine Schwierigkeiten in Bezug auf das Verständnis der Entscheidung oder die Vorbereitung ihrer Verteidigung geltend gemacht hatte.
64 Aus den in Randnr. 52 des vorliegenden Urteils angegebenen Gründen ist dieser Teil des Rechtsmittelgrundes daher als unzulässig zurückzuweisen.
65 Auch der zweite Teil des dritten Rechtsmittelgrundes – mit dem gerügt wird, das Gericht habe verkannt, dass der Kommission bei der Prüfung der Frage, ob Auswirkungen auf den Markt vorlägen, ein Rechtsfehler unterlaufen sei – ist in Anbetracht des in Randnr. 62 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen erstinstanzlichen Vorbringens der Rechtsmittelführerin als neu anzusehen. Er ist daher ebenfalls aus den in Randnr. 52 des vorliegenden Urteils angeführten Gründen unzulässig.
66 Da keiner der beiden Teile des dritten Rechtsmittelgrundes durchgreifen kann, ist dieser Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum vierten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
67 Mit diesem Rechtsmittelgrund trägt die Rechtsmittelführerin vor, ihr in Art. 6 der EMRK verbürgtes Grundrecht darauf, dass über ihre Sache innerhalb angemessener Frist entschieden werde, sei im vorliegenden Fall verletzt worden.
68 Die Rechtsmittelführerin erinnert daran, dass das Verfahren vor dem Gericht am 23. Februar 2006 begonnen habe und am 16. November 2011 beendet worden sei. Zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und der ersten Mitteilung, die sie zum Stand des Verfahrens erhalten habe, habe eine lange Zeit der Untätigkeit des Gerichts gelegen.
69 Weder die Komplexität oder der Umfang der Akten noch die Zahl der in Rede stehenden Unternehmen oder Verfahrenssprachen könnten es rechtfertigen, dass sich das Gericht in diesem Zeitraum überhaupt nicht mit der Rechtssache beschäftigt habe.
70 Als sie beim Gericht ihre Klage gegen die streitige Entscheidung erhoben habe, habe sie beschlossen, die festgesetzte Geldbuße nicht sofort zu entrichten. Dafür habe sie aber Zinsen auf den Geldbußenbetrag zahlen und eine Bankbürgschaft stellen müssen. Die überlange Verfahrensdauer habe eine Erhöhung der mit diesem Vorgehen verbundenen Kosten bewirkt.
71 Die Rechtsmittelführerin beantragt daher, das angefochtene Urteil aufzuheben oder, hilfsweise, die gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen, um diesen finanziellen Auswirkungen Rechnung zu tragen. Hierfür sei auf die finanzielle Belastung abzustellen, die sie wegen der Verletzung ihres Rechts auf Wahrung einer angemessenen Entscheidungsfrist habe tragen müssen.
72 Die Kommission rügt diesen Rechtsmittelgrund als unzulässig, denn er sei nicht in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht geltend gemacht worden.
73 In der Sache macht die Kommission geltend, dass die geeignete Abhilfe bei einer Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der gegen ein Unternehmen eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht verhängt worden sei, nicht in einer Herabsetzung der festgesetzten Geldbuße bestehe, sondern in einer Schadensersatzklage. Hilfsweise trägt die Kommission vor, dass diese Herabsetzung, wenn nach Auffassung des Gerichtshofs der Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verletzt und dem Verstoß durch eine Herabsetzung der Geldbuße abzuhelfen sei, allenfalls symbolisch sein dürfe.
Würdigung durch den Gerichtshof
– Zur Zulässigkeit
74 Wie aus Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs und dessen Rechtsprechung hervorgeht, kann der Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels nachprüfen, ob das Gericht Verfahrensfehler begangen hat, durch die die Interessen des Rechtsmittelführers beeinträchtigt werden (vgl. u. a. Urteil vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Randnr. 176).
75 Zu der mit dem vorliegenden Rechtsmittelgrund geltend gemachten Unregelmäßigkeit ist unabhängig davon, dass sich die Rechtsmittelführerin auf Art. 6 Abs. 1 der EMRK bezieht, festzustellen, dass nach dem dieser Bestimmung entsprechenden Art. 47 Abs. 2 der Charta „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, betrifft dieser Artikel den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. u. a. Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 179 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Damit gilt dieses Recht auch im Rahmen einer Klage gegen eine Entscheidung der Kommission (vgl. u. a. Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 178 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Obwohl die Rechtsmittelführerin in erster Linie den Zeitraum der Untätigkeit des Gerichts zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens beanstandet, hat sie die Verletzung dieses Rechts in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht nicht geltend gemacht.
78 Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann diese Unterlassung nicht dazu führen, dass der vierte Rechtsmittelgrund deshalb unzulässig wäre, weil er erstmals im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht worden sei. Denn eine Partei muss zwar einen Verfahrensfehler geltend machen können, wenn sie der Auffassung ist, dass ein Verstoß gegen die geltenden Vorschriften vorliegt, sie kann aber nicht verpflichtet sein, dies in einem Stadium zu tun, in dem die volle Auswirkung dieses Verstoßes noch nicht bekannt ist. Was speziell die Überschreitung einer angemessenen Entscheidungsfrist durch das Gericht betrifft, muss die klägerische Partei, die meint, dass diese Überschreitung vor dem Gericht ihre Interessen beeinträchtigt, diesen Verstoß nicht unverzüglich geltend machen. Sie kann gegebenenfalls den Abschluss des Verfahrens abwarten, um dessen Gesamtdauer und somit sämtliche Umstände in Erfahrung zu bringen, deren Kenntnis es bedarf, um die nach ihrer Auffassung erlittene Rechtsverletzung zu benennen.
79 Mithin ist der vierte Rechtsmittelgrund zulässig.
– Zur Begründetheit
80 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Überschreitung einer angemessenen Entscheidungsfrist als ein Verfahrensfehler, der die Verletzung eines Grundrechts darstellt, der betreffenden Partei einen Rechtsbehelf eröffnen muss, der ihr eine angemessene Wiedergutmachung bietet (vgl. Urteil des EGMR vom 26. Oktober 2000, Kudla/Polen, Recueil des arrêts et décisions, 2000 XI, §§ 156 und 157).
81 Soweit die Rechtsmittelführerin die Aufhebung des angefochtenen Urteils und hilfsweise eine Herabsetzung der gegen sie festgesetzten Geldbuße beantragt, ist festzustellen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte dafür, dass die überlange Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnrn. 190 und 196 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
82 Diese Rechtsprechung beruht insbesondere auf der Erwägung, dass die Aufhebung des angefochtenen Urteils, wenn die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist keine Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits hat, dem vom Gericht begangenen Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht abhelfen kann (Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 193).
83 Im vorliegenden Fall hat die Rechtsmittelführerin dem Gerichtshof keinen Anhaltspunkt dafür vorgetragen, dass sich die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist durch das Gericht auf den Ausgang des bei diesem anhängigen Rechtsstreits auswirken konnte.
84 Außerdem kann der Gerichtshof angesichts der Notwendigkeit, die Beachtung des Wettbewerbsrechts der Union durchzusetzen, der Rechtsmittelführerin nicht aus dem bloßen Grund der Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist erlauben, eine Geldbuße dem Grund oder der Höhe nach in Frage zu stellen, obwohl sämtliche Rechtsmittelgründe, die sie gegen die Feststellungen des Gerichts zur Höhe dieser Geldbuße und zu den mit ihr geahndeten Verhaltensweisen vorgebracht hat, zurückgewiesen worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 194).
85 Daraus folgt, dass der vierte Rechtsmittelgrund entgegen dem Antrag der Rechtsmittelführerin als solcher nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen kann.
86 Soweit die Rechtsmittelführerin eine Herabsetzung der gegen sie festgesetzten Geldbuße beantragt, um den finanziellen Folgen Rechnung zu tragen, die sich für sie aus der überlangen Dauer des Verfahrens vor dem Gericht ergeben haben, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, als er mit einem ähnlichen Sachverhalt befasst war, einem solchen Antrag zunächst aus Gründen der Prozessökonomie und im Hinblick darauf, dass gegen einen solchen Verfahrensfehler ein unmittelbarer und effektiver Rechtsbehelf gegeben sein muss, stattgegeben und folglich die Geldbuße herabgesetzt hat (Urteil vom 17. Dezember 1998, Baustahlgewebe/Kommission, C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Randnr. 48).
87 Später hat der Gerichtshof in einer Rechtssache, in der es um eine Entscheidung der Kommission ging, mit der ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung festgestellt, aber keine Geldbuße verhängt wurde, entschieden, dass die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist durch das Gericht zu einer Schadensersatzklage führen kann (Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 195).
88 Die vorliegende Rechtssache betrifft zwar einen Sachverhalt, der mit demjenigen vergleichbar ist, der dem Urteil Baustahlgewebe/Kommission zugrunde lag. Eine auf der Grundlage der Art. 268 AEUV und 340 Abs. 2 AEUV gegen die Union erhobene Schadensersatzklage stellt jedoch, da sie alle Fälle der Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer abdecken kann, einen effektiven und allgemeinen Rechtsbehelf zur Geltendmachung und Ahndung eines solchen Verstoßes dar.
89 Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass der Verstoß eines Unionsgerichts gegen seine Pflicht nach Art. 47 Abs. 2 der Charta, in den bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, mit einer Schadensersatzklage vor dem Gericht zu ahnden ist, da eine solche Klage einen effektiven Rechtsbehelf darstellt.
90 Daraus folgt, dass der Ersatz des Schadens, der durch die Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer durch das Gericht verursacht wurde, nicht unmittelbar im Rahmen eines Rechtsmittels beim Gerichtshof beantragt werden kann, sondern beim Gericht selbst eingeklagt werden muss.
91 Zu den Kriterien, anhand deren zu beurteilen ist, ob das Gericht den Grundsatz der angemessenen Entscheidungsfrist beachtet hat, ist festzustellen, dass die Angemessenheit der Entscheidungsfrist anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache, etwa der Komplexität des Rechtsstreits und des Verhaltens der Parteien, zu beurteilen ist (vgl. u. a. Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 181 und die dort angeführte Rechtsprechung).
92 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die Liste der relevanten Kriterien nicht abschließend ist und dass die Beurteilung der Angemessenheit dieser Frist keine systematische Prüfung der Umstände des Falles anhand jedes Kriteriums erfordert, wenn die Dauer des Verfahrens anhand eines von ihnen gerechtfertigt erscheint. Die Komplexität der Sache oder vom Kläger herbeigeführte Verzögerungen können daher herangezogen werden, um eine auf den ersten Blick zu lange Dauer zu rechtfertigen (vgl. u. a. Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 182 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Bei der Prüfung dieser Kriterien ist zu berücksichtigen, dass bei einem Rechtsstreit über eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln das grundlegende Gebot der für die Wirtschaftsteilnehmer unerlässlichen Rechtssicherheit und das Ziel, zu gewährleisten, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird, nicht nur für den Rechtsmittelführer und seine Konkurrenten, sondern wegen der großen Zahl betroffener Personen und der berührten finanziellen Interessen auch für Dritte von erheblichem Interesse sind (vgl. u. a. Urteil Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, Randnr. 186 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Es ist ebenfalls Sache des Gerichts, unter Prüfung der hierzu vorgelegten Nachweise sowohl die Verwirklichung des geltend gemachten Schadens als auch den Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und der überlangen Dauer des streitigen Gerichtsverfahrens zu beurteilen.
95 Insoweit ist hervorzuheben, dass das Gericht im Fall einer Schadensersatzklage mit der Begründung, es habe die Anforderungen zur Wahrung einer angemessenen Entscheidungsfrist verkannt und dadurch Art. 47 Abs. 2 der Charta verletzt, gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV die allgemeinen Grundsätze zu berücksichtigen hat, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten für auf ähnliche Verstöße gestützte Klagen gelten. In diesem Zusammenhang muss das Gericht insbesondere untersuchen, ob sich feststellen lässt, dass die von der Fristüberschreitung betroffene Partei neben einem materiellen Schaden auch einen immateriellen Schaden erlitten hat, der gegebenenfalls angemessen zu entschädigen ist.
96 Es ist daher Sache des nach Art. 256 Abs. 1 AEUV zuständigen Gerichts, über solche Schadensersatzklagen in einer anderen Besetzung als derjenigen, in der es mit dem als überlang gerügten Verfahren befasst war, und unter Heranziehung der in den Randnrn. 91 bis 95 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien zu entscheiden.
97 Dies vorausgeschickt, ist festzustellen, dass sich die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht, die sich auf fast fünf Jahre und neun Monate belief, durch keinen der Umstände der Rechtssache, die zum vorliegenden Rechtsstreit geführt hat, rechtfertigen lässt.
98 So ist insbesondere zu konstatieren, dass zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens mit der Einreichung der Gegenerwiderung der Kommission im Februar 2007 und der Eröffnung der mündlichen Verhandlung im Dezember 2010 etwa drei Jahre und zehn Monate lagen. Die Länge dieser Zeitspanne lässt sich nicht mit den Umständen der Rechtssache erklären, ob es sich nun um die Komplexität des Rechtsstreits, das Verhalten der Parteien oder Zwischenstreitigkeiten handelt.
99 Was die Komplexität der Rechtssache angeht, so ergibt eine Überprüfung der in den Randnrn. 12 und 13 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Klage der Rechtsmittelführerin, dass die geltend gemachten Klagegründe zwar eine eingehende Prüfung erforderlich machten, aber keinen besonders hohen Schwierigkeitsgrad aufwiesen. Auch dass 15 Adressaten der streitigen Entscheidung beim Gericht Klagen auf deren Nichtigerklärung erhoben hatten, kann das Gericht nicht daran gehindert haben, innerhalb von weniger als drei Jahren und zehn Monaten eine Zusammenfassung der Akten zu erstellen und die mündliche Verhandlung vorzubereiten.
100 Es ist hervorzuheben, dass das Gericht während dieser Zeitspanne das Verfahren weder unterbrochen noch verzögert hat, indem es irgendeine prozessleitende Maßnahme erlassen hätte.
101 Was das Verhalten der Parteien und das Auftreten von Zwischenstreitigkeiten anbelangt, kann der Umstand, dass die Rechtsmittelführerin im Oktober 2010 die Wiedereröffnung des schriftlichen Verfahrens beantragt hat, nicht die seit dessen Abschluss bereits abgelaufene Zeitspanne von drei Jahren und acht Monaten rechtfertigen. Dass der Rechtsmittelführerin im Dezember 2010 mitgeteilt wurde, die mündliche Verhandlung werde im Februar 2011 stattfinden, zeigt darüber hinaus, wie die Generalanwältin in Nr. 134 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dass sich dieser Zwischenstreit auf die Gesamtdauer des Verfahrens allenfalls geringfügig oder gar nicht ausgewirkt hat.
102 Nach alledem ist festzustellen, dass das Verfahren vor dem Gericht gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta verstoßen hat, da die Anforderungen zur Wahrung einer angemessenen Entscheidungsfrist verkannt wurden. Dies bildet einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen (Urteil vom 4. Juli 2000, Bergaderm und Goupil/Kommission, C-352/98 P, Slg. 2000, I-5291, Randnr. 42).
103 Aus den in den Randnrn. 81 bis 90 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen ergibt sich jedoch, dass der vierte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen ist.
Zur Finanzlage der Rechtsmittelführerin
104 In der mündlichen Verhandlung hat die Rechtsmittelführerin dem Gerichtshof Angaben zu ihrer gegenwärtigen Finanzlage vorgelegt, aus denen sich ergeben soll, dass sie die in der streitigen Entscheidung festgesetzte Geldbuße nicht zahlen kann. Diese Ausführungen sind ihrer Ansicht nach zulässig, da sie zum einen im Zusammenhang mit einer neuen Tatsache im Sinne von Art. 127 der Verfahrensordnung stünden und zum anderen eine Erweiterung des vierten Rechtsmittelgrundes darstellten, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Entscheidungsfrist gerügt werde.
105 Die Kommission macht geltend, dass dieses Vorbringen neu und damit unzulässig, jedenfalls aber unbegründet sei, weil es nicht durch Beweise erhärtet werde.
106 Hierzu ist festzustellen, dass beim Gerichtshof eingelegte Rechtsmittel auf Rechtsfragen beschränkt sind. Um beurteilen zu können, ob die Rechtsmittelführerin in der Lage ist, die ihr von der Kommission auferlegte Geldbuße zu zahlen, müsste der Gerichtshof Tatsachenfragen prüfen, die im Rahmen eines Rechtsmittels nicht in seine Zuständigkeit fallen.
107 Ebenso wenig darf der Gerichtshof bei seiner Entscheidung über ein Rechtsmittel seine eigene Würdigung aus Gründen der Billigkeit an die Stelle der Würdigung des Gerichts setzen, das in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung über die Höhe der wegen Verletzung des Unionsrechts gegen ein Unternehmen verhängte Geldbuße entscheidet (vgl. u. a. Urteil vom 10. Mai 2007, SGL Carbon/Kommission, C‑328/05 P, I‑3921, Randnr. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung). Überdies ist die Kommission nach ständiger Rechtsprechung nicht verpflichtet, bei der Bemessung der Geldbuße die wirtschaftliche Lage des betroffenen Unternehmens zu berücksichtigen, da die Anerkennung einer solchen Verpflichtung darauf hinauslaufen würde, den am wenigsten den Marktbedingungen angepassten Unternehmen ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile zu verschaffen (vgl. u. a. Urteil SGL Carbon/Kommission, Randnr. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung).
108 Das Vorbringen der Rechtsmittelführerin zu ihrer Finanzlage ist daher als unzulässig und jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen.
109 Es ist jedoch hinzuzufügen, dass es der Rechtsmittelführerin freisteht, ihre finanziellen Schwierigkeiten, soweit sie einen Kausalzusammenhang zwischen diesen und der Nichteinhaltung des Grundsatzes einer angemessenen Entscheidungsfrist durch das Gericht für gegeben hält, im Rahmen einer beim Gericht nach den Art. 268 AEUV und 340 Abs. 2 AEUV erhobenen Klage geltend zu machen (vgl. Randnrn. 94 bis 96 des vorliegenden Urteils).
110 Nach alledem greift keiner der von der Rechtsmittelführerin geltend gemachten Rechtsmittelgründe durch, so dass das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen ist.
Kosten
111 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist, über die Kosten.
112 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der gemäß deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Rechtsmittelführerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem entsprechenden Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Gascogne Sack Deutschland GmbH trägt die Kosten des Rechtsmittelverfahrens.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 29. November 2012.#Groupement des cartes bancaires (CB) gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Entscheidung über einen Unternehmenszusammenschluss – Markt für die Ausgabe von Zahlungskarten in Frankreich – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Auf ‚neue Mitglieder‘ anwendbare Tarifmaßnahmen – Anspruch auf Zugang zu den Mechanismen der ‚Regelung der Erwerberfunktion‘ und des ‚Weckens von Schläfern‘ – Relevanter Markt – Gegenstand der betreffenden Maßnahmen – Wettbewerbsbeschränkung durch den Gegenstand – Art. 81 Abs. 3 EG – Offensichtliche Beurteilungsfehler – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Verhältnismäßigkeit – Rechtssicherheit.#Rechtssache T‑491/07.
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62007TJ0491
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ECLI:EU:T:2012:633
| 2012-11-29T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung 2012 -00000
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 15. November 2012.#Stichting Al-Aqsa gegen Rat der Europäischen Union und Königreich der Niederlande gegen Stichting Al-Aqsa.#Rechtsmittel – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Bekämpfung des Terrorismus – Gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen – Einfrieren von Geldern – Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP – Art. 1 Abs. 4 und 6 – Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 – Art. 2 Abs. 3 – Aufnahme einer Organisation in die Liste der an terroristischen Handlungen beteiligten Personen, Vereinigungen und Körperschaften und Verbleib in dieser Liste – Voraussetzungen – Beschluss, den eine zuständige Behörde gefasst hat – Aufhebung einer nationalen Maßnahme – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit des Rechtsmittels – Recht auf Achtung des Eigentums – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Art. 253 EG – Begründungspflicht.#Verbundene Rechtssachen C‑539/10 P und C‑550/10 P.
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62010CJ0539
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ECLI:EU:C:2012:711
| 2012-11-15T00:00:00 |
Trstenjak, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010CJ0539
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
15. November 2012 (*1)
Inhaltsverzeichnis
I – Rechtlicher Rahmen
A – Die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
B – Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP
C – Verordnung (EG) Nr. 2580/2001
II – Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Rechtsakte
III – Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
IV – Anträge der Verfahrensbeteiligten und Verfahren vor dem Gerichtshof
V – Die Rechtsmittel
A – Zum Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin (C-539/10 P)
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
2. Würdigung durch den Gerichtshof
B – Zum Rechtsmittel des Königreichs der Niederlande (C-550/10 P)
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Auslegung von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
b) Erfordernisse des Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
C – Zum Anschlussrechtsmittel der Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C-550/10 P
VI – Zur Klage vor dem Gericht
A – Erster Klagegrund
B – Dritter Klagegrund
C – Zweiter und vierter Klagegrund
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
2. Würdigung durch den Gerichtshof
D – Fünfter Klagegrund
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
2. Würdigung durch den Gerichtshof
VII – Kosten
„Rechtsmittel — Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Bekämpfung des Terrorismus — Gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen — Einfrieren von Geldern — Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP — Art. 1 Abs. 4 und 6 — Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 — Art. 2 Abs. 3 — Aufnahme einer Organisation in die Liste der an terroristischen Handlungen beteiligten Personen, Vereinigungen und Körperschaften und Verbleib in dieser Liste — Voraussetzungen — Beschluss, den eine zuständige Behörde gefasst hat — Aufhebung einer nationalen Maßnahme — Nichtigkeitsklage — Zulässigkeit des Rechtsmittels — Recht auf Achtung des Eigentums — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — Art. 253 EG — Begründungspflicht“
In den verbundenen Rechtssachen C-539/10 P und C-550/10 P
betreffend zwei Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 18. und 23. November 2010,
Stichting Al-Aqsa (C-539/10 P) mit Sitz in Heerlen (Niederlande), Prozessbevollmächtigte: M. J. G. Uiterwaal und A. M. van Eik, advocaten,
Rechtsmittelführerin,
anderer Verfahrensbeteiligter:
Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Finnegan, B. Driessen und R. Szostak als Bevollmächtigte,
Beklagter im ersten Rechtszug,
unterstützt durch
Königreich der Niederlande, vertreten durch C. M. Wissels und M. Bulterman als Bevollmächtigte,
Europäische Kommission, vertreten durch S. Boelaert und P. van Nuffel als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelfer im ersten Rechtszug,
und
Königreich der Niederlande (C-550/10 P), vertreten durch C. M. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführer,
andere Verfahrensbeteiligte:
Stichting Al-Aqsa mit Sitz in Heerlen (Niederlande), Prozessbevollmächtigter: A. M. van Eik, advocaat,
Klägerin im ersten Rechtszug,
Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Finnegan, B. Driessen und R. Szostak als Bevollmächtigte,
Beklagter im ersten Rechtszug,
Europäische Kommission, vertreten durch S. Boelaert und P. van Nuffel als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelferin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter K. Lenaerts, G. Arestis, J. Malenovský und T. von Danwitz (Berichterstatter),
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. Juni 2012
folgendes
Urteil
1 Mit ihren Rechtsmitteln beantragen die Stichting Al-Aqsa (im Folgenden: Rechtsmittelführerin) (C-539/10 P) und das Königreich der Niederlande (C-550/10 P) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 9. September 2010, Al-Aqsa/Rat (T-348/07, Slg. 2010, II-4575, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht folgende Handlungen, soweit sie die Rechtsmittelführerin betreffen (im Folgenden zusammen: streitige Rechtsakte), für nichtig erklärt hat:
—
Beschluss 2007/445/EG des Rates vom 28. Juni 2007 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Beschlüsse 2006/379/EG und 2006/1008/EG (ABl. L 169, S. 58),
—
Beschluss 2007/868/EG des Rates vom 20. Dezember 2007 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2007/445 (ABl. L 340, S. 100),
—
Beschluss 2008/583/EG des Rates vom 15. Juli 2008 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2007/868 (ABl. L 188, S. 21),
—
Beschluss 2009/62/EG des Rates vom 26. Januar 2009 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2008/583 (ABl. L 23, S. 25) sowie
—
Verordnung (EG) Nr. 501/2009 des Rates vom 15. Juni 2009 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/62 (ABl. L 151, S. 14).
I – Rechtlicher Rahmen
A – Die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
2 Am 28. September 2001 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1373 (2001), mit der Strategien festgelegt wurden, um den Terrorismus und insbesondere dessen Finanzierung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Ziff. 1 Buchst. c dieser Resolution bestimmt u. a., dass alle Staaten unverzüglich Gelder und sonstige finanzielle Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen von Personen einfrieren werden, die terroristische Handlungen begehen, zu begehen versuchen oder sich an deren Begehung beteiligen oder diese erleichtern, sowie von Einrichtungen, die im Eigentum oder unter der Kontrolle dieser Personen stehen, und von Personen und Einrichtungen, die im Namen oder auf Anweisung dieser Personen und Einrichtungen handeln.
3 Diese Resolution sieht keine Liste von Personen vor, auf die diese restriktiven Maßnahmen anzuwenden sind.
B – Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP
4 Der Rat der Europäischen Union nahm am 27. Dezember 2001 zur Durchführung der Resolution 1373 (2001) den Gemeinsamen Standpunkt 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. L 344, S. 93) an.
5 Nach seinem Art. 1 Abs. 1 gilt dieser Gemeinsame Standpunkt „für die im Anhang aufgeführten Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind“. Art. 1 Abs. 2 des Gemeinsamen Standpunkts legt fest, was unter „Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind“, zu verstehen ist.
6 Art. 1 Abs. 3, 4 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 lautet:
„(3) Im Sinne dieses Gemeinsamen Standpunkts bezeichnet der Ausdruck ‚terroristische Handlung‘ eine der nachstehend aufgeführten vorsätzlichen Handlungen, die durch ihre Art oder durch ihren Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen kann und im innerstaatlichen Recht als Straftat definiert ist, wenn sie mit dem Ziel begangen wird,
i)
die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder
ii)
eine Regierung oder eine internationale Organisation unberechtigterweise zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder
iii)
die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören:
…
k)
Beteiligung an den Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Aktivitäten in dem Wissen, dass diese Beteiligung zu den kriminellen Aktivitäten der Gruppe beiträgt.
…
(4) Die Liste im Anhang wird auf der Grundlage genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten erstellt, aus denen sich ergibt, dass eine zuständige Behörde – gestützt auf ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien – gegenüber den betreffenden Personen, Vereinigungen oder Körperschaften einen Beschluss gefasst hat, bei dem es sich um die Aufnahme von Ermittlungen oder um Strafverfolgung wegen einer terroristischen Handlung oder des Versuchs, eine terroristische Handlung zu begehen, daran teilzunehmen oder sie zu erleichtern oder um eine Verurteilung für derartige Handlungen handelt. Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als mit dem Terrorismus in Verbindung stehend bezeichnet worden sind oder gegen die er Sanktionen angeordnet hat, können in die Liste aufgenommen werden.
Im Sinne dieses Absatzes bezeichnet der Ausdruck ‚zuständige Behörde‘ eine Justizbehörde oder, sofern die Justizbehörden keine Zuständigkeit in dem von diesem Absatz erfassten Bereich haben, eine entsprechende zuständige Behörde in diesem Bereich.
…
(6) Die Namen von Personen oder Körperschaften, die in der Liste im Anhang aufgeführt sind, werden mindestens einmal pro Halbjahr einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen, um sicherzustellen, dass ihr Verbleib auf der Liste nach wie vor gerechtfertigt ist.“
C – Verordnung (EG) Nr. 2580/2001
7 In der Erwägung, dass es zur Umsetzung der im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 beschriebenen Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene einer Verordnung bedürfe, erließ der Rat die Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 vom 27. Dezember 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. L 344, S. 70).
8 Zum Begriff „terroristische Handlung“ verweist Art. 1 Abs. 4 dieser Verordnung auf die Definition in Art. 1 Abs. 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931.
9 Art. 2 der Verordnung Nr. 2580/2001 bestimmt:
„(1) Sofern nicht eine Ausnahme nach Artikel 5 oder 6 vorliegt,
a)
werden alle Gelder, andere finanzielle Vermögenswerte und wirtschaftliche Ressourcen, die einer in der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 aufgeführten natürlichen oder juristischen Person, Vereinigung oder Körperschaft gehören oder in deren Eigentum stehen oder von ihr verwahrt werden, eingefroren;
b)
werden weder direkt noch indirekt Gelder, andere finanzielle Vermögenswerte und wirtschaftliche Ressourcen für eine in der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 aufgeführte natürliche oder juristische Person, Vereinigung oder Körperschaft oder zu ihren Gunsten bereitgestellt.
(2) Sofern nicht eine Ausnahme nach Artikel 5 oder 6 vorliegt, ist die Erbringung von Finanzdienstleistungen für eine in der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 aufgeführte natürliche oder juristische Person, Vereinigung oder Körperschaft oder zu ihren Gunsten untersagt.
(3) Der Rat erstellt, überprüft und ändert einstimmig und im Einklang mit Artikel 1 Absätze 4, 5 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP die Liste der dieser Verordnung unterfallenden Personen, Vereinigungen oder Körperschaften. In dieser Liste sind aufgeführt:
i)
natürliche Personen, die eine terroristische Handlung begehen oder zu begehen versuchen oder sich an deren Begehung beteiligen oder diese erleichtern;
ii)
juristische Personen, Vereinigungen oder Körperschaften, die eine terroristische Handlung begehen oder zu begehen versuchen oder sich an deren Begehung beteiligen oder diese erleichtern;
iii)
juristische Personen, Vereinigungen oder Körperschaften, die im Eigentum oder unter der Kontrolle einer oder mehrerer der unter Ziffer i) oder ii) genannten natürlichen oder juristischen Personen, Vereinigungen oder Körperschaften stehen, oder
iv)
natürliche oder juristische Personen, Vereinigungen oder Körperschaften, die im Namen oder auf Anweisung einer oder mehrerer der unter Ziffer i) oder ii) genannten natürlichen oder juristischen Personen, Vereinigungen oder Körperschaften handeln.“
10 Die ursprüngliche Fassung der in Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 vorgesehenen Liste (im Folgenden: streitige Liste) wurde durch den Beschluss 2001/927/EG des Rates vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344, S. 83) erstellt; der Name der Rechtsmittelführerin war darin nicht enthalten.
11 Ihr Name wurde durch den Beschluss 2003/480/EG des Rates vom 27. Juni 2003 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2002/974/EG (ABl. L 160, S. 81) in diese Liste aufgenommen.
12 An der Aufnahme der Rechtsmittelführerin in die streitige Liste wurde mit späteren Beschlüssen des Rates festgehalten, insbesondere durch
—
den Beschluss 2003/646/EG des Rates vom 12. September 2003 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/480 (ABl. L 229, S. 22),
—
den Beschluss 2006/379/EG des Rates vom 29. Mai 2006 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/930/EG (ABl. L 144, S. 21) und
—
die streitigen Rechtsakte.
II – Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Rechtsakte
13 Für eine Darstellung der Anfänge des vorliegenden Rechtsstreits wird in Randnr. 1 des angefochtenen Urteils auf das Urteil des Gerichts vom 11. Juli 2007, Al-Aqsa/Rat (T-327/03), verwiesen, mit dem das Gericht über die von der Rechtsmittelführerin erhobene Klage auf u. a. teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses 2003/480 entschieden hat.
14 Die Randnrn. 15 bis 21 des genannten Urteils lauten:
„15
Den Akten zufolge ist die [Rechtsmittelführerin] eine 1993 gegründete Stiftung niederländischen Rechts. Diese bezeichnet sich als eine islamische soziale Hilfsorganisation. Sie macht geltend, dass sie gemäß ihrer Satzung insbesondere den sozialen Schutz und die Verbesserung der Lebensbedingungen der in den Niederlanden lebenden Palästinenser sowie Hilfeleistungen zugunsten der in den von Israel besetzten Gebieten lebenden Palästinenser zum Ziel habe. … Sie gibt an, keiner Partei anzugehören und im Geschäftsjahr 2001/02 in den Niederlanden etwa eine Million Euro an Spenden gesammelt zu haben.
16 Am 3. April 2003 erließ der niederländische Minister für Auswärtige Angelegenheiten – gestützt auf die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats und die Sanctiewet 1977 (Gesetz über Sanktionen von 1977) in der durch ein Gesetz vom 16. Mai 2002 geänderten Fassung – die Sanctieregeling terrorisme 2003 (Ministerialerlass von 2003 über Sanktionen auf dem Gebiet des Terrorismus, Stcrt. 2003, Nr. 68, S. 11, im Folgenden: Sanctieregeling), die u. a. das Einfrieren aller Gelder und finanziellen Vermögenswerte der [Rechtsmittelführerin] vorschrieb.
17 Der Begründung der Sanctieregeling ist zu entnehmen, dass diese in Erwartung des Erlasses eines Gemeinschaftsbeschlusses gegenüber der [Rechtsmittelführerin] auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2580/2001 erlassen wurde, und zwar gestützt auf Indizien, wonach die [Rechtsmittelführerin] an Organisationen, die den Terrorismus im Mittleren Osten unterstützen, Gelder transferiert habe. In der Begründung der Sanctieregeling heißt es, dass sie aufgehoben wird, sobald ein derartiger Gemeinschaftsbeschluss in Kraft tritt.
18 Die [Rechtsmittelführerin] legte bei dem Voorzieningenrechter (im Folgenden: für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständiger Richter) einen gegen das Königreich der Niederlande gerichteten Rechtsbehelf ein, um insbesondere die Aussetzung der Vollziehung der durch die Sanctieregeling vorgesehenen Maßnahmen zu erwirken.
19 Mit Zwischenurteil vom 13. Mai 2003 stellte der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter fest, dass die Sanctieregeling hauptsächlich auf einem amtlichen Memorandum des Leiters des Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst (Allgemeiner Nachrichten- und Sicherheitsdienst, im Folgenden: AIVD) an den Generaldirektor für Politische Angelegenheiten des niederländischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten vom 9. April 2003 … beruhe. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter wies darauf hin, dass dieses Memorandum lediglich allgemeine Behauptungen enthalte, die durch keine Fakten untermauert seien, … dass die niederländische Regierung vorgeschlagen habe, nur er solle die Angaben des AIVD prüfen, auf denen dieses Memorandum beruhe, dass die [Rechtsmittelführerin] das Interesse der niederländischen Regierung, diese Angaben geheim zu halten, nicht beanstandet und sich mit diesem Vorgehen im Übrigen einverstanden erklärt habe … In diesem Zusammenhang stellte der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter fest, dass die vertrauliche Einsichtnahme in einschlägige Unterlagen durch das Gericht … aus Erwägungen zwingenden Rechts … in Betracht komme … Deshalb gab er der niederländischen Regierung auf, ihm die Möglichkeit einer vertraulichen Einsichtnahme in die Akte mit den vertraulichen Angaben des AIVD zu gewähren, auf denen das genannte Memorandum beruhte. Die niederländische Regierung kam diesem [Urteil] nach, und der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nahm am 21. Mai 2003 in den Büroräumen des AIVD Einsicht in die fragliche Akte.
20 Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter wies den Rechtsbehelf der [Rechtsmittelführerin] mit einem zweiten, am 3. Juni 2003 im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erlassenen Urteil (im Folgenden: Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes) zurück. In Abschnitt 3.2 [dieses Urteils] stellte er fest, dass gemäß seiner Prüfung die Feststellungen des AIVD eine hinreichende Grundlage für dessen Schlussfolgerung bildeten, dass die von der [Rechtsmittelführerin] in den Niederlanden gesammelten Gelder Organisationen zugutegekommen seien, die mit der palästinensischen islamistischen Bewegung Hamas verbunden seien, und auch für die Schlussfolgerung, dass mehrere dieser mit der Hamas verbundenen Organisationen Mittel für die Entfaltung oder Erleichterung der terroristischen Aktivitäten der Hamas zur Verfügung stellten. In Abschnitt 3.3 [desselben Urteils] heißt es, dass der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter keine Tatsachen oder Umstände entdeckt habe, die belegten, dass der AIVD die ihm durch die Wet op de inlichtingen- en veiligheidsdiensten (Gesetz über den Nachrichten- und Sicherheitsdienst) übertragene Aufgabe fehlerhaft wahrgenommen habe.
21 [D]ie Sanctieregeling wurde am 3. August 2003 … aufgehoben (Stcrt. 2003, Nr. 146[, S. 9]).“
15 Mit Klageschrift, die am 19. September 2003 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Rechtsmittelführerin Klage auf Nichtigerklärung der Beschlüsse 2003/480 und 2003/646, soweit diese Rechtsakte sie betreffen. Angesichts der Tatsache, dass diese Beschlüsse im Laufe des Verfahrens aufgehoben und durch spätere Beschlüsse ersetzt wurden und dass die Rechtsmittelführerin erklärt hatte, sie werde ihre Anträge dieser Entwicklung anpassen, hat das Gericht festgestellt, dass sich seine Kontrolle ausschließlich auf den Beschluss beziehe, der zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung noch in Kraft gewesen sei, d. h. auf den Beschluss 2006/379. Diesen Beschluss hat das Gericht mit dem genannten Urteil Al-Aqsa/Rat, soweit er die Rechtsmittelführerin betraf, im Wesentlichen mit der Begründung aufgehoben, dass er nicht angemessen begründet sei.
16 Die jüngere Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Randnrn. 3 bis 10 des angefochtenen Urteils wie folgt zusammengefasst:
„3
Mit Schreiben vom 23. April 2007 teilte der Rat … der [Rechtsmittelführerin] mit, dass er die Gründe, die für ihre ursprüngliche Aufnahme in die [streitige Liste] geltend gemacht worden seien, noch immer für gültig halte und er infolgedessen beabsichtige, die [Rechtsmittelführerin] auf dieser Liste zu belassen. Diesem Schreiben war eine Begründung des Rates beigefügt. Auch wurde der [Rechtsmittelführerin] mitgeteilt, dass sie innerhalb eines Monats gegenüber dem Rat zu dessen Absicht, sie auf der streitigen Liste zu belassen, und zu den dafür angeführten Gründen Stellung nehmen und alle Unterlagen zur Unterstützung vorlegen könne.
4 In der diesem Schreiben beigefügten Begründung hieß es:
‚Die [Rechtsmittelführerin] wurde im Jahr 1993 in den Niederlanden als Stiftung des niederländischen Rechts gegründet. Sie sammelte Gelder für Organisationen, die der palästinensischen Bewegung Hamas angehören, die auf der Liste der Vereinigungen, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind, im Sinne des Art. 1 Abs. 2 des Gemeinsamen Standpunkts [2001/931] geführt wird. Mehrere dieser Organisationen stellen Mittel zur Verfügung, um terroristische Handlungen zu begehen oder deren Begehung zu erleichtern. Diese Handlungen fallen unter Art. 1 Abs. 3 Buchst. k des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und wurden in Verfolgung der in Art. 1 Abs. 3 Ziff. i und iii dieses Gemeinsamen Standpunkts genannten Ziele begangen.
Die [Rechtsmittelführerin] fällt daher unter Art. 2 Abs. 3 Ziff. ii der Verordnung … Nr. 2580/2001.
Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten und der Finanzminister [der Niederlande] haben mit am 7. April 2003 im niederländischen Amtsblatt Staatscourant veröffentlichter Ministerialverfügung Nr. DJZ/BR/219-03 vom 3. April 2003 (sogenannte Sanctieregeling Terrorisme) beschlossen, alle Vermögenswerte [der Rechtsmittelführerin] einzufrieren. Dieser Beschluss wurde durch das vom Präsidenten der Abteilung Zivilrecht der Rechtbank te ’s-Gravenhage erlassene Urteil LJN AF9389 vom 3. Juni 2003 bestätigt. In dem Urteil wird festgestellt, dass die [Rechtsmittelführerin] als Organisation anzusehen sei, die die Hamas unterstütze und ihr ermögliche, terroristische Aktivitäten zu entfalten oder zu erleichtern.
Somit ist gegenüber [der Rechtsmittelführerin] ein Beschluss von einer zuständigen Behörde im Sinne des Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gefasst worden.
Nach der Überzeugung des Rates bestehen die Gründe fort, die die Aufnahme [der Rechtsmittelführerin] in die [streitige Liste] gerechtfertigt haben.‘
5 Es steht fest, dass es sich bei dem Ministerialerlass und dem Urteil, die in dieser Begründung angeführt werden, um die Sanctieregeling und das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes handelt.
6 Mit Schreiben vom 25. Mai 2007 reichte die [Rechtsmittelführerin] ihre Stellungnahme beim Rat ein. Sie kritisierte sowohl die inhaltlichen Gründe, mit denen der Rat es gerechtfertigt hatte, sie auf der streitigen Liste zu belassen, als auch das von ihm angewandte Verfahren.
7 Am 28. Juni 2007 … erließ der Rat den Beschluss [2007/445] … Mit diesem Beschluss beließ der Rat den Namen der [Rechtsmittelführerin] auf der streitigen Liste.
8 Der fünfte Erwägungsgrund [dieses] Beschlusses lautet:
‚Der Rat hat eine nach Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung … Nr. 2580/2001 durchzuführende vollständige Überprüfung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, auf die diese Verordnung Anwendung findet, vorgenommen. In diesem Zusammenhang hat er den Einwänden Rechnung getragen, die einige der betroffenen Personen, Vereinigungen und Körperschaften dem Rat mit entsprechenden Nachweisen übermittelt haben.‘
9 Der sechste Erwägungsgrund [dieses] Beschlusses lautet:
‚Nach dieser Überprüfung ist der Rat zu dem Schluss gelangt, dass die nachstehend im Anhang des vorliegenden Beschlusses aufgeführten Personen, Vereinigungen und Körperschaften an terroristischen Handlungen im Sinne des Artikels 1 Absätze 2 und 3 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 … beteiligt sind, dass eine zuständige Behörde in Bezug auf sie einen Beschluss im Sinne des Artikels 1 Absatz 4 jenes Gemeinsamen Standpunkts gefasst hat und dass die spezifischen restriktiven Maßnahmen nach der Verordnung … Nr. 2580/2001 daher weiterhin auf sie angewandt werden sollten.‘
10 Der Beschluss [2007/445] wurde der [Rechtsmittelführerin] mit Begleitschreiben des Rates vom 29. Juni 2007 bekannt gegeben. Die diesem Schreiben beigefügte Begründung (im Folgenden: Begründung) stimmt mit der Begründung überein, die dem Schreiben des Rates vom 23. April 2007 beigefügt war …“
III – Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
17 Mit Klageschrift, die am 12. September 2007 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Rechtsmittelführerin eine Klage, mit der sie beantragte,
—
den Beschluss 2007/445 für nichtig zu erklären, soweit er sie betrifft;
—
die Verordnung Nr. 2580/2001 in Bezug auf sie für unanwendbar zu erklären und
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
18 Der Rat beantragte, die Klage insgesamt als unbegründet abzuweisen und der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.
19 Das Königreich der Niederlande und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die als Streithelfer zugelassen worden waren, unterstützten die Anträge des Rates.
20 Nachdem der Rat im Laufe des Verfahrens die Beschlüsse 2007/868, 2008/583 und 2009/62 sowie die Verordnung Nr. 501/2009 erlassen hatte, mit denen zunächst der Beschluss 2007/445 und anschließend jeder dieser drei Beschlüsse aufgehoben und ersetzt wurde, beantragte die Rechtsmittelführerin schrittweise, ihre ursprünglichen Anträge dahin anpassen zu dürfen, dass sich ihre Klage auch auf die Nichtigerklärung dieser drei Beschlüsse und dieser Verordnung richtet, soweit diese Rechtsakte sie betreffen. Das Gericht gab diesen Anträgen in den Randnrn. 31 bis 45 des angefochtenen Urteils statt.
21 Die Rechtsmittelführerin stützte ihre Anträge im Wesentlichen auf fünf Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund rügte sie einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1, 2 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 sowie gegen Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001. Mit dem zweiten Klagegrund machte sie einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend. Mit dem dritten Klagegrund rügte sie einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und gegen Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 sowie die Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift. Mit dem vierten Klagegrund machte sie eine Verletzung des Grundrechts auf ungestörte Nutzung des Eigentums geltend. Mit dem fünften Klagegrund schließlich rügte sie einen Verstoß gegen die Begründungspflicht nach Art. 253 EG.
22 Das Gericht hat zunächst den ersten Klagegrund geprüft, der aus vier Teilen bestand, mit denen geltend gemacht wurde, dass die Rechtsmittelführerin keine Person, Vereinigung oder Körperschaft im Sinne von Art. 1 Abs. 2 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 sei, dass keine zuständige Behörde in Bezug auf sie einen Beschluss im Sinne von Art. 1 Abs. 4 dieses Gemeinsamen Standpunkts gefasst habe, dass nicht nachgewiesen worden sei, dass die Rechtsmittelführerin die Absicht gehabt habe, die Begehung terroristischer Handlungen zu erleichtern, und dass sie schließlich nicht mehr so angesehen werden könne, als erleichtere sie die Begehung derartiger Handlungen.
23 Das Gericht hat alle diese Teile als unbegründet zurückgewiesen.
24 In Bezug auf den zweiten Teil des ersten Klagegrundes hat das Gericht in den Randnrn. 97 bis 102 des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung von Zusammenhang und Ziel des Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 insbesondere festgestellt, diese Bestimmung verlange nicht, dass der nationale „Beschluss“ im Rahmen eines Strafverfahrens im engeren Sinne ergehe. Dieser Beschluss müsse lediglich in einem nationalen Verfahren ergangen sein, das unmittelbar und in der Hauptsache darauf gerichtet sei, gegen den Betroffenen im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus und wegen seiner Verwicklung in den Terrorismus eine Präventiv- oder Repressivmaßnahme zu verhängen. Im vorliegenden Fall füge sich das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hinreichend unmittelbar in ein nationales Verfahren ein, das in der Hauptsache auf die Verhängung einer wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme gegen die Rechtsmittelführerin gerichtet sei, nämlich das Einfrieren ihrer Gelder wegen ihrer Verwicklung in eine terroristische Aktivität durch die Sanctieregeling selbst.
25 Das Gericht hat daraus in den Randnrn. 104 und 105 des angefochtenen Urteils geschlossen, dass sich das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, zusammen mit der Sanctieregeling betrachtet, als ein Beschluss einer zuständigen Behörde erweise, der der Definition des Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entspreche und mithin grundsätzlich geeignet sei, als solcher den Erlass einer Maßnahme des Einfrierens von Geldern der Rechtsmittelführerin gemäß Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 zu rechtfertigen.
26 Zum dritten Teil des ersten Klagegrundes hat das Gericht in Randnr. 127 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass der Rat aufgrund des Zwischenurteils vom 13. Mai 2003 und des Urteils im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ohne Beurteilungsfehler davon habe ausgehen können, dass die Rechtsmittelführerin im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. k des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gewusst habe, dass ihre Tätigkeit des Sammelns und der Bereitstellung von Geldern einen Beitrag zu den kriminellen Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung, hier der Hamas, geleistet habe. In Randnr. 128 des angefochtenen Urteils heißt es, die Tatsachenfeststellungen und Würdigungen, die der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter aufgrund des AIVD-Memorandums und des ihm zugrunde liegenden Akteninhalts vorgenommen habe, zeigten, dass er offensichtlich überzeugt gewesen sei, dass die Rechtsmittelführerin von der endgültigen Verwendung ihrer Mittel für terroristische Zwecke gewusst habe.
27 Anschließend hat das Gericht den dritten Klagegrund geprüft und diesem stattgegeben. Die Rechtsmittelführerin hatte mit diesem Klagegrund geltend gemacht, dass der Rat in keiner Weise überprüft habe, ob es zweckmäßig sei, an ihrer Aufnahme in die streitige Liste festzuhalten, und dass er damit gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 verstoßen sowie eine wesentliche Formvorschrift verletzt habe.
28 Nachdem das Gericht in den Randnrn. 161 bis 169 des angefochtenen Urteils auf seine Rechtsprechung zur Bedeutung der späteren Entwicklung des fraglichen nationalen Verfahrens im Rahmen der Prüfung des Verbleibs einer Person auf der streitigen Liste nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 hingewiesen hatte, hat es in Randnr. 172 dieses Urteils festgestellt, dass seit der Aufhebung der Sanctieregeling in der niederländischen Rechtsordnung das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, das mit jener eine untrennbare Einheit bilde, nicht mehr als wirksame Grundlage für eine Gemeinschaftsmaßnahme des Einfrierens der Gelder der Rechtsmittelführerin dienen könne.
29 In den Randnrn. 173 bis 180 des angefochtenen Urteils hat das Gericht entschieden, dass, da die Sanctieregeling aufgrund ihrer Aufhebung endgültig aufgehört habe, Rechtswirkungen zu entfalten, zwangsläufig Gleiches für die mit dem Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Rechtswirkungen gelten müsse, mit dem lediglich der Antrag abgelehnt worden sei, die Wirkungen der Sanctieregeling auszusetzen, und das nur eine vorläufige Würdigung umfasst habe. Die Tatsache, dass die Rechtsmittelführerin weder gegen das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Berufung eingelegt noch Klage in der Hauptsache erhoben habe, sei ohne Belang. Der Rat habe somit die Grenzen seines Ermessens überschritten, indem er die Rechtsmittelführerin bei der regelmäßigen Überprüfung ihrer Situation für unbestimmte Zeit auf der streitigen Liste belassen habe.
30 Das Gericht ist in den Randnrn. 183 und 184 des angefochtenen Urteils zu dem Ergebnis gelangt, dass, da der dritte Klagegrund begründet sei, die streitigen Rechtsakte für nichtig zu erklären seien, ohne dass die übrigen Klagegründe und Argumente der Rechtsmittelführerin zu prüfen seien, so dass auch über den Antrag, die Verordnung Nr. 2580/2001 gemäß Art. 241 EG für rechtswidrig zu erklären, nicht entschieden werden müsse.
31 Im Tenor des angefochtenen Urteils hat das Gericht die streitigen Rechtsakte, soweit sie die Rechtsmittelführerin betreffen, für nichtig erklärt und die Klage im Übrigen abgewiesen.
IV – Anträge der Verfahrensbeteiligten und Verfahren vor dem Gerichtshof
32 Die Rechtsmittelführerin beantragt mit ihrem Rechtsmittel in der Rechtssache C-539/10 P,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie gegen die Begründung dieses Urteils Rechtsmittelgründe und Argumente vorträgt, und den Rechtsstreit neu zu entscheiden, indem den im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Anträgen mit einer Verbesserung der Gründe, auf denen das angefochtene Urteil beruht, stattgegeben wird;
—
dem Rat die Kosten beider Rechtszüge aufzuerlegen.
33 Der Rat beantragt,
—
das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen;
—
hilfsweise, das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen und
—
der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.
34 Das Königreich der Niederlande beantragt, das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin für unzulässig zu erklären, und, hilfsweise, die von ihr angeführten Rechtsmittelgründe zurückzuweisen.
35 Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin für unzulässig zu erklären.
36 Das Königreich der Niederlande beantragt mit seinem Rechtsmittel in der Rechtssache C-550/10 P, das angefochtene Urteil aufzuheben, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen und der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.
37 Die Klägerin beantragt auf dieses Rechtsmittel hin in ihrer Rechtsmittelbeantwortung,
—
das Rechtsmittel des Königreichs der Niederlande zurückzuweisen;
—
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie gegen die Begründung dieses Urteils Rechtsmittelgründe und Argumente vorträgt, und den Rechtsstreit neu zu entscheiden, indem den im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Anträgen mit einer Verbesserung der Gründe, auf denen das angefochtene Urteil beruht, stattgegeben wird, sowie
—
dem Königreich der Niederlande die Kosten des vorliegenden Verfahrens aufzuerlegen und die vom Gericht im angefochtenen Urteil ausgesprochene Kostenentscheidung zu bestätigen.
38 Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel des Königreichs der Niederlande für begründet zu erklären, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen.
39 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Februar 2011 sind die Rechtssachen C-539/10 P und C-550/10 P zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
V – Die Rechtsmittel
A – Zum Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin (C-539/10 P)
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
40 Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin ist ihr Rechtsmittel zulässig, obwohl es sich auf die Aufhebung von Nebenaspekten des angefochtenen Urteils beziehe. Dieses enthalte nämlich einige schadenstiftende Erwägungen. Würde das Königreich der Niederlande diesen Erwägungen entsprechend einen neuen Ministerialerlass beschließen, der in der Folge vom Rat verwendet würde, um die Rechtsmittelführerin wieder in die streitige Liste aufzunehmen, müsste erneut ein langes und kostspieliges Verfahren geführt werden. Außerdem bestünde die Gefahr, dass die Rechtsmittelführerin im Rahmen eines derartigen Verfahrens aus Gründen der Rechtskraft nicht mehr die Klagegründe geltend machen könnte, die das Gericht im angefochtenen Urteil zurückgewiesen habe.
41 Die Rechtsmittelführerin ergänzt in ihrer Erwiderung, dass sie mit ihren Anträgen im ersten Rechtszug im Sinne von Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union teilweise unterlegen sei. Sie habe vor dem Gericht nämlich nicht nur die Nichtigerklärung der streitigen Rechtsakte, sondern auch die Feststellung beantragt, dass die Verordnung Nr. 2580/2001, auf der diese Rechtsakte beruhten, auf sie keine Anwendung finde. Das Gericht habe lediglich ihrem ersten Klageantrag stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Außerdem sei die Tatsache, dass der erste Klagegrund als unbegründet zurückgewiesen worden sei, entscheidend dafür gewesen, dass die Klage im Übrigen abgewiesen worden sei. Lediglich ein Urteil über die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 2580/2001 als solche würde künftige Beschlüsse über das Einfrieren von Geldern erfassen und verhindern, dass derartige – überdies wahrscheinliche – Beschlüsse erneut mit Nichtigkeitsklagen angefochten werden müssten.
42 Der Rat, das Königreich der Niederlande und die Kommission machen geltend, dass das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin insbesondere deshalb unzulässig sei, weil es sich nicht gegen den Tenor des angefochtenen Urteils, sondern gegen dessen Begründung richte, und weil die Klägerin mit ihren Anträgen vor dem Gericht nicht im Sinne von Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs unterlegen sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
43 Nach Art. 113 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in ihrer zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels geltenden Fassung müssen Rechtsmittelanträge die vollständige oder teilweise Aufhebung der Entscheidung des Gerichts zum Gegenstand haben.
44 Im vorliegenden Fall zielt das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin jedoch nicht auf eine auch nur teilweise Aufhebung des angefochtenen Urteils, d. h. von dessen Tenor (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 2011, Edwin/HABM, C-263/09 P, Slg 2011, I-5853, Randnrn. 83 bis 85, und vom 21. Dezember 2011, Iride/Kommission, C-329/09 P, Randnr. 48), sondern, wie die Rechtsmittelführerin in ihrer Rechtsmittelschrift selbst einräumt, lediglich auf eine Änderung eines Teils der Urteilsbegründung ab.
45 Dem Antrag der Rechtsmittelführerin auf Nichtigerklärung der streitigen Rechtsakte ist nämlich im ersten Rechtszug aufgrund ihres dritten Klagegrundes stattgegeben worden, und sie begehrt lediglich eine Auswechslung der Begründung in Bezug auf zwei vom Gericht zurückgewiesene Teile des ersten Klagegrundes.
46 Ferner ist in Bezug auf den Antrag, die Verordnung Nr. 2580/2001 für unanwendbar zu erklären, den das Gericht gemäß Nr. 2 des Tenors des angefochtenen Urteils zurückgewiesen hat, festzustellen, dass die Rechtsmittelführerin auf diesen Umstand erst in der Begründung ihrer Erwiderung hingewiesen, jedoch nicht beantragt hat, diesen Teil des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben.
47 Unter diesen Umständen ist das Rechtsmittel unzulässig.
48 Diese Schlussfolgerung wird durch das auf die Rechtskraft des Urteils gestützte Vorbringen der Rechtsmittelführerin nicht entkräftet.
49 Die Rechtskraft eines Urteils erstreckt sich nämlich lediglich auf die Gründe eines Urteils, die den Tenor tragen und von ihm daher nicht zu trennen sind (vgl. Urteile vom 14. September 1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Randnr. 54, vom 1. Juni 2006, P & O European Ferries [Vizcaya] und Diputación Foral de Vizcaya/Kommission, C-442/03 P und C-471/03 P, Slg. 2006, I-4845, Randnrn. 44 und 47, sowie vom 19. April 2012, Artegodan/Kommission, C-221/10 P, Randnr. 87). Im vorliegenden Fall ist jedoch lediglich die Begründung des dritten im ersten Rechtszug geltend gemachten Klagegrundes, den das Gericht als stichhaltig angesehen hat, mit der in Nr. 1 des Tenors des angefochtenen Urteils ausgesprochenen Nichtigerklärung der streitigen Rechtsakte untrennbar verbunden.
50 Demnach ist das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin als unzulässig zurückzuweisen.
B – Zum Rechtsmittel des Königreichs der Niederlande (C-550/10 P)
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
51 Mit seinem einzigen Rechtsmittelgrund rügt das Königreich der Niederlande, das Gericht habe Art. 1 Abs. 4 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 falsch ausgelegt, indem es angenommen habe, das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes könne nach der Aufhebung der Sanctieregeling nicht mehr als Grundlage für die Aufnahme der Rechtsmittelführerin in die streitige Liste dienen.
52 Erstens habe das Gericht Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 dadurch falsch ausgelegt, dass es in den Randnrn. 85 bis 87 des angefochtenen Urteils das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in Verbindung mit der Sanctieregeling als „Beschluss von einer zuständigen Behörde“ angesehen habe.
53 Das vorgenannte Urteil allein erfülle nämlich die vom Gericht aufgestellten konkreten Kriterien (Urteil des Gerichts vom 30. September 2009, Sison/Rat, T-341/07, Slg. 2009, II-3625, Randnr. 111), wonach ein Beschluss in einem nationalen Verfahren ergangen sein müsse, das unmittelbar und in der Hauptsache darauf gerichtet sei, gegen den Betroffenen im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus und wegen seiner Verwicklung in den Terrorismus eine Präventiv- oder Repressivmaßnahme zu verhängen. Bei der Entscheidung des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters über die Verwicklung der Rechtsmittelführerin in die Finanzierung des Terrorismus handele es sich um den wesentlichen Teil seines Urteils, das überdies in einem nationalen Verfahren erlassen worden sei, das darauf gerichtet gewesen sei, im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus gegen die Rechtsmittelführerin Präventivmaßnahmen zu verhängen.
54 Zweitens habe das Gericht in den Randnrn. 172 und 180 des angefochtenen Urteils die dem Rat bei der regelmäßigen Überprüfung nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 obliegenden Pflichten falsch ausgelegt, indem es aus der Aufhebung der Sanctieregeling ohne Weiteres geschlossen habe, dass der Verbleib der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste nicht mehr gerechtfertigt sei.
55 Obwohl diese Aufhebung ein Umstand sei, den der Rat im Rahmen der regelmäßigen Überprüfung zu beachten habe, müsse er auch den Grund dieser Aufhebung berücksichtigen. Diese sei im vorliegenden Fall, wie in der Begründung des Ministerialerlasses zur Aufhebung der Sanctieregeling angegeben, nicht aus der Überzeugung erfolgt, dass ein Einfrieren der Gelder der Rechtsmittelführerin nicht mehr erforderlich sei, sondern in der Absicht, eine Überschneidung der nationalen Maßnahme mit der gemeinschaftlichen Verordnung zu verhindern. Unter diesen Umständen sei der Rat berechtigt gewesen, aus der Aufhebung der Sanctieregeling nicht ohne Weiteres zu schließen, dass die Rechtsmittelführerin nicht mehr auf der streitigen Liste zu belassen sei.
56 Die Kommission unterstützt die Auffassung des Königreichs der Niederlande und fügt hinzu, der Begründung der streitigen Rechtsakte lasse sich entnehmen, dass der Rat allein das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes als den „Beschluss einer zuständigen Behörde“ ansehe. Auf jeden Fall sei die Aussage des Rates im Rahmen des Verfahrens vor dem Gericht zu berücksichtigen, wonach er die streitigen Rechtsakte allein auf das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gestützt habe.
57 Außerdem sei die Frage, ob die Rechtsmittelführerin in terroristische Aktivitäten verwickelt gewesen sei, im Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht nur nebenbei und inzident aufgeworfen worden. Um entscheiden zu können, ob die Vollziehung der Sanctieregeling auszusetzen sei, habe der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter – wie im Übrigen geschehen – die zentrale Frage prüfen müssen, ob es hinreichende Indizien für die Annahme gegeben habe, dass die Rechtsmittelführerin Gelder für mit der Hamas in Verbindung stehende Organisationen gesammelt habe, die die Gelder zur Verfügung stellten, um terroristische Handlungen zu begehen oder deren Begehung zu erleichtern.
58 Schließlich habe das Gericht Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 fehlerhaft angewandt, indem es weder die Gründe für die Aufhebung der Sanctieregeling noch die Tatsache berücksichtigt habe, dass die Rechtsmittelführerin weder gegen das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Berufung eingelegt noch Klage in der Hauptsache erhoben habe.
59 Die Rechtsmittelführerin vertritt demgegenüber die Auffassung, dass das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes als solches nicht die spezifischen Kriterien erfülle, die das Gericht für das Vorliegen eines Beschlusses im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgestellt habe. Vor allem handele es sich nicht um ein nationales Verfahren, das unmittelbar und in der Hauptsache darauf gerichtet sei, gegen den Betroffenen eine Präventiv- oder Repressivmaßnahme zu verhängen. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter habe lediglich begrenzte Befugnisse. Er entscheide vorläufig und könne kein Feststellungsurteil erlassen. Er beschränke sich zwangsläufig auf eine inhaltlich begrenzte Interessenabwägung. Das Handeln des Königreichs der Niederlande werde dadurch, dass dieser Richter die Klage abgewiesen habe, die die Rechtsmittelführerin erhoben habe, um diesem Mitgliedstaat zu untersagen, das Einfrieren ihrer Vermögenswerte aufrechtzuerhalten, daher nicht gebilligt.
60 Darüber hinaus betont die Rechtsmittelführerin die entscheidende Bedeutung, die dem nationalen Beschluss im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 beim Erlass eines Beschlusses über den Verbleib einer Person auf der streitigen Liste zuerkannt sei. Die Auslegung durch das Königreich der Niederlande gewähre dem Rat eine Freiheit, die mit dem höchst schädlichen Einfrieren der Gelder und dem Rechtsschutz nicht vereinbar sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
61 Das Königreich der Niederlande rügt mit seinem einzigen Rechtsmittelgrund, das Gericht habe rechtsfehlerhaft festgestellt, dass es im nationalen Recht, nachdem die Sanctieregeling aufgehoben worden sei, kein „Substrat“ mehr gegeben habe, das den Verbleib der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste rechtlich hinreichend begründet hätte.
62 Um über die Begründetheit dieses Rechtsmittelgrundes entscheiden zu können, ist zu prüfen, ob das Gericht zu Recht festgestellt hat, dass die streitigen Rechtsakte auf der Grundlage genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten erstellt worden seien, aus denen sich ergebe, dass eine zuständige Behörde gegenüber der Rechtsmittelführerin einen der Definition des Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entsprechenden Beschluss gefasst gehabt habe, die Aufhebung der Sanctieregeling jedoch den Verbleib der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste ausgeschlossen habe.
63 Hierzu ist Art. 1 Abs. 4 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, auf den Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 verweist, unter Berücksichtigung seines Wortlauts, aber auch seines Zusammenhangs und der Ziele auszulegen, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteile vom 19. September 2000, Deutschland/Kommission, C-156/98, Slg. 2000, I-6857, Randnr. 50, vom 7. Oktober 2010, Lassal, C-162/09, Slg. 2010, I-9217, Randnr. 49, sowie vom 25. Oktober 2011, eDate Advertising und Martínez, C-509/09 und C-161/10, Slg. 2011, I-10269, Randnr. 54). Darüber hinaus sind die Besonderheiten des vorliegenden Falles zu berücksichtigen.
a) Auslegung von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
64 Was zunächst den Wortlaut von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 angeht, sieht dieser vor, dass die streitige Liste auf der Grundlage genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten erstellt wird, aus denen sich ergibt, dass eine zuständige Behörde – gestützt auf ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien – gegenüber den betreffenden Personen, Vereinigungen oder Körperschaften einen Beschluss gefasst hat, bei dem es sich um die Aufnahme von Ermittlungen oder um Strafverfolgung wegen einer terroristischen Handlung oder des Versuchs, eine terroristische Handlung zu begehen, daran teilzunehmen oder sie zu erleichtern oder um eine Verurteilung für derartige Handlungen handelt.
65 Nach Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 1 Satz 2 dieser Bestimmung können Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als mit dem Terrorismus in Verbindung stehend bezeichnet worden sind oder gegen die er Sanktionen angeordnet hat, in diese Liste aufgenommen werden.
66 Gemäß Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Bestimmung bezeichnet der Ausdruck „zuständige Behörde“ im Sinne dieses Absatzes eine Justizbehörde oder, sofern die Justizbehörden keine Zuständigkeit in dem von diesem Absatz erfassten Bereich haben, eine entsprechende zuständige Behörde in diesem Bereich.
67 Hinsichtlich des grundlegenden Ziels und des Gegenstands der Verordnung Nr. 2580/2001 sowie des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ergibt sich aus deren Erwägungsgründen, dass sie den internationalen Terrorismus dadurch bekämpfen sollen, dass sie ihn von seinen Finanzmitteln abschneiden, indem die Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen der Personen oder Organisationen eingefroren werden, die im Verdacht stehen, in damit verbundene Aktivitäten verwickelt zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, Randnrn. 169 und 222, über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen). Diese Rechtsakte dienen also nicht dazu, nationale Strafverfahren zu flankieren und zu unterstützen, sondern die Begehung neuer terroristischer Handlungen zu verhindern.
68 Außerdem folgt aus der Bezugnahme auf einen nationalen Beschluss sowie auf „genaue Informationen“ und „ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien“, dass Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zum Ziel hat, die Betroffenen zu schützen, indem sichergestellt wird, dass sie nur gestützt auf eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage in die streitige Liste aufgenommen werden, und dass der genannte Gemeinsame Standpunkt diesem Ziel dadurch dienen soll, dass er einen von einer zuständigen Behörde gefassten Beschluss voraussetzt.
69 Da die Europäische Union nämlich über keine Mittel verfügt, um selbst Nachforschungen in Bezug auf die Verwicklung einer bestimmten Person in terroristische Handlungen anzustellen, hat diese Bezugnahme den Zweck, zu bestimmen, ob es für die Verwicklung der betroffenen Person in terroristische Aktivitäten ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien gibt, die die nationalen Behörden für zuverlässig halten und die sie veranlasst haben, zumindest Ermittlungen durchzuführen, wobei der nationale Beschluss nicht in einer bestimmten Rechtsform erlassen, veröffentlicht oder zugestellt worden sein muss.
70 Dieser Schutz der betroffenen Personen wird nicht in Frage gestellt, wenn der von der nationalen Behörde gefasste Beschluss nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Verhängung strafrechtlicher Sanktionen, sondern in dem eines Verfahrens über präventive Maßnahmen ergeht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 um „die Aufnahme von Ermittlungen oder um Strafverfolgung“ geht, wobei das Wesen oder die Art der Ermittlungen oder der Strafverfolgung nicht näher präzisiert werden.
71 Dieser Schutz der betroffenen Personen ist auch dann gewährleistet, wenn der von der nationalen Behörde gefasste Beschluss nicht die Einleitung der Untersuchung betrifft, sondern durch das Verhängen einer präventiven Maßnahme, die keine strafrechtliche Verurteilung darstellt, gegenüber der betroffenen Person Konsequenzen aus einer Untersuchung zieht.
72 Dieses Ergebnis wird auch durch die in Randnr. 65 des vorliegenden Urteils angeführte Tatsache gestützt, dass die Aufnahme in die streitige Liste auch auf einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angeordneten Sanktion beruhen kann. Da nämlich derartige Sanktionen im Allgemeinen keinen strafrechtlichen Charakter haben, ist ein Einfrieren von Geldern, wie es die Sanctieregeling im vorliegenden Fall vorschreibt, mit einer von diesem Sicherheitsrat beschlossenen Sanktion völlig vergleichbar.
73 Nach alledem kann sich der Rat gemäß Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 auf einen Beschluss stützen, der nach einer Untersuchung der Verwicklung der betroffenen Person in die Finanzierung terroristischer Aktivitäten Präventivmaßnahmen wie das Einfrieren von Geldern vorschreibt.
74 Im Übrigen haben im vorliegenden Fall nicht nur die beiden für den Erlass der Sanctieregeling zuständigen Minister, sondern auch der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter, nachdem er die vertrauliche Akte des AIVD eingesehen hatte, die dem Erlass der Sanctieregeling zugrunde liegenden Informationen des AIVD über die finanzielle Unterstützung der terroristischen Aktivitäten der Hamas durch die Rechtsmittelführerin als zuverlässig eingestuft.
75 Überdies wurde die Sanctieregeling von einer zuständigen Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 2 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 erlassen.
76 Sie wurde nämlich vom niederländischen Minister für Auswärtige Angelegenheiten mit Zustimmung des Ministers für Finanzen auf der Grundlage der Sanctiewet 1977 (Gesetz über Sanktionen von 1977, Stb. 1980, Nrn. 93 und 170) in der durch ein Gesetz vom 16. Mai 2002 (Stb. 2002, Nr. 270) geänderten Fassung beschlossen. Die genannten Behörden sind nach diesem Gesetz befugt, insbesondere im Rahmen der Durchführung von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus die Gelder von Personen und Einrichtungen einzufrieren. Daher hat das Gericht in Randnr. 91 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt, es werde nicht behauptet, dass ein Rechtsakt wie die Sanctieregeling, abgesehen von der gerichtlichen Kontrolle ihrer Rechtmäßigkeit, in die Zuständigkeit der Justizbehörden fiele.
77 Das Gericht durfte daher zu Recht davon ausgehen, dass der Rat über genaue Informationen und einschlägige Akten verfügte, aus denen sich ergab, dass eine zuständige Behörde gegenüber der Klägerin einen der Definition des Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entsprechenden Beschluss gefasst hatte.
b) Erfordernisse des Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931
78 Nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 werden „[d]ie Namen von Personen oder Körperschaften, die in der Liste im Anhang aufgeführt sind, mindestens einmal pro Halbjahr einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen, um sicherzustellen, dass ihr Verbleib auf der Liste nach wie vor gerechtfertigt ist.“
79 Um die etwaigen Konsequenzen zu beurteilen, die die Aufhebung der Sanctieregeling für die vom Rat gemäß dieser Bestimmung erlassenen Beschlüsse haben könnte, ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 im Hinblick auf den von einer nationalen Behörde gefassten Beschluss genaue Informationen bzw. einschlägige Akten vorliegen müssen, aus denen sich ergibt, dass ein derartiger Beschluss gefasst wurde.
80 Es ergibt sich weder aus diesem noch aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931, dass der in der Vergangenheit gefasste Beschluss über diese Voraussetzung hinaus zu dem Zeitpunkt, zu dem der Rat beschließt, eine Person auf der streitigen Liste zu belassen, zwingend noch immer in Kraft sein oder Rechtswirkungen entfalten muss.
81 Außerdem ist zu beachten, welche Funktion die Bezugnahme auf einen nationalen Beschluss wie die in Randnr. 68 des vorliegenden Urteils genannte hat, mit der sichergestellt werden soll, dass der Beschluss des Rates auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht, die ihm die Feststellung ermöglicht, dass die Gefahr besteht, dass die betroffene Person, falls keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, weiterhin in terroristische Aktivitäten verwickelt ist.
82 Unter diesen Umständen kommt es bei der Prüfung des Belassens einer Person auf der streitigen Liste auf die Frage an, ob sich seit der Aufnahme des Namens dieser Person in diese Liste oder seit der letzten Überprüfung die Sachlage derart geändert hat, dass aus ihr im Hinblick auf die Verwicklung der fraglichen Person in terroristische Aktivitäten nicht mehr dieselbe Schlussfolgerung gezogen werden kann.
83 Im vorliegenden Fall stützte sich die Aufhebung der Sanctieregeling jedoch keineswegs auf das Eintreten neuer Umstände oder das Auftauchen neuer Beweise, wonach die Rechtsmittelführerin nicht mehr in die Finanzierung des Terrorismus verwickelt wäre, oder auf eine geänderte Beurteilung einer derartigen Verwicklung durch die zuständigen nationalen Behörden.
84 Der einzige Rechtfertigungsgrund für diese Aufhebung war das Ziel, zu verhindern, dass sich die durch die Sanctieregeling vorgeschriebene nationale Maßnahme des Einfrierens von Geldern mit der durch die Verordnung Nr. 2580/2001 auf Unionsebene vorgeschriebenen Maßnahme des Einfrierens von Geldern nach der Aufnahme der Rechtsmittelführerin in die streitige Liste überschneidet. Dieses Ziel ergibt sich aus der Begründung des Ministerialerlasses zur Aufhebung der Sanctieregeling. Es wird auch dadurch unterstrichen, dass diese Aufhebung ex nunc – ohne Rückwirkung – erfolgte und dass in der Begründung der Sanctieregeling (Stcrt. 2003, Nr. 68, S. 11) bereits auf ihre Aufhebung bei Inkrafttreten eines gemeinschaftlichen Beschlusses über das Einfrieren von Geldern hingewiesen worden war.
85 Somit hatte diese Aufhebung allein die Einhaltung von Art. 288 Abs. 2 AEUV zum Ziel, wonach eine Unionsverordnung in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, was nach ständiger Rechtsprechung den Erlass oder die Beibehaltung nationaler Parallelvorschriften grundsätzlich ausschließt.
86 Der Gerichtshof hat nämlich klargestellt, dass die unmittelbare Anwendbarkeit der Verordnungen es den Mitgliedstaaten, sofern nichts anderes bestimmt ist, verwehrt, innerstaatliche Vorschriften zu erlassen, die die Tragweite der Verordnung selbst beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Februar 1970, Bollmann, 40/69, Slg. 1970, 69, Randnr. 4, und vom 18. Juni 1970, Waren-Import-Gesellschaft Krohn, 74/69, Slg. 1970, 451, Randnrn. 4 und 6).
87 Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der ihnen aus dem AEU-Vertrag obliegenden Verpflichtungen, die sie mit dessen Ratifizierung eingegangen sind, nicht die unmittelbare Geltung vereiteln dürfen, die den Verordnungen innewohnt, weil die gewissenhafte Beachtung dieser Pflicht eine unerlässliche Voraussetzung für die gleichzeitige und einheitliche Anwendung der Unionsverordnungen im gesamten Gebiet der Union ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Oktober 1973, Variola, 34/73, Slg. 1973, 981, Randnr. 10, vom 31. Januar 1978, Zerbone, 94/77, Slg. 1978, 99, Randnrn. 24 und 25, und vom 28. März 1985, Kommission/Italien, 272/83, Slg. 1985, 1057, Randnr. 26). Insbesondere dürfen die Mitgliedstaaten keine Handlung vornehmen, durch die die gemeinschaftliche Natur einer Rechtsvorschrift und die sich daraus ergebenden Wirkungen den Einzelnen verborgen würden (vgl. Urteile Variola, Randnr. 11, Zerbone, Randnr. 26, vom 14. Oktober 2004, Kommission/Niederlande, C-113/02, Slg. 2004, I-9707, Randnr. 16, und vom 21. Dezember 2011, Danske Svineproducenter, C-316/10, Slg. 2011, I-13721, Randnr. 41).
88 Werden jedoch aufgrund nationaler Vorschriften Gelder einer Person eingefroren, deren Gelder auch durch eine Unionsverordnung eingefroren sind, kann das die Tragweite dieser Verordnung beeinträchtigen, insbesondere deshalb, weil die Festlegung der vom Einfrieren betroffenen Gelder und die für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zur Verwendung eingefrorener Mittel für bestimmte Ausgaben geltenden Regeln wie die in den Art. 5 und 6 der Verordnung Nr. 2580/2001 vorgesehenen auf nationaler und auf Unionsebene voneinander abweichen könnten.
89 Unter diesen Umständen und in Anbetracht des in den Randnrn. 78 bis 82 des vorliegenden Urteils dargelegten Wortlauts und Ziels von Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ist die Aufhebung der Sanctieregeling kein hinreichender Grund, im Belassen der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 4 und 6 dieses Gemeinsamen Standpunkts zu sehen.
90 Im Übrigen ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, dass es Hinweise darauf gegeben hätte, dass sich die Sachlage oder deren Beurteilung durch die nationalen Behörden in Bezug auf die Verwicklung der Rechtsmittelführerin in die Finanzierung terroristischer Aktivitäten seit dem Erlass der Sanctieregeling geändert hätte. Auch hat die Rechtsmittelführerin nicht vorgetragen, dass das Gericht es versäumt habe, derartige Hinweise zu berücksichtigen.
91 Demzufolge hat das Gericht Art. 1 Abs. 4 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 rechtsfehlerhaft ausgelegt, indem es davon ausgegangen ist, dass es im nationalen Recht, nachdem die Sanctieregeling aufgehoben worden sei, kein „Substrat“ mehr gegeben habe, das den Verbleib der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste rechtlich hinreichend begründet hätte, ohne den Grund für diese Aufhebung ordnungsgemäß zu berücksichtigen.
92 Folglich ist der einzige vom Königreich der Niederlande geltend gemachte Rechtsmittelgrund begründet, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben ist.
C – Zum Anschlussrechtsmittel der Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C-550/10 P
93 Die Rechtsmittelbeantwortung der Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C-550/10 P trägt auch die Überschrift „Anschlussrechtsmittel“.
94 Wie sich jedoch insbesondere aus Art. 117 § 2 der Verfahrensordnung ergibt, setzt ein Anschlussrechtsmittel – unabhängig von seiner Bezeichnung – voraus, dass mit ihm die vollständige oder teilweise Aufhebung des angefochtenen Urteils unter einem Gesichtspunkt beantragt wird, der in der Rechtsmittelschrift nicht geltend gemacht worden ist (vgl. Urteil vom 10. Juli 2008, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, C-413/06 P, Slg. 2008, I-4951, Randnr. 186).
95 Im vorliegenden Fall ist aber, wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, festzustellen, dass in der genannten Rechtsmittelbeantwortung lediglich die Gründe erläutert werden, aus denen die Rechtsmittelführerin die beiden Teile des vom Königreich der Niederlande geltend gemachten Rechtsmittelgrundes für nicht stichhaltig hält. Eine Begründung für ein Anschlussrechtsmittel wird jedoch nicht vorgetragen. In diesem Zusammenhang ist es unzureichend, dass in der Einleitung der Rechtsmittelbeantwortung beantragt wird, davon auszugehen, dass der Inhalt der Rechtsmittelschrift in der Rechtssache C-539/10 P hier wiederholt und angeführt worden sei.
96 Unter diesen Umständen ist das Anschlussrechtsmittel der Rechtsmittelführerin für unzulässig zu erklären.
VI – Zur Klage vor dem Gericht
97 Gemäß Art. 61 Abs. 1 Satz 2 der Satzung des Gerichtshofs kann dieser im Fall der Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
98 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die von der Rechtsmittelführerin erhobene Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Rechtsakte entscheidungsreif und endgültig über sie zu entscheiden ist.
99 Es ist daran zu erinnern, dass die Rechtsmittelführerin im Wesentlichen fünf Klagegründe geltend gemacht hat.
A – Erster Klagegrund
100 Der erste Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1, 2 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 geltend gemacht worden ist, besteht aus vier Teilen, die in Randnr. 22 des vorliegenden Urteils dargelegt worden sind.
101 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht alle diese Teile zurückgewiesen hat und dass die Rechtsmittelführerin mit ihrem Rechtsmittel lediglich die Zurückweisung des zweiten und des dritten Teils gerügt hat. Sie begehrt also nicht mehr, die streitigen Rechtsakte aufgrund der Argumente für nichtig zu erklären, die sie ursprünglich mit dem ersten und dem vierten Teil ihres ersten Klagegrundes geltend gemacht hat. Demzufolge brauchen diese Teile nicht geprüft zu werden.
102 Mit dem zweiten Teil ihres ersten Klagegrundes rügt die Rechtsmittelführerin, dass keine zuständige Behörde ihr gegenüber einen Beschluss im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 gefasst habe. Weder die Sanctieregeling noch das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes fallen ihrer Ansicht nach unter eine der in dieser Vorschrift genannten Kategorien von Beschlüssen.
103 Dieser Teil ist nicht stichhaltig. Aus den Randnrn. 64 bis 77 des vorliegenden Urteils ergibt sich nämlich, dass der Rat über genaue Informationen und einschlägige Akten verfügte, aus denen sich ergibt, dass eine zuständige Behörde gegenüber der Rechtsmittelführerin einen der Definition des Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entsprechenden Beschluss gefasst hatte.
104 Zu dem Vorbringen des Rates in seiner Klagebeantwortung vor dem Gericht, wonach die streitigen Rechtsakte allein auf das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gestützt gewesen seien, ist daran zu erinnern, dass die Funktion der Bezugnahme in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 auf einen nationalen Beschluss darin besteht, festzustellen, ob es für die Verwicklung der betroffenen Person in terroristische Aktivitäten ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien gibt, die die nationalen Behörden für zuverlässig halten. Außerdem wurde in der Begründung, die der Klägerin zweimal, und zwar mit Schreiben vom 23. April und 29. Juni 2007, übermittelt wurde, auf die Sanctieregeling verwiesen. Unter diesen Umständen handelt es sich bei dem Vorbringen des Rates lediglich um ein Argument, das er zur Stützung seines Begehrens anführt, das den Gerichtshof jedoch bei seiner Beurteilung der Rechtmäßigkeit der streitigen Rechtsakte nicht binden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 21. September 2010, Schweden u. a./API und Kommission, C-514/07 P, C-528/07 P und C-532/07 P, Slg. 2010, I-8533, Randnr. 65).
105 Mit dem dritten Teil des ersten Klagegrundes trägt die Rechtsmittelführerin vor, dass weder die Begründung noch das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, noch die Sanctieregeling oder das AIVD-Memorandum die geringste Form von Absicht, Fahrlässigkeit oder Wissen ihrerseits hinsichtlich der Unterstützung terroristischer Aktivitäten erkennen ließen. Der Nachweis dieser Merkmale, der dem Rat obliege, sei aber für die Anwendung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und der Verordnung Nr. 2580/2001 von ausschlaggebender Bedeutung. Der Rat habe mit seiner Annahme, dass sie gewusst habe, dass einige Organisationen, denen Zuwendungen gemacht worden seien, mit der Hamas in Verbindung gestanden und diese Gelder ihrerseits zur Begehung terroristischer Attentate verwendet hätten, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen.
106 Hierzu ergibt sich aus den dem vorliegenden Fall eigenen Umständen, auf die in den Randnrn. 128 bis 132 des angefochtenen Urteils zu Recht hingewiesen worden ist, dass der Rat ohne Beurteilungsfehler davon ausgehen konnte, dass die Klägerin im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. k des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 wusste, dass ihre Tätigkeit des Sammelns und der Bereitstellung von Geldern einen Beitrag zu terroristischen Aktivitäten leistete.
107 Unter diesen Umständen sind der dritte Teil des ersten Klagegrundes und somit dieser Klagegrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
B – Dritter Klagegrund
108 Mit dem dritten Klagegrund rügt die Rechtsmittelführerin einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 und gegen Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 sowie die Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift. Der Rat habe nicht überprüft, ob die Gründe, die den Ausgangsbeschluss über das Einfrieren der Gelder gerechtfertigt hätten, weiterhin gegeben seien und ob es zweckmäßig sei, an ihrer Aufnahme in die streitige Liste festzuhalten; dadurch habe der Rat eine wesentliche Formvorschrift verletzt.
109 Zudem stehe ihr kein weiteres Mittel zur Verfügung, durch einen niederländischen Richter überprüfen zu lassen, ob die vom AIVD im Jahr 2003 erhobenen Anschuldigungen sachlich richtig oder falsch seien, und erst recht nicht, welchen aktuellen Status die Organisationen hätten, an die sie Mittel weitergeleitet habe. Außerdem habe der Rat nicht angemessen berücksichtigt, dass die Sanctieregeling und das Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht dazu geführt hätten, dass in den Niederlanden Ermittlungen oder eine Strafverfolgung gegen die Rechtsmittelführerin aufgenommen worden seien; vielmehr sei die Sanctieregeling unmittelbar nach dem Erlass der ersten Gemeinschaftsmaßnahme des Einfrierens ihrer Gelder aufgehoben worden.
110 Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich aus den Randnrn. 78 bis 89 des vorliegenden Urteils ergibt, dass die Aufhebung der Sanctieregeling als solche kein hinreichender Grund ist, im Belassen der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 4 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zu sehen.
111 Ferner ist dem angefochtenen Urteil, wie in Randnr. 90 des vorliegenden Urteils erwähnt, nicht zu entnehmen, dass es Hinweise darauf gegeben hätte, dass sich die Sachlage oder deren Beurteilung durch die nationalen Behörden in Bezug auf die Verwicklung der Rechtsmittelführerin in die Finanzierung terroristischer Aktivitäten seit dem Erlass der Sanctieregeling geändert hätten.
112 Die Rechtsmittelführerin behauptet auch nicht, dass das Gericht es versäumt habe, derartige Hinweise zu berücksichtigen, oder dass der Rat über Hinweise verfügt habe, die ihn zu der Schlussfolgerung hätten führen können, dass sie ihre Mitwirkung an der Finanzierung terroristischer Aktivitäten nach dem Erlass der Sanctieregeling ausgesetzt oder beendet habe, und zwar unabhängig davon, dass das Einfrieren ihrer Gelder eine Fortsetzung dieser Mitwirkung erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht habe.
113 Unter diesen Umständen ist kein Verstoß des Rates gegen seine Verpflichtung zur Überprüfung aus Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 festzustellen.
C – Zweiter und vierter Klagegrund
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
114 Die Rechtsmittelführerin macht mit ihrem zweiten und ihrem vierten Klagegrund geltend, dass die streitigen Rechtsakte unter Verstoß gegen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts – insbesondere gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit –, gegen Art. 6 EU und gegen Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ihr Grundrecht auf ungestörte Nutzung des Eigentums beeinträchtigten.
115 Das Einfrieren der Gelder greife zwar nicht in die Substanz des Rechts der Betroffenen am Eigentum ihrer Finanzmittel ein, sondern nur in deren Nutzung. Im vorliegenden Fall sei der aus den streitigen Rechtsakten resultierende Eingriff jedoch unverhältnismäßig. Es wäre nämlich möglich gewesen, zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus, einem an sich legitimen Ziel, zwischen mehreren angemessenen Maßnahmen zu wählen, doch habe man nicht diejenige Maßnahme gewählt, die für die Betroffene am wenigsten belastend sei.
116 In diesem Zusammenhang rügt die Rechtsmittelführerin, der Rat habe ihre gesamten Vermögenswerte eingefroren, obwohl es ebenso wirksam und weniger belastend gewesen wäre, wenn er ihr untersagt hätte, Zahlungen an bestimmte Organisationen zu leisten, oder ihr lediglich untersagt hätte, Projekte in Palästina finanziell zu unterstützen, wenn er ihr erlaubt hätte, bestimmten humanitären Organisationen Mittel zur Verfügung zu stellen, wenn er ein System eingeführt hätte, das vor jeder finanziellen Transaktion eine vorherige Erlaubnis durch eine nationale Behörde erfordert, oder ihr eine strenge Verpflichtung auferlegt hätte, die Verwendung der gezahlten Beträge nachträglich zu belegen. Diese alternativen Maßnahmen habe sie dem Rat mit Schreiben vom 25. Mai 2007 aber vorgeschlagen.
117 Außerdem müssten die unzumutbaren Erschwernisse berücksichtigt werden, die ihr durch die streitigen Rechtsakte bereitet würden, da sie ihre Existenz als Geldgeber von karitativen Einrichtungen in ihrem Wesensgehalt beeinträchtigten. Das Einfrieren ihrer Gelder habe zur Folge, dass sie nicht mehr in der Lage sei, irgendeine der Tätigkeiten – auch für wohltätige Werke in den Niederlanden – auszuüben, zu deren Zweck sie gegründet worden sei.
118 Die Unverhältnismäßigkeit der hier in Rede stehenden Maßnahmen, die bereits seit mehr als vier Jahren in Kraft seien, werde darüber hinaus durch deren unklare und möglicherweise unbegrenzte Dauer verstärkt. Es sei nicht abzusehen, wie lange der Rat die Anwendung dieser Maßnahmen ihr gegenüber für erforderlich halten werde. Die Rechtsmittelführerin selbst könne nichts tun, um an ihrer Lage etwas zu ändern.
119 Nach Ansicht des Rates, des Königreichs der Niederlande und der Kommission sind die streitigen Rechtsakte mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar; das Recht der Rechtsmittelführerin auf Achtung ihres Eigentums sei daher nicht verletzt.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
120 Bei dem durch die streitigen Rechtsakte vorgeschriebenen Einfrieren von Geldern handelt es sich um eine Sicherungsmaßnahme, die nicht darauf abzielt, die betreffenden Personen zu enteignen (vgl. Urteil Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Randnr. 358). Dennoch ist diese Maßnahme unbestreitbar mit einer Beschränkung der Ausübung des Eigentumsrechts der Rechtsmittelführerin verbunden, die darüber hinaus angesichts der allgemeinen Tragweite der Maßnahme des Einfrierens und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese erstmals mit Beschluss vom 27. Juni 2003 gegen die Rechtsmittelführerin verhängt wurde, als erheblich anzusehen ist.
121 Nach ständiger Rechtsprechung genießt das Eigentumsrecht im Unionsrecht aber keinen uneingeschränkten Schutz. Folglich kann die Ausübung dieses Rechts Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antasten würde (vgl. Urteile vom 30. Juli 1996, Bosphorus, C-84/95, Slg. 1996, I-3953, Randnr. 21, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Randnr. 355, sowie vom 16. November 2011, Bank Melli Iran/Rat, C-548/09 P, Slg. 2011, I-11381, Randnrn. 89, 113 und 114).
122 Außerdem gehört nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und verlangt, dass die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (vgl. u. a. Urteile vom 12. Mai 2011, Luxemburg/Parlament und Rat, C-176/09, Slg. 2011, I-3727, Randnr. 61, sowie vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, C-380/09 P, Randnr. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
123 Angesichts eines für die Völkergemeinschaft derart grundlegenden Ziels wie des mit allen Mitteln gemäß der UN-Charta geführten Kampfes gegen die Bedrohungen, die durch terroristische Handlungen auf dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit lasten, kann das Einfrieren von Geldern, Finanzvermögen und anderen wirtschaftlichen Ressourcen der Personen, die nach den in der Verordnung Nr. 2580/2001 und dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 festgelegten Regeln als in die Finanzierung des Terrorismus verwickelt identifiziert worden sind, für sich genommen nicht als unangemessen angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Bosphorus, Randnr. 26, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Randnr. 363, sowie Bank Melli Iran/Rat, Randnr. 115).
124 Die Rechtsmittelführerin räumt selbst ein, dass das angestrebte Ziel, d. h. die Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus zur Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, legitim ist, und bestreitet nicht, dass das Einfrieren von Geldern geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen. Sie bestreitet lediglich die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit des durch die streitigen Rechtsakte vorgeschriebenen Einfrierens ihrer Gelder.
125 Hinsichtlich der Erforderlichkeit ist festzustellen, dass die von der Rechtsmittelführerin genannten alternativen und weniger belastenden Maßnahmen, z. B. ein System einer vorherigen Erlaubnis oder eine Verpflichtung, die Verwendung der gezahlten Beträge nachträglich zu belegen, es – namentlich in Anbetracht der Möglichkeit einer Umgehung der auferlegten Beschränkungen – nicht ermöglichen, das angestrebte Ziel, nämlich die Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus, ebenso wirksam zu erreichen.
126 Überdies ist ein partielles Einfrieren, beschränkt auf Vermögenswerte, die mit der Finanzierung des Terrorismus zusammenhängen, weder im Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 noch in der Verordnung Nr. 2580/2001 vorgesehen. Dasselbe gilt für die Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die unter Ziff. 1 Buchst. c ganz allgemein vorsieht, dass die Staaten Gelder und sonstige finanzielle Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen von Personen einfrieren werden, die in die Begehung oder den Versuch der Begehung terroristischer Handlungen verwickelt sind. Für die Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Resolution sind jedoch deren Wortlaut und Ziel zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 29. Juni 2010, E und F, C-550/09, Slg. 2010, I-6213, Randnr. 72, Bank Melli Iran/Rat, Randnr. 104, sowie Melli Bank/Rat, Randnr. 55).
127 Hinsichtlich der Frage, ob der nach den streitigen Rechtsakten vorgesehene Verbleib der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste unverhältnismäßig ist, ist festzustellen, dass es nach den Art. 5 und 6 der Verordnung Nr. 2580/2001 zum einen möglich ist, die Verwendung eingefrorener Gelder zur Deckung von Grundbedürfnissen oder zur Erfüllung bestimmter Verpflichtungen zu genehmigen, und zum anderen, spezifische Genehmigungen zu erteilen, um eingefrorene Gelder, sonstige Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen freizugeben (vgl. entsprechend Urteil Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Randnr. 364).
128 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Rechtsmittelführerin – wie sich aus der Sanctieregeling und dem Urteil im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergibt – anders als der Betroffene in der Rechtssache, in der das Urteil Bosphorus ergangen ist, durch ihr Verhalten dazu beigetragen hat, dass sie in die streitige Liste aufgenommen wurde.
129 Der durch die streitigen Rechtsakte vorgeschriebene Verbleib der Rechtsmittelführerin auf der streitigen Liste ist schließlich auch nicht im Hinblick darauf, dass er ihrer Ansicht nach potenziell unbegrenzt ist, als unverhältnismäßig einzustufen. Er wird nämlich regelmäßig überprüft, um sicherzustellen, dass die Personen und Organisationen, die nicht mehr die Kriterien erfüllen, um auf der streitigen Liste zu stehen, aus dieser gestrichen werden (vgl. entsprechend Urteil Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Randnr. 365).
130 Daraus folgt, dass die durch die streitigen Rechtsakte verursachten Beschränkungen des Eigentumsrechts der Rechtsmittelführerin angesichts der entscheidenden Bedeutung der Bekämpfung des Terrorismus für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Hinblick auf die genannten Ziele nicht unverhältnismäßig sind.
131 Demzufolge sind der zweite und der dritte Klagegrund nicht stichhaltig und zurückzuweisen.
D – Fünfter Klagegrund
1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
132 Mit ihrem fünften Klagegrund rügt die Rechtsmittelführerin, dass der Beschluss 2007/445 aus mehreren Gründen dem Begründungserfordernis des Art. 253 EG nicht genüge.
133 Erstens habe der Rat nicht begründet, weshalb er der Ansicht sei, dass im vorliegenden Fall eine zuständige Behörde im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 einen Beschluss gefasst habe.
134 Zweitens habe der Rat lediglich dargelegt, inwiefern die Rechtsmittelführerin seiner Ansicht nach in den formellen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2580/2001 falle, ohne die Gründe anzugeben, aus denen er in Ausübung seines Ermessens zu der Auffassung gelangt sei, dass die Gelder der Rechtsmittelführerin tatsächlich eingefroren werden müssten.
135 Drittens habe der Rat nicht die besonderen und konkreten Gründe angegeben, aus denen er nach der Überprüfung zu der Auffassung gelangt sei, dass das Einfrieren der Gelder der Rechtsmittelführerin nach wie vor gerechtfertigt sei. Er habe lediglich seine „Überzeugung“ zum Ausdruck gebracht, dass die Gründe, die die ursprüngliche Aufnahme der Rechtsmittelführerin in die streitige Liste gerechtfertigt hätten, noch immer gültig seien.
136 Viertens rügt die Rechtsmittelführerin, dass sich der Rat keineswegs bemüht habe, auf die ausführliche Stellungnahme zu antworten, die sie ihm mit ihrem Schreiben vom 25. Mai 2007 übermittelt habe.
137 Der Rat und die Kommission vertreten die Auffassung, dass der Beschluss 2007/445 in Verbindung mit der Begründung und der Verordnung Nr. 2580/2001 angemessen begründet sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
138 Nach ständiger Rechtsprechung muss die nach Art. 253 EG vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. u. a. Urteile vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C-367/95 P, Slg. 1998, I-1719, Randnr. 63, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, Randnr. 166, sowie E und F, Randnr. 54).
139 Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können (vgl. u. a. Urteile Kommission/Sytraval und Brink’s France, Randnr. 63, Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, Randnr. 166, sowie Melli Bank/Rat, Randnr. 93).
140 In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Aspekte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 253 EG genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. u. a. Urteile Kommission/Sytraval und Brink’s France, Randnr. 63, vom 22. Juni 2004, Portugal/Kommission, C-42/01, Slg. 2004, I-6079, Randnr. 66, sowie Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, Randnr. 166).
141 Zunächst folgt aus dieser Rechtsprechung, dass Art. 253 EG nicht dahin auszulegen ist, dass er dem Rat gebietet, auf die Äußerungen, die die Rechtsmittelführerin bei ihrer Anhörung vor Erlass des fraglichen Beschlusses gemacht hatte, im Einzelnen zu antworten (vgl. entsprechend Urteile vom 10. Mai 1960, Barbara Erzbergbau u. a./Hohe Behörde, 3/58 bis 18/58, 25/58 und 26/58, Slg. 1960, 372, 415, sowie vom 17. November 1987, British American Tobacco und Reynolds Industries/Kommission, 142/84 und 156/84, Slg. 1987, 4487, Randnrn. 72 und 73).
142 Außerdem enthielt die Begründung, die der Klägerin zusammen mit dem Beschluss 2007/445 übermittelt wurde, die einzelfallbezogenen und spezifischen Gründe, die den Rat gemäß Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 auf der Grundlage von Angaben, die eine nationale Behörde für zuverlässig gehalten hatte, zu der Annahme geführt hatten, dass die Rechtsmittelführerin in die Finanzierung des Terrorismus verwickelt war. Die betreffenden Angaben reichten aus, um die Rechtsmittelführerin in die Lage zu versetzen, zu erkennen, was ihr vorgeworfen wurde.
143 Diese Schlussfolgerung gilt auch für die übrigen streitigen Rechtsakte, denn es ist unstreitig, dass die jeweilige Begründung, mit der der Rat diese Rechtsakte gerechtfertigt hat, mit der vorgenannten Begründung übereinstimmte.
144 Hinsichtlich des zweiten Arguments der Rechtsmittelführerin ergibt sich aus Ziff. 1 Buchst. c der Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und Art. 2 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2580/2001, dass das Einfrieren der Gelder von Personen, die in terroristische Handlungen verwickelt sind, das übliche Verfahren darstellt. Deshalb kann dem Rat nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er keine zusätzlichen Gründe genannt hat, die ihn zu der Annahme hätten führen können, dass die Gelder der Rechtsmittelführerin tatsächlich eingefroren werden mussten.
145 Zum dritten Argument der Klägerin, mit dem sie rügt, der Rat habe nicht die Gründe angegeben, aus denen er zu der Auffassung gelangt sei, dass das Einfrieren ihrer Gelder nach wie vor gerechtfertigt sei, ist darauf hinzuweisen, dass es, wie in den Randnrn. 111 und 112 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, keine Hinweise darauf gibt, dass sich seit dem Erlass der Sanctieregeling die Sachlage oder deren Beurteilung durch die nationalen Behörden in Bezug auf die Verwicklung der Rechtsmittelführerin in die Finanzierung terroristischer Aktivitäten geändert hätte. Außerdem macht die Rechtsmittelführerin nicht geltend, dass der Rat über Hinweise verfügt habe, die ihn zu der Schlussfolgerung hätten führen können, dass sie ihre Mitwirkung an der Finanzierung terroristischer Aktivitäten nach dem Erlass der Sanctieregeling ausgesetzt oder beendet habe.
146 Unter diesen Umständen war es nicht notwendig, näher darzulegen, weshalb der Rat der Überzeugung war, dass die Gründe, die die Aufnahme der Rechtsmittelführerin in die streitige Liste gerechtfertigt hatten, noch immer gültig waren.
147 Deshalb ist der letzte Klagegrund zurückzuweisen und damit die Klage insgesamt abzuweisen.
VII – Kosten
148 Der Gerichtshof entscheidet gemäß Art. 122 § 1 der Verfahrensordnung über die Kosten nur dann, wenn das Rechtsmittel zurückgewiesen wird oder wenn das Rechtsmittel begründet ist und er selbst den Fall endgültig entscheidet. Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung, der gemäß ihrem Art. 118 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Art. 69 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass die Mitgliedstaaten und Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen.
149 Da dem Rechtsmittel des Königreichs der Niederlande stattgegeben wird und das Rechtsmittel der Rechtsmittelführerin zurückgewiesen und ihre Klage gegen die streitigen Rechtsakte abgewiesen wird, sind der Rechtsmittelführerin gemäß den Anträgen des Königreichs der Niederlande und des Rates neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Königreichs der Niederlande und die des Rates im Rahmen der vorliegenden Rechtsmittel sowie die Kosten des Rates im ersten Rechtszug aufzuerlegen.
150 Die Kommission als Streithelferin vor dem Gericht und vor dem Gerichtshof sowie das Königreich der Niederlande als Streithelfer vor dem Gericht tragen in den jeweiligen Rechtszügen ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 9. September 2010, Al-Aqsa/Rat (T-348/07), wird aufgehoben.
2. Die Klage der Stichting Al-Aqsa wird abgewiesen und ihr Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
3. Die Stichting Al-Aqsa trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Königreichs der Niederlande und die des Rates der Europäischen Union im Rahmen der vorliegenden Rechtsmittel sowie die Kosten des Rates im ersten Rechtszug.
4. Die Europäische Kommission als Streithelferin vor dem Gericht der Europäischen Union und vor dem Gerichtshof der Europäischen Union sowie das Königreich der Niederlande als Streithelfer vor dem Gericht tragen in den jeweiligen Rechtszügen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Arrêt du Tribunal (huitième chambre) du 20 décembre 2023.#Organización de Consumidores y Usuarios (OCU) contre Conseil de résolution unique.#Accès aux documents – Règlement (CE) n° 1049/2001 – Documents concernant l’adoption par le CRU d’un dispositif de résolution à l’égard de Banco Popular Español – Décision du comité d’appel du CRU relative à une décision confirmative du CRU de refus d’accès – Droit d’accès au dossier – Article 41, paragraphe 2, de la charte des droits fondamentaux.#Affaire T-496/18.
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62018TJ0496
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ECLI:EU:T:2023:857
| 2023-12-20T00:00:00 |
Gericht
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 3. Juli 2025.#UY gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Öffentliche Gesundheit – Humanarzneimittel – Zulassung – Spikevax – Covid-19‑Impfstoff – Nichtigkeitsklage – Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Unionsrichter – Rechtsschutzinteresse – Klagebefugnis – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Teils offensichtlich unzulässiges und teils offensichtlich unbegründetes Rechtsmittel.#Rechtssache C-148/24 P.
|
62024CO0148
|
ECLI:EU:C:2025:536
| 2025-07-03T00:00:00 |
Medina, Gerichtshof
|
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
3. Juli 2025(*)
„ Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Öffentliche Gesundheit – Humanarzneimittel – Zulassung – Spikevax – Covid-19‑Impfstoff – Nichtigkeitsklage – Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Unionsrichter – Rechtsschutzinteresse – Klagebefugnis – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Teils offensichtlich unzulässiges und teils offensichtlich unbegründetes Rechtsmittel “
In der Rechtssache C‑148/24 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 25. Februar 2024,
UY, vertreten durch Rechtsanwältin R. Holzeisen,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch E. Mathieu und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Gavalec (Berichterstatter) sowie der Richter Z. Csehi und F. Schalin,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt UY die Aufhebung des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 11. Dezember 2023, UY/Kommission (T‑108/23, im Folgenden: angefochtener Beschluss, EU:T:2023:816), mit dem das Gericht seine Klage auf Nichtigerklärung erstens des Durchführungsbeschlusses C(2022) 7163 final der Kommission vom 3. Oktober 2022 zur Erteilung einer Zulassung für das Humanarzneimittel „Spikevax – Elasomeran“ gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung des Beschlusses C(2021) 94 final (im Folgenden: dritter streitiger Durchführungsbeschluss), zweitens des Durchführungsbeschlusses C(2021) 5686 final der Kommission vom 23. Juli 2021 über die Änderung der mit dem Beschluss C(2021) 94 final vom 6. Januar 2021 erteilten bedingten Zulassung des Humanarzneimittels „Spikevax – COVID-19-mRNA‑Impfstoff (Nukleosid-modifiziert)“ (im Folgenden: zweiter streitiger Durchführungsbeschluss), drittens des Durchführungsbeschlusses C(2021) 94 final vom 6. Januar 2021 über die Erteilung einer bedingten Zulassung für das Humanarzneimittel „COVID-19 Vaccine Moderna – COVID-19-mRNA‑Impfstoff (Nukleosid-modifiziert)“ gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 (im Folgenden: erster streitiger Durchführungsbeschluss), viertens des Anhangs I Teil IV Nr. 2.1 letzter Satz der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. 2001, L 311, S. 67) und fünftens des Anhangs der Richtlinie 2009/120/EG der Kommission vom 14. September 2009 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel im Hinblick auf Arzneimittel für neuartige Therapien (ABl. 2009, L 242, S. 3) für nichtig erklärt hat.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 2 bis 8 des angefochtenen Beschlusses wie folgt dargestellt:
„2 Am 6. November 2001 erließen das [Europäische] Parlament und der Rat [der Europäischen Union] die Richtlinie 2001/83, in deren Anhang I die genauen wissenschaftlichen und technischen Anforderungen an Prüfungen von Humanarzneimitteln festgelegt sind, anhand derer die Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit eines Arzneimittels zu beurteilen sind. Anhang I der Richtlinie 2001/83 wurde durch die Richtlinie 2009/120 geändert, um dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt bei neuartigen Therapien Rechnung zu tragen. So wurde mit der Richtlinie 2009/120 u. a. die Begriffsbestimmung der Gentherapeutika in Anhang I Teil IV Abschnitt 2.1 der Richtlinie 2001/83 geändert. Der letzte Satz dieses Abschnitts schließt Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten von dieser Begriffsbestimmung aus.
3 Am 6. Januar 2021 erließ die [Europäische] Kommission auf Antrag der Moderna Biotech Spain SL (im Folgenden: Moderna) und nach Stellungnahme des Ausschusses für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) den [ersten streitigen Durchführungsbeschluss], mit dem sie dem Humanarzneimittel ‚COVID-19 Vaccine Moderna – COVID-19-mRNA‑Impfstoff (Nukleosid-modifiziert)‘ eine bedingte Zulassung gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Unionsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. 2004, L 136, S. 1, im Folgenden: bedingte Erstzulassung) erteilte.
4 Am 22. Juni 2021 erließ die Kommission auf einen Antrag gemäß Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 1234/2008 der Kommission vom 24. November 2008 über die Prüfung von Änderungen der Zulassungen von Human- und Tierarzneimitteln (ABl. 2008, L 334, S. 7) und nach einer Stellungnahme der EMA den [zweiten streitigen Durchführungsbeschluss], mit dem sie die bedingte Erstzulassung dahin änderte, dass das Arzneimittel ‚Spikevax – COVID-19-mRNA‑Impfstoff (Nukleosid-modifiziert)‘ auch bei Personen ab zwölf Jahren zur aktiven Immunisierung zur Vorbeugung von Covid-19 verursacht durch SARS-CoV-2 angewendet wird …
5 Am 3. Oktober 2022 erließ die Kommission nach einer Stellungnahme der EMA den [dritten streitigen Durchführungsbeschluss], mit dem gemäß seinem Art. 5 der [erste streitige Durchführungsbeschluss], mit dem die bedingte Erstzulassung erteilt wurde, aufgehoben und ersetzt wurde. Im Einzelnen wurde mit dem [dritten streitigen Durchführungsbeschluss] in seinem zweiten Erwägungsgrund festgestellt, dass die spezifischen Auflagen der bedingten Erstzulassung erfüllt seien, und nach seinem Art. 1 für das Arzneimittel ‚Spikevax – Elasomeran‘ (im Folgenden: Spikevax) eine Zulassung gemäß Art. 3 der Verordnung Nr. 726/2004 erteilt, die keinen spezifischen Auflagen unterliegt. Anhang I des [dritten streitigen Durchführungsbeschlusses] enthält die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Spikevax.
6 Nach Art. 2 des [dritten streitigen Durchführungsbeschlusses] unterliegt die Zulassung für das Arzneimittel Spikevax weiterhin der Erfüllung der in Anhang II des Beschlusses aufgeführten Bedingungen, insbesondere für die Herstellung, die Einfuhr, die Kontrolle und die Abgabe.
7 Nach Art. 4 des [dritten streitigen Durchführungsbeschlusses] beträgt die Gültigkeitsdauer der Zulassung für das Arzneimittel Spikevax fünf Jahre ab dem Tag der Bekanntgabe dieses Beschlusses.
8 Gemäß Art. 6 des [dritten streitigen Durchführungsbeschlusses] ist dieser an Moderna gerichtet.“
Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss
3 Mit Klageschrift, die am 22. Februar 2023 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob der Rechtsmittelführer gemäß Art. 263 AEUV Klage auf Nichtigerklärung des ersten bis dritten streitigen Durchführungsbeschlusses, des Anhangs I Teil IV Nr. 2.1 letzter Satz der Richtlinie 2001/83 und des Anhangs der Richtlinie 2009/120.
4 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 11. Mai 2023 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, erhob die Kommission die Einrede der Unzulässigkeit.
5 Mit dem angefochtenen Beschluss, der auf der Grundlage von Art. 130 Abs. 1 und 7 seiner Verfahrensordnung erlassen wurde, wies das Gericht die Klage des Rechtsmittelführers als unzulässig ab.
6 Erstens sei diese Klage, soweit sie die Richtlinien 2001/83 und 2009/120 betreffe, wegen Ablaufs der in Art. 263 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen diese Rechtsakte unzulässig.
7 Zweitens sei die Klage, soweit sie den ersten und den zweiten streitigen Durchführungsbeschluss betreffe, mangels anfechtbarer Handlung unzulässig, da der erste streitige Durchführungsbeschluss in der durch den zweiten streitigen Durchführungsbeschluss geänderten Fassung durch den dritten streitigen Durchführungsbeschluss aufgehoben und ersetzt worden sei.
8 Drittens sei die Klage, soweit sie den dritten streitigen Durchführungsbeschluss betreffe, mangels Rechtsschutzinteresses und wegen fehlender Klagebefugnis des Rechtsmittelführers unzulässig.
Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge des Rechtsmittelführers
9 Mit Schriftsatz, der am 25. Februar 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat der Rechtsmittelführer ein Rechtsmittel eingelegt.
10 Mit Entscheidung vom 16. April 2024 hat der Präsident des Gerichtshofs das Verfahren bis zur verfahrensbeendenden Entscheidung in der Rechtssache C-586/23 P, Frajese/Kommission, ausgesetzt.
11 Nach der Verkündung des Urteils vom 30. Januar 2025, Frajese/Kommission (C-586/23 P, EU:C:2025:45), wurde das Verfahren wieder aufgenommen.
12 Der Rechtsmittelführer beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und seine Nichtigkeitsklage für zulässig zu erklären.
Zum Rechtsmittel
13 Nach Art. 181 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof das Rechtsmittel, wenn es ganz oder teilweise offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist, jederzeit auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts durch mit Gründen versehenen Beschluss zurückweisen, gegebenenfalls ohne ihn den anderen Parteien des Verfahrens vor dem Gericht zuzustellen.
14 Diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall anzuwenden.
15 Der Rechtsmittelführer stützt sein Rechtsmittel auf zwei Gründe, erstens einen Verstoß gegen Art. 18 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und die Art. 5 und 16 der Verfahrensordnung des Gerichts und zweitens einen Verstoß gegen Art. 263 Abs. 4 AEUV, die Art. 168 und 169 AEUV, die Art. 3, 35 und 38 der Charta, die Art. 8, 11, 26, 54, 58 und 59 sowie 86 und 101 und den Anhang I Teile I, III und IV der Richtlinie 2001/83, die Art. 3 bis 7, 10a, 12, 14a, 20, 20a, 25a, 57, 81 und 84a der Verordnung Nr. 726/2004, die Allgemeine Erklärung der Vereinten Nationen zum menschlichen Genom und die Menschenrechte (A/RES/53/152 vom 10. März 1999), die Verordnung (EG) Nr. 507/2006 der Kommission vom 29. März 2006 über die bedingte Zulassung von Humanarzneimitteln, die unter den Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates fallen (ABl. 2006, L 92, S. 6) sowie die Art. 5 und 7 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG (ABl. 2014, L 158, S. 1).
Zum ersten Rechtsmittelgrund
Vorbringen des Rechtsmittelführers
16 Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund macht der Rechtsmittelführer geltend, dass der angefochtene Beschluss wegen Verstoßes gegen das in Art. 47 der Charta, Art. 18 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie den Art. 5 und 16 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehene Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter der Union aufzuheben sei.
17 Der Berichterstatter in der Rechtssache, in der dieser Beschluss ergangen sei, habe von 2004 bis 2014 verschiedene Ämter in der Kommission ausgeübt. Im Jahr 2009, in dem die Kommission gesetzliche Abänderungen, u. a. durch den Erlass der Richtlinie 2009/120, vorgenommen habe, durch die das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung in der Union aufs Spiel gesetzt worden seien, sei er Kabinettsleiter des Kommissionspräsidenten gewesen.
18 Sein Antrag auf Ablehnung dieses Berichterstatters sei am 18. Oktober 2023 durch eine Entscheidung des Präsidenten des Gerichts zurückgewiesen worden, obwohl in dieser Entscheidung festgestellt worden sei, dass der Berichterstatter diese Ämter in der Kommission tatsächlich ausgeübt habe.
Würdigung durch den Gerichtshof
19 Vor dem Gericht hat der Rechtsmittelführer in der Rechtssache, in der der angefochtene Beschluss ergangen ist, nach Art. 18 Abs. 1 und 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß ihrem Art. 47 Abs. 1 auf das Gericht Anwendung findet, die Ablehnung des Berichterstatters beantragt.
20 Dieser Antrag ist am 18. Oktober 2023 mit einer Entscheidung des Präsidenten des Gerichts mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass keiner der vom Rechtsmittelführer angeführten Gesichtspunkte die Annahme zulasse, dass einer der Fälle gemäß Art. 18 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union oder Art. 16 der Verfahrensordnung des Gerichts, in denen die Voraussetzungen für die Entbindung eines Richters festgelegt seien, auf diesen Berichterstatter zutreffe.
21 In dieser Entscheidung stellte der Präsident des Gerichts zum einen fest, dass der Umstand, dass ein Richter in einem Unionsorgan zu dem Zeitpunkt, zu dem es den Rechtsakt erlassen hat, dessen Nichtigerklärung beantragt werde, hohe Ämter innegehabt habe oder sogar die Dienste dieses Organs geleitet habe, für sich genommen kein Grund für die Entbindung eines Richters darstelle. Dies gehe aus dem Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs klar hervor, der die Selbstablehnung oder die Entbindung auf den Fall beschränke, dass ein Richter unmittelbar an der betreffenden Sache beteiligt gewesen sei. Zum anderen habe der Rechtsmittelführer keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass der Berichterstatter persönlich am Erlass eines der streitigen Rechtsakte beteiligt gewesen sei.
22 Vor dem Gerichtshof macht der Rechtsmittelführer geltend, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts durch die Zurückweisung seines Ablehnungsantrags nicht garantiert worden seien und dass die von ihm angeführten Gesichtspunkte die Befangenheit des betreffenden Berichterstatters belegten.
23 Dieses Vorbringen ist offensichtlich unzulässig.
24 In seinem Vorbringen vor dem Gerichtshof beschränkt sich der Rechtsmittelführer nämlich darauf, die Gesichtspunkte wiederzugeben, die er vor dem Gericht angeführt hat und auf deren Grundlage er seinen Ablehnungsantrag gestellt hat, um hierdurch eine erneute Prüfung dieses Antrags zu erreichen.
25 Insoweit macht der Rechtsmittelführer insbesondere weder geltend, dass der Präsident des Gerichts diese Gesichtspunkte fehlerhaft gewürdigt habe, noch, dass er bei der Auslegung und Anwendung von Art. 18 Abs. 1 und 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union einen Rechtsfehler begangen habe.
26 Soweit sich der Rechtsmittelführer mit diesem Rechtsmittelgrund implizit, aber notwendigerweise auf die nicht ordnungsgemäße Besetzung des Spruchkörpers beruft, ist dieser Rechtsmittelgrund jedenfalls offensichtlich unbegründet.
27 Der Rechtsmittelführer macht nämlich keinen konkreten Umstand geltend, der die Feststellung einer persönlichen Befangenheit des Berichterstatters in der Rechtssache, in der der angefochtene Beschluss ergangen ist, belegen könnte. Er behauptet insbesondere weder, dass dieses Mitglied des Spruchkörpers persönlich am Erlass der streitigen Rechtsakte beteiligt gewesen sei, noch, dass es konkret zu deren Erlass beigetragen habe.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund
28 Der zweite Rechtsmittelgrund gliedert sich in zwei Teile. Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes rügt der Rechtsmittelführer, das Gericht habe festgestellt, dass er kein Rechtsschutzinteresse in Bezug auf den dritten streitigen Durchführungsbeschluss habe. Mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes wendet er sich gegen die Feststellung des Gerichts, er sei nicht befugt, gegen diesen Durchführungsbeschluss vorzugehen.
Zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes
– Vorbringen des Rechtsmittelführers
29 Mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht der Rechtsmittelführer geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es in Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses entschieden habe, der dritte streitige Durchführungsbeschluss bewirke nur, dass Moderna das Inverkehrbringen des Arzneimittels Spikevax auf dem Markt der Europäischen Union gestattet werde.
30 Da die Zusammenfassung der Merkmale des Erzeugnisses und die Packungsbeilage des Arzneimittels Spikevax in den Anhängen dieses Durchführungsbeschlusses enthalten seien und dieser sich daher an Angehörige der Gesundheitsberufe, für die öffentliche Gesundheit zuständige Behörden und potenziell zu Impfende richte, hätte das Gericht feststellen müssen, dass dieser Durchführungsbeschluss eine allgemeine Geltung habe und die Interessen des Rechtsmittelführers und seiner Kinder beeinträchtige.
31 Ferner sei zum einen die Feststellung des Gerichts in Rn. 39 des angefochtenen Beschlusses fehlerhaft, wonach der dritte streitige Durchführungsbeschluss Entscheidungen der öffentlichen Stellen auf nationaler Ebene nicht vorgreife.
32 Zum anderen hätte die Italienische Republik, wenn das Arzneimittel Spikevax von der Kommission nicht als „Impfstoff“ zugelassen worden wäre, diese Substanz niemals in ein „Impfprogramm“ aufnehmen können.
33 Daher sei im Wesentlichen die Schlussfolgerung des Gerichts in Rn. 40 des angefochtenen Beschlusses fehlerhaft.
– Würdigung durch den Gerichtshof
34 Mit dem ersten Teil seines zweiten Rechtsmittelgrundes wirft der Rechtsmittelführer dem Gericht vor, unter Verstoß gegen Art. 263 Abs. 4 AEUV sowie gegen weitere Bestimmungen des Unionsrechts und des Völkerrechts festgestellt zu haben, er habe kein Rechtsschutzinteresse in Bezug auf den dritten streitigen Durchführungsbeschluss.
35 Erstens ist festzustellen, dass der Rechtsmittelführer im Rahmen dieses Teils des Rechtsmittelgrundes neben Art. 263 Abs. 4 AEUV auch auf weitere Bestimmungen des Unionsrechts und des Völkerrechts Bezug nimmt, ohne zu erläutern, inwiefern das Gericht gegen diese weiteren Bestimmungen verstoßen haben soll und inwiefern diese den Rechtsfehler belegten, den das Gericht bei der Beurteilung seines Rechtsschutzinteresses begangen haben soll.
36 Daraus folgt, dass dieser Teil, soweit er auf die betreffenden weiteren Bestimmungen Bezug nimmt, als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen ist.
37 Was zweitens die Rüge des Rechtsmittelführers betrifft, das Gericht habe mit der Feststellung, er habe kein Rechtsschutzinteresse in Bezug auf eine Klage gegen den dritten streitigen Durchführungsbeschluss, gegen Art. 263 Abs. 4 AEUV verstoßen, stellt das Rechtsschutzinteresse, wie das Gericht in den Rn. 31 und 32 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die wesentliche Grundvoraussetzung jeder Klage dar. Eine Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person ist somit nur zulässig, wenn der Kläger ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung hat. Das Rechtsschutzinteresse des Klägers setzt voraus, dass die Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung als solche Rechtswirkungen haben kann und der Rechtsbehelf der Partei, die ihn eingelegt hat, damit im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann, sowie, dass diese ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung nachweist. Ferner ist es Sache des Klägers, sein Rechtsschutzinteresse nachzuweisen. Dieser muss insbesondere ein persönliches Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung belegen. Es muss sich dabei um ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse handeln, wofür auf den Tag der Klageerhebung abzustellen ist. (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2015, Mory u. a./Kommission, C-33/14 P, EU:C:2015:609, Rn. 55 bis 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Das Gericht hat in den Rn. 36 bis 39 des angefochtenen Beschlusses den Inhalt und die Tragweite des dritten streitigen Durchführungsbeschlusses zu Recht geprüft und dabei u. a. seinen Adressaten, Moderna, die in den Anhängen der Zulassung festgelegten Pflichten der Zulassungsinhaber sowie das Bestehen etwaiger durch diesen Durchführungsbeschluss begründeter Verpflichtungen für Angehörige von Gesundheitsberufen, Behörden, die für die öffentliche Gesundheit zuständig sind, und Personen, die sich gegebenenfalls impfen lassen, darunter den Rechtsmittelführer, berücksichtigt; aufgrund dieser Prüfung ist es in den Rn. 40 und 41 dieses Beschlusses zu dem Ergebnis gelangt, dass der Rechtsmittelführer kein Rechtsschutzinteresse habe, gegen den Durchführungsbeschluss vorzugehen, da dessen Nichtigerklärung ihm keinerlei Vorteil verschaffen könne.
39 Bei dieser Prüfung hat das Gericht in Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses zu Recht festgestellt, dass der dritte streitige Durchführungsbeschluss nur bewirke, dass Moderna das Inverkehrbringen des Arzneimittels Spikevax auf dem Unionsmarkt gestattet werde und es den Mitgliedstaaten untersagt werde, sich seinem Inverkehrbringen zu widersetzen.
40 Entgegen dem Vorbringen des Rechtsmittelführers erzeugen die Zusammenfassung der Merkmale dieses Arzneimittels in Anhang I dieses Durchführungsbeschlusses und die Packungsbeilage zu dem Arzneimittel, die ebenso wie dessen Etikettierung den in Anhang III dieses Durchführungsbeschlusses aufgeführten Bedingungen entsprechen muss, Verpflichtungen nur für den Inhaber der in Rede stehenden Zulassung.
41 Zudem greift entgegen dem Vorbringen des Klägers der dritte streitige Durchführungsbeschluss auch nicht den Entscheidungen vor, die die Mitgliedstaaten erlassen haben, um eine Impfung mit dem in Rede stehenden Arzneimittel zwingend vorzuschreiben. Wie das Gericht in Rn. 38 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, findet eine solche Pflicht zur Impfung ihre Rechtsgrundlage notwendigerweise im nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats und bedeutet die Erteilung einer Zulassung nicht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die Verwendung zugelassener Arzneimittel zwingend vorzuschreiben, sondern nur, dass sie sich ihrem Inverkehrbringen nicht widersetzen können.
42 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Erteilung einer Zulassung zwar eine Voraussetzung für das Recht des Zulassungsinhabers ist, den betreffenden Impfstoff in den einzelnen Mitgliedstaaten in den Verkehr zu bringen, jedoch grundsätzlich keine Pflicht für Patienten begründet (Urteil vom 30. Januar 2025, Frajese/Kommission, C-586/23 P, EU:C:2025:45, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Daher kann dem Vorbringen nicht gefolgt werden, wonach angesichts des Umstands, dass die Italienische Republik das Arzneimittel Spikevax ohne die mit dem dritten streitigen Durchführungsbeschluss erteilte Zulassung nicht in ein nationales Impfprogramm hätte aufnehmen können, die von diesem Programm betroffenen natürlichen Personen ein Interesse an der Nichtigerklärung dieses Durchführungsbeschlusses hätten.
44 Folglich ist der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes, soweit damit gerügt wird, das Gericht habe bei der Beurteilung des Rechtsschutzinteresses des Rechtsmittelführers gegen Art. 263 Abs. 4 AEUV verstoßen, als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
45 Unter diesen Umständen ist der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes als teilweise offensichtlich unzulässig und als teilweise offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes
– Vorbringen des Rechtsmittelführers
46 Mit dem zweiten Teil seines zweiten Rechtsmittelgrundes macht der Rechtsmittelführer zum einen geltend, dass die Gründe, die er zur Stützung seines Rechtsschutzinteresses angeführt habe, auch belegten, dass seine Kinder und er vom dritten streitigen Durchführungsbeschluss unmittelbar betroffen seien.
47 Die Feststellung in Rn. 47 des angefochtenen Beschlusses, wonach die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Frage, ob es zweckmäßig sei, den Ärzten – erforderlichenfalls mittels Zwangsmaßnahmen – die Anwendung des Arzneimittels Spikevax aufzuerlegen, über ein Ermessen verfügten, belege, dass seine Kinder und er von diesem Durchführungsbeschluss unmittelbar betroffen seien.
48 Zum anderen stelle der dritte streitige Durchführungsbeschluss einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter dar. Das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es in Rn. 56 des angefochtenen Beschlusses entschieden habe, dass dieser Beschluss keine Einstufung des Arzneimittels Spikevax als „Impfstoff“ vorgenommen habe, sondern lediglich eine Zulassung für dieses Arzneimittel erteilt werde.
49 Dieser Durchführungsbeschluss lege gemäß Art. 59 der Richtlinie 2001/83, der vorsehe, dass die Packungsbeilage, die in Übereinstimmung mit der Zusammenfassung der Merkmale des Erzeugnisses erstellt werde, die pharmazeutisch-therapeutische Klasse enthalten müsse, mit Wirkung gegenüber allen die pharmazeutisch-therapeutische Kategorie des in Rede stehenden Arzneimittels fest.
50 Sowohl die Zusammenfassung der Merkmale des Erzeugnisses als auch die Packungsbeilage seien in Bezug auf das Arzneimittel Spikevax unrichtig und irreführend.
– Würdigung durch den Gerichtshof
51 Mit dem zweiten Teil seines zweiten Rechtsmittelgrundes rügt der Rechtsmittelführer, dass das Gericht unter Verstoß gegen Art. 263 Abs. 4 AEUV sowie gegen weitere Bestimmungen des Unionsrechts und des Völkerrechts festgestellt habe, er sei nicht befugt, gegen den dritten streitigen Durchführungsbeschluss vorzugehen.
52 Erstens ist festzustellen, dass der Rechtsmittelführer im Rahmen dieses Teils des Rechtsmittelgrundes neben Art. 263 Abs. 4 AEUV auch auf weitere Bestimmungen des Unionsrechts und des Völkerrechts Bezug nimmt, ohne zu erläutern, inwiefern das Gericht gegen diese weiteren Bestimmungen verstoßen haben soll und inwiefern diese den Rechtsfehler belegten, den das Gericht bei der Beurteilung der Klagebefugnis des Rechtsmittelführers begangen haben soll.
53 Folglich ist der Teil, soweit er sich auf die betreffenden weiteren Bestimmungen bezieht, als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen.
54 Zweitens rügt der Rechtsmittelführer, das Gericht habe gegen Art. 263 Abs. 4 AEUV verstoßen, indem es entschieden habe, dass er nicht befugt sei, gegen den dritten streitigen Durchführungsbeschluss vorzugehen, da dieser Durchführungsbeschluss weder ihn noch seine Kinder unmittelbar betreffe und keinen Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne dieser Bestimmung darstelle.
55 Ungeachtet der Feststellung des fehlenden Rechtsschutzinteresses des Rechtsmittelführers und trotz des kumulativen Charakters der einzelnen Voraussetzungen in Bezug auf das Rechtsschutzinteresse und die Klagebefugnis (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2015, Mory u. a./Kommission, C‑33/14 P, EU:C:2015:609, Rn. 62 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) hat das Gericht in Rn. 42 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt, es halte es für angebracht, das Vorliegen der Klagebefugnis des Rechtsmittelführers zu prüfen.
56 Insoweit kann die Befugnis einer natürlichen oder juristischen Person nach Art. 263 Abs. 4 AEUV, gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung zu klagen, in zwei Fällen angenommen werden. Zum einen kann eine Nichtigkeitsklage erhoben werden, wenn diese Handlung die Person unmittelbar und individuell betrifft. Zum anderen kann eine solche Person gegen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, klagen, sofern dieser Rechtsakt sie unmittelbar betrifft (Urteil vom 17. September 2015, Mory u. a./Kommission, C-33/14 P, EU:C:2015:609, Rn. 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Wird eine Nichtigkeitsklage von einer natürlichen oder juristischen Person gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung erhoben, kann sich außerdem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Erfordernis, dass die verbindlichen Rechtswirkungen der angefochtenen Maßnahme die Interessen des Klägers durch eine qualifizierte Änderung seiner Rechtsstellung beeinträchtigen, mit den Voraussetzungen nach Art. 263 Abs. 4 AEUV für die Klagebefugnis überschneiden (Urteile vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C-475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 38, sowie vom 30. Januar 2025, Frajese/Kommission, C-586/23 P, EU:C:2025:45, Rn. 62).
58 Im Licht dieser Vorbemerkungen ist das Vorbringen des Rechtsmittelführers zu prüfen, wonach das Gericht einen Rechtsfehler begangen habe, indem es den dritten streitigen Durchführungsbeschluss nicht als Rechtsakt mit Verordnungscharakter angesehen habe, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehe und den Rechtsmittelführer und seine Kinder unmittelbar betreffe.
59 Was erstens die Beurteilung des Gerichts betrifft, wonach der Rechtsmittelführer von dem dritten streitigen Durchführungsbeschluss nicht unmittelbar betroffen sei, hat das Gericht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen. Es hat nämlich in Rn. 43 des angefochtenen Beschlusses darauf hingewiesen, dass unmittelbare Betroffenheit im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV nur dann angenommen werden könne, wenn sich die beanstandete Maßnahme auf die Rechtsstellung dieser Person unmittelbar auswirke, und dass diese Maßnahme ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut seien, keinerlei Ermessen lasse, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolge und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung weiterer Durchführungsvorschriften ergebe (Urteil vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C-463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Zur ersten Voraussetzung hat das Gericht in Rn. 44 des angefochtenen Beschlusses im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs darauf hingewiesen, dass sich die in Rede stehende Maßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung der natürlichen oder juristischen Person auswirken müsse, die eine Klage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV zu erheben gedenke, und eine solche Voraussetzung ausschließlich anhand der Rechtswirkungen der Maßnahme zu beurteilen sei (Urteil vom 3. Dezember 2020, Région de Bruxelles-Capitale/Kommission, C‑352/19 P, EU:C:2020:978, Rn. 64).
61 Hierzu hat das Gericht in den Rn. 45 und 46 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass der dritte streitige Durchführungsbeschluss weder Rechtswirkungen auf die Rechtsstellung des Rechtsmittelführers noch auf die seiner Kinder entfalte, sondern nur auf die von Moderna und gegenüber den Mitgliedstaaten, wobei dieser Durchführungsbeschluss ferner als solcher keine Verpflichtung des Rechtsmittelführers oder der Mutter ihrer gemeinsamen Kinder enthalte, diesen das Arzneimittel Spikevax zu verabreichen.
62 Zur zweiten Voraussetzung hat das Gericht in Rn. 47 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass mit den streitigen Beschlüssen lediglich eine Zulassung für das Arzneimittel Spikevax erteilt werde und dass die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten nicht Adressaten dieser Beschlüsse seien, woraus sich ergebe, dass diese Behörden über ein uneingeschränktes Ermessen im Hinblick darauf verfügten, ob es zweckmäßig sei, den Ärzten die Anwendung dieser Arzneimittel – erforderlichenfalls auch mittels Zwangsmaßnahmen – aufzuerlegen.
63 Auf Grundlage dieser Gesichtspunkte hat das Gericht in Rn. 48 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass die Voraussetzungen der unmittelbaren Betroffenheit des Rechtsmittelführers von diesem Durchführungsbeschuss nicht erfüllt seien.
64 Der Rechtsmittelführer beschränkt sich, um geltend zu machen, dass das Gericht seine unmittelbare Betroffenheit von dem dritten streitigen Durchführungsbeschluss im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV hätte feststellen müssen, zum einen auf die allgemeine Behauptung, die von ihm zur Stützung seines Rechtsschutzinteresses angeführten Gesichtspunkte belegten ebenfalls, dass die erste Voraussetzung, um seine Kinder und ihn als unmittelbar betroffen ansehen zu können, im vorliegenden Fall erfüllt sei. Ferner belege die Feststellung in Rn. 47 des angefochtenen Beschlusses, dass die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Frage, ob es zweckmäßig sei, den Ärzten die Inanspruchnahme des Arzneimittels Spikevax – erforderlichenfalls mittels Zwangsmaßnahmen – vorzuschreiben, über ein Ermessen verfügten, dass seine Kinder und er von diesem Durchführungsbeschluss unmittelbar betroffen seien.
65 Dieses Vorbringen des Rechtsmittelführers ist jedoch nicht geeignet, die Erwägungen des Gerichts in Frage zu stellen, auf deren Grundlage es festgestellt hat, dass dieser Durchführungsbeschluss keine unmittelbaren Rechtswirkungen auf die Rechtsstellung des Rechtsmittelführers und seiner Kinder habe.
66 Zum anderen trägt der Rechtsmittelführer keine schlüssige Argumentation zur zweiten Voraussetzung vor, die erfüllt sein muss, damit seine Kinder und er als unmittelbar betroffen angesehen werden können. Insbesondere macht er nicht geltend, dass das Gericht entgegen den Ausführungen in Rn. 47 des angefochtenen Beschlusses davon hätte ausgehen müssen, dass die nationalen Behörden die Adressaten des dritten streitigen Durchführungsbeschlusses seien und dass dieser ihnen bei seiner Durchführung keinerlei Ermessen lasse.
67 Folglich weist der Rechtsmittelführer nicht nach, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hat, dass seine Kinder und er vom dritten streitigen Durchführungsbeschluss nicht unmittelbar betroffen seien.
68 Was zweitens die Beurteilung des Gerichts betrifft, der dritte streitige Durchführungsbeschluss sei kein Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV, trägt der Rechtsmittelführer nichts vor, was belegen könnte, dass die folgenden Feststellungen des Gerichts in Rn. 56 des angefochtenen Beschlusses fehlerhaft wären:
„… [D]ie Beschreibung der Merkmale [des Arzneimittels Spikevax in Anhang I dieses Durchführungsbeschlusses kann] nicht deshalb als allgemeingültig angesehen werden, weil die Qualifizierung des Arzneimittels Spikevax als Impfstoff zur Folge hätte, dass die Zulassungskriterien für Gentherapeutika nicht angewandt worden seien. Die auf Humanarzneimittel wie Spikevax anwendbaren Zulassungskriterien werden nämlich allgemein und abstrakt u. a. durch die Richtlinie 2001/83 und die Verordnung Nr. 726/2004 festgelegt, die daher im Gegensatz zu dem Beschluss …, mit dem diese Kriterien lediglich umgesetzt werden, allgemeine Geltung haben.“
69 Somit ist der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes, soweit damit gerügt wird, das Gericht habe bei der Beurteilung der Klagebefugnis des Rechtsmittelführers gegen Art. 263 Abs. 4 AEUV verstoßen, als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
70 Unter diesen Umständen ist der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes als teilweise offensichtlich unzulässig und als teilweise offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
71 Nach alledem ist das Rechtsmittel als teilweise offensichtlich unzulässig und teilweise offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
Kosten
72 Nach Art. 137 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, wird in dem das Verfahren beendenden Beschluss über die Kosten entschieden. Da der vorliegende Beschluss ergeht, bevor die Rechtsmittelschrift der Beklagten im ersten Rechtszug zugestellt worden ist und ihr Kosten entstehen konnten, ist zu entscheiden, dass der Rechtsmittelführer seine eigenen Kosten trägt.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) beschlossen:
1. Das Rechtsmittel wird als teilweise offensichtlich unzulässig und teilweise offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
2. UY trägt seine eigenen Kosten.
Luxemburg, den 3. Juli 2025
Der Kanzler
Der Kammerpräsident
A. Calot Escobar
M. Gavalec
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 10. Juni 2025.#Nidec Asi SpA und Ceisis SpA Sistemi Impiantistici Integrati gegen Ministero per gli Affari europei, Politiche di coesione e Piano nazionale di ripresa e resilienza u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.#Rechtssache C-686/24.
|
62024CO0686
|
ECLI:EU:C:2025:448
| 2025-06-10T00:00:00 |
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
|
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62023TJ0551
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ECLI:EU:T:2025:568
| 2025-06-04T00:00:00 |
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Beschluss des Gerichts (Dritte Kammer) vom 22. Mai 2025.#Krone Commercial Vehicle SE u. a. gegen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Umwelt – Verordnung (EU) 2024/1610 – Kohlendioxid-Emissionsnormen – Neue schwere Nutzfahrzeuge – Zielvorgaben für Anhänger und Sattelanhänger zur Reduktion von Kohlendioxidemissionen – Klagebefugnis – Keine individuelle Betroffenheit – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-456/24.
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62024TO0456
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ECLI:EU:T:2025:553
| 2025-05-22T00:00:00 |
Gericht
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BESCHLUSS DES GERICHTS (Dritte Kammer)
22. Mai 2025(*)
„ Nichtigkeitsklage – Umwelt – Verordnung (EU) 2024/1610 – Kohlendioxid-Emissionsnormen – Neue schwere Nutzfahrzeuge – Zielvorgaben für Anhänger und Sattelanhänger zur Reduktion von Kohlendioxidemissionen – Klagebefugnis – Keine individuelle Betroffenheit – Unzulässigkeit “
In der Rechtssache T‑456/24,
Krone Commercial Vehicle SE mit Sitz in Werlte (Deutschland) und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Klägerinnen(1), vertreten durch Rechtsanwältin E. Macher sowie Rechtsanwälte M. Soppe und A. Dlouhy,
Klägerinnen,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch W. Kuzmienko und L. Taïeb als Bevollmächtigte,
und
Rat der Europäischen Union, vertreten durch D. Bringuier und N. Brzezinski als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin P. Škvařilová-Pelzl sowie der Richter I. Nõmm und R. Meyer (Berichterstatter),
Kanzler: V. Di Bucci,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere
– der vom Parlament und vom Rat mit gesonderten Schriftsätzen erhobenen Einreden der Unzulässigkeit, die am 30. Oktober bzw. am 20. November 2024 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind,
– des am 4. Dezember 2024 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Antrags der Europäischen Kommission auf Zulassung zur Streithilfe,
– der am 8. Januar 2025 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Stellungnahme der Klägerinnen zu den Einreden der Unzulässigkeit,
folgenden
Beschluss
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragen die Klägerinnen, die Krone Commercial Vehicle SE und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten juristischen Personen, die teilweise Nichtigerklärung der Verordnung (EU) 2024/1610 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Mai 2024 zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/1242 im Hinblick auf die Verschärfung der CO2-Emissionsnormen für neue schwere Nutzfahrzeuge und die Einbeziehung von Meldepflichten, zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/858 und zur Aufhebung der Verordnung (EU) 2018/956 (ABl. L, 2024/1610, im Folgenden: angefochtene Verordnung).
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die angefochtene Verordnung ist Teil des Gesetzgebungspakets „Fit für 55“, mit dem das Ziel umgesetzt werden soll, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber dem Stand von 1990 zu senken.
3 Zu diesem Zweck hielt es der Gesetzgeber der Europäischen Union für erforderlich, die in der Verordnung (EU) 2019/1242 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Festlegung von CO2-Emissionsnormen für neue schwere Nutzfahrzeuge und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 595/2009 und (EU) 2018/956 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Richtlinie 96/53/EG des Rates (ABl. 2019, L 198, S. 202) für schwere Nutzfahrzeuge genannten Vorgaben zur Senkung der Emissionen von Kohlendioxid (CO2) zu verschärfen.
4 Die angefochtene Verordnung ändert die Verordnung 2019/1242 u. a. insoweit, als sie deren Anforderungen auf Fahrzeuge der Klassen O3 und O4, ausdehnt, d. h. auf Anhänger und Sattelanhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von über 3,5 t.
5 Die Klägerinnen stellen Anhänger und Sattelanhänger für schwere Nutzfahrzeuge her. Sie gehören zu den führenden Herstellern auf dem europäischen Markt.
Anträge der Parteien
6 Die Klägerinnen beantragen,
– folgende Bestimmungen für nichtig zu erklären:
– Art. 1 Nr. 2 der angefochtenen Verordnung, soweit er Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung 2019/1242 betrifft,
– Art. 1 Nr. 2 der angefochtenen Verordnung, soweit er Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 der Verordnung 2019/1242 betrifft, soweit er sich auf Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung bezieht,
– Art. 1 Nr. 3 Buchst. g der angefochtenen Verordnung, soweit er Art. 3 Nr. 11 Buchst. c der Verordnung 2019/1242 betrifft,
– Art. 1 Nr. 4 der angefochtenen Verordnung, soweit er Art. 3a Abs. 3 der Verordnung 2019/1242 betrifft,
– Art. 1 Nr. 10 der angefochtenen Verordnung, soweit er Art. 7a Buchst. c der Verordnung 2019/1242 betrifft,
– Art. 1 Nr. 17 der angefochtenen Verordnung, soweit er in Art. 14 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung 2019/1242 auf Anhang I Nr. 2.6.3 der Verordnung verweist,
– Anhang I Nr. 1 der angefochtenen Verordnung, soweit er sich auf Anhang I Nrn. 1.1.3, 2.1.3, 2.5.3 und 2.6.3 der Verordnung 2019/1242 bezieht,
– Anhang I Nr. 1 der angefochtenen Verordnung, soweit er sich auf Anhang I Nrn. 2.2.1, 2.5, 2.6, 2.7.2, 3.1, 3.1.2, 4.1.2, 4.2, 5.1.2.3, 5.2, 5.3, 5.4 und 6 der Verordnung 2019/1242 bezieht, soweit er Fahrzeuge der Klasse O betrifft,
– Anhang I Nr. 1 der angefochtenen Verordnung, soweit er sich auf Anhang I Nr. 4.3.1 der Verordnung 2019/1242 bezieht, soweit die darin enthaltene Tabelle Anhänger oder Sattelanhänger betrifft,
– Anhang II der angefochtenen Verordnung, soweit er Anhang III Nrn. 1, 2 und 4 der Verordnung 2019/1242 betrifft, soweit er Fahrzeuge der Klasse O betrifft,
– Anhang II der angefochtenen Verordnung, soweit er Anhang IV Teil B der Verordnung 2019/1242 betrifft, soweit er Fahrzeuge der Klasse O betrifft;
– dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union die Kosten aufzuerlegen.
7 In ihren Einreden der Unzulässigkeit beantragen das Parlament und der Rat,
– die Klage als unzulässig abzuweisen;
– den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
8 In ihrer Stellungnahme zu den Einreden der Unzulässigkeit beantragen die Klägerinnen im Wesentlichen,
– die Einreden der Unzulässigkeit zurückzuweisen;
– die Klage für zulässig zu erklären.
Rechtliche Würdigung
9 Nach Art. 130 Abs. 1 und 7 seiner Verfahrensordnung kann das Gericht auf Antrag des Beklagten vorab über die Unzulässigkeit oder die Unzuständigkeit entscheiden.
10 Im vorliegenden Fall haben das Parlament und der Rat beantragt, dass über die Unzulässigkeit entschieden wird.
11 Das Gericht hält sich durch die Aktenstücke für hinreichend unterrichtet und beschließt, ohne Fortsetzung des Verfahrens über diesen Antrag zu entscheiden.
12 Das Parlament und der Rat stützen ihre Einreden der Unzulässigkeit darauf, dass die angefochtene Verordnung kein Rechtsakt mit Verordnungscharakter sei und die Klägerinnen von dieser Verordnung nicht im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV individuell betroffen seien. Sie machen im Wesentlichen geltend, die Klägerinnen seien von der angefochtenen Verordnung nicht in spezifischerer Weise betroffen als jeder andere Hersteller von Anhängern oder schweren Nutzfahrzeugen, die in ihren Anwendungsbereich fielen.
13 Die Klägerinnen treten den Einreden der Unzulässigkeit entgegen und machen geltend, ihre Klage sei zulässig, da sie gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV von der angefochtenen Verordnung unmittelbar und individuell betroffen seien. Sollte ihre Klage für unzulässig erklärt werden, würde ihnen ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz genommen.
14 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 263 Abs. 4 AEUV jede natürliche oder juristische Person unter den Bedingungen nach den Abs. 1 und 2 dieses Artikels gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben kann.
15 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Klägerinnen nicht die Adressaten der angefochtenen Verordnung sind, so dass sie die Zulässigkeit ihrer Klage nicht auf die erste in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannte Variante stützen können.
16 Ferner geht aus dem ersten Bezugsvermerk der angefochtenen Verordnung hervor, dass diese vom Parlament und vom Rat auf der Grundlage von Art. 192 Abs. 1 AEUV und im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurde. Insoweit bestimmt Art. 289 Abs. 3 AEUV, dass Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, Gesetzgebungsakte sind. Die angefochtene Verordnung ist somit ein Gesetzgebungsakt im Sinne von Art. 289 AEUV.
17 Nach der Rechtsprechung bezieht sich der Ausdruck „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV aber auf Rechtsakte mit allgemeiner Geltung unter Ausschluss von Gesetzgebungsakten (vgl. Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci, C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), so dass die angefochtene Verordnung nicht als ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.
18 Die Klägerinnen können somit die Zulässigkeit ihrer Klage nicht auf die dritte in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannte Variante stützen.
19 Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Klägerinnen argumentieren, die Zulässigkeit ihrer Klage ergebe sich daraus, dass es sich bei der Durchführungsverordnung (EU) 2022/1362 der Kommission vom 1. August 2022 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 595/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Leistung von schweren Anhängern im Hinblick auf deren Einfluss auf die CO2-Emissionen, den Kraftstoff- und Energieverbrauch und die emissionsfreie Reichweite von Kraftfahrzeugen und zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) 2020/683 (ABl. 2022, L 205, S. 145) um einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter handle, der aufgrund des Erlasses der angefochtenen Verordnung nunmehr auf sie anwendbar sei.
20 Denn selbst wenn die Durchführungsverordnung 2022/1362 ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV sein sollte, hat der Umstand, dass sie aufgrund des Erlasses der angefochtenen Verordnung auf die Klägerinnen anwendbar geworden ist, keine Änderung der legislativen Natur der angefochtenen Verordnung zur Folge.
21 Die Zulässigkeit der Klage hängt somit davon ab, ob die Klägerinnen gemäß der zweiten in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannten Variante von der angefochtenen Verordnung unmittelbar und individuell betroffen sind.
22 Das Gericht hält es für zweckmäßig, an erster Stelle zu prüfen, ob die Klägerinnen von der angefochtenen Verordnung individuell betroffen sind.
23 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung natürliche oder juristische Personen, die nicht Adressaten einer Handlung der Union sind, die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit nur dann erfüllen, wenn sie von der angefochtenen Handlung wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder aufgrund von Umständen betroffen sind, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisieren wie die Adressaten einer solchen Handlung (Urteile vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission, 25/62, EU:C:1963:17, S. 238, und vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 72).
24 Im vorliegenden Fall sind die Klägerinnen der Ansicht, dass sie von der angefochtenen Verordnung individuell betroffen seien, weil diese ihnen erstens spezifische Ziele und Emissionen vorschreibe, die sie zu beachten hätten und die einem Bündel von Einzelentscheidungen gleichkämen. Zweitens gehörten sie zu einem beschränkten Kreis von Wirtschaftsteilnehmern, die zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verordnung feststellbar gewesen seien. Drittens schreibe die angefochtene Verordnung den Klägerinnen eine besondere Verantwortung zu, da sie Unternehmen, die wie sie „Nichtverursacher“ seien, mit besonderen Verpflichtungen zur Reduktion der CO2-Emissionen Dritter, nämlich der Kraftfahrzeughersteller, belege, deren Nichteinhaltung durch die Zahlung massiver Abgaben sanktioniert werde.
25 Zunächst ist zu prüfen, ob die angefochtene Verordnung allgemeine Geltung hat und ob sie gegebenenfalls die Klägerinnen als Mitglieder einer Gruppe von Personen, die zum Zeitpunkt ihres Erlasses feststanden oder feststellbar waren, in besonderer Weise berührt.
26 Insoweit hat nach der Rechtsprechung ein Rechtsakt allgemeine Geltung, wenn er für objektiv bestimmte Situationen gilt und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen erzeugt (vgl. Beschluss vom 16. Juni 2020, Walker u. a./Parlament und Rat, T‑383/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:269, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im vorliegenden Fall dehnt die angefochtene Verordnung die CO2-Emissionsreduktionsvorgaben für schwere Nutzfahrzeuge in der Verordnung 2019/1242 auf Hersteller neuer Fahrzeuge der Klassen O3 und O4 aus, d. h. auf Anhänger und Sattelanhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von über 3,5 t. Daraus folgt, dass diese Verordnung unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gilt und unterschiedslos Rechtswirkungen gegenüber bestimmten allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen erzeugt.
28 Folglich ist im Licht der Kriterien, die von der oben in Rn. 26 angeführten Rechtsprechung aufgestellt wurden, davon auszugehen, dass die angefochtene Verordnung allgemeine Geltung hat, was die Klägerinnen im Übrigen nicht bestreiten.
29 Allerdings ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass der Umstand, dass eine Vorschrift ihrer Natur und ihrer Tragweite nach eine generelle Norm ist, da sie für sämtliche betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gilt, nicht ausschließt, dass sie einige von ihnen individuell betreffen kann (vgl. Beschluss vom 16. Juni 2020, Walker u. a./Parlament und Rat, T‑383/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:269, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Außerdem muss ein Kläger, der einen Schaden aufgrund neuer Rechtsvorschriften der Union geltend macht, vor dem Gericht Umstände nachweisen, die den Schluss zulassen, dass der Schaden dergestalt ist, dass der Kläger dadurch gegenüber jedem anderen Wirtschaftsteilnehmer, der durch die betreffenden Rechtsvorschriften in gleicher Weise wie er betroffen ist, individualisiert wird (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2020, Nord Stream/Parlament und Rat, T‑530/19, EU:T:2020:213, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Was im vorliegenden Fall zunächst den von den Klägerinnen geltend gemachten Umstand betrifft, dass die angefochtene Verordnung es der Kommission erlaube, für jeden Hersteller, der in ihren Anwendungsbereich falle, unmittelbar Zielvorgaben für spezifische Emissionen zu bestimmen und ihm im Fall ihrer Nichteinhaltung die Zahlung massiver Abgaben vorzuschreiben, ohne dass ein anderer Rechtsakt oder eine andere Maßnahme erforderlich wäre, so beweist dies nicht, dass sich die Klägerinnen im Vergleich zu den anderen betroffenen Herstellern in einer besonderen Situation im Sinne der oben in Rn. 23 angeführten Rechtsprechung befinden. Zudem genügt dies jedenfalls nicht für den Nachweis, dass die angefochtene Verordnung sie individuell betrifft, sofern die Anwendung dieser Verordnung wie im vorliegenden Fall nach Maßgabe eines objektiv bestimmten Tatbestands erfolgt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 20. Mai 2020, Nord Stream/Parlament und Rat, T‑530/19, EU:T:2020:213, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Daraus folgt, dass der Umstand, dass die angefochtene Verordnung es der Kommission erlaubt, den Klägerinnen individuelle Verpflichtungen und finanzielle Sanktionen bei deren Nichteinhaltung aufzuerlegen, nicht bedeutet, dass sie von dieser Verordnung in gleicher Weise individuell betroffen sind wie Adressaten von Einzelentscheidungen.
33 Im Übrigen kann die angefochtene Verordnung nicht als ein Bündel von Einzelentscheidungen angesehen werden, da sie weder in Bezug auf die besondere Situation der Klägerinnen erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2009, Sahlstedt u. a./Kommission, C‑362/06 P, EU:C:2009:243, Rn. 33) noch zur Entscheidung über einzelne Anträge (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Mai 1971, International Fruit Company u. a./Kommission, 41/70 bis 44/70, EU:C:1971:53, Rn. 16 bis 22, und vom 6. November 1990, Weddel/Kommission, C‑354/87, EU:C:1990:371, Rn. 20 bis 23).
34 Was sodann das Vorbringen der Klägerinnen betrifft, sie gehörten zu einem beschränkten Kreis von Wirtschaftsteilnehmern, die von der angefochtenen Verordnung in ähnlicher Weise wie die Adressaten von Einzelentscheidungen besonders betroffen seien, so ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die Rechtssubjekte, für die eine Unionsmaßnahme gilt, nach Zahl oder sogar Identität mehr oder weniger genau bestimmbar sind, keineswegs bedeutet, dass sie als von der Maßnahme individuell betroffen anzusehen wären, sofern feststeht, dass die Maßnahme aufgrund eines durch sie bestimmten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2020, Nord Stream/Parlament und Rat, T‑530/19, EU:T:2020:213, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Aus ständiger Rechtsprechung ergibt sich ferner, dass, wenn ein Rechtsakt eine Gruppe von Personen berührt, deren Identität zum Zeitpunkt seines Erlasses aufgrund von Kriterien, die den Mitgliedern dieser Gruppe eigen waren, feststand oder feststellbar war, diese Personen von dem Rechtsakt individuell betroffen sein können, sofern sie zu einem beschränkten Kreis von Wirtschaftsteilnehmern gehören, d. h. zu einer Gruppe, die nach Erlass des angefochtenen Rechtsakts nicht mehr erweitert werden kann, wie dies bei einem Rechtsakt der Fall ist, der auf eine unbestimmte Zahl von Adressaten Anwendung finden kann (vgl. Beschluss vom 2. April 2020, Gerber/Parlament und Rat, T‑326/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:142, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Zum einen erfolgt aber, wie aus Art. 2 Abs. 1 der Verordnung 2019/1242 in der durch Art. 1 Nr. 2 der angefochtenen Verordnung geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 6b Abs. 1 der Verordnung 2019/1242 in der durch Art. 1 Nr. 8 der angefochtenen Verordnung geänderten Fassung hervorgeht, die Anwendung dieser Verordnung auf die Klägerinnen nach Maßgabe eines durch die Verordnung vorgesehenen objektiven Tatbestands rechtlicher und tatsächlicher Art. Nach dem objektiven Kriterium, das sich aus diesen Artikeln ergibt, findet die angefochtene Verordnung nämlich auf alle Hersteller schwerer Nutzfahrzeuge Anwendung, die während des maßgeblichen Zeitraums mehr als 100 neue Fahrzeuge zugelassen haben. Selbst wenn die Klägerinnen von der angefochtenen Verordnung betroffen sein sollten, wären sie dies folglich jedenfalls in einer mit den anderen betroffenen Herstellern vergleichbaren Art und Weise.
37 Zum anderen räumen die Klägerinnen – abgesehen davon, dass die angefochtene Verordnung, wie sich aus Art. 2 Abs. 1 der Verordnung 2019/1242 in der durch Art. 1 Nr. 2 der angefochtenen Verordnung geänderten Fassung ergibt, nicht nur für Fahrzeuge der Klassen O3 und O4 gilt – in ihren Schriftsätzen ein, dass es neben ihnen andere betroffene Hersteller gibt und dass es theoretisch möglich ist, dass künftig weitere Hersteller auf den Markt treten. Die Klägerinnen gehören somit nicht zu einem beschränkten Kreis im Sinne der oben in Rn. 35 angeführten Rechtsprechung.
38 Folglich kann das Vorbringen der Klägerinnen, die angefochtene Verordnung solle nur die Situation einer begrenzten Zahl von Wirtschaftsteilnehmern regeln, die zum Zeitpunkt ihres Erlasses festgestanden hätten oder feststellbar gewesen seien, nicht zu dem Schluss führen, dass sie als von dieser Verordnung individuell betroffen anzusehen wären.
39 Was schließlich das Vorbringen der Klägerinnen betrifft, die angefochtene Verordnung schreibe ihnen eine besondere Verantwortung zu, die ihnen ein „Sonderopfer“ aufbürde, da, obwohl Anhänger keine CO2-Emissionen ausstießen, die Verordnung sie mit einer besonderen Verpflichtung zur Reduktion dieser von Dritten verursachten Emissionen belege, so ist darauf hinzuweisen, dass es nicht genügt, wenn bestimmte Wirtschaftsteilnehmer von einem Rechtsakt mit allgemeiner Geltung wirtschaftlich stärker berührt sind als andere, um sie gegenüber diesen anderen Wirtschaftsteilnehmern zu individualisieren, sofern jedenfalls die Anwendung dieses Rechtsakts wie im vorliegenden Fall nach Maßgabe eines objektiv bestimmten Tatbestands erfolgt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 20. Mai 2020, Nord Stream/Parlament und Rat, T‑530/19, EU:T:2020:213, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Außerdem ist der Umstand, dass ein Kläger aufgrund neuer Rechtsvorschriften der Union eine wichtige Einnahmequelle verlieren kann, für sich allein kein Beleg dafür, dass er sich in einer besonderen Situation befindet, und reicht nicht für den Nachweis aus, dass diese Rechtsvorschriften ihn individuell betreffen. Ein Kläger muss nämlich vor dem Gericht Umstände nachweisen – woran es im vorliegenden Fall fehlt –, die den Schluss zulassen, dass der angeblich erlittene Schaden dergestalt ist, dass der Kläger dadurch gegenüber jedem anderen Wirtschaftsteilnehmer, der durch die betreffenden Rechtsvorschriften in gleicher Weise wie er betroffen ist, individualisiert wird (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 20. Mai 2020, Nord Stream/Parlament und Rat, T‑530/19, EU:T:2020:213, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Nach alledem haben die Klägerinnen nicht nachgewiesen, dass sie von der angefochtenen Verordnung individuell betroffen sind.
42 Folglich kann, da es sich bei den Betroffenheitskriterien nach Art. 263 Abs. 4 zweite Variante AEUV um kumulative Kriterien handelt, dahinstehen, ob die Klägerinnen von der angefochtenen Verordnung unmittelbar betroffen sind.
43 Daraus folgt, dass die Klägerinnen nicht nach Art. 263 Abs. 4 AEUV klagebefugt sind.
44 Schließlich machen die Klägerinnen geltend, dass ihnen ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz genommen würde, sollte die Klage für unzulässig erklärt werden.
45 Insoweit genügt der Hinweis, dass Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach der Rechtsprechung nicht darauf abzielt, das in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem und insbesondere die Bestimmungen über die Zulässigkeit direkter Klagen bei den Gerichten der Union zu ändern, wie auch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta der Grundrechte bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Der durch Art. 47 der Charta der Grundrechte gewährte Schutz verlangt nicht, dass ein Betroffener unmittelbar vor den Unionsgerichten uneingeschränkt eine Nichtigkeitsklage gegen Rechtsakte der Union anstrengen kann. Somit sind die in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehenen Zulässigkeitsvoraussetzungen zwar im Licht des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auszulegen, ohne dass dies aber den Wegfall der in diesem Vertrag ausdrücklich vorgesehenen Voraussetzungen zur Folge hätte (vgl. Urteil vom 28. Oktober 2020, Associazione GranoSalus/Kommission, C‑313/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:869, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Somit können die Klägerinnen nicht mit Erfolg geltend machen, dass die vorliegende Nichtigkeitsklage auf der Grundlage von Art. 47 der Charta der Grundrechte zulässig sein müsse, obwohl sie nicht nach Art. 263 Abs. 4 AEUV klagebefugt sind.
48 Nach alledem ist den vom Parlament und vom Rat erhobenen Einreden der Unzulässigkeit stattzugeben und die Klage demzufolge als unzulässig abzuweisen.
49 Unter diesen Umständen hat sich der Antrag der Kommission auf Zulassung zur Streithilfe gemäß Art. 50 in Verbindung mit Art. 142 Abs. 2 der Verfahrensordnung erledigt.
Kosten
50 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
51 Da die Klägerinnen unterlegen sind, sind ihnen gemäß den Anträgen des Parlaments und des Rates neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Parlaments und des Rates aufzuerlegen, mit Ausnahme der im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
52 Außerdem tragen gemäß Art. 144 Abs. 10 der Verfahrensordnung derjenige, der einen Antrag auf Zulassung zur Streithilfe gestellt hat, und die Hauptparteien jeweils ihre eigenen im Zusammenhang mit diesem Antrag entstandenen Kosten, wenn das Verfahren in der Hauptsache beendet wird, bevor über den Antrag entschieden wurde.
53 Folglich tragen die Klägerinnen, das Parlament, der Rat und die Kommission jeweils ihre eigenen Kosten im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
beschlossen:
1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2. Der Antrag der Europäischen Kommission auf Zulassung zur Streithilfe hat sich erledigt.
3. Die Krone Commercial Vehicle SE und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Klägerinnen tragen neben ihren eigenen Kosten die dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union entstandenen Kosten, mit Ausnahme der im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
4. Krone Commercial Vehicle und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Klägerinnen, das Parlament, der Rat und die Kommission tragen jeweils ihre eigenen Kosten im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe.
Luxemburg, den 22. Mai 2025
Der Kanzler
Der Präsident
V. Di Bucci
P. Škvařilová-Pelzl
* Verfahrenssprache: Deutsch.
1 Das Verzeichnis der weiteren Klägerinnen ist nur der den Parteien zugestellten Fassung beigefügt.
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 30. April 2025.#Symrise AG gegen Europäische Kommission.#Rechtssache T-263/23.
|
62023TJ0263
|
ECLI:EU:T:2025:417
| 2025-04-30T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62023TJ0263 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 11. April 2025.#Warbud S.A. gegen Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache.#Rechtssache T-658/24 R.
|
62024TO0658(01)
|
ECLI:EU:T:2025:411
| 2025-04-10T00:00:00 |
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|
EUR-Lex - CELEX:62024TO0658(01) - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 23. Oktober 2024.#Jima Projects gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.#Rechtssache T-307/23.
|
62023TJ0307
|
ECLI:EU:T:2024:731
| 2024-10-23T00:00:00 |
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|
EUR-Lex - CELEX:62023TJ0307 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 8. August 2024.#Geos Atlas ltd. gegen EUCAP Somalia.#Vorläufiger Rechtsschutz – Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Sicherheitsdienstleistungen – Antrag auf einstweilige Anordnungen – Kein fumus boni iuris – Fehlende Dringlichkeit.#Rechtssache T-300/24 R.
|
62024TO0300
|
ECLI:EU:T:2024:563
| 2024-08-08T00:00:00 |
Gericht
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Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 4. Oktober 2024.#Vossko GmbH & Co. KG gegen Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Handelspolitik – Art. XXVIII des GATT – Abkommen zwischen der Union und Brasilien – Änderung der Zugeständnisse für Zollkontingente infolge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union – Gegartes Geflügelfleisch – Beschluss des Rates zur Genehmigung im Namen der Union – Keine individuelle Betroffenheit – Rechtsakt ohne Verordnungscharakter – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-522/23.
|
62023TO0522
|
ECLI:EU:T:2024:687
| 2024-10-04T00:00:00 |
Gericht
|
BESCHLUSS DES GERICHTS (Neunte Kammer)
4. Oktober 2024(*)
„ Nichtigkeitsklage – Handelspolitik – Art. XXVIII des GATT – Abkommen zwischen der Union und Brasilien – Änderung der Zugeständnisse für Zollkontingente infolge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union – Gegartes Geflügelfleisch – Beschluss des Rates zur Genehmigung im Namen der Union – Keine individuelle Betroffenheit – Rechtsakt ohne Verordnungscharakter – Unzulässigkeit “
In der Rechtssache T‑522/23,
Vossko GmbH & Co. KG mit Sitz in Ostbevern (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte L. Harings, M. Jürgens und F. Jacobs,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch N. Brzezinski und B. Driessen als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten L. Truchot sowie der Richterinnen R. Frendo und T. Perišin (Berichterstatterin),
Kanzler: V. Di Bucci,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens
folgenden
Beschluss
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, die Vossko GmbH & Co. KG, die Nichtigerklärung des Beschlusses (EU) 2023/1056 des Rates vom 25. Mai 2023 über den Abschluss – im Namen der Union – des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Föderativen Republik Brasilien nach Artikel XXVIII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) 1994 über die Änderung der Zugeständnisse für alle in der EU-Liste CLXXV aufgeführten Zollkontingente infolge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (ABl. 2023, L 142, S. 1, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Klägerin ist eine auf die Verarbeitung von Fleisch und Soja spezialisierte Gesellschaft mit Sitz in Deutschland. Sie stellt Tiefkühlprodukte aus Hähnchenfleisch, Putenfleisch, Schweinefleisch und Rindfleisch sowie vegetarische und vegane Produkte her. Sie besitzt u. a. ein Werk in Brasilien, das auf die Produktion von Tiefkühlprodukten aus gegartem Hähnchenfleisch spezialisiert ist, die sie anschließend in die Europäische Union einführt, um sie dort zu vermarkten.
3 Am 17. Dezember 2013 wurde die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 671) erlassen.
4 Die Verordnung Nr. 1308/2013 enthält Vorschriften für die Verwaltung von Zollkontingenten und die besondere Behandlung von Drittlandseinfuhren. Darüber hinaus wurde der Europäischen Kommission die Befugnis übertragen, delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte zu erlassen, um eine reibungslose Verwaltung der Zollkontingente sicherzustellen.
5 Am 17. Dezember 2019 erließ die Kommission die Delegierte Verordnung (EU) 2020/760 zur Ergänzung der Verordnung Nr. 1308/2013 hinsichtlich der Vorschriften für die Verwaltung von Einfuhr- und Ausfuhrzollkontingenten, für die eine Lizenzregelung gilt, sowie zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Leistung von Sicherheiten im Rahmen der Verwaltung von Zollkontingenten (ABl. 2020, L 185, S. 1).
6 Mit der Delegierten Verordnung 2020/760 werden die Zugangsanforderungen festgelegt, die ein Marktteilnehmer für die Einreichung eines Lizenzantrags im Rahmen eines Zollkontingents erfüllen muss.
7 Am selben Tag erließ die Kommission auch die Durchführungsverordnung (EU) 2020/761 mit Durchführungsbestimmungen zu den Verordnungen Nr. 1306/2013, Nr. 1308/2013 und (EU) Nr. 510/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das Verwaltungssystem für Zollkontingente mit Lizenzen (ABl. 2020, L 185, S. 24).
8 Die Durchführungsverordnung 2020/761 enthält Vorschriften für die Verwaltung von Ein- und Ausfuhrzollkontingenten für landwirtschaftliche Erzeugnisse, die im Rahmen einer Regelung über Ein- und Ausfuhrlizenzen verwaltet werden, die auf Anträge durch die zuständigen nationalen Behörden ausgestellt werden.
9 Die Mengen an gegartem Hähnchenfleisch, die aus Brasilien in die Union eingeführt werden dürfen, unterliegen einer Kontingentierungsregelung. Die Union und die Föderative Republik Brasilien haben nämlich ein Abkommen nach Art. XXVIII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) 1994 geschlossen, mit dem u. a. die in die Union eingeführten Mengen verschiedener landwirtschaftlicher Erzeugnisse beschränkt werden, darunter unter der laufenden Nummer 09.4214 „Zubereitungen aus Geflügelfleisch, außer Truthühnerfleisch“, die manchmal unter derselben laufenden Nummer auch mit „Hühnerfleisch, gegart“ bezeichnet werden. Als die Union 28 Mitgliedstaaten umfasste, wurde die Menge in Bezug auf das Zollkontingent für „Hühnerfleisch, gegart“ aus Brasilien auf 79 477 Tonnen festgesetzt.
10 Am 29. März 2017 teilte das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit, dass es gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten beabsichtigt. Mit Schreiben vom 11. Oktober 2017 teilten die Union und das Vereinigte Königreich den anderen Mitgliedern der Welthandelsorganisation (WTO) mit, dass sie anstreben, dass das Vereinigte Königreich beim Austritt aus der Union seine derzeitigen Verpflichtungen als Mitgliedstaat der Union in seiner neuen, separaten Liste der Zugeständnisse und Verpflichtungen in Bezug auf den Handel mit Waren so weit wie möglich nachbildet. Nach den WTO-Regeln hat eine solche Aufteilung von Zollkontingenten, die Bestandteil der Liste der Zugeständnisse und Verpflichtungen der Union sind, nach Art. XXVIII des GATT 1994 zu erfolgen.
11 Zur Aufteilung der Zollkontingente und in Erwartung des Abschlusses eines neuen Abkommens zwischen der 27 Mitgliedstaaten umfassenden Union und der Föderativen Republik Brasilien wurde folgende Methode angewandt: In einem ersten Schritt wurde für jedes einzelne Zollkontingent der Nutzungsanteil des Vereinigten Königreichs ermittelt. Dieser als Prozentsatz ausgedrückte Anteil war der Anteil des Vereinigten Königreichs an den Gesamteinfuhren der Union im Rahmen des fraglichen Zollkontingents in einem repräsentativen Dreijahreszeitraum. Dieser Anteil wurde dann auf die in der Liste vorgesehene Gesamtmenge des Zollkontingents angewendet, um den Anteil des Vereinigten Königreichs an einem bestimmten Zollkontingent zu ermitteln. Der Unionsanteil war dann der verbleibende Anteil des betreffenden Zollkontingents.
12 So wurde mit dem Erlass der Verordnung (EU) 2019/216 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Januar 2019 über die Aufteilung der Zollkontingente in der WTO-Liste der Union nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 32/2000 des Rates (ABl. 2019, L 38, S. 1) vorläufig entschieden, dass der Anteil der 27 Mitgliedstaaten umfassenden Union an der Nutzung des Zollkontingents für „Hühnerfleisch, gegart“ aus Brasilien auf 66,3 % des Gesamtkontingents, d. h. 52 665 Tonnen, festzusetzen sei, wobei die verbleibenden 33,7 % den Anteil des Vereinigten Königreichs an der Nutzung des fraglichen Zollkontingents vor seinem Austritt aus der Union darstellten.
13 Am 25. Mai 2023 erließ der Rat den angefochtenen Beschluss, mit dem er auf der Grundlage von Art. 207 Abs. 4 Unterabs. 1 in Verbindung mit Art. 218 Abs. 6 Buchst. a Ziff. v AEUV im Namen der Union das am 1. Februar 2023 in Brüssel unterzeichnete und am 26. Mai 2023 in Kraft getretene Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Föderativen Republik Brasilien nach Artikel XXVIII des GATT 1994 über die Änderung der Zugeständnisse für alle in der EU-Liste CLXXV aufgeführten Zollkontingente infolge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (ABl. 2023, L 142, S. 3, im Folgenden: Änderungsabkommen) genehmigte.
14 Nach Abschluss des Änderungsabkommens erließ die Kommission am 9. August 2023 die Durchführungsverordnung (EU) 2023/1629 zur Änderung der Durchführungsverordnung 2020/761 in Bezug auf die Mengen, die nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Föderativen Republik Brasilien im Rahmen bestimmter Zollkontingente im Zuckersektor und im Geflügelsektor eingeführt werden dürfen (ABl. 2023, L 202, S. 1).
15 Wie im Änderungsabkommen vorgesehen, wird in der Durchführungsverordnung 2023/1629 in Bezug auf das Zollkontingent für „Hühnerfleisch, gegart“ aus Brasilien nunmehr eine Menge von 37 453 Tonnen festgesetzt.
Anträge der Parteien
16 Die Klägerin beantragt,
– den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
– dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
17 Der Rat beantragt in seiner Einrede der Unzulässigkeit,
– die Klage als unzulässig abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
18 Gemäß Art. 130 Abs. 1 und 7 seiner Verfahrensordnung kann das Gericht auf Antrag des Beklagten über die Unzulässigkeit oder die Unzuständigkeit vorab entscheiden. Im vorliegenden Fall hat der Rat beantragt, über die Unzulässigkeit zu entscheiden, und das Gericht, das sich durch die Aktenstücke für hinreichend unterrichtet hält, beschließt, ohne Fortsetzung des Verfahrens über diesen Antrag zu entscheiden.
19 Der Rat hält die vorliegende Klage für unzulässig, da die Klägerin in Bezug auf den angefochtenen Beschluss nicht klagebefugt sei. Insbesondere sei der angefochtene Beschluss erstens nicht an die Klägerin gerichtet, zweitens kein Rechtsakt mit Verordnungscharakter und drittens die Klägerin nicht individuell davon betroffen.
20 Die Klägerin macht geltend, sie sei in Bezug auf den angefochtenen Beschluss klagebefugt, da dieser sie unmittelbar und individuell betreffe.
21 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 263 Abs. 4 AEUV jede natürliche oder juristische Person unter den Bedingungen nach den Abs. 1 und 2 dieses Artikels gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben kann.
22 Im vorliegenden Fall ist die Klagebefugnis im Hinblick auf den angefochtenen Beschluss zu beurteilen.
23 Nach der Rechtsprechung bezieht sich die dem Unionsgericht obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle zwar auf den Rechtsakt der Unionsorgane, mit der die fragliche internationale Übereinkunft umgesetzt werden soll, und nicht auf diese Übereinkunft als solche, jedoch kann das Unionsgericht auch zu überprüfen haben, ob dieser Rechtsakt in Anbetracht des Inhalts der Übereinkunft selbst rechtmäßig ist (vgl. Beschluss vom 24. Februar 2022, Thomas und Julien/Rat, T‑442/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:93, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Folglich sind bei der Beurteilung der Klagebefugnis der Klägerin Art und Inhalt des Änderungsabkommens zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 24. Februar 2022, Thomas und Julien/Rat, T‑442/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:93, Rn. 24).
25 Vorab ist festzustellen, dass weder der angefochtene Beschluss noch das Änderungsabkommen an die Klägerin gerichtet ist. Daraus folgt, dass sie keine Klage auf der Grundlage von Art. 263 Abs. 4 erste Variante AEUV erheben kann.
26 Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob die Klägerin ihre Klagebefugnis auf Art. 263 Abs. 4 zweite oder dritte Variante AEUV stützen kann.
Zur Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 zweite Variante AEUV
27 Die Voraussetzungen der unmittelbaren und der individuellen Betroffenheit nach Art. 263 Abs. 4 zweite Variante AEUV sind kumulativ (vgl. Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 75 und 76 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Unter den Umständen des vorliegenden Falls ist zunächst zu prüfen, ob die zweite Voraussetzung, die individuelle Betroffenheit der Klägerin, erfüllt ist.
29 Nach ständiger Rechtsprechung kann eine natürliche oder juristische Person nur dann als von einem Rechtsakt, dessen Adressat sie nicht ist, individuell betroffen angesehen werden, wenn dieser Rechtsakt sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie daher in ähnlicher Weise individualisiert, wie es der Adressat einer Entscheidung wäre (Urteil vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission, 25/62, EU:C:1963:17, S. 238; vgl. auch Urteil vom 13. März 2018, European Union Copper Task Force/Kommission, C‑384/16 P, EU:C:2018:176, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Der Umstand, dass die Rechtssubjekte, für die eine Maßnahme gilt, nach Zahl oder sogar Identität mehr oder weniger genau bestimmbar sind, bedeutet folglich keineswegs, dass sie als von der Maßnahme individuell betroffen anzusehen sind, sofern diese Maßnahme aufgrund eines durch sie bestimmten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist (vgl. Urteil vom 16. Mai 2019, Pebagua/Kommission, C‑204/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:425, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Eine Partei kann nicht behaupten, von einer Vorschrift individuell betroffen zu sein, die auf objektiv bestimmte Tatbestände anwendbar ist und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen erzeugt (vgl. Urteil vom 16. Mai 2019, Pebagua/Kommission, C‑204/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:425, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Ebenso ist der Umstand, dass sich eine Rechtsnorm auf die verschiedenen in ihren Anwendungsbereich fallenden Rechtssubjekte unterschiedlich auswirken kann, nicht geeignet, diese aus dem Kreis aller übrigen betroffenen Personen herauszuheben, sofern die Anwendung dieser Norm nach einem objektiv festgelegten Tatbestand erfolgt (vgl. Beschluss vom 24. Februar 2022, Thomas und Julien/Rat, T‑442/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:93, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Der Umstand, dass eine Vorschrift ihrer Natur und ihrer Tragweite nach eine generelle Norm ist, da sie für sämtliche betroffenen Personen gilt, schließt jedoch nicht aus, dass sie einige von ihnen individuell betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2009, Sahlstedt u. a./Kommission, C‑362/06 P, EU:C:2009:243, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Wenn ein Rechtsakt eine Gruppe von Personen berührt, deren Identität zum Zeitpunkt seines Erlasses aufgrund von Kriterien, die den Mitgliedern der Gruppe eigen waren, feststand oder feststellbar war, können diese Personen nämlich von dem Rechtsakt individuell betroffen sein, sofern sie zu einem beschränkten Kreis von Personen gehören. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Rechtsakt in Rechte eingreift, die diese Personen vor seinem Erlass erworben haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2014, Stichting Woonpunt u. a./Kommission, C‑132/12 P, EU:C:2014:100, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, dass sie erstens wegen der spürbaren Beeinträchtigung ihrer Marktstellung, zweitens wegen der Verletzung ihrer Verfahrensrechte, drittens wegen der Verletzung ihrer Grundrechte und viertens wegen der Notwendigkeit, ihren Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, von dem angefochtenen Beschluss individuell betroffen sei.
Vorbringen der Klägerin zur spürbaren Beeinträchtigung ihrer Marktstellung
36 Die Klägerin macht geltend, ihre individuelle Betroffenheit durch den angefochtenen Beschluss ergebe sich zum einen daraus, dass es einen begrenzten oder geschlossenen Kreis von Personen oder Unternehmen gebe, die von dem angefochtenen Beschluss betroffen seien, und zum anderen daraus, dass sie als größter Importeur von gegartem brasilianischem Geflügelfleisch aufgrund des Erlasses des angefochtenen Beschlusses ein „Sonderopfer“ zu erbringen hätte.
37 Nach der Rechtsprechung könne das Unionsgericht bei der Prüfung, ob ein Kläger von einem Rechtsakt individuell betroffen sei, u. a. berücksichtigen, ob die Marktstellung des Klägers durch diesen Rechtsakt spürbar beeinträchtigt werde.
38 Im vorliegenden Fall befinde sich die Klägerin in einer einzigartigen Situation, die sie von anderen Marktteilnehmern unterscheide, da sie innerhalb der Union der größte Importeur von gegartem brasilianischem Geflügelfleisch sei. Der mit dem angefochtenen Beschluss bestätigte Abschluss des Änderungsabkommens führe zu einer Reduzierung der Menge des Zollkontingents 09.4214 von 52 665 Tonnen auf 37 453 Tonnen, was für sie eine wirtschaftliche Belastung von 1,54 Mio. Euro pro Jahr zur Folge habe.
39 Im Übrigen sei sie durch den angefochtenen Beschluss gezwungen, tiefgreifende Änderungen an ihrer Unternehmens- und Finanzstruktur sowie an ihrem Geschäftsmodell vorzunehmen. Er gefährde somit erheblich ihre umfangreichen Investitionen, die sie an ihrem brasilianischen Produktionsstandort getätigt habe. Aufgrund des angefochtenen Beschlusses sei sie gezwungen, einen Teil ihres Personals in der Produktion abzubauen, und nicht mehr in der Lage, Produkte zu den gewohnten Marktpreisen anzubieten.
40 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich des angefochtenen Beschlusses, wie er durch die relevanten Durchführungsmaßnahmen zur Regelung der Verwaltung von Zollkontingenten, insbesondere die Delegierte Verordnung 2020/760 und die Durchführungsverordnung 2020/761, bestimmt wird, anhand objektiver und abstrakter Kriterien festgelegt und nicht auf einen begrenzten Kreis von Personen beschränkt ist. Diese Maßnahmen haben allgemeine Geltung und betreffen ab ihrem Inkrafttreten und für die Zukunft eine unbestimmte Anzahl von abstrakt beschriebenen Wirtschaftsteilnehmern.
41 Insbesondere sieht die Delegierte Verordnung 2020/760, wie der Rat geltend macht, ohne dass die Klägerin dem entgegentritt, objektive und abstrakt definierte Bedingungen und Zugangsanforderungen vor, die ein Marktteilnehmer erfüllen muss, um einen Antrag im Rahmen des Zollkontingents 09.4214 zu stellen. In Art. 3 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2020/760 heißt es nämlich:
„Marktteilnehmer, die im Rahmen eines Zollkontingents eine Einfuhr- oder Ausfuhrlizenz beantragen, müssen in der Union niedergelassen und in ein Mehrwertsteuerregister eingetragen sein. Sie reichen ihren Lizenzantrag bei der Lizenzen erteilenden Behörde des Mitgliedstaats ihrer Niederlassung und ihrer MwSt.‑Registrierung … ein.“
42 Im Übrigen ergibt sich aus der Delegierten Verordnung 2020/760 in Verbindung mit der Durchführungsverordnung 2020/761, dass das Kontingent von insgesamt 37 453 Tonnen pro Jahr für alle abstrakt definierten Marktteilnehmer zur Anwendung kommt, einschließlich jener, die erst in Zukunft das Zollkontingent 09.4214 nutzen werden oder ihre Nutzung ausweiten oder verringern sollten.
43 Folglich ist das Änderungsabkommen auf objektiv bestimmte Tatbestände anwendbar und erzeugt Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen. Es hat somit allgemeine Geltung. Das Gleiche gilt für den angefochtenen Beschluss, mit dem dieses Abkommen genehmigt wird.
44 Die Klägerin bestreitet nicht, dass es andere Wirtschaftsteilnehmer gibt, die von der Änderung des Zollkontingents 09.4214 betroffen sind. Sie macht lediglich geltend, dass sie unter den Importeuren auf dem Unionsmarkt eine herausragende Stellung einnehme und ihr dadurch durch die Änderung der Zollkontingente für gegartes Hühnerfleisch aus Brasilien ein besonders schwerer wirtschaftlicher Schaden entstehe.
45 Hierzu ist festzustellen, dass, auch wenn der angefochtene Beschluss Wirtschaftsteilnehmer wie die Klägerin betreffen kann, die auf die Verarbeitung bestimmter Geflügelfleischzubereitungen spezialisiert sind, nichts in den Akten den Schluss zulässt, dass die Klägerin im Verhältnis zu anderen betroffenen Wirtschaftsteilnehmern individuell betroffen wäre wie ein Adressat. Vielmehr betreffen die oben in Rn. 41 erwähnten Durchführungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem angefochtenen Beschluss allgemein einen abstrakt definierten Kreis von Personen. Selbst wenn dieser abstrakt definierte Kreis von Personen die Klägerin faktisch in seine Wirkungen einbeziehen und ihr der behauptete wirtschaftliche Schaden entstehen sollte, ist sie im Vergleich zu anderen Wirtschaftsteilnehmern nicht individuell betroffen im Sinne der oben in Rn. 29 angeführten Rechtsprechung.
46 Ebenso wenig genügt der Umstand – wenn man davon ausgeht, dass er zutrifft –, dass die Klägerin innerhalb der Union der größte Importeur von gegartem brasilianischem Geflügelfleisch ist, um sie zu individualisieren, solange es andere Wirtschaftsteilnehmer gibt, die „Hühnerfleisch, gegart“ aus Brasilien in die Union einführen, und die Zahl und die Identität dieser Wirtschaftsteilnehmer nicht angegeben sind oder sich die Gruppe der Wirtschaftsteilnehmer nach dem Inkrafttreten des Änderungsabkommens auch noch ändern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2011, Enviro Tech Europe und Enviro Tech International/Kommission, T‑291/04, EU:T:2011:760, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Nach der Rechtsprechung sind einzelne Wirtschaftsteilnehmer nämlich nicht bereits deshalb von einem Rechtsakt individuell betroffen, weil dieser sie wirtschaftlich stärker berührt als die anderen Wirtschaftsteilnehmer desselben Sektors (vgl. Beschluss vom 3. Dezember 2008, RSA Security Ireland/Kommission, T‑227/06, EU:T:2008:547, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Aus der ständigen Rechtsprechung ergibt sich auch, dass der Umstand, dass die Rechtssubjekte, für die eine Maßnahme gilt, nach Zahl oder sogar Identität mehr oder weniger genau bestimmbar sind, keineswegs bedeutet, dass sie als von der Maßnahme individuell betroffen anzusehen sind, sofern diese Maßnahme aufgrund eines durch sie bestimmten objektiven Tatbestands rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist (vgl. Urteil vom 28. April 2015, T & L Sugars und Sidul Açúcares/Kommission, C‑456/13 P, EU:C:2015:284, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Somit ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass die Klägerin von dem angefochtenen Beschluss nur in ihrer objektiven Eigenschaft als Importeur von Waren betroffen ist, wie jeder andere Wirtschaftsteilnehmer, der sich tatsächlich oder potenziell in der gleichen Lage befindet. Daher berührt der angefochtene Beschluss die Klägerin nicht wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände.
50 Wie der Rat ausführt, hat es der Gerichtshof im Übrigen im Urteil vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission (25/62, EU:C:1963:17), abgelehnt, dass die Eigenschaft als Importeur von Clementinen geeignet sein soll, die Klägerin zu individualisieren, indem er entschieden hat, dass sie durch die in Rede stehende Entscheidung in ihrer Eigenschaft als Importeur von Clementinen betroffen wurde, also im Hinblick auf eine kaufmännische Tätigkeit, die jederzeit durch jedermann ausgeübt werden konnte und daher nicht geeignet war, die Klägerin gegenüber der in Rede stehenden Entscheidung in gleicher Weise zu individualisieren wie den Adressaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission, 25/62, EU:C:1963:17, S. 238 und 239).
51 Schließlich unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache von der Rechtssache, in der das von der Klägerin angeführte Urteil vom 17. Januar 1985, Piraiki-Patraiki u. a./Kommission (11/82, EU:C:1985:18, Rn. 30 bis 32), ergangen ist. In diesem Urteil hat der Gerichtshof eine Klage gegen eine Maßnahme mit allgemeiner Geltung für zulässig erklärt, die von Unternehmen, die Rechte erworben hatten, erhoben wurde, weil die fragliche Maßnahme die Erfüllung von bereits geschlossenen Verträgen beeinträchtigte, die unter der Geltung dieser Maßnahme zu erfüllen waren.
52 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin aber nicht einmal ausgeführt, geschweige denn nachgewiesen, dass sie durch bereits geschlossene Verträge über die Lieferung der betreffenden Waren, die dem Rat bereits vor Erlass des angefochtenen Beschlusses bekannt gewesen seien, individualisiert worden wäre. Folglich kann diese Rechtsprechung nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragen werden.
53 Unter diesen Umständen genügt das Vorbringen der Klägerin in Bezug auf eine spürbare Beeinträchtigung ihrer Marktstellung nicht, um sie im Sinne der oben in Rn. 29 angeführten Rechtsprechung zu individualisieren und aus dem Kreis anderer Wirtschaftsteilnehmer herauszuheben.
Vorbringen der Klägerin zur Verletzung ihrer Verfahrensrechte
54 In der Klageschrift macht die Klägerin geltend, sie sei von dem angefochtenen Beschluss individuell betroffen, weil sie nach Art. 207 Abs. 3 Unterabs. 2 AEUV und Art. 2 Buchst. b der Verordnung 2019/216 ein Recht auf Verfahrensbeteiligung gehabt habe und der Rat und die Kommission ihre Interessen bei der Aushandlung der Zollkontingente hätten berücksichtigen müssen.
55 Hierzu ist mit dem Rat festzustellen, dass in Hinblick auf den angefochtenen Beschluss keinerlei Rechte auf Verfahrensbeteiligung bestanden, die zu einer individuellen Betroffenheit hätten führen können. Nach Ansicht der Klägerin ergibt sich ein solches Recht aus Art. 2 Buchst. b der Verordnung 2019/216, der sich auf die Aushandlung von Zollkontingenten durch die Kommission beziehe und gemäß Art. 207 Abs. 3 Unterabs. 2 AEUV mittelbar auch für den Rat gelte. Wie aus ihrem sechsten Erwägungsgrund hervorgeht, betraf die Verordnung 2019/216 aber die Situation, in der zum Zeitpunkt des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union noch keine Übereinkunft mit dem betreffenden WTO-Mitglied über die jeweiligen Zollkontingente geschlossen war, während der angefochtene Beschluss gerade eine solche Übereinkunft betrifft. Somit war Art. 2 Buchst. b der Verordnung 2019/216 nicht auf das Verfahren zum Erlass des angefochtenen Beschlusses anwendbar.
56 Darüber hinaus wird der Kommission mit Art. 2 Buchst. b der Verordnung 2019/216 lediglich die Befugnis übertragen, einen delegierten Rechtsakt zur Änderung des Anhangs zu erlassen, um „relevanten Informationen, die ihr entweder im Rahmen der Verhandlungen nach Artikel XXVIII des GATT 1994 oder durch andere Quellen mit Interesse an einem bestimmten Zollkontingent zur Kenntnis gelangen“, Rechnung zu tragen. Wie der Rat ausführt, beinhaltet diese Befugnis keine rechtliche Verpflichtung für die Kommission, sich aktiv um solche Informationen zu bemühen oder die Informationen, die sie erhält, vor dem Abschluss einer internationalen Übereinkunft zu berücksichtigen.
57 Folglich ist das Vorbringen der Klägerin zu einer Verletzung ihrer Verfahrensrechte zurückzuweisen.
58 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin im Unterschied zu ihrem Vorbringen in ihrer Klageschrift in ihrer Stellungnahme zu der vom Rat erhobenen Einrede der Unzulässigkeit ausführt, dass sie sich durch ihren Schriftwechsel mit der Kommission aktiv an dem Verwaltungsverfahren beteiligt habe, das zum Abschluss des Änderungsabkommens geführt habe. Sie habe insbesondere auf die Beeinträchtigung ihrer Interessen sowie auf praktische Probleme bei der Anwendung von Art. 13 Abs. 3 der Durchführungsverordnung 2020/761 auf das Kontingent 09.4214 und bei der Aussetzung des Referenzmengenerfordernisses nach neun Monaten hingewiesen. Die Diskussionen über eine graduelle Anpassung der Einfuhrmengen oder die Erhöhung der Referenzmenge eines Importeurs zeigten, dass sie sich intensiv an dem vorprozessualen Verfahren beteiligt habe, das zum Abschluss des Änderungsabkommens geführt habe, und dass sie daher von dem angefochtenen Beschluss individuell betroffen sei.
59 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Tatsache, dass sich eine Person an dem Verfahren beteiligt, das zum Erlass einer Unionshandlung führt, nur dann geeignet ist, diese Person hinsichtlich der fraglichen Handlung zu individualisieren, wenn die Unionsregelung Verfahrensgarantien für sie vorsieht (vgl. Beschluss vom 5. Mai 2009, WWF-UK/Rat, C‑355/08 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:286, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Im Übrigen kann nach der Rechtsprechung eine natürliche oder juristische Person, die im Rahmen des Verfahrens zum Erlass einer Unionshandlung über Verfahrensrechte verfügt – welche Verfahrensgarantie auch immer vorliegen mag –, nicht grundsätzlich die materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit dieser Handlung anfechten. Der genaue Umfang des Anfechtungsrechts eines Einzelnen gegenüber einer Unionshandlung hängt nämlich von seiner durch das Unionsrecht bestimmten rechtlichen Stellung zum Schutz der so anerkannten legitimen Interessen ab (vgl. Urteil vom 28. Februar 2019, Rat/Growth Energy und Renewable Fuels Association, C‑465/16 P, EU:C:2019:155, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Im vorliegenden Fall verpflichtet keine der Bestimmungen des angefochtenen Beschlusses, des Änderungsabkommens oder der relevanten Durchführungsmaßnahmen den Rat, ein Verfahren durchzuführen, in dessen Rahmen die Klägerin ein Recht auf Anhörung hätte. Daher verleihen die von ihr angeführten und oben in Rn. 58 genannten Diskussionen, die ihrer Ansicht nach ihre Beteiligung an dem Verwaltungsverfahren beweisen, das zum Abschluss des Änderungsabkommens geführt hat, der Klägerin keine Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV.
Vorbringen der Klägerin zur Verletzung ihrer Grundrechte
– Verletzung der unternehmerischen Freiheit und des Eigentumsrechts
62 Die Klägerin macht geltend, sie sei wegen der Verletzung ihrer in Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) anerkannten unternehmerischen Freiheit und ihres in Art. 17 der Charta verankerten Eigentumsrechts individuell betroffen.
63 Hierzu ist festzustellen, dass das Vorbringen der Klägerin, der angefochtene Beschluss verletze ihre Grundrechte, für sich allein nicht genügt, um die Zulässigkeit ihrer Klage herbeizuführen, denn sonst würden die Anforderungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV ausgehöhlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. März 2021, Carvalho u. a./Parlament und Rat, C‑565/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:252, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Folglich genügt das Vorbringen der Klägerin zur Verletzung ihrer unternehmerischen Freiheit und ihres Eigentumsrechts nicht, um sie im Sinne der oben in Rn. 29 angeführten Rechtsprechung zu individualisieren und aus dem Kreis anderer Wirtschaftsteilnehmer herauszuheben.
– Verletzung des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz
65 Die Klägerin beruft sich zur Stützung der Zulässigkeit der vorliegenden Klage auf die Garantien des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 47 der Charta.
66 Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes erlaubt es dem Gericht jedoch nicht, die in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannte Voraussetzung der Klagebefugnis wegfallen zu lassen (vgl. Beschluss vom 11. August 2023, Flynn/EZB, T‑675/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:477, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin wird ihr der gerichtliche Rechtsschutz auch nicht verwehrt.
68 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die gerichtliche Kontrolle der Wahrung der Rechtsordnung der Union, wie sich aus Art. 19 Abs. 1 EUV ergibt, durch den Gerichtshof der Europäischen Union und die Gerichte der Mitgliedstaaten gewährleistet wird (vgl. Beschluss vom 14. Januar 2022, Alauzun u. a./Kommission und EMA, T‑418/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:39, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Zu diesem Zweck hat der AEU-Vertrag mit seinen Art. 263 und 277 einerseits und mit Art. 267 andererseits ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die Rechtmäßigkeitskontrolle der Unionshandlungen gewährleisten soll, mit der die Unionsgerichte betraut sind (vgl. Beschluss vom 14. Januar 2022, Alauzun u. a./Kommission und EMA, T‑418/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:39, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 Die Rolle der nationalen Gerichte besteht darin, dass diese in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof eine Aufgabe erfüllen, die beiden gemeinsam übertragen ist, um die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge zu sichern (vgl. Beschluss vom 14. Januar 2022, Alauzun u. a./Kommission und EMA, T‑418/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:39, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 Folglich steht es der Klägerin frei, gegen etwaige Handlungen nationaler Behörden vor den nationalen Gerichten Klage zu erheben und es diesen zu ermöglichen, dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. Januar 2022, Alauzun u. a./Kommission und EMA, T‑418/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:39, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Daher ist das Vorbringen der Klägerin zur Verletzung ihres Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zurückzuweisen.
73 Unter diesen Umständen ist die Klägerin von dem angefochtenen Beschluss nicht individuell betroffen. Daher ist festzustellen, dass sie nicht nach Art. 263 Abs. 4 zweite Variante AEUV klagebefugt ist, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob sie von diesem Beschluss unmittelbar betroffen ist.
Zur Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV
74 Die Voraussetzungen erstens des Verordnungscharakters des angefochtenen Rechtsakts, zweitens der unmittelbaren Betroffenheit der Klägerin und drittens des Nichtvorliegens von Durchführungsmaßnahmen im Sinne von Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV sind kumulativ (vgl. Beschluss vom 24. Februar 2022, Thomas und Julien/Rat, T‑442/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:93, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Unter den Umständen des vorliegenden Falls ist zunächst zu prüfen, ob die erste Voraussetzung, der Verordnungscharakter des angefochtenen Beschlusses, erfüllt ist.
76 Nach der Rechtsprechung ist der Begriff „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV dahin auszulegen, dass er Beschlüsse über die Genehmigung des Abschlusses einer internationalen Übereinkunft nicht erfasst (vgl. Beschluss vom 24. Februar 2022, Thomas und Julien/Rat, T‑442/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:93, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Insoweit ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass das Änderungsabkommen, wie jede von der Union geschlossene internationale Übereinkunft, für ihre Organe verbindlich ist und Vorrang vor den von ihnen erlassenen Rechtsakten hat. Aus diesem Vorrang der von der Union geschlossenen internationalen Übereinkünfte vor Sekundärrecht folgt, dass das Änderungsabkommen in der Normenhierarchie einen höheren Rang einnimmt als andere Rechtsakte mit allgemeiner Geltung, seien es Gesetzgebungsakte oder Rechtsakte mit Verordnungscharakter. Folglich sind mit dem angefochtenen Beschluss im Änderungsabkommen enthaltene Bestimmungen in die Unionsrechtsordnung aufgenommen worden, die Gesetzgebungsakten und Rechtsakten mit Verordnungscharakter vorgehen und die daher selbst keinen Verordnungscharakter haben (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 24. Februar 2022, Thomas und Julien/Rat, T‑442/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:93, Rn. 45).
78 Vor diesem Hintergrund ist der angefochtene Beschluss, soweit er das Änderungsabkommen genehmigt, nicht als Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV einzustufen.
79 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Klägerin nicht nach Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV klagebefugt ist, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob der angefochtene Beschluss sie unmittelbar betrifft und ob er Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht.
80 Nach alledem ist der vom Rat erhobenen Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben und die Klage als unzulässig abzuweisen.
81 Hat der Beklagte nach Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, so wird gemäß Art. 144 Abs. 3 der Verfahrensordnung über den Antrag auf Zulassung zur Streithilfe erst entschieden, nachdem die Einrede zurückgewiesen wurde oder die Entscheidung darüber dem Endurteil vorbehalten wurde. Außerdem wird die Streithilfe gemäß Art. 142 Abs. 2 der Verfahrensordnung u. a. dann gegenstandslos, wenn die Klage für unzulässig erklärt wird. Unter diesen Umständen hat sich der Antrag der Kommission vom 24. November 2023 auf Zulassung zur Streithilfe erledigt.
Kosten
82 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Rates ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Rates aufzuerlegen.
83 Im Übrigen trägt nach Art. 144 Abs. 10 der Verfahrensordnung die Kommission als Antragstellerin ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten. Da keine Stellungnahmen zum Antrag auf Zulassung zur Streithilfe abgegeben worden sind, sind der Klägerin und dem Rat insoweit keine Kosten entstanden.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
beschlossen:
1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2. Der Antrag der Europäischen Kommission auf Zulassung zur Streithilfe hat sich erledigt.
3. Die Vossko GmbH & Co. KG trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Rates der Europäischen Union.
4. Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe.
Luxemburg, den 4. Oktober 2024
Der Kanzler
Der Präsident
V. Di Bucci
L. Truchot
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 26. September 2024.#Luxone Srl und Sofein SpA gegen Consip SpA.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 47 Abs. 3 – Art. 48 Abs. 4 – Ausschluss eines Bieters vom Vergabeverfahren – Ausschluss der Möglichkeit, die ursprüngliche Zahl der Mitglieder der Bietergemeinschaft, die ein Angebot eingereicht hat, zu reduzieren – Unvereinbarkeit – Gültigkeitsdauer eines Angebots – Kein Erlöschen des abgelaufenen Angebots – Nach der Rechtsprechung bestehende Pflicht, von diesem Angebot ausdrücklich zurückzutreten – Verlust der dem Angebot beigefügten vorläufigen Kaution – Automatische Anwendung dieser Maßnahme – Art. 2 – Grundsätze der Vergabe öffentlicher Aufträge – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Grundsatz der Gleichbehandlung – Transparenzgebot – Verstoß.#Verbundene Rechtssachen C-403/23 und C-404/23.
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62023CJ0403
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ECLI:EU:C:2024:805
| 2024-09-26T00:00:00 |
Pikamäe, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62023CJ0403
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
26. September 2024 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 47 Abs. 3 – Art. 48 Abs. 4 – Ausschluss eines Bieters vom Vergabeverfahren – Ausschluss der Möglichkeit, die ursprüngliche Zahl der Mitglieder der Bietergemeinschaft, die ein Angebot eingereicht hat, zu reduzieren – Unvereinbarkeit – Gültigkeitsdauer eines Angebots – Kein Erlöschen des abgelaufenen Angebots – Nach der Rechtsprechung bestehende Pflicht, von diesem Angebot ausdrücklich zurückzutreten – Verlust der dem Angebot beigefügten vorläufigen Kaution – Automatische Anwendung dieser Maßnahme – Art. 2 – Grundsätze der Vergabe öffentlicher Aufträge – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Grundsatz der Gleichbehandlung – Transparenzgebot – Verstoß“
In den verbundenen Rechtssachen C‑403/23 und C‑404/23
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidungen vom 16. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni und am 3. Juli 2023, in den Verfahren
Luxone Srl, handelnd im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der mit der Iren Smart Solutions SpA zu gründenden Bietergemeinschaft (C‑403/23),
Sofein SpA, vormals Gi One SpA (C‑404/23),
gegen
Consip SpA,
Beteiligte:
Elba Compagnia di Assicurazioni e Riassicurazioni SpA,
Sofein SpA, vormals Gi One SpA (C‑403/23),
Iren Smart Solutions SpA,
Consorzio Stabile Energie Locali Scarl,
City Green Light Srl,
Enel Sole Srl,
Luxone Srl (C‑404/23),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Luxone Srl, handelnd im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der mit der Iren Smart Solutions SpA zu gründenden Bietergemeinschaft, sowie der Sofein SpA, vertreten durch P. Leozappa, Avvocato,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte, im Beistand von A. De Curtis, L. Fiandaca und D. G. Pintus, Avvocati dello Stato,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und G. Wils als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114, berichtigt in ABl. 2004, L 351, S. 44), des Art. 6 EUV, der Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV, der Art. 16, 49, 50 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Art. 4 des am 22. November 1984 in Straßburg unterzeichneten Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
2 Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen – in der Rechtssache C‑403/23 – der Luxone Srl, die im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der mit der Iren Smart Solutions SpA zu gründenden Bietergemeinschaft handelt, bzw. – in der Rechtssache C‑404/23 – der Sofein SpA, vormals Gi One SpA, und derselben öffentlichen Auftraggeberin, der Consip SpA, wegen der Entscheidungen, mit denen Letztere zum einen die Bietergemeinschaft, der Luxone und Sofein angehörten, von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausschloss und zum anderen die vorläufige Kaution einbehielt, die die Mitglieder dieser Bietergemeinschaft im Hinblick auf ihre Teilnahme an diesem Verfahren gestellt hatten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2004/18
3 In den Erwägungsgründen 2 und 32 der Richtlinie 2004/18 hieß es:
„(2)
Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen des öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze wie z. B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz. Für öffentliche Aufträge, die einen bestimmten Wert überschreiten, empfiehlt sich indessen die Ausarbeitung von auf diesen Grundsätzen beruhenden Bestimmungen zur gemeinschaftlichen Koordinierung der nationalen Verfahren für die Vergabe solcher Aufträge, um die Wirksamkeit dieser Grundsätze und die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für den Wettbewerb zu garantieren. Folglich sollten diese Koordinierungsbestimmungen nach Maßgabe der genannten Regeln und Grundsätze sowie gemäß den anderen Bestimmungen des Vertrags ausgelegt werden.
…
(32) Um den Zugang von kleinen und mittleren Unternehmen [(KMU)] zu öffentlichen Aufträgen zu fördern, sollten Bestimmungen über Unteraufträge vorgesehen werden.“
4 Art. 2 („Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen“) der Richtlinie 2004/18 bestimmte:
„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.“
5 In Art. 4 („Wirtschaftsteilnehmer“) Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 hieß es:
„Angebote oder Anträge auf Teilnahme können auch von Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern eingereicht werden. Die öffentlichen Auftraggeber können nicht verlangen, dass nur Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, die eine bestimmte Rechtsform haben, ein Angebot oder einen Antrag auf Teilnahme einreichen können; allerdings kann von der ausgewählten Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern verlangt werden, dass sie eine bestimmte Rechtsform annimmt, wenn ihr der Zuschlag erteilt worden ist, sofern dies für die ordnungsgemäße Durchführung des Auftrags erforderlich ist.“
6 Art. 45 („Persönliche Lage des Bewerbers bzw. Bieters“) Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 bestimmte:
„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,
…
c)
[der] aufgrund eines nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Landes rechtskräftigen Urteils wegen eines Deliktes bestraft worden [ist], das [seine] berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellt;
d)
[der] im Rahmen [seiner] beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen [hat], die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde;
…
g)
[der] sich bei der Erteilung von Auskünften, die gemäß diesem Abschnitt eingeholt werden können, in erheblichem Maße falscher Erklärungen schuldig gemacht oder diese Auskünfte nicht erteilt [hat].
Die Mitgliedstaaten legen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.“
7 Art. 47 („Wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit“) Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/18 sah vor:
„(2) Ein Wirtschaftsteilnehmer kann sich gegebenenfalls für einen bestimmten Auftrag auf die Kapazitäten anderer Unternehmen ungeachtet des rechtlichen Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden Verbindungen stützen. Er muss in diesem Falle dem öffentlichen Auftraggeber gegenüber nachweisen, dass ihm die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, indem er beispielsweise die diesbezüglichen Zusagen dieser Unternehmen vorlegt.
(3) Unter denselben Voraussetzungen können sich Gemeinschaften von Wirtschaftsteilnehmern nach Artikel 4 auf die Kapazitäten der Mitglieder der Gemeinschaften oder anderer Unternehmen stützen.“
8 In Art. 48 („Technische und/oder berufliche Leistungsfähigkeit“) der Richtlinie 2004/18 hieß es:
„(1) Die technische und/oder berufliche Leistungsfähigkeit des Wirtschaftsteilnehmers wird gemäß den Absätzen 2 und 3 bewertet und überprüft.
…
(3) Ein Wirtschaftsteilnehmer kann sich gegebenenfalls für einen bestimmten Auftrag auf die Kapazitäten anderer Unternehmen ungeachtet des rechtlichen Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden Verbindungen stützen. Er muss in diesem Falle dem öffentlichen Auftraggeber gegenüber nachweisen, dass ihm für die Ausführung des Auftrags die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, indem er beispielsweise die Zusage dieser Unternehmen vorlegt, dass sie dem Wirtschaftsteilnehmer die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen.
(4) Unter denselben Voraussetzungen können sich Gemeinschaften von Wirtschaftsteilnehmern nach Artikel 4 auf die Leistungsfähigkeit der Mitglieder der Gemeinschaften oder anderer Unternehmen stützen.“
9 Anhang VII Teil A („Angaben, die in den Bekanntmachungen für öffentliche Aufträge enthalten sein müssen“) der Richtlinie 2004/18 sah in den Nrn. 14 und 21 des Abschnitts „Bekanntmachung“ vor, dass in der Bekanntmachung „[g]egebenenfalls geforderte Kautionen und Sicherheiten“ sowie die „Bindefrist (offene Verfahren)“ anzugeben waren.
Richtlinie 2004/17
10 Aus den Art. 3 bis 9 der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1) ergibt sich, dass diese Richtlinie für öffentliche Aufträge galt, die eine oder mehrere Tätigkeiten in den folgenden Bereichen zum Gegenstand hatten: Gas, Wärme und Elektrizität; Wasser; Verkehrsleistungen; Postdienste; Aufsuchen und Förderung von Erdöl, Gas, Kohle und anderen festen Brennstoffen.
11 Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 hatte den gleichen Wortlaut wie Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18, abgesehen davon, dass der Ausdruck „Auftraggeber“ durch eine Bezugnahme auf „öffentliche Auftraggeber“ ersetzt wurde.
Italienisches Recht
12 Das Decreto legislativo n.°163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 163 – Gesetzbuch über öffentliche Bau‑, Dienstleistungs- und Lieferaufträge zur Umsetzung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG) vom 12. April 2006 (Supplemento Ordinario Nr. 107 zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006, im Folgenden: Altes Gesetzbuch über öffentliche Aufträge) enthielt einen Art. 11 („Verfahren zur Auftragsvergabe“), dessen Abs. 6 bestimmte:
„Jeder Teilnehmer darf nur ein Angebot abgeben. Das Angebot ist für die in der Bekanntmachung oder in der Aufforderung angegebene Zeit oder, falls diese Angabe fehlt, für 180 Tage ab Ablauf der Frist für die Angebotseinreichung bindend. Die Vergabestelle kann die Bieter um eine Verlängerung dieser Frist ersuchen.“
13 Art. 37 („Bietergemeinschaften und gewöhnliche Bieterkonsortien“) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge sah in den Abs. 8 bis 10, 18 und 19 vor:
„8. Die Subjekte laut Art. 34 Abs. 1 Buchst. d und e dürfen auch vor ihrem Zusammenschluss Angebote abgeben. In diesem Fall muss das Angebot von allen Wirtschaftsteilnehmern, die sich zu einer Bietergemeinschaft oder zu einem gewöhnlichen Bieterkonsortium zusammenschließen wollen, unterzeichnet werden; außerdem muss das Angebot die Verpflichtung enthalten, dass dieselben Wirtschaftsteilnehmer im Fall des Zuschlags einem von ihnen, der im Angebot benannt und als Bevollmächtigter bezeichnet werden muss und als Beauftragter den Vertrag in seinem Namen und auf seine Rechnung sowie im Namen und auf Rechnung der Auftrag gebenden Unternehmen abschließen wird, einen gemeinsamen Sonderauftrag mit Vertretungsmacht erteilen.
9. … Vorbehaltlich der Vorschriften der Abs. 18 und 19 ist jede Änderung in der Zusammensetzung der Bietergemeinschaften und gewöhnlichen Bieterkonsortien gegenüber derjenigen, die sich aus der bei der Angebotsabgabe eingegangenen Verpflichtung ergibt, verboten.
10. Die Nichtbeachtung der Verbote laut Abs. 9 bewirkt die Aufhebung der Zuschlagserteilung oder die Nichtigkeit des Vertrags sowie den Ausschluss der Bieter, die sich während dieses oder nach diesem Vergabeverfahren zu einer Bietergemeinschaft oder einem gewöhnlichen Konsortium zusammengeschlossen haben.
…
18. Bei Konkurs des Beauftragten oder, falls es sich um einen Einzelunternehmer handelt, im Fall seines Todes, seiner Entmündigung, seiner beschränkten Entmündigung oder seines Konkurses oder in den von den Antimafiabestimmungen vorgesehenen Fällen kann die Vergabestelle das Vertragsverhältnis mit einem anderen Wirtschaftsteilnehmer fortsetzen, der gemäß den Verfahren dieses Gesetzbuchs zum Beauftragten bestellt wird, sofern er die für die noch auszuführenden Bauleistungen, Dienstleistungen oder Lieferungen erforderlichen Qualifikationsanforderungen erfüllt; sind die genannten Bedingungen nicht gegeben, kann die Vergabestelle vom Vertrag zurücktreten.
19. Bei Konkurs eines der Auftrag gebenden Unternehmen oder, falls es sich um einen Einzelunternehmer handelt, im Fall seines Todes, seiner Entmündigung, seiner beschränkten Entmündigung oder seines Konkurses oder in den von den Antimafiabestimmungen vorgesehenen Fällen ist der Beauftragte, wenn er keinen anderen Wirtschaftsteilnehmer als Nachfolger angibt, der die vorgeschriebenen Eignungsanforderungen erfüllt, verpflichtet, die Leistung unmittelbar selbst oder durch die anderen Auftrag gebenden Unternehmen auszuführen, sofern sie die für die noch auszuführenden Bauleistungen, Dienstleistungen oder Lieferungen erforderlichen Qualifikationsanforderungen erfüllen.“
14 Art. 38 („Allgemeine Bedingungen“) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge sah in Abs. 1 Buchst. f vor:
„Die nachstehenden Subjekte sind von der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe von Bau- und Dienstleistungskonzessionen sowie von Bau‑, Liefer‑, und Dienstleistungsaufträgen ausgeschlossen und dürfen weder Unterauftragnehmer sein noch die entsprechenden Verträge abschließen:
…
f)
Subjekte, die nach begründeter Beurteilung der Vergabestelle bei der Ausführung der von der ausschreibenden Vergabestelle vergebenen Leistungen eine grobe Nachlässigkeit begangen oder in schlechtem Glauben gehandelt haben oder die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die von der Vergabestelle nachweislich festgestellt wurde“.
15 Art. 48 („Überprüfung der Erfüllung der Voraussetzungen“) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge bestimmte in Abs. 1:
„Vor der Öffnung der Umschläge mit den abgegebenen Angeboten fordern die Vergabestellen eine Anzahl von durch öffentliches Los ausgewählten Bietern, die mindestens zehn Prozent der abgegebenen Angebote entspricht und die auf die nächsthöhere ganze Zahl aufzurunden ist, auf, innerhalb von zehn Tagen ab Aufforderung nachzuweisen, dass sie die gegebenenfalls in der Ausschreibungsbekanntmachung verlangten Anforderungen an die wirtschaftlich-finanzielle und technisch-organisatorische Leistungsfähigkeit erfüllen, indem sie die in der besagten Bekanntmachung oder im Aufforderungsschreiben angeführten Unterlagen vorlegen. Im Rahmen der Kontrolle überprüfen die Vergabestellen die Erfüllung der Qualifikationsanforderung zur Ausführung der Arbeiten seitens der Bieter bei Aufträgen, die an Generalunternehmer vergeben werden, anhand des elektronischen Registers im Sinne von Art. 7 Abs. 10 oder anhand der Internetseite des Ministeriums für Infrastruktur und Transport; für Lieferanten und Dienstleistungserbringer erfolgt die Überprüfung der Erfüllung der in Art. 42 Abs. 1 Buchst. a dieses Gesetzbuchs genannten Anforderung anhand der in Art. 6bis dieses Gesetzbuchs genannten nationalen Datenbank für öffentliche Aufträge. Wird dieser Nachweis nicht erbracht oder werden darin die im Teilnahmeantrag oder im Angebot enthaltenen Erklärungen nicht bestätigt, schließen die Vergabestellen den Teilnehmer von dem Vergabeverfahren aus, behalten die betreffende vorläufige Kaution ein und melden diesen Umstand der Behörde zum Zweck der Maßnahmen nach Art. 6 Abs. 11. Die Behörde setzt außerdem [das Recht auf] die Teilnahme an Vergabeverfahren für ein bis zwölf Monate aus.“
16 Nach Art. 75 („Dem Angebot beizufügende Sicherheiten“) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge galt:
„1. Dem Angebot ist eine Sicherheit in Höhe von zwei Prozent der in der Bekanntmachung oder in der Aufforderung angegebenen Ausschreibungssumme beizufügen, die nach Wahl des Bieters in Form einer Kaution oder einer Bürgschaft geleistet wird. …
…
6. Die Sicherheit deckt die nicht zustande gekommene Vertragsunterzeichnung wegen eines vom Auftragnehmer zu vertretenden Umstands; sie wird automatisch bei Unterzeichnung des Vertrags freigegeben.
…
9. Die Vergabestelle sorgt gleichzeitig mit der Mitteilung der Zuschlagserteilung an die nicht erfolgreichen Bieter dafür, dass die Sicherheit laut Abs. 1 zugunsten der genannten Bieter unverzüglich, in jedem Fall aber nicht später als 30 Tage nach Zuschlagserteilung, freigegeben wird, auch wenn die Sicherheit noch gültig ist.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17 Mit Bekanntmachung vom 21. Dezember 2015 leitete Consip ein in zwölf Lose unterteiltes offenes Vergabeverfahren zur Vergabe des Dienstes Beleuchtung und damit verbundener optionaler Dienstleistungen ein.
18 Eine zu gründende Bietergemeinschaft, deren federführendes Mitglied Luxone war (im Folgenden: BG Luxone), gab ein Angebot für vier dieser zwölf Lose ab. Zu dieser Bietergemeinschaft gehörten auch die Consorzio Stabile Energie Locali Scarl (im Folgenden: CSEL), die Iren Servizi e Innovazione SpA (jetzt Iren Smart Solutions), die Gestione Integrata Srl und die Exitone SpA.
19 Mit Schreiben vom 28. September 2018 wies Gi One, jetzt Sofein, Consip darauf hin, dass sie Exitone und Gestione Integrata „in allen ihren Rechten und Pflichten“ nachfolge.
20 Obwohl sich Consip bei der Einleitung des Verfahrens zur Kontrolle der Angebote auf Abweichungen das Recht vorbehalten hatte, zu prüfen, ob Exitone die allgemeinen Voraussetzungen des Art. 38 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge ununterbrochen erfüllte, leitete sie kein späteres Verfahren ein.
21 Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vergabeverfahren, das bis zum 18. April 2017 abgeschlossen werden sollte, wurde achtmal verlängert, um „Consip die für den Abschluss des Verfahrens erforderliche Zeit zu gewähren“. Jede dieser Verlängerungen hatte zur Folge, dass zum einen die zwischenzeitlich abgelaufenen Angebote bestätigt und zum anderen die diesen Angeboten beigefügten vorläufigen Kautionen verlängert werden mussten.
22 Nachdem am 2. März 2020 die siebte Bestätigungsaufforderung dieser Angebote gestellt worden war, teilten die Mitglieder der BG Luxone Consip mit Schreiben vom 30. März 2020 mit, dass Luxone und Iren Smart Solutions im Gegensatz zu Sofein und CSEL ihre früheren Angebote bestätigten. Sofein und CSEL wiesen im Wesentlichen darauf hin, dass die im Jahr 2016 abgegebenen Angebote wegen der langen Dauer der Vorbereitungen für die Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags „aus unternehmerischer Sicht und unter dem Gesichtspunkt einer ordnungsgemäßen und umsichtigen Unternehmensführung nicht mehr tragfähig [seien]“.
23 Mit Schreiben vom 9. Juni 2020 forderte Consip alle Mitglieder der BG Luxone zum achten Mal auf, ihr abgelaufenes Angebot zu bestätigen sowie die Geltungsdauer der entsprechenden vorläufigen Kaution bis zum 30. November 2020 zu verlängern.
24 Mit Schreiben vom 18. Juni 2020, auf das Consip nicht antwortete, wiederholten Luxone und Iren Smart Solutions ihre Angebote und wiesen darauf hin, dass Sofein und CSEL ihrerseits ihre Angebote nicht bestätigen wollten.
25 Mit Schreiben vom 30. September 2020 leitete Consip ein Verfahren ein, um zu prüfen, ob die in Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge vorgesehene Voraussetzung erfüllt war, und um die Rechtmäßigkeit des Ausscheidens von Sofein und CSEL zu beurteilen. Nach Ansicht von Consip sind Sofein und CSEL nämlich mit der Nichtbestätigung der Angebote rechtswidrig aus der BG Luxone „ausgetreten“.
26 Mit Entscheidung vom 11. November 2020 (im Folgenden: Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020) schloss Consip die BG Luxone von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergabeverfahren aus.
27 Consip stellte erstens fest, dass Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge dem einzelnen Bieter, d. h. im vorliegenden Fall der BG Luxone insgesamt, das Recht verleihe, nach Ablauf einer bestimmten Frist vom Angebot zurückzutreten. Dieses Recht könne folglich nicht nur von einem Teil der Mitglieder dieser Bietergemeinschaft ausgeübt werden.
28 Zweitens warf Consip Sofein insbesondere vor, aus dieser Bietergemeinschaft ausgetreten zu sein, um Art. 38 Abs. 1 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge zu umgehen. Nach dieser Bestimmung hätte Sofein nämlich von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergabeverfahren wegen des Verhaltens ihrer beiden Vorgängergesellschaften ausgeschlossen werden müssen, das ihre Zuverlässigkeit beeinträchtigt habe und für das sie zu haften habe. Consip warf Sofein auch strafbare Handlungen vor.
29 Drittens machte Consip geltend, dass Luxone „die berufliche Zuverlässigkeit gefehlt“ habe, was durch Verweis auf ein Gerichtsverfahren zur Behinderung öffentlicher Ausschreibungsverfahren und durch das Urteil des Tribunale di Messina (Gericht Messina, Italien) vom 14. Juli 2020 gegen den Geschäftsführer der Gesellschaft, deren Rechtsnachfolgerin Luxone sei, bis zum 22. Juli 2019 belegt werde.
30 Viertens warf Consip CSEL vor, aus der BG Luxone ausgetreten zu sein, um im Wesentlichen zu verschleiern, dass diese Gesellschaft die vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfülle und nicht über die für die Ausführung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags erforderlichen Mittel verfüge.
31 Mit Entscheidung vom 12. November 2020 ordnete Consip die Einbehaltung der vorläufigen Kautionen in Höhe von insgesamt 2950000 Euro an, die für die vier Lose, für die die BG Luxone ein Angebot eingereicht hatte, gestellt worden waren.
32 In Beantwortung der Entscheidungen von Consip vom 11. und 12. November 2020 machte CSEL mit Schreiben vom 20. November 2020 geltend, dass sie alle Voraussetzungen für eine Beteiligung an dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren kontinuierlich erfüllt habe. Im Übrigen sei die fehlende Bestätigung des Angebots durch CSEL, die nicht als Austritt aus der BG Luxone eingestuft werden könne, Teil einer Gesamtumstrukturierung des Unternehmens.
33 Mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 bestätigte Consip die Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020.
34 Luxone, handelnd im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der BG Luxone, und Sofein fochten die Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020 und die Entscheidung vom 12. November 2020 mit zwei getrennten Klagen vor dem Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) erfolglos an. Daher legten sie gegen die Urteile dieses Gerichts beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.
35 Dieses Gericht weist darauf hin, dass es die Aussetzung der Einbehaltung der vorläufigen Kautionen, insbesondere wegen der Höhe ihres Gesamtbetrags, angeordnet habe.
36 Das vorlegende Gericht hält es für zweckmäßig, noch vor der Prüfung der Klagen, soweit sie gegen die Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020 gerichtet sind, die Vereinbarkeit von Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, der von den italienischen Verwaltungsgerichten dahin ausgelegt wird, dass die fehlende oder nur teilweise Bestätigung eines Angebots zum Zeitpunkt des Ablaufs dieses Angebots und seiner Bindungswirkung für den betroffenen Bieter mit dem Austritt aus der Bietergemeinschaft, die es eingereicht habe, gleichzustellen sei, mit dem Unionsrecht zu prüfen.
37 Im Fall des Austritts einiger Mitglieder einer solchen Bietergemeinschaft ist das genannte Gericht der Ansicht, dass Art. 11 Abs. 6, Art. 37 Abs. 8 bis 10, 18 und 19 sowie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge den öffentlichen Auftraggeber verpflichteten, die in dieser Bietergemeinschaft zusammengeschlossenen Wirtschaftsteilnehmer wegen des Verbots, deren Zusammensetzung zu ändern, auszuschließen. Die einzigen Ausnahmen vom Grundsatz der Unveränderlichkeit einer Bietergemeinschaft seien in Art. 37 Abs. 18 und 19 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge vorgesehen.
38 Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge habe gewährleisten sollen, dass das abgegebene Angebot während der gesamten voraussichtlichen Dauer des Vergabeverfahrens aufrechterhalten bleibe, und nicht dessen zeitliche Wirkung begrenzen. Nach Ansicht des Consiglio di Stato (Staatsrat) bedeutet diese Bestimmung nicht, dass dieses Angebot nach Ablauf der Frist von Rechts wegen hinfällig werde, sondern nur, dass der betroffene Bieter davon zurücktreten könne, sofern er sich ausdrücklich auf diese Möglichkeit berufe. Außerdem sei der Grundsatz der subjektiven Unveränderlichkeit einer Bietergemeinschaft auch für den Fall anwendbar, dass diese Bietergemeinschaft formal noch nicht gegründet worden sei.
39 Im Übrigen sei im vorliegenden Fall der Ausschluss der BG Luxone von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergabeverfahren auch durch das Verhalten von Sofein gerechtfertigt, die versucht habe, sich durch den Austritt aus dieser Bietergemeinschaft der angekündigten Kontrolle ihrer „beruflichen Zuverlässigkeit“ zu entziehen. Aus der Rechtsprechung des Consiglio di Stato (Staatsrat) gehe jedoch hervor, dass der Austritt eines Mitglieds einer Bietergemeinschaft aufgrund organisatorischer Erfordernisse der Bietergemeinschaft oder des Konsortiums erfolgen müsse.
40 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die beanstandeten Bestimmungen des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 sowie mit Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17, der ähnlich formuliert sei, vereinbar seien.
41 Luxone und Sofein kritisieren jedoch die Rechtsprechung des Consiglio di Stato (Staatsrat), da sie die Mitglieder einer Bietergemeinschaft in der Praxis dazu zwinge, für unbestimmte Zeit an ihr Angebot gebunden zu bleiben, und zwar auch dann, wenn die Bindefrist dieses Angebots mehrmals abgelaufen sei. Eine solche Auslegung verstoße gegen den in Art. 16 der Charta garantierten Grundsatz der unternehmerischen Freiheit und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Wettbewerbs sowie der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, die in den Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV verankert seien.
42 Das vorlegende Gericht räumt ein, dass insbesondere in Verfahren, die sich im Lauf der Zeit erheblich verlängerten, das Verbot für ein Mitglied einer solchen Bietergemeinschaft, von dem erneut abgelaufenen Angebot zurückzutreten, da anderenfalls diese Bietergemeinschaft insgesamt ausgeschlossen werde, unverhältnismäßig erscheine, um die Verlässlichkeit dieses Angebots zu gewährleisten, zumindest wenn die Wirtschaftsteilnehmer, die dieses Angebot bestätigt hätten, weiterhin in der Lage seien, selbst alle Teilnahmebedingungen für das Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zu erfüllen. Nach Art. 2 in Verbindung mit dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 dürften die von den Mitgliedstaaten erlassenen Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sei.
43 Außerdem machen Luxone und Sofein geltend, dass sich die Rechtswidrigkeit der Entscheidung vom 12. November 2020 über die Einbehaltung der vorläufigen Kautionen aus der Rechtswidrigkeit der Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020 sowie aus ihr innewohnenden Mängeln ergebe. Diese Kautionen könnten nämlich nur in den beiden in Art. 48 Abs. 1 bzw. Art. 75 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge vorgesehenen Fällen einbehalten werden, nämlich dann, wenn der überprüfte Bieter nicht nachweise, dass er „die Anforderungen an die wirtschaftlich-finanzielle und technisch-organisatorische Leistungsfähigkeit“ erfülle, oder wenn es „wegen eines vom Auftragnehmer zu vertretenden Umstands“ nicht zur Vertragsunterzeichnung komme. Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten fielen jedoch unter keinen dieser beiden Fälle.
44 Obwohl die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) in ihrem Urteil Nr. 198 vom 26. Juli 2022 festgestellt habe, dass die Einbehaltung einer Kaution keinen strafrechtlichen Charakter habe, ist das vorlegende Gericht ebenso wie Luxone und Sofein der Ansicht, dass wegen des Ausmaßes des diesen Gesellschaften auferlegten „Vermögensopfers“ die automatische Einbehaltung der vorläufigen Kautionen gegenüber diesen Gesellschaften die Merkmale einer solchen Sanktion aufweise.
45 Insoweit bestimme Art. 49 Abs. 3 der Charta, dass „[d]as Strafmaß … zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein [darf]“. Ebenso seien Art. 1 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Art. 17 der Charta dahin ausgelegt worden, dass sie die Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit zwischen dem an den Tag gelegten Verhalten und der verhängten Sanktion bezweckten, indem sie es untersagten, das Eigentumsrecht ohne Grund einzuschränken, und damit ein „übermäßiges und unverhältnismäßiges Opfer“ im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhinderten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit komme auch allgemein im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 zum Ausdruck.
46 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stehen die Richtlinie 2004/18, die Art. 16 und 52 der Charta, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Wettbewerbs, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV innerstaatlichen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 6, Art. 37 Abs. 8, 9, 10, 18 und 19 sowie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge) entgegen, die im Fall des Ablaufs der Gültigkeitsdauer des ursprünglich von einer zu gründenden Bietergemeinschaft abgegebenen Angebots die Möglichkeit ausschließen, im Zuge der Verlängerung der Gültigkeitsdauer dieses Angebots die ursprüngliche Zahl der Mitglieder der Bietergemeinschaft zu reduzieren, und sind diese nationalen Bestimmungen insbesondere mit den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit und der praktischen Wirksamkeit sowie mit Art. 16 der Charta vereinbar?
2. Stehen die Richtlinie 2004/18, die Art. 16, 49, 50 und 52 der Charta, Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Art. 6 EUV sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Wettbewerbs, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV innerstaatlichen Rechtsvorschriften (Art. 38 Abs. 1 Buchst. f, Art. 48 und Art. 75 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge) entgegen, die die Verhängung der Sanktion der Einbehaltung der vorläufigen Kaution als automatische Folge des Ausschlusses eines Wirtschaftsteilnehmers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsehen, und zwar unabhängig davon, ob der Wirtschaftsteilnehmer den betreffenden Zuschlag erhalten hat?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
47 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. So gesehen kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 1990, SARPP, C‑241/89, EU:C:1990:459, Rn. 8, und vom 5. Dezember 2023, Nordic Info, C‑128/22, EU:C:2023:951, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Im vorliegenden Fall bezieht sich der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auftrag nicht auf eine oder mehrere der in den Art. 3 bis 9 der Richtlinie 2004/17 genannten Tätigkeiten, auf die diese Richtlinie Anwendung findet. Daher ist davon auszugehen, dass dieser Auftrag in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18 fällt.
49 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht.
50 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 3 der Richtlinie 2004/18 einem Wirtschaftsteilnehmer das Recht verleihen, sich zum einen auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit und zum anderen auf die technische und/oder berufliche Leistungsfähigkeit der Mitglieder der Bietergemeinschaft oder anderer Unternehmen zu stützen, sofern er gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber den Nachweis erbringt, dass der Bietergemeinschaft die für die Ausführung dieses Auftrags erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Diese Richtlinie erlaubt es somit, die Kapazitäten mehrerer Wirtschaftsteilnehmer zu kumulieren, um die vom öffentlichen Auftraggeber festgelegten Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit zu erfüllen, soweit diesem gegenüber der Nachweis erbracht wird, dass der Bewerber oder der Bieter, der sich auf die Kapazitäten eines oder mehrerer anderer Unternehmen stützt, tatsächlich über deren Mittel, die für die Ausführung des Auftrags erforderlich sind, verfügt. Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Ziel, den Bereich des öffentlichen Auftragswesens einem möglichst umfassenden Wettbewerb zu öffnen, das mit den einschlägigen Richtlinien im Interesse nicht nur der Wirtschaftsteilnehmer, sondern auch der öffentlichen Auftraggeber angestrebt wird. Sie ist auch geeignet, KMU den Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu erleichtern, was mit der Richtlinie 2004/18, wie sich aus ihrem 32. Erwägungsgrund ergibt, ebenfalls beabsichtigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Oktober 2013, Swm Costruzioni 2 und Mannocchi Luigino, C‑94/12, EU:C:2013:646, Rn. 29, 33 und 34, sowie vom 2. Juni 2016, Pizzo, C‑27/15, EU:C:2016:404, Rn. 25 bis 27).
51 Aus Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 geht auch hervor, dass sich Gemeinschaften von Wirtschaftsteilnehmern im Sinne von Art. 4 dieser Richtlinie unter denselben Voraussetzungen auf die Kapazitäten der Mitglieder der Gemeinschaft oder anderer Unternehmen stützen können.
52 Allerdings enthält weder Art. 47 Abs. 3 noch Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 spezifische Vorschriften über die Änderung der Zusammensetzung einer Bietergemeinschaft, so dass die Regelung eines solchen Sachverhalts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin, C‑396/14, EU:C:2016:347, Rn. 35).
53 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Art. 37 Abs. 9, 10, 18 und 19 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, dass außer im Fall des Konkurses des federführenden Mitglieds oder eines Mitglieds einer Bietergemeinschaft jede Änderung, die die ursprüngliche Zusammensetzung einer solchen Bietergemeinschaft betraf, verboten war, da anderenfalls alle Mitglieder dieser Bietergemeinschaft vom Verfahren zur Vergabe des öffentlichen Auftrags ausgeschlossen worden wären.
54 Dieses Verbot, die Zusammensetzung einer Bietergemeinschaft zu ändern, ist jedoch nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, u. a. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, der sich daraus ergebenden Transparenzpflicht und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin, C‑396/14, EU:C:2016:347, Rn. 36).
55 Der letztgenannte Grundsatz, auf den im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 hingewiesen wird, verlangt, dass die von den Mitgliedstaaten oder den öffentlichen Auftraggebern im Rahmen der Umsetzung dieser Richtlinie aufgestellten Regeln nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 2008, Michaniki, C‑213/07, EU:C:2008:731, Rn. 48, und vom 7. September 2021, Klaipėdos regiono atliekų tvarkymo centras, C‑927/19, EU:C:2021:700, Rn. 155).
56 Der Grundsatz der Gleichbehandlung räumt den Bietern bei der Abfassung ihrer Angebote die gleichen Chancen ein, was voraussetzt, dass die Angebote aller Bieter den gleichen Bedingungen unterworfen sein müssen. Das damit einhergehende Transparenzgebot soll die Gefahr von Günstlingswirtschaft oder von willkürlichen Entscheidungen des Auftraggebers ausschließen. Dieses Gebot verlangt, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens in der Bekanntmachung oder im Lastenheft klar, genau und eindeutig formuliert sind, damit, erstens, alle durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt deren genaue Bedeutung verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und, zweitens, der Auftraggeber imstande ist, tatsächlich zu überprüfen, ob die Angebote der Bieter die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2014, Cartiera dell’Adda, C‑42/13, EU:C:2014:2345, Rn. 44, und vom 2. Juni 2016, Pizzo, C‑27/15, EU:C:2016:404, Rn. 36).
57 Die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung, die für alle Verfahren der Vergabe öffentlicher Aufträge gelten, gebieten, dass die materiell- und die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Teilnahme an einem Vergabeverfahren, insbesondere die Pflichten der Bieter, im Voraus eindeutig festgelegt und öffentlich bekannt gegeben werden, damit diese genau erkennen können, welche Bedingungen sie in dem Verfahren zu beachten haben, und damit sie die Gewissheit haben können, dass für alle Wettbewerber die gleichen Bedingungen gelten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Februar 2006, La Cascina u. a., C‑226/04 und C‑228/04, EU:C:2006:94, Rn. 32, sowie vom 2. Juni 2016, Pizzo, C‑27/15, EU:C:2016:404, Rn. 37).
58 In dieser Hinsicht sieht Nr. 21 des Anhangs VII Teil A der Richtlinie 2004/18 vor, dass die „Bindefrist (offene Verfahren)“ ein wesentlicher Bestandteil der Informationen ist, die in der Bekanntmachung einer Ausschreibung enthalten sein müssen.
59 Erstens ergibt sich aus dem Urteil vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin (C‑396/14, EU:C:2016:347, Rn. 44 und 48), dass Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen sind, dass die Mitglieder einer Bietergemeinschaft ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aus dieser Bietergemeinschaft austreten können, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen für die Teilnahme am Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.
60 Daher verletzt Art. 37 Abs. 9, 10, 18 und 19 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge dadurch, dass er die Aufrechterhaltung der rechtlichen und tatsächlichen Identität einer Bietergemeinschaft strikt vorschreibt, offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
61 Dies gilt umso mehr, als keine Ausnahme für den Fall vorgesehen ist, dass der öffentliche Auftraggeber wiederholt um die Verlängerung der Gültigkeit der Angebote ersucht. Eine solche Verlängerung erfordert aber von allen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft, zum einen bestimmte Ressourcen sowohl in Form von Personal als auch von Sachmitteln im Hinblick auf einen etwaigen Zuschlag des fraglichen Auftrags zu binden und zum anderen die gestellten vorläufigen Kautionen zu verlängern, was insbesondere für ein KMU eine erhebliche Belastung darstellen kann.
62 Zweitens geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge dahin ausgelegt hat, dass er nicht dazu führe, dass das Angebot nach Ablauf der darin angegebenen Frist von Rechts wegen hinfällig werde. Daher müsse sich der Bieter ausdrücklich auf die Möglichkeit berufen, von seinem Angebot zurückzutreten. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht ferner hervor, dass sich die Klarstellung, dass der Austritt eines Mitglieds aus einer Bietergemeinschaft durch organisatorische Erfordernisse dieser Bietergemeinschaft bedingt sein müsse, allein aus der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts ergebe.
63 Der Gerichtshof hat jedoch wiederholt entschieden, dass eine Situation, in der sich die Voraussetzungen für die Teilnahme an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags aus der gerichtlichen Auslegung des nationalen Rechts ergeben, für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Bieter besonders nachteilig ist, da ihre Kenntnis vom nationalen Recht und seiner Auslegung nicht mit der der Bieter des betreffenden Mitgliedstaats verglichen werden kann (Urteil vom 2. Juni 2016, Pizzo, C‑27/15, EU:C:2016:404, Rn. 46, und Beschluss vom 13. Juli 2017, Saferoad Grawil und Saferoad Kabex, C‑35/17, EU:C:2017:557, Rn. 22).
64 Soweit schließlich den beiden Gesellschaften, die sich geweigert haben, ihr Angebot zu erneuern, ebenfalls vorgeworfen wurde, versucht zu haben, die Kontrolle der Einhaltung der Auswahlkriterien zu umgehen und damit einem Ausschluss vom Verfahren zur Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags zu entgehen, ist hinzuzufügen, dass der öffentliche Auftraggeber zwar jederzeit die Zuverlässigkeit der Mitglieder einer Bietergemeinschaft prüfen kann und sich dazu vergewissern kann, dass diese nicht unter einen der in Art. 45 der Richtlinie 2004/18 aufgeführten Gründe für den Ausschluss von einem Vergabeverfahren fallen, er jedoch im Rahmen dieser Prüfung darauf zu achten hat, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er in Rn. 55 des vorliegenden Urteils beschrieben ist, beachtet wird.
65 Daher muss ein öffentlicher Auftraggeber, wenn er fakultative Gründe für den Ausschluss von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags anwendet, diesem Grundsatz umso mehr Rechnung tragen, wenn der in der nationalen Regelung vorgesehene Ausschluss eine Bietergemeinschaft insgesamt nicht wegen eines Verstoßes trifft, der allen ihren Mitgliedern zuzurechnen ist, sondern wegen eines Verstoßes, der nur von einem oder mehreren von ihnen begangen wurde, ohne dass das federführende Mitglied dieser Gruppe über irgendeine Kontrollbefugnis gegenüber dem oder den Wirtschaftsteilnehmer(n) verfügte, mit dem bzw. denen er eine solche Bietergemeinschaft bilden wollte (vgl. entsprechend Urteile vom 30. Januar 2020, Tim, C‑395/18, EU:C:2020:58, Rn. 48, und vom 7. September 2021, Klaipėdos regiono atliekų tvarkymo centras, C‑927/19, EU:C:2021:700, Rn. 156).
66 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet den öffentlichen Auftraggeber nämlich dazu, eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Verhaltensweise des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 31). Hierzu muss der öffentliche Auftraggeber die Mittel berücksichtigen, die dem Bieter zur Verfügung standen, um das Vorliegen eines Verstoßes in Bezug auf das Unternehmen zu prüfen, dessen Kapazitäten der Bieter in Anspruch zu nehmen beabsichtigte (Urteile vom 3. Juni 2021, Rad Service u. a., C‑210/20, EU:C:2021:445, Rn. 40, und vom 7. September 2021, Klaipėdos regiono atliekų tvarkymo centras, C‑927/19, EU:C:2021:700, Rn. 157).
67 Unter diesen Umständen sind Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.
Zur zweiten Frage
68 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot, wie sie in Art. 2 und im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 niedergelegt sind, dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die automatische Einbehaltung der von einem Bieter gestellten vorläufigen Kaution als Folge seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsieht, auch wenn er den betreffenden Zuschlag nicht erhalten hat.
69 Wie aus den Rn. 61 und 62 des Urteils vom 28. Februar 2018, MA.T.I. SUD und Duemme SGR (C‑523/16 und C‑536/16, EU:C:2018:122), hervorgeht, entspricht die Vorausfestsetzung der zu leistenden vorläufigen Kaution durch den öffentlichen Auftraggeber in der Ausschreibungsbekanntmachung zwar den Anforderungen der Grundsätze der Gleichbehandlung der Bieter, der Transparenz und der Rechtssicherheit, da mit ihr objektiv jede diskriminierende oder willkürliche Behandlung der Bieter durch den öffentlichen Auftraggeber verhindert werden kann. Dennoch ist die automatische Einbehaltung der auf diese Weise im Voraus festgelegten Kaution unabhängig davon, welche Berichtigungen der nachlässige Bieter gegebenenfalls vornimmt, und daher gänzlich ohne Begründung im Einzelfall offensichtlich nicht mit den sich aus der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergebenden Erfordernissen vereinbar.
70 Zwar stellt die Einbehaltung der genannten Kaution ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung der rechtmäßigen Ziele des betreffenden Mitgliedstaats dar, zum einen den Bietern ihre Verantwortung bei der Vorlage ihrer Angebote bewusst zu machen und zum anderen den öffentlichen Auftraggeber für den finanziellen Aufwand zu entschädigen, den die Kontrolle der Ordnungsmäßigkeit der Angebote für ihn bedeutet, jedoch ist auch die Höhe, die sie in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erreicht, im Hinblick auf den Ablauf des fraglichen Vergabeverfahrens offensichtlich überhöht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Februar 2018, MA.T.I. SUD und Duemme SGR, C‑523/16 und C‑536/16, EU:C:2018:122, Rn. 63 und 64).
71 Daher sind die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot, wie sie in Art. 2 und im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 niedergelegt sind, dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die automatische Einbehaltung der von einem Bieter gestellten vorläufigen Kaution als Folge seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsieht, auch wenn er den betreffenden Zuschlag nicht erhalten hat.
Kosten
72 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.
2. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot, wie sie in Art. 2 und im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 niedergelegt sind,
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die automatische Einbehaltung der von einem Bieter gestellten vorläufigen Kaution als Folge seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsieht, auch wenn er den betreffenden Zuschlag nicht erhalten hat.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 12. September 2024.#Vincenzo D'Agostino und Dafin Srl gegen Europäische Zentralbank (EZB).#Rechtssache C-566/23 P.
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62023CJ0566
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ECLI:EU:C:2024:743
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 12. September 2024.#Aldo D’Agostino gegen Europäische Zentralbank (EZB).#Rechtssache C-571/23 P.
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 12. September 2024.#Anna Nardi gegen Europäische Zentralbank (EZB).#Rechtssache C-574/23 P.
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